Sprache – Dichtung – Philosophie: Heidegger und der Deutsche Idealismus 9783495996904, 9783495484043


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German Pages [225] Year 2010

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Vorwort
Hölderlin und der Mythos
Die braunen Frauen, die Indier und die Quelle des Reichtums. Vernachlässigte Aspekte von Hölderlins ›Andenken‹
»… der Güter gefährlichstes, die Sprache …«. Dichtung und Philosophie bei Hölderlin
Poesie und Poiesis. Anmerkungen zu Hölderlin, Schlegel und Hegel
Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hölderlinrezeption
»Ereignet sich das Dichterische, dann wohnet der Mensch menschlich …« Ein Vergleich von Friedrich Schlegels und Martin Heideggers Metaphysikkritik
Praktische Freiheit in Schellings »Neuer Deduction des Naturrechts« (1796/97)
Hegel und Heidegger
»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«. Zum Wesen der Sprache in Heideggers Denken des Anderen Anfangs
Tübinger Studienpreis der Philosophie
Alle Wege führen zu Kant. Heideggers Vorlesung Die Frage nach dem Ding und die Programmatik einer »aneignenden Verwandlung« Kants
Zur Rolle des Raumes beim späten Heidegger
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Sprache – Dichtung – Philosophie: Heidegger und der Deutsche Idealismus
 9783495996904, 9783495484043

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A

Brbel Frischmann (Hg.)

Sprache – Dichtung – Philosophie Heidegger und der Deutsche Idealismus

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495996904

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B

Bärbel Frischmann (Hg.) Sprache – Dichtung – Philosophie

ALBER PHILOSOPHIE

A

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Über dieses Buch: »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung.« Mit diesem Bild hat Heidegger nicht nur das Verhältnis zwischen Dichtung und Philosophie zu fassen versucht, sondern auch die Bedeutung der Sprache für den Menschen betont. Seit den dreißiger Jahren widmete er sich intensiv Hölderlins Dichtung. Hölderlin aber war auch Philosoph, geschult in Fichtes Philosophie und eng verbunden mit dem Denken seiner Freunde Schelling und Hegel. Für Heidegger und Hölderlin ist wahre Dichtung immer Denken, wahres Denken auf eine gewisse Weise immer auch Dichten, ein Ringen um angemessene sprachliche Manifestation von Gedanken. Eine solche Synthese von Philosophie und Poesie war nicht nur Anliegen Hölderlins, sondern auch der Frühromantiker. Sie experimentierten mit einer poetischen Philosophie, einer Transzendentalpoesie, sie zielten auf eine Synthese aller geistigen Bereiche in einer neuen Mythologie oder einer Enzyklopädie und hatten damit Einfluss auch auf die philosophische Gestalt des Deutschen Idealismus. Der Band enthält Beiträge zu Hölderlins Dichtung und Philosophie, zu Schlegels poetologischen Reflexionen, zur Philosophie Kants, Schellings und Hegels sowie zu Heideggers Hölderlin- und Idealismusrezeption und seinem Nachdenken über das Wesen der Wahrheit und der Sprache, der Dichtung und der Philosophie. Über die Herausgeberin: Bärbel Frischmann, Jahrgang 1960, ist als Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt tätig. Dissertation über Ernst Cassirers Kulturanthropologie, Habilitationsschrift zur frühromantischen Philosophie Fr. Schlegels.

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Bärbel Frischmann (Hg.)

Sprache – Dichtung – Philosophie Heidegger und der Deutsche Idealismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48404-3

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Christoph Jamme

Hölderlin und der Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Franz

Die braunen Frauen, die Indier und die Quelle des Reichtums. Vernachlässigte Aspekte von Hölderlins ›Andenken‹ . . . . . .

17

Marion Hiller

»… der Güter gefährlichstes, die Sprache …«. Dichtung und Philosophie bei Hölderlin . . . . . . . . . . . .

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Andreas Arndt

Poesie und Poiesis. Anmerkungen zu Hölderlin, Schlegel und Hegel . . . . . . .

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Bärbel Frischmann

Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hölderlinrezeption . . . . . . . . . . . . . .

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Jure Zovko

»Ereignet sich das Dichterische, dann wohnet der Mensch menschlich …« Ein Vergleich von Friedrich Schlegels und Martin Heideggers Metaphysikkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sprache – Dichtung – Philosophie

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Inhaltsverzeichnis

Wolfgang M. Schröder

Praktische Freiheit in Schellings »Neuer Deduction des Naturrechts« (1796/97) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Anton Friedrich Koch

Hegel und Heidegger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Dietmar Koch

»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«. Zum Wesen der Sprache in Heideggers Denken des Anderen Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tübinger Studienpreis der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 173 Simone Neuber

Alle Wege führen zu Kant. Heideggers Vorlesung Die Frage nach dem Ding und die Programmatik einer »aneignenden Verwandlung« Kants . . . . . . . . . . . . . . 174 Michael Ruppert

Zur Rolle des Raumes beim späten Heidegger . . . . . . . . 191 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . 215

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ALBER PHILOSOPHIE

Bärbel Frischmann (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

Vorwort

Philosophieren ist problemorientiertes Denken in geschichtlicher Besinnung. Dies gilt in besonderem Maße für Martin Heidegger. Sein Werk ist ohne die Rezeption und Kritik historischer Positionen undenkbar. Einen außerordentlichen Stellenwert nimmt hierbei zweifellos die griechische Philosophie ein. Aber auch die deutsche Philosophie von Kant bis Hegel bildet für Heidegger zeitlebens eine Herausforderung, die dort entwickelten philosophischen Systeme in ihrem Anliegen und ihrer Bedeutsamkeit zu bedenken. Heidegger hielt 1927/28 eine Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (GA 25), diskutierte 1929 bei den berühmt gewordenen Davoser Gesprächen mit Ernst Cassirer über Kants Philosophie und brachte in diesem Jahr sein Kantbuch Kant und das Problem der Metaphysik (GA 3) zur Publikation. Er hielt im Sommersemester 1929 eine Vorlesung Der deutsche Idealismus (Fichte, Schelling, Hegel) und die philosophischen Probleme der Gegenwart (GA 28), im WS 1930/31 eine Vorlesung Zu Hegels Phänomenologie des Geistes (GA 32), dann 1936 und 1941 Vorlesungen über Schellings Philosophie (GA 42, GA 49). Weiterhin gab Heidegger Seminare zu Schelling und Hegel. (GA 68, GA 86). Veröffentlicht sind auch Manuskripte zu Hegels Philosophie (GA 68). Zugleich trat Hölderlin ins Blickfeld, jedoch nicht mit seinen theoretischen Schriften, sondern als Dichter. Die Beschäftigung mit Hölderlin schlug sich nieder in verschiedenen Aufsätzen, die zusammen publiziert sind in dem Band Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (GA 4), aber auch in Vorlesungen zur Interpretation einzelner Hymnen, so 1934/35 über die Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« (GA 39), 1941/42 über »Andenken« (GA 52) und 1942 über »Der Ister« (GA 53). Diese Verweise belegen deutlich die kontinuierliche und eingehende Beschäftigung Heideggers mit der Epoche, die wir heute auch die klassische deutsche Philosophie nennen. Sein Interesse richtete sich A

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Vorwort

unter anderem auf die die erkenntnistheoretische (Kant) und ontotheo-logische (Hegel) Grundlegung der Metaphysik, Grundsatzphilosophie und Grundlegung der Wissenschaft (Fichte), den Begriff der Existenz (Schelling), Subjekt-Konzepte und das Problem der Freiheit. Heideggers Bezugnahme auf das Werk dieser Autoren war geprägt von den eigenen Fragen, insbesondere nach der Bedeutung der Metaphysik für das abendländische Denken, die Bestimmung des Menschen als Dasein bzw. Existenz sowie die Funktion von Erkennen und Sprache. Ihm ging es nicht um philologische oder gelehrte Philosophiegeschichtsschreibung, sondern um eine produktive Diskussion aus der Perspektive der Gegenwart. Umgekehrt gesehen ist es aber auch so, dass eine eigene Position zu entfalten für Heidegger nur möglich war in der Zwiesprache mit anderen. »Aus-einander-setzung« (GA 49, 187) ist ein vielschichtiges Geschehen. Es ist einerseits Distanzierung und Differenzierung: Die Gesprächspartner treten auseinander und einander gegenüber. Ihr Sprechen ist ein Dia-log, ein Entgegnen und Wider-sprechen, ein Zwiegespräch. Aber das Gespräch ist auch ein Annehmen und Aneignen: In ihrem wechselseitigen Geben und Sagen öffnen und übereignen sich die Sprechenden einander, sie gehören im Setzen ihrer jeweils eigenen Position zueinander. Diese Setzung geschieht aus der Relation des Auseinander, Miteinander und Gegeneinander. Aus-einander-setzung bringt die Positionen und Theorien erst ins Blickfeld, in den Problemhorizont des Nachdenkens, Mitdenkens und Weiterdenkens. Dieses Denken kann mancherlei Anlässe haben und sich mit unterschiedlichen Gesprächspartnern entfachen. Sie müssen nicht Philosophen, sondern können Künstler, Handwerker oder Bauern sein. Entscheidend ist, dass sie selbst etwas Bedeutsames zu sagen haben. Das Sagen im Gespräch konstituiert die Sprache und damit den zeitgeschichtlichen Horizont, in dem der Mensch seine Welt und sich selbst versteht. An der Entfaltung und Gestaltung der Sprache sind Philosophie und Dichtung maßgeblich beteiligt. Die Denkenden und Dichtenden haben eine besondere Sensibilität für die Bedeutsamkeit des Wortes, eine spezifische Aufmerksamkeit für die Sinndimension der Sprache. Deshalb rückten für Heidegger Sprache, Dichtung und Philosophie so nah zusammen, wie er es im poetischen Bild vom Wohnen des Menschen in der Sprache als dem Haus des Seins zum Ausdruck brachte.

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ALBER PHILOSOPHIE

Bärbel Frischmann (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

Vorwort

Das Verwahren des Denkens in der Sprache geschieht in verschiedenen Formen und Kontexten. Der vorliegende Band geht zurück auf eine Tagung zum Thema »Hölderlin, Schelling, Hegel, Heidegger«, die 2008 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen stattfand. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung durch die Universität, das Philosophische Seminar und insbesondere die Fachschaft der Studierenden, wofür ich auf diesem Weg meinen Dank bekunden möchte. Auf Seiten der Studierenden danke ich vor allem Niklas Corall und Roland Schraven, am Philosophischen Seminar Dietmar Koch und Uschi Wiedmaier für Rat und Hilfe. Herzlichen Dank sagen möchte ich den Beitragenden für Ihre Vorträge, Diskussionen und den für die vorliegende Publikation zur Verfügung gestellten Texten. Dankbar bin ich ebenfalls Tatjana Hermann für ihr aufmerksames Korrekturlesen. Mein Dank gilt aber auch dem Verlag Karl Alber und hier vor allem Lukas Trabert für die Möglichkeit des Erscheinens dieses Bandes. Eine besondere Würdigung gilt zwei studentischen Arbeiten, die im Rahmen eines während der Tübinger Tagung angeregten Preisausschreibens zum Thema »Heideggers Verhältnis zum Deutschen Idealismus« eingereicht und von der Jury für die Publikation ausgewählt wurden. Bärbel Frischmann

Erfurt, Oktober 2009

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Christoph Jamme

Hlderlin und der Mythos

I. In Hölderlins Werk sah die George-Schule die Keimzelle, um in der Moderne den Mythos wiederzubeleben; Hellingrath erblickte in Hölderlins späten Hymnen und Entwürfen den »Beweis für das fast Unglaubhafte: dass noch in unserer Zeit kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen kann, dass die Sage, echtes mythisches Denken, unter uns Spätgeborenen noch nicht erstorben ist»(Kelletat 1961, 24). Unter starkem Einfluss von Hellingrath verklärte dann Heidegger Hölderlin zum »Dichter des Dichters»(Heidegger 1971, 34; vgl. auch GA 39, 30). In seinem zweiten Hauptwerk Beiträge zur Philosophie (1936–38) bezieht Heidegger in den letzten beiden Kapiteln das Göttliche auf die Erfahrung eines »letzten Gottes»(Heidegger 1989, 409 ff.). Der letzte ist zugleich der zukünftige Gott. Das Göttliche hat sein Wesen allein im Vorbeigang: Das Göttliche entzieht sich, wenn es sich den Menschen gibt. Hier folgt Heidegger Hölderlin, der die Ewigkeit der Himmlischen im Nu eines Winkes, im Vorbeigang, der sich je im Augenblick erfüllt, findet. Nur als die uns Entzogenen können uns die Götter bedrängen – ein Gedanke, der ganz im Gegensatz zu Walter F. Ottos Hölderlinisch geprägter Sicht der Götter Griechenlands steht. Nähe und Ferne des Göttlichen gehören immer zusammen.

II. Ist der Mythos bei Goethe oder Friedrich Schlegel stets ästhetisch vermittelt, sind ihre Götter Kunst-Götter, der Mythos ein konstruierter, so glaubt Hölderlin an den »kommenden Gott« (M. Frank 1982). Hölderlin sieht es als die Aufgabe des Dichters an, »die Spur der entflohenen Götter/Götterlosen hinab unter das Finstere« zu bringen (FHA 6, 245). 10

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Hölderlin und der Mythos

Es geht um nichts Geringeres als um die Wiederkehr des goldenen Zeitalters (nicht im Orient, sondern im Abendland). Von Schiller (Götter Griechenlands, 1788) über Goethe (Römische Elegien, 1795) und Herders Briefe zur Beförderung der Humanität (6. Sammlung, 1795) und seine Iduna (1796) bis zum Ardinghello-Roman seines Freundes Wilhelm Heinse beherrschte die Zeit um 1800 eine Frage: Braucht die Moderne Mythen und Götter? Für Hölderlin war die Antwort auf diese Frage ohne jeden Zweifel klar: Es ist besser, so heißt es in der Elegie Brod und Wein, zu schlafen als mit Bewusstsein ohne die Götter zu sein. Er sieht es als seine Aufgabe, den Mythos in der Mythologie wieder zu entdecken (Gockel 1981, 276), und zwar durch »ein poetisches Verfahren, in dem das Gedichtete die Stelle vertritt, die der Mythos in der Mythologie einnahm« (ebd.). Zeitlebens sieht Hölderlin die Aufgabe des Dichters darin, die Mythen für die Zeit neu zu interpretieren, »die Mythe […] überall beweisbarer dar[zu]stellen« (StA V, 268), weil in seiner (naturwissenschaftlich beweisenden) Zeit mit den Bildern der Griechen Vorstellungen verknüpft würden, die historisch nicht mehr ernst genommen werden könnten (»Schaal ist Delphi« [FHA 6, 259]). Wenn Hölderlin in den Göttern produktive Kräfte der Natur sieht, so liegt in dieser Wiederkehr eines neuen mythischen Verhältnisses zur Natur ein deutlicher Protest gegen die Verdinglichung der Natur spätestens seit der Aufklärung. Diese Haltung beinhaltet letztlich auch einen Protest gegen politisches Herrschaftsdenken: Erst ein Mensch, der nicht mehr Untertan, politisches Objekt, sondern wahres Subjekt ist, kann auch die Natur in ihrer Subjektivität anerkennen. Diese Anerkennung der Natur leistet die Mythologie, indem sie ihr den Charakter des vermeintlich Toten (Objektiven) nimmt und sie vergöttlicht.

III. Schon der junge Hölderlin fasst, etwa in den sog. Tübinger Hymnen, in denen er nach Schillerschem Vorbild höchste Werte zu Göttern mythisiert und so objektiviert (W. Binder 1970), die Natur mythisch auf. Ein Beispiel für die »enthusiastische Mythisierung der allegorischen Personifizierung« (U. Gaier 1996, 119) ist etwa die Hymne an die Göttin der Harmonie. Die Natur erscheint hier als vergöttlichte Alleinheit, der Mensch, ein Spiegel des Universums (Einfluss von Leibniz), verdankt Wesen und Dasein der Göttin, ist zweiter Schöpfer der Schöpfungen. In A

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Christoph Jamme

der Hymne an die Freiheit (1792) spielt Hölderlin mit dem hesiodischbiblischen Mythos vom goldenen Zeitalter, wie er überhaupt schon früh, etwa in seiner Magisterarbeit Parallele zwischen Salomons Sprüchwörtern und Hesiods Werken und Tagen (1790), den Versuch unternahm, gleichartige Grundstrukturen verschiedener Mythen freizulegen. Mythen sind für ihn hier die »Personifikazion abstrakter Begriffe« (STA IV, 189), was der damaligen Position Schellings entsprach.

IV. Dieser Mythosbegriff tritt allerdings in den nächsten Jahren mehr und mehr in den Hintergrund. »Mythos und Mythologie als Grund und Stoff der Dichtung, als Transzendierung der Philosophie und als verhüllende Offenbarung des Göttlichen« wird zum beherrschenden Thema (U. Gaier 1996, 113). So sieht er in der Religion Naturbeziehungen wirksam, er führt die Götter auf Mächte der Natur zurück, so die christliche Trinität auf die »Heiligen Drei«: Vater Äther (Uranus), Mutter Erde (Gaia) und das Licht (Zeus). Auch und gerade in den späten Hymnen sind »die Himmlischen« die Mächte der Natur (StA II,1; 238). Der Frankfurter Hyperion-Briefroman (1797/1799) bündelt alle zentralen Motive seiner Dichtung und Philosophie und ist insgesamt ein mythopoetisches Werk. Schon die Jenaer Hyperion-Fragmente zeichnen sich durch ein mythisches Sprechen aus; Hölderlin bemüht den platonischen Liebesmythos, um zu zeigen, wie der Daimon Eros zwischen Göttern (Reichtum) und Menschen (Armut) vermittelt. Diotima, die »Priesterin der Liebe« (FHA 10, 221), erinnert Hyperion an Arkadien und daran, dass der Mensch prinzipiell zum Gott werden kann. Die Vision der menschlich-göttlichen Gemeinschaft stört uns in unserer selbstgenügsamen Bequemlichkeit, in der »der Mensch […] des Menschen nicht mehr [bedarf]« (FHA 10, 224). Der »Gedank[e] von der mythischen Beschaffenheit der Welt« (U. Gaier 1996, 121) wird dann im fertigen Roman zentral; die Figuren werden selbst Mythen (Adamas wird zum Gott). »Der Mensch ist ein Gewand, das oft ein Gott sich umwirft« (FHA 11, 670), und deshalb ist auch die »heilige Natur« dieselbe in und außer mir. »Es muss so schwer nicht seyn, was außer mir ist, zu vereinen mit dem Göttlichen in mir.« (FHA 11, 690). Theoretisch untermauert wird dieser Gedanke in Hölderlins 1798 oder 1797 niedergeschriebenem (heute Fragment philosophischer Brie12

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Hölderlin und der Mythos

fe betitelten) Aufsatz Über Religion. Hölderlin fragt hier nach der Möglichkeit religiös-mythologischer Vorstellungen überhaupt. Es geht um das transzendentale Problem der »Vorstellung« religiöser Verhältnisse: Weder »historisch« noch »intellectuell«, weder eine Wiederholung im »Gedächtnis«, d. h. Historie, noch eine Wiederholung im »Gedanken«, d. h. Philosophie, können religiöse Verhältnisse erfassen, sondern einzig die Wiederholung in einem poetischen Bild. Nun hieß das dichterische Nennen und Sagen von Gott bei den Griechen mythesmai, weshalb Hölderlin jene Vorstellung, die allein die (Kantische!) Doppelnatur der religiösen Verhältnisse als intellektual-allgemeiner und historisch-besonderer zu erfassen imstande ist, als »mythisch« bezeichnet. Die mythische Erinnerung ist also von einer paradoxalen Struktur: Sie verbindet Intellekt und Historie, Gedanke und Gedächtnis. Hölderlin selber nutzt immer wieder mythische Bilder, wenn etwas – wie die Entstehung des Bewusstseins – nur unbestimmt und d. h. eben mythisch zu erklären ist (so etwa die Rede von der »Willkür des Zeus« [StA IV, 1; 269/FHA 14, 371]). Doch das Problem des Mythos muss auch gesehen werden im Kontext des Versuches der Herstellung einer revolutionären öffentlichen Meinung, wie etwa die EmpedoklesTragödie, das Hauptprojekt der Homburger Zeit, offenbart. In diesen drei fragmentarisch gebliebenen Fassungen und einer theoretischen Studie geht es wesentlich um die Revision der mit der aufklärerischen Naturbeherrschung gegebenen Entfremdung in und außerhalb des Menschen. Thema des Dramas, das ein festliches Spiel sein will, ist die Frage, wie die Ordnung der Natur in Staat und Gesellschaft verwirklicht werden kann, wie und ob es möglich ist, dass ein Einzelner die Not der Zeit wendet. Hölderlin versucht mit seiner Tragödie eine neue Mythologie als Grundlage einer neuen deutschen Religion zu schaffen: Ein neues Verhältnis zur Natur soll eine umfassende geistige Erneuerung und damit auch eine politische Emanzipation des Bürgers ermöglichen.

V. Beim späten Hölderlin ist dieser Optimismus weitgehend verflogen; Hölderlin geht jetzt einen Weg, im Verlaufe dessen die Nähe zum Göttlichen zunehmend als identitätsbedrohend und zerstörerisch aufgefasst wird (vgl. StA V, 201). Diesem Göttlichen gegenüber (dessen A

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Christoph Jamme

hohe Fremdheit herausgestellt wird) gilt es, seine Identität zu bewahren. Das kluge »Maß«, der umgrenzte »Augenblick« und das positive »Gesetz« werden jetzt wichtig, ebenso die geschichtliche Vermittlung, durch die das Göttliche »gehalten« wird (vgl. J. Schmidt 1990). Ablesbar ist diese Wende Hölderlins an der Umkehrung des dionysischen Topos in der (zwischen Herbst 1801 und 1803 in drei Fassungen niedergeschriebenen) Hymne Der Einzige: Der Gott der Raserei als Ordnender (J. Schmidt 1990, 157 ff.). Hölderlins synkretistische Mythologie fasst hier Herakles, Dionysos und Christus als ein »Kleeblatt«, und die gesamte Erstfassung schwankt unentschieden zwischen der Bevorzugung Christi und der Tendenz, die Christusgestalt mit den anderen antiken Göttern gleichzustellen. In diesem Zusammenhang betont Hölderlin das kultivierende Wirken des Dionysos. Hölderlin betont zwar das Bruderverhältnis von Christus zu den beiden weltlichen Heroen, gleichzeitig sieht er aber die Einzigheit Christi darin, dass wir ihn nicht unmittelbar in der Begeisterung schauen; der christliche Gott erscheint uns vielmehr »mittelbar/In heiligen Schriften« (StA II,1; 153–164). Auch in der Hymne Patmos nimmt der Dichter Abstand von einer unmittelbaren Konfrontation mit dem Göttlichen, weil in der ersten Begegnung der Mensch das Schreckliche der Gottheit nicht aushalten könnte. Im »scharfen Straale« unmittelbarer göttlicher Gegenwart werden zunächst noch die »scheuen Augen« geblendet; deshalb, so heißt es in der dreizehnten Strophe, mögen sie sich an der mittelbaren Gottesbegegnung, die durch das Lesen der Heiligen Schrift möglich ist, »üben«, bis sie stark genug für die unmittelbare Gottesbegegnung am neuen Göttertag sind (StA II,1; 170 f.). Zu Beginn des letzten Hymnenentwurfs Griechenland ist davon die Rede, dass Gott seine Anwesenheit verbirgt und der Mensch deshalb auf die Natur angewiesen ist, um Spuren des Göttlichen zu erkennen. »Gott an hat ein Gewand« (StA II,1; 256), weil sein unbekleideter Anblick den Menschen unzuträglich und unerträglich ist. Gott selbst kann man nicht lesen, aber sein Gewand; dieses Gewand, d. h. die Mythologie, ist also nicht nur Schutz vor der unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen, sondern auch eine Schule, an der man lernen sollte. In den Sophokles-Anmerkungen wird als ›tragisch‹ angesehen, »wie der Gott und Mensch sich paart«, wie aber zugleich »das grenzenlose Eineswerden durch grenzenloses Scheiden sich reiniget« (StA V, 201). Die Identifikation des Menschen mit dem Gott ist ein Frevel. Das poetische Gesetz, das Hölderlin hier ebenso theoretisch formuliert wie in seinen 14

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Hölderlin und der Mythos

Übersetzungen praktisch zu verwirklichen sucht, ist das der ›Übersetzung‹ der griechischen Kunstform in die abendländisch-christliche. Das Gottesverständnis muss innerlicher, geistiger werden als es bei den Griechen war: Da »der Gott […] nichts als Zeit ist«, wird Zeus zum »Vater der Zeit« und damit zum »eigentlichere[n] Zeus«. (Ebd. 202, 268). Auch in den (wohl 1805 entstandenen) änigmatischen Übersetzungen von Fragmenten Pindars, die die letzte Stufe von Hölderlins Auseinandersetzungen mit der überlieferten Antike bilden, dominiert das das Spätwerk auszeichnende Bedürfnis nach Halt und Festigkeit, ablesbar vor allem an dem zentralen Fragment Das Höchste.

Literatur 1. StA FHA

Ausgaben der Werke Hölderlins Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart 1943 ff. Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe), hg. v. D. E. Sattler, Frankfurt a. M. 1975 ff.

2. Forschung Behre, Maria, 1987, »Des dunklen Lichtes voll«. Hölderlins Mythoskonzept Dionysos, München. Binder, Wolfgang, 1970, Hölderlin-Aufsätze, Frankfurt a. M. Böschenstein, Bernhard, 1989, »Frucht des Gewitters«. Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution, Frankfurt a. M. Buhr, Gerhard, 1972, Hölderlins Mythenbegriff, Frankfurt a. M. Düsing, Klaus, 1988, Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel, in: Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–06), hg. v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn, S. 9–52. Frank, Manfred, 1982, Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie, Frankfurt a. M. Gaier, Ulrich/Valéry Lawitschka/Stephan Metzger/Wolfgang Rab/Violetta Waibel, 1996, »Gestalten der Welt«. Frankfurt a. M. 1796–1798. Hölderlin-Texturen 3, Tübingen. Gaier, Ulrich, 1971, Hölderlin und der Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, hg. v. Manfred Fuhrmann, München, S. 295–340. Gockel, Heinz, 1981, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik, Frankfurt a. M. A

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Christoph Jamme Heidegger, Martin, 1971, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 4. erw. Aufl., Frankfurt a. M. Heidegger, Martin, 1980, Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, Frankfurt a. M. (=GA II. Abt., Bd. 39). Heidegger, Martin, 1989, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA III. Abt. Bd. 65, Frankfurt a. M. Hellingrath, Norbert von, 1961, Vorreden. In: Hölderlin. Beiträge zu seinem Verständnis in unserem Jahrhundert, hg. v. Alfred Kelletat, Tübingen. Hübner, Kurt, 1983, Wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Naturerfahrung, in: Natur als Gegenwelt. Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur, hg. v. Götz Grossklaus und Ernst Oldemeyer, Karlsruhe, S. 43–57. Isberg, Jürgen, 1954, Hölderlin in Homburg, Hamburg. Jamme, Christoph, 1991, Einführung in die Philosophie des Mythos. Neuzeit und Gegenwart, Darmstadt. Jamme, Christoph/Frank Völkel, 2003, Hölderlin und der deutsche Idealismus. Dokumente und Kommentare zu Hölderlins philosophischer Entwicklung und den philosophisch-kulturellen Kontexten zu seiner Zeit, 4 Bde., Stuttgart/Bad Cannstatt. Killy, Walter, 1948, Bild und Mythe in Hölderlins Gedichten, Diss., Tübingen. Koczisky, Eva, 1997, Mythenfiguren in Hölderlins Spätwerk, Würzburg. Liebrucks, Bruno, 1979, »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spannweite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas. Link, Jürgen, 1999, Hölderlin-Rousseau: Inventive Rückkehr, Wiesbaden. Riedel, Ingrid, 1973, Hölderlin ohne Mythos, Göttingen. Thomasberger, Andreas, 1983, Mythos-Religion-Mythe. Hölderlins Grundlegung einer neuen Mythologie in seinem »Fragment philosophischer Briefe«, in: »Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde«. Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, hg. v. Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Stuttgart, S. 284–299.

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Michael Franz

Die braunen Frauen, die Indier und die Quelle des Reichtums. Vernachlässigte Aspekte von Hölderlins ›Andenken‹

In Hölderlins Gedicht ›Andenken‹ geht es – das ist meine negative These – nicht um eine besondere, bzw. besonders ausgezeichnete Art des philosophischen Denkens. Die Philosophen, die – von der entgegengesetzten Annahme ausgehend – dem Hölderlin’schen Gedicht eine besonders eingehende Behandlung haben angedeihen lassen, scheinen dabei nicht berücksichtigt zu haben, was das Wort »Andenken« um 1800 noch in der Hauptsache bedeutet hat. Es benennt nämlich zuerst und vor allem das In-Erinnerung-Bringen des Vergangenen. So schreibt man einen Spruch ins Stammbuch »zum Andenken an deinen Freund usw.«. Im engeren Sinn bezeichnet es aber das In-Erinnerung-Rufen des Verlorenen, in besonderem Maß dann die Verstorbenen. Einige zeitgenössische Beispiele sollen diesen heute nicht mehr so gängigen Wortgebrauch belegen. Als Christoph Martin Wieland im Januar 1813 einem Schlaganfall erlegen war, veröffentlichte Goethe seinen Nekrolog unter dem Titel »Zum brüderlichen Andenken Wielands«. 1 Einige Jahre zuvor, im Jahr 1807, hatte Goethe seinen Nachruf auf die Weimarische Herzogin betitelt: »Zum feierlichen Andenken der durchlauchtigsten Fürstin Anna Amalia«. Und in unmittelbarer Nähe Hölderlins hatte Carl Philipp Conz 1790 beim Tod des Tübinger Philosophieprofessors Gottfried Ploucquet sein Obituarium unter dem Titel drucken lassen: »Andenken Gottfried Ploucquets«. Dafür, dass auch in Hölderlins Gedicht dieser Sinn intendiert ist, spricht der handschriftliche Befund: In der berühmten letzten Zeile stand zuerst »Ein bleibendes« 2 , was doch wohl zu »Ein bleibendes Andenken (stiften die Dichter)« ergänzt werden muss. »Brüderlich« nennt Goethe dieses »Andenken«, weil Wieland derselben Loge angehörte wie er. 2 Beißner (StA II, 801), Knaupp (MA III, 289) und Sattler (FHA 8, 717) lesen »Ein Bleibendes«, was – bei der Ähnlichkeit des großen und kleinen »b« am Wortbeginn in 1

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»Andenken« ist also in diesem besonderen Sinn ein »Totengedenken«. Das ist meine positive These. Das konnte freilich den Philosophen, deren Gedanken hauptsächlich um das Denken kreisen, nicht recht sein. Dieter Henrich hat deshalb entschieden Einspruch erhoben und den »Versuch, dem Ganzen des Werkes einen Bezug auf den Tod von Susette Gontard zuzusprechen«, als abwegig abgetan. 3 Aber die Dichter wissen es besser: »se canta lo que se pierde« – man singt das, was man verliert – so die lakonische Bemerkung von Antonio Machado. 4 Ich habe, zunächst in der (Anm. 3) schon zitierten Fußnote zu einem Aufsatz aus dem Jahr 1980 über »Hölderlins Verrücktheit«, dann in einem Vortrag, den ich zuerst kurz nach der sogenannten »Wende« in Leipzig halten durfte und der dann einige Zeit später auch gedruckt wurde 5, das Gedicht so ausgelegt, dass es als Gedenken an die plötzlich im Jahr 1802 verstorbene Geliebte Susette Gontard verstanden werden kann. Diese Deutung ist nicht abhängig von der (von Bertaux seinerzeit immer wieder vorgetragenen und auf einer irrtümlichen Mutmaßung von Hölderlins Bruder 6 beruhenden) Annahme, Hölderlins Handschrift – durchaus möglich ist, aber den Zusammenhang dieser Schlussgnome mit dem Titel des Gedichts unberücksichtigt lässt. 3 Dieter Henrich, Der Gang des Andenkens. Beobachtungen und Gedanken zu Hölderlins Gedicht, Stuttgart 1986, S. 225. Er hat sich dabei auf Pierre Bertaux’ Buch Hölderlin ou le temps d’un poète, Paris 1983, bezogen, in dem dieser meine Entschlüsselung der Mittelverse 31 und 32 von ›Andenken‹ als »versteckten Wink mit den Initialen der Geliebten« aufgegriffen hatte, ohne freilich die Herkunft dieser Interpretation zu dokumentieren, nämlich meinen Aufsatz »Annäherung an Hölderlins Verrücktheit«, in: Hölderlin-Jahrbuch 22, 1980–1981, S. 274–294; 294. Bertaux hat die Urheberschaft dieser Sicht dann allerdings in seinem deutschen Buch Hölderlin-Variationen, Frankfurt a. M. 1984, S. 92 f. anerkannt, ohne dass Henrich in seinem zwei Jahre später erschienenen Buch das zur Kenntnis genommen hätte. 4 Antonio Machado: Cancionero apócrifo. Poesís completas. Prólogo de Manuel Álvar. Espasa-Calpe, S. A. Madrid 1980 (sexta edición), S. 357–359; 358. 5 Michael Franz, »Hölderlins Gedicht »Andenken««, in: Friedrich Hölderlin. Text + Kritik, Sonderband VII/96, hg. von Heinz Ludwig Arnold in Zusammenarbeit mit Andreas Döhler, München 1996, S. 195–212. 6 Vgl. Goks mit den tatsächlichen Daten nicht in Einklang zu bringende Vermutung in seinem »Lebensabriß«: »Aber aus einem bisher noch nicht genug aufgeklärten Grunde verließ er schon gegen das Ende des Monats Juli schnell seine Stelle, wahrscheinlich erhielt er kurz vorher von dem Gegenstande seiner Verehrung und seiner Dichtung, den er seit seiner Trennung von Frankfurth nicht mehr gesehen, aber wie ein heilig Geheimniß tief in seinem Herzen bewahrt, ein Schreiben worin sie ihm von einer schweren Krankheit Nachricht gab und mit einer Vorahnung ihres nahen Todes noch

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Hölderlin habe in Bordeaux vom bevorstehenden Tod der Susette Gontard erfahren und sei daraufhin zurück nach Deutschland an ihr Krankenbett geeilt. Das ist, nach dem die Datierung von Susette Gontards Erkrankung betreffenden Fund Georg Wallners, mittlerweile sicher auszuschließen. 7 Der Ort, den Susette Gontard in diesem Szenen aus Bordeaux beschreibenden Gedicht erhält, ist durch die (annähernde) Gleichzeitigkeit ihres Todes mit den erinnerten Bildern bereitet. Das Denken an Bordeaux führt das Andenken an Susette Gontard herauf, anstatt dass ihr bevorstehendes Lebensende die Abreise aus Bordeaux verursacht hätte. Wie hätte der Dichter sich in Paris in Ruhe den »Anblik der Antiquen« 8 gönnen können, wenn er gewusst hätte, dass Susette Gontard ernsthaft erkrankt und moribund war? Ich glaube, für die These, dass in der Mittelstrophe des Gedichts ein »bleibendes Andenken« für Susette Gontard gestiftet werden soll, einige Argumente vorgebracht zu haben, die man in dem Aufsatz von 1996 nachlesen kann. Ergänzend dazu möchte ich nun auf einige neue Aspekte hinweisen, die das Gedicht meines Erachtens darüber hinaus auch noch enthält. Ich hoffe, dadurch dem Reichtum dieses einzigartigen Kunstwerks noch besser gerecht zu werden. Was zunächst die »Bauform« des Gedichtes betrifft, auf die Dieter Henrich mit Recht so viel Wert legt 9 , so springt die triadische Gliederung sofort in die Augen. 10 Auf die natürliche Szenerie der Landschaftsüberblendungen der ersten beiden Strophen folgt der Mittelteil, in dem die Reflexion des von »sterblichen Gedanken« angefochtenen Ichs vorherrscht, worauf dann in den letzten beiden Strophen von den heroischen »Thaten, welche geschehen« sind und noch geschehen werden, die Rede ist. Es ist ganz eindeutig, dass diesem Schema die Folge der Hölderlin’schen Töne »naiv – idealisch – heroisch« entspricht. Es ist ebenso gut sichtbar, dass dem ersten Teil an hervorgehobener Stelle auf ewig von ihm Abschied nahm«. (FHA 9, 371.372) Gok selbst hat wohl durch den gleich darauf erwähnten Brief Sinclairs vom 22. Juni 1802 mit der Todesnachricht seinen Irrtum eingesehen. 7 Georg Wallner, »›Der junge Gontard war sehr freundlich mit mir‹. Ein Treffen der Familien Gontard und Meyer Ende Mai 1802«, in: Hölderlin-Jahrbuch 36, 2007–2008. 8 Vgl. Hölderlins Brief an Böhlendorff vom November 1802, MA II, 921. 9 Henrich (wie Anm. 3), S. 168–178. 10 Beißner hingegen befand: »Der Gesang ist nicht triadisch gegliedert« (StA II, 802), bezieht sich damit aber auf die Zeilenzahl der Strophen, nicht auf die Komposition der Strophen im Gedicht insgesamt. A

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die »Frauen« einbeschrieben sind, während im dritten Teil die »Männer« vorherrschen. Dazwischen das »ich«. Die beschriebenen Orte um Bordeaux und auf dem Weg zur Mündung des Flusses 11 sind gewiss nicht bloße Staffage, aber sie werden aus dem Gedächtnis hervorgerufen und beschrieben, um eben diese Gruppen von Menschen in Szene zu setzen: die »Frauen« und die »Männer«. Das lässt sich wieder aus dem Text belegen; und zwar einerseits durch jenes »daselbst«, an dem der Denker des »Da« 12 und der Denker des »Selbst« 13 so große Freude gehabt haben: An Feiertagen gehen Die braunen Frauen daselbst Auf seidnen Boden 14

Das »daselbst« fasst die zuvor in einander laufenden Orte der »Gärten von Bourdeaux«, des »scharfen Ufers« mit dem »Steg« und des in den Strom fallenden Bachs, des Baumpaars und des Ulmwalds über der Mühle mit ihrem Hof zusammen: daselbst, in dieser Gegend, gehen die »braunen Frauen«. Und andererseits: Nun aber sind zu Indiern Die Männer gegangen, Dort an der luftigen Spiz’ 15

Daselbst und Dort. Zweimal der Zeigegestus. Die und die. Die Frauen und die Männer. Auch darum geht es in dem Gedicht.

Frauen und Mnner Warum werden die Frauen die »braunen« Frauen genannt? Bei Heidegger, aber auch bei anderen Auslegern (z. B. bei Roland Reuss) sind Am kenntnisreichsten sind sie – nach dem Vorgang von Henrich – beschrieben von Jean-Pierre Lefebvre, zuerst in: »Auch die Stege sind Holzwege«, in: Hölderlin-Jahrbuch 26, 1988–1989, S. 202–223; zuletzt noch: »Abschied von ›Andenken‹. Erörtern heißt hier verorten«, in: Hölderlin-Jahrbuch 35, 2006–2007, S. 227–251. 12 Vgl. Martin Heidegger, »Andenken«, in: ders., Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, zweite, vermehrte Auflage, Frankfurt a. M. 1951, S. 102. 13 Dieter Henrich (wie Anm. 3), S. 93. 14 MA I, 473. 15 MA I, 474. 11

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es Bäuerinnen, deren Haut auf dem Feld sonnengebräunt geworden ist. 16 Aber das schon »zur Märzenzeit«? In den Monaten, da Hölderlin sich in Bordeaux aufhielt, hat es – nach zeitgenössischen Berichten – fast ununterbrochen geregnet: In einem bordelaiser Tagebuch heißt es am 5. März: »Les pluyes ont pris fin aujourd’huy à Bordeaux après avoir duré pendant 5 mois presque consécutifs.« 17 Wer sich die Lebenswelt Bordeauxs um 1800 vor Augen führt, dem muss eine andere Deutungsmöglichkeit sich aufdrängen. Bordeaux war – neben Nantes – der Haupthafen für den Handel mit den überseeischen Kolonien in der Karibik. Dieser Handel wurde aber – mit einer kurzen Unterbrechung durch das Verbot des Sklavenhandels zwischen 1793 und 1802 – häufig so abgewickelt, dass ein Schiff an der Westküste Afrikas entlang segelte, wo es Sklaven kaufte, die auf die französischen Besitzungen in Saint-Domingue verbracht wurden, wo sie gegen Zucker und andere »Kolonialwaren« eingetauscht wurden, für die man in Frankreich dann große Summen erzielen konnte. 18 Diese Zirkulation der Waren brachte aber natürlich auch Afrikaner und vor allem Afrikanerinnen nach Bordeaux, wo es bald zum Statussymbol wurde, eine Négresse als Dienerin oder Kindermädchen oder einfach als Vorzeigeobjekt (negrillonne) zu besitzen. In den überseeischen Kolonien war allerdings im Laufe der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine eigene Schicht von Mulatten und Mulattinnen entstanden, von denen es etliche zu Freiheit und Wohlstand gebracht hatten. Während es in Saint-Domingue um 1790 etwa 40.000 weiße Siedler und 500.000 schwarze Sklaven gab, brachte es die Gruppe von freien Mulatten immerhin auf etwa 30.000. 19 Viele dieser freien Mulatten schickten ihre Kinder zur Ausbildung ins Mutterland. Wohlhabende Mulattinnen heirateten gutsituierte Bordealai-

Heidegger, »Hölderlins Hymne ›Andenken‹« (GA 52), Frankfurt a. M. 1982, S. 80; bei Heidegger stehen die »braunen Frauen« als »Frauen des »südlichen Frankreich« allerdings »für die griechische Welt« (ebd.); Roland Reuss, »»…/ Die eigene Rede des andern«. Hölderlins Andenken und Mnemosyne«, Basel; Frankfurt a. M. 1990, S. 206 f. 17 Georg Wolfgang Wallner, »La présence des gens de couleur à Bordeaux en 1802«, noch unveröffentlichtes Manuskript 2007, S. 14, note 47 (»Der Regen hat heute in Bordeaux ein Ende genommen, nachdem er fast 5 aufeinander folgende Monate gedauert hat«). 18 Éric Saugera, Bordeaux port négrier. Chronologie, économie, idéologie – XVIIe–XIXe siècles, Biarritz, Paris 1995. 19 Emil H. Maurer, Der schwarze Revolutionär. Toussaint Louverture, Meisenheim/ Glan 1950. 16

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ser. 20 Und natürlich gab es Besuche von wohlhabenden mulattischen Land- und Sklavenbesitzern in den großen Metropolen Frankreichs. Neben den schwarzen Dienstmädchen gehörten also auch solche braunen Männer und Frauen zum Stadtbild in Bordeaux. Und diese wohlhabenden Mulattinnen kann man sich gut an »Feiertagen« vorstellen, wenn sie zu einem Picknick oder einem Tanz auf irgendeinem Tanzboden spazierten. Ihren kolonialen Hintergrund darf man nicht vergessen, aber zunächst sind sie als Vertreterinnen eines von zwei Geschlechtern ins Bild gebracht. Ihnen entsprechen im hinteren Teil des Gedichts die »Männer«, die »zu Indiern« gegangen sind. Es ist auffallend, dass von »Frauen« – im Gegensatz zu »Männern« – in Hölderlins Gedichten vergleichsweise selten die Rede ist. Eine einzigartige Stelle findet sich in der Ode ›Vulkan‹, die ich zunächst mit heranziehen möchte: Jetzt komm und hülle, freundlicher Feuergeist, Den zarten Sinn der Frauen in Wolken ein, In goldne Träum’ und schüze sie, die Blühende Ruhe der Immerguten. Dem Manne laß sein Sinnen, und sein Geschäfft, Und seiner Kerze Schein, und den künftigen Tag Gefallen, laß des Unmuths ihm, der Häßlichen Sorge zu viel nicht werden. Wenn jetzt der immerzürnende Boreas, … […] 21

Es ist auf den ersten Blick überraschend, wie viele Motive hier auftauchen, die wir aus ›Andenken‹ kennen: der »Feuergeist« aus ›Vulkan‹ entspricht dem »feurigen Geist« aus ›Andenken‹, die »gold(e)ne(n) Träum(e)«, die in beiden Gedichten vorkommen, dem »Boreas« in ›Vulkan‹ – im Entwurf wurde er noch »der Nord« genannt – gleicht der »Nordost« in ›Andenken‹, und eben schließlich die Gegenüberstellung »die Frauen« – »die Männer«, die so nur in diesen beiden Gedichten vorkommt. Charakteristisch für die Frauen ist ihr »zarter Sinn«, an den »Männern« wird hervorgehoben ihr »Sinnen«, ihr »Geschäfft«, das 20 John D. Garrigus, Before Haiti. Race and Citizenship in French Saint-Domingue, New York 2006. 21 MA I, 442.

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bei Kerzenschein schon für den »künftigen Tag« besorgt wird. Das sind natürlich die traditionellen Geschlechter-Rollen: hier die schutzbedürftige Empfänglichkeit der Frau, dort die von Unmut bedrohte Aktivität des Mannes. So ähnlich der »Sinn« dem »Sinnen« zu sein scheint, so sind doch beide ganz und gar entgegengesetzte Eigenschaften, zwischen denen Harmonie erst zu stiften ist. Die Kennzeichnung »zarter Sinn«, die hier den Frauen zugesprochen wird, kennen wir aus Hölderlins poetologischen Erwägungen, die zum Teil im gleichen Handschriftenkonvolut wie die Ode ›Vulkan‹ aufgeschrieben worden sind. Der exakte Beleg findet sich allerdings in einem Brief Hölderlins an Friedrich Emerich, der wahrscheinlich Anfang des Jahres 1800 geschrieben wurde. Da spricht Hölderlin den jungen republikanischen Dichter an: »Du scheinst mir die poëtische Dreieinigkeit, den zarten Sinn und die Kraft und den Geist, himmlisches und irrdisches Element genug in Deiner Natur zu haben, um dieses edle Leben, in einer so edlen Kunst, zu fixiren und der Nachwelt wohlbehalten zu überliefern.« 22 Die »poëtische Dreieinigkeit« scheint also aus den beiden Gegensätzen »zarter Sinn« und »Kraft« zu bestehen, die durch eine sozusagen »dritte Person«, den »Geist«, in ein harmonisches Verhältnis ausbalanciert werden. Man kann diese trinitarische Poetologie noch in manch anderem Text Hölderlins wiederfinden, hier genügt es zu bemerken, dass sie auch nach Analogie der GeschlechterCharakteristik aufgeschlüsselt wird. Kehren wir nun zurück in die triadische Komposition des Gedichts ›Andenken‹, so spüren wir in den ersten beiden Strophen den heraufbeschworenen zarten Sinn der Frauen, die von »goldnen Träumen« umschwebt sind. In den letzten beiden Strophen dagegen die »Kraft«, ja die »edle Gewaltsamkeit« 23 der Männer, die der Sphäre ihres planenden »Sinnens«, ihres »Geschäffts« den besonderen Charakter gibt. Die Vermittlung zwischen beiden leistet der »Geist«, der in der mittleren Strophe sich durch das Aussprechen der ersten Person – »damit ich ruhen möge« – poetisch hervorbringt. MA II, 861. MA II, 851 (Der Briefadressat ist inzwischen identifiziert als Gottlieb Ernst August Mehmel; vgl. Heinz Härtl, »Ein Briefwechsel Hölderlins mit Mehmel«, und Hans Gerhard Steimer, »Dokumente zu Mehmels Einladung und Hölderlins Antwortentwurf«, beides in: TextKritische Beiträge, Heft 6, Frankfurt a. M. 2000, S. 141–150 und 151– 172); auch hier an dieser Stelle des Briefs wird der »Gewaltsamkeit« die »Zartheit« entgegengesetzt.

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Indier Die Männer gehen nicht zum Tanz, sie verzichten ja auf die »Feiertage der Stadt, / Und Saitenspiel und eingeborene(n) Tanz«. Sie sind gegangen, d. h. sie sind gesegelt zu »Indiern«. Die Identifizierung dieser »Indier« ist kontrovers. Natürlich könnten jene »Indier« gemeint sein, die an »des Ganges Ufern« 24 wohnen, von denen die Dionysos-Sage Märchenhaftes erzählt. Wenn die Fahrt der »Männer« aber von Bordeaux ausgeht, dann ist es wahrscheinlicher, dass die »Indier« jene im Französischen unterschiedslos »indiens« genannten Bewohner Amerikas sind, zu denen Schiffe bordelaiser Reeder ständig unterwegs waren gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die meisten jener aus Bordeaux auslaufenden Schiffe waren zu den »westindischen« Inseln unterwegs, hauptsächlich nach Saint-Domingue auf der Insel Hispaniola, also zu jener zweitgrößten Insel der Karibik, die heute unterteilt ist in die Staaten Haiti und Dominikanische Republik. Durch den Frieden von Basel 1795 hatte der französische Westteil der Insel (heute Haiti) auch den ehedem spanischen Ostteil (die heutige Dominikanische Republik) hinzugewonnen. Die Sklaverei war zwar in Frankreich im Jahr 1793 abgeschafft worden und das entsprechende Dekret wurde in Saint-Domingue auch tatsächlich durchgeführt, was freilich dazu führte, dass die befreiten Sklaven unter ihrem Führer Toussaint L’Ouverture die Macht ergriffen und viele französische Siedler, vor allem aber auch viele der als »Kollaborateure« verachteten Mulatten, vertrieben. 25 Nach der Niederlage der mulattischen Elite im August 1800 schifften sich viele nach Frankreich ein und in Bordeaux wird der Höhepunkt mulattischer Präsenz im Jahr 1801 erreicht worden sein. Allein im Jahr 1801 kamen 3000 Flüchtlinge aus Saint-Domingue nach Bordeaux: Weiße, Mulatten und ihre schwarzen Sklaven, nach Wallner. 26 Ende des Jahres 1801 schickte Napoleon Bonaparte 25.000 Mann nach SaintDomingue, die nach ihrer Landung im Februar 1802 dort die kolonialen Verhältnisse wieder aufrichten und im selben Monat auch die Sklaverei wieder einführen sollten, was im Mai 1802 in Frankreich von BonaVgl. MA I, 197, 269, 329. Vgl. C. L. R. James: Schwarze Jakobiner. Toussaint L’Ouverture und die Unabhängigkeitsrevolution in Haiti, (Kleine Bibliothek; 341) Köln 1984. 26 Vgl. Georg Wallner, La présence des gens de couleur à Bordeaux en 1802 (erscheint auf deutsch in: Texturen 5, voraussichtlich 2012). 24 25

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parte ausdrücklich legalisiert wurde. 27 Diese Ereignisse waren in Bordeaux Anfang des Jahres 1802 natürlich Tagesgespräch. 28 Wenn das »nun« in dem Satz »nun aber sind zu Indiern gegangen die Männer« sich auf die Situation zu Anfang des Jahres 1802 beziehen sollte, bliebe für solche, die auch den »Krieg nicht verschmähen«, eigentlich nur die Beteiligung an der von Bonaparte beauftragten Mission des Generals Leclerc, die den kolonialen status quo ante wieder herstellen sollte. 29 Können wir uns »Bellarmin mit dem Gefährten« an der Seite der Wiederhersteller der Sklaverei vorstellen? Doch wohl eher nicht. Freilich lässt sich das »Nun«, mit dem die letzte Strophe beginnt, auch anders deuten. Man könnte es auf das Ende des Romans ›Hyperion‹ beziehen, der bekanntlich mit den Worten endet: »Nächstens mehr.« Natürlich ist es nicht zwingend, aus diesen Worten eine Absicht des Autors zu schließen, die Geschichte der beiden Gefährten Hyperion und Bellarmin fortzusetzen, – obwohl es manche zeitgenössischen Leser, z. B. Hölderlins Freund Sinclair, so verstehen wollten. 30 Aber es wäre doch immerhin eine Möglichkeit anzunehmen, dass Hölderlin einige Jahre nach Abschluss seines Romans mit einer Fantasie spielte, die den weiteren Lebensweg der Freunde ausmalte. Hyperion, der dann vielleicht dem Eremitenleben entsagt hätte, könnte sich mit seinem deutschen Freund getroffen haben und – ähnlich dem Entschluss des entsagenden Liebenden Saint-Preux in Rousseaus Roman ›La Nouvelle

Vgl. Thierry Lentz, Pierra Branda avec la participation de Chantal Lheureux-Prévot, Napoléon, L’esclavage et les colonies, Paris 2006. 28 Vgl. Jean-Pierre Lefebvre, Hölderlin. Journal de Bordeaux, o. O. 1990, S. 206 f., 211– 213, 226, 235 f., 323. 29 Götz Eberhard Hübner hielt aber eben diese Möglichkeit für die im Gedicht gemeinte »Geschichts-materia«: ders., »Nach Port-au-Prince. Andenken als Hölderlins geschichtspoetologisches Vermächtnis«, in: Le Pauvre Holterling, Nr. 9, S. 43–54; 52. 30 Vgl. E. W. von Diest an Justinus Kerner, 4. Juli 1821: »Ueberhaupt ist über Hyperion so viel zu sagen, ich erinnere mich sehr deutlich, daß der verstorbene Sainclair einmal äußerte, H: Plan mit dem Buche sey gewesen, in einem ungeschriebenen dritten Theile zu zeigen, wie das Christenthum am Ende aller irdischen Leiden u: Freuden uns mit der Welt versöhnt u: einigt, H: habe aber, ich weis nicht warum, diesen Plan späterhin nicht durchgeführt« (StA VII 2, 484); ähnlich dachten auch Hölderlins Freunde Emerich und Böhlendorf, wie aus dem Regest hervorgeht, das Gustav Schlesier von einem Brief Emerichs aus Mainz vom 4. März 1800 an Hölderlin angefertigt hat: Emerich »schreibt über den 2. Theil des Hyperion, den er nun gelesen, entzückt. Das Urtheil über die Deutschen aber hat ihn empört. – Erwartet, wie Böhlendorff einen dritten Theil« (MA II, 859). 27

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Héloise‹ – sich einer maritimen Expedition angeschlossen haben. Was wäre dann eine mögliche Analogie zur Weltumseglung des Lords Anson, an der Saint-Preux teilnahm? Welche berühmte Expedition mit humanistischer Zielsetzung ist denn in den siebziger Jahren von Bordeaux ausgegangen? Ich greife hier eine Idee auf, die Dietrich Uffhausen vor mehr als zwanzig Jahren publiziert hat. 31 Es wäre also denkbar, dass die fantasierte Reise der Freunde mit dem Ausgangspunkt Bordeaux jenes waghalsige Unternehmen des Marquis de Lafayette sein sollte, das ihn nach Nordamerika führte und an dem Unabhängigkeitskrieg der britischen Kolonisten teilnehmen ließ. Lafayette, der »Held zweier Welten«, von dem Hölderlin seit seiner Studentenzeit 32 , besonders aber durch Erzählungen des Majors von Kalb in Waltershausen so viel gehört hatte 33, hatte am 25 März (also ebenfalls zur »Märzenzeit«) 1779 auf halbem Weg zwischen Bordeaux und der Garonnemündung das zuvor gekaufte Schiff ›La Victoire‹ bestiegen und war – offiziell zu Geschäften auf die westindischen Inseln, in Wahrheit aber mit dem Plan, den amerikanischen Siedlern zu Hilfe zu kommen – in See gestochen. 34 Dann wären die »Indier« also nordamerikanische Indianer, denn auf der französischen Insel Saint-Domingue gab es, wie auf den meisten karibischen Inseln, seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts keine indianischen Ureinwohner mehr. Und tatsächlich gehörte es dann zu den besonderen Aufgaben des in amerikanischen Diensten stehenden Marquis de Lafayette, einen Frieden mit dem Teil der Irokesen-Liga auszuhandeln, der zunächst auf Seiten der britischen Krone engagiert gewesen war. 35 Dass eben diese Irokesen-Liga, bzw. ihr internationales 31 Heimath und Fremde. Hölderlin unterwegs nach Bordeaux, in: Hölderlin Heimath. Hg. vom Verein zur Förderung der Kunstausstellungen, Stuttgart o. J., S. 14.; vgl. danach auch Ulrich Gaier, Hölderlins vaterländischer Gesang ›Andenken‹, in: HölderlinJahrbuch 26, 1988–1989, S. 175–201; 190. 32 MA II, 488 (Lafayette 1792 als erfolgreicher General der republikanischen Armee). 33 MA II, 514 und 516 (Major von Kalb habe »unter Lafayette den Amerikanischen Krieg mitgemacht«). 34 Vgl. Lafayette in the Age of the American Revolution. Selected Letters and Papers, Vol. I December 7, 1776 – March 30, 1778, ed. by Stanley J. Idzerda et al., Ithaca and London 1997. 35 Etienne Taillemite, La Fayette, Paris 1989, S. 51: »il (sc. La Fayette) employa son temps à tenter de se concilier l’amitié des Indiens Hurons et Iroquois, alliés des Anglais. Il parvint à réunir à Johnson’s Town, sur la rivière Mohawk, une assemblée générale à

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Stammesbündnis, zu den Modellen gehört haben soll, die bei der Konzeption der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika Pate gestanden haben, ist bekannt. Wenn die Fantasie, die sich hier andeutet, also auf die Mission Lafayettes anspielen würde, dann würden die beiden Freunde, Bellarmin und sein Gefährte, zu denjenigen gehören, die gegen das koloniale Verhältnis zu kämpfen bereit gewesen wären. Dies scheint mir besser zu den Freiheitsidealen des jungen Griechen zu passen, die für die Konzeption von Hölderlins Roman vom Tübinger Anfang an bestimmend gewesen sind. 36 Das »Andenken«, das somit heraufbeschworen würde, bezöge sich dann freilich nicht auf die Zeit von Hölderlins eigenem Aufenthalt in Bordeaux, also auf den Beginn des Jahres 1802, sondern auf das Bordeaux von 1777. 37 Aber das kann durch einen Umstand wahrscheinlich gemacht werden, der bisher noch nicht eigens bedacht worden ist, obwohl er schon manchem Ausleger aufgefallen ist. 38 Der Gang der »Männer«, von denen die Rede ist, ist das einzige Faktum, das in dem Gedicht in der Zeitform des Perfekts formuliert ist: die Männer »sind gegangen«, im Gegensatz zu den Frauen, die »zur Märzenzeit« des Jahres 1802 »gehen«. Und das »Nun«, das den entsprechenden Vers einleitet (»Nun aber sind zu Indiern / Die Männer gegangen …«), wäre dann nicht ein den jetzigen Augenblick bezeichnendes indexikalisches »Nun«, sondern ein gewissermaßen »historisches« »Nun«, das den Fortgang einer Erzählung einleitet. Die »Freunde«, nach deren Aufenthalt gefragt wird (»Wo aber sind die Freunde?«) befinden sich

laquelle prirent part environ 500 hommes et femmes, puis s’efforça de ranimer leur ancien amour pour les Français. Il y reçut le nom d’un de leurs guerriers, ›Kayewla‹, sous lequel il fut désormais connu de toutes les tribus. Bien qu’il manquât de cadeaux à leur offrir, La Fayette obtint la signature d’un traité d’alliance, et il semble qu’il acquit sur eux un ascendant et une autorité qui facilitèrent les relations«. 36 MA III, 577: Magenau schreibt schon im November 1792 an Neuffer, Hölderlins Hyperion sei »ein freiheitsliebender Held, u. ächter Grieche, voll kräftiger Principien, die ich vor mein Leben gern höre«. 37 Auf diese Weise wäre auch ein dichterer Anschluss gefunden an die Handlung des zweiten Bandes des ›Hyperion‹-Romans, der Mitte des Jahres 1772 endet. Wollte man den »Gang« Bellarmins »mit dem Gefährten« auf die Leclerc’sche Expedition beziehen, die Ende 1801 aufbrach, dann wären die »Freunde« zu diesem Zeitpunkt mehr als 50 Jahre alt gewesen: Wären sie so realistischerweise brauchbar gewesen für eine kriegerische Expedition? 38 Auch z. B. G. E. Hübner (wie Anm. 26), S. 50. A

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nicht mehr in Bordeaux, sondern sie sind nun gegangen, auf die andere Seite des Ozeans, zu dem der Strom unterwegs ist.

Die Quelle des Reichtums Die Frage nach dem Ort, an dem die abwesenden Freunde sich aufhalten, wird nicht direkt beantwortet, sondern es folgt zunächst ein reflektierender Einschub, der wegen seiner Allgemeinheit auch den Auslegern Gelegenheit gegeben hat, sich in der Sphäre des Abstrakten zu bewegen. […] Mancher Trägt Scheue, an die Quelle zu gehen; Es beginnet nemlich der Reichtum Im Meere. 39

Hier scheint die Metaphorik zu herrschen, die das Wort »Quelle« insbesondere mit sich bringt, und der »Reichtum« muss dann natürlich auch im übertragenen Sinn eine abstrakte »Vielfalt« versinnbildlichen. Tatsächlich sind die Stationen des Flusslaufs, von der Quelle über den Strom bis zur Mündung ins Meer, die Hölderlin in mehreren seiner Stromhymnen ausführlich besingt, immer wieder als metaphorische Einzelheiten eines allegorischen Zusammenhangs aufgefasst worden, der sich insofern nahelegte, als der Dichter selbst durch seine Mythisierung der Ströme als Halbgötter einer solchen – sich vom konkreten geographischen Sachverhalt ablösenden – Interpretation Vorschub leistete. Was soll denn an den letztlich durch die Zufälligkeiten der Naturgeschichte verursachten Gegebenheiten eines Flusslaufs so besingenswert sein, wenn sie nicht als Sinnbilder einer über das Geologische hinausgehenden Gesetzlichkeit geschichtlichen Werdens überhaupt aufgefasst werden können? So bleibt uns vom Lauf des Flusses von der Quelle bis ins Meer letztlich dann nichts Besseres als ein allgemeines Gesetz der Inversion, nach dem der Wasserkreislauf zeigt, dass das Ende (das Meer) der Ursprung des Anfangs (der Quelle) ist. Wir sind glücklich wieder im »Philosophischen« angelangt, das dann, je nach den Konjunkturen der

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herrschenden Terminologien, »dialektisch« genannt zu werden verdient oder auch nicht. Ich versuche stattdessen, die Haftung am Konkreten des Geschilderten so weit wie möglich zu behalten. Es ist wohl wahr, dass Hölderlin das Wort »Reichtum« sehr häufig als Synonym für Vielfalt benutzt, so z. B. in dem ebenfalls sehr späten Text ›Was ist der Menschen Leben‹. Da heißt es am Ende: […] Wenn aber Das Blau ist ausgelöschet, das Einfältige, scheint Das Matte, das dem Marmelstein gleichet, wie Erz, Anzeige des Reichtums. 40

Klarerweise werden hier gegenübergestellt das »Einfältige« und der »Reichtum«. Und für diese emblematische Polarität gibt es andere Beispiele in Hölderlins Dichtung. Dennoch: nachdem wir die konkreten Bezugspunkte von »braunen Frauen« und »Indiern« namhaft gemacht haben, sollte es auch möglich sein, das Stichwort »Reichtum« ebenfalls auf einen konkreten Sachverhalt zu beziehen. Nachdem das koloniale Verhältnis den Hintergrund für den Gang der Frauen ebenso wie für das Gegangensein der Männer geliefert hatte, kann auch das Stichwort »Reichtum« unmetaphorisch für das stehen, worum es in den Kolonien geht: den Erwerb von ganz buchstäblichem Reichtum. 41 Gewiss: der Reichtum, so heißt es, beginnt »im« Meere und nicht »jenseits« des Meeres, in »Übersee«. So möchte man stattdessen vielleicht an eine Theorie des ozeanischen Ursprungs alles Lebens denken, wie sie seit dem Milesier Thales bis zu modernen evolutionsbiologischen Theorien immer wieder vorgebracht wurde. Sie würde allerdings in dem Zusammenhang der beiden evozierten bordelaisischen Szenen etwas erratisch wirken. Dass Hölderlin auch der ökonomische Zweck der überseeischen »Entdekungsreisen« 42 bewusst gewesen ist, lässt sich an einer Stelle in MA I, 907. Anke Bennholdt-Thomsen und Alfredo Guzzoni untersuchen in dem Kapitel ›Der Reichtum‹ ihrer Aufsatzsammlung Analecta Hölderliniana III. Hesperische Verheißungen, Würzburg 2007, S. 117–139, das Hölderlinische Motiv des »Reichtums«, »den die europäischen seefahrenden Nationen aus den Kolonien schöpfen« (S. 117), ohne allerdings in diesem Zusammenhang diese Verse aus ›Andenken‹ mit einzubeziehen. 42 MA III, 251: »Entdekungsreisen als Versuche, den hesperischen orbis, im Gegensaze gegen den orbis der Alten zu bestimmen«. 40 41

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dem Entwurf ›Kolomb‹ (wo sonst?) deutlich machen. Da heißt es, nach dem einleitenden Bekenntnis des Sängers, dass er am liebsten »ein Seeheld« wäre: […] Thätigkeit zu gewinnen nemlich Um nichts zu verderben, ist das freundlichste, das Unter allen [Satz bricht ab] 43

Auch hier muss zuerst eingeräumt werden, dass das Wort »gewinnen« in vielen Texten Hölderlins übertragene, metaphorische Bedeutung hat. Aber es gibt in der ersten Strophe von ›Brod und Wein‹ schon den locus classicus für die hier im späten ›Kolomb‹-Entwurf anzunehmende Bedeutung: Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt 44

Die »Thätigkeit zu gewinnen«, eine Tätigkeit, die von dem »Seehelden« ausgeführt wird, um Gewinn zu erwirtschaften, ist eine kaufmännische, und sie wird unter das »freundlichste« gerechnet. Das Ökonomische gehört also keineswegs in einen sekundären, vielleicht sogar verächtlichen Bereich. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass Hölderlins Stiefvater, der einzige Vater, an den er Erinnerungen hatte, ein Nürtinger Weinhändler war. Weil der Handel ein ehrbares Geschäft ist, kann seine Ausübung der Tätigkeit der »Mahler« verglichen werden, die, »das Schöne der Erd’« aus aller Herren Länder zusammenbringen. Wenn nun aber der »Reichtum / Im Meere« beginnt, dort also seine »Quelle« hat, dann heißt das – gemäß dem oben schon allgemein angeführten Gesetz der »Inversion« –, dass es der Handel ist, aus dem der Reichtum erwächst, nicht die Produktion. Wenden wir diesen Gedanken wieder ins Abstrakt-Philosophische, so lässt sich darin eine erneute Absage an jenen »Produktionsidealismus« erkennen, der seit dem Auftreten Fichtes die philosophische Diskussion bestimmte. 45 Das »commercium« ist für Hölderlin keine Endstation, sondern eine Ursprungskategorie. Die Gewinnorientierung der Seefahrt ist also nicht eo ipso verwerflich. Übrigens folgt Hölderlin auch hier seinem großen Vorbild Homburger Folioheft 77, 12, 13, 15: MA I, 425. MA I, 372. 45 Vgl. die Diskussion in Hölderlins Neujahrsbrief 1799 an den Bruder, wo von der »neuen Philosophie« gesagt wird, dass sie »sich zu einseitig an die große Selbstthätigkeit der Menschennatur hält« (MA II, 726). 43 44

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Pindar, der in Versen, die Hölderlin selbst übersetzt hat, davon spricht, dass »gleichwie Phönizische Waare / Der Gesang über das graue Meer gesandt wird« 46 , was ja dann, wenn der Handel mit Waren ein schlechtes Ansehen hätte, nicht zur Ehre des Pindarischen Gesangs gereichte. Jedenfalls zeigen alle diese Belege, dass der Bereich des Ökonomischen keineswegs so betrachtet wird, als ob er gewissermaßen nicht »poesiefähig« wäre. Dass die »Sterblichen / Von Lohn und Arbeit« leben 47 und dass »Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt«, das gehört zu der Welt, die für Hölderlin besingenswert ist. Mehr noch. Zu dem, was in ›Andenken‹ über die Seefahrer gesagt wird, dass […] Sie, Wie Mahler, bringen zusammen Das Schöne der Erd’ 48

gibt es eine erstaunliche Parallele in dem groß angelegten elegischen Gesang ›Der Archipelagus‹. Dort wird im Rückblick auf die Blütezeit Athens gesagt: Siehe! Da löste sein Schiff der fernhinsinnende Kaufmann, Froh, denn es wehet’ auch ihm die beflügelnde Luft und die Götter Liebten so, wie den Dichter, auch ihn, dieweil er die guten Gaaben der Erd’ ausglich und Fernes Nahem vereinte. 49

Kaufleute und Dichter sind gleichermaßen Götterlieblinge, weil sie eben den Austausch der Güter besorgen und so Eigenes und Fremdes, Nahes und Fernes mit einander »ausgleichen«. Freilich dort, wo Gewinn gemacht werden kann, da ist auch ein »verderben« möglich. Davon war schon oben in dem Halbsatz aus ›Kolomb‹ die Rede, wo es nicht einfach ein Pleonasmus ist, wenn es heißt: Thätigkeit zu gewinnen nemlich Um [oder: Und?] nichts zu verderben 50

Es gibt nämlich sehr wohl eine Art der »Tätigkeit zu gewinnen«, die um des Verderbens willen geschieht. In den erhaltenen Texten Hölder-

46 47 48 49 50

MA II, 210. MA I, 230. MA I, 474. MA I, 297. Vgl. Fußnote 39. A

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lins wird dieser angedeutete Gedanke auf der begrifflichen Ebene nicht weiter ausgeführt. Er liegt aber in der Szenerie der heraufbeschworenen Bilder und lässt sich am Ende auch auf dem Wege der Analogie näher erschließen. Ich habe soweit nun einmal versucht, ein zweites Thema des Gedichts ›Andenken‹ herauszuarbeiten. Neben dem Thema der »Liebe«, das ich in meiner Leipziger Interpretation hervorgehoben habe, zumal es ganz deutlich in der Zentralstrophe des Gedichts angesprochen wird, das aber auch den gesamten Text der fünf Strophen bestimmt, ist ein zweites Thema des Gedichts die Ökonomie, hier im Vordergrund in einer sehr spezifischen Ausprägung, nämlich als koloniales Verhältnis, das sich freilich in zwei unterschiedlichen Versionen darbietet, je nachdem, ob man nach Nordamerika oder zur Karibik hinüberblickt. Es ist dabei jedoch nicht so, als ob »Liebe« nur und ausschließlich den positiven Aspekt menschlichen Verkehrs und »Ökonomie« seinen negativen Aspekt andeuten sollte. In beiden Weisen menschlicher Verhältnisse gibt es gelingende und korrupte Versionen. Der Gedanke des »Verderbens« im Sinne einer Korrumpierung taucht sowohl im ökonomischen als auch im erotischen Kontext auf. In der Rhein-Hymne z. B. greift Hölderlin Rousseaus Kritik des Eigentums auf, wenn er fragt: Wer war es, der zuerst Die Liebesbande verderbt Und Strike von ihnen gemacht hat? 51

Hier ist ein exemplarischer Prozess des Verderbens auf dem Feld der »Liebe« angesprochen: aus »Banden« werden »Strike«, wenn das Liebesverhältnis in Kategorien von Recht und Gesetz verstanden wird. Das Recht ist, wie Kant hervorgehoben hatte, »mit der Befugnis zu zwingen verbunden«. 52 Eben deshalb darf die Bindung durch und in Liebe nicht zu einer Verbindlichkeit im rechtlichen Sinne pervertiert werden. Das geschieht aber da, wo die Ehe als bloße rechtliche Institution verstanden wird, die nach dem Vertragsrecht zu behandeln ist. Genau das aber hatte der notorische Junggeselle Kant in seiner berüchtigten Definition der Ehe getan: »die Ehe, d. i. die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitiMA I, 344. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, § D (AA VI, S. 231).

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gen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«. 53 Diese Definition ist eine Ausführung der Erklärung des Begriffs der »Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale)«, den Kant als den »wechselseitige(n) Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht«, einführt. 54 Bekanntlich hat schon Hegel dieses Eheverständnis Kants eine »Schändlichkeit« genannt. 55 Kant formuliert in seiner Lehre von der Ehe freilich nur das bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts – bis zur Propagierung der »romantischen Liebe« durch die Generation der »Romantiker« – allgemein übliche Verständnis der Ehe. Hölderlin hatte selbst die zu seiner Zeit in Württemberg noch allgemein übliche Verquickung von Amt und Ehe (»sparta et Martha«) in seinem Freundeskreis erlebt 56 und war von den Planungen, die seine Mutter im Verein mit der Familie Elise LeBrets in Szene setzte, mehrfach betroffen gewesen. 57

Sterbliche Gedanken Über die »sterblichen Gedanken« im zentralen Mittelvers des Gedichts ist seit Heideggers Vortrag von 1943 viel geschrieben worden, erst recht, nachdem Bertaux 1977 Heideggers »Erläuterungen«, »sterbliche Gedanken« seien »Gedanken, wie sie Sterblichen anstehen«, »fade« genannt hatte. 58 Schon Zuberbühler und Schmidt war aufgefallen, dass der Ausdruck noch zweimal im Werk Hölderlins gebraucht wird. Die erste Parallelestelle findet sich zu Beginn des ›Hyperion‹-Romans, die zweite im zweiten Entwurf der ›Empedokles‹-Tragödie. 59 Schmidt ziEbd. § 24 (AA VI, S. 277). Ebd. 55 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Berlin 1821, § 75. 56 Besonders drastisch im Fall seines Freundes Magenau, der in eine Pfarre einheiratete, vgl. StA VI, 101, und die Erläuterungen Adolf Becks dazu, StA VI, 664. 57 Vgl. dazu Priscilla Hayden-Roy, »Elise Lebret und Friedrich Hölderlin«, in: Hölderlin: Sprache und Raum, hg. von Valérie Lawitschka. Turm-Vorträge 6, (1999–2007), Tübingen 2008, S. 149–182, und dies., »Sparta et Martha. Die Pfarrehe in Friedrich Hölderlins Umfeld«, (erscheint 2010 in: Tübinger Bausteine zur Landesgeschichte, hg. von Sönke Lorenz, Volker Schäfer, Wilfried Setzler). 58 Pierre Bertaux, »Hölderlin in und nach Bordeaux«, in: Hölderlin-Jahrbuch 19/20, 1977, S. 94–111; 109. 59 MA I, 614 (Hyp. I, 9) und MA III, 347 (Emp. II, 428). 53 54

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tiert den das Lemma enthaltenden Satz aus dem zweiten Brief des Romans (»Der Wonnegesang des Frühlings singt meine sterblichen Gedanken in Schlaf«) und erklärt die »sterblichen Gedanken« als »diejenigen, die sich nicht auf das Wesentliche und Bleibende, auf das Unsterbliche richten«. 60 Er lässt den vorausgegangenen Brief-Kontext des Satzes außer Acht und wendet so die konkrete Bedeutung des Ausdrucks ins Abstrakt-Allgemeine. Ähnlich schon Zuberbühler, der die vorausgegangen »Gedanken« Hyperions »seine verzweifelten, nihilistischen Reflexionen« nennt. 61 Tatsächlich hebt der Gedankengang des nach Griechenland zurückgekehrten Hyperion an mit der Klage: »Fern und todt sind meine Geliebten«, und fährt fort mit den Worten: »Ruhmlos und einsam kehr’ ich zurük und wandre durch mein Vaterland, das, wie ein Todtengarten, weit umher liegt …« Hyperions »sterbliche Gedanken« sind nicht »Gedanken, vergänglich wie das Treiben des Tages, um das sie sich sorgen« 62 , sondern sie gedenken der toten »Geliebten«, bzw. des Vaterlands als eines Friedhofs. Auch die ›Empedokles‹-Stelle, an der Hölderlin – vielleicht aus metrischen Gründen – die Wendung »sterbliche Gedanken« durch den Ausdruck »Sorgen« ersetzt, enthält in ihrem Kontext einen Bezug auf den Tod. Da spricht Empedokles nämlich davon, dass er »nah mein eignes Welken ahndete« 63 , und diese Ahnungen eines nahen eigenen Todes werden dann als »sterbliche Gedanken« apostrophiert. »Sterbliche Gedanken« sind Gedanken an das Sterben (das eigene oder das von geliebten Personen). In dem Gesang ›Andenken‹ stellt sich jedoch die Frage nach dem logischen Verhältnis zwischen dem Wunsch nach dem »Schlummer« und der Ablehnung von »sterblichen Gedanken«. Widerruft diese Ablehnung gewissermaßen »adversativ« jenen Wunsch? Oder bestätigt Jochen Schmidt, Hölderlins letzte Hymnen. ›Andenken‹ und ›Mnemosyne‹, Tübingen 1970, S. 22 mit Anm. 19. 61 Rolf Zuberbühler, Hölderlins Erneuerung der Sprache aus ihren etymologischen Ursprüngen, Berlin 1969, S. 97. 62 Schmidt [wie Anm. 54], S. 22; in diesem Sinn findet sich der Ausdruck übrigens auch im IV. Buch Esra (einer spätjüdischen Apokalypse aus dem beginnenden zweiten nachchristlichen Jahrhundert) im Kap. 14, Vers 14. Da das Weltende unmittelbar bevorsteht, bekommt der Prophet »Esra« gesagt: »laß von dir die sterblichen Gedanken, und wirf von dir die menschlichen Bürden, und lege von dir die schwache Natur, und lege beyseit deine beschwerliche Gedanken, und eile zu wandern aus dieser Zeit« (zit. nach der von Magnus Friedrich Roos herausgegebenen Luther-Bibel, Tübingen 1788, S. 894). 63 MA I, 854 (Emp. II, 424). 60

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sie ihn? Ist die »Ruhe« »unter Schatten« ein erquickender und reanimierender Schlaf? 64 Oder sind die »Schatten« nicht doch auch die »Gestorbenen«? Viel hängt an der Wertung, die das Adjektiv »süß« in der Interpretation erfährt. Im ›Rhein‹ sind es die »Tapfern«, die den »süßen Schlummer« »suchen«, ihnen werden aber entgegengesetzt die »Liebenden«, die nicht »suchen«, sondern betonterweise »sind«. 65 Ebenso in ›Andenken‹ : nach dem »süßen Schlummer«, den der Genuß des Weins gewährt, verlangt es den, der »tapfer« vergessen möchte wie der Weingott 66 , der Liebende soll dagegen das »Gespräch« wählen, nicht das Verstummen. Gedanken des Abschieds und der Trauer vermögen, »seellos« zu machen. Die »Seele« ist für Hölderlin, der hier den antiken Philosophen Platon und Aristoteles folgt, das »Prinzip der Bewegung«, also das, was »lebendig« macht. Trauer kann jedoch lähmen. So heißt es beispielsweise von Empedokles, nachdem die »Götter seine Kraft von ihm genommen« haben, er sitze »seelenlos im Dunkel«. 67 Wo »sterbliche Gedanken« zu Antriebslosigkeit und Apathie führen, da sind sie »nicht gut«. Ist dies der Sinn des Satzes »Nicht ist es gut, / Seellos von sterblichen / Gedanken zu seyn«, so zeigt sich hier im Zentrum des Gedichts ›Andenken‹ die gleiche Einsicht wie in der Schlussgnome des Parallelgedichts ›Mnemosyne‹ : […] dem Gleich fehlet die Trauer. 68

Siglen FHA MA StA

Friedrich Hölderlin sämtliche Werke in Frankfurter Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, Frankfurt a. M. 1975 ff. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp, München 1992 Hölderlin, Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart 1943 ff.

So scheint Schmidt [wie Anm. 54] den Gedanken aufzufassen. »Und die Flüchtlinge suchen die Heerberg, / Und süßen Schlummer die Tapfern, / Die Liebenden aber / Sind, was sie waren, sie sind / Zu Hauße …« (MA I, 347) 66 MA I, 383. 67 MA I, 775 (Emp. I, 178). 68 MA I, 437 und 439 (»fehlen« hier natürlich im Sinne von »(sich) verfehlen«). 64 65

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»… der Gter gefhrlichstes, die Sprache …« Dichtung und Philosophie bei Hölderlin

Im Walde. Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, diß ist sein Verstand. Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen, der Güter gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei geerbt zu haben, gelernt von ihr, ihr Göttlichstes, die allerhaltende Liebe. 1

Die Sprache, und die eigentliche Sprache ist mit Hölderlin die des Gedichts, ist das gefährlichste, wirksamste und wirklichste Gut. Sie ist zugleich dasjenige, das den Menschen seinem eigenen Drang und seinem Verstand (im Sinne seines ureigenen Vermögens), den Geist zu bewahren, entrückt, um diesen vermittels seines Identisch-Entgegengesetzten, der Sprache, zugleich zu überschreiten und zu sich zu bringen. Darin, wie in der Zweiteilung des Gedichts in den ersten und zweiten Satz, ist zugleich die Bezogenheit und die Differenz zwischen philosophischem und poetischem Sprechen angezeigt.

1 »Im Walde«, in: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Michael Knaupp, München 1992 (MA), Bd. I, S. 265.

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»… der Güter gefährlichstes, die Sprache …«

I.

Kontext

Hölderlins zentrale poetologische Entwürfe, »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« 2 sowie die Entwürfe zu den Tönen, streben dezidiert das an, was in den späteren ›Sophokles-Anmerkungen‹ in Übertragung der antiken ›mechané‹ der »gesezliche Kalkul« 3 bzw. das »kalkulable Gesez« 4 genannt wird. Es geht um die Herausarbeitung einer »poëtische[n] Logik« 5 , die der philosophischen sowohl entspricht als auch sich von ihr absetzt, wobei ›Logik‹ in diesem Kontext stärker von der Vielfalt der Bedeutungen des griechischen ›lógos‹ als von dem neuzeitlich verengten Begriff von Logik als den abstrakt-formalen Gesetzen des Denkens geprägt ist. 6 Für die Begründung der Einheit wie der Differenz von philosophischem und poetischem Denken und Sprechen – und der Zusammenhang von Denken und Sprechen ist ein wesentlicher Aspekt des ›lógos‹ – ist das Verhältnis des ›gesezlichen Kalkuls‹ zu dem »lebendige[n] Sinn, der nicht berechnet werden kann« 7 , maßgeblich. Darin zeigt sich zugleich Hölderlins Überschreitung zeitgenössischer philosophischer wie poetologischer Ansätze. Gibt Kants Ästhetik poetologische Grundproblematiken des Idealismus und der Frühromantik vor und sind Schillers ästhetische Schrif-

Im Folgenden abkürzend auch ›Verfahrungsweise‹ genannt. MA II, 309. 4 MA II, 369. 5 Ebd. 6 Vgl. auch Bernd Schneider, Hölderlins Sprachdenken zwischen Poesie und Reflexion. Elektronische Ressource 2002 (http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/462/), S. 278. Jedoch wird auch ›lógos‹ auf dem Hintergrund eines ›Logozentrismus‹ im ›metaphysischen‹ Denken oftmals zu eng aufgefasst (so auch Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin. Frankfurt a. M. 1978, S. 356). 7 MA II, 309. Vgl. dazu in einem grundsätzlichen Sinn Volker Rühle: »Poesie existiert nicht vor ihrer Übersetzung. Zur Übersetzbarkeit von Hölderlins Sophoklesübersetzungen«. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 23,1 (1998), S. 19–41, sowie ders., »›Schikliche Hände‹. Der Anspruch des Absoluten in Hölderlins Dichtung«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hg. v. Christop Jamme u. a., München 2004, S. 197–222: »wir haben es im Fortgang poetischer Logik mit irreversiblen schöpferischen Veränderungsprozessen zu tun, die Hölderlin der reversiblen Fortschrittslogik der zeitgenössischen Philosophie und poetischen Klassik entgegensetzt, die schöpferische Erfahrungsprozesse im Rahmen ihrer vorausgesetzten Unterscheidungen auf das Muster linearen und akkumulativen Fortschreitens festlegt« (S. 219). 2 3

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ten 8 nach Hölderlin zwar einerseits eine produktive Auseinandersetzung mit der Kantischen Problemstellung, gehen sie jedoch andererseits nicht weit genug über »die Kantische Gränzlinie« 9 hinaus, so ist bereits in diesen Konstellationen die Grundstoßrichtung der poetologischen Entwürfe Hölderlins angezeigt: die Begründung eines radikalen und umfassenden Realitätsanspruchs10 der Poesie in der Überschreitung des Geistes auf ein gesteigertes, ›höheres‹ Leben hin, worin sich die Differenz zum philosophischen Denken und Sprechen bereits andeutet. 11 8 Zur Grundproblematik vgl. beispielsweise Georg Mein, Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000, S. 165–210, bes. S. 203, und Peter-André Alt: »Hölderlins Vermittlungen. Der Übergang des Subjekts in die Form«. In: Germanisch-romanische Monatsschrift, N.F. 38 (1988), S. 120–139, bes. S. 136 f. 9 In Bezug auf ›Ueber Anmuth und Würde‹ in dem Brief an Neuffer vom 10. Oktober 1794, MA II, 551. 10 ›Realität‹ meint in der Doppeldeutigkeit von ›Realisation‹ bzw. ›Realisieren‹ das ›Verwirklichen‹, ›Wirklich-Werden-Lassen‹ und das ›Erkennen-als‹, ›Zur-Darstellung-Bringen-als‹. Der erste Aspekt impliziert im Kontext der Hölderlinschen Poetologie auch das Wirken-Können, die ›dynamis‹, die Macht, ›Realität‹ zu sein, zu bilden und zu ›verändern‹ im Sinne einer Sprachhandlung. In dieser wechselseitigen Verschränkung zeigt sich bereits die Grunddynamik sowohl des poetischen Geistes als auch des konkreten Gedichts als sprachlichem. Zu dem Doppelcharakter des Wirklichkeitsbegriffs vgl. auch zutreffend Wolfgang Binder, »Sprache und Wirklichkeit in Hölderlins Dichtung«. In: Hölderlin-Jahrbuch 9 (1955/56), S. 183–200, insbes. S. 185 f. 11 In den zentralen poetologischen Entwürfen um 1800 wird somit die frühere Stoßrichtung Hölderlins insofern modifiziert, als es in diesen um die Begründung der Differenz von philosophischem und poetischem Sprechen und in eins damit um die Herausarbeitung der ›Überlegenheit‹ der Poesie hinsichtlich der Darstellbarkeit und des ›Fühlbarmachens‹ des ›Absoluten‹ bzw. ›Unendlichen‹ geht und nicht mehr, im direkten Anschluss an Kant und Schiller, um den Versuch, ästhetischer Erfahrung den Status verallgemeinerbarer Erkenntnis zuzusprechen. Inwiefern insbesondere Hölderlins Platon-Rezeption hierfür eine entscheidende Rolle spielt, ist bekannt. Eine genaue Ausarbeitung, gerade auch in Hinsicht auf die implizierte Überschreitung idealistischer Systembildung, findet sich bei Johann Kreuzer, »Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung. Überlegungen zu einem platonischen Motiv«. In: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. Hg. v. Burkhard Mojsisch u. a., München u. a. 2003, S. 119–137. Das Verhältnis von ›Kunst‹ und ›Leben‹ dahingehend zu bestimmen, dass das Kunstwerk »ein Lebenkönnen und Lebenwissen vermittelt« und die »Kunst« darin besteht »mit diesen Widersprüchen [in uns selbst sowie zwischen Selbst und Welt, Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft] zurechtzukommen« (Wilhelm Schmid, »›Im Kunstwerk das Leben lernen‹. Hölderlins ›Grund zum Empedokles‹«. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung. Hg. v. Valérie Lawitschka, Tübingen 2001 [= Turmvorträge 5, 1992–1998],

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Verfahren die früheren poetologischen Entwürfe Hölderlins noch ganz in der von Kant ausgehenden Fragestellung der Wirklichkeit von Kunst und mit transzendentalem Anspruch (im Sinne ihrer Bedingungen der Möglichkeit) 12 , so versuchen die ›Sophokles-Anmerkungen‹ am konkreten Beispiel die poetische Logik antiker tragischer Dichtung, und zwar in harmonischem Gegensatz zur modernen, herauszuarbeiten. Sind diese Versuche weder von ihrem Anspruch noch ihrer Verfahrensart direkt aufeinander abbildbar, so wird doch eine gemeinsame Stoßrichtung deutlich: die Herausarbeitung der Differenz zwischen philosophisch-diskursivem und poetischem Sprechen und in eins damit der spezifischen Auszeichnungen einer poetischen Logik als ›dynamis‹ einer Denk-, Welt-, und Sprechstruktur. 13 In diesem Sinne sind auch die Verbindungen zwischen den früheren poetologischen Entwürfen und den ›Sophokles-Anmerkungen‹ zu verstehen, die Verbindung von poetischer Logik und dem Wechsel der S. 99–113, hier S. 102), ist trotz der Berufung auf das Epigramm ›Pros heauton‹ (vgl. MA I, 236) reduktionistisch insofern, als es zum einen eine direkte Übertragbarkeit von ›Kunst‹ und ›Leben‹ und zum anderen eine instrumentelle Anwendung von ›Wissen‹ in der ›Praxis‹ zugrundelegt. Stattdessen scheint eher der Sprachhandlungscharakter der Dichtung in Bezug auf ›Welt‹, ›Leben‹ und ›Individuum‹ in dem Sinne eines ›Realisierens‹ als ›Erkennen-als‹ sowie ›Verwirklichen‹, ›Wirken‹ und ›Bewirken‹ für das Verhältnis von ›Kunst‹ und ›Leben‹ maßgeblich. 12 Zum genaueren Verständnis von ›transzendental‹, auch im Zusammenhang der Subjektivitätsphilosophie, vgl. Fußnote 19. 13 Anja Lemke sieht, ebenso wie Helmut Hühn (Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken. Stuttgart 1999, S. 176), die Radikalität der ›Zäsur‹ und der Krisis in den ›Sophokles-Anmerkungen‹ im Vergleich zu früheren Konzeptionen gesteigert (vgl. »›Nichts als Zeit‹. Zum Verhältnis von Sprache, Gott und Geschichte in Hölderlins Tragödienkonzeption«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hg. v. Christoph Jamme u. a., München 2004, S. 401–418, hier S. 401). Diese Radikalität und damit verbunden die Aufwertung der Differenz findet sich jedoch bereits seit der Endfassung des ›Hyperion‹ und hält sich bis in die ›Sophokles-Anmerkungen‹ hinein durch. Dadurch ist der hier hergestellte Bezug zwischen der ›Verfahrungsweise‹, den Entwürfen zu den ›Tönen‹ und den ›Sophokles-Anmerkungen‹ überhaupt möglich. Auch Michael Theunissen (Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit. München 2000) sieht das Existieren des Menschen »im Moment« als einerseits radikal diskontinuierlich und als Selbstverlust des Menschen an, andererseits betont er zugleich die innewohnende Wendung, die einen »Übergang von der Zeit als solcher zur geschichtlichen Zeit« (S. 966) bedeutet. Dem entsprechen genau die herausgearbeiteten Verhältnisse in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ und dem darauffolgenden Sich-Fassen der Stimmung sowie die Vertauschung der Charaktere von Grundton und Kunstcharakter und der Darstellung der Sprachfindung des Gedichts in dem Gedicht. A

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harmonisch entgegengesetzten Toncharaktere, der »reißende […] Wechsel der Vorstellungen« 14 auf seinem Höhepunkt, »seinem Summum« 15 , als dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹, die »gegenrhythmische Unterbrechung« 16 , Zäsur, als der Umschlag von Grundton und Kunstcharakter, in der statt der Bewegung, dem »Wechsel der Vorstellungen«, nun augenblickshaft, in der Zäsur, »die Vorstellung selber erscheint«. 17 Geht Hölderlin einerseits von zeitgenössischen Fragestellungen und Problemen aus und halten sich seine theoretischen Entwürfe – auch terminologisch – im Umfeld der Klassischen deutschen Philosophie des Idealismus, so führt andererseits seine antiklassizistische Auseinandersetzung mit antiken Quellen, v. a. mit Platon 18 und vorsokratischen Erscheinungen von Philosophie – gerade in Hinsicht auf das Verhältnis von Einheit und Zweiheit – zu einer Überwindung eines idealistisch-subjektivitätsphilosophischen Ansatzes. Konstatiert Hegel das Ende der Kunst und lässt er die Religion wie die Kunst in der Philosophie des absoluten Geistes aufgehen, so zielen Hölderlins poetologische Entwürfe demgegenüber auf die transzendentale Begründung 19 des Vorrangs der Poesie, die zwar über PhilosoMA II, S. 310. Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. Auf die Bedeutung der Zäsur kann in diesem Kontext nicht genauer eingegangen werden, vgl. aber als Zusammenfassung und Weiterführung der Diskussion Rodolphe Gasché, »Der unterbrechende Augenblick: Hölderlin über Zäsur, Zeit und Gefühl«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Hölderlins. Hg. v. Christoph Jamme u. a., München 2004, S. 419–445. 18 Zu diesem Komplex vgl. auch Johann Kreuzer, »Hölderlins Kritik der intellektuellen Anschauung. Überlegungen zu einem platonischen Motiv«. In: Platonismus im Idealismus. Die platonische Tradition in der klassischen deutschen Philosophie. Hg. v. Burkhard Mojsisch u. a., München u. a. 2003, S. 119–137. Vgl. auch Michael Franz: »›Platons frommer Garten‹. Hölderlins Platonlektüre von Tübingen bis Jena«. In: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992/93), S. 111–127. 19 ›Transzendental‹ ist hier im Sinne ›unabdingbarer Voraussetzungen‹, als ›Bedingungen der Möglichkeit‹, verstanden, jedoch weder rein erkenntnistheoretisch (wie bei Kant), noch rein auf die Subjektivität überhaupt (wie bei Fichte und Hegel) bezogen. Vielmehr geht es in Hölderlins Poetik zwar um eine Begründung der Poesie und ihres Anspruchs in diesem weitreichenden Sinne, doch ist mit dem ›eigentlichen‹ ›Grund‹, der in dem ›göttlichen Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ liegt und sich in der poetischen ›Grund‹-Dynamik der ›Identität der Identität und der Differenz‹ manifestiert, eine Letztbegründung aufgrund der Unaufhebbarkeit der Differenz und somit der ›Offenheit‹ und ›Unberechenbarkeit‹ zugleich überschritten. Die ›grundlegende‹ Paradoxie 14 15

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phie und Religion hinausgeht, diese jedoch nicht in sich aufhebt, sondern sie als Konstitutiva umfasst. Zugleich führen Hölderlins Reflexionen jedoch auch in keine frühromantische Fragmentpoetik. Vielmehr ist in Hölderlins poetologischen Schriften – und das wird trotz deren Entwurfscharakter deutlich – der Versuch gemacht, einen transzendentalphilosophischen Ansatz mit Geschichte und Sprache, mit Mythos, Religion und sozialer Gemeinschaft zusammenzudenken und aus diesen heraus die Bedeutung der Poesie zu begründen: mit transzendentalphilosophischem Anspruch und zugleich in der Überschreitung dieses Ansatzes von innen heraus. In dieser immanenten Überschreitung verbleiben die Beteiligten in einem Wechselprozess, in dem sie jeweilig erst als sie selbst zum Vorschein kommen. Diese Dynamik wechselseitiger Konstitution verweist bereits auf die Grunddynamik im Hölderlinschen Denken, die auch die Vorrangstellung der Poesie begründet, denn nur diese ist nach Hölderlin in der Lage, die Grunddynamik des Geistes in dem Sinne eines (Heraklitisch) weiten Begriffs von Logik zu realisieren, und das heißt, wirklich und kenntlich werden zu lassen. Der Ausdruck ›philosophisch‹ bezieht sich somit einerseits auf Ansätze 20 in der Nachfolge Kants 21, andererseits, und zugleich damit und mit ihr das gebrochene Verhältnis zur Transzendentalphilosophie zeigt sich bereits in dem Oxymoron ›transzendentale Empfindung‹ als Kombination von A-Priorischem und A-Posteriorischem an. 20 Zum Anspruch der Poetologie Hölderlins vgl. auch Stefan Nowotny (»Der Fehl der Namen. Zur Poetologie und Poesie Friedrich Hölderlins«. In: Sprache und Pathos. Zur Affektwirklichkeit als Grund des Wortes. Hg. v. Ekkehard Blattmann, Freiburg/Br. u. a. 2001, S. 194–209): »für Hölderlin [münden] die Fragestellungen der nachkantischen Transzendentalphilosophie in das Projekt einer transzendentalen Poetologie« aufgrund der »konstitutive[n] Unvordenklichkeit und Unerdenklichkeit des transzendentalen Grundes« (S. 199). 21 Zur Überschreitung Kants vgl. auch Volker Rühle: »Transformationen der idealistischen Ästhetik im Blick auf Kant und Schelling. Kunsterfahrung im Spannungsfeld von Reflexion und Produktion«. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 47/2 (2002), S. 191–215. Zum Verhältnis zu Kant sowie zum Idealismus vgl. die sehr differenzierte Darstellung von Rodolphe Gasché: »Der unterbrechende Augenblick. Hölderlin über Zäsur, Zeit und Gefühl«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hg. v. Christoph Jamme u. a., München 2004, S. 419–445, sowie Guido Schmidlin: »Zur Konstellation zwischen Hölderlin, Hegel und Schelling im Jahr 1803«. In: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992/93), S. 204–217. Einen durchgängigen Kantbezug konstatiert Rainer Nägele, Hölderlins Kritik der poetischen Vernunft. Basel u. a. 2005. A

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verbunden, meint ›philosophisch‹ das bloße Verbleiben im Geist, auf dem die Poesie zwar konstitutiv beruht, ihn jedoch in sich und ohne ihn aufzuheben 22 zugleich auf das Andere seiner selbst, das ›Leben‹, hin überschreitet 23 . In dem sich hier anzeigenden strukturellen Verhältnis von Geist und Leben liegt die (dynamische) Grundverfasstheit von Poesie und mit ihr zugleich die Differenz von philosophischer und poetischer Logik. 24 Poesie ist einerseits umfassend, weil sie kein menschliches Vermögen und keinen Bereich des Lebens ausschließt und – auch vermittels des Geistes – selbst gesteigerte Wirklichkeit ist. Andererseits kann sie gerade dies nur sein, weil sie keines der in ihr konstitutiv Beteiligten in sich aufhebt, sondern als einziges ›Prinzip‹ die Dynamik von harmonisch Entgegengesetzten 25 realisiert, und zwar in dem Doppelsinn eines Kenntlich-Machens und eines Verwirklichens. Nach Wolfgang Martin ist jedoch gerade dies der Fall, indem er ›Umschließen‹ und ›Aufheben‹ gleichsetzt (vgl. Mit Schärfe und Zartheit. Zu einer Poetik der Sprache bei Hölderlin mit Rücksicht auf Herder. Bonn 1990, S. 75). Winfried Nolting fasst dies als »Verhältnis« der Poesie »zum Gedanken, zur Reflexion« einerseits und als »Abhängigkeit vom Stoff« andererseits: »Poesie ist nicht durch Philosophie, aber auch nicht ohne philosophisches Denken zu erklären« (Die Objektivität der Empfindung. Hölderlin. Mit einer Einleitung zu Kant und Hegel. Stuttgart 1989, S. 85). 23 Johann Kreuzer schreibt Hölderlin zu Recht einen Beitrag zu einer Philosophie jenseits des Idealismus zu, wenn man »als Idealismus eine Denkform unterstellt, die in der Erkenntnis eines Absoluten zum Abschluß gelangt«. In Hölderlins Gegenposition, einer »›Apriorität des Individuellen‹«, »gründet« nach Kreuzer sowohl »die Differenz zu Hegel« als auch »die Logik des Poetischen« (Johann Kreuzer: »Hölderlins Beiträge zur Philosophie«. In: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge 1998–2000. Hg. v. der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe in Zusammenarbeit mit der Hölderlin-Gesellschaft, S. 33–47, hier S. 42). Vgl. auch ders.: »Hölderlin im Gespräch mit Hegel und Schelling«. In: HölderlinJahrbuch 31 (1998/99), S. 51–72. 24 Johann Kreuzer (»Logik von Zeit und Erinnerung. Was unterscheidet die Wirklichkeit des Gesangs von der Form des Begriffs?«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hg. v. Christoph Jamme u. a., München 2004, S. 465–483) sieht die poetische Logik als Logik von Erinnerung und Zeit: »Die poetische Logik entspricht dem Sinn und dem ›poëtischen Karakter‹ der Erinnerung als Logik artikulierter Zeit« (S. 480). Vgl. auch ders.: »Zeit, Sprache, Erinnerung: Die Zeitlogik der Dichtung«. In: Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Johann Kreuzer, Stuttgart 2002, S. 147–161. 25 Es greift zu kurz, die Spannung »im Kunstwerk« mit Hölderlin als eine von »sinnlichen und geistigen Kräften« zu begreifen (Peter-André Alt: »Hölderlins Vermittlungen. Der Übergang des Subjekts in die Form«. In: Germanisch-romanische Monatsschrift, N.F. 38 (1988), S. 120–139, hier S. 120; weiter auch S. 121 und S. 136). Diese Grundstruktur wird bereits in ‹Seyn, Urtheil, Modalität› kenntlich; vgl. Manfred Frank: 22

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Damit ist einem Prinzipiendenken in dem Sinne eines ersten Einen ebenso wie einer Deduktion aus diesem Prinzip eine Absage erteilt. 26 An deren Stelle tritt eine transzendental 27 verankerte Dynamik von Gegensätzlichem, die in keiner statischen Opposition verharren, sondern sich als harmonisch Entgegengesetzte stets schon in einer dynamischen Wechselwirkung von Identität und Differenz befinden und sowohl immer weitere Entgegengesetzte in die Dynamik mit hineinnehmen als auch aus sich heraus generieren. Das unhintergehbare, transzendentale ›Prinzip‹ Hölderlins wäre somit ein Un-Prinzip, die Differenz, die stets schon mindestens Zwei als sich gegenseitig Konstituierende impliziert 28 , die ›Deduktion‹ die Eigendynamik von Identität und Differenz dieser Entgegengesetzten selbst.

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Diese dynamisch-plurale ›Grundstruktur‹ poetischen Sprechens, seine Logik, kommt in den »Anmerkungen zur Antigonä« in ihrem Unterschied zur philosophischen zur Geltung: »So wie nemlich immer die Philosophie nur ein Vermögen der Seele behandelt, so daß die Darstellung dieses Einen Vermögens ein Ganzes macht, und das blose Zusammenhängen der Glieder dieses Einen Vermögens Logik ge»Philosophische Grundlagen der Frühromantik«. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 37–130, hier S. 61. 26 Vgl. auch Manfred Frank: »Préface. Les fondements philosophiques du premier romantisme allemand (Iéna 1796)«. In: Revue internationale de philosophie. Le premier romantisme allemand (1796) 50 (1996), S. 379–381, hier S. 380. Anders Hans-Georg Pott (Schiller und Hölderlin. Studien zur Ästhetik und Poetik. Frankfurt a. M. u. a. 2002), der auch in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« noch den Versuch einer »Begründung aus einem einigeinzigen Absoluten (Sein oder Geist)« und einen »Anspruch auf eine ganzheitliche Totalität« (S. 10) sieht. Dabei wird jedoch nicht beachtet, dass der ›poetische Geist‹, anders als das früher anzusetzende ›Seyn schlechthin‹, in der ›Verfahrungsweise‹ als in sich konstitutiv gegensätzlich verfahrender und mannigfaltiger gedacht wird, der das jeweils Andere nicht in sich aufhebt. 27 Vgl. Fußnote 19. 28 Zielt »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« nach Fred Lönker (Welt in der Welt. Eine Untersuchung zu Hölderlins »Verfahrungsweise des poetischen Geistes«. Göttingen 1989) auf die Lösung des Einheitsproblems, so gelingt dies nach Lönker nicht, da die Lösung – völlig zutreffend – »auf ein logisch nicht mehr einsichtiges wechselseitiges Fundierungsverhältnis [von poetischer Individualität und Gedicht] hinaus[läuft]« (S. 134). A

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nannt wird; so behandelt die Poësie die verschiedenen Vermögen des Menschen, so daß die Darstellung dieser verschiedenen Vermögen ein Ganzes macht, und das Zusammenhängen der selbstständigeren Theile der verschiedenen Vermögen der Rhythmus, im höhern Sinne, oder das kalkulable Gesez genannt werden kann.« 29

Erscheint die Poesie ganzheitlicher als die Philosophie, weil Anderes weder ausschließend noch aufhebend, so verhält sich der Zusammenhang der Teile, d. h. die relativen Identitäten innerhalb der Ganzheit, streng proportional zu deren Differenzen. Poetisches Sprechen ist somit in sich zwar umfassender, jedoch zugleich in stärkerem Maße von immanenten, konstitutiven und unaufhebbaren 30 Gegensätzen und Spannungen geprägt als das philosophische. Auffällig in dem Schluss des Zitats ist der ausschließliche Bezug des Zusammenhängens auf das ›kalkulable Gesetz‹. Darin zeigt sich bereits die Rolle der Auflösung bzw. der Differenz an, die für dasjenige, was als ›lebendiger Sinn‹ bezeichnet wird und eng mit der ›Zäsur‹ zusammenhängt, von entscheidender Bedeutung ist. 31 Diese Aufwertung der Rolle der Differenz bzw. Negativität prägt alle weiteren poetischen und poetologischen Versuche Hölderlins und stellt den Durchbruch zu der grundlegenden Differenzierung von poetischem und diskursiv-philosophischem Sprechen dar. 32 MA II, S. 369. Zum ›Rhythmus‹ vgl. auch Christopher Fynsk: »Vom Rhythmus erfaßt«. In: Rhythmus. Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften. Hg. v. Barbara Naumann. Würzburg 2005, S. 109–121. 30 Sowohl in den ›Sophokles-Anmerkungen‹ als auch der ›Verfahrungsweise‹ und den Entwürfen zu den ›Tönen‹ besteht diese Spannung in dem Gegensatz von ›Grundton‹ und ›Kunstcharakter‹, von ›Bedeutung‹ und ›Darstellung‹, somit zwischen ›Komponenten‹, die auch in anderen poetologischen Ansätzen die Poesie konstitutiv ausmachen. 31 Gerhard Kurz (»Poetische Logik. Zu Hölderlins ›Anmerkungen‹ zu ›Ödipus‹ und ›Antigone‹«. In: Jenseits des Idealismus. Hg. v. Christoph Jamme u. a., Bonn 1988, S. 83–101) sieht in der Frage nach dem Verhältnis von ›lebendigem Sinn‹ und ›kalkulablem Gesetz‹ ebenfalls dieselbe Grundfrage wie in den früheren poetologischen Entwürfen gestellt, nämlich die nach dem Bezug von »Unterscheidung« und »Zusammenhang«, von Differenz und Einheit (vgl. S. 85 f.). Rainer Nägele sieht die Möglichkeit des ›lebendigen Sinns‹ »als das unberechenbar Unerwartete und Unabsehbare« in der ›Störung‹ und ›Unterbrechung‹ der »kunstfertige[n] Geschicklichkeit« »von etwas Ungeschicktem und Linkischem« (»Mechané. Einmaliges in der mechanischen Reproduzierbarkeit«. In: Singularitäten. Literatur – Wissenschaft – Verantwortung. Hg. v. Marianne Schuller u. a., Freiburg/Br. 2001, S. 43–57, hier S. 48). 32 Die Zäsur ist demnach nicht bloß auf die tragische Dichtung bezogen und auch nicht deren ›Prinzip‹ (vgl. Patrick Primavesi: »Das Reißen der Zeit. Rhythmus und Zäsur in 29

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Dieser erfolgt zwischen den Vorfassungen zum ›Hyperion‹-Roman und dessen endgültiger Gestalt und lässt sich bereits in Veränderungen der Vorreden aufzeigen. Die Vorrede zum ›Fragment von Hyperion‹ konstatiert noch explizit und gleich zu Beginn: »Es giebt zwei Ideale unseres Daseyns: einen Zustand der höchsten Einfalt […] durch die bloße Organisation der Natur« […] und einen Zustand der höchsten Bildung […] durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind«. 33

Die Vorrede zur ›Vorletzten Fassung‹ nimmt diese Topoi auf, es wird jedoch hinzugefügt, dass der Zustand, »wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist«, nur in »unendlicher Annäherung«34 erreicht werden kann und bestätigt somit implizit, dass es sich bei den höchsten Zuständen jeweils um Ideale handelt. 35 Die Vorrede zur endgültigen Fassung gibt demgegenüber die Thematik des Romans als die »Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter« 36 an. Was diese Auflösung ist und wie sie sich gestaltet, wird in der Vorrede nicht näher bestimmt. Bei der Betrachtung des Gesamtromans wie auch des zeitlich etwas späteren Entwurfs »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« wird jedoch deutlich, dass die Auflösung keinesfalls die Überwindung der exzentrischen Bahn auf ein Ideal der höchsten Bildung hin bedeutet. Vielmehr wird das Ideal sowie dessen Bestimmungen als ›höchste Einfalt‹ und ›höchste Bildung‹ in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« explizit auf das konkrete sprachlich-poetische Werk hin überschritten: Die »lezte […] und dritte […] Vollendung […] [ist] nicht blos ursprüngliche Einfalt, des Herzens und Lebens, wo sich der Mensch unbefangen als in einer beschränkten Unendlichkeit fühlt, auch nicht blos errungene Einfalt des Hölderlins ›Anmerkungen‹«. In: Geteilte Zeit. Zur Kritik des Rhythmus in den Künsten. Hg. v. Patrick Primavesi u. a., Schliegen 2005, S. 205–220, hier S. 210). 33 MA I, S. 489. Zum Zusammenhang mit Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ vgl. Gerhard Schneider: »Naturschönheit und Kritik. Kant und Hölderlin«. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung. Hg. v. Valérie Lawitschka, Tübingen 2001 (= Turmvorträge 5 [1992– 1998]), S. 48–71, v. a. S. 69–71. 34 MA I, S. 558. 35 Manfred Frank (»Hölderlins philosophische Grundlagen«. In: Hölderlin und die Moderne. Eine Bestandsaufnahme. Hg. v. Gerhard Kurz u. a., Tübingen 1995, S. 174–194) betont, dass nach Hölderlin »die Philosophie ihr Ideal (das Absolute) nicht erreicht« (S. 192). 36 MA I, S. 611. A

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Geistes, wo eben jene Empfindung zur reinen formalen Stimmung geläutert, die ganze Unendlichkeit des Lebens aufnimmt, (und Ideal ist) sondern [sie ist] […] aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht Glük, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung […], und [sie kann] nur in der Äußerung gefunden werden und außerhalb der Äußerung nur in dem aus ihrer bestimmten ursprünglichen Empfindung hervorgegangenen Ideale gehofft werden«. 37

Der poetische Prozess gliedert sich nach Hölderlin in drei Phasen, deren erste die des bloßen Lebensvollzugs, der Empfindung, genannt werden könnte. Diese entspricht dem in den Vorreden zu den früheren Fassungen des ›Hyperion‹ genannten Zustand der höchsten Einfalt, der Natur, der jedoch nicht Ideal ist: »blos ursprüngliche Einfalt, des Herzens und Lebens«. Die zweite, idealische Phase stellt den Prozess der Durcharbeitung der Empfindung durch den Geist bis zu deren Endund Höhepunkt dar, bis zur »errungene[n] Einfalt des Geistes, wo eben jene Empfindung zur reinen formalen Stimmung [Ton, M. H.] geläutert […] (und Ideal ist)«. Die dritte Phase besteht in der eigentlichen Sprachfindung des Gedichts und ist in ihrer Vollendung »aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist, nicht Glük, nicht Ideal, sondern gelungenes Werk, und Schöpfung«.38 Die spezifischen Differenzen der ersten beiden Phasen zeigen sich vor allem in den angegebenen Verhältnissen des vollziehenden Geistes zum Unendlichen, das den Zielpunkt der Philosophie wie der Poesie darstellt. In der ersten Phase fühlt »sich der Mensch unbefangen als in einer beschränkten Unendlichkeit«, in der zweiten wird diese Empfindung »zur reinen formalen Stimmung geläutert«, ist somit Ton, wodurch die ursprüngliche Empfindung »die ganze Unendlichkeit des Lebens« aufnehmen kann. Der Zustand des umfassend Idealischen folgt einem statischen Form-Inhalts-Schema. Die ursprüngliche Stimmung, die Empfindung, wird in der zweiten Phase formalisiert »zur reinen formalen Stimmung«, zum Ton, zur reinen Form der Stimmung, zum Ideal. Diese MA II, S. 97. Diese Phase ist streng von der ersten, der ›ursprünglichen Empfindung‹, und somit von der ›intellektualen Anschauung‹ als einer der drei Möglichkeiten dieser ›Empfindung‹ zu unterscheiden. Nicht so Jochen Schmidt: »Hölderlin: Die idealistische Sublimation des naturhaften Genies zum poetisch-philosophischen Geist«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 115– 139, vgl. S. 125.

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Formalisierung der Stimmung ist der Grund, warum diese zwar einerseits »die ganze Unendlichkeit des Lebens« aufnehmen kann, sie selbst aber nicht mehr lebendig-wirkliche Empfindung ist. 39 Die poetologischen Schriften Hölderlins zielen genau auf diesen Punkt, inwiefern das Leben, und das heißt auch die Wirklichkeit, im poetischen Prozess zurückgewonnen werden können. Die Akte des Geistes müssen sich somit auf ihren Ausgangspunkt, die ursprüngliche Empfindung, das Leben, hin überschreiten, um sowohl den Geist als auch das Leben, und letztlich sogar deren Ursprung, gesteigert zu sich selbst zu bringen, in dem Doppelsinn des Wortes zu realisieren. Darin besteht die Aufgabe der dritten, eigentlich poetischen Phase, in der die konkrete Sprachfindung des Gedichts stattfindet und die Poesie die Philosophie überschreitet. In der poetischen Sprachfindung muss die reine Form der Empfindung mit der »ganze[n] Unendlichkeit des Lebens«, die sie aufgenommen hat, vermittelt und somit die ursprüngliche Empfindung gesteigert hervorgerufen werden. 40 Gesteigert in zweifacher Hinsicht: zum einen in dem Sinne der durchgängigen Bestimmtheit der ursprünglichen Stimmung als reine Form, zum anderen in dem Sinne der umfassendsten Lebendigkeit und Präsenz durch die Vermittlung mit der »ganze[n] Unendlichkeit des Lebens«. So kann die Schöpfung des sprachlich-poetischen Werkes »aus

›Stimmung‹ ist hier lediglich insofern eine ›psychische‹ Verfasstheit, als damit die ›psyche‹, die ›Lebendigkeit‹, im Sinne des Wechselprozesses von ›Leben‹ und ›Geist‹ entsprechend der grundlegenden Prozessualität des Geistes als ›sich in sich selbst und anderem‹ vermittels Synthese und Analyse reproduzierend gemeint ist. ›Stimmung‹ ist – strukturanalog – als musikalische Kategorie gefasst, die eine Übersetzung der Heraklitischen ›harmonía‹-Konzeption darstellt, wobei diese konstitutiv auf einer immanenten Spannung beruht (vgl. Heraklit: Fragment B 51. In: Heraklit: Fragmente. Griechisch und Deutsch. Hg. v. Bruno Snell. Darmstadt 1995, S. 19). Insofern ist ›Stimmung‹ nie ein bloß im Subjekt verbleibendes ›Gefühl‹, sondern stets ein strukturelles Verhältnis bzw. eine Dynamik, die der ›harmonía‹-Konzeption (vgl. auch das Verhältnis von ›lógos‹ im Heraklitischen und ›Logik‹ im Hölderlinschen Sinne) entspricht. Die bloß einseitig idealische Erscheinung der Stimmung ist nach Hölderlin der ›Ton‹, dessen musikalische Konnotationen deutlich sind, der aber etymologisch als ›tonus‹ auch die ›Spannung‹ impliziert. 40 Nach Ulrich Gaier erweist sich die Sprache da zutreffend als »›der Güter Gefährlichstes‹ […], wo der Sprecher die Mittelbarkeitsstufen zu überspringen, voreilig in den Ursprung, die Einigkeit, die Unmittelbarkeit zurückzukehren sucht, statt die ›strenge Mittelbarkeit‹ […] zu achten« (»Übertragen. Zu Hölderlins Sprachphilosophie«. In: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/95), S. 22–46, hier S. 45). 39

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dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist« 41 und die Sprache des Gedichts »die geistigste Sprache« und »das lebendigste Bewußtseyn« 42 werden. Das sprachlich-poetische Werk ist insofern weder das bloße Ergebnis dieser Vermittlung, noch ein bloß Eines, sondern es ist die Vermittlung, indem es den Prozess der Gegensätze in sich darstellt und vollzieht. 43 Das Gedicht ist das extreme In- und Auseinander der entgegengesetzten Beteiligten, der Form (des Tons) und des Gehaltes (des Lebens) der Stimmung, denn diese wurde in ihren gegensätzlichen Komponenten, der Form und dem Gehalt, in dem idealischen Prozess stärker bestimmt (Form) und gesteigert (Gehalt, Leben), wodurch die immanente Spannung zunimmt und die Stimmung allererst kenntlich wird. 44 Beide, Form und Gehalt der ursprünglichen Stimmung, sind in dem Prozess zu sich gekommen, die Form wurde durchgängig bestimmt, der Gehalt, das Leben, gesteigert, was zu einer Zunahme der Gegensätzlichkeit, der Spannung, innerhalb des Stimmungs-Verhältnisses führt. All dies ist das Gedicht, vollzieht es und stellt es dar.

MA II, S. 97. MA II, S. 96. Claudia Kalász (Hölderlin. Die poetische Kritik instrumenteller Rationalität. München 1988) hat Recht, wenn sie poetische Sprache nach Hölderlin »als geistig-sinnlichen Ausdruck der Verbindung von Geist und Stoff in der Erfahrung« sieht. Damit ist jedoch ihre weitere Bestimmung, »die Bedeutung der Sprachzeichen [hat] einen objektiven Sinn, meint die Beziehung der Sprache auf die objektive Beschaffenheit der Gegenstände« (S. 90), nicht vereinbar. 43 Die ›Genese‹ ist das, ›was‹ und ›wie‹ etwas ist (vgl. entsprechend auch das ›Mittel‹ (›moyen‹) in den »Anmerkungen zum Oedipus«: »Man hat, unter Menschen, bei jedem Dinge, vor allem darauf zu sehen, daß es Etwas ist, d. h. daß es in dem Mittel (moyen) seiner Erscheinung erkennbar ist, daß die Art, wie es bedingt ist, bestimmt und gelehret werden kann« (MA II, S. 309). Karlheinz Stierle fasst den poetischen Prozess der Gegensätze völlig zutreffend auch als »Widerstreit zwischen Identität und Freiheit« (»Sprache und die Identität des Gedichts. Das Beispiel Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 19–34, hier S. 21). Die in sich paradoxe Wechselkonstitution von ›Geist‹ und ›Sprache‹ beschreibt Axel Gellhaus (Enthusiasmos und Kalkül. Reflexionen über den Ursprung der Dichtung. München 1995) folgendermaßen: »der poetische Geist […] [ist] nur als Prozeß beschreibbar […], dessen Produkt die Sprache ist und der – paradoxerweise – selbst Produkt dieser Sprache ist« (S. 282). 44 Zur Erkennbarkeit des ›Lebens‹ im Ausgang von Hölderlins ›Empedokles‹-Entwürfen und Fichtes ›Wechselwirkung‹ vgl. auch völlig zutreffend Sieglinde Grimm: »Fichtes Gedanke der Wechselwirkung in Hölderlins Empedokles-Tragödie«. In: Poetica 33 (2001), S. 191–214, insbes. S. 199 und 197. 41 42

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III. Dichtung und Philosophie Diese Verhältnisse werden in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« ausgearbeitet und in den Entwürfen zum Tönewechsel fortgeführt und spezifiziert. Um diese Auszeichnung des poetischen Sprechens und damit verbunden die Differenz zum philosophischidealischen einzusehen, ist eine Rekapitulation der Vorgänge in dem poetischen Prozess entsprechend der ›Verfahrungsweise‹ notwendig. Geht der Geist von einer ursprünglichen Empfindung (einem Gefühl oder Leben, die Terminologie ist hier uneinheitlich) aus (Phase I, vgl. oben), so analysiert er diese entsprechend seiner Grundoperationen des Trennens und Vereinigens, indem er sich in einen Wechselprozess mit immer umfassenderen Anderen, aus der Welt Genommenen, begibt (Phase II). Diese Analyse seiner ursprünglichen Empfindung ist dem Geist jedoch nur möglich, wenn diese Anderen, die Stoffe, Wirkungskreise, Elemente oder Göttliche aus dem Leben wiederum Andere, Identisch-Differente, in Hölderlins Terminologie harmonisch Entgegengesetzte, zu seiner ursprünglichen Empfindung sind. Gemäß »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …« gibt es grundsätzlich drei mögliche Stoffarten, die den Grundvermögen des Menschen und seinen Empfindungen (im weiten Sinne) entsprechen: 1. die naive, entsprechend dem Vermögen der Empfindung im engeren Sinne, 2. die heroische, entsprechend der Leidenschaft, sowie 3. die idealische, die der Phantasie entspricht. Der Geist muss, um seine ursprüngliche Empfindung auffassen zu können – und damit seine Grundforderung nach Reproduktion seiner selbst in sich und Anderen zu erfüllen – sich in Wechselwirkung (als das Ineinander von Trennung und Vereinigung) mit den unterschiedlichen Stoffarten setzen. Dabei durchläuft der Geist diese verschiedenen Stoffarten und Empfindungen in immer umfassenderen Weisen, bis er zum Endpunkt der 2., idealischen Phase, zum Ton als idealer Form der Stimmung und der Unendlichkeit des Lebens als Gehalt, gelangt. Wird dieses Extrem der Trennung und des Ineinanders von Ton und Leben erreicht, und es muss im poetischen Prozess erreicht werden, so schlagen die Entgegengesetzten, Leben und Geist, Form und Gehalt, ineinander um. Aufgrund dieses Umschlages, der auch als ›göttlicher Moment‹ ›transzendentaler Empfindung‹ 45 bezeichnet wird, 45

Zur davon implizierten Kritik an Kant und Fichte vgl. Sieglinde Grimm: »Vollendung A

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können sich – auf idealischer Seite – die Empfindung und die Erkenntnis »in der ganzen Unendlichkeit« wieder finden und »ihres ganzen innern und äußern Lebens mächtig und inne« 46 werden, der Geist wird »aus dem unendlichen Leben wiederbelebter Geist« 47 . Dadurch ist die Grundforderung des Geistes nach Reproduktion in sich eingelöst, nicht aber diejenige, sich – in nun umfassendster und höchster Weise – auch in Anderem zu reproduzieren. Dies ist erst in einem zu dem Geist analogem Medium, der Sprache 48 , möglich, die in dem göttlichen Moment transzendentaler Empfindung ›geahndet‹ wird: »In eben diesem Augenblike wo sich die ursprüngliche lebendige, nun zur reinen eines Unendlichen empfänglichen Stimmung geläuterte Empfindung, als Unendliches im Unendlichen, als geistiges Ganze [sic!] im lebendigen Ganzen befindet, in diesem Augenblike ist es, wo man sagen kann, daß die Sprache geahndet wird«. 49

Erst in der sprachlichen Äußerung, erst in der Vereinigung in Identität und Differenz mit der Sprache, kann sich der Geist auch in Anderem reproduzieren und sich sich selbst in einem Identisch-Differenten gegenüberstellen. 50 im Wechsel«. Hölderlins ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ als poetologische Antwort auf Fichtes Subjektphilosophie. Tübingen u. a. 1997, S. 316 f. Der ›göttliche Moment‹ meint nicht die »substantielle unmittelbare Einheit im mythischen Zustand« (Niketa Stefa: »Schiller und Hölderlin. Die Bedeutung der Tragödie um 1800«. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 54 [2008,1], S. 5–24, hier S. 15). Der Moment des Umschlages spitzt die Grunddynamik ›harmonischer Entgegensetzung‹ auf ihr Absolutum hin zu und verbindet sie zugleich mit ›Zeitlichkeit⁄›Unzeitlichkeit‹. Leicht abweichend, da jenseits der Zuspitzung, aber in der Grundstruktur durchaus vermittelbar die Position Manfred Franks (»Hölderlin über den Mythos«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 140–171): »Die Relativität erweist sich ihrerseits als Moment innerhalb der Struktur des Absoluten, denn was es immer an Sein in der Relativität gibt, ist nichts als die Präsenz des Ganzen im Teil, und das Ganze ist eben völlige Ununterschiedenheit der Differenz und der Identität« (S. 156). 46 MA II, S. 96, H v. m. 47 MA II, S. 97. 48 »So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkentniß«; »Ist die Sprache nicht, wie die Erkentniß von der die Rede war« (MA II, S. 96). 49 MA II, S. 96 f. 50 So ist Sprache »Objektivation«, »Wirklichkeit«, »Materialisierung« (vgl. Johann Kreuzer: »Hölderlins Beiträge zur Philosophie«. In: Bad Homburger Hölderlin-Vorträge 1998–2000. Hg. v. der Stadt Bad Homburg v. d. Höhe in Zusammenarbeit mit der

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Geschieht in dem göttlichen Moment transzendentaler Empfindung der Umschlag von Geist und Leben, so bedeutet dies zugleich die unendliche Durchdringung und die unendliche Fremdheit der Beteiligten. Der göttliche Moment ist – abstrakt gesprochen – der augenblickliche Umschlagspunkt von absoluter Einheit und absoluter Differenz 51 , von wechselseitiger unendlicher Durchdringung und unendlicher Fremdheit in einem bzw. die ständige Umschlagsbewegung absoluter Identität und Differenz ineinander. 52 Aufgrund dieses Umschlages ist die Vermittlungsbewegung des Hölderlin-Gesellschaft, S. 33–47, hier S. 40 f.) des konstitutiven poetischen Akts des Erinnerns. 51 In eine vergleichbare Richtung weist Volker Rühle, wenn er feststellt, dass der »Gedanke einer ›absoluten Einheit‹ von Einheit und Vielfalt […] eines ganz anderen Sinnes von Einheit [bedarf], als er ihm im Rahmen ihrer Unterscheidung von der Vielheit zukommen kann« (»›Schikliche Hände‹. Der Anspruch des Absoluten in Hölderlins Dichtung«. In: »Es bleibet aber eine Spur / Doch eines Wortes«. Zur späten Hymnik und Tragödientheorie Friedrich Hölderlins. Hg. v. Christoph Jamme u. a., München 2004, S. 197–222, hier S. 201). Hinsichtlich des ›Göttlichen‹ und ›Unendlichen‹ konstatiert Klaus Düsing (»Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel«. In: Jenseits des Idealismus. Hg. v. Christoph Jamme u. a., Bonn 1988, S. 55–82), dass dieses in seiner »unmittelbaren Gegenwart Gegensatz, Widerspruch und Zerstörung des Endlichen bedeutet« und deutet die darauf folgende Wechselbeziehung beider zurecht als »negativdialektisch« (S. 70). 52 Wird dies in der ›Verfahrungsweise‹ nicht explizit so gefasst, so ist es doch die notwendige Implikation der Charakterisierungen des ›göttlichen Moments‹ : »dieser [der poëtischen Individualität] allein ist die Identität der Begeisterung und die Vollendung des Genie und der Kunst, die Vergegenwärtigung des Unendlichen, der göttliche Moment gegeben. Sie ist also nie blos Entgegensezung des Einigen, auch nie blos Beziehung Vereinigung des Entgegengesezten und Wechselnden, Entgegengeseztes und Einiges sind in ihr unzertrennlich« (MA II, S. 87). Denn ist die Grundstruktur jeglicher Darstellung das In- und Auseinander von Identität und Differenz, und zwar jeweils proportional zueinander, so impliziert die ›Unzertrennlichkeit‹ von Entgegengesetztem und Einigem in dem göttlichen Moment, die »nie blos Entgegensezung des Einigen, auch nie blos Beziehung Vereinigung des Entgegengesezten und Wechselnden« ist, zugleich die Nicht-Identität, und d. h. die Differenz in der Einheit, so dass die ›Unzertrennlichkeit von Entgegengesetztem und Einigem‹ immer sowohl die Identität als auch die Differenz meint. Dies ist die Grundstruktur, die sich von der Konzeption des ›Seyns schlechthin‹ in ‹Seyn, Urtheil, Modalität› unterscheidet, die in der dort implizierten Fichte-Kritik jedoch bereits angelegt ist und sich auch in der veränderten Stellung der ›intellectualen Anschauung‹ in den späteren Entwürfen manifestiert. Die Aufwertung des Momentes der Differenz bedeutet zugleich die Lösung des Problems der Freiheit in diesen notwendigen und unaufhebbaren Verhältnissen. Zu diesem Komplex vgl. ausführlicher Marion Hiller: ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800. Tübingen 2008. A

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Geistes zwischen den harmonisch Entgegengesetzten, dem Ton, der idealen Form der Empfindung, und ihrem Gehalt, der Unendlichkeit des Lebens, zwischen Ich und Welt, Geist und Leben, möglich. Macht sich in diesem Umschlag, in der Aporie der Verhältnisse, die Differenz als das eigentlich Zugrundeliegende (das keines ist), merklich bzw. fühlbar, so muss die Vermittlungsbewegung des Geistes zwischen den Beteiligten konstitutiv auf der Differenz beruhen, obwohl der Geist nun, ›nach‹ diesem Moment, beide umfasst. So wird in Bezug auf die Möglichkeit der Sprachfindung des Gedichts auch die Notwendigkeit betont, diese Differenz, die unendliche Fremdheit von Ich und Welt, von Kunst und Natur, nicht aufzuheben, sondern diese zu erhalten, denn nur so kann der göttliche Moment transzendentaler Empfindung (der als Extrem der zugrunde liegenden und im Gedicht darzustellenden Stimmung all dieses sein muss, die unendliche Durchdringung, Einheit und die unendliche Fremdheit, Differenz) seinen Ausdruck in der Sprache finden: »und es ist vorzüglich wichtig, daß er [der Dichter] in diesem Augenblicke nichts als gegeben annehme, von nichts positivem ausgehe, daß die Natur und Kunst, so wie er sie kennen gelernt hat und sieht, nicht eher spreche, ehe für ihn eine Sprache da ist, d. h. ehe das jetzt Unbekannte und Ungenannte in seiner Welt eben dadurch für ihn bekannt und nahmhaft wird, daß es mit seiner Stimmung verglichen und als übereinstimmend erfunden worden ist«. 53

Die Sprachfindung des Gedichts geschieht in der Vergleichsbewegung 54 zwischen den Extremen des Geistes und des Lebens, zwischen idealer Form/Ton und Gehalt/Leben der Stimmung, von Ich und Welt, in der sich der Geist als umfassender zugleich mit der Sprache vermittelt. In dieser Doppelheit der Vermittlung, einerseits von Geist und Leben, Ich und Welt, auf übergeordneter Ebene von Geist und Sprache, kann sich der Geist in sich und in Anderem, der Sprache und der Lebendigkeit, reproduzieren, indem die harmonisch Entgegengesetzten verglichen 55 und entsprechend der konstitutiven Unaufhebbarkeit der Differenz in MA II, S. 99, Hervorhebung im Original. Der Vergleich ist sowohl ein elementares Verfahren des philosophischen Denkens wie auch eine, gerade bei Hölderlin zu ungeheurer Eminenz kommende, ›rhetorischpoetische Figur‹. Aus ihr, aus dieser Vergleichsbewegung der ›schöpferischen Reflexion‹, geht die ›Sprache des Gedichts‹ hervor, worin sich wiederum das konstitutive In- und Auseinander von Philosophie und Poesie bei Hölderlin anzeigt. 55 Der Vergleichsbewegung entspricht die grundsätzliche Tätigkeit des Geistes, der Wechsel, d. h. das In- und Auseinander von Synthese und Analyse. 53 54

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der Vermittlung als ›übereinstimmend erfunden‹ werden. Dieses Verfahren des Geistes wird entsprechend seiner Verfasstheit und seinem Grund in dem aporetischen Moment transzendentaler Empfindung auch mit dem Oxymoron der ›schöpferischen Reflexion‹ bezeichnet. Diese ist nicht mehr wie die Reflexion in der zweiten idealischphilosophischen Phase »auflösend und verallgemeinernd, vertheilend, und abbildend, bis zur bloßen Stimmung«, sondern »sie giebt dem Herzen alles wieder, was sie ihm nahm, sie ist belebende Kunst, wie sie zuvor vergeistigende Kunst war, und mit einem Zauberschlage um den andern ruft sie das verlorene Leben schöner hervor, bis es wieder so ganz sich fühlt, wie es sich ursprünglich fühlte«. 56 Sie ist – wie es am Schluss der Abhandlung heißt – »die unendliche schöne Reflexion, welche in der durchgängigen Begränzung zugleich durchgängig beziehend und vereinigend ist«. 57 Dieses unaufhebbare Ineinander von Einheit und Differenz unter Wahrung der Letzteren, das die schöpferische Reflexion auszeichnet, zeigt auch den Wirklichkeitsstatus des aus ihr hervorgehenden Gedichts an. Nur in dem Hervorgehen aus dem absoluten Extrem der paradoxen Struktur harmonischer Entgegensetzung und im Vollzug einer in sich gegensätzlichen Handlung, der schöpferischen Reflexion, kann die Sprache des Gedichts einerseits die Sprache der poetischen Individualität des Dichters – und in diesem Sinne originell, ursprünglich, bestimmend, hervorgehend aus der schöpferischen Reflexion – sein und andererseits eine echte, wahrhafte, Sprache der Welt, entstehend aus der schöpferischen Reflexion, darstellen, d. h. ›so alt sein wie die Welt‹. 58 Diese extremen Spannungsverhältnisse zwischen der Individualität des Dichters und der Welt im umfassendsten Sinne muss die Sprache des Gedichts vollziehen und darstellen. Doch warum können dieses Leben und der Geist im konkretsprachlichen Gedicht wirklich sein? Zum einen, weil eine Wechselbeziehung zwischen Sprache und Geist besteht (»So wie die Erkenntniß die Sprache ahndet, so erinnert sich die Sprache der Erkentniß« 59 ) und poetische Sprache nach Hölderlin immer ein ›verwandtes‹ Zeichen 60 ,

56 57 58 59 60

MA II, S. 97. MA II, S. 100. Vgl. MA I, S. 557. MA II, S. 96. Anders, mit starken Anleihen beim späten Heidegger, und in Differenz zum KantiA

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ein zu seinem Bezeichneten Identisch-Differentes, ist. Zum anderen, weil der Geist in dem idealischen Prozess Form und Gehalt der ursprünglichen Empfindung, Ton und Leben, zwar gespalten, das Andere, das Leben, wie auch die angeeigneten Stoffe, jedoch nicht in sich aufhebt, sondern sie in ein konstitutives Spannungsverhältnis in sich selbst bringt. Im Geist ist das ursprüngliche Leben gesteigert (auch) als es selbst da, und ist die Sprache das Analogon zum Geist und zugleich ein verwandtes Zeichen, so können sich das Leben, die Welt und der Geist jeweils (auch) als sie selbst in der poetischen Sprache manifestieren. Soll das Gedicht jedoch die ursprüngliche Stimmung ausdrücken, und ist diese erst in dem göttlichen Moment transzendentaler Empfindung einerseits ganz da und andererseits entzogen, so kann das Gedicht dies nur tun und die Empfindung wirklich werden lassen, wenn es die Prozesse darstellt und in sich vollzieht, die zu dem göttlichen Moment geführt haben, d. h. indem es den poetischen Prozess in sich selbst realisiert (in dem doppelten Sinne der Darstellung und des Vollzugs). Aus diesem Prozess der Wechselwirkungen kann in dem Gedicht – analog zum poetisch-idealischen Prozess – der göttliche Moment transzendentaler Empfindung entspringen und die Stimmung als das Ineinander von Form und Gehalt, von Geist und Leben, gesteigert und wirklich erfahren werden. 61 Damit ist jedoch noch nicht der Endpunkt der Poesie erreicht. In ihr muss – entsprechend dem poetisch-idealischen Prozess – auch die Einholung des göttlichen Moments als die prozessuale Vermittlung von Form und Gehalt, von Geist und Leben sowie von Geist und Sprache, d. h. die Sprachfindung des Gedichts, dargestellt werden. Nur auf dieser Metaebene des Gedichts, in seiner (auch) Selbstreflexivität in Bezug auf seine Entstehung, ist das Gedicht ein Analogon zum Geist, und nur so können die identisch-differenten Anderen zur Sprache, die sich in dem Gedicht manifestieren sollen, die Stimmung, das Leben, die schen Zeichen und Symbol Wolfgang Janke: »Hölderlins Zeichen«. In: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 17 (1991), S. 115–135, insbes. S. 119 und 127 f. 61 Die Empfindung ist deshalb göttlich, »weil sie weder bloßes Bewußtseyn, bloße Reflexion (subjective, oder objective,) mit Verlust des innern und äußern Lebens noch bloßes Streben, (subjectiv oder objectiv bestimmtes) mit Verlust der innern und äußern Harmonie, noch bloße Harmonie, wie die intellectuale Anschauung und ihr mythisches bildliches Subject-Object, mit Verlust des Bewußtseyns, und der Einheit, sondern weil sie alles diß zugleich ist, und allein seyn kann« (MA II, S. 94).

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Welt, in dem Gedicht in gesteigerter Weise kenntlich werden. Das Gedicht muss somit den gesamten poetischen Prozess seiner Entstehung in sich sowohl darstellen als auch vollziehen, denn nur so kann es Ausdruck der zugrundeliegenden Empfindung, des Lebens, in gesteigerter und umfassender Weise sein und diese im umfassendsten und höchsten Sinne wirklich werden lassen.

IV. Tne Die Darstellung dieses Prozesses geschieht in dem Wechsel der Töne, der sich entsprechend der Verfahrungsweise des Geistes und der Sprache in dem Gedicht auf mehreren, ineinander gestaffelten Ebenen vollzieht. 62 Fasst der Geist in der idealischen Phase des poetischen Prozesses seine ursprüngliche Empfindung auf, indem er sich in Wechselwirkung mit verschiedenen Anderen, aus der Welt Genommenen, setzt, und zwar gemäß seinem Verfahren in immer umfassenderer Weise (als Stoff, als Wirkungskreis, als Element) und mit wechselnden Charakteren dieser Anderen 63 , so stellt sich dieser Wechsel von In- und Auseinander des Geistes mit den Anderen sowie die Reihung der Charaktere in dem Gedicht dar. Aufgrund des harmonisch entgegengesetzten Verhältnisses von Geist und Sprache können sich die von den jeweiligen Anderen ausgelösten Stimmungen (bzw. Grundtöne) nur in einer jeweils entgegengesetzten Form oder Sprache manifestieren. Ein Gefühl, das dem menschlichen Vermögen der Empfindung im engeren Sinne und dem naiven Charakter entspricht, drückt sich vermittels einer idealischen Darstellungsweise 64 aus, große Bestrebungen (entsprechend dem VerNicht auf den Wechsel der Töne und das Gedicht bezogen, jedoch in der Grunddynamik entsprechend, vgl. Stefan Büttner (»Natur. Ein Grundwort Hölderlins«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 227–252): »Aller Wechsel, alles Werden und Vergehen, spielt sich in einem Ganzen ab, das durch diesen Wechsel wird und zugleich diesen Wechsel trägt und ihn ermöglicht« (S. 243). 63 Diese können entsprechend den drei grundsätzlichen Vermögen des Menschen (›Empfindung‹ im engeren Sinne, ›Leidenschaft‹ und ›Phantasie‹) ›naiv‹, ›heroisch‹ oder ›idealisch‹ sein. 64 ›Darstellungsweise‹ wird von Hölderlin auch ›Sprache‹ (vgl. »Die Empfindung spricht …«), ›Schein‹ oder ›Kunstcharakter‹ (vgl. »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«) genannt. 62

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mögen der Leidenschaft und dem heroischen Charakter) vermittels einer naiven, eine intellectuale Anschauung 65 (entsprechend der Phantasie und dem idealischen Charakter) vermittels einer heroischen Sprache. 66 Das Gedicht muss in sich somit die verschiedenen Kombinationen des jeweils spannungsvollen Ineinander von Grundton und Kunstcharakter durchlaufen. Im Ganzen soll jedoch die zugrundeliegende Empfindung ausgedrückt werden. Ist die Stimmung erst in dem göttlichen Moment transzendentaler Empfindung, in der extremen Spannung ihrer Komponenten, von Form und Gehalt, dem Ideal (als Absolutum) und Leben (als Absolutum) ganz bei sich, so ist sie darin zugleich aufgelöst, da gespalten in Ton und Leben, und zwar in so hohem Maße, dass die Absoluta der Entgegengesetzten der Stimmung ineinander umschlagen und sich die Stimmung darin zugleich – auch – erhält. Ist die Stimmung jedoch lediglich in diesem Augenblick des Umschlages ganz bei sich, wenngleich aufgelöst und sich unter vertauschten Vorzeichen restituierend, so müsste das Gedicht, soll es Ausdruck der zugrundeliegenden Stimmung sein, gerade diesen Umschlag der Entgegengesetzten der Stimmung verwirklichen. Eine diskursiv-lineare, der philosophischen Logik entsprechende Darstellung dieses Moments ist nicht möglich, einerseits, weil er Moment im Sinne eines Augenblicks ohne zeitliche Erstreckung, andererseits, weil er Umschlag, Wechsel, reine Dynamik, ist. Doch ist der Ausdruck dieses Moments die eigentliche Aufgabe des Gedichts. Die Lösung besteht in der Darstellung und dem Vollzug des poetischen Schöpfungsprozesses in dem Gedicht, konkret in dem Prozess des Wechsels der Töne auf verschiedenen, ineinandergestaffelten Ebenen, wobei sich der göttliche Moment transzendentaler Empfindung als die Vertauschung 67 von Grundton und Kunstcharakter auf einer MetaZur Umwertung der ›intellectualen Anschauung‹, die sich zunächst in der Endfassung des ›Hyperion‹ manifestiert, und der damit verbundenen Abkehr von einem ›System des Wissens‹ hin zu einer »ästhetischen Form von ›Theorie‹«, vgl. Annette Hornbacher: »›Eines zu seyn mit Allem, was lebt …‹. Hölderlins ›intellectuale Anschauung‹«. In: Hölderlin: Philosophie und Dichtung. Hg. v. Valérie Lawitschka, Tübingen 2001 (= Turmvorträge 5 [1992–1998]), S. 24–47, hier S. 34. 66 Das ›Überspringen‹ von jeweils einem Charakter der Reihe ›naiv‹ – ›heroisch‹ – ›idealisch‹ in dem Verhältnis von ›Grundton‹ und ›Kunstcharakter‹ hat seinen Grund in der doppelten, ›subjektiven‹ und ›objektiven Begründung‹ des Gedichts in der ›idealischen‹ Phase des Prozesses, ist hier jedoch nicht von weiterer Bedeutung. 67 Vgl. die ›Katastrophe‹ in »Löst sich nicht …«, wörtlich ›Umwendung‹, ›Umkehrung‹. 65

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ebene des Tönewechsels 68 anzeigt und vollzieht. Dies ist insofern konsequent, als der poetische Prozess entsprechend der Grundstruktur des Geistes in sich eine reflexive Metaebene etabliert, so dass das Gedicht diese im Tönewechsel mit verwirklichen muss. Diese Dopplung kommt in »Löst sich nicht …« und den ‹Poetologischen Tafeln› zum Ausdruck, wobei sich die Aufstellungen nicht in jeder Hinsicht mit den anderen Entwürfen zu den Tönen (in »Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig …«, »Die Empfindung spricht …« und »Das lyrische dem Schein nach idealische Gedicht …«) decken. Die Vertauschung von Grundton und Kunstcharakter geschieht gemäß »Löst sich nicht …« und den ‹Poetologischen Tafeln› nach dem Durchlaufen der ersten drei, und d. h. aller zunächst möglichen Kombinationen von Tönen auf der Metaebene, worauf neue Konstellationen von übergeordneten Tönen als Manifestation der Sprachfindung des Gedichts in dem Gedicht selbst folgen. Ist das Gedicht als sprachliches insgesamt die Metapher der zugrundeliegenden Stimmung, des Grundtons, so kommt diese GesamtMetapher nur zustande in dem Prozess der verschiedenen, in sich jeweils harmonisch entgegengesetzten Konstellationen von Grundtönen und Kunstcharakteren, von Dargestelltem und Weisen der Darstellung, auf verschiedenen Ebenen. 69 Die Sprache des Gedichts ist eine in ihren beiden wesentlichen Aspekten, dem Gehalt sowie der Form, konstitutiv spannungsgeladene 70 , sie kann insgesamt nur Darstellung, Metapher, der zugrundeliegenden Empfindung sein, indem sie in sich die Vgl. auch Lawrence Ryan: Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, S. 115 f. und Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert. München 2002, wobei bei Letzterem nicht ganz einsichtig wird, warum der Gegensatz vor der Vertauschung »akkumuliert« und danach »die Vereinigung statt[findet]« (S. 394). 68 Lawrence Ryan (Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960) sieht diese Metaebene nicht (vgl. z. B. S. 115 ff. und 119). 69 Stefan Metzger (»›schroffabbrechend‹. Vom poetischen Skalpell und der Denkform der Konjektur am Beispiel Hölderlins«. In: Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800. Hg. v. Stephan Jaeger u. a., Würzburg 2000, S. 31–53) sieht den jeweiligen Ton als »reine[n] Performanzeffekt«, Töne als »formale Qualitäten des Sagens«, die sich nur »in Verbindung mit Semantischem« »äußern« (S. 49). 70 Maria Behre (»Stile des Paradoxons als Weisen modernen Wirklichkeitsausdrucks in der Lyrik Hölderlins, Trakl und Celans«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22/2, 1990, S. 8–32) untersucht die sprachlichen Erscheinungsweisen des Paradoxons bei Hölderlin unabhängig von einer Theorie der Töne, vgl. v. a. S. 25. A

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Spannung zwischen Dargestelltem, Gehalt, und Weise der Darstellung, Form, hält und darstellt sowie den Prozess des Wechsels der Spannungsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen vollzieht und so – gemäß der Vorgehensweise des Geistes in dem ersten Teil des poetischen Prozesses 71 – die möglichen Konstellationen von Grundton und Kunstcharakter durchläuft. Nur in der Dynamik des Tönewechsels, in dem Prozess des spannungsvollen Nach- und Ineinander von harmonisch entgegengesetzten Tönen, von Grundton und Kunstcharakter in dem rotierenden Wechsel ihrer Charaktere (naiv, heroisch, idealisch) auf zwei Ebenen, kann sich die zugrundeliegende Empfindung, ihr Geist und ihr Leben, realisieren in dem Doppelsinn des Sich-Erkennens und des Sich-Verwirklichens. 72 In dieser poetischen Logik kann der göttliche Moment transzendentaler Empfindung als Extrem der zugrundeliegenden Empfindung, in dem sie einerseits ganz da und andererseits zugleich nicht fassbar ist, zwar nicht dargestellt werden, wohl aber als solche angezeigt und in dem Vollzug des Gedichts zunächst fühlbar gemacht werden. 73 In Bezug auf das Gesamtgedicht, aufgrund der Darstellung und des Vollzugs der Sprachfindung des Gedichts in dem Gedicht nach der ›Katastrophe‹, wird der göttliche Moment transzendentaler Empfindung als Umschlag, als sich entziehender und doch eigentlicher Grund, auch fassbar. Fassbar jedoch lediglich als Beschreibung oder Benennung von Extremen, die von der (diskursiven) Rede immer auch schon nicht eingeholt werden und die sich entsprechend ihrer Annäherung an das ›AbsoluIn diesem begibt sich der Geist in Wechselwirkung mit jeweils Anderen, ›aus der Welt Genommenen‹, die in ihrer Folge wiederum der Reihe ›naiv‹ – ›heroisch‹ – ›idealisch‹ folgen. 72 Nicht auf den ›Wechsel der Töne‹ bezogen, sondern an den Ansätzen zu ›Der Tod des Empedokles‹ herausgearbeitet, kommt Theresia Birkenhauer (»›Natur‹ in Hölderlins Trauerspiel ›Der Tod des Empedokles‹«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 253–273) zu dem zutreffenden Schluss, dass »die Einheit alles Lebendigen nur in der Entfaltung und Bewegung der Sprache zum Ausdruck kommt« (S. 270 f.). 73 Hierin liegt der Unterschied zwischen ›Metapher‹ und ›Hyperbel‹ bei Hölderlin und gerade darin zeigt sich die entscheidende, relative Grenze der Darstellung, die auch die Differenz von poetischem und philosophischem Sprechen markiert. Winfried Menninghaus (»Geist, Sein, Reflexion und Leben: Hölderlins Darstellungstheorie«. In: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Hg. v. Thomas Roberg, Darmstadt 2003, S. 49– 66) differenziert hier leider nicht (vgl. S. 58), wenngleich seine Gesamtdarstellung zutreffend ist. 71

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tum‹ des Umschlages in gegensätzlichen Beschreibungen halten: Überfülle, absolutes und umfassendes Da (»die Vergegenwärtigung des Unendlichen« 74 ) einerseits, Entzug und Differenz als das Ursprüngliche und Zugrundeliegende andererseits (»Entgegengeseztes und Einiges […] unzertrennlich« 75 ). Das poetische Sprechen kann demgegenüber auf dieses Höchste nicht bloß als Anderes verweisen, es als nicht-darstellbar Entzogenes begreiflich und in seiner negativen Als-Struktur einsichtig machen, sondern es darüber hinaus augenblickshaft geschehen lassen und das Höchste so – zusammen mit der Erfahrung der poetischen Logik der Entgegensetzung und des Wechsels – einer Erfahrbarkeit annähern. 76 Philosophie verfährt demgegenüber nach Hölderlin zu statisch (ohne die Prozessualität des Wechsels), zu einheitlich (ohne Entgegensetzungen innerhalb der Sprache, von Grundton und Kunstcharakter auf verschiedenen Ebenen) und zu einseitig (unter Ausschluss bestimmter menschlicher Vermögen und Toncharaktere) und verfehlt so – und zwar transzendental begründet – das Höchste, die Ganzheit einer Identität und Differenz der Identität und Differenz, die sich in dem Gedicht als »die geistigste Sprache« und »das lebendigste Bewußtseyn« 77 anzeigt und die als wirklich erfahrbar-lebendige aus dieser entspringen kann. Das poetische Werk ist Darstellung, Verwirklichung, Wirklichkeit der ›dritten und letzten Vollendung‹, des »aus dem unendlichen Leben wiederbelebte[n] Geist[es]«. Es ist Darstellung, Steigerung, Ver-wirklichung der darin zu sich kommenden ursprünglichen Empfindung, und zwar hinsichtlich deren Form und Gehalt, die sich als ebendiese sprachlich in dem poetischen Werk manifestieren. Die ›dritte und letzte Vollendung‹ kann »nur in der Äußerung gefunden werden«, nur so kann das Ideal real werden, indem es sich dem poetischen Geist, aus MA II, S. 87. Ebd. 76 »Die Überlegenheit der künstlerischen vor den spekulativen Ausdrucksmitteln« reduziert sich somit nicht auf das »Dunkel der ästhetischen Darstellung«, das einen »(nicht-kausal gedachten) Grund, den das Bewußtsein nie ganz ausleuchten kann«, »als solchen – als reflexiv irrepräsentablen – darstellen« kann, wie Manfred Frank (»Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre«. In: Selbstbewußtseins-Theorien von Fichte bis Sartre. Hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1991, S. 413–599, hier S. 466) ausführt. 77 MA II, S. 96. 74 75

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dem es hervorgeht, als identisch-differentes Anderes gegenüber- und entgegenstellt, als Gedicht. Dieses vereint Reflexion, Darstellung, Leben und Wirklichkeit, ohne diese aufzuheben, sondern indem es diese in den Wechselprozessen von Differenzierung und Vereinigung erst als sie selbst kenntlich macht. Poetisches Sprechen ist höchste, umfassende und prozessuale Wirklichkeit.

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Poesie und Poiesis. Anmerkungen zu Hölderlin, Schlegel und Hegel

»Du weißt doch, daß poiesis (herstellendes Tun) etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt poiesis. Daher liegt auch bei den Werken (ergasiai) aller Künste (technais) poiesis zugrunde und die Werkmeister (demiurgoi) darin sind sämtlich poetai.« 1 Ich habe Friedrich Schleiermachers Übersetzung der zitierten Passage aus der DiotimaRede in Platons Symposion hier abgewandelt, denn Schleiermacher gibt, wie neuere Ausgaben auch anmerken, 2 den Gedankengang der Sprecherin nicht getreu wieder; umstandslos übersetzt er Poiesis mit ›Dichtung‹ und den Poietes, also den Verfertiger, Schöpfer oder Erfinder mit ›Dichter‹. Für Diotima dagegen kommt es gerade darauf an, dass Poiesis und Poietes ursprünglich eine weiter gefasste Bedeutung hatten und erst später für einen Teil des herstellenden Tuns, die Dichtung, reserviert wurden. Genauso, so lautet ihre Botschaft, ist auch der Begriff des Eros ursprünglich weiter gefasst als das, was wir gewöhnlich im engeren Sinne damit bezeichnen. Tatsächlich macht Friedrich Schleiermacher in seiner eigenen Theorie die Beschränkung des Poietes auf den Dichter rückgängig, kehrt aber nun die Bedeutung um: der Künstler ist überhaupt derjenige, der etwas aus seiner individuellen Rezeptivität, der Fantasie, heraus darstellt. Jedes Gefühl, so postuliert er in seinem Hallenser Brouillon zur Ethik (1805/06), müsse in Darstellung übergehen: »alle Menschen sind Künstler«, wobei er sogleich hinzufügt, dass Kunst hier eine weitere Bedeutung habe als die gewöhnliche. 3 Diese weitere Bedeutung ist aber nicht die neuzeitliche der Kunst als künstlicher, letztlich mechaPlaton: Symposion 205 b.c. Platon: Werke, hg. von Gunther Eigler, Bd. 3, Darmstadt 1974, S. 325. 3 Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hg. v. Otto Braun, Leipzig 1913 (Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2), S. 184. 1 2

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nischer Hervorbringung im Unterschied zur natürlichen, also als technische Künste (artes mechanicae), 4 wie bereits der Rekurs auf das Gefühl deutlich macht. Das ansehnliche Register der Künste umfasst alles, was nach Schleiermacher aus einem Gefühl hervorgeht – von der Ausbildung der Person zur Schönheit über Plastik, Architektur und Gartenkunst bis hin zur freien Geselligkeit und zur Politik. 5 Es kommt hier alles Mögliche vor, nur nicht die Poiesis im ursprünglichen Sinne als herstellendes, auf äußere Zwecke gerichtetes Tun, also als handwerksmäßige Kunst, als Arbeit. Schleiermachers Übersetzung wie auch seine eigene philosophische Position, die ihr zugrunde liegt, sind Ausdruck derjenigen Spielart des philosophischen Zeitgeistes, die Klaus Düsing im Blick auf Hölderlin und Hegel als »ästhetischen Platonismus« bezeichnet hat 6 und zu dem zweifellos die frühromantische Bewegung ebenfalls gehört, die auch Schleiermacher entscheidend geprägt hat; in seinem Gespräch über die Poesie bezeichnet Friedrich Schlegel das Symposion als den Ort, »wo das philosophische Gespräch und die Darstellung desselben ganz in Dichtung übergeht«. 7 Im Folgenden möchte ich nicht den Versuch machen, den platonisierenden Zeitgeist um 1800 näher auszuleuchten. Mir geht es vielmehr um eine systematische Figur: in allen diesen Platon-Adaptionen geht es um das Verhältnis von Philosophie und Poesie, aber was unter Poesie dabei genau zu verstehen sei, ist so vieldeutig wie die Bedeutungen von Poiesis für Platons Diotima. Ich möchte das in Anmerkungen zu drei Autoren aufzeigen: zu Hölderlin, Friedrich Schlegel und Hegel. Für Hölderlin ist die Dichtung zunächst terminus a quo und ad quem der Philosophie zugleich, steht aber als Dichtung ebenso wie Verstand und Vernunft überhaupt unter dem Gesetz der Poiesis, womit sich schließlich auch das Verhältnis von Poesie und Philosophie verändert. 4 Vgl. hierzu den Artikel »Kunst« in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Darmstadt 1976, Sp. 1372–1393. 5 Vgl. Sittenlehre, a. a. O. (Anm. 3), S. 184 f. 6 Vgl. Klaus Düsing: »Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel«. In: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981, S. 101–117. 7 Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe (KFSA), hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn u. a. 1958 ff., Bd. 2, S. 293. – Vgl. Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, hg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2002.

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Friedrich Schlegel dagegen entwirft – wenn man es in Anlehnung an das Athenaeum-Fragment 116 so formulieren kann – eine Theorie der Universalpoiesis; in ihr wird Poesie zum Moment einer begrifflichen Erfassung der Welt als Totalität. Hegel geht dann noch einen entscheidenden Schritt weiter: er macht die Poesie zum aufgehobenen Moment des philosophischen Begreifens, das seiner Struktur nach Arbeit oder Poiesis, die Arbeit des Begriffs ist.

1.

Hlderlin: Dichtung als Poiesis

In dem berühmten Athen-Gespräch am Ende des ersten Bandes des Hyperion (1797) heißt es, dass die Dichtung der Anfang und das Ende der Philosophie sei: »Wie Minerva aus Jupiters Haupt entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns. Und so läuft am End’ auch wieder in ihr das Unvereinbare in der geheimnißvollen Quelle der Dichtung zusammen.« (144) 8 Der Dichtung wird hier eine Kompetenz zugeschrieben, welche die »kalte Erhabenheit« der auf Rationalität verpflichteten Philosophie offenbar nicht haben kann, nämlich die Kompetenz, ein unendliches göttliches Sein, ein All-Eines zu thematisieren, das auch das Unvereinbare in sich zusammenfasst. Charakterisiert wird dieses »Seyn« mit dem bei Platon dem Heraklit zugeschriebenen hen diapheron heauto¯ (»das Eine in sich selber unterschiedne«, 145), 9 welches »das Wesen der Schönheit« sei. Dieses gibt die Vorstellung eines Ganzen, eines »Unendlicheinigen«, das die Philosophie zerteilen und neu zusammendenken und so zum Maßstab oder »Gesetz des Geistes« machen konnte. Es ist natürlich leicht zu erkennen, dass hier nicht einfach Platon zurückgeholt, sondern die nachkantische Diskussionslage in Platon hineinprojiziert wird. Wir haben es, ohne dass ich dies hier weiter ausführen kann, mit dem zeittypischen Amalgam spinozistischer und kantianischer Elemente zu tun. Hinter dem Wesen der Schönheit steht die spinozistische Substanz als unendliche Seinsmacht, die Alles bedingt,

8 Der Hyperion wird im Folgenden im Text nach der Paginierung der Erstausgabe zitiert. 9 Bei Plato lautet die Stelle: hen diapherómenon … hauto; Hölderlins in Klammern ¯ hinzugefügte Übersetzung entspricht der Fassung bei Plato, nicht dem von ihm im griechischen Zitat verwendeten Aktiv.

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aber dieses Alles bedingende Unbedingte ist, wie Kant in der transzendentalen Dialektik gezeigt hat, mit unseren Verstandesbegriffen nicht zu denken, die sich dabei im Unvereinbaren, in dialektischen Oppositionen oder, abgekürzt gesprochen, in Antinomien verfangen. Für die Philosophie bleibt das »Seyn« oder »Unendlicheinige« daher ein transzendentales Ideal, das ihre Tätigkeiten zwar zu leiten, von ihr aber nicht begrifflich eingeholt zu werden vermag. Hölderlin hat diese Funktion der Schönheit für die Philosophie in Bildern beschrieben, welche die Funktionen der Poiesis im ursprünglichen Sinn des herstellenden Tuns aufgreifen. Die Dichtung als höchste Form der Poiesis gibt der Philosophie als Poiesis Gesetz, Richtung und Ziel. »Ohne Geistesschönheit« ist das Geschäft des Verstandes nur »Nothwerk«, Ordnen als Schutz vor »Unsinn« in theoretischer bzw. »Unrecht« in praktischer Hinsicht; er arbeitet »wie ein dienstbarer Geselle, der den Zaun aus grobem Holze zimmert, wie ihm vorgezeichnet ist, und die gezimmerten Pfähle an einander nagelt, für den Garten, den der Meister bauen will.« Diese knechtische Arbeit des Verstandes hat in der Vernunft einen »Treiber, den der Herr des Hauses über die Knechte gesetzt hat«, der aber, wenn er nicht von der Schönheit geleitet wird, so wenig weiß »als die Knechte, was aus all’ der unendlichen Arbeit werden soll« (148). Die Schönheit steht hier, ganz unplatonisch, an der Stelle des Herrschaftswissens (phronesis), welches bei Platon der Weisheit aller Dichter (Poetai) und Handwerker (Demiurgoi) übergeordnet ist (Symposion 209 a-e). Die Poiesis als Dichtung, die allein der Idee der Schönheit mächtig ist, ist damit für Hölderlin das Übergreifende über die anderen Formen der Poiesis. Sie ist aber eben auch Poiesis, d. h. ein herstellendes Tun, und nicht ganz anderer Natur als das, was sie unter sich befasst. Dies führt seit 1798, also seit dem Beginn der Arbeiten am Empedokles, zu einer Verschiebung: indem die Natur als »unendliches Objekt« an die Stelle der Schönheit tritt, werden Poesie, Philosophie und Religion gleichrangige Weisen der Aneignung und Darstellung, der »Bildung« der Natur durch und für die Menschen. In einem Brief an seinen Bruder vom 4. 6. 1799 bestimmt Hölderlin alle »Künste und Geschäfte«, Ackerbau (»Gärten und Felder«), »Handel, Schiffahrt, Städte, Staaten« und schließlich »Wissenschaft, Kunst, Religion« als Äußerungen eines ursprünglichen und allgemeinen Triebes, der »der eigentümlichste und unterscheidendste Trieb des Menschen« ist: »der Trieb des Idealisierens oder Beförderns, Verarbeitens, Entwickelns, Vervoll64

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kommnens der Natur« als »ein Dienst, den die Menschen der Natur erweisen.« Als »Priesterinnen der Natur« geben Philosophie, Kunst und Religion der »reellen Tätigkeit« der Menschen »Richtung und Kraft und Freude«, wobei »besonders die Religion« auch die Grenzen dieser Tätigkeit bewusst macht, »denn die Kunst und Tätigkeit der Menschen, so viel sie schon getan hat und tun kann, kann doch Lebendiges nicht hervorbringen, den Urstoff, den sie umwandelt, bearbeitet, nicht selbst erschaffen«.10 Auf dieser Linie liegt dann auch die Beschreibung der Tätigkeit des Dichters in dem wohl um 1800 entstandenen poetologischen Fragment Wenn der Dichter einmal des Geistes mächtig: diese Tätigkeit erscheint als Poiesis, als Arbeit an einem nicht beliebig verfügbaren Gegenstand. 11 Der Dichter hat sich eines »poetischen Geistes« zu bemächtigen, der charakterisiert ist durch den Widerstreit der Forderung nach »Gemeinschaft« und »Zugleichseyn aller Theile« einerseits und nach dem Hinausgehen aus sich andererseits, um »in einem schönen Fortschritt und Wechsel sich in sich selbst und in anderen zu reproduzieren«. Letzteres bedeutet für den Dichter, dass er sich nicht nur des Geistes, sondern auch »der Receptivität des Stoffs« für den Geist bemächtigen muss. Das »jedesmalige poetische Geschäfft und Verfahren« realisiert sich im »poetischen Wirkungskreis«, der abgesteckt ist durch die Möglichkeiten des stofflichen Elements, zum »Vehikel des Geistes, wodurch er sich in sich selbst und in andern reproducirt«, zu dienen. Dieser Wirkungskreis ist »an sich größer« als der poetische Geist, d. h. er enthält mehr Möglichkeiten als dieser in ihm realisiert und ist »der Tendenz nach dem poetischen Geschäffte entgegen«, indem er »der poetischen Beschränkung widerstrebt« und »dem Geiste nicht blos als Vehikel dienen will«. Aufgabe des Dichters ist es, sich Friedrich Hölderlin: Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe (StA). Stuttgart 1943 ff., Bd. 6,1, S. 328 f. (Brief Nr. 179). 11 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe (FHA), Frankfurt a. M. 1975 ff., Bd. 14, S. 303–322, hier besonders S. 306. (StA, a. a. O., Anm. 10, Bd. 5,1, S. 241–265, bes. 244 f.); eine solche Interpretation des Fragments im Sinne einer Logik der Arbeit hat Michael Franz vorgeschlagen und dabei auch auf Parallelen zum Arbeitsbegriff des Jenaer Hegel aufmerksam gemacht (»Hölderlins philosophische Arbeit«, in: Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte, hg. v. Ch. Jamme und O. Pöggeler, Stuttgart 1981). Wohl diesem Hinweis folgend spricht Christoph Jamme (»Ein ungelehrtes Buch«. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797–1800, Bonn 1983, S. 368 f.) davon, Hölderlins Fragment definiere das poetische Verfahren als Arbeit. 10

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dieses Widerständige »zuzueignen« und zu »subordnieren«, indem er die (objektiven) Möglichkeiten des stofflichen Elements zur »Receptivität für den Geist« ausnutzt. Was Hölderlin hier beschreibt, ist die Logik der Arbeit, der Poiesis in der ursprünglichen Bedeutung, von der die Poesie jetzt wiederum nur ein Spezialfall ist. Die Poesie gehört dabei sogar zu den artes mechanicae, von denen sie sich in der Moderne einmal abgesetzt hatte. In den Anmerkungen zum Ödipus erklärt Hölderlin: »Der modernen Poesie fehlt es aber besonders an der Schule und am Handwerksmäßigen, daß nemlich ihre Verfahrensart berechnet und gelehrt, und wenn sie gelernt ist, in der Ausübung immer zuverlässig wiederholt werden kann«. 12 Poesie ist demnach nicht Darstellung von Subjektivität oder auch, wie Schleiermacher es später sah, einer individuellen Rezeptivität; sie entbehrt vielmehr jeder Unmittelbarkeit. Sie vermittelt die Reproduktion eines überindividuellen Geistes und ist durch diese selbst vermittelt. Der Geist kann sich nur durch die Beziehung auf Anderes, durch das Hinausgehen über sich reproduzieren, d. h. aber, dass dieses Hinausgehen über sich zugleich Rückkehr in sich und damit reflektiertes, vermitteltes Selbstverhältnis ist. Es »muß sich zeigen«, so Hölderlin, »daß die Verfahrensart […] nur der Übergang vom Reinen zu diesem Aufzufindenden, so wie rükwärts von diesem zum Reinen ist«. Das Andere muss als Organ des Geistes, in dem er diesen Wendepunkt erreicht, selbst eine Einheit von Entgegensetzung und Verbindung darstellen, ein »Harmonischentgegengesetztes«. 13

2.

Friedrich Schlegel: Universalpoiesis

Etwa fünf Jahre vorher, in dem Aufsatz Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer (1795/96), der zu Lebzeiten ungedruckt blieb, hat Friedrich Schlegel auf vergleichbare Weise den Gedanken entwickelt, dass Natur unverfügbare Voraussetzung des Handelns sei und daher auch, wie er ausdrücklich anmerkt, von der Freiheit nicht »vertilgt« StA, a. a. O. (Anm. 10), Bd. 5, S. 195. – Vgl. auch Hölderlins Brief an seinen Bruder vom 12. 2. 1798 mit einem Plädoyer »zu Gunsten der mechanischen Arbeit« (StA, Bd. 6,1, S. 262, Brief Nr. 152). 13 FHA, a. a. O. (Anm. 11), Bd. 14, S. 309 (StA, Bd. 5.1, S. 248). 12

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werden könne. 14 Geschichte sei »Wechselwirkung der Freiheit und Natur«, die ein »System der unendlichen Fortschreitung« konstituiere, wobei das geschichtliche Fortschreiten aber – soll es nicht bloß leere Bewegung in der Zeit sein – der Rückkehr des Prozesses in sich selbst bedarf. Die vielfach variierte, paradoxale Formel für diese objektiv vermittelte Selbstreflexion von Geschichte lautet bei Schlegel »unendlich zyklische Progressivität«. Der damit bezeichnete Prozess steht im Mittelpunkt der seit 1797 skizzierten »Philosophie der Philologie« 15 ; diese sei »Theorie der historischen Kritik« 16 und die »ganze Philosophie der Historie« müsse aus ihr »postulirt und deducirt werden können« 17 . Das philologische Verfahren, das Schlegel hier entwickelt, enthüllt sich als eine Theorie geschichtlicher Poiesis. Der hermeneutischkritische Prozess setzt beim historisch bedingten Einzelnen ein und erfasst von ihm aus das geschichtliche Ganze; 18 er ist daher »wie eine Totalisazion von unten herauf« 19 . Er besteht darin, im Wechsel von Verstehen und Kritik das historisch Bedingte in seiner Bedingtheit zu erfassen und nachkonstruieren zu können. Hierdurch wird die »wahre Kritik« für Schlegel schließlich »ein Autor in der 2t Potenz« 20 . Die Potenzierung besagt, dass es sich hierbei nicht um ein mimetisches Sich-Anverwandeln handelt, sondern um ein Fortbilden des Überlieferten. Der hermeneutisch-kritische Prozess ist poietisch in einem ausgezeichneten Sinne, und zwar gerade deshalb, weil er einer radikalen Geschichtlichkeit unterliegt, sofern er das Vorgebildete immer nur aus der historischen Distanz zu vergegenwärtigen vermag und es darum in seinem Ursprung auch immer verfehlt. Er vollzieht sich als eine progressive, »antithetische Synthesis« in einer fortgehenden KFSA, a. a. O. (Anm. 7), Bd. 1, S. 631. KFSA, Bd. 16, S. 35–81 (Zur Philologie I und II); Schlegel, Friedrich: »Philosophie der Philologie«, hg. v. J. Körner, in: Logos 17 (1928), S. 1–72. – Vgl. Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Robert S Leventhal: The Disciplines of Interpretation. Lessing, Herder, Schlegel and Hermeneutics in Germany 1750–1800, Berlin und New York 1994; Andreas Arndt: »Philosophie der Philologie«, in: Editio 11 (1997), 1–19. 16 KFSA, a. a. O. (Anm. 7), Bd. 16, S. 35 (Nr. 9). 17 Ebd., S. 47 (Nr. 143). 18 »Die Wissenschaft die aus der Philologie entspringt heißt Historie« (ebd., S. 67, Nr. 75); »Der Zweck der Philologie ist die Historie« (ebd., S. 37, Nr. 27). 19 Ebd., S. 68 (Nr. 84). 20 Ebd., S. 106 (Nr. 927). 14 15

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»Kette der ungeheuersten Revoluzionen«. 21 Schlegel stellt diesen Prozess unter den Begriff der Bildung, die als das wahrhafte Seiende, ontw@ on, der Historie gilt. 22 Der Bildungsprozess beschreibt eine zyklische Bewegung: im Rückgang auf das bereits Gebildete werden dessen innere Potentiale für ein sich daran anschließendes Fortbilden freigesetzt. Diese Figur betrifft nicht nur den kulturellen Überlieferungszusammenhang durch Rede oder Schrift, wie er traditionell Gegenstand der Hermeneutik ist, sondern hat paradigmatische Bedeutung für alle menschlichen »Bildungen«. Das menschliche Weltverhältnis ist für Schlegel – der ontologischen Bedeutung der Bildung, d. h. des geschichtlichen Prozesses entsprechend – ein in diesem Sinne hermeneutisch-kritisches: das unendliche Nach- und Fortbilden an und in einer vorgebildeten, aber nie vollendeten Welt. In dieser Konsequenz ist das Naturverhältnis in den geschichtlichen Bildungsprozess selbst eingezeichnet: Bildung bezieht sich elementar auf die natürliche Welt als eine bereits vorgebildete, d. h. diese Welt ist nicht bloß tote Grundlage, gleichgültiges Material künftiger Bildungen, sondern in ihrer eigenen Strukturiertheit Voraussetzung und Moment daran anschließender Bildungsprozesse. 23 Wie die künstliche Bildung der Moderne sich nur scheinbar von der Natur löst, in Wahrheit aber deren Potentiale allererst freisetzt, die in der (mimetischen) Naturhaftigkeit der antiken Bildung noch nicht hervortreten konnten, so steht Bildung überhaupt für Schlegel unter der Bedingung der Wechselwirkung mit Natur, und diese Wechselwirkung ist der Inhalt von Geschichte. Allerdings zeigt sich diese Wechselwirkung als eine zunehmend durch die Bildung selbst vermittelte: Ausgangspunkt des Nach- und Fortbildens ist nicht mehr unmittelbar die ›natürlich‹ vorgebildete, sondern die bereits fortgebildete, d. h. ›künstlich‹ umgeformte Natur, wie sie als Resultat vergangener Bildungsprozesse erscheint. Nach dieser Seite ist geschichtliche Bildung ein fortgesetztes Potenzieren vergangener Bildungen und stellt sich als »unendliche Fortschreitung« dar. In dem Gedanken der Potenzierung liegt aber auch, dass der ProEbd., S. 82 f. (Nr. 637). Zum Bildungsbegriff vgl. KFSA, a. a. O. (Anm. 7), Bd. 12, S. 33.38–43.57 f.; Bd. 18, S. 376 (Nr. 673) und S. 293 (Nr. 1174). 23 Vgl. hierzu vom Verf. »›Romantik der Arbeit‹. Perspektiven des frühromantischen Arbeitsbegriffs«, in: ders.: Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003, S. 71–92. 21 22

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zess seinen ursprünglichen Voraussetzungen verhaftet bleibt und sich mit ihnen immer wieder neu zusammenschließt, wie er sich darin zugleich auch mit sich selbst als Bildungsprozess zusammenschließt. Nach dieser Seite ist der Prozess ebenso ein fortgesetzter Kreislauf, die Rückkehr in sich als Einheit beider ist er unendlich-zyklische Progressivität. Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Poiesis ist auch das Konzept der »Universalpoesie« zu verstehen, wie es in dem bekannten Athenaeum-Fragment 116 entwickelt wird. Dass alles Poesie ist bzw. poetisiert werden kann, verweist wiederum darauf, dass Bildung das wahrhaft Seiende sei: Poesie und Poiesis (Bildung, herstellendes Tun) substituieren sich wechselseitig in dem Maße, wie auch Poesie und Philosophie sich durchdringen: »Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.« 24 Hierbei handelt es sich nicht um den Fluchtpunkt eines infiniten Progresses; vielmehr ist die Poesie in Schlegels Konzeption Moment der geschichtlichen Poiesis als unendlich-zyklischem Fortschreiten. Ihr Ort ist durch die transzendentalphilosophische Dialektik bestimmt; sie hat eine spezifische Funktion dort, wo die Grenze des Erkennens als Grenze des Begriffs erreicht ist: in der Ironie. »Eine Idee«, so heißt es im Athenaeum-Fragment 121, »ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stets sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.« Die antinomische Form der Idee ist als höchste Erkenntnis die Erkenntnis der Grenze selbst, aber wir können sie – so betont Schlegel in Vorwegnahme eines später von Hegel gebrauchten Arguments – als Grenze nur erkennen, indem wir »auf irgend eine Weise (wenn gleich nicht erkennend)« schon immer über sie hinaus sind. 25 Dies geschieht, wie es im Abschluß des Lessing-Aufsatzes heißt, »durch Allegorie, durch Symbole«, durch welche »überall der Schein des Endlichen mit der Wahrheit des Ewigen in Beziehung gesetzt und eben dadurch in sie aufgelöst wird« und »an die Stelle der Täuschung die Bedeutung tritt«. 26 Die dialektische Figur der Ironie, welche die Grenze des (endlichen) Wissens zugleich trans24 25 26

Lyceum-Fragment 115; KFSA, a. a. O. (Anm. 7), Bd. 2, S. 161. KFSA 18, S. 521, Nr. 23. KFSA, a. a. O. (Anm. 7), Bd. 2, S. 414. A

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zendiert und markiert, vollzieht eine absolut widersprüchliche und damit unhaltbare Synthesis, in der das Endliche als Schein, d. h. als Erscheinung des Unendlichen gesetzt wird. Sie totalisiert das Endliche, indem sie es zugleich wieder begrenzt und damit das Ganze als wiederum endlich, als eine provisorische Totalität setzt. In der Beziehung des Endlichen auf das Unendliche vollzieht sich somit eine Inversion: statt auf die Annäherung an ein jenseitiges Absolutes orientiert zu werden, wird das Erkennen auf das Endliche zurückverwiesen, um es weiter zu durchdringen und fortzubilden und schließlich erneut zu totalisieren. Das Totalisieren als Erkenntnisbewegung folgt damit selbst der Figur der »unendlich zyklischen Progressivität«; es ist Bestandteil der geschichtlichen Poiesis, die überhaupt unser Weltverhältnis charakterisiert. »Der Mensch dichtet gleichsam die Welt, nur weiß er es nicht gleich«, schreibt Schlegel zum Schluss der Vorlesungen zu Transzendentalphilosophie. 27 Für Schlegel steht, anders als für Hölderlin, die Poesie im engeren Sinne nicht einfach als eine eigene Weise der Erschließung von »Welt« neben der Philosophie, sondern wird Moment philosophisch-begrifflicher Erkenntnis. Sie überschreitet diese dort, wo die antinomische Begriffsstruktur ein begriffliches Fortschreiten nicht mehr erlaubt, aber sie überschreitet sie nur, um sie von neuem zu initiieren. Das Moment der Erfüllung hat sie in sich selbst, als Poesie, aber die Poesie ist nicht die Erfüllung dessen, was die Philosophie vergeblich erstrebte.

3.

Hegel: Arbeit des Begriffs

Der Jenaer Hegel benutzt einmal ein bizarres Bild, um eine historische Umwälzung, die »Staatsrevolution«, zu beschreiben; er vergleicht sie mit dem Tun eines Volkes, das unter der Erde, unterhalb eines Sees, lebt und sich zum Licht emporarbeitet, ohne es zu wissen: »einer erblickt es, ruft: Wasser! reißt die letzte Schicht hinweg, und der See stürzt herein, und ertränkt sie, indem er sie tränkt.« Ohne Übergang fährt Hegel fort: »So ist das Kunstwerk das Werk Aller«. 28 Hegel thematisiert damit das Problem des Verhältnisses des Einzelnen zum allEbd., Bd. 12, S. 105. Karl Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844 (Reprint Darmstadt 1963), S. 181. 27 28

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gemeinen Geist; im »Werk Aller« ist die Einzelheit zugrunde gegangen, gleichsam »ertränkt«, aber umgekehrt kommt das Allgemeine nur durch die Tätigkeit der Einzelnen zustande. Es handelt sich genau um dasjenige Verhältnis, das Hölderlin als das des Dichters zur Selbstreproduktion des Geistes beschrieben hatte. In der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes unterscheidet Hegel zwischen dem besonderen Individuum, dem unvollständigen Geist, und dem allgemeinen Individuum, dem Weltgeist. Worauf sich das Individuum in seinem Wissenwollen richtet, ist das »bereits erworbene Eigentum« des allgemeinen Geistes, welches dem Individuum als äußeres erscheint, als seine »Substanz« oder »seine unorganische Natur«, die er zu »erwerben« und »in Besitz zu nehmen«, kurz: sich anzueignen habe. 29 Von Seiten des allgemeinen Geistes, welcher die Substanz des Individuums ist, bedeutet dies, dass sie [die Substanz] »sich ihr Selbstbewußtsein gibt, oder ihr Werden und Reflexion in sich« 30 . Aneignung des allgemeinen geistigen Eigentums durch das Individuum und Selbstreflexion des allgemeinen Geistes sind ineinander verschränkt. Indem das Individuum sich das bereits erworbene Eigentum des allgemeinen Geistes aneignet, liegt die »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte«, welche der Weltgeist unternommen habe, um »das Bewußtsein über sich« zu erreichen, 31 bereits hinter ihm. Der Inhalt sei schon »ein Gedachtes« und damit »Eigentum der Individualität«; es ist nicht mehr das Dasein in das Ansichsein, sondern nur das Ansich in die Form des Fürsichseins umzukehren. 32 Dies geschieht dadurch, dass die zu Vorstellungen und abstrakten Gedankenformen geronnenen und bekannten Resultate der Arbeit des Geistes ihrerseits wieder bearbeitet werden: das Wissen, welches »gegen die hiedurch zu Stande gekommene Vorstellung, gegen dies Bekanntsein« sich richtet, »ist das Tun des allgemeinen Selbsts und das Interesse des Denkens.« 33 Dieses Tun wird im Weiteren als »die Kraft und Arbeit des Verstandes« vorgestellt, »der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht«. 34 Im Ergebnis löst dieses Tun die fixen Vorstellungen und GeGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, hg. v. W. Bonsiepen und R. Heede (Gesammelte Werke 9), Hamburg 1980, S. 25. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 25 f. 32 Ebd., S. 26. 33 Ebd., S. 26. 34 Ebd., S. 27 29

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dankenformen in Begriffe auf, deren Selbstbewegung den Inhalt des Prozesses ausmacht. Die Arbeit des Begriffs im eigentlichen Sinne, die der Arbeit des Weltgeistes folgt, setzt dort ein, wo es darum geht, die Vorstellung in den Begriff zu transformieren. Die Substanz, das Eigentum des allgemeinen Geistes, ist dabei der »Grund und Ausgangspunkt des Tuns Aller, – und ihr Zweck und Ziel«. 35 Die Substanz ist aber, Hegel zufolge, »ebenso das allgemeine Werk, das sich durch das Tun Aller und Jeder als ihre Einheit und Gleichheit erzeugt.« 36 Dieses »Tun Aller« bedeutet die »Auflösung und Vereinzelung des Wesens«, in der es sich »aufopfert« und »an dem Jeder sein eignes Werk vollbringt, das allgemeine Sein zerreißt und sich seinen Teil davon nimmt«; erst hierin jedoch ist der Geist »wirklich und lebendig.« 37 Auch wenn die Substanz als das allgemeine Werk durch das Tun Aller erst »erzeugt« wird, ist der Geist als lebendiger für Hegel jedoch »das sich selbsttragende absolute reale Wesen«. 38 Indem er »sich gegenständliche, seiende Wirklichkeit ist«, abstrahiert er nur davon, dass diese »sein eigenes Fürsichsein« ist; 39 sie bietet – als Gegenständlichkeit – keinen Widerstand, den der Geist an sich nicht schon überwunden hätte. Die Arbeit des Geistes versteht Hegel daher als Selbstbezüglichkeit, wodurch der Arbeitsbegriff bei ihm insgesamt entnaturalisiert wird. So fungiert bereits in dem Manuskript zur Philosophie des Geistes im dritten Jenaer Systementwurf (1805/06) als Elementarform der Arbeit das »innere Wirken auf sich selbst – eine ganz unsinnliche Beschäftigung«. 40 Der Bestimmung der Arbeit als Selbstvermittlung des Begriffs entsprechend findet Arbeit in der Wissenschaft der Logik ihren Ort in der subjektiven Logik oder der Lehre vom Begriff. Sie wird zunächst dort thematisch, wo die aus dem Begriff hervorgegangene Objektivität wiederum in die Selbstbezüglichkeit des absoluten Begriffs als Idee aufgehoben wird. Dies geschieht im Teleologie-Kapitel des Objektivitätsabschnittes, also direkt an der Nahtstelle zur Idee. Man sieht, dass Hegel hier die Arbeit unter dieselbe Voraussetzung Ebd., S. 239. Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III, hg. v. J. H. Trede und R.-P. Horstmann (Gesammelte Werke 8), Hamburg 1976, S. 194. 35 36

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stellt wie in der Phänomenologie: die Objektivität, an der sie sich abarbeitet, ist immer schon seine eigene, von ihm selbst gesetzte. Der teleologische Prozess führt entsprechend auch dazu, die Gegenständlichkeit überhaupt hinwegzuarbeiten und die Reflexivität der Momente des Arbeitsprozesses in eine reine Selbstbeziehung des Begriffs ohne äußere Gegenständlichkeit zu überführen. Die Pointe des Teleologie-Kapitels besteht darin, dass die Reflexivität des Arbeitsprozesses wesentlich Zusammengehen des Zwecks als Begriff mit sich selbst ist: »Der Zweck als der Begriff, der frei gegen das Objekt und dessen Prozeß existiert und sich selbst bestimmende Thätigkeit ist, geht, da er ebensosehr die an und für sich seiende Wahrheit des Mechanismus ist, in demselben nur mit sich selbst zusammen«; er ist »die Wahrheit des Prozesses und als negative Einheit das Aufheben des Scheins der Äußerlichkeit.« 41 Anders gesagt: das Zusammengehen des Allgemeinen mit sich – des Allgemeinen, das zunächst als Werkzeug auftritt – im Mittel als Selbstzweck –, ermöglicht eine Einheit des Subjektiven und Objektiven, in der der einzelne Zweck, wie er in der wirklichen Arbeit verfolgt wird, gerade durch die Selbstbezüglichkeit des Allgemeinen als Begriff vermittelt ist. »Der teleologische Prozeß«, also der Arbeitsprozess, »ist Übersetzung des distinkt als Begriff existierenden Begriffs in die Objektivität« und damit »Zusammengehen des Begriffes durch sich selbst mit sich selbst«. 42 Für die wirkliche Arbeit bedeutet dies, dass sie einen Doppelcharakter annimmt: sie ist einerseits Moment der Reproduktion der gesellschaftlichen Individuen – und zwar sowohl ihrer materiellen Reproduktion als auch ihres objektiv-geistigen Zusammenhangs –, und sie ist andererseits Moment einer Selbstreproduktion des Geistes. In der ersten Bedeutung ist sie Arbeit unter vorgefundenen gegenständlichen Bedingungen, in der zweiten Arbeit, die sich von gegenständlichen Bedingungen befreit hat. Der begriffslogische Begriff der Arbeit fasst daher die wirkliche Arbeit, d. h. die gegenständliche Tätigkeit, nur als Moment der absoluten Selbstbezüglichkeit des Begriffs. Hegel selbst nennt in seinen Ausführungen zum Lebensprozess im Abschnitt über die Idee die entscheidende Voraussetzung seiner Interpretation des ArGeorg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff, hg. v. F. Hogemann und W. Jaeschke (Gesammelte Werke 12), Hamburg 1981, S. 166. 42 Ebd., S. 167. 41

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beitsprozesses: Die äußere Wirklichkeit »soll den Begriff in sich erst durch das Subjekt erhalten, welches der immanente Zweck ist. Die Gleichgültigkeit der objektiven Welt gegen die Bestimmtheit und damit gegen den Zweck macht ihre äußerliche Fähigkeit aus, dem Subjekt angemessen zu sein«. 43 Anders gesagt: die objektive Welt ist eine tote Grundlage für das Bestimmtwerden durch den Begriff; sie ist dies aber nicht als eine äußerliche Materiatur, die durch eine äußerliche Reflexion zu bestimmen ist, sondern sie ist beliebig bestimmbar durch den Begriff, weil sie im Innersten selbst Begriff ist, der darin nur seine Freiheit betätigt. Diese Selbstbewegung des Begriffs ist die absolute Methode, wie sie im Schlusskapitel der Wissenschaft der Logik behandelt wird. 44 Die Methode ist nach Hegel das Wissen des den Begriff als solchen betrachtenden Begriffs. Diese Selbstreflexion des Begriffs aber fällt, wie Hegel hier eigens betont, »in unser Wissen«. 45 Der Begriff kommt zum Wissen über sich selbst, indem wir mit begrifflichen Mitteln am Begriff arbeiten. Wir tun dies, indem wir – wie es am Anfang der Wissenschaft der Logik gefordert wird – uns entschließen, rein zu denken, d. h. das Denken als solches zu betrachten. Unsere Erkenntnistätigkeit, die Arbeit mit dem Begriff am Begriff, wird von Hegel jedoch, wie bereits erwähnt, eher kontemplativ beschrieben. Dass wir mit begrifflichen Mitteln den Begriff denken, scheint für Hegel soviel zu heißen, dass der Begriff selbst in uns denkt und uns das reine Zusehen bleibt, indem wir uns der Bewegung des Begriffs überlassen. 46 Wie auch immer dies zu verstehen (oder auch nicht zu verstehen) sein mag: der spekulative Begriff der Poiesis als reine Selbstproduktion eines absoluten Begriffs ist mit dem traditionellen Begriff der Poiesis als einem auf äußere Zwecke gerichteten herstellenden Tun nicht einfach zu vermitteln. Hieran hängt indessen wohl kaum das Konzept, nach dem durch die Philosophie Anschauung und Vorstellung in den Begriff zu transformieren, also auch Kunst oder Poesie im weitesten Sinne nur als aufgehobenes Moment für die Philosophie von Bedeu-

Ebd., S. 188. Vgl. hierzu Andreas Arndt: »Methoden-Reflexionen«. In: Mit und gegen Hegel, hg. v. Andreas Knahl, Jan Müller und Michael Städtler, Lüneburg 2000, S. 236–247. 45 Hegel: Logik. Lehre vom Begriff, a. a. O. (Anm. 40), S. 238. 46 Vgl. hierzu Ludovicus De Vos: Hegels Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee. Einleitung und Kommenar, Bonn 1983, S. 61. 43 44

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Poesie und Poiesis

tung seien. Was die Poesie der Philosophie zu sagen hat, kann sie für die Philosophie nur in deren Sprache sagen und muss daher vom Begriff zum Sprechen gebracht werden. Ansonsten bliebe sie stumm und ihre Botschaft wäre nur die Jemeinigkeit dessen, was in sie gelegt wird.

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Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hlderlinrezeption

In seinen Beiträgen zur Philosophie schreibt Heidegger über Hölderlin, er sei »der am weitesten Voraus-dichtende […] in dem Zeitalter, da das Denken noch einmal die ganze bisherige Geschichte absolut zu wissen trachtete« (BPh, 204). Mit dieser Formulierung deutet sich Heideggers besondere Wertschätzung für Hölderlins Dichtung an. Mehr noch, er spricht Hölderlin eine Leistung zu, die über die Philosophie des Deutschen Idealismus hinaus reicht, und stellt damit die Dichtung über das Denken. Das Zitat gibt auch an, worin Heidegger den besonderen Beitrag Hölderlins sieht, nämlich nicht im Einnehmen eines absoluten Standpunktes und der Zusammenschau der bisherigen Geschichte, sondern im Voraus-Dichten. Damit stellen sich nun zwei Fragen: 1. Was ist für Heidegger Dichtung, was leistet sie seiner Meinung nach? 2. Warum ist Heidegger zufolge ausgerechnet Hölderlins Dichtung so bedeutsam? Dem werde ich nachgehen und zwar unter der übergreifenden Frage nach der »Wahrheit der Dichtung«. Diese Formulierung, die die Dichtung mit dem Wahrheitsanspruch konfrontiert, mag irritieren, ist doch gerade die Dichtung einer der Bereiche, in denen es normalerweise nicht um »Wahrheit« geht. Einer solchen Trennung von Dichtung und Wahrheit liegt ein erkenntnistheoretischer Wahrheitsbegriff zugrunde, der aber nicht Heideggers Verständnis von Wahrheit trifft. Es wird also auch etwas über »Wahrheit« in Heideggers Auffassung zu sagen sein. Die angedeutete Verschränkung von Dichtung und Wahrheit folgt Heideggers Grundkonzept von Wahrheit, das integriert ist in die Fundamentalfrage nach dem Verhältnis des Menschen zum Sein. Diese Beziehung wird vor allem realisiert in der Sprache und speziell in den76

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Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hölderlinrezeption

jenigen sprachlichen Formen und Vollzügen, die nach der Beziehung Mensch – Sein selbst fragen, und dies sind für Heidegger Denken und Dichten. Hier geschieht Wahrheit, nämlich der Bezug des Menschen zum Sein. Sich mit Heideggers Auffassung von Dichtung zu befassen, heißt damit immer zugleich, sein Ringen um ein Verständnis von Wahrheit und Sprache zu beachten.

1.

Zu Heideggers Wahrheitskonzept

Schon in Sein und Zeit greift Heidegger für die Gewinnung seines Wahrheitsbegriffs auf die griechische Philosophie zurück. Er bestimmt Wahrheit aus dem Griechischen »alétheia« als »Unverborgenheit« bzw. Entdecktheit des Seienden für den Menschen. A-létheia hat im Wortstamm »léthe«; »léthe« wird von Heidegger als Verborgensein gefasst, das »a-letheúein« als Ent-bergen, Freilegen, ans Licht bringen. »Alétheia« ist die »Unverborgenheit«. Wahrheit heißt damit: »Seiendes – aus der Verborgenheit herausnehmend – in seiner Unverborgenheit (Entdecktheit) sehen lassen«. (SZ, 219)

Wenn Wahrheit als »Unverborgenheit« und »Entdecktheit« verstanden wird, ist dies zurückbezogen auf das verstehende Dasein, das diese Ent-deckung leistet und die Welt ent-birgt, so dass sie dem Menschen zugänglich wird. (SZ, 220) Das Dasein setzt sich mit dem Seienden auseinander, beschäftigt sich mit ihm, geht mit ihm praktisch um. Das Dasein wendet sich mit verschiedenen Perspektiven und Fragen an das Seiende, die diesem adäquat oder inadäquat sein können. Die verschiedenen Möglichkeiten, die das Dasein entwickelt, um das Seiende zu erschließen, können überlagert sein durch Vorurteile und Irrtümer. Vor allem ist das Dasein meist nur auf bestimmte Erschließungsweisen eingeübt, während es andere außer Acht lässt. Die Art, wie der Mensch mit Seiendem umgeht, legt Zugänge zum Seienden frei, verschließt aber dadurch andere. Alles Entdecken erfasst etwas am Seienden, es bleiben aber immer Aspekte verborgen, wie auch Husserl dies beispielsweise betont, wenn er von »Abschattung« spricht. Der Mensch ist also in seinem Dasein zugleich in der Wahrheit und in der Unwahrheit, für sein Entdecken ist ihm das Seiende einerseits offen, andererseits aber verdeckt und verschlossen. Wahrheit gibt A

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es nur, weil das Dasein in einem Entdeckungsverhältnis zum Seienden steht. Wahrheit ist also eine Relation zwischen Dasein und Seiendem, denn das wahrheitserschließende Ent-decken ist sowohl eine Aktivität des entdeckenden Daseins, ein »Entdeckend-sein (Entdeckung)«, als auch ein »Entdeckt-sein (Entdecktheit)«, in dem das Seiende dem Dasein sich zeigt. (SZ, 220) Das Dasein ist konstitutiv immer schon »in der Wahrheit« (SZ, 226), es ist seine spezifische Weise zu sein, dass es in der Welt Seiendes erschließt. Worin die Wahrheit dabei jeweils besteht, ist »relativ auf das Sein des Daseins« (SZ, 227). Die Wahrheit ist demnach nicht jenseits des Daseins gegeben, sondern sein spezifisches Verhältnis zur Welt. Diese ersten Überlegungen zum Wahrheitsbegriff führt Heidegger 1930 mit seinem Vortrag »Vom Wesen der Wahrheit« weiter. Hier wird Wahrheit als das Offenbare, das Offene oder das Unverborgene bestimmt. (W, 188) Auch dabei geht es um das Verhältnis des Menschen zum Seienden, um seine freie »Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden«, die geschieht im »ek-sistenten Sich-einlassen, durch das die Offenheit des Offenen, d. h. das ›Da‹ ist, was es ist« (W, 189). Heidegger pointiert hier sogar die konstitutive Verbindung von Wahrheit und Freiheit: »Das Wesen der Wahrheit enthüllt sich als Freiheit. Diese ist das ek-sistente, entbergende Seinlassen des Seienden.« (W, 192)

In seiner weiteren Bemühung um ein Verständnis dessen, was Wahrheit heißen kann und worin das »Wesen« der Wahrheit besteht, tritt fortan stärker die Dimension des Verborgenseins in den Vordergrund. Deutlich wird dies in den Beiträgen zur Philosophie (1936–38). Hier bestimmt Heidegger Wahrheit als »die Lichtung des Seyns als Offenheit des Inmitten des Seienden« (BPh, 327). Das Offene ist dabei sowohl Lichtung als auch Verbergung. Es ist »die Lichtung des Sichverbergens« (BPh, 328). Die Offenheit, um die es in der Alétheia geht, ist etwas Eröffnendes, Freilegendes, sie ist »Ent-schließung« (BPh, 335). Auch in dieser Fassung von Wahrheit sind Mensch und Welt, Da-sein und Seiendes, aufeinander bezogen. Wenn das Seiende in seinem Wesen sich nie ganz erschließt, bleibt sein wesenhaftes Seyn dem Menschen immer auf eine gewisse Weise verschlossen und verborgen. In seinem Da-sein ist der Mensch die aufschließende, ent-schließende Instanz, doch dies vermag er gerade deswegen, weil er selbst nur als er78

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schließend da ist. Wahrheit ist sowohl bedingt durch die erschließende und verstehende Fähigkeit des Da-seins als auch durch die jeweilige Gegebenheit des Seienden, die sich ereignet und dem Dasein auf eine gewisse Weise zugänglich ist. Aber es bleibt dabei immer auch etwas unzugänglich, zur Wahrheit gehört die »Un-Wahrheit«, »das Nichthafte«, »aber keineswegs nur als Mangel, sondern als Widerständiges, jenes Sichverbergen, das in die Lichtung als solche kommt« (BPh, 356). Diese Relationalität der Wahrheit aus der Beziehung Lichtung – Verbergung greift Heidegger dann u. a. in seinem Bremer Vortrag von 1949 »Einblick in das was ist« auf. Er weist erneut darauf hin, dass »alétheia« nicht ein einmaliges Geschehen ist, bei dem das Entborgene dann klar und deutlich dasteht, ins Licht tritt, sondern die Verborgenheit bleibt immer auch weiter bestehen. A-létheia ist das Zugleich von léthe und a-létheia. »A-létheia, Unverborgenheit des Anwesenden als eines solchen, west aber nur dann und nur so lange, als Verborgenheit, Lethe, sich ereignet. Denn die Aletheia beseitigt die Lethe nicht. Unverborgenheit zehrt die Verborgenheit nicht auf, sondern Unverborgenheit verlangt stets Verborgenheit und bestätigt sie auf diese Weise als die Wesensquelle der Aletheia. Diese hält sich an die Léthe und hält sich in ihr.« (BV, 49)

Die Verborgenheit geschieht so, dass sich in ihr eine Unverborgenheit zeigt. Doch, wie schon in Sein und Zeit herausgestellt, dieses Hervortreten des Seienden ins Offene bleibt immer beschränkt. Wenn sich Seiendes zeigt, bleibt auch etwas verhüllt. Damit ist das Dasein niemals im »Besitz« der Wahrheit, sondern muss diese mit jedem Tun und jeder sprachlichen Fassung stets neu eröffnen. Und der Zugang zum Seienden ist immer auch gefährdet durch einseitige Deutungen oder verfälschende Interpretation. So gehört zur Lichtung stets das Verbergen und das Versagen. (HW, 39) »Die Wahrheit ist in ihrem Wesen Un-wahrheit.« (HW, 40) Dabei ist die Verdeckung der Wahrheit des Seins geschichtlich gesehen etwas, das für Heidegger vor allem die Neuzeit und die Gegenwart auf besondere Weise betrifft, in einer eigentümlichen Weise der Seinsvergessenheit, die Heidegger dann als »Ge-stell« bezeichnet. Wahrheit ist also nicht einfach da, sondern sie ist ein Bemühen und ein Kampf:

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»Die Wahrheit ist der Urstreit, in dem je in einer Weise das Offene erstritten wird, in das alles hereinsteht und aus dem alles sich zurückhält, was als Seiendes sich zeigt und entzieht.« (HW, 47)

Wie sich das Verhältnis von Verbergen und Entbergen gestaltet, ist entscheidend für das, was sich dem Menschen jeweils als Wahrheit eröffnet, was für ihn das Seiende jeweils bedeutet. Wahrheit wird konstituiert durch die Beziehung zwischen Mensch und Welt. Diese Beziehung braucht aber einen Träger, einen Vermittler, ein Medium, in dem Wahrheit sich ereignen kann. Der Raum der Wahrheit ist die Sprache.

2.

Wahrheit und Sprache

Seit den dreißiger Jahren nimmt das Nachdenken über die Funktion der Sprache einen bedeutenden Raum in Heideggers Werk ein. Doch versteht er Sprache in diesem wesentlichen Verständnis weder als Werkzeug des Menschen, das zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden kann, noch als Hilfsmittel der Kommunikation. Die Sprache ist grundlegend zu verstehen als die Weise, in der der Mensch überhaupt in der Welt »da« ist. So betont Heidegger, »daß der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat« (US, 159). Was er als Mensch ist, wie er die Welt versteht und sich zu ihr verhält, hängt ab von dem, wie er sich die Welt erschließt. »Sprache« steht für die Gesamtheit der Möglichkeiten und Vollzüge der Welterschließung durch den Menschen. »Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen. Nur wo Sprache, da ist Welt« (HD, 38).

Sprache meint hier in einem umfassenden Sinn die Gesamtheit der Verstehensleistungen und Weltbezüge des Menschen. Nur im diesem sprachlichen Gesamthorizont sind die Einzeldinge für den Menschen erfahrbar und geschieht die Selbstverortung in einer Kultur und einer historischen Konstellation. Erst in Sprache wird dem Menschen seine Welt zugänglich, wird ihm das »Sein« des Seienden eröffnet und wird letztlich sein eigenes Menschsein ermöglicht. »Das Sein des Menschen gründet in der Sprache« (HD, 38). Sprache ist der spezifisch menschliche Zugang zur Welt, sie eröffnet und vollzieht die Möglichkeiten, Seiendem eine Bedeutung zu ge-

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ben, etwas sinnhaft zu verstehen. Alle anderen Entitäten sind von dieser Möglichkeit ausgeschlossen: »Wo keine Sprache west, wie im Sein von Stein, Pflanze und Tier, da ist auch keine Offenheit des Seienden« (HW, 59).

Wenn Sprache die Möglichkeit des Menschen darstellt, sich Zugänge zur Welt zu eröffnen und zu erschließen, dann realisiert sie Wahrheit. Die Sprache übernimmt somit die Spannung von Lichtung und Verbergung, die die Wahrheit als a-létheia ausmacht: »Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst.« (Hum, 18)

In der Sprache ereignet sich der Prozess des Weltverstehens, in dem der Mensch Sprache formt, er andererseits aber vom Sein angesprochen werden muss. Für den Menschen ist Sprache einerseits ein Sprechen, andererseits aber ein Hören und ein »Sichsagenlassen« (US, 255). Denn die Eröffnung von Wahrheit in der Sprache ist etwas, das der Mensch einerseits immer tut, indem er spricht, das ihm aber dennoch nie verfügbar ist, weil es allem seinem Denken und Tun stets schon als Orientierungsrahmen vorausgesetzt ist. »Der Mensch spricht erst und nur, insofern er der Sprache entspricht, indem er auf ihren Zuspruch hört.« (VA, 184)

Am Anfang des Humanismusbriefes (1949) hat Heidegger diese Relation in ein Bild gebracht, er nennt die Sprache »das Haus des Seins« (Hum, 5). »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.«

Die besondere Funktion der Sprache wissen aber vor allem die Dichter und Denker. Sie sind diejenigen, die die Behausung des Menschen, seine Sprache, hüten und bewachen. Mit ihrem Sagen eröffnen sie dem Menschen den Zugang zur Welt, das Verstehen von Welt. »Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren.« (Hum, 5)

Denken und Dichten leisten jeweils, aber doch auf verschiedene Weise, eine Ent-sprechung von Mensch und Sein. Sie sind Formen der sprachlichen Sinnerschließung; sie eröffnen Blicke auf das Seiende, in dem dieses dem Menschen etwas Sinnvolles bedeutet. Dabei ist es aber insbesondere die Dichtung, die auf eine »ausgezeichnete Weise im Dienst A

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der Sprache steht« (WPh, 30). Sie trägt auf eine besondere Weise bei zur »Lichtung des Sichverbergens«, denn ihr eignet »das Freie der Kühnheit des Schaffens«. (BPh, 328) Folgen wir im nächsten Schritt dem Zusammenhang von Wahrheit und Dichtung und damit der Bedeutung von Dichtung für den Menschen.

3.

Die Wahrheit der Dichtung. Oder: Was leistet die Dichtung fr den Menschen?

Der Genitiv »Wahrheit der Dichtung« hat eine zweifache Aussagerichtung: a) Der genitivus subjectivus »Wahrheit der Dichtung« zielt auf das, was die Dichtung sagt, auf die Wahrheit, die der Dichtung entspringt und zu ihr gehört. Es ist die »Wahrheit aus der Dichtung«, die Erschließung von Wahrheit durch Dichtung. In diesem Sinne besteht die Wahrheit der Dichtung in der »Dichtung der Wahrheit«, insofern durch die Dichtung der Wahrheit ihr Maß gegeben wird, die Wahrheit in ihrem Wahrsein ermöglicht wird. Denn die Dichtung wird in Anspruch genommen, über das Wahre dichtend Auskunft zu geben. Die Dichtung leistet auf eigen-artige Weise das Lichten der Wahrheit. Aus dem Dichten entspringt die Wahrheit. b) Im genitivus objectivus »Wahrheit der Dichtung« ist die »Wahrheit über die Dichtung« angesprochen, geht es um die Wahrheit, deren Objekt die Dichtung selbst ist. Was Dichtung zu leisten hat, was sie ist, hat einesteils die Dichtung selbst zu sagen. Andererseits kommt hier aber auch das Denken ins Spiel, das die Wahrheit der Dichtung bedenkt, indem es sich über Funktion, Arbeitsweise, Gehalt, Bedeutung, Tragweite von Dichtung Gedanken macht. Die Wahrheit der Dichtung besteht in dem, was sie dichtend zur Wahrheit beiträgt. Diese Verschränkung von Dichtung und Wahrheit lässt die Wertschätzung Heideggers für die Dichtung deutlich werden. Die Dichtung eröffnet auf ihre Weise Wahrheit. Sie erschließt dem Menschen Zugänge zum Sein des Seienden, zur Bedeutung des Seienden. Sie entdeckt Hinsichten, sie entwirft Perspektiven, in denen das Seiende dem Menschen erst verstehbar wird. In der Dichtung, wie in der Kunst überhaupt, geht es also nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit. In seinem Text »Der Ursprung 82

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des Kunstwerks« bestimmt Heidegger das Wesen der Kunst als »das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden«. (HW, 21) Das Kunstwerk ist »die Eröffnung des Seienden in seinem Sein« und damit ein »Geschehnis der Wahrheit« (HW, 23). Es ist Kunstwerk dadurch, dass es auf eine ganz bestimmte Weise Seiendes zeigt, Zugänge zum Seienden eröffnet. Das Schaffen des Künstlers ist ein Her-vor-bringen, es bringt etwas »vor« uns, so dass wir es sehen, erleben und bedenken können. Es gibt dem Seienden eine wahrnehmbare »Gestalt« (HW, 50). Das Kunstwerk ist dabei ein Entbergen. (HW, 24) Es eröffnet einen Zugang zum Seienden, es bereitet ihm den Raum, worin es ans Licht treten kann. Heidegger spricht auch andere Weisen an, in denen Wahrheit eröffnet wird, so die »staatgründende Tat«, »das wesentliche Opfer« oder »Fragen des Denkers« (HW, 48). Aber unter diesen hat die Dichtung eine herausgehobene Stellung: Denn alle Wahrheit geschieht, »indem sie gedichtet wird« (HW, 58). Dichtung in diesem sehr grundlegenden Sinn genommen ist dasjenige, was alles Wahrheitsgeschehen auf eine gewisse Weise konstituiert. Dass Wahrheit gedichtet wird, heißt nicht, sie würde zusammengereimt und erfunden. Sondern es geht mit dieser Fundierung der Wahrheit im Dichten um ein Verständnis, das Wahrheit ähnlich wie ein Gedicht als einen offenen, schöpferischen und sinnstiftenden Prozess vorstellt. Heidegger führt dies zum Beispiel näher aus anhand der Schlusszeile von Hölderlins Gedicht »Andenken«, die er an verschiedenen Stellen seines Werks immer wieder zitiert: »Was bleibet aber, stiften die Dichter.« (GA 39, 32)

Wahrhafte Dichter sind diejenigen, die etwas stiften, das heißt schöpferisch hervorbringen, etwas gründen, ergründen, in seinem Grund erfassen. Geschaffen, gestiftet, wird etwas Bleibendes. Was aber bleibt? Dasjenige ist bleibend, das die Möglichkeit eröffnet, dem Menschen etwas Sinnvolles zu sagen. Es ist das, »was das Seiende im Ganzen trägt und durchherrscht« (HD, 41). Das Bleibende wird gestiftet in der Sprache, im Nennen des Seienden. Es geschieht »durch das Wort und im Wort« (HD, 41). Erst durch das Benennen kommt das Seiende zum Erscheinen, geschieht die Lichtung ins Offene, das heißt Wahrheit. (HW, 59) Es ist dabei nicht so, dass Dichtung sich einer schon vorhandenen Sprache als ihrem Instrument bedient, das sie virtuos bearbeitet, »sondern die Dichtung selbst ermöglicht erst die Sprache«, es muss also »das Wesen A

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der Sprache aus dem Wesen der Dichtung verstanden werden« (HD, 43). Jeder Gebrauch von Sprache hat Anteil an diesem schöpferischen Prozess. »Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne.« (HW, 60) Damit wehrt Heidegger ein instrumentelles Verständnis von Sprache ab, so dass nicht jedes oberflächliche und beliebige Sagen einen sinnvollen Zugang zum Seienden eröffnet, sondern diesen vielmehr verdeckt. Erst das Aufmerken auf die Funktion der Sprache als wesentlich dichtend stellt ihre eigentliche Bedeutung heraus. Dichtung ist ein Schaffen im Medium der Sprache, genauer: es ist überhaupt das Eröffnen sprachlicher Möglichkeiten zum Verstehen der Welt, zum Erschließen von Sein, denn Sein ist nur gegeben in der Sprache. »Dichtung ist worthafte Stiftung des Seins.« (HD, 41)

Dichtung stiftet Sein durch das Wort, durch die Benennungen, die sie den Dingen gibt. Dies ist kein willkürliches Sagen und Wortschöpfen, sondern ein solches, das Dinge in ihrer Bedeutung für den Menschen erschließt und das die Welt so zu verstehen hilft. Das Wort »verschafft« einem Ding das Sein. (US, 192) Das Wort »gibt« den Dingen durch die Nennung ihren Sinn, die Möglichkeit der Einordnung in eine Welt. Das Wort ist »das Gebende«. Es gibt das Sein. (US, 193) Diese erschließende, dichtende, gebende Funktion muss aller Sprache eignen, wenn sie das Haus des Seins und die Behausung des Menschen sein soll. Das dichtende »Stiften« wird von Heidegger im »Kunstwerkaufsatz« in drei Aspekten erörtert: als Schenken, als Gründen und als Anfangen. Als Schenkung ist das Dichten etwas Unerwartetes, nicht aus dem Gegebenen Begründbares, sondern eine Gabe und ein Geschenk. Im Gedichteten wird eine neue Perspektive eröffnet. Dichtung ist ein Gründen, weil sie aus dem tragenden Grund des bisherigen Daseins einen neuen Deutungsraum begründet. Dichtung ist damit ein Anfang, ein Neuanfang. Sie stiftet, so könnte man vielleicht sagen, neue Horizonte und vielleicht sogar eine neue Epoche. (HW, 61 f.) Denn das Gedicht ist in seinem Sagen nicht individuell, sondern »schicksalhaft« (HD, 182), »weil es uns selbst, das Geschick dichtet, in dem wir stehen« (HD, 183). Ein anderes Wort, das dem des Geschicks nahe kommt, ist Geschichte. In der Dichtung werden die Grundlagen gelegt für das historisch-kulturelle Selbstverständnis der Menschen und Völker. Oder mit Heideggers Worten: 84

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Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hölderlinrezeption

»Dichtung ist der tragende Grund der Geschichte und deshalb auch nicht nur eine Erscheinung der Kultur« (HD, 42).

Jedes neue Weltbild eröffnet uns eine neue Sicht auf die Welt und uns selbst. Wenn die Dichtung »Stiftung der Wahrheit ist«, dann in dem Sinne, dass sie das sprachliche Repertoire bereitstellt, mit dem wir uns die Welt erschließen und formen. »Dichtung ist die Ursprache eines geschichtlichen Volkes.« (HD, 43)

In der dichtenden Sprache wird ein Weltbild entworfen, in dem die Dinge ihren historischen Platz erhalten und die eigene geschichtliche Verortung erfolgt. Diese geschichtliche Dimension entfaltet sich jedoch vor allem im Vorblick. Dichter richten den Blick nach vorn, sie besitzen eine besondere Sensibilität für das Kommende, sie erahnen etwas, sie denken voraus, sie dichten voraus. (HD, 55) Dichter vermögen das Ahnen. Sie haben eine besondere Sensibilität für das Kommende. »Die Ahnung denkt vor in das Ferne, das sich nicht entfernt, sondern im Kommen ist. Weil aber das Kommende selbst noch in seiner Anfänglichkeit ruht und zurückbleibt, ist das Ahnen des Kommenden zumal ein Vor- und Zurückdenken.« (HD, 55)

Die Dichter künden etwas über die Zu-kunft, das auf uns Zu-kommende, das dabei im Vorhandenen und Gegenwärtigen eingebettet ist. Sie vermögen dies, weil sie sich um die Menschen sorgen. In Sein und Zeit wurde als das entscheidende Existenzial die »Sorge« eingeführt, die vor allem ein »Sich-vorweg« markiert. Denn erst aus dem Entwurf des Zukünftigen lässt sich das Jetzt bestimmen. Dennoch ist das »Sich-vorweg« immer auch ein »schon-sein-in«, es ent-springt dem schon Gewordenen. Es geht aus diesem hervor und springt zugleich aus ihm heraus in die Ferne. Aus dieser Distanz wird das Nahe erst verständlich. Ähnlich ist es mit dem Dichten, es ist ein Stiften, ein Hervorbringen (poiesis) (VA, 13), und zwar sowohl durch das Voraus-dichten als auch durch ein aufnehmendes »Finden« (HD, 15) und Bewahren. Im dichtenden Stiften bewahrt werden die historischen und kulturellen Grundlagen, auf denen alles Denken und Dichten aufruht. Diese ineinander verschränkten Blickrichtungen manifestieren sich auch in Hölderlins Gedicht »Andenken«. Andenken ist ein Erinnern, ein Gedenken, aber es heißt auch an etwas Denken, an-Denken an etwas, das noch kommt.

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»Gesetzt, dies Andenken denkt voraus, dann kann auch das Zurückdenken nicht an ein ›Vergangenes‹ denken, dem nur der Bescheid des Unwiderruflichen zu leihen wäre. Das ›Denken an‹ das Kommende kann nur das ›Denken an‹ das Gewesene sein, worunter wir im Unterschied zum nur Vergangenen das fernher noch Wesende verstehen.« (HD, 84)

Die Dichter sind nun nicht nur die andenkend Ahnenden. Sie sind begabt, ihren Vorblick auch so in Worte zu fassen, dass sie damit in der Sprache etwas Wesentliches und Bedeutsames eröffnen. Dichter vermögen es, den Worten eine ganz besondere Nennkraft zu verleihen. »Das dichterische Nennen sagt das, was das Gerufene selbst aus seinem Wesen den Dichter zu sagen nötigt.« (HD, 58)

So erst werden die Dinge deutlich für uns, erhalten sie einen Sinn. Das Wort dient der Enthüllung des in ihm Ausgesprochenen. Alles Aussprechen aber ist ein Unterscheiden. »Denn das Wort scheidet, indem es das Wesenhafte nennt, das Wesen vom Unwesen. Und indem das Wort sie scheidet, entscheidet es ihren Streit. Das Wort ist Waffe.« (HD, 58)

Deshalb bezeichnet Hölderlin, nach Heideggers Lesart, die Sprache auch als »der Güter Gefährlichstes« (HD, 35; StA, 246). Mittels der Sprache übt der Mensch Gewalt aus, Gewalt über die Dinge, denn in der Sprache entscheidet sich, wie die Dinge für uns sind, entscheidet sich ihr Sein. Der Dichter hat die Aufgabe, dem Menschen sprachlich etwas zu eröffnen, das ent-scheidend ist für das Menschsein. »In der Dichtung […] wird der Mensch gesammelt auf den Grund seines Daseins.« (HD, 45)

Dass aber Dichtung überhaupt diese besondere Bedeutung für den Menschen haben kann, ist nur möglich, da der Mensch selbst es ist, der sich immer wieder neu seine Welt deuten und sich selbst in dieser Welt platzieren, aus dieser Welt heraus verstehen und in sie hinein entwerfen muss. Der Mensch selbst dichtet, stiftet sein Dasein, sein Leben. Jeder Mensch ist in diesen Dichtungsprozess involviert, denn Erschließen, Verstehen und Auslegen der Welt gehören zu den Grundbedingungen des Menschseins. Für Heidegger ist das Wesen des Menschen überhaupt in seinem Grund »dichterisch«, wie auch für Hölderlin:

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Die Wahrheit der Dichtung: Zu Heideggers Hölderlinrezeption

»Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet Der Mensch auf dieser Erde.« (VA, 185) 1

Den Metaphern des Wohnens und Bauens hat Heidegger viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dichten ist metaphorisch gesprochen ein Bauen, es erbaut den Deutungsraum, in dem der Mensch sich die Welt erschließt, sie schafft das Haus für das Wohnen des Menschen. (VA, 183) Wohnen ist das Bereiten von Nähe und Heimat und Innigkeit. Das Wohnen besteht nun darin, die »Dimension« zu bestimmen, in der die Weltorientierung geschieht, in der der Mensch zu Hause ist. »Die Vermessung des menschlichen Wesens auf die ihm zugemessene Dimension bringt das Wohnen in seinen Grundriß. Das Vermessen der Dimension ist das Element, worin das menschliche Wohnen sein Gewähr hat, aus der es währt. Das Vermessen ist das Dichterische des Wohnens. Dichten ist ein Messen.« (VA, 190)

Die Absteckung der Dimension leistet die Dichtung, denn sie stellt das Maß bereit, um die Dimension des Wohnens zu vermessen. Messen heißt, ein Maß anzulegen, die Dinge der Welt nach einem Maßstab zu beurteilen. Die Dichtung gibt aber auch das Maß, nach dem der Mensch sich selbst misst. »Das Dichten ist die im strengen Sinne des Wortes verstandene Maß-nahme, durch die der Mensch erst das Maß für die Weite seines Wesens empfängt.« (VA, 190)

Das Maß, womit der Mensch sich misst, ist für Hölderlin die Gottheit. (VA, 191) Er bezeichnet Gott als den »Unbekannten« (VA, 191), und gerade als der Unbekannte bietet er das rechte Maß. Denn nur ein Maß, das nicht festlegt, das offen bleibt, entspricht dem Menschen. Zwar muss der Mensch sich seine Weltorientierung schaffen und sich darin selbst einen Ort bestimmen, doch gerade weil er sein Dasein, seinen Platz in der Welt selbst finden muss, braucht er ein Maß. Doch da der Mensch offen ist für immer neue Formung und neue Lebensentwürfe, weil er sich selbst ständig zu transzendieren vermag, gibt es kein vorgegebenes Maß für ihn. (VA, 195) Und deshalb ist die Dichtung und nicht die Wissenschaft das Vermögen oder der Bereich, in dem das spezifisch Menschliche am besten zu fassen ist, nämlich dadurch, dass es entworfen wird, ohne es fest-zustellen. Das Dichten ahnt, ohne zu 1

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wissen, es legt Spuren, ohne den Weg zu beschreiten. Damit bereitet das Dichten die Möglichkeit des Wohnens in einem Haus, das bewegliche Wände hat. Die Dichter stellen sich dem Offenen, dem Nicht-Bekannten, Nicht-Sicheren, dem Nicht-Verfügbaren, das nicht Nichts ist, sondern Möglichkeit, die immer neu gewonnen werden muss. Die Größe eines Dichters bestimmt sich dann danach, wie sensibel er einerseits in die Sprache eingelassen ist, wie imaginativ er andererseits in der Sprache neue Bezüge und Bedeutungen zu entfalten vermag. Der Dichterberuf ist eine »Berufung zum Wort« (US, 169). »Der Dichter macht die Erfahrung mit einem Walten, mit einer Würde des Wortes, wie sie weiter und höher nicht gedacht werden können. Das Wort ist aber zugleich jenes Gut, das dem Dichter als Dichter auf eine ungewöhnliche Weise zugetraut und anvertraut wird.« (US, 169)

Und damit ist nun auf der Grundlage der bisherigen Behandlung von Heideggers Zugang zum Verständnis von Wahrheit, zur Funktion der Sprache und zur Bedeutung von Dichtung nach seiner Wertschätzung für Hölderlin zu fragen, der ihm als Ideal des Dichters überhaupt gilt.

4.

Heideggers Beschftigung mit Hlderlin

In der Erörterung der Funktion von Dichtung ist bereits deutlich geworden, dass Heidegger die fundamentalen Fragen nach dem Wesen der Wahrheit, der Sprache und der Bedeutung philosophischen Denkens auch durch Bezugnahme auf dichterisches Werk behandelt. Warum aber konzentriert sich Heidegger dabei ausgerechnet auf Hölderlins Dichtung? Was findet er dort? Und was leistet er selbst für ein Verständnis der Dichtung Hölderlins? Die entscheidende Frage im Zugang zu Hölderlins Werk ist für Heidegger, »ob dieses im dichtenden Wort Angerufene und Gerufene von sich her einen Bezug zu uns aufnimmt und demzufolge uns anspricht, ob dieser Anspruch, wenn er spricht, unser Wesen angeht«. (GA 52, 6)

Es geht nicht um das, was Hölderlin sich selbst vorgestellt und was er selbst mit seiner Dichtung gewollt hat. (GA 52, 6) Denn die großen Dichter wissen, dass sie über die Sprache und das Gedichtete nicht wie über einen formbaren Stoff verfügen, dem sie ihren kreativen Willen 88

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aufprägen. Im Dichten geschieht etwas mit der Sprache, was der Dichter selbst nicht plant und beherrscht, sondern was ihm geschieht. »Das dichtende Wort nennt Solches, was über den Dichter kommt und ihn in eine Zugehörigkeit versetzt, die nicht er geschaffen, der er selbst nur folgen kann.« (GA 52, 7)

Denn Dichten ist nicht nur schöpferisches Hervorbringen, sondern auch ein Aufnehmen und Gewährenlassen. Es ist sowohl ein »Geben« als auch ein »Empfangen«. (HD, 46) Das dichterische Stiften ist kein rational beherrschbares und planbares Vorgehen. Der Dichter ist bereit, sich für das Dichten durch die Sprache in An-spruch nehmen zu lassen. Dabei ist das Dichten das Geschehen, in dem etwas aufscheint, was über die individuelle Sicht hinaus weist. Und erst in diesem Übersteigen der eigenen Intentionalität und Individualität kann Dichtung etwas Wesentliches zur Wahrheit beitragen. Nicht die Autorintention also ist entscheidend, sondern was in der Dichtung zur Sprache kommt, was Hölderlins Dichtung den Heutigen zu sagen hat. »Es handelt sich darum, ob das Wesen des ungeschichtlich gewordenen planetarischen Menschen ins Wanken und damit in die Besinnung gebracht wird.« (GA 52, 6)

Die Dichter sind diejenigen, die um die ungeheure, stiftende Macht des Wortes wissen und die sich darum mühen, in der Dichtung dem Menschen etwas über sich selbst zu erschließen, zu zeugen, »was er sei« (HD, 35; SWB 4, 246), wie Hölderlin sagt, und ihm damit die Möglichkeit eines Wohnens, einer Heimat, zu eröffnen. Hölderlin ist ein Dichter für Heidegger, der Bleibendes stiftet. Er hat es vermocht, für das Geahnte das Wort zu finden, das voraus-denkt. Er hat eine Sprache entwickelt, die Hilfestellung beim Maßnehmen für das Menschliche gibt. Heidegger lässt sich von Hölderlins Dichtung für das eigene Denken anregen und motivieren. Es sind Hölderlins eigenwilliger Sprachduktus ebenso wie die Offenheit seiner Bilder und die thematischen Bezüge, die Heidegger auf etwas aufmerken lassen, etwas auf neue Weise eindringlich machen. Aber Hölderlin leistet in den Augen Heideggers noch mehr. Hölderlin ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil es in seiner Dichtung um das Wesen der Dichtung überhaupt geht.

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»Hölderlin dichtet das Wesen der Dichtung«, er ist »der Dichter des Dichters«. (HD, 47)

So versucht Heidegger aus Hölderlins Dichtung, aus den Worten und Bildern, die Hölderlin verwendet, etwas über das Wesen der Dichtung überhaupt zu erfahren. Dies ist aber kein methodisches Wissen, um das Dichten damit zu analysieren und zu bewerten. Sondern es gibt Auskunft über den Menschen und seinen geschichtlichen Ort. Denn Dichtung ist etwas, das uns »schicksalhaft« (HD, 182) angeht, »weil es uns selbst, das Geschick dichtet, in dem wir stehen« (HD, 183). Und gerade dadurch, dass der Dichter das Wesen der Dichtung in einer bestimmten Zeit neu bestimmt, schafft er »eine neue Zeit« (HD, 47), den Denkraum und Orientierungsrahmen für diese neue Zeit. »Das Wesen der Dichtung, das Hölderlin stiftet, ist geschichtlich im höchsten Maße, weil es eine geschichtliche Zeit vorausnimmt. Als geschichtliches Wesen ist es aber das einzig wesentliche Wesen.« (HD, 47)

Diese neue Zeit ist jedoch vor allem eine »dürftige Zeit«, dürftig wegen ihrer Seinsvergessenheit und ihrer Sprachnot und dem damit verbundenen Entzug der Hoffnung. (HD, 47) Wenn Heidegger mit Hölderlin das dichterische Wohnen des Menschen beschwört, so aus der Erfahrung der undichterischen und unheimischen Situation des modernen Menschen. An die Stelle der Dichtung mit ihrem Entwerfen des menschlichen Selbstbildes und Maßnehmen für das Menschliche ist ein technokratisches, Sinn-zerstörendes Weltbild getreten. Vielleicht sieht Hölderlin im Anrufen des Göttlichen die Ausflucht aus der Heillosigkeit seiner Zeit. Er hofft auf das Rettende in der Gefahr, wie auch Heidegger. Und dieses Rettende ist vor allem die Dichtung, die sich der Welt, den Dingen, den Menschen, immer wieder neu eröffnend zuwendet. Das Kündende der Dichtung eröffnet die Dimension der Zukunft, aus der her der Mensch seinen Platz in seiner Zeit zu bestimmen vermag. Heidegger weiß sich verbunden mit Hölderlin in der Klage über die Nacht und Gottesferne. Doch ist diese Gottes- und Seinsvergessenheit nicht etwas, das man bedauern oder ändern kann. Jede Zeit hat ihre historische Wahrheit. So heißt es in Hölderlins »Brod und Wein«: »Nur zuzeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch«. (SWB, 1, 415)

Wie aber geht ein Philosoph mit Dichtung um? Der philosophische Zugang versucht, das Gedichtete mit den Mitteln des Denkens zu er90

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schließen. Dies heißt aber, dasjenige im dichterischen Werk aufzuspüren, das denkbar ist und zu denken gibt. Dies ist nur deshalb möglich, weil das dichterische Werk selbst auf seine spezifische Weise etwas Gedachtes enthält, und umgekehrt dem Denken selbst Elemente des Dichtens eignen, das Denken selbst etwas hervorbringt und sprachlich manifestiert. Dichten und Denken stehen auf je eigene Weise »im Dienst der Sprache« (WP, 30). Sie sind Formen der gedanklichen und sprachlichen Sinnkonstitution. Dichtung und Denken eröffnen die sprachlich-geistigen Räume, in denen Weltorientierung stattfindet und die Menschen ihr Dasein interpretieren. Die Denkenden und Dichtenden sind die Hüter des Hauses, in dem der Mensch wohnt, nämlich der Sprache, die dem Menschen das Sein der Dinge eröffnet, wie dies am Anfang des Humanismusbriefes gesagt ist. Wenn nun Hölderlin, der sich ja für sich selbst in seinen jungen Jahren durchaus eine philosophische Laufbahn vorgestellt hatte, hier von Seiten des philosophischen Denkens rezipiert wird, ist dies jedoch kein Suchen nach philosophischen Aussagen in seinem Werk. Heidegger grenzt sich von einer solchen Instrumentalisierung ab. Er will weder »Hölderlins Dichtung in Philosophie verwandeln« noch diese »für eine Philosophie dienstbar machen« (GA 52, 12). Philosophisches Denken bleibt vom Dichten getrennt und kann die Dichtung auch niemals in ihrer gesamten Bilderkraft und ihrem ästhetischen Reichtum fassen. Sie kann sich aber der Dichtung mit ihren Fragen nähern: »Für uns, die wir nicht Dichter sind, kann das Gedichtete nur dadurch dichterisch sein, daß wir das dichtende Wort denken.« (GA 52, 12 f.)

Heidegger bleibt sich auch der Differenz zwischen Dichten und Denken bewusst, dennoch sieht er wesentliche Gemeinsamkeiten, die die Basis für eine Annäherung bilden. Das Interesse an der Dichtung resultiert aus dem gemeinsamen Anliegen von Dichtung und Denken an der Erschließung von Wahrheit und der Eröffnung der sprachlichen Möglichkeiten hierfür. In dieser Funktion ist der Dichter selbst Denker, und eben dies leistet Hölderlin. In seiner Freiburger Vorlesung vom Wintersemester 1934/35 über Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein« urteilt Heidegger entsprechend: »Hölderlin ist einer unserer größten, d. h. unser zukünftigster Denker, weil er unser größter Dichter ist.« (GA 39, 6)

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Er ist dies für Heidegger deshalb, weil er in Hölderlins Werk eine besonders intensive und erschließende sprachliche Kraft findet, mit der Hölderlin in seinem Sagen den Menschen Bezüge zum Sein eröffnet. In Hölderlins Dichtung manifestiert sich für Heidegger der historische Platz des gegenwärtigen Menschen. Deshalb muss diese Dichtung Ernst genommen werden. Sie ist nicht nur schöne Sprache, sondern Wegweisung auch für das Denken. Heidegger ist vielfach der Vorwurf gemacht worden, er trage nicht wirklich etwas zum Verständnis und zu einer Interpretation von Hölderlins Dichtung bei. Wird also Heidegger Hölderlins Werk durch seine Herangehensweise überhaupt gerecht? Um diese Frage zu beantworten, müsste geklärt werden, was es überhaupt heißt, einem Werk »gerecht« zu werden. Heideggers Zuwendung zu Hölderlin, wie auch zu anderen Dichtern wie Rilke oder George, hat ihren eigenen Maßstab, ihre eigenen Kriterien und Strategien. Diese entwickelt Heidegger aus den zentralen Fragen seiner eigenen Philosophie. Er will keine germanistische oder philologische Lektüre, die mit ihrem Methodenrepertoire Texte abklopfen, die analysieren, anstatt mitzudenken, die feststellen wollen, anstatt vielfältige und mehrdeutige Perspektiven zu eröffnen. Die philosophische Auseinandersetzung mit dem Dichten stellt Fragen, die ans Wesentliche rühren und die philologisch gar nicht gestellt und bearbeitet werden können. Ein philologischer Zugang wird einem Text »gerecht«, wenn er die fachspezifischen Arbeitsstandards realisiert. Heidegger wird einem dichterischen Werk »gerecht«, indem er im Rahmen seines Denkens und Philosophierens Fragen stellt, Zugänge eröffnet, sprachliche Bilder bespricht, Wortverwendungen erörtert, die geschichtliche Bedeutung einzuordnen versucht. Heidegger würde Hölderlins Dichtung dann gerade nicht »gerecht«, wenn er Werk-Interpretationen im Sinne der philologischen Fachdisziplin versucht hätte. Die Frage-Alternative, ob die Hölderlin-Exegese durch Heidegger nur interessant ist, um etwas über Heideggers Denken zu erfahren, oder ob sie als Interpretation von Hölderlins Dichtung Ernst zu nehmen ist, erweist sich so in ihrer beabsichtigten Eindimensionalität als falsch gestellt, denn beides bedingt sich wechselseitig. Heideggers Zugang zu Hölderlin ist durch seine eigenen Fragen geprägt, es bleibt aber dennoch eine Auseinandersetzung mit Hölderlin, in der ein Dichtwerk gewürdigt und in seiner Tragweite abgeschätzt wird. Mit Hölderlin lotet Heidegger aus, was Dichtung vermag, wie sie ihre sinnstiftende Kraft entfaltet, was sie für das Menschsein bedeutet. 92

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Diese Lesart des Hölderlinschen Werks ist tiefsinnig, philosophisch, aber sie ist auch nicht frei von Selbststilisierung und Überhöhung. Heidegger hält sich zugute, in das Gespräch mit Hölderlins Dichtung eingetreten zu sein und deren Tragweite zu ermessen. Hölderlin sei überhaupt »unser größter Dichter« (GA 39, 6). Und »Hölderlins Dichtung ist für uns ein Schicksal« (HD, 195). Wer solche Einschätzungen formuliert, maßt sich selbst an, die Schicksalhaftigkeit beurteilen zu können. So stellt sich Heidegger damit implizit selbst als den größten Denker neben den größten Dichter. Doch als Denker ist er bemüht, die Deutung als einen offenen und immer weiter zu gehenden Weg, nicht als schließendes und resümierendes Angekommensein zu praktizieren. Hierzu gehört das Aufmerken auf die prinzipielle, wie er es nennt »seinsgeschichtliche« Möglichkeit, dass in der Dichtung auch ein Misslingen stattfinden kann, ein Fehlgehen, das ebenso konstitutiv ist für ihre Sinnhaftigkeit, wie das Gelingen und Eröffnen. Dies bedeutet nicht, dass ein dichterisches Werk, ein Gedicht beispielsweise, technisch-stilistisch schlecht gemacht ist. Sondern Heidegger denkt aus der hermeneutischen Ambivalenz von Erschließen und Verschließen, Entbergen und Verbergen, Annäherung und Entfremdung. So bleibt der hermeneutische Prozess unabschließbar, wie Heidegger dies am Beispiel Hölderlins hervorhebt: »Was die Gedichte Hölderlins in Wahrheit sind, wissen wir […] bis zur Stunde nicht.« (HD, 7)

Siglen Heidegger BPh BV

G GA 39 GA 52

1936–38: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Klostermann, Frankfurt a. M. 1989 (Gesamtausgabe Bd. 65). Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe Bd. 79, Klostermann, Frankfurt a. M. 2005 (2. Aufl.). 1949: »Einblick in das was ist« (S. 3–77). 1955: Gelassenheit, Neske, Pfullingen 1992 (10. Aufl.). 1934/35: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«, Klostermann, Frankfurt a. M. 1980. 1941/42: Hölderlins Hymne »Andenken«, Klostermann, Frankfurt a. M. 1982.

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Bärbel Frischmann HD

Hum HW

ID US

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WD WM WPh W

Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Klostermann, Frankfurt a. M. 1996 (6. Aufl.). 1953: »Heimkunft/An die Verwandten« (S. 9–31). 1936: »Hölderlin und das Wesen der Dichtung« (S. 33–48). 1939: »Wie wenn am Feiertage« (S. 49–77). 1943: »Andenken« (S. 79–151). 1959: »Hölderlins Erde und Himmel« (S. 152–181). 1968: »Das Gedicht« (S. 182–192). 1947: Über den Humanismus, Klostermann, Frankfurt a. M. 1991 (9. Aufl.). Holzwege, Klostermann, Frankfurt a. M. 1980 (6. Aufl.). 1935/36: »Der Ursprung des Kunstwerkes« (S. 1–72). 1946: »Wozu Dichter« (S. 265–316). Identität und Differenz, Neske, Pfullingen 1996 (10. Aufl.). 1957: »Der Satz der Identität«. Unterwegs zur Sprache, Neske, Pfullingen 1993 (10. Aufl.). 1953: »Die Sprache im Gedicht« (S. 35–82). 1957/58: »Das Wesen der Sprache« (S. 157–216). 1958: »Das Wort« (S. 217–238). 1959: »Der Weg zur Sprache« (S. 239–268). Vorträge und Aufsätze, Neske, Pfullingen 1990 (6. Aufl.). 1953: »Die Frage nach der Technik« (S. 9–40). 1952: »Was heißt Denken« (S. 123–137). 1951: »… dichterisch wohnet der Mensch« (S. 181–198). 1951/52: Was heißt Denken?, Reclam, Stuttgart 1992 (4. Aufl.). 1929 (erw. 1949): Was ist Metaphysik?, Klostermann, Frankfurt a. M. 1969 (10. Aufl.). 1955: Was ist das – die Philosophie?, Neske, Pfullingen 1992 (10. Aufl.). Wegmarken, Klostermann, Frankfurt a. M. 2004. 1930: »Vom Wesen der Wahrheit« (S. 177–202).

Hölderlin StA SWB

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Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke, Große Stuttgarter Ausgabe, hg. von Friedrich Beißner u. a., Stuttgart 1945–85. Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Günter Mieth, Aufbau Verlag Berlin, 2. Aufl. 1995.

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»Ereignet sich das Dichterische, dann wohnet der Mensch menschlich …« Ein Vergleich von Friedrich Schlegels und Martin Heideggers Metaphysikkritik Ein sachliches Ergründen der Beeinflussung Heideggers durch das Gedankengut der Jenenser Romantiker hat bedauerlicherweise weder in der Heidegger- noch in der Romantikforschung stattgefunden. 1 Der gewagte Versuch von Michael Elsässer in seiner 1979 an der Universität Freiburg vorgelegten Habilitationsschrift, Friedrich Schlegels Kritik an der traditionellen Ding-Ontologie mit Heideggers phänomenologischen Destruktion des verdinglichenden Denkens in der metaphysischen Tradition zu vergleichen, schlug allerdings fehl. Für die Mitglieder des Habilitationsausschusses war es sowohl unangebracht, nach einem tertium comparationis des Heideggerschen »andenkenden Denkens«, das in der Nähe zur Dichtung steht, mit der Schlegelschen Idee der »poetischen Reflexion«, die sich vom vorstellend-verdinglichenden Denken verabschiedet, zu fragen als auch Heideggers Deutung der Welt des Gevierts als die Einheit der »vier Weltgegenden« der Schlegelschen Bestimmung der aus vier »Weltgegenden« bestehenden »Gedankenwelt« gegenüberzustellen. Das umstrittene Kapitel »Zum Verhältnis von Friedrich Schlegel und Martin Heidegger« musste zurückgezogen werden. In der von Werner Beierwaltes 1994 posthum veröffentlichten Habilitationsschrift Elsässers lässt sich der angeblich umstrittene Vergleich genauer verfolgen. 2 Beachtenswert ist vor allem das Anliegen beider Denker, die verdinglichende Struktur des metaphysischen Denkens, das durch die Substanz- und Subjektontologie geprägt wurde, zu überwinden, bzw. zu »verwinden«. Elsässer versucht dies durch Hei-

Dass ein Vergleich zwischen Heidegger und F. Schlegel durchaus nötig ist, verweist in ihrer wertvollen Arbeit Bärbel Frischmann, Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel, Paderborn u. a. 2005, S. 279, 369. 2 Vgl. Michael Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding. Mit einem Geleitwort herausgegeben von Werner Beierwaltes, Hamburg 1994, S. 122–141. 1

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deggers Schlegel-Lektüre zu erklären und weist nach, dass Heidegger im Appendix seiner Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916), im programmatischen Abschluss, wo ein »Durchbruch in die wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit« angestrebt wird, auf Schlegels Grundgedanken aus den 1828 gehaltenen Wiener Vorlesungen Philosophie des Lebens rekurriert. Elsässer meint sogar, dass Heideggers »Kehre«, »sofern damit überhaupt ein sachlicher Einschnitt bezeichnet sein soll, eine Rückkehr zu der im ›Schluß‹ der Habilitation aufgezeigten Problematik« ist. 3 Heidegger war zum Beginn seiner philosophischen Laufbahn offensichtlich fest überzeugt, dass Schlegels »Orientierung am Begriff des lebendigen Geistes und seiner ›ewigen Bejahungen‹« neue philosophische Perspektiven eröffnen könnte: Die Philosophie müsste man, so Heidegger, vom bloßen »Buchstabieren der Wirklichkeit« und von einer »ausschließlichen Beschränkung« auf die Explanation der logischen Strukturen befreien und auf die Explikation des faktischen Lebens ausweiten. 4 Elsässer gibt zu, dass es sich hier keineswegs um eine bloß formale Übernahme der Ideen handelt, sondern eher um innere Wahlverwandtschaften des Denkens, das sich an einem poetisch-assoziativen Ideal orientiert und sich vom begrifflich-diskursiven Philosophieren distanziert. Heidegger übernahm mit Begeisterung Schlegels Einstellung, dass das logisch räsonierende Denken allein, wegen seiner formalen, abstrakten Struktur, die Fülle des Lebens in seiner Ursprünglichkeit nicht zu erfassen imstande ist. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die sog. spekulative Reflexion der idealistischen Philosophie, die nur per negationem identifizierend verfährt und in ihrer Konstitution verneinend bleibt. Kritische Bemerkungen werden in der Schlegelschen Philosophie des Lebens namentlich gegen Hegels spekulativ-dialektische Struktur des Denkens erhoben, weil er »das Wesen des Geistes überhaupt in der Verneinung eines Entgegengesetzten« verstehe. 5 Das Absolute als Grundbegriff der Hegelschen Philosophie wird von Schlegel wegen der äußersten Abstraktheit als das »feindliche Prinzip« des Menschengeschlechts gebrandmarkt. Mit ironisierender Witzigkeit Ebd., S. 141. Martin Heidegger, Frühe Schriften. Frankfurt a. M. 1972, S. 348. 5 Friedrich Schlegel wird zitiert nach der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe (KFSA), hg. von E. Behler unter Mitwirkung von J.-J. Anstett und H. Eichner, Paderborn 1958 ff.; hier Bd. 10, S. 93. 3 4

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vergleicht Schlegel die spekulative Philosophie des Absoluten mit der absolutistischen Herrschaftsform: Der »absolute, d. h. böse Geist der Verneinung und des Widerspruchs« wird »auf den letzten Abwegen der deutschen Philosophie, obwohl in abstrakter Unverständlichkeit, in der Mitte des verworrenen Systems auf den Thron gestellt.« 6 Eine Dethronisierung der verabsolutierten Reflexion versucht Schlegel durch seine Lebensphilosophie zu vollziehen und behauptet, dass die wahre Wirklichkeit nur in der »Bejahung« zu erschließen sei. Der aus den »toten Begriffen eines abstrakten Verstandes« deduzierten spekulativen Logik wird das faktische Leben mit bestehenden sittlichen Lebensformen entgegengestellt. Die grundlegende Intention der Schlegelschen »positiven« Philosophie ist, die aus der Philosophie der Aufklärung stammende, miserable, abstrakte, mechanistische Welt- und Menschenvorstellung, in der »der Mensch selbst fast zur Maschine geworden« 7 ist, aufzuheben und die faktische Lebendigkeit des Lebens in seiner Fülle zum Ausgangs- und Zielpunkt der poetischen Reflexion zu nehmen. Im Brennpunkt seines Interesses steht nun ein neues, anspruchsvolles Vorhaben, »der großen Kluft« entgegenzuwirken, »welche immer noch die literarische Welt und das intellektuelle Leben des Menschen von der praktischen Wirklichkeit trennt« 8 . In diesem Beitrag werden drei gemeinsame Punkte herausgestellt, die als Grundlage für die Wahlverwandtschaften bzw. Parallelisierungsmöglichkeiten zwischen zwei Denkern, die sich von der traditionellen Substanz- und Subjektmetaphysik verabschieden möchten, dienen könnten. Es besteht meines Erachtens unbestreitbare Ähnlichkeit zwischen Heidegger und Schlegel hinsichtlich der Bestimmung der Philosophie als Selbstkritik, die sich als Vorbedingung für die Offenlegung eines neuen Anfangs in der Philosophie erweisen sollte. Schlegels Konzept der »hermeneutischen Kritik« ist in vieler Hinsicht deckungsgleich mit Heideggers Bestimmung der »Hermeneutik« als Destruktion der traditionellen Ontologie. Sowohl in den 1923 gehaltenen Freiburger Vorlesungen Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) wie auch in Sein und Zeit wird unter »Destruktion« ein kritischer Abbau der Tradition verstanden, dessen primäre Intention es ist, den Zugang zu Ebd., S. 17. KFSA, Bd. 7, S. 76. Das kritisiert die biologistische Konzeption des Menschen von Julien Offray de Lamettrie. 8 KFSA, Bd. 6, S. 4. 6 7

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ursprünglichen Fragen und Explikationen des zu Denkenden, das in der überlieferten Ontologie vergessen bleibt, zu verschaffen. Die »Erschließung der Verdeckungsgeschichte« 9 , bzw. die Offenlegung des ursprünglich Verdeckten, erweist sich somit als Grundaufgabe der Philosophie. Zweitens lässt sich behaupten, dass die traditionelle Metaphysik sowohl für Schlegel als auch für Heidegger in ihrem Kern »onto-theo-logisch« verfasst und strukturiert ist, und als solche hat sie zur Vereinseitigung der ursprünglichen Fragen und zur Simplifizierung der Antworten sowohl in der Philosophie als auch in der Theologie wesentlich beigetragen. Der dritte Vergleichspunkt zwischen Schlegel und Heidegger besteht freilich in der großartigen Einsicht, dass das Bedeutendste und das Würdigste im Denken nicht im begreifenden Verstehen erfassbar ist, sondern verborgen bleibt; die Aufgabe des Denkens bestehe vornehmlich in der Bemühung, das Verborgene als das »Denkwürdige« zu beachten und zu erkunden. Schlegel hat durch seine »hermeneutische Kritik« die wesentlichen Züge der modernen Verdachtshermeneutik, und somit auch Heideggers phänomenologisch-hermeneutische Destruktion, in wichtigsten Gesichtspunkten vorweggenommen. Die Destruktion der bestehenden »Dingontologie« und der abstrakten »Wesensphilosophie« kennzeichnet Schlegel als Bedingung für die Ausarbeitung einer »universalphilosophischen« Kunst des Verstehens. Er bemüht sich, mit Hilfe seiner »hermeneutischen Kritik« eine Distanz zu der abstrakten metaphysischen Denkart zu gewinnen und zugleich den Boden für die Ausarbeitung einer Philosophie der Kunst bzw. Lebensphilosophie freizulegen. Kritik bleibt dabei die Drehachse und die Quintessenz seines Philosophierens. 10 Sogar zehn Jahre nach seiner Konversion zum Katholizismus spricht Schlegel von einer Kontinuität der Epoche der Kritik, die von seinen Schriften ausgehend hin zur kritischen Philosophie unentwegt gewirkt hat. Die im Geiste der Aufklärung sich etablierte Ansicht, »die Philosophie müsse kritisch seyn«, erhält in der Spätphase die beachtenswerte Hinzufügung: »aber in einem ganz anderen und viel höheren Sinne als bei Kant«. 11 Diese Selbstaussage Schlegels ist M. Heidegger, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), Gesamtausgabe (GA) Bd. 63, Frankfurt a. M. 1988, S. 75. 10 Dazu vgl. Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie. 1795–1805. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Andreas Arndt und Jure Zovko, Hamburg 2007, S. XXVIII ff. 11 KFSA, Bd. 19, S. 346, Nr. 296. 9

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ein Indiz dafür, dass er an dem von Kant proklamierten »Zeitalter der Kritik« aktiv teilnehmen und mitwirken wollte, auch sogar nach seiner Zuwendung zur »positiven Philosophie«. Im Unterschied zu seinen Zeitgenossen hat sich Schlegel über Kants kritische Erträge in der Philosophie respektvoll, witzig und durchaus kritisch ausgesprochen. Im Athenäum schreibt Schlegel: »Kant, der Kopernikus der Philosophie, hat von Natur vielleicht noch mehr synkretistischen Geist und kritischen Witz als Leibniz: aber seine Situation und seine Bildung ist nicht so witzig; auch geht es seinen Einfällen wie beliebten Melodien: die Kantianer haben sie totgesungen.« 12

Besonders positiv wird in den nachgelassenen Notizen der Teil der transzendentalen Dialektik gewürdigt. Der Schein, über den die kantische transzendentale Dialektik aufklären sollte, ist der der »natürlichen und unvermeidlichen Illusion«, dass der Vernunftgebrauch sich auf die Philosopheme der traditionellen metaphysica specialis zu beziehen und das Unbedingte zu begreifen vermag. 13 Es wird gleichzeitig kritisch bemerkt, dass »eine Kritik der philosophischen Vernunft ohne Geschichte der Philosophie nicht gelingen kann« 14 , resp. ohne kritische Destruktion des verdinglichenden Charakters der traditionellen Substanz- und Subjektontologie. Im Unterschied zu Kants Konzept der auf die abstrakte Vernunft gerichteten und abstrakt verfahrenden Kritik versteht Schlegel Kritik als »philosophische Läuterung und Prüfung der Geschichte und Überlieferung«. 15 Schlegel ist sich durchaus im Klaren, dass es in Fragen der Ausübung und Anwendung der Kritik nicht so sehr auf die Methode und Methodologie ankommt, sondern wesentlich mehr auf den Scharfsinn des Kritikers, »auf große Gelehrsamkeit und Unparteilichkeit«, i. e. auf »Eigenschaften, die nicht in dem Gesetz und der Methode, sondern einzig in den Individuen liegen«. 16 Die Tatsache, dass man die so genannten Regeln und Kriterien der Methodologie streng beachtet und verfolgt, verbürgt mitnichten, dass die Kritik als Kunst des Verstehens und Beurteilens von philosophischen oder künstlerischen Werken gelingen kann. Deshalb kann Schlegel behaupten, dass es streng genommen keine kritische Methode 12 13 14 15 16

KFSA, Bd. 2, S. 200, Athenäum-Fragment Nr. 220. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 346. KFSA, Bd. 12, S. 286. KFSA, Bd. 3, S. 60. KFSA, Bd. 12, S. 313. A

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gibt: »es kann bloß vom kritischen Geiste die Rede sein« 17 . Ähnlich wird im Lessing-Aufsatz (1804) bei der Explikation der Aufgabe der Kritik festgestellt, dass für die Kritik nicht viel gewonnen ist, »solange man den Kunstsinn nur erklären will, statt daß man ihn allseitig üben, anwenden und bilden sollte«. 18 Kritik hat ferner einen veritativen Charakter: Sie ist allein imstande, die irrtümlichen Ansichten, Ideen, Meinungen und Gedanken der anderen Philosophen zu widerlegen. Der Kritik sollte eigentlich zugemutet werden, was man in der Regel von der Logik erwartet, nämlich eine Bestätigung dafür, ob man sich auf dem richtigen Wege des Denkens befindet. Schlegel ist fest überzeugt »daß die Logik uns gar nicht lehren kann, was Wahrheit ist, uns ebensowenig das Grundprinzip der Philosophie geben kann.« 19 Da es nach Schlegels Einsicht keine Philosophie gibt, die an sich oder per definitionem wahr und vollendet wäre, bleibt die verantwortliche Aufgabe der Kritik, jedes philosophisches System sub ratione veritatis zu prüfen und dabei nachzuweisen, inwiefern einige philosophische Systeme in ihrem gegenseitigen Widerstreit »auf dem rechten Weg, eigentlich philosophisch, andere hingegen auf dem falschen Weg unphilosophisch sind: das plus und minus unter diesen Systemen, die geringere und größere Entfernung von dem Wahren zu unterscheiden und deutlich anzugeben, erfordert freilich noch einen höhern Grad von Kritik.« 20 Heidegger vertritt in seiner philosophischen Frühphase die Ansicht, dass die kritische Destruktion der überlieferten »Dingontologie« die unumgängliche Bedingung für die Explikation der Fundamentalfragen der Philosophie bleibt. In diesem Sinne kennzeichnet Heidegger seine Hermeneutik der Faktizität als eine »historische Kritik« 21 , deren Aufgabe es ist, durch kritische Läuterung und Transformation der traditionellen Fragestellungen neue Fragemöglichkeiten ans Licht zu bringen. Die Destruktion der überlieferten Ontologie hat, wie Heidegger in Sein und Zeit behauptet, »positive Absicht« 22 , nämlich der Mensch in seiner Faktizität soll nicht mehr vom Standpunkt des abstrakten, unendlichen Prinzips gedeutet und verstanden werden, sonEbd. KFSA, Bd. 3, S. 57 19 KFSA, Bd. 12, S. 110. 20 KFSA, Bd. 12, S. 114. 21 Martin Heidegger, GA 63, S. 75; vgl. auch: ders., Sein und Zeit (SuZ), Tübingen, 1979 (4. Aufl.), S. 19 f. 22 SuZ, S. 23. 17 18

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dern durch die Abwendung von der Metaphysik, das menschliche Dasein innerhalb seines Lebens analysieren. Die primäre Intention der Heideggerschen Destruktion ist, wie er sich später im Aufsatz »Was ist das – die Philosophie?« präziser ausdrückt, »kein Bruch mit der Geschichte, keine Verleugnung der Geschichte, sondern eine Aneignung und Verwandlung des Überlieferten« 23 . Die Destruktion der überlieferten Philosophie bleibt die Vorbedingung einer Ausarbeitung der Hermeneutik der Faktizität, bzw. der Elaboration der in Vergessenheit geratenen ursprünglichen philosophischen Fragen, was an sich auch eine Distanznahme von der metaphysischen Argumentationsweise bedeutet, die sich seit Platon bemüht hat, Zeit und Vergänglichkeit zu überwinden. Wenn sich Heidegger in den Freiburger Vorlesungen (1923) lapidar äußert, »Hermeneutik ist Destruktion« 24 , dann hat er offensichtlich zwei gravierende Aufgaben derselben anvisiert: Kritik der verdinglichenden Struktur des Denkens und die Überwindung der traditionellen onto-theo-logischen Verfassung der Metaphysik. Die eigentliche Intention der Schlegelschen als Kritik konzipierten Verdachtshermeneutik bleibt zuerst nachzuweisen, »wo der eigentliche Punkt aller Schwierigkeiten und Irrtümer der ganzen Philosophie liege« 25 , und dann nach der Widerlegung der unakzeptablen philosophischen Ansichten zur Konstruktion eines mit dem faktischen Leben konvergierenden, zuverlässigen philosophischen Weltbildes überzugehen. In den Kölner Vorlesungen wird behauptet, dass die Geschichte der Philosophie ein Prinzip liefere, das in verschiedenen Variationen die »gemeinschaftliche Quelle alles Irrtums in der Philosophie« zu sein scheint, nämlich »der Begriff des Dinges, der Substanz«. 26 Die bündig prägnante Antwort soll für alle Gebiete der theoretischen und der praktischen Philosophie einleuchtend sein, weil jede Begründung in gewisser Hinsicht einen verdinglichenden Grundsatz bzw. ein Prinzip beansprucht. Das permanente Bestehen auf dem Unveränderlichen, Invariablen und Beharrlichen in der europäischen Philosophie bleibt die eigentliche Achillesferse der traditionellen Ontologie, die überwiegend nach dem Allgemeinen, Prinziphaften fragt und die Frage nach dem faktischen Leben, nach der kreativen Individualität dadurch völlig aus23 24 25 26

»Was ist das – die Philosophie?«, in: GA 11, S. 20. Ontologie, GA 63, S. 105. KFSA, Bd. 12, S. 305. Ebd. A

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klammert. »Schon den Griechen«, so Schlegel in den Kölner Vorlesungen, »kann man vorwerfen, daß ihre Philosophie zu abstrakt war, und gar zu wenig ins Leben eingriff«. 27 Die scholastische Philosophie hat von den Griechen die verhängnisvolle Abstraktheit geerbt und bis auf die Spitze getrieben: Ihre Philosophie war auf die Ausarbeitung einer auf festem Fundament gegründeten Ontologie ausgerichtet, die sich als »Lehre vom Wesen des Dings« erweist: »Mit dem Begriffe des Dings (ens) steht und fällt die ganze scholastische Philosophie.« Das Bedeutendste und das Erhabenste der Philosophie, die Formen »des unveränderlichen, beharrlichen Seins« suchten die scholastischen Metaphysiker in der Abstraktion von allem Individuellen und Lebendigen, so dass ihr Denken in »dem höchsten Grade von Abstraktion« kulminierte. 28 Durch die Anwendung der drei logischen Grundsätze der Identität, des Grundes und des Widerspruches, die eigentlich auf dem »Begriff des Dinges« beruhen, erhielt die scholastische abstrakte Metaphysik durch die Verbindung mit der aristotelischen Logik ihre Fundierung im Begriffe des Unbedingten, als dem beharrlichen Prinzip der Welt, so dass jede Form des Bedingens ihre Antwort im vorübergehenden Unbedingten sucht, bis man letztendlich zum Unbedingten schlechthin gelangt: »Den Begriff des Dings hatten die Scholastiker nicht allein auf das feinste subtilisiert und bis zur höchsten Abstraktion erhoben, sondern er ist auch schon an und für sich ein über alle Maßen abstrakter Begriff; gleichsam wie der Begriff des Lebendigen, wenn man den Begriff Leben davon wegdenkt. Aber eben in der Abstraktion von allem Individuellen suchten die Scholastiker das Erste und Höchste ihrer Philosophie«. 29

Wenn das höchste Prinzip und Grund der Philosophie nach dem Modell der Verdinglichung strukturiert und verfasst bleibt, sind auch alle aus solchem »Begriff des Dinges« abgeleiteten Begriffe leer und inhaltslos. Der moderne Idealismus vermag nach Schlegels Urteil ebenso wenig der Herrschaft von Begriff des Dinges bzw. der Substanz zu ent-

Ebd., S. 248. Ähnlich schreibt Heidegger in den Vorlesungen Ontologie (Hermeneutik der Faktizität): »Ein ›Allgemeines‹ des hermeneutischen Verstehens über das Formale hinaus gibt es nicht; und wenn es so etwas gäbe, wäre jede Hermeneutik, die sich selbst versteht und ihre Aufgabe, daran gehalten, davon Ab-stand zu nehmen und auf das faktische Dasein zurückzugehen im Aufmerksammachen«; GA 63, S. 18. 28 KFSA, Bd. 12, S. 248 f. 29 Ebd., S. 249. 27

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kommen. Obwohl die prominenten Vertreter des Idealismus Dasein und Realität nur im Leben, in der Freiheit und der Tätigkeit suchen, behauptet Schlegel, dass alle Idealisten »die ältesten und die neusten, von Heraklit bis zu Fichte […] doch eine Art des Beharrlichen, nämlich Gesetze« bestehen lassen. 30 Das Positive an Kants Philosophie ist, dass sie vom Skeptizismus ausgeht und bestreitet, dass die Vernunft als das höchste Vermögen in uns, das Übersinnliche, Unendliche erkennen kann. Aber in der Theorie des Verstandes, die den eigentlichen Kern der Kantischen Philosophie darstellt, kommen die Dinge an sich wieder ins Spiel, und zwar dadurch, dass sie Vorstellungen ermöglichen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. Kants Lehre von den Formen und Gesetzen, die unsere Moral begründen, ist nach Schlegels Ansicht »sehr lose und willkürlich« 31 , aber in ihrer Struktur sei sie eine Modifikation des Dingprinzips und könne als solche unsere vielfältige ethische Praxis keineswegs begründen. Ein Denken, das die organische Einheit des Individuums in seiner Fülle der Kreativität zu erfassen vermag, verfährt nicht nach den Gesetzen der formalen Logik und richtet sich nicht nach der unumstößlichen Beharrlichkeit der Verdinglichung, sondern muss von der Theorie des lebendigen Bewusstseins ausgehend das Leben in seiner Vielfältigkeit erkunden. Der poetischen Reflexion aus der Athenäumszeit entspricht in den Kölner Vorlesungen die kreative Einbildungskraft, die dem vorstellend vernehmenden Denken der Vernunft »diametral entgegengesetzt« wird. Sie wird als »ein freies Denken« gekennzeichnet, das »durchaus nicht an die Gesetze der Dinge, der objektiven Welt gebunden« bleibt. »Die Vernunft vermeidet alles Bildliche und strebt nach dem Abstrakten, während die Einbildungskraft gerade umgekehrt nach dem Bildlichen strebt und das Abstrakte vermeidet.« 32 Die Kontinuität der in der Vorlesung Transcendentalphilosophie vorgetragenen Ansicht, wonach das Individuum als bildhaftes Bewusstmachen des bewusstlosen Unendlichen verstanden wird, 33 wird auch hier bestätigt, weil das sich selbst schaffende Individuum zum Bild des Unendlichen wird, und somit »ein Werk des Ichs, ein Gegen-Ding« darstellt, und dadurch sich von der »Herrschaft des 30 31 32 33

Ebd., S. 310. Ebd., S. 290. Ebd., S. 359. Ebd., S, 39 ff. A

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Dings« zu entreißen versucht.34 In den Kölner Vorlesungen wird behauptet, dass der Zweck der Einbildungskraft »das innere, freie, willkürliche Denken und Dichten« ist. »Im Dichten ist sie auch wirklich am freisten«. Die eigentliche Frage der poetischen Reflexion lautet: »Was denn der Mensch eigens aus sich selbst produzieren könne?« 35 Der Grund, aus welchem das kritische Denken seine Kreativität schöpft, bleibt für Schlegel die Sprache. In ihr artikuliert sich das vernünftige Streben des Menschen, »sich selbst hervorzubringen und sich frei zu machen von der Herrschaft des Dings. Die Sprache ist nach dieser Ansicht ein Bedürfnis des nach Freiheit strebenden Menschen, um sich gemeinsamen Kräften gegen die Übermacht der Welt zu stärken und davon zu befreien.« 36

Die Würde des Menschen besteht freilich in dieser »Sprachfähigkeit«, im Vermögen, uns selbst von der »Tyrannei der Dinge« zu befreien und die eigene »Freiheit zu retten«. 37 Die Sprache offenbart uns höhere Bedeutung und ursprünglichen Sinn und erweist sich als »das Geistige im Körperlichen« 38 als das eigentliche Inzitament des Lebens und Denkens. Durch die Besinnung auf die Ursprünglichkeit der Sprache vermag der Mensch die verdinglichende Struktur des vorstellenden Denkens zu überwinden. Im Sein und Zeit werden die Begriffe »Vorhandenes« und »das Ding« fast synonym gebraucht und als Grundbestimmung der traditionellen »Dingontologie« angesehen. 39 Im Unterschied zum im »Besorgen begegnenden Seienden«, das Heidegger als »Zeug« terminologisch bestimmt, behält der Begriff »Ding« eine pejorative Konnotation: im Ansprechen des Seienden als »Ding« (res) als dem »zunächst gegebenen« Seienden »geht man ontologisch fehl«. 40 Die traditionelle Ontologie hat das Sein primär im Sinne von »Vorhandenheit« verstanden, das Seiende im Sinne von »on«, »ens« wurde als »vorhandener Ding-

34 35 36 37 38 39 40

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Ebd., S. 359. Ebd. Ebd., S. 345. Ebd., S. 344. Ebd., S. 347. Vgl. Heidegger, SuZ, S. 99 f., 130, 67 f. SuZ, S. 68.

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zusammenhang (res) begriffen«. 41 In der überlieferten Metaphysik stellt sich die Substantialität als Grundbestimmung des Seins heraus, die temporale Bestimmung des Seins und der Lebenswelt wird »übersprungen«. Am Beispiel der Analyse des einfachen Hammers wird in Sein und Zeit plausibel gemacht, dass wir in unserer alltäglichen Praxis zwischen einem »Zeug«, das Werkzeug ist, und einem Ding, das bloß vorhanden ist, unterscheiden: »Je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraucht wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm, umso unverhüllter begegnet es als das, was es ist, als Zeug«. 42

Heideggers oft wiederholende Behauptung, dass die europäischen Sprachen in ihrem Wesen metaphysisch strukturiert sind, ist schon in Sein und Zeit präfiguriert: »Die antike Ontologie hat zum exemplarischen Boden ihrer Seinsauslegung das innerhalb der Welt begegnende Seiende.« Sie »bestimmt noch heute die Begrifflichkeit der Philosophie.« 43

Im Vortrag »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens« behauptet Heidegger, dass durch die ganze Geschichte der europäischen Philosophie hindurch Platons Denken in abgewandelten Gestalten maßgebend bleibt: »Metaphysik ist Platonismus« 44 . Durch die von Nietzsche vollzogene Umkehrung der Metaphysik ist sie in ihr Ende eingegangen: »Soweit philosophisches Denken noch versucht wird, gelangt es nur noch zu epigonalen Renaissancen und deren Spielarten.« 45

Es bleibt offen, ob ein »künftiges Denken«, das nicht mehr Philosophie ist, weil es ursprünglicher als die »Metaphysik« denkt, auch andere Wege zur Sprache finden kann, vor allem wenn das Denken nicht mehr im metaphysischen Sinn ein Überstieg über das Seiende im Ganzen darstellt, sondern sich bemüht, einen »Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens« zu erlangen. 46 Erst dadurch, hofft Heidegger in

41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 201. Ebd., S. 69. Ebd., S. 44; 21. Zur Sache des Denkens, (ZSD), Tübingen 1969, S. 63. Ebd. M. Heidegger, Wegmarken, GA Bd. 9, S. 364. A

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den Schriften nach der so genannten »Kehre«, wird der repräsentierende bzw. verdinglichende Charakter des Denkens überwunden. In seiner kritischen Dekonstruktion der traditionellen Metaphysik nimmt Heidegger auch Bezug auf ihre »onto-theo-logische Verfassung« und versucht zu erklären, wie Gott im metaphysischen Denken als causa prima und als ultima ratio vorkommt. Indem Metaphysik nach der begründenden Einheit des Seienden als solchen fragt, und die Antwort »im Allgemeinen und im Höchsten« findet, kommt sie zum letzten Grund, welcher keiner Begründung im Anderen bedarf, der freilich als Causa sui gefasst wird. Causa sui ist nach Heideggers Urteil der sachgerechte Name für den Gott der Philosophen, weil er im Denken als Gipfel der kausalen Weltordnung erscheint. Es bleibt zu fragen, welche Relevanz dieser Gott in seiner Aseität für die menschliche Existenz hat. Heidegger ist tief überzeugt, dass der Mensch zu diesem Gott weder beten, noch ihm opfern kann: »Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren und tanzen«. 47

Deshalb müsste das »andenkende Denken«, das nicht mehr nach der Begründung und Verursachung fragt, den philosophischen Gott als Causa sui »preisgeben«, damit es »dem göttlichen Gott« vielleicht näher kommt. Heidegger versucht ausführlich zu begründen, weshalb dieser »göttliche Gott« sich dem bisherigen »vorstellenden« Denken »entzogen« hat. Erst wenn sich das Denken auf den »Fehl Gottes« ausreichend besinnt, ist es auf dem rechten Wege ihm näher zu kommen. Dementsprechend gibt Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen eine aufschlußreiche Bemerkung: »Zu bedenken bleibt, ob der Gott göttlicher ist in der Frage nach ihm oder dann, wenn er gewiss ist und als gewisser je nach Bedarf gleichsam auf die Seite gestellt werden kann, um nach Bedarf herbeigeholt zu werden«. 48

Nach Gott im ursprünglichen Sinne zu fragen, heißt nach Heidegger, sich von der Vorstellung der »onto-theo-logischen« Denkweise zu befreien. Erst so erfahren, bleibt Gott als Geheimnis gedacht und bewahrt. Wie die sämtliche traditionelle Metaphysik abstrakt und inhaltlos

47 48

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M. Heidegger, Identität und Differenz, GA Bd. 11, S. 77. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. I, Pfullingen 1961, S. 324.

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ist, bleibt nach Schlegels Urteil in den Kölner Vorlesungen auch Gott als das vollkommenste Wesen in dieser Tradition »durchaus leer und ohne allen reellen Inhalt«. 49 Der Grundfehler aller traditionellen Philosophie, so Schlegel in seinem im Jahre 1822 geschriebenen Aufsatz über Jacobi, bestehe in der vergeblichen Bemühung, »die philosophische Wahrheit in mathematischer Gewissheit durch logische Beweise, sowohl selbst erfassen, als auch für andere aufstellen zu wollen«. 50 Diese Tendenz, die Philosophie nach den szientistischen Kriterien zu konstruieren und zu verifizieren, besteht nicht erst seit Kant, sondern schon seit Francis Bacon, »seitdem der Einfluß und das glänzende, aber unpassende Beispiel der Mathematik und der Physik den spekulativen Geist, der ersten Wirkung nach, mehr überfüllte und erdrückte, als bereicherte«. 51 Schlegels Kritik des wissenschaftstheoretisch orientierten Denkens kommt besonders in der ironischen Bemerkung zum Ausdruck, dass die Schlange im Paradies »den ersten Syllogismus gemacht« hat. 52 Bereits am Anfang seiner Geschichte wurde der Mensch verführt und hat sich für die Abstraktion, statt für das Leben entschieden. Aus diesem Denken, das sich vom Baum des Lebens zum Baum der abstrakten Erkenntnis gewendet hat, hat sich seine metaphysische onto-theologische Struktur im Lauf der europäischen Metaphysik entfaltet. Die Geschichte der Philosophie, in der Gott zum einzigen principium essendi et cognoscendi hypostasiert wird, erweist sich als abstrakte verdinglichende Substanzmetaphysik. Dies sieht man am deutlichsten in der abstrakten Ontologie der scholastischen Denker: »ihre dialektische Ontologie war zugleich spekulative Theologie, ihre Theorie des Dings überhaupt zugleich die des vollkommensten Dings, der Gottheit.« 53

Diesem Konzept der verdinglichenden »Onto-Theologie« setzt Schlegel die biblische Auffassung Gottes entgegen, der sich in der Geschichte offenbart hat. Um den geschichtlichen Gott in seiner Lebendigkeit und Fülle erfahren zu können, muss man von der Faktizität des Lebens ausgehen. Im Gegensatz zu der abstrakten Denkweise der traditionellen Substanzmetaphysik, soll die »positive« Philosophie »das Wirk-

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KFSA, Bd. 12, S. 250 KFSA, Bd. 8, S. 590. Ebd., S. 84. KFSA, Bd. 19, S. 300, Fr. 41. KFSA, Bd. 12, S. 250. A

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liche vor dem Nothwendigen« präferieren und »statt des leeren, unbestimmten Seyns nur das lebendige, wirkliche Daseyn« zum Ausgangspunkt des Philosophierens nehmen. 54 Gott selbst wird nicht mehr zum metaphysischen summum ens subsistiert, sondern als das Leben selbst, das sich uns offenbart, verstanden. Schlegel bemüht sich, eine Neubesinnung der Philosophie in der Tiefe der Offenbarung zu finden, was sich am deutlichsten bei seiner Explikation des biblischen Namens Gottes (tetragrammaton) manifestiert. Die berühmte Exodusstelle (3,14), in der Gott von sich behauptet »ego sum qui sum«, deutet Schlegel keineswegs im Sinne der metaphysischen Tradition als »ein bloß abstraktes Sein«, das als das alles begründende Prinzip fungiert, sondern versteht ihn als »Leben und lebendiges Dasein«. Im hebräischen Ausdruck »ehjeh ascher ehjeh« sieht Schlegel ein zukunftsbezogenes Verhältnis: »Ich bin der ich sein werde«. Dieser Gottesname bedeutet für uns, dass Gott »da ist und offenbar ist«, »da war und da sein wird; nicht seiend überhaupt in unbestimmtem, allgemeinem Sein«, als das »vollkommenste Ding« (ens), sondern »daseiend d. h. sich offenbarend«. 55 Gott ist »daseiend«, besagt für Schlegel, dass er dem Menschen immer gegenübersteht und sich ihm als sein »ursprüngliches Du« im Sinne der »Persönlichkeit« manifestiert. 56 Schlegel war auch äußerst skeptisch gegenüber den traditionellen Gottesbeweisen, die für ihn ein Ausdruck der verdinglichenden »onto-theo-logischen« Dialektik waren. Den ontologischen Beweis kennzeichnet er in einer Notiz aus dem Jahre 1804 als den »Anfang des Atheismus« 57 , weil man mit ihm, wie er zehn Jahre später erklärt, nichts anderes erreicht als den »Selbstbeweis von der Ichheit« 58 . Eine der wichtigsten hermeneutischen Errungenschaften Schlegels besteht offensichtlich in der Einsicht, dass das Verstehen in seinem Vollzug »das Nichtverstehen« als wesentlichen Bestandteil und Konstituens enthält. 59 So behauptet er in seinem Essay »Über die Unverständlichkeit«, dass die den Texten des Athenäums anhaftende Unverständlichkeit keineswegs »etwas so durchaus Verwerfliches und KFSA, Bd. 19, S. 343, Fr. 279; vgl. auch Bd. 8, S. 594. KFSA, Bd. 8, S. 499. 56 KFSA, Bd. 19, S 300, Fr. 38. 57 Ebd., S. 6, Fr. 33. 58 Ebd., S. 312. Fr. 121. 59 Vgl. J. Zovko, Verstehen Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik, Stuttgart/ Bad Canstatt 1990. 54 55

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Schlechtes« sei. 60 Ja, meint er mit eindeutiger Ironie, »die reinste und gediegenste Unverständlichkeit« erhalte man »gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst, […] die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehen, aus der Philosophie und Philologie.« 61 Aber Unverständlichkeit in diesem Sinne nennt Schlegel »relativ«, sie ist nämlich ein Zeichen der perspektivischen Deutungsmöglichkeiten jedes wertvollen Kunstwerks. Die Unverständlichkeit, auf die es ihm im eminenten Sinne ankommt und von der »das Heil der Familien und der Nationen« sowie »die innere Zufriedenheit« des Menschen abhängt, ist der Punkt, »der im Dunkeln gelassen werden muß«, »der dafür aber auch das Ganze trägt und hält«. »Kein frevelnder Verstand« dürfe »der heiligen Grenze« einer derartigen Unverständlichkeit sich nähern, denn sie würde ihre Kraft in dem Augenblicke verlieren, wo man sie »in Verstand auflösen wollte«. 62 Die Unverständlichkeit, die man ihm wegen seiner Athenäum-Fragmente vorwirft, kennzeichnet Schlegel als unauflösliches Geheimnis der Wirklichkeit, die unaufhörlich zwischen Universum und Individuum, zwischen dem Unendlichen und System oszilliert. Es ist ein Denken das sich »im Feuer der Ironie« ereignet und immer sich darum bemüht, das Unaussprechliche zur Sprache zu bringen und dessen jedoch eingedenk bleibt, dass es nicht möglich ist. Im Hintergrund dieses vom Nichtverstehen geprägten verstehenden Denkens steht das Motto der romantischen Weltanschauung, das in der Form der Frage formuliert wird: »Und ist selbst diese unendliche Welt nicht durch den Verstand aus der Unverständlichkeit oder dem Chaos gebildet?« 63 Schlegels aufrichtige Warnung aus dem Essay »Über die Unverständlichkeit«, »Wahrlich, es würde euch bange werden, wenn die ganze Welt, wie ihr es fodert, einmal im Ernst durchaus verständlich würde« 64 , wird mutatis mutandis im Heideggerschen Verweis auf Gefahr der technisch-wissenschaftlichen Rationalisierung, die die gegenwärtige Welt exakt und genau beherrschen will, wiederholt. Das Bedenklichste in unserer Zeit ist, dass unser Denken durch die Wissenschaft, die eigentlich »nicht denkt«, sondern alles erforscht und verrechnet, determi-

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KFSA, Bd. 2, S. 370. Ebd., S. 364. Ebd., S. 370. Ebd. Ebd. A

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niert ist, und demzufolge an die vernehmende Vernunft und die ihr korrespondierende »Präsenz des Präsenten« gebunden bleibt. Das zu Denkende, das sich solchem universal verrechnenden Philosophieren »entzieht«, zieht uns wiederum an und spricht sich uns als das Verbindliche zu. Bereits in Sein und Zeit hat sich Heidegger von dem vorstellenden Denken der traditionellen Ontologie distanziert. Sein Hinweis auf das Ungedachte erfordere eine andere methodologische Explikationsart: »Was aber in einem ausnehmenden Sinne verborgen bleibt, ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern das Sein des Seienden.« 65 In der traditionellen Philosophie wird bei Heidegger die sog. »Seinsgeschichte« nur vom Standpunkt des »Entzuges« thematisiert. In der 1949 geschriebenen »Einleitung« zum Vortrag »Was ist Metaphysik?« gibt Heidegger die eigenartige Antwort: Metaphysik sei in ihrem Wesen »onto-theologisch« verfasst, weil sie »Seiendes als Seiendes« zur Vorstellung bringt, d. h. die Wahrheit des Seienden im Allgemeinen und im Höchsten ergründet: »Die Metaphysik achtet jedoch dessen nie, was sich in diesem n, insofern es unverborgen wurde, auch schon verborgen hat«. 66

Ein wesentliches Merkmal der »Seinsvergessenheit« ist, dass sich im Laufe der westlichen Kultur die Wahrheit als Orthotes, als Richtigkeit des Vernehmens und Vorstellens etabliert hat. Die Aufgabe des andenkenden Denkens, das sich von dieser metaphysischen Tradition zu distanzieren versucht, ist als Aletheia »über das Griechische hinaus, als Lichtung des Sichverbergens« zu denken. 67 Wie diese »Lethe« zu denken ist, lässt sich aufgrund der bisherigen »Herrschaft der Metaphysik«, deren Grundzug das auf dem Vermögen der Vernunft fundierte Vernehmen bleibt, wobei das Denken als vorstellende Re-Präsentation des Präsenten fungiert, kaum ergründen. In seinem Vortrag »Was heißt Denken?« behauptet Heidegger, das Charakteristikum unserer metaphysisch geprägten Zeit zeige sich daran, »daß wir noch nicht denken«. 68 Das metaphysisch strukturierte Denken bedenkt gar nicht, dass und inwiefern das zu-Denkende »sich selbst vom Menschen ab-

65 66 67 68

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SuZ, S. 35. Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 380. ZSD, S. 79. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, (VA) Pfullingen 1978 (4. Aufl.), S. 128.

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wendet« bzw. »entzieht«. Gleichwohl merkt Heidegger an: »Was sich entzieht, west an, nämlich in der Weise, daß es uns anzieht.« 69 Für den späten Heidegger erweist sich das Ereignis als das »zu-Denkende«. Ereignis bleibt »das ruhige Herz der Lichtung« bzw. der »Ort der Stille« 70 , aus dem her »Dichten und Denken« in das Eigene ihres Wesens verwiesen sind. In der Explikation von Hölderlins Gedicht »Sokrates und Alcibiades« versucht Heidegger durch die behutsame Analyse des Verses Hölderlins »Wer das Tiefste gedacht, lebt das Lebendigste«, das Tiefste zu ergründen, worin das Denken, »das Dichten und mit ihm alle Kunst beruht«. 71 Somit nähert sich sein »andenkendes Denken« der Schlegelschen poetischen Reflexion, deren Intention ebenfalls war, das Tiefste im Leben in der Kunst und im Denken zu artikulieren.

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Ebd., S. 129. Heidegger, ZSD, S. 75. Heidegger, VA, S. 133. A

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Praktische Freiheit in Schellings »Neuer Deduction des Naturrechts« (1796/97)

Inwiefern – und letztlich: wozu – sind Menschen frei von Natur aus? Ein Schellingsches Frühwerk, die Neue Deduction des Naturrechts (= ND; 1796/97), gibt hierauf eine fulminante Antwort. Schelling begründet einen naturrechtlichen Freiheitsanspruch jedes Menschen aus einem existentiellen Selbstbehauptungs- und Selbstenfaltungsauftrag des Ich. Demnach sind Selbstsein als Selbstwerdung und insofern praktisches Freisein für das menschliche Ich wesentlich und verbindlich: Ich bin angehalten zur Realisierung des »Unbedingten«, dem die Vernunft entgegenstrebt. Erreichbar indes ist dies Schelling zufolge nicht durch theoretische Vernunft, sondern allein durch ein zur »freyen That« 1 aufgefordertes und fähiges Ich. Entsprechend hebt die ND mit einer Aufforderung an, die wie das Fazit aus den eben genannten Prämissen klingt: »Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisiren.« (ND § 1). Umsetzbar wird dieser existentielle Auftrag in dem Maß, in welchem die selbstbestimmte menschliche Subjektivität wider grundsätzliches Umschlagen in fremdbestimmtes Objektsein abzusichern ist. Ideen- und theoriegeschichtliche Hintergründe (Abschnitte I–II und V), Kant- und Fichte-Bezüge (Abschnitte III–VI), Schellings Proprium (Abschnitte VII–VIII) sowie das Neue und Reizvolle (Abschnitt IX) dieser Sicht werden im folgenden knapp umrissen. Wir beginnen mit Begriffsklärungen.

Vgl. dazu Schellings Rückblick auf eine (von Johann Benjamin Erhard stammende) Rezension seiner Ich-Schrift: »Weil aber das philosophische Publikum einmal nur für erste Grundsätze Ohren zu haben schien, so konnte [m]ein erster Grundsatz – in Bezug auf den Leser – nur ein Postulat sein, die Forderung derselben freyen That, mit der [m]eines Erachtens erst alles Philosophieren beginnen kann.« (Schellingiana rariora, 58 [Schelling, SW 1/1, 243]).

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Praktische Freiheit in Schellings »Neuer Deduction des Naturrechts«

I. Naturrechtslehren sind Theorien vorpolitischer Rechtsentstehung. Sie deuten »Natur« und/oder »Vernunft« als Proto-Rechtsquellen und erschließen aus ihnen, was schon vor und noch neben positivem Recht (law) als in sich recht (right) geltend zu machen ist. Formenreich entfaltet sich diese Rechtsidee ab der Sophistik und Stoa bis zur modernen Rechtspositivismuskritik. 2 Indes lösen Vernunftrechtstheorien Naturrechtsthesen ab, seitdem neuzeitliche Naturwissenschaft Rechtsmomente aus dem Naturbegriff ausscheidet. Jetzt zählt allein die Rationalität der Argumentation für überpositives Recht. Grob lassen sich drei Grundmuster natur- oder vernunftrechtlicher Rechtsbegründungen unterscheiden. Entweder entfalten diese (a) eine Evidenzthese, (b) eine Inhärenzthese oder (c) eine Adäquanzthese – mitunter auch in Kombination. Je für sich genommen, stehen sie idealtypisch für unterschiedliche Argumentationsstrategien: – Die Evidenzthese setzt auf rein axiomatische Begründung überpositiven Rechts. Sie unterstellt, dass der Idee natur- bzw. vernunftgemäßer Rechte des Menschen bei unvoreingenommener Betrachtung ihre innere Berechtigung leicht abzulesen oder doch unproblematisch rational zu rekonstruieren sei. – Anders die Inhärenzthese, welche den Kern jeder emphatisch »naturrechtlichen« Rechtsbegründung ausmacht. Ihr zufolge sind bestimmte grundlegende Rechte eine moralisch-juridische Naturmitgift und Grundimplikation des Menschseins. Entweder folgen sie ontologisch aus der »Natur« des Kosmos, anthropologisch aus der »Natur« des Menschen oder logisch aus der »Natur« der Sache eines anspruchsvollen Begriffs von Menschsein. – Die Adäquanzthese schließlich begegnet meist in emphatisch »vernunftrechtlichen« Rechtstheorien. Sie setzt auf rationale ethische Argumentation für Basisrechte bzw. basale Rechtsinstitutionen, die aus Vernunftsicht dem Menschen von Grund auf gemäß und nötig sind, insofern sie als Grundbedingungen der Existenz und Entfaltung des Menschen als Natur- und Kulturwesen auf der Hand liegen. Die Anerkennung und Achtung dieser Bedingungen als individuelle Menschen- und Grundrechts-

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Ilting (2004); Tierney (1997). A

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ansprüche erscheint adäquat, wenn man sich und andere als Menschen konsequent ernst nimmt. Gilt die Evidenzthese heute weithin als erkenntnistheoretisch naiv, so wird die Inhärenzthese als naturalistischer Fehlschluss abgelehnt. Dagegen bleibt die Adäquanzthese auch in der aktuellen Rechtsphilosophie formenreich präsent und inspirierend. Wir werden sehen, dass Schellings ND auf eine konsequenzialistische Zuspitzung teils der Inhärenz-, teils der Adäquanzthese hinausläuft. Um dies einsichtig zu machen, ist im Folgenden ein gewisser Anlauf nötig. Betrachten wir zunächst, in welcher Umbruchsituation der philosophischen Rechtstheorie Schellings ND zu verorten ist.

II. Die moderne, Recht und Ethik unterscheidende Auffassung von überpositivem Recht bildet sich im 17. und 18. Jahrhundert heraus – als Übergang von der alten materialethischen Naturrechtslehre zu einer kritischen Philosophie des Rechts. 3 Maßgebliche Impulse sind dabei von Hobbesschen und Kantischen Grundunterscheidungen ausgegangen: – Hobbes grenzt im 14. Kapitel von Buch I des Leviathan (1651) »Naturrecht« (ius naturale) dadurch vom »Naturgesetz« (lex naturalis) ab, dass ius naturale als existentiell-freiheitstheoretischer, lex naturalis dagegen als rationalistisch-bindungstheoretischer Grundbegriff der Rechtsphilosophie eingeordnet werden. Denn »Right consisteth in liberty to do or to forbear, whereas Law determineth and bindeth to one of them«. 4 Ideengeschichtlich gesehen hat Hobbes diese Differenzierung zwar nicht erfunden, sondern nur wiederentdeckt. 5 Jedoch hat er sie erstmals zu einer bereichsübergreifenden Leitdifferenz neuzeitlicher Naturrechtstheorie erhoben. 6 Vgl. Schneiders (1971; 2005). Vgl. dazu Hobbes (1994), 79 f. 5 Ideengeschichtlich geht sie zurück auf die antike Meinung, aus der kosmischen Naturund Weltordnung (lex) sei teils als Richtschnur, teils als Berechtigungsrahmen ein naturhaft-ursprünglichstes Dürfen (ius) menschlichen Handelns herzuleiten. Vgl. dazu Ilting (2004). 6 Man vergleiche etwa Hobbes’ Leviathan, I, 14 mit Grotius’ De Jure belli ac Pacis, I, i, 10, 12. 3 4

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Kant betont in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797), dass die reine praktische Vernunft zweierlei Arten moralischer Regeln und Verpflichtungen vorgibt: neben der »ethischen« Gesetzgebung eine »juridische«. Erstere kann nicht äußerlich, sondern nur gesinnungsmäßig sein – und ihre Ausführung darf (wenn es bei Ethik bleiben soll) nicht erzwungen werden. Letztere jedoch kann auch äußerlich sein – und ihre Einhaltung kann durch legitimen Zwang befördert werden (AA VI, 220 sowie 231 f., §§ D-E). Die ethische Gesetzgebung fordert pflichtmäßige Gesinnung, also »Moralität« (Sittlichkeit) der inneren Triebfedern des Handelns; die juridische dagegen verlangt nur »Legalität« (Gesetzmäßigkeit) des äußeren Handelns überhaupt. Selbst das grundlegende »Recht der Menschheit in unserer Person« fordert nur rechtmäßige Handlungen, nicht Moralität der Handelnden (AA XXIII, 381). Gleichwohl sind Recht und Rechtspflichten in ihrer Geltung enger, strenger und, was ihre Erfüllung betrifft, dringlicher als ihre tugendethischen Pendants. Das Recht als Sittlichkeitsgestalt formuliert kategorisch geltende, unabdingbare Schuldigkeiten der Menschen gegen sich selbst und gegen einander. Es definiert die unverzichtbare, erzwingbare Basis- und Minimalmoral im äußeren Freiheitsgebrauch. Entsprechend stellt Kant die »Rechtslehre« (ius als »Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist«) der »Tugendlehre« (ethica) systematisch voran (AA VI, 229). Sowohl Hobbes als auch Kant entwerfen ihre Rechtstheorien im Kern als Theorien praktischer Freiheit. Hobbes lehrt ein natürliches Recht von jedermann auf Selbsterhaltung und Handeln nach Gutdünken. 7 Aus seiner Sicht ist solche natürliche Freiheit jedoch weder unveräußerlich noch unentziehbar. Denn als absolute, uneingeschränkte Freiheit bedeutet sie ein Recht aller auf alles – was zum Krieg aller gegen alle führt; daher muss die natürliche Freiheit aufgegeben werden zugunsten einer Schutzgemeinschaft aller unter einer »gemeinsamen Gewalt«, repräsentiert und ausgeübt durch den Souverän. 8 7 Hobbes befindet: »The Right of nature, which writers commonly call jus naturale, is the liberty each man hath to use his own power, as he will himself, for the preservation of his own nature, that is to say, of his own life, and consequently of doing anything which, in his own judgement an reason, he shall conceive to be the aptest means thereunto.« (Hobbes [1994], 79). 8 Vgl. a. a. O. 120 f.: »The only way to erect such a Common Power (…) is, to conferre all

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Kant dagegen lehrt zunächst ein übersinnliches Freiheitsvermögen der von physischen Bestimmungen unabhängigen Persönlichkeit (homo noumenon). Dieses fasst er als Würde und »Recht der Menschheit in unserer eigenen Person«, welche Pflichten gegen uns selbst begründen und wechselseitige Achtung der Menschen untereinander fordern. 9 Was das Recht des physischen Menschen (homo phaenomenon) angeht, so existiert ein einziges »ursprüngliches« Recht, das jedem Menschen kraft seiner Menschheit zusteht und insofern angeboren ist: Freiheit, sofern sie mit der Freiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann. 10 Als Prinzip enthält solche angeborene Freiheit indes noch weitere Rechtsmomente, die Kant Befugnisse nennt: so z. B. die angeborene Gleichheit im Vermögen, andere moralisch-rechtlich zu binden, und die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein. 11 Auf der Grundlage des angeborenen Rechts ist nach Kriterien apriorisch vereinigter Willkür aller solcher Rechtsträger der Erwerb weiterer Rechte möglich. Zugleich drängt die angeborene Rechtssubjektivität des Menschen diesen zum Ausgang aus dem provisorisch-privatrechtlichen Urzustand in eine peremptorisch-rechtliche bürgerliche Ordnung, die als Zustand öffentlichen Rechts sich ausdifferenziert als Staats-, Völkerund Weltbürgerrecht.

III. Längst nicht nur, aber doch maßgeblich auf Hobbes und Kant nimmt die deutschsprachige aufklärerisch-rationalistische Naturrechtsdebatte im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts direkt oder indirekt Bezug. 12 their power and strength upon one Man, or upon a Assembly of men, that may reduce all their Wills, by plurality of voices, unto one Will: which is as much as to say, to appoint one Man, or Assembly of men, to beare their Person; and every one to owne, and acknowledge himselfe to be Author of whatever he that so beareth their person, shall Act, or cause to be Acted, in those things which concerne the Common Peace and Safetie; and therein to submit their Wills, every one to his Will, and their Judgements, to his Judgement. (…) And he that carryeth this Person, is called Soveraigne, and said to have Sovereigne Power; and every one besides, his Subject.« 9 Vgl. dazu exemplarisch Kant, AA VI, 239 f. und 390 f. 10 Vgl. a. a. O. 237 f. 11 Ebd. 12 Vgl. Hartung (1999).

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Im Blick auf Kant kommt eine Besonderheit hinzu: Zwischen 1785 (dem Erscheinungsdatum der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) und 1797 (dem Publikationsjahr der Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre) haben frühe Kantianer in eigenen Werken oft versuchsweise vorweggenommen, wie äußere Freiheit konsequent nach Kantischen Grundlinien entworfen werden müsse. 13 Kant selbst war eine im Grundriss vollständige Theorie der Willkürfreiheit lange schuldig geblieben. Auch die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beschränkt sich diesbezüglich auf Andeutungen. Zwar vertritt Kant dort einen »Rechtsanspruch … selbst der gemeinen Menschenvernunft auf Freiheit des Willens« 14 ; er meint damit aber gerade nicht zunächst eine äußere, rechtlich-politische Freiheit, sondern eine innere, metaphysisch-moralische: ein Selbstgesetzgebungsrecht des vernünftigen Willens als Ausnahme vom naturgesetzlichen Determinismus der Erscheinungswelt 15 . Provoziert, aber nicht beantwortet wird damit die Frage, welche äußere Willkürfreiheit komplementär zur Autonomie des vernünftigen Willens möglich oder gar gefordert sei. Entsprechende Antizipationsversuche der Kantianer konnten vor 1797 im Wesentlichen an vier Kantische Lehrstücke anknüpfen. Das erste ergibt sich als eine Haupteinsicht der Kritik der praktischen Vernunft (1788): die Vernunftnotwendigkeit des Rechts als Koexistenzordnung vernünftiger Wesen mit freier Willkür. Hieran anknüpfend bietet ein zweites Lehrstück die Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« (1793). Darin bestreitet Kant die »leere Idealität« des Pflichtbegriffs. Dieser könne sinnvoller Weise nur auf solche Wirkungen des Willens abzielen, die auch in der Erfahrung möglich sind. 16 Zudem sei »Praxis« nicht »jede Hantirung«, sondern nur »diejenige Bewirkung eines Zwecks …, welche als Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellten Principien des Verfahrens gedacht wird« 17 . Insofern aber die Sphäre der »im Vgl. die Übersicht dazu in Schröder (2009). Kant, AA IV, 457. 15 Demnach ist »Freiheit« hier als Vernunftidee, als »reiner Wille« konzipiert, der sich, unabhängig von Trieben und Zwängen aus der Erfahrungswelt, nach Gesetzen reiner praktischer Vernunft selbst bestimmen kann und soll (Autonomie). Ein so verstandener »guter Wille« ist das sittlich Gute – und das Sittengesetz wird als »kategorischer Imperativ« bewusst, der ausnahmslos die Prüfung oberster subjektiver Handlungsprämissen (Maximen) auf ihre Tauglichkeit als universell gültige Verhaltensnormen fordert. 16 Kant, AA VIII, 276 f. 17 A. a. O., 275. 13 14

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Allgemeinen vorgestellten« Prinzipien gerade das Element der Theorie und apriorischer Vernunftprinzipien ist, hat das, »was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt«, Gültigkeit »auch für die Praxis«. 18 Entsprechend praxisrelevant wären dann auch solche äußeren Pflichten und Rechte, die »gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander« hervorgehen und »gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel dazu zu gelangen zu thun« hätten. 19 Auf das Recht im Staat bezogen bedeutet dies, dass der bürgerliche Zustand, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, sich normativ auf folgende Prinzipien a priori gründet: (1) Freiheit jedes Gliedes der Gesellschaft (als Menschen); (2) Gleichheit desselben mit jedem Anderen (als Untertan); (3) Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens (als Bürgers) 20 . Für das Völkerrecht heißt dies, dass »zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht« gefordert wäre und erreichbar scheint 21 . Und grundsätzlich gilt in beiden Fällen: »Recht« ist die Einschränkung der (äußeren) Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der (äußeren) Freiheit von jedermann, sofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist. »Öffentliches Recht« wäre demnach der Inbegriff äußerer Gesetze, welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen. 22 Ein drittes Lehrstück in diesem Zusammenhang ist eine Klarstellung Kants in Die Religion innerhalb der Grenzen bloßer Vernunft (1793). Dort wird betont: Sofern ein »gemeines Wesen« ein juridisches sein soll, muss die sich zu einem Ganzen vereinigende Menge selbst der Gesetzgeber (der Verfassungsgesetze) sein. Nur der allgemeine Wille kann einen für alle gültigen gesetzlichen äußeren Zwang errichten. Soll das gemeine Wesen aber ein ethisches sein, so kann das Volk als solches nicht selbst für gesetzgebend angesehen werden. Denn in einem solchen gemeinen Wesen sind alle Gesetze darauf abgestellt, die innerliche Moralität der Handlungen zu befördern. 23 Als die men18 19 20 21 22 23

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A. a. O., 313. A. a. O., 289. A. a. O., 290. A. a. O., 311. A. a. O., 289 f. AA VI, 98 f.

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schenmögliche Annäherungsform an die »erhabene, nie völlig erreichbare Idee eines ethischen gemeinen Wesens« erscheint eine wohldefinierte Form von »unsichtbarer Kirche«. 24 Ein viertes Lehrstück schließlich ist der Republikanismusbegriff der Programmschrift Zum ewigen Frieden (1795). Insgesamt formuliert Kant hier die Verwirklichungsbedingungen des höchsten politischen Gutes, des »ewigen Friedens«, d. h. einer allgemeinen und fortdauernden Friedensstiftung durch Überwindung der Hostilität (als Quelle allen Streits und Unfriedens). 25 Motoren, ja sogar Garantien der langfristigen Verwirklichung vernunftgemäßer Staats- und Staatenverhältnisse seien anthropologisch der sich ausweitende Handelsgeist, teleologisch eine Naturabsicht auf einen weltbürgerlichen Zustand. Kants friedenstheoretische Grundthese lautet dabei: Frieden in und zwischen Staaten gelingt dauerhaft nur als Frieden durch Recht und auf der Basis einer Einhelligkeit von Politik und Moral im republikanisch organisierten Staat und zwischen republikanischen Staaten. Dabei meint Kants Republikbegriff die Vernunftidee einer vollkommen rechtlichen Verfassung, die Selbstgesetzgebung der Bürger, aber repräsentative Ausführung des öffentlichen Willens vorsieht. Als normativer Grundriss aller Arten bürgerlicher Verfassung entspringt die Republik »dem reinen Quell des Rechtsbegriffs«: sie geht aus der »Idee des ursprünglichen Vertrags« hervor, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muss. 26 Gestiftet wird die republikanische Verfassung (1) nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen), (2) nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen) und (3) nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger). Durch (1) wird die Befugnis der Bürger betont, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen als jenen, zu denen sie ihre Beistimmung haben geben können. Durch (2) und (3) wird das Verhältnis der Staatsbürger zueinander auf Wechselseitigkeit der Rechtsansprüche und Rechtspflichten gegründet. Schon diese Auswahl an Lehrstücken zeigt das Grund- und Hauptproblem, vor das sich jeder gestellt sehen musste, der eine Prinzipientheorie äußerer Freiheit entlang Kantischer Grundlinien ambi24 25 26

A. a. O., 6u. 100 f. Vgl. a. a. O. 344 u. 346 sowie KrV B 780. AA VIII, 350 f. A

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tioniert entwerfen wollte: Kants diesbezüglicher Theorieansatz ist alles andere als monolithisch und in seiner Komplexität nicht ohne weiteres reduzierbar. Insgesamt verbindet er teleologische Anthropologie und Geschichtsphilosophie mit Rechtsstaats- und Verfassungstheorie nach Vernunftprinzipien. Deutlicher von einander unterschieden werden politische Geschichtsphilosophie und gesellschaftstheoretische Individual- und Staatsethik erst in Kants spätesten Publikationen. Die Metaphysik der Sitten (1797) etwa konzentriert sich ganz auf apriorische Vernunftprinzipientheorie von Recht und Staat.

IV. Zurück zum jungen Schelling, den es von Kant weg hin zu Fichte zieht. Im Blick auf Kant beschäftigt Schelling weniger ein Antizipations- als vielmehr ein Korrekturanliegen. Pointiert formuliert ist es in der Tübinger Jugendschrift Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen (1795). Dort moniert Schelling, dass Kants theoretische und praktische Philosophie durch kein gemeinschaftliches Prinzip verbunden seien. Praktische Philosophie erscheine bei Kant nur als »Nebengebäude« der ganzen Philosophie, das zudem »beständigen Angriffen vom Hauptgebäude aus« – also seitens der theoretischen Philosophie – ausgesetzt bleibe. 27 Gerade »bey einem solchen Schriftsteller« trete daher der Fall ein, dass man ihn »einzig und allein den Principien gemäß, die er vorausgesetzt haben muß, erklären, und selbst gegen den ursprünglichen Sinn seiner Worte den noch ursprünglicheren der Gedanken« behaupten müsse. 28 Entsprechend sinnt Schelling auf Remedur und findet sie in der Betonung des subjektiven Prinzips schlechthin: Er entwirft das »Ich« als herrschenden Anfangsgrund sowohl der theoretischen als auch der praktischen Philosophie – und damit als Prinzip der Philosophie überhaupt. Plausibilisiert wird diese Grundweichenstellung durch eine umfängliche logische Urteilskette, beginnend mit einem vorgängigen Ausschlussverfahren: »Wäre … das aufgestellte Princip ein objectives Princip, so würde man unmöglich begreifen können, wie dieses Princip von keinem höhern abhängig sein sollte; das Unterscheidende aber des 27 28

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Schelling, SW 1/2, 73. Ebd.

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neuen Princips liegt gerade darinn, daß es gar kein objectives Princip sein soll.« 29 Letzteres gilt insofern, als Objektivität für Schelling im Kern Bedingtheit meint und so gerade nicht für ein absolut Erstes, Unbedingtes stehen kann. Der Grund hierfür liegt im Objekt. Dieses ist »nur im Gegensaz, aber doch in Bezug auf ein Subject, bestimmbar«; insgesamt aber kann es gerade »nicht das Unbedingte seyn …, weil es nothwendig ein Subject voraussezt, das ihm durch das Herausgehen aus der Sphäre seines blossen Gedachtwerdens seyn Dasein bestimmt«. 30 Wie kommt man nun von dieser Einsicht zur These vom »Ich als Prinzip der Philosophie«? Durch das Hören auf die »philosophische Bildung der Sprachen«, in der Schelling »ein wahrhaftes durch den Mechanismus des menschlichen Geistes gewirktes Wunder« sieht 31 : »So ist unser bißher unabsichtlich gebrauchtes deutsches Wort Bedingen nebst den abgeleiteten in der That ein vortrefliches Wort, von dem man sagen kann, daß, es beynahe den ganzen Schaz philosophischer Wahrheit enthalte. Bedingen heißt die Handlung, wodurch etwas zum Ding wird, bedingt, das was zum Ding gemacht ist, woraus zugleich erhellt, daß nichts durch sich selbst als Ding gesetzt seyn kann, d. h. daß ein unbedingtes Ding ein Widerspruch ist. Unbedingt nämlich ist das, was gar nicht zum Ding gemacht ist, gar nicht zum Ding werden kann. Das Problem also, das wir zur Lösung aufstellten, verwandelt sich nun in das bestimmtere, etwas zu finden, das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann.« 32 Schelling findet dieses Unbedingte im »Ich«, anhand folgender Überlegungen: »Das Unbedingte kann … weder im Ding überhaupt, noch auch in dem was zum Ding werden kann, im Subject, also nur in dem was gar kein Ding werden kann, d. h. wenn es ein absolutes ICH gibt, nur im absoluten Ich liegen. Das absolute Ich wäre also vorerst als dasjenige bestimmt, was schlechterdings niemals Object werden kann.« 33 Darüber hinaus muss für Schelling beim Unbedingten das A. a. O., 74. A. a. O., 88. 31 A. a. O., 89. 32 Ebd. 33 A. a. O., 90. Erläuternd hierzu heißt es ebd. weiter: »Daß es ein absolutes Ich gebe, das läßt sich schlechterdings nicht objectiv, d. h. vom Ich als Object, beweisen, denn eben das soll ja bewiesen werden, daß es gar nie Object werden könne. Das Ich, wenn es unbedingt seyn soll, muß ausser aller Sphäre objectiver Beweißbarkeit liegen. Objectiv be29 30

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Prinzip seines Seins mit dem Prinzip seines Gedachtwerdens zusammenfallen. Das Unbedingte ist, »blos weil es ist, es wird gedacht, blos weil es gedacht wird. Das Absolute kann nur durch das Absolute gegeben seyn, ja, wenn es absolut seyn soll, muß es selbst allem Denken und Vorstellen vorhergehen, also nicht erst durch objective Beweise, d. h. dadurch, daß man aus seiner Sphäre hinausgeht, sondern nur durch sich selbst realisirt werden«. 34 Überhaupt gilt: Was Objekt für mich ist, kann nichts als erscheinen – und ist kraft solchen notwendigen Objektcharakters stets und unverbrüchlich ein Bedingtes. Es ist nur insofern Objekt, als ihm seine Realität durch etwas anderes bestimmt ist: es ist Objekt in Bezug auf ein (denkendes) Subjekt, dem es gegenübersteht. Mithin wäre ein vor allem Ich gesetztes »Objekt« keines. Umgekehrt kann das allem vorausliegende Ich niemals zum Objekt werden und ist in diesem Sinne das Absolute, Unbedingte. Demnach kann das Ich nur dadurch Ich sein und bleiben, dass es weder Objekt ist noch jemals wird. Hierfür ist gesorgt, wenn das Ich per definitionem niemals sinnlich anschaubar werden kann: etwa durch eine klare Zuordnung der sinnlichen Anschauung zur Objekterfassung, die impliziert, dass dort, wo kein Objekt ist, also im »absoluten Ich«, auch keine sinnliche Anschauung statthat. Entweder darf hier gar keine oder nur eine »intellektuelle Anschauung« des absoluten Ich denkbar sein. Gleichwohl ist das Ich durchaus ein möglicher Gegenstand (»Objekt«) des Wissens. Der tätige Geist kann ein handlungsunfähiges, ruhendes Objekt für sich selbst zwar nie ursprünglich sein, aber durch eigenes Handeln doch schließlich werden: im Sinne eines sich selbst zum Objekt werdenden Produzierens – als Freiheit. Wie aber ist solche Freiheit schlüssig als Grundeigenschaft, als Wesen des Subjekts denkbar? Kants transzendentaler und praktischer Freiheitsbegriff entwirft Argumentationslinien hierfür, Fichte entweisen, daß das Ich unbedingt seye, hiesse beweisen, daß es bedingt seye. Beym Unbedingten muss das Princip seines Seyns und das Princip seines Denkens zusammenfallen.« 34 Ebd. Erläuternd fügt Schelling hinzu: »Sollte das Ich nicht durch sich selbst realisirt sein, so müßte der Saz der sein Seyn ausdrükte, dieser seyn: wenn Ich bin, so bin Ich. Allein die Bedingung dieses Sazes schließt selbst schon das Bedingte in sich: die Bedingung ist selbst nicht ohne das Bedingte denkbar, ich kann nicht mich unter der Bedingung meines Seyns denken, ohne mich als schon seyend zu denken.« (Ebd.).

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wickelt sie kritisch-idealistisch fort. Schelling überholt beide mit der These, der letzte Punkt unseres Wissens, an dem das Ganze hängt, sei nicht nur unbedingt, sondern schlechthin »unbedingbar«: »Ich« als Prinzip der Philosophie. Einerseits unerreichbar für die theoretische Vernunft, ist das Ich als Unbedingtes andererseits praktisch zu realisieren. Die denkerisch ursprünglichsten Leitgesichtspunkte hierfür lassen sich für Schelling naturrechtstheoretisch darlegen. Hierbei ergibt sich eine Nähe zu Fichtes früher Rechtsphilosophie.

V. Fichte hat in kritischer Auseinandersetzung mit den Prämissen Kantischer Moral- und Transzendentalphilosophie 35 1796 eine wissenschaftstheoretisch vermeintlich gesicherte naturrechtliche Prinzipienlehre vorgelegt. Er nennt sie Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre und gründet diese wiederum auf den Gedanken, dass der »Rechtsbegriff im Wesen der Vernunft liege«. 36 Auf dieser Grundlage lässt sich Naturrecht als »reelle philosophische Wissenschaft« entwickeln. 37 Ihr Gegenstand ist die Gemeinschaft freier Wesen als solcher. 38 Deren normative Freiheitsordnung entwirft Fichte als Explikation des »Ich des ursprünglichen Selbstbewusstseyns«; dieses ist in eminentem Sinn auch »praktisches Ich«, das sich als vernünftiges Wesen »nur im Wollen […] unmittelbar wahrnimmt und »sich nicht, und demzufolge auch die Welt nicht wahrnehmen würde, mithin nicht einmal Intelligenz seyn würde, wenn es nicht ein praktisches Wesen wäre. Das Wollen ist der eigentliche wesentliche Charakter der Vernunft […]. Das praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich, auf dieses wird erst alles andere aufgetragen, und daran angeheftet.« 39 Kurzum: »Das Ich ist nicht etwas, das Vermögen hat, es ist überhaupt kein Vermögen, sondern es ist handelnd; es ist, was es handelt, und wenn es nicht handelt, so ist es nichts.« 40 35 36 37 38 39 40

Fichte (1971), 12–16. A. a. O., 53. A. a. O., 7 ff. A. a. O., 9 f. A. a. O., 20. Vgl. dazu auch a. a. O. 22 f. und 28. A. a. O., 22. A

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Entsprechend soll das »Vernunftwesen […] seine freie Wirksamkeit realisiren; diese Aufforderung an dasselbe liegt im Begriffe, und so gewiß es den beabsichtigten Begriff fasst, realisirt es dieselbe: entweder durch wirkliches Handeln […] oder durch Nichthandeln.« 41 Wenn nun der Mensch »nur unter Menschen ein Mensch« wird 42 , und die »Erkenntnis des einen Individuums von anderen« bedingt ist »dadurch, dass das andere es als freies behandele (d. i. seine Freiheit beschränke durch den Begriff der Freiheit des ersten)« 43 , so ist das »deducirte Verhältnis zwischen vernünftigen Wesen, dass jedes seine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit der Freiheit des anderen beschränke«. 44 Dieses Verhältnis heißt »das Rechtsverhältnis« und folgende hierauf bezogene Formel heißt »der Rechtssatz«: »Ich muss das freie Wesen außer mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit einschränken.« 45 Fichte betont, der Begriff der Pflicht sei dem des Rechts »in den meisten Merkmalen geradezu entgegengesetzt. Das Sittengesetz gebietet kategorisch die Pflicht: das Rechtsgesetz erlaubt nur, aber gebietet nie, dass man sein Recht ausübe.« 46 Demnach bedürfe es keiner »künstlichen Vorkehrungen, um Naturrecht und Moral zu scheiden […]: denn wenn man nichts anderes vor sich genommen hat, als Moral – eigentlich auch diese nicht einmal, sondern nur Metaphysik der Sitten – so wird man nach der künstlichsten Scheidung doch nie etwas anderes unter einen Händen finden, als Moral. – Beide Wissenschaften sind schon ursprünglich und ohne unser Zuthun durch die Vernunft geschieden, und sind völlig entgegengesetzt.« 47 Fichte konzipiert demnach das Naturrecht radikal freiheits- und subjekttheoretisch. Sein »Naturrecht« ist die rationale Begründungstheorie der im Prinzip pflichtfreien Befugnis freiheitlicher Selbstverwirklichung, eingeschränkt nur dadurch, dass wegen der wechselseitig gebotenen Anerkennung der Freien die Möglichkeit der Freiheit der

41 42 43 44 45 46 47

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A. a. O., 34. A. a. O., 39. A. a. O., 44. A. a. O., 52. Ebd. A. a. O., 54. A. a. O., 54 f.

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anderen als Grenze eigener, individueller Selbstverwirklichung gelten muss. Die freiheits- und rechtstheoretisch radikale Konsequenz aus diesem Ansatz hat weniger Fichtes Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre selbst gezogen. Dies hat vielmehr Fichtes geistiger Schüler Schelling getan – vermutlich in gründlicher Kenntnis der innovativsten Denklinien der deutschsprachigen Naturrechtsdebatte der 1790er Jahre vor dem Erscheinen von Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797). 48

VI. Wer eine pointierte Übersicht aus Zeitzeugensicht über den deutschsprachigen Naturrechtsdiskurs um 1795/96 sucht, wird fündig im Frühwerk des Rechtswissenschaftlers Paul Johann Anselm Feuerbach. Einschlägig ist zunächst dessen Aufsatz Versuch über den Begriff des Rechts, publiziert in Niethammers Philosophischem Journal, Jg. 1795, Zweiten Bandes zweites Heft, 138–162. 49 Ein Jahr später erscheint der Beitrag umgearbeitet und zu einem Buch erweitert unter dem Titel Kritik des natürlichen Rechts (1796). Seinem Schreib- und Denkstil nach ist Feuerbach Kantianer. Vor allem scheint er intensiv geprägt von Kants Kritik der reinen Vernunft (1781/87). Gleichwohl sucht der junge Jurist – von Kants kritischer Philosophie her denkend – in der Rechtsphilosophie einen eigenen Standort. Sein Versuch über den Begriff des Rechts zielt auf eine originelle elementare Klärung des Rechtsbegriffs. Feuerbach Ausgangsfrage fokussiert »die inneren, wesentlichen und nothwendigen Merkmale, die den Begriff des Rechts ausmachen« 50 . Im kursorischen Durchgang durch die Grundlegungsteile der damals bedeutendsten Naturrechtslehrbücher (vor allem Hoffbauer 51

Vgl. zum Folgenden sowie allgemein zur rechtstheoriegeschichtlichen Kontextualisierung von Schellings ND Schröder (2010). 49 In: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Zweiten Bandes zweites Heft, hg. von F. I. Niethammer, Neustrelitz, 138–162. 50 A. a. O., 138. 51 Johann Christoph Hoffbauer, Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt, Halle 1793. 48

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und Hufeland 52 , aber auch Heydenreich 53 und Schaumann54 ) diagnostiziert Feuerbach zwei alternative Grundansätze der damals zeitgenössischen Naturrechtstheorie sowie ein darauf bezogenes Dilemma. Die beiden Grundansätze nennt er die »absolute« und die »relative Deduction«. Diese deskriptive Unterscheidung ist als Ansetzung von Idealtypen zu verstehen (dass es auch Mischformen aus beiden gibt, räumt Feuerbach erst in seiner Kritik des natürlichen Rechts ein 55 ). Die »absolute Deduction« setzt »den Grund des Rechts« allein »in das berechtigte Subject selbst« und will nur von letzterem ausgehend herleiten, was »Recht« ist. 56 Dagegen sieht die »relative Deduction« zunächst vom »berechtigten Subject« ab und will das »Recht« von der Verpflichtetheit der anderen her begründen. Das »Recht bestünde, nach dieser Deduction, bloß darinn, daß der Andere nicht darf.« 57 Oder präziser: »Vermöge der relativen Deduction habe ich in so ferne ein Recht, als die Andern die Verbindlichkeit haben, mich an gewissen Handlungen nicht zu hindern, und ich, vermittelst eben derselben Verbindlichkeit, ein Recht erhalte die Vollziehung derselben selbst mit Zwang durchzusetzen.« 58 Beide Grundansätze sind nachhaltig problembehaftet. Die »absolute Deduction«, zumindest »nach der Art, wie diese bisher geführt worden ist«, verwickelt sich in Widersprüche und Zirkel, wenn sie begründen will, dass nur Pflichten der Gerechtigkeit, nicht aber Pflichten der Güte mit Zwang durchgesetzt werden dürfen. 59 Denn »sobald man den Grund des Rechts in das berechtigte Subject selbst setzt, und gleichwohl dem Naturrecht, indem man ihm äußere Rechte zum Gegenstand setzt, ein eigenthümliches von dem Gebiete der Moral abgesondertes Gebiet (wie es sein soll) anweisen will, so wird das Sittengesetz in Widersprüche mit sich selbst verwickelt, und, wenn man Gottlieb Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts und der damit verbundenen Wissenschaften, Jena 1790. Darin heißt es: »Die Beschaffenheit einer Handlung, vermöge deren sie erlaubt und der Handelnde dazu befugt ist, heisst ein Recht (jus), und eine solche Handlung heisst recht oder rechtmäßig.« (A. a. O., 3, § 4). 53 Karl Heinrich Heydenreich, System des Naturrechts nach kritischen Prinzipien, Leipzig 1794. 54 Johann Christian Gottlieb Schaumann, Wissenschaftliches Naturrecht, Halle 1792. 55 Vgl. dazu Feuerbach (1796), 207 ff. 56 Ders. (1795), 140. 57 A. a. O., 143. 58 A. a. O., 140 f. 59 Vgl. ebd. 52

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diesen Widersprüchen ausweichen will, die Moral mit dem Naturrecht verwirrt.« 60 Indessen krankt die »relative Deduction« daran, dass in das berechtigte Subject […] also nichts gesetzt« wird; denn »es versteht sich nicht von selbst, wie aus einem bloßen Nicht-Recht auf der einen Seite, ein wirkliches Recht auf der andern entspringen, und dadurch, daß etwas für den Andern unerlaubt ist, für mich das Gegentheil erlaubt werden könne. So lange dieser Beweis noch nicht geführt ist, so lange ist den Ausdrücken: Recht, Erlaubtsein, Dürfen u.s w. in diesem System noch keine Bedeutung bestimmt.« 61 Bleiben beide Problemgruppen ungelöst nebeneinander bestehen, gibt es nur einen dilemmatischen, also keinen wirklichen Ausweg aus dieser Lage. Wie das Dilemma sich aufbaut, ist schnell skizziert. Einerseits erscheint »bei dem jetzigen Zustande der natürlichen Rechtslehre, die Ableitung des Rechts aus der gegenüberstehenden Zwangsverbindlichkeit der einzige Ausweg, auf dem man einerseits die Würde des Naturrechts, als einer für sich bestehenden von der Moral abgesonderten Wissenschaft, andererseits aber die Vernunft vor Widersprüchen retten kann.« 62 Andererseits aber ist für Feuerbach klar, dass »sobald wir den Grund des Rechts in das dem berechtigten Subject gegenüberstehende bepflichtete Subject setzen, das Recht völlig aufgehoben wird«; ergo müssen wir »mithin doch auf einen in dem berechtigten Subject an sich gelegenen Grund des Rechts zurückkommen« 63 . Ab hier aber träte man dann in den circulus vitiosus ein. Feuerbach meint nun, »daß es noch ein Drittes geben müsse, durch dessen Auffindung jene Probleme beider Parteien beantwortet, die Vernunft in ihren Forderungen befriedigt, und Einigkeit auf dem Gebiete der Rechtslehre herbeigeführt werden könne. Dieses Dritte aber kann nichts anders sein, als ein von dem Pflichten gebenden Vermögen der Vernunft abgesondertes Rechte gebendes Vermögen, zu dessen Annahme jene in Rücksicht auf den Grund des Rechts vorkommenden Antinomien uns unwidersprechlich nöthigen, welches aber durch eine Ableitung aus höhern speculativen Principien erst begründet werden muß.« 64 Zur präzisen Bezeichnung dieses Vermögens feh60 61 62 63 64

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len Feuerbach offenbar noch die Begriffe. Er wählt eine Verlegenheitslösung und bezeichnet »jenes besondere Rechtegebende Vermögen, worein ich den Entstehungsgrund des Rechts setze, einstweilen mit dem Ausdruck: Vernunft«. 65 Dass es noch 1795 wesentlich konkretere Ansätze zu dem gesuchten »Dritten« gab, etwa bei Karl Heinrich Heydenreich im Gedanken einer rechtsbegründenden bewussten Wechselseitigkeit von Erlaubnissen und Verpflichtungen 66 , hat Feuerbach in seinem Beitrag wohl noch nicht berücksichtigen können. Entsprechend umrisshaft bleibt sein Vorschlag. Er geht vom Kantischen Gedanken aus, dass die Form der theoretischen (auf Natur bezogenen) wie der praktischen (auf Freiheit bezogenen) Vernunft »systematische Einheit« ist. Die »Realisirung dieser Vernunftform«, die nur durch Freiheit möglich ist, muss sichergestellt sein. Das gelingt der Form nach, wenn die Vernunft selbst in Verbund mit ihren Gesetzen eine Verbindlichkeits- und Unverletztlichkeitserklärung für die Bedingungen gibt, unter denen diese Realisierung faktisch steht. 67 Diese »Sanction durch Vernunft um des Sittengesetzes willen« ist für Feuerbach »der Grund des Rechts, das wodurch Rechte durch Vernunft existiren, das Medium, wodurch gewisse Handlungen positiv mit der Vernunft verknüpft und dadurch zu Rechten erhoben werden«. 68 Entsprechend kann er »Recht« nun definieren als »ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen zu handeln«. 69 Präzise liegt der Grund dieser positiven Bestimmung darin, »daß die Rechte Bedingungen sind zu[r] Erreichung des höchsten Zweckes. Und das Wesen der positiven Bestimmung besteht in der Sanction, d. h. daß die Vernunft etwas für unverletzlich erklärt und die Ausübung desselben, selbst wenn sie mit Zwang gegen vernünftige Wesen verA. a. O., 159. Vgl. Heydenreich (1795), 29 f.: »Jeder Mensch, können wir sagen, weiß, daß er verpflichtet ist, jedes ihm gleiche Wesen seinem eignen Willen zu überlassen, weiß, daß jedes andre dieselbe Verpflichtung trägt, weiß, daß jedes andre dies auch weiß, daß jedes sie weiß. Aus dieser Identität des Bewußtseyns, dieser Reciprocität des Wissens der Pflicht für äußere Freyheit seiner Mitwesen, entspringt das, was wir Recht nennen.« Diese Sicht läuft auf die Aufhebung des Gegensatzes von »absoluter« und »relativer Deduction« hinaus. 67 Feuerbach (1795), 159. 68 Ebd. 69 A. a. O., 161. 65 66

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bunden wäre, möglich macht. Das Recht wäre demnach, eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit, als Bedingung zur Erreichung des höchsten Zwecks.« 70 Zusammengefasst lautet Feuerbachs Rechtskonzept demnach: Die Vernunft handelt durch das Recht, dergestalt, dass sie formale Voraussetzungen für vernunftgemäßes freies Handeln positiv als Handlungsmöglichkeiten fasst und durch deren grundlegende Bedeutung für die »Erreichung des höchsten Zwecks« rechtfertigt.

VII. Feuerbachs Stichwort von der »Realisirung« einer »Vernunftform« durch Freiheit führt uns endlich zurück zu Schellings ND. Wohl Anfang 1796 entstanden 71 , erscheint diese Schrift in zwei Teilen 1796 und 1797 im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 72 (ab 1795 herausgegeben von F. I. Niethammer, später gemeinsam von Niethammer und J. G. Fichte). Nimmt man Schellings Abschnittsüberschriften als strukturierende Rubriken, so gliedert sich die ND wie folgt 73 : 1. Deduction der Rechtswissenschaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes (§§ 1–75) 2. Analyse des obersten Grundsatzes, und Deduction der ursprünglichen Rechte (§§ 76–163) [Übergang und Vorbemerkung; §§ 76 f.] Ebd. Inwiefern diese Position einen Fortschritt gegenüber dem von Feuerbach festgestellten Dilemma der bisherigen Naturrechtslehre darstellt, wird wie folgt erklärt: Statt daß in den andern das Sittengesetz als Grund des Daseins der Rechte erklärt wird, wird hier das Recht von einem besondern Vermögen als deren Quelle abgeleitet. Statt daß nach den andern das Recht in eine bloße Negation gesetzt wurde, wird es hier in etwas reales, in ein durch Vernunft positiv bestimmtes Vermögen gesetzt. Während aus den andern Bestimmungen, die das Recht in ein bloßes Erlaubtsein setzen, die Vernunftmäßigkeit des Zwanges gegen vernünftige Wesen gar nicht gefolgert werden konnte, wird hier, in wieferne das Recht als eine durch Vernunft sanctionirte Freiheit gedacht wird, die Möglichkeit des Zwangs in dem Begriffe des Rechts selbst mit befaßt, und dadurch, daß Rechte als Bedingungen des Sittengesetzes erklärt werden, der Grund seines Daseins zugleich mit dem Grund der Rechte erkannt« (a. a. O., 161 f.). 71 So Osten (1969), 16. Vgl. auch die diesbezüglichen Einschätzungen in Tilliette (2004). 72 Verlagsort ist Neustrelitz, 1795 ff. 73 Vgl. Jacobs (1982), 136. 70

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A) Klärung der Materie und der Form des rechtlichen Dürfens (§§ 78–95) B) aa) Recht, im Gegensatz gegen allgemeinen Willen (§§ 96–109) bb) Recht, im Gegensatz gegen individuellen Willen (§§ 110– 128) cc) Recht im Gegensatz gegen Willen überhaupt (§§ 129–163) Schon diese knappe Übersicht lässt die philosophischen Hauptanliegen erkennen, die Schelling hier umtreiben: Erwiesen bzw. geklärt werden sollen (1) die Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft (vor allem gegenüber der Moral- und Sittenlehre), (2) die Existenz naturhaft-ursprünglicher Rechte, (3) das Wesen des Rechts als Dürfen sowie (4) mögliche Kollisionsszenarien des Rechts mit den verschiedenen Willenssphären. Vor diesem Hintergrund erscheint Schellings Schrift als Beitrag zu mindestens vier Diskursen: (1) zur Debatte über die Unterscheidbarkeit von »Recht« im strengen Sinn von »Rechtsethik« oder, allgemeiner, »Sittlichkeit«; (2) zur Frage der Begründung von naturhaft-ursprünglichen Rechten (natürliche »Menschenrechte« – unabhängig von Bürgerrechten und anderen staatlich definierten Rechtspositionen); (3) zur Konturierung des Rechtsbegriffs und seines Wesenskerns; und schließlich (4) zur durch Rousseaus Contrat Social verschärften Frage nach der Vermittelbarkeit von Einzelwillen und volonté générale, die Schelling indes um das Szenario einer Kollision von »Recht« und »Wille überhaupt« originell erweitert. Näherhin betrachtet hat Schellings ND ein doppeltes Grundthema und ein dreifaches Grundziel: Passend zu Schellings Sicht, das »ganze Geschäft der theoretischen und praktischen Philosophie« sei »nichts als Lösung des Widerstreits zwischen reinen und empirisch-bedingten Ich« 74 , ist das doppelte Grundthema der ND die Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der »Welt der Erscheinungen«. Dabei meint »Selbstbestimmung« hier keineswegs nur – wie bei Kant – ursprüngliche Willensfreiheit und Selbstgesetzgebung des reinen Willens. Genauerhin meint sie eine das freie Selbst in »freyer That« verwirklichende »Causalität der Freiheit« im Blick auf Objekte. Es geht entscheidend um eine »physische Causalität«, die »doch ihrem Princip nach autonomisch, d. h. durch kein Naturgesetz erreichbar« ist (ND 74

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Vgl. dazu Schelling, SW I/1, 176 und Osten (1969), 6.

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§ 8). Schelling nennt solche »Causalität«, die Autonomie und Heteronomie in sich vereinigen soll, »Leben« – verstanden als »Autonomie in der Erscheinung« und »Schema der Freiheit, insofern sie in der Natur sich offenbart« (ND § 9). Vor diesem Hintergrund denkt Schelling die Herrschaft des Ich in der Welt der Erscheinungen weniger als kopernikanisch gewendete Erkenntnissubjektivität, sondern präzis als ein »die Natur nach moralischen Gesetzen regieren« (ebd.) 75 . Das dreifache Grundziel der ND ist ebenfalls schnell skizziert: Die geschilderte Selbstbestimmung und Herrschaft des absoluten menschlichen Ich in der »Welt der Erscheinungen« soll (1) als Naturordnung begrifflich hergeleitet, (2) in ihrer Geltung begründet und (3) auf ihre Grundaporie hin durchsichtig gemacht werden. Letztlich geht es darum, »NaturRecht« (so die prägnante Schreibweise in einem Teil des Erstdrucks der ND 76 ) sowohl als wirkliche als auch als bloße Natur(rechts)ordnung zu erweisen. Und dies durchaus im Sinne einer kritischen Rechtsphilosophie, nicht mehr im Horizont der alten materialethischen Naturrechtslehre. Ihr Herleitungsziel verfolgt die ND am Leitfaden einer Theorie »unveränderlichen Selbstseins.« Diese geht von einem existentiellen Imperativ der Freiheit aus, der Selbstsein als Selbstwerdung und insofern Freisein für das menschliche Ich verbindlich macht. Verwirklicht wird diese Forderung dadurch, dass »das absolute Seyn, das in jedem Dasein sich offenbart, als identisch mit mir selbst, mit dem Letzten, Unveränderlichen in mir« gedacht wird, dergestalt, dass meine selbstbestimmte Subjektivität gegen jedes Umschlagen in fremdbestimmtes Objektsein grundsätzlich gesichert werden kann. Entscheidend hierfür ist, dass das Ich aufhört, selbst Erscheinung (und also fremdbestimmbar) zu sein. Es soll konsequent danach streben, ein Wesen an sich zu werden, das nur von sich selbst abhängig und durch kein fremdes Gesetz bestimmbar ist. Konkret muss das Ich eine scharfe kategoriale Unterscheidung treffen und wahren zwischen sich als dem absoluten, unveränderlichen Subjekt und dem, was Objekt werden kann. Ist dies erreicht, so »kündige ich mich an, als ein Wesen, das alles widerstre-

Vgl. auch ND § 7: »Ich herrsche über die Welt der Objecte; auch in ihr offenbart sich keine andre, als meine Causalität. Ich kündige mich an, als Herrn der Natur, und fodere, daß sie durch das Gesetz meines Willens schlechthin bestimmt sei.« 76 Vgl. erläuternd zum redaktionell-verlagstechnischen Hintergrund dieser Schreibweise Jacobs (1982), 117. 75

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bende bestimmt, selbst aber durch nichts bestimmbar ist« (ND § 6). Meine »Freiheit weist jedes Object in die Schranken der Erscheinung zurück, und schreibt ihm eben damit Gesetze vor, über die es nicht treten darf. […] alles, was nicht dieses Selbst ist – alles was Object werden kann – ist heteronomisch, ist Erscheinung für mich. Die ganze Welt ist mein moralisches Eigenthum.« (ND § 7) Und dies gilt für Schelling als natürliches »Grundrecht« jedes menschlichen Individuums, gleichsam als Grundrecht auf Natur. Die Geltungsbegründung dieser Position versucht die ND anhand der These einer für alle moralischen Wesen unbedingt geltenden Forderung individueller Freiheitswahrung: »Ich kann nicht aufhören meine Freiheit zu behaupten, so lange die Foderung: Strebe nach Unbedingtheit! noch nicht erfüllt ist. […] Also ist die Individualität meines Willens selbst durch jene höchste Foderung der praktischen Vernunft sanctionirt. […] Jedes moralische Wesen – soll nicht, aber muß – Individuum bleiben, so lange es noch jene Foderung erfüllen soll«. (ND § 23 f.) Dieses für alle moralischen Wesen unbedingt geltende »nicht sollen, aber müssen« deutet Schelling als Forderung, die in ethischen Kategorien nicht darstellbar ist. Denn Ethik macht das »allgemeine Wollen aller moralischen Wesen« als Regulativ und Korrektiv des »empirische[n] Wollen[s] jedes einzelnen Individuums« geltend (ND § 30).

VIII. Wir halten fest: Für Schelling sind Ethik und Moral zwar aufeinander bezogen. Sie treten aber auch spezifisch auseinander: »Die Moral überhaupt stellt ein Gebot auf, das sich nur ans Individuum wendet, und nichts als die absolute Sicherheit des Individuums fodert: die Ethik, ein Gebot, das ein Reich moralischer Wesen voraussetzt, und die Selbstheit aller Individuen durch die Forderung, die sie ans Individuum macht, sichert.« (ND § 31) Folglich enthält das Gebot der Ethik nicht den Ausdruck des individuellen, sondern den Ausdruck des allgemeinen Willens. Dies jedoch gerade so, dass die Bedingtheit und Abhängigkeit des ethischen Gebots von dem »höhern Gebot der Moral«, vom Imperativ »Sei!« deutlich wird (ND § 32 f.). Genauerhin stellt die Ethik »nur deßwegen den allgemeinen Willen als Gesetz auf, um durch den allgemeinen Willen den individuellen zu sichern. Nicht weil ich mich dem all132

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gemeinen Willen unterwerfe, mache ich Anspruch auf Individualität, sondern, weil und insofern ich Anspruch auf Individualität mache, unterwerfe ich mich dem allgemeinen Willen. Der allgemeine Wille ist bedingt durch den individuellen, nicht der individuelle durch den allgemeinen.« (ND § 33) Wenn dabei gilt, dass der allgemeine Willen durch die »Form des individuellen Willens (Freiheit) überhaupt« bestimmt wird, so dass »von aller Materie des Wollens« abgesehen wird, dann gilt auch: »[…] die Materie des allgemeinen Willens [ist] bestimmt durch die Form des individuellen Willens, nicht umgekehrt« (ND § 34). Für Schelling heißt dies: Die Form des allgemeinen Willens ist »Freiheit überhaupt«, deren Materie hingegen ist die »Moralität«. Demnach wäre laut ND § 35 »die Freiheit nicht abhängig von der Moralität, sondern die Moralität von der Freiheit. Nicht weil und insofern ich moralisch bin, bin ich frei, sondern weil und insofern ich frei sein will, soll ich moralisch sein.« Auf dieser Grundlage entwickelt Schellings ND zunächst ihren Rechtsbegriff: »Das, was theoretisch-möglich ist, kann ich; was praktisch-möglich ist, darf ich. Was ich darf, heißt nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch recht überhaupt, und die praktische Möglichkeit selbst, wodurch etwas recht wird, heißt das Recht überhaupt. Recht nämlich ist das, was zwar nicht nothwendig praktisch-wirklich ist, aber eben deßwegen auch nicht unter der bestimmten Bedingung eines Gebotes steht.« (ND § 65) In Fortführung dieser Grundlinien wird dann die Eigenart der Rechtswissenschaft bestimmt: »Die oben problematisch-angenommene Wissenschaft also, welche mich lehrt, die Individualität des Willens zu behaupten, könnte allein die Wissenschaft des Rechts überhaupt sein, und der oberste Grundsatz aller Rechtsphilosophie wäre dieser: Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte, oder: Ich habe ein Recht zu allem, was der Form des Willens überhaupt gemäß ist, (ohne welches der Wille aufhören müßte, Wille zu sein).« (ND § 68) Und weiter: »Die Wissenschaft des Rechts, (welche lange von der Moral gar nicht getrennt, und bis jetzt noch in Rücksicht auf das Verhältniß zu dieser Wissenschaft völlig unbestimmt war) behauptet sich demnach einzig und allein im Gegensatz gegen die Wissenschaft der Pflicht.« (ND § 69) Bemerkenswerter noch als diese Zuordnung von Moral und Freiheit im Namen der Abgrenzung von Rechtswissenschaft und Pflichtwissenschaft ist das Schlusstheorem von Schellings ND. Es lautet: »NaA

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turRecht« (als das von der Vernunft sanktionierte moralisch-praktische Vermögen individuellen Seins) führt »in seiner Consequenz, (insofern es zum ZwangsRecht wird)«, notwendig zu seiner Selbstzerstörung, »d. h. es hebt alles Recht auf« 77 . Denn »das Letzte, dem es die Erhaltung des Rechts anvertraut, ist physische Uebermacht« 78 . Insofern führt »das NaturRecht nothwendig auf ein neues Problem: die physische Macht des Individuums mit der moralischen des Rechts identisch zu machen, oder auf das Problem eines Zustandes, in dem auf der Seite des Rechts immer auch die physische Gewalt ist.« 79 Dieses Problem lösen zu wollen, führt aber »in das Gebiet einer neuen Wissenschaft« 80 – und bringt Naturrechtstheorie als Ursprungstheorie des subjektiven Rechts an ihre Grenzen.

IX. Die zitierte »neue Wissenschaft« hat Schelling offenkundig nie selbst in Angriff genommen. Insofern bleibt die ND in Schellings Gesamtwerk merkwürdig erratisch. Werkgeschichtlich gesehen darf man die ND wohl als einen Versuch deuten, die These vom Ich als Prinzip der Philosophie naturrechtstheoretisch auszubuchstabieren. Eine »neue« Deduktion des Naturrechts ist Schellings ND vor allem formal-architektonisch, als Herleitung eines nicht bloß naturgemäß gegebenen, sondern emphatisch subjektiven Rechts. Einen zweifellos »neuen« Deduktionsansatz entwirft sie insoweit, als sie (anders als bei einem »Deduktion« genannten Herleitungs- und Rechtfertigungsverfahren klassischerweise erwartbar) nicht einen allgemeinen Begriff oder Satz als Ausgangspunkt und Ableitungsgrundlage aller folgenden Sätze nimmt. Vielmehr setzt die ND eine Einsicht Schellings um, über die dieser spätestens seit dem Frühjahr 1795 verfügt: Die Philosophie ist nicht auf Sätze, sondern auf Forderungen gegründet 81 – die theoretiND § 162. Ebd. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Vgl. Frank (1997), 426 ff. In dieser Haltung Schellings spiegelt sich wohl die Ablehnung der »Grundsatzphilosophie« Reinholds durch den Jenenser philosophischen Kreis um Niethammer und Diez, zu dem Schelling und – enger noch – Hölderlin Kontakt unterhalten. 77 78

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sche Philosophie ebenso wie die praktische. Entsprechend hebt die ND, wie eingangs zitiert, mit einer (quasi grundsatzhaften) Forderung an: »Was ich theoretisch nicht realisiren kann, soll ich praktisch realisiren.« (ND § 1) Eine breite Rezeption hat dieses Schellingsche Jugendwerk nie erfahren. Dabei schiene es durchaus reizvoll, die ND neu und gründlich zu lesen als eigenständigen Beitrag zur natur- und vernunftrechtlichen Debatte um ursprüngliche Rechte des Menschen kraft seines Ich-Seins. Indes steht eine solche relecture noch aus.

Literaturverzeichnis 1.

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2.

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Hegel und Heidegger

Der folgende Aufsatz hat drei Teile. Im ersten soll an den Stand der Theoriebildung erinnert werden, auf dem Hegels Philosophieren einsetzt. Dabei werde ich mich auf einige Aspekte der Theorien Kants, Fichtes und Schellings beschränken, um mit Bezug auf sie im zweiten Teil Hegels metaphysikkritisches Programm zu umreißen, wie er es in der »Phänomenologie des Geistes« (PhG) konzipiert und dann in seinem Gesamtsystem durchzuführen versucht hat. Im dritten Teil werde ich Heideggers philosophischen Ansatz zum Hegelschen in Beziehung zu setzen versuchen.

I.

Bemerkungen zur theoretischen Ausgangslage

1.

Kant

Aristoteles lehrt, dass die Grundbestimmungen des Seienden von den Formen der Prädikation, den schêmata tês katêgorias, bezeichnet werden 1 . Die Prädikationen »ist ein Pferd« und »ist ein Mensch« bezeichnen ihrer Form nach die Substanz; die Prädikationen »ist weiß« und »ist gebildet« bezeichnen ihrer Form nach die Qualität, und so weiter für zirka zehn Kategorien. Kant rügt das Botanisierende dieses Verfahrens: Aristoteles habe die Kategorien aufgerafft, »wie sie ihm aufstießen« 2 , und setzt ein neues, prinzipiengeleitetes Verfahren an seine Stelle. Mit diesem Coup überbietet er nicht nur Aristoteles, sondern auch Hume. Hume hatte gezeigt, dass sich die Begriffe der Substanz und der Kausalität nicht empirisch legitimieren lassen, und daraus gefolgert, dass sie Produkte 1 2

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der Einbildungskraft und der Gewohnheit seien. Kant hingegen will sie aus einem Wissensgebiet herleiten, das so fest und sicher steht wie die Mathematik: aus der Logik. Diese wiederum hatte Aristoteles zum System der Syllogistik entwickelt. Man braucht nun, so Kants Gedanke, nur die syllogistisch relevanten Denkinhalte, die durch logische Partikeln wie »alle«, »einige«, »ist«, »nicht«, »wenn …, dann …« ausgedrückt werden, in eine andere Inhaltsart zu transponieren, in die Art der Begriffsinhalte, und schon sind die Grundbegriffe des reinen Verstandes gewonnen. Nun, ganz so einfach ist diese Transposition – die metaphysische Deduktion der Kategorien – beileibe nicht, aber doch einfach gemessen an dem, was noch aussteht. Denn auch wenn die Kategorien logische Inhalte in Form von Termini sind, so ist damit ihre objektive Gültigkeit noch nicht gesichert. Gewiss, wir müssen, und dies nicht etwa unter der Macht der Gewohnheit (wie Hume wähnte), sondern unter dem holden Zwang des reinen Denkens, das Reale konzipieren als eine Pluralität von Substanzen, die kausal interagieren. Aber der holde Zwang des Denkens ist eines und die Realität womöglich etwas ganz anderes. Hume hat ja recht darin, dass man die kategorialen Bestimmungen den Dingen nicht in sinnlicher Rezeptivität entnehmen kann. Da andererseits der Verstand keine Objekte anschaut, werden wir seine reinen Begriffe also in die Dinge hineinprojizieren müssen, und es fragt sich, mit welchem Recht. Kant will um dieser Frage willen in einer transzendentalen Deduktion zeigen, dass wir mit den Kategorien nur eben das in die Dinge hineinlesen, was in allen raumzeitlichen Gegenständen notwendig vorkommt, auch wenn es nicht sinnlich wahrnehmbar ist. Alles Raumzeitliche hat sich – in dieser These besteht Kants kopernikanische Wende – immer schon von sich aus nach unseren Verstandesbegriffen gerichtet, so dass wir es keineswegs, wie Nietzsche und Adorno argwöhnten, abschneiden und zurichten, wenn wir es unter unsere Begriffe subsumieren. 3 Hegel hat diese Pointe nicht gesehen. Er lässt Kant lehren, dass die Kategorien unsere subjektive Zutat zum großen Kuchen der Realität sind; sein Kant ist, wie er es nennt, Vertreter eines subjektiven Idealismus. Der historische Kant ist das meines Erachtens nicht, auch wenn er Vgl. Nietzsche, Werke III, ed. Schlechta, S. 476; Adorno, Negative Dialektik, Schriften 6, Ffm 1973, S. 21.

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Hegel und Heidegger

bisweilen so redet. Doch Fragen der Kant-Exegese wollen wir beiseite lassen und nur festhalten, dass Hegel Kants transzendentale Deduktion für ungenügend hielt.

2.

Fichte

Auch schon mit der metaphysischen Deduktion war Hegel unzufrieden. Den Vorwurf des Botanisierens, den Kant gegen Aristoteles erhoben hatte, wendet er kritisch gegen Kant. Für diese Kritik hatte Fichte den Boden bereitet – mit seinem Anspruch, in seiner »Wissenschaftslehre« die Logik zu begründen, aus deren Formenvielfalt Kant die Kategorien ja geschöpft hatte. Dieser Anspruch mag uns aberwitzig anmuten; denn die Logik scheint einer Begründung weder fähig noch bedürftig zu sein. Doch bei näherem Zusehen zeigt sie sich von Antinomien tangiert, die das Bedürfnis einer Begründung der klassischen, zweiwertigen Logik durchaus aufkommen lassen (man denke etwa an die Antinomie vom Lügner: »Was ich hiermit sage, ist nicht wahr«). 4 Es wäre also schon viel gewonnen, wenn unter hypothetischer Anwendung der klassischen Logik sich diese als ein konsistentes und für die Praxis alternativloses System von Grundüberzeugungen bewähren ließe. Fichte hat um dieses Zieles willen die logischen Grundsätze und die Kategorien systematisch entwickelt, und Hegel rühmt sein Verfahren als wahrhaft spekulativ. Doch ungeachtet dieses Beifalls sieht Hegel die Seite der transzendentalen Deduktion bei Fichte nach wie vor im Argen liegen. Auch Fichte bleibt laut Hegel einem subjektiven Idealismus verhaftet, wofür im übrigen ja schon zu sprechen scheint, dass sich seine Philosophie ausdrücklich als Theorie des Wissens versteht, nicht als Theorie des ansichseienden Realen. Aber Fichtes Wissenschaftslehre ist als subjektiver Idealismus unter Wert etikettiert. Das Wissen, das ihren Gegenstand bildet, ist nicht das Wissen »im Kopf«, sondern das »Wissen« draußen bei den Dingen: ist deren Phänomenalität, durch die sie uns in Wahrnehmung, Erfahrung und Theoriebildung zugänglich sind. Jenseits ihrer epistemischen Vgl. zu diesem weitgespannten Thema Mike Stange, Antinomie und Freiheit. Zum Projekt einer Begründung der Logik im Anschluß an Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, Diss. Tübingen 2007.

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Zugänglichkeit bleibt von den Dingen gar nichts Wohlbestimmtes übrig; die Fichtesche Wissenschaftslehre duldet also keine verborgenen Parameter; sie unterscheidet nur zwischen der Phänomenalität des Realen und dem Realen selber.

3.

Schelling

Dem Realismus zufolge ist das Reale unabhängig von unseren Meinungen über es. Dann aber könnten unsere besterwogenen Meinungen allesamt falsch sein. So führt der uneingeschränkte Realismus in die philosophische Skepsis. Wenn also das Reale epistemisch zugänglich sein soll, muss es als wesentlich bezogen auf unsere Meinungen und als von ihnen abhängig konzipiert werden. Doch die Meinungsabhängigkeit des Realen darf andererseits sowenig absolut gesetzt werden, wie zuvor seine Unabhängigkeit; sonst nämlich droht es zu einem bloß subjektiven Vorstellungsinhalt zu regredieren. Unerkennbares Ding an sich oder subjektiver Vorstellungsinhalt – aus dieser unerfreulichen Alternative gilt es einen Ausweg zu finden. Den Ausweg verspricht die Annahme einer ursprünglichen Einheit des Objektiven und des Subjektiven, die so konzipiert werden müsste, dass sie als Subjekt-Objekt-Identität auch unmittelbar epistemisch zugänglich wäre. Unmittelbar zugänglich ist, was angeschaut werden kann. Die Subjekt-Objekt-Identität müsste also angeschaut werden, und zwar anders als die endlichen wahrnehmbaren Gehalte nicht in sinnlicher, sondern in intellektueller Anschauung. Dieses Desiderat sieht Hegel in der Identitätsphilosophie seines Freundes Schelling erfüllt. Kant hatte gelehrt, dass unser Verstand diskursiv ist und dass wir Gegenstände nicht intellektuell anschauen können. Fichte hatte hinzugefügt, dass nichtsdestoweniger die Vernunft sich in einem Akt intellektueller Selbstanschauung ursprünglich konstituiert. In diesen konstitutiven Akt wird bei Schelling auch das Andere der Vernunft, das ansichseiende Reale, eingeschlossen. Das Reale existiert also nicht nur an sich, sondern kraft intellektueller Selbstanschauung auch für sich. Wenn aber mit diesem Ansatz der subjektive Idealismus überwunden und die wahre Philosophie in nuce aufgetreten ist, so besteht nun das methodische Problem, die Selbstanschauung des Absoluten theoretisch fruchtbar zu machen. Natürlich kann ein Philosoph ver140

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Hegel und Heidegger

sichern, dass er, als Prokurist des Absoluten, zu besagter Anschauung in der Lage sei, und dann alles Mögliche darüber berichten. Aber solange die wahre Philosophie in einer teils unartikulierten, teils thetisch-narrativen Form auftritt, ist sie, mit Hegel zu reden, ein ebenso trockenes Versichern wie das der Konkurrenz. 5 Die Wahrheit bedarf der wissenschaftlichen, diskursiven, begründenden Darstellung. Dazu aber müsste die intellektuelle Anschauung selber diskursiv werden können. In der Platonischen Philosophie wird zum einen eine geistige Schau, noêsis, der Ideen angenommen; andererseits sollen die Ideeninhalte definierbar, also diskursiv artikulierbar sein, und zwar in der besonderen Diskursform, die Platon die dialektische nennt. Hegel geht noch einen Schritt weiter, indem er die geistige Schau und die dialektische Artikulation in eins fallen lässt. Die Hegelsche Dialektik ist die Vollzugsform der intellektuellen Selbstanschauung des Realen, und diese Synthesis von Anschauung und Diskurs nennt Hegel Spekulation. Sein Programm also ist es, die Grundevidenz, auf die Schellings Identitätsphilosophie sich beruft, ohne sie argumentativ artikulieren zu können, in die ihr angemessene diskursive Vollzugsform zu bringen.

II.

Hegels Programm in der »Phnomenologie des Geistes«

Freilich wäre es unangemessen, den Dogmatismus der Identitätsphilosophie durch einen Dogmatismus der dialektischen Methode heilen zu wollen. Denn aus der Diagnose, Kant und Fichte lehrten einen subjektiven Idealismus und Schelling berufe sich auf eine Evidenz, die er nicht auszuarbeiten verstehe, könnte man ja auch ganz andere Konsequenzen ziehen als Hegel. Man könnte etwa mit Friedrich Heinrich Jacobi schließen, dass die Philosophie unvermögend ist, das Reale zu erkennen, und dann entweder jenen Salto mortale in den Gottesglauben vollziehen, den Lessing sich von Jacobi zwar gerne vorturnen lassen, aber nicht nachahmen mochte 6 – oder zum Skeptiker werden. Also muss die Dialektik selber erst in skepsisresistenter Weise entwickelt PhG 71. Jacobi, Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn, Werke IV,1 Leipzig 1819, S. 59.

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und ausgewiesen werden, zusammen mit den Gehalten, die mittels ihrer zur Darstellung kommen sollen. Wenn hier von der Methode der PhG die Rede ist, ist daher etwas ganz Schlichtes und Elementares gemeint: ein Verfahren, dem auch der Skeptiker seine Zustimmung gibt. Hegel schlägt ihm eine Prüfung unserer Wissensansprüche vor oder vielmehr unseres allgemeinen Anspruchs, dass wir in unseren Bewusstseinszuständen auf eine objektive Realität bezogen sind. Diesen Anspruch erheben wir jeweils in einer bestimmten kategorialen Form, deren Explikation traditionell der Metaphysik oblag, die freilich keine Einigkeit über die kategoriale Form des Realen erzielen konnte. Aristoteles etwa hielt das Reale für eine Pluralität endlicher Substanzen, Spinoza für die singuläre unendliche Substanz, um zwei Beispiele konfligierender Ontologien zu erwähnen. Hegel will nun aber keine Blütenlese kategorialer Konzeptionen aus der Philosophiegeschichte betreiben, sondern jene Konzeptionen systematisch der Reihe nach herleiten, bis keine mehr übrig ist. Dazu schlägt er folgendes Verfahren vor. Man suche zunächst eine alternativlos einfache kategoriale Konzeption des Realen, kurz: ein alternativlos einfaches Ansich. Was also könnte die bunte Szenerie, auf die wir uns im Wahrnehmen und Denken bezogen glauben, im einfachsten Falle sein? Hegels Auskunft lautet gut nominalistisch: eine Mannigfaltigkeit von distinkten Einzelnen überhaupt. Der nächste Schritt ist eine Reflexion auf die allgemeine Struktur unseres Bewusstseins. In unseren Wissensansprüchen unterstellen wir, dass das Reale uns epistemisch zugänglich, dass also das Objektive und das Meinungsunabhängige zugleich meinungsbezogen ist. Man könnte diese abstrakte Bewusstseinsstruktur also auch den Gegensatz des Bewusstseins, den Gegensatz eines Ansich und eines Für-es (Für-das-Bewusstsein) nennen. In Hegels Diktion, wenn auch gespickt mit meinen Erläuterungen, liest sich das so: [Das Bewußtsein qua Subjekt] unterscheidet […] etwas von sich [das Objekt], worauf es sich zugleich [denkend und erkennend] bezieht; oder wie dies ausgedrückt wird: es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte [vom Objekt bestimmte, d. h. abhängige, kovariable] Seite dieses Beziehens oder des Seins von etwas für ein Bewußtsein ist das Wissen [bzw., im Nichterfolgsfall, der bloße Wissensanspruch]. Von diesem Sein für ein Anderes [nämlich dem Sein des Objekts für das Bewußtsein, seiner epistemischen Zugänglichkeit] unterscheiden wir aber das Ansichsein; das auf das Wissen Bezogene wird ebenso von 142

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ihm unterschieden und gesetzt als seiend auch außer dieser Beziehung. Die Seite dieses Ansich heißt Wahrheit [oder Realität; mit »Wahrheit« bezeichnen wir ja gewöhnlich eine Eigenschaft unserer Aussagen und Meinungen; die Realität ist sozusagen die Wahrheit in rebus]. 7 Eingekleidet in den Fachjargon klingt dieser Satz kompliziert und voraussetzungsreich; aber die Komplexion dient nur dem Zweck, Voraussetzungen abzubauen und etwas Elementares festzuhalten, nämlich, dass unser Bewusstsein ein Ansich des Realen entwirft, dem das Für-es entsprechen soll. Das Ansich ist eine kategoriale Konzeption des Realen in seinem Ansichsein, eine implizite Proto-Ontologie; das Füres ist eine kategoriale Konzeption des Realen in seiner epistemischen Zugänglichkeit, eine implizite Proto-Epistemologie. Doch ungeachtet dieser Rollendifferenz soll das Ansich dem Für-es seine kategoriale Form aufprägen. Denn bestünde das Reale an sich aus vielen distinkten Einzelnen, wäre aber für das Bewusstsein eine Pluralität von Universalien, so wäre das betreffende Bewusstsein falsch. In die abstrakte Bewusstseinsstruktur wird also eine kategoriale Konzeption als Ansich eingegeben, und die Bewusstseinsstruktur gibt eine kategoriale Konzeption als zugehöriges Für-es aus, die sachlich mit dem Ansich übereinstimmen soll. Man braucht, das ist Hegels Pointe, diese Proto-Ontologie nicht von außen zu bewerten, durch Vergleich mit einer dogmatisch vorausgesetzten Ontologie. Dann würde der Skeptiker zu Recht protestieren. Vielmehr kann eine Bewusstseinsform sich selber zumindest falsifizieren, wenn auch nicht ohne weiteres verifizieren. Denn das Bewusstsein ist definiert durch den Anspruch, dass das Ansich das Für-es bestimmt, und zwar so bestimmt, dass in beiden Fällen dieselbe kategoriale Form vorliegt. Im ersten Kapitel der PhG zeigt Hegel nun, dass die abstrakte Bewusstseinsstruktur, wenn man das nominalistische Ansich als Startontologie in sie eingibt, ein ganz entgegengesetztes Für-es erzeugt: Wenn das Reale eine Pluralität distinkter Einzelner wäre, so wäre es zugänglich als eine Pluralität wahrnehmbarer Universalien. Diese erste, scheiternde Bewusstseinsform nennt Hegel die sinnliche Gewissheit. Doch wie soll es nun weitergehen im Prüfverfahren? Immanent, vom Standpunkt der sinnlichen Gewissheit aus betrachtet, ist ihr Für-es durch ihr Ansich diskreditiert. Von unserem äußeren Standpunkt aus aber ist dadurch die sinnliche Gewissheit als 7

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solche, ist also auch ihr Ansich diskreditiert, das ja die Grundlage der Erzeugung des abweichenden Für-es war. Insofern bedarf es eines neuen Ansich als eines neuen Maßstabs für ein neues Für-es. Hegel charakterisiert die Situation nach vollzogenem Prüfungsakt wie folgt: Es wird hiermit dem Bewusstsein, dass dasjenige, was ihm vorher das Ansich war, nicht an sich oder dass es nur für es an sich war. Indem es also an seinem Gegenstande sein Wissen diesem nicht entsprechend findet, hält auch der Gegenstand selbst nicht aus; oder der Maßstab der Prüfung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er sein sollte, in der Prüfung nicht besteht; und die Prüfung ist nicht nur eine Prüfung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabs. 8 Das Prüfungsverfahren funktioniert demnach so: Wir lassen das Bewusstsein ein Ansich (eine Ontologie) wählen und sehen zu, welches Für-es (welche Epistemologie) dadurch bestimmt wird. Weicht das Füres kategorial vom Ansich ab, so ist die betreffende Bewusstseinsform falsifiziert, und das Bewusstsein muss sich korrigieren. Wir lassen es also ein neues Ansich wählen. Doch woher soll es ohne Botanisieren ein neues Ansich bekommen? Nun, es hat ein abweichendes Für-es erzeugt und kann eben dieses als sein nächstes Ansich ausprobieren. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von einer »Umkehrung des Bewußtseins« 9 ; gemeint ist ein Rollentausch, bei dem das alte Für-es zum neuen Ansich wird. So war unsere Ersteingabe in die Bewusstseinsstruktur eine Ontologie distinkter Einzelner, und die Ausgabe war eine Epistemologie allgemeiner Züge. In einem neuen Versuch muss daher eine Ontologie allgemeiner Züge in die Bewusstseinsstruktur eingegeben werden, die eine neue Epistemologie liefern wird. Hegel erwartet von diesem Verfahren, dass sich das Bewusstsein stets aufs neue falsifizieren und systematisch alle möglichen Ontologien und Epistemologien erzeugen und verwerfen wird, bis es schließlich einen Fixpunkt erreicht, an dem Ausgabe und Eingabe identisch sind. Diesen Fixpunkt nennt Hegel das absolute Wissen. Gesetzt, es kommt so, wie Hegel ankündigt, und der Eingabe/Ausgabe-Prozess des Bewusstseins erreicht einen Fixpunkt, so bleibt dennoch Raum für zwei skeptische Einwürfe. Erstens könnte das Prüfungsverfahren einige kategoriale Formen auslassen, und zweitens wäre auch ein Fixpunkt als Bewusstseinsform nicht verifiziert, sondern 8 9

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lediglich nicht falsifiziert. Ersteres ist das Problem der Vollständigkeit, letzteres das Problem der Verifikation. Das Problem der Vollständigkeit dürfte seine Dringlichkeit verlieren, wenn im Verlauf der Prüfung des Bewusstseins alle historisch aufgetretenen kategorialen Konzeptionen des Realen ihren Platz finden bis hin zur damals neuesten Philosophie, der Identitätsphilosophie Schellings, deren Standpunkt im Fixpunkt erreicht werden müsste. Die Darstellung der sukzessiven Selbstkorrektur des Bewusstseins muss sich also als eine idealtypische Rekonstruktion der Geistesgeschichte erweisen, und Hegel glaubt, dass sie dies tut. Das zweite Problem, das der Verifikation, besteht darin, dass mit der internen Übereinstimmung des Für-es und des Ansich im Fixpunkt nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung der Wahrheit erfüllt ist. Auch das letzte Ansich ist und bleibt eine kategoriale Konzeption, die vom Bewusstsein entworfen wird. Und wie soll man herausfinden, ob der Entwurf objektiv richtig ist? Müssten wir dazu nicht unabhängig wissen, was das wahrhafte Ansich ist? Darauf antwortet Hegel, dass der Prozess des Bewusstseins der sich vollbringende Skeptizismus ist. 10 Dies gilt in zweifacher Hinsicht. Zum einen entzündet sich an jeder neuen Bewusstseinsform stets wieder ein spezifischer Zweifel, der über sie hinaustreibt. Insofern bettet die PhG den Skeptizismus ein. Allerdings muss noch dafür gesorgt werden, dass sich am Fixpunkt die Skepsis nicht abermals entzünden kann. (Darauf wird zurückzukommen sein.) Zum anderen wird der Standpunkt des Skeptizismus selbst als eine bestimmte Bewusstseinsform im Prozess des Bewusstseins erreicht, kritisiert und überwunden. 11 Was aber ist nun der Gehalt des in Aussicht gestellten Fixpunktes? Rekapitulieren wir: Das Bewusstsein ist die Beziehung eines Ansich und eines Für-es. In diese abstrakte Struktur wird ein Ansich eingegeben, und die Struktur liefert ein Für-es, das jedoch mit dem Ansich nicht übereinstimmt. Also wird das ausgegebene Für-es umgewidmet zu einem neuen Ansich, zu dem wiederum ein Für-es ausgegeben wird – usw., bis Übereinstimmung und damit der Fixpunkt erreicht wird. Da sich das Eingabe-Ausgabe-Spiel im Nachhinein als eine idealtypische Rekonstruktion der Geschichte des Bewusstseins erweisen soll, wird 10 11

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der Fixpunkt also in Hegels eigene Zeit fallen müssen. Und so sieht es Hegel tatsächlich. Das absolute Wissen ist als philosophische Einsicht aufgetreten in der Identitätsphilosophie Schellings. Was also ist der Fixpunkt? Historisch gefragt: Was hat Schelling Spezifisches erreicht? Nun, es wurde in Teil I gesagt. Er hat das, was Hegel für den subjektiven Idealismus Kants und Fichtes hält, hinter sich gelassen und eine alles fundierende Identität von Subjekt und Objekt konzipiert, und zwar als eine absolute Identität, in der die Relata ihre Konturen verlieren, so dass nur eine unartikulierte, nichtobjektivierende intellektuelle Selbstanschauung übrig bleibt. Diese gleicht in ihrer völligen Indifferenz und Strukturlosigkeit indessen, wie Hegel andererseits spottet, der »Nacht, in der alle Kühe schwarz sind«. 12 Der Nacht muss dann aber auch, für sich genommen, der Fixpunkt des Bewusstseinsprozesses gleichen. Und so ergibt es sich, wenn wir jetzt in systematischer Perspektive nach seinem Inhalt fragen. Denn im Fixpunkt nehmen definitionsgemäß das An-sich-Sein und das Füres-Sein dieselbe kategoriale Form an, sind also intrinsisch nicht mehr unterschieden; nur ihre abstrakte Rollendifferenz soll nach wie vor bestehen. Doch dies ist ein haltloses Postulat aus der Außenperspektive des Theoretikers, während in der Binnenperspektive des Bewusstseins sein Triumph seiner Selbstauflösung gleichkommt. Denn wenn das Ansich und das Für-es sich nicht mehr unterscheiden, findet das Bewusstsein keinen Anhaltspunkt mehr für ihre Rollendifferenz; mit der Rollendifferenz kollabiert am Fixpunkt dann aber auch die Unterscheidung zwischen dem, was an sich sein soll, dem Objekt, und dem, für welches es sein soll, dem Subjekt, und damit die Bewusstseinsstruktur als solche. Insofern also wäre Schelling durch den Ausgang der PhG bestätigt. Aber natürlich wird Hegel nicht mit der Nacht endigen wollen, in der alle Kühe schwarz sind. Also muss er einen Unterschied gegenüber der Identitätsphilosophie behaupten, der die begriffliche Artikulation des absoluten Wissens betreffen wird. Wir kommen diesem Unterschied näher, wenn wir nun die Frage stellen, warum sich am Fixpunkt keine spezifische Skepsis mehr entzünden kann. Die Antwort muss lauten, dass der Fixpunkt des Prozesses keine besondere Bewusstseinsform mehr ist. Wenn das Für-es mit dem Ansich zur Deckung kommt, ist das Bewusstsein überwunden in intellek12

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tueller Selbstanschauung. Das absolute Wissen ist also die intellektuelle Selbstanschauung, unartikuliert zunächst, ein ausdehnungsloser Punkt, der die Einführung in die Wissenschaft, welche die PhG war, von ihrer Ausarbeitung abgrenzt, welche die Logik und die Realphilosophie sein werden. Wenn aber das absolute Wissen Grenzpunkt zwischen Einführung und Durchführung ist, so wird es andererseits einen Inhalt von dem her erhalten, was durch es begrenzt wird und was sich in ihm berührt. Dann aber ist es nicht nur Grenzpunkt, sondern in anderer Perspektive die Einheit aller vorangegangenen Formen des Bewusstseins und aller nachfolgenden logischen Bestimmungen. Alle Denkformen sind in ihm zu flüssigen Momenten einer prozessualen Totalität herabgesetzt. Hegel erläutert dies anhand des organischen Prozesses einer Pflanze. Deren sukzessive Formen, Knospe, Blüte, Frucht usw. unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. 13 Das wirkliche Ganze, so heißt es wenige Zeilen später, sei es selbst »zusammen mit seinem Werden«; »das nackte Resultat« hingegen sei »der Leichnam, der die Tendenz hinter sich gelassen«. 14 Hegel will also die alte Metaphysik nicht durch eine besondere neue ersetzen, sondern seine positive Metaphysik besteht darin, dass er das Spiel der konkurrierenden metaphysischen Theorien als die Natur sowohl unseres Bewusstseins wie auch des Realen anerkennt.

III. Heidegger und die Geschichte der Metaphysik Nehmen wir an, es sei Hegel gelungen, sein Programm ohne wesentliche Abstriche erfolgreich durchzuführen. Welches Bild vom Realen und unserem Zugang zu ihm würde uns seine Philosophie – seine indirekte Metaphysik auf dem Wege der vollständigen Metaphysikkritik – vermitteln? Nun, wenn das Spiel konkurrierender metaphysischer Theorien die Natur des Realen selber ist, so zeichnen diese Theorien jeweils nur 13 14

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getreulich bestimmte Einseitigkeiten des Realen nach. Das Reale selbst spielt in seinem dialektischen Prozess, welcher die Weltgeschichte ist, ein metaphysisches Spiel mit sich selber (und mit uns) und erzeugt in diesem Spiel den Reichtum der metaphysischen Formen sowohl in rebus als auch zuletzt im seiner selbst bewussten, philosophischen Denken. Mit Hegel wäre die Welt- und Denkgeschichte sich also im Grundsätzlichen durchsichtig geworden. Zwar würde auch weiterhin in einseitiger metaphysischer Theoriebildung aus dem Schatz der metaphysischen Formen geschöpft werden – und auch werden müssen, schon damit die Philosophie als Aufhebung dieser Theoriebildung nicht zum Erliegen käme und die revisionäre Metaphysik unkontrolliert doch wieder durch die Hintertür ins Denken hereinwuchern könne. Aber grundsätzlich Neues wäre von der Metaphysik nicht mehr zu erwarten; der Schatz ihrer Formen und Konzeptionen wäre ein für alle Mal in Übersicht gebracht. Einerseits scheint Heidegger dieses Hegelsche Bild ernstgenommen, andererseits sich nicht mit ihm abgefunden zu haben. Ernstgenommen hat er es insofern, als er in Hegels Philosophie den theoretischen Abschluss der Geschichte der Metaphysik erblickt, dem in Nietzsches Denken höchstens noch ein kritischer, destruktiver Schlussakkord folgen konnte. (Dass unbeschadet des Endes der Metaphysik in der Theoriebildung ihre Herrschaft außerhalb der Theorie unvermindert weitergeht als Herrschaft der Technik, bleibt davon unberührt.) Aber andererseits glaubt Heidegger weder, dass die Möglichkeiten des Denkens mit Hegel ausgeschöpft sind, noch dass sie überhaupt je in eine systematische Übersicht gebracht werden können. Zur Geschichte, auch der des Denkens, gehört der Zufall. Das lehrt zwar auch schon Hegel selber, denkt dabei aber an einen von Notwendigkeit eingehegten und gezähmten Zufall, nicht an eine selbständige geschichtliche Macht. Doch von Zufall sollte man in diesem Zusammenhang besser gar nicht reden. Was die Geschichte gestaltet, ist nach Heidegger weder die vernünftig durchdringbare Notwendigkeit noch die schiere Kontingenz, natürlich auch kein göttlicher Meisterplan, sondern ein ZuFallen oder Zuschicken aus der Geschichte des Seins, ein »Ge-Schick« also, dem wir zu »ent-sprechen« haben. Eine solche Konzeption steht jedoch in der Gefahr, eine verborgene Welt hinter der sichtbaren anzunehmen, und ipso facto eine verborgene Geschichte, die den Motor der sichtbaren bildet. Um dieser Gefahr zu begegnen, greift Heidegger auf Gedanken zurück, die früh in der 148

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Philosophiegeschichte entwickelt und früh brachgelegt oder jedenfalls entschärft worden sind, diejenigen Heraklits. In der philosophischen Überlieferung dominiert seit Platon das Parmenideische Erbe, und nur Aristoteles ist es zu verdanken, dass die Heraklitische Alternative überhaupt, wenn auch rezessiv, weiterwirken und immerhin als aufgehobene in die abschließende Ausarbeitung des eleatischen Ansatzes durch Hegel eingehen konnte. Heute wird zwar das eleatische Denken nicht mehr in Hegels opulenter Zubereitung, sondern als szientistischer und naturalistischer Schnellimbiss angeboten, dem, wollte man der Werbung glauben, alle metaphysischen Restsubstanzen entzogen sind. Aber selbst in dieser Schwundform werden sich noch Spuren der Heraklitischen Alternative nachweisen lassen (oder vielmehr kann der Naturalismus nicht umhin, solche Spuren in der Wissenschaft selber hinzunehmen, etwa die argwöhnisch beäugte Verschränkung räumlich getrennter Elementarteilchen). Für einen Philosophen wie Heidegger, der hinter die Metaphysik und ihre naturalistische Trivialisierung zurückgehen und einen anderen Anfang des Denkens – jenseits von Elea – vorbereiten möchte, lag es also nahe, in einem ersten Schritt die rezessiven Heraklitischen Aspekte der philosophischen Überlieferung freizulegen und nunmehr sie im Denken zur Dominanz zu bringen. Heidegger hat sogar Parmenides selber von Heraklit her neu gedeutet und die Identität, namentlich diejenige von Denken und Sein (to gar auto noein estin te kai einai, DK 28 B 5), im Sinne Heraklits als wesentliche Zusammengehörigkeit ausgelegt. 15 Dies nämlich ist der entscheidende Unterschied zwischen Parmenides und Heraklit, dass jener ein Denker der Identität und dieser ein Denker der wesentlichen Zusammengehörigkeit ist. Man kann die Terminologie auch variieren und Parmenides einen Denker der transparenten Identität und Heraklit einen Denker der opaken Identität nennen; und statt von wesentlicher Zusammengehörigkeit oder opaker Identität könnte man auch kurz von einem Wechselverhältnis sprechen. In einer Art Wechselverhältnis stehen die Schachfiguren zueinander, weil jede von ihnen ihr Wesen, ihren Wert im Schachspiel, dem Wesen jeder anderen verdankt. Sie bilden ein holistisches System, kon»Der Satz der Identität«, III. Freiburger Vortrag 1957, in: Heidegger, Gesamtausgabe 79, Ffm 1994, S. 115–129.

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stituiert durch die Schachregeln. Doch ihr Wechselverhältnis ist ein uneigentliches, wie auch die Substantialität der Artefakte eine uneigentliche ist, auf die Aristoteles gleichwohl verweist, wenn er die wahre Substantialität, diejenige der Lebewesen und Naturdinge, erklären will. Dem Beispiel seiner Methode folgend können wir die wechselseitige Wesensabhängigkeit zunächst anhand der Schachfiguren erläutern, wo sie uns einleuchtet, weil Schachspielen Menschenwerk ist. Doch das Wechselverhältnis der Schachfiguren ist defizitär, weil diese nicht durch und durch, sondern nur als abstrakte, regelkonstituierte Rollen ineinandergreifen, während sie als konkrete Figuren aus Holz oder Plastik oder Elfenbein distinkte Entitäten sind. In einem echten Wechselverhältnis hingegen lassen sich Abhängigkeit und Unabhängigkeit nicht trennen und auf zwei Seiten verteilen. Die Glieder eines Wechselverhältnisses stehen in wechselseitiger Wesensabhängigkeit durch und durch und sind in jeder Hinsicht abhängig, aber in keiner völlig abhängig voneinander. Sofern die Hegelsche Philosophie das Heraklitische Denken im Parmenideischen aufhebt, wird sie das Wechselverhältnis thematisieren, aber nicht als letzte Realität gelten lassen. Diese Erwartung sehen wir erfüllt in Hegels Unterscheidung zwischen der unvollkommenen Identität des Wesens und der vollkommenen Identität des Begriffs. Die unvollkommene Identität ist im Inneren des Wesens verborgen und erscheint äußerlich als ein Zusammenhang von Gliedern eines Verhältnisses. In ihrer Unvollkommenheit ist sie demnach eine sowohl bloß innerliche als auch bloß äußerliche. Sie wird aufgehoben, indem das Wesen mit seiner opaken Notwendigkeit in den Begriff und dessen transparente Freiheit übergeht. In diesem Übergang von der objektiven zur subjektiven Logik triumphiert die transparente Identität des eleatischen Monismus über die opake des Heraklitischen Wechselverhältnisses, auch wenn die transparente Identität hier längst nicht mehr jenes einfache, homogene Zusammenfallen von reinem Sein und reinem Denken des logischen Anfangs, sondern dessen begrifflich artikulierte Nachfolgegestalt ist. Eine Hinterwelt jenseits der äußerlichen Identität bzw. Zusammengehörigkeit von Gliedern eines Verhältnisses sieht auch die Hegelsche Logik nicht vor. Was als Hinterwelt allenfalls in Frage käme, das verborgene Innere des Wesens, löst sich, sobald es für sich fassbar wird, in die vollkommene und transparente Identität des Begriffes auf. In dieser bleibt kein unerkannter und jenseitiger Rest, sondern wird das 150

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Ganze und Unendliche sich tendenziell durchsichtig. Durchsichtig war es sich, wenn auch auf einseitig akosmistische Weise, schon bei Parmenides, und durchsichtig soll es sich, wenn auch auf einseitig kosmistische Weise, einst in einer physikalischen Weltformel werden, die der Naturalismus – unzutreffender Weise – für eine konsistente Zielvorstellung hält. Nicht zur Durchsichtigkeit jedoch kann das echte Wechselverhältnis, der Heraklitische Logos der Dinge, gebracht werden, und zwar keineswegs, weil seine abgewandte Seite oder sein innerer Kern den Status eines unerkennbaren Dinges an sich besäße. Es hat keine abgewandte Seite und keinen inneren Kern und ist dennoch ein Spiel von Entbergung und Verbergung. Es ist der Streit, polemos, der die Streitenden als Vater und König zusammenhält und ihnen ihre Plätze anweist (DK 22 B 53) und der sie, die Widerstreitenden, in die schönste Harmonie zusammenfügt, wie bei Bogen und Leier (B 8, B 51). Soweit Heideggers erster Schritt über die Metaphysik hinaus bzw. hinter sie zurück. Es bleiben aber mindestens noch ein zweiter Schritt und ferner ein Heideggersches Grundmotiv zu umreißen. Der Heraklitische Logos lädt, solange nichts weiter über ihn mitgeteilt wird, dazu ein, ihn statisch aufzufassen, als ein beständiges Zusammenfügen und Auseinanderhalten in schlechter Unendlichkeit. Wenn im Rückgang hinter die Metaphysik nicht nur ein Versäumnis der Philosophiegeschichte aufgearbeitet, sondern im Ernst ein anderer Anfang des Denkens gesucht werden soll, muss das Wechselverhältnis von Grund auf dynamisch gedacht werden. Natürlich darf seine Dynamik nicht dem verborgenen Wirken blinden Zufalls, opaker Notwendigkeit oder transparenter Freiheit zugute gehalten werden. Vielmehr muss sie in das Wechselverhältnis integriert und dieses dadurch zu einem wesentlich Zeitlichen werden. Nicht nur Gleichzeitiges also, sondern auch Sukzessives als solches kann zueinander im Wechselverhältnis stehen. So ist es Schickung – oder »Geschick« –, dessen Schickendes nicht objektivierbar ist, sondern allenfalls durch das unpersönliche »es« des »es gibt« genannt wird. Diese Konzeption von Seinsgeschichte ist etwas Neues in Heideggers Denken, auch und besonders gegenüber Heraklit. Das Geviert aus Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen etwa könnte, für sich genommen, noch als ein statisches Wechselverhältnis interpretiert werden. Aber es ist in die Seinsgeschichte eingefügt und bekommt auf diese Weise eine neue, zeitliche Dimension. – Das Sein gibt und schickt sich uns zu, aber grundsätzlich nie im vollen Überblick. Sein Eintreten in die Unverborgenheit kann nur um den Preis A

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einer jeweiligen Verbergung geschehen – physis kryptesthai philei (DK 22 B 123), nicht jedoch so, als bliebe dabei ein wohlbestimmter, objektivierbarer Rest nur dem endlichen Blick entzogen und könnte einem anderen Blick sichtbar werden. Sondern das Verborgene ist prinzipiell vor allen objektivierenden Blicken geborgen. Die Natur ist nicht die uns zugewandte Seite des Seins, sondern aufgehendes Walten, ein Sich-Entbergen-und-Verbergen in einem, dem nichts weiter zugrunde liegt. Im zeitlichen Wechselverhältnis, in der Seinsgeschichte also, ist die Geschichte der Welt und des Denkens zwar gehalten, aber nicht in einer fixen, zur logischen oder naturwissenschaftlichen Transparenz zu bringenden Weise, sondern so, dass Neues, Anderes, Überraschendes zu gewärtigen bleibt. Soweit der zweite Schritt. Das Bild, zu dem er führt, würde aber gegenüber Heideggers Anliegen immer noch zu kurz greifen und sein Denken in die Geschichte der Metaphysik zurückholen. Wir müssen daher zum Schluss noch kurz ein Heideggersches Grundmotiv ins Spiel bringen, das sich von »Sein und Zeit« bis in die Spätphilosophie durchhält. Wir werden gut daran tun, dieses Motiv zunächst unabhängig von Heidegger in unserem je eigenen Philosophieren als dessen verborgene Motivation aufzuspüren. Faktisch führen viele Motivationen in die Philosophie, etwa ein Interesse an der Geistesgeschichte oder am Lösen begrifflicher Rätsel oder am Aufstellen kontraintuitiver Behauptungen, einst auch an der Weltrevolution und ihrer (oder ganz im Gegenteil dem Wirtschaftsliberalismus und seiner) theoretischen Fundierung usw. Doch wenn die Spreu der vielerlei Motivationen sich vom Weizen trennt, bleibt etwas übrig, was sich nur schwer fassen lässt. Fichte sprach in diesem Zusammenhang vom Rätsel der Welt und des Bewusstseins, das er mit mathematischer Evidenz zu lösen sich erbot, Wittgenstein vom Mystischen, das er darin sah, dass die Welt ist. Derlei Wendungen laden aber alsbald zu einem Forschungsprogramm ein, das man unter die Leibnizsche Grundfrage stellen könnte: »Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?«, und damit treten wir in die Metaphysik ein und geraten auf die Abwege und in den Bann ihres Spiels der kategorialen Konzeptionen, das uns immerfort reizt und enttäuscht in einem. Einerseits bleibt die Metaphysik nahe genug an unserer ursprünglichen Motivation, um uns bei Laune zu halten, und wendet sich andererseits doch systematisch davon ab als ein den Wissenschaften nachempfundenes, letztlich stets aporetisches Theoriebilden. Je ursprünglicher uns die 152

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Metaphysik reizt, um so fühlbarer ist unser Unbehagen an ihr. Dass wir uns auf sie einlassen, uns im Rekonstruieren fremder oder im Aufstellen eigener metaphysischer Lehren in ihren Begriffsnetzen vielfach verfangen, hat etwas von Treue und Verrat zugleich, von Treue zu und Verrat an unserer ursprünglichen philosophischen Motivation. Diese geht vermutlich bis in jene frühkindliche Zeit zurück, als wir allmählich zu Bewusstsein kamen und uns allmählich die Welt aufging. Aus der Außenperspektive der dritten Person ist uns mittlerweile Erwachsenen dieser Prozess natürlich längst geläufig geworden, obwohl wir ihn auch jetzt noch nicht verstehen (auch und erst recht nicht in unseren wissenschaftlichen Theorien); doch in der Binnenperspektive der ersten Person waren wir einst zutiefst verwundert über das Dasein des Bewusstseins und der Welt, in das wir unversehens geraten waren, ohne zu begreifen wie, und zu einer Zeit, als wir noch nicht die rechten Worte kannten, wenigstens unsere Verwunderung nachvollziehbar mitzuteilen. Was auch soll ein Mensch berichten und fragen, der und dem die Welt scheinbar aus dem Nichts und jedenfalls aus einer Vorvergangenheit aufgetaucht ist, die sich prinzipiell nicht vergegenwärtigen lässt, weil jede Vergegenwärtigung sie mit Bewusstsein kontaminieren würde? Dieses je persönliche Urerlebnis des Rätsels der Welt und des Bewusstseins bzw. des Mysteriums, dass die Welt ist, soll hier nur zum Gleichnis für etwas noch Größeres dienen (wie Platon die Sonne und ihr Scheinen zum Gleichnis für die Idee des Guten und die Wahrheit dienen ließ). Denn die ontogenetische Bewusstwerdung ist ein innerweltlicher Prozess, d. h. eingebettet in eine bereits fertige Welt, und selbst von der phylogenetischen Bewusstwerdung gilt dies noch, wenn man sie aus der Außenperspektive betrachtet. Könnte man sie aus der Binnenperspektive betrachten – aber die Menschheit ist keine Person und kein möglicher Betrachter –, so käme man jenem Größeren, um das es in der Philosophie ursprünglich und zuletzt geht, wohl ein gutes Stück näher. Dadurch nämlich, dass der homo sapiens sapiens zum Menschen wird, d. h. die Rede und das Bewusstsein oder, mit Heidegger – und treffender – zu reden, ein Seinsverständnis gewinnt, gewinnen die Dinge, unter ihnen der homo sapiens sapiens selber, erst ihr volles Sein einschließlich ihres Herausstehens in die Unverborgenheit (oder mit Fichte: in unser Wissen von ihnen), auch wenn sie das volle Sein dann im nachhinein, nachdem das Seinsverständnis einmal in der Welt ist, rückwirkend schon immer gehabt haben; denn wir können nichts A

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Reales denken, ohne seine Unverborgenheit (bzw. unser Wissen), selbst wenn wir, etwa im Begriff des Noumenon, explizit davon abstrahieren, implizit mitzudenken. Mein Eindruck und mein Bild – meine schwer zu begründende Schlussthese – ist es, dass die persönliche Bewusstwerdung ein Gleichnis des Seins-Geschicks ist, um das es Heidegger und uns allen, die wir in die Metaphysik geraten sind, ursprünglich geht. Ihm ist es gelungen, unser Unbehagen an der metaphysischen Behandlung bzw. Nichtbehandlung jenes Geschicks in Worte zu fassen. Doch wenn er seinerseits dazu ansetzt, ihm im Denken und Sagen näher zu treten, können wir uns des Eindrucks kaum erwehren, dass er uns beredt den Mund wässrig macht, ohne uns je die ersehnte Speise darzureichen. Wir werden uns selbst bemühen müssen; aber ich für meinen Teil gestehe, dass ich nach all den Jahren immer noch nicht weiß, wie.

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»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Mrchenhafte« Zum Wesen der Sprache in Heideggers Denken des Anderen Anfangs

Der Beitrag will einer Vermutung nachgehen – der Vermutung, die Martin Heidegger in dem Satz aus dem V. Freiburger Vortrag 1957 äußert, das Wesen der Sprache sei das eigentlich Märchenhafte (siehe FV, 170). Die Herkunft dieser Vermutung aufzuzeigen, verlangt sowohl eine Klärung des ›Wesens‹ wie auch eine Bestimmung des ›Märchenhaften‹ und beides aus der Konstellation von Denken und Sein in Gestalt des so genannten ›Ereignisses‹. Wenn wir unserer Aufgabe gerecht werden wollen, dann nur durch zwingende Entfaltungsschritte. Grundsätzlich gibt es stets mehrere Wegmöglichkeiten, einer Sache aufschließend nachzugehen. Vielleicht gelingt es, eine Entfaltungsbewegung hier vorzustellen, die zur Quelle dieser Vermutung führt. Alles liegt an der Bewegung der Denkschritte, die zugleich eine Sacherschließung ist. Sie ist, wenn sie gelingt, ein eigens Zueinanderkommen der konstitutiven Sachbestimmungen. Wir wollen uns jedoch keineswegs anmaßen, alle wesentlichen Momente des Sprachwesens im Ereignis-Kontext hier zu erörtern. Sprechen ist uns vertraut. »Der Mensch spricht. Wir sprechen im Wachen und im Traum. Wir sprechen stets, auch dann, wenn wir kein Wort verlauten lassen, sondern nur zuhören oder lesen, sogar dann, wenn wir weder eigens zuhören oder lesen, stattdessen einer Arbeit nachgehen oder in der Muße aufgehen. Wir sprechen ständig in irgendeiner Weise« (US, 11). Wir als die ständig irgendwie Sprechenden finden uns als diese vor, haben uns nicht als Sprechende eingesetzt, verfügen nicht darüber, ob wir Sprechende sind oder nicht. Wir gehören dem Sprechen, sehen uns in das Sprechen je schon versetzt oder mit einem Ausdruck aus Sein und Zeit ›geworfen‹. Wenn wir sprechen, dann sprechen wir ständig von etwas, genauer von etwas Bestimmtem. Auch wenn wir nur eine Ahnung haben oder etwas vermuten und dieses uns je schon sprechend zu verstehen geben, dann sprechen wir von A

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einer Vermutung oder einer Ahnung und damit von ›diesem‹ und nicht von ›etwas anderem‹. In diesem Sinne sprechen wir immer von etwas Bestimmtem, das unterschieden, abgegrenzt ist von anderem. Entscheidend ist nun, dass wir nur dann von etwas Sprechen, uns selbst oder anderen etwas sagen können, wenn sich uns etwas Zusagendes gezeigt hat. Sagen schwingt im Verhältnis von Sagendem, Gesagtem und Zusagendem. Unser Sprechen ist das Zur-Sprache-Bringen von etwas Sichzeigendem. Das Sichzeigende erlaubt allererst ein Sagen von ihm. Unser Gesagtes deutet, verweist auf etwas, das sich gezeigt hat. Das Sichzeigende zeigt sich als es selbst und als es selbst wird es gesagt. Dieses Als, das hier im Spiel ist, verweist im Denken Heideggers auf das Phänomen der Lichtung oder der Unverborgenheit. Ein etwas als es selbst zur Sprache bringen, heißt vom Selben das Selbe zu sagen. Diese tautologische Wendung ist keineswegs nichts sagend, weil das Selbige als es selbst da ist, das heißt als Gelichtetes, Offenes oder Unverborgenes. Jede Nennung, jeder Satz lebt von dieser elementaren Tautologie. Das Etwas, das Zusagende, zeigt sich als Unverborgenes. Die Offenheit oder Unverborgenheit als das ›elementare Als‹ verweist zugleich auf die Dimension der Verbergung, das Sich-nicht-Zeigen, Sich-noch-nicht-Zeigen oder Sich-früher-nicht-gezeigt-Haben usw. Alles Sprechen spielt sich in der Unverborgenheit ab, deren Quelle hinsichtlich des Sichzeigenden die Dimension der Verborgenheit ist. Verborgenheit heißt hier: Versagung oder zögernde Versagung von möglichem Sichzeigendem. Unser Sprechen ist ein Verlautenlassen von Sichzeigendem, das seine Herkunft in der Verbergung als Versagung hat. Wenn sich uns auch, in welcher Situation auch immer, stets mehreres zeigt, das wir in seinem Dass und Was bemerken und dem wir im Bemerken schon eine flüchtige sprachliche Aufmerksamkeit schenken, so lassen wir uns doch vor allem auf das ein, was uns in der jeweiligen Situation wesentlich erscheint. Diesem wenden wir uns zu, das Unwesentliche bleibt im Hintergrund. Die nähere Zuwendung zu diesem und nicht zu jenem Sichzeigenden ist davon getragen, dass sich uns das Sichzeigende in einer bestimmten Weise zeigt. Manches Sichzeigende zieht uns stärker an als anderes, kommt uns bedeutsamer vor. Das Sichzeigende hat von Anfang an eine Anziehungskraft, die stärker oder schwächer sein kann, die sich mit der Zeit natürlich auch zu wandeln vermag. Das Sichzeigende geht uns in seiner Vielzahl immer schon unterschiedlich an, aber auch die Weise des Angehens von etwas 156

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Bestimmtem kann im Laufe der Zeit eine unterschiedliche Prägung annehmen. Die Herkunft dieser jeweilig-offenen Anziehungskraft lassen wir hier unbestimmt, uns interessiert augenblicklich nur der Umstand, dass es sich stets so verhält. Manches erscheint uns wesentlich, anderes unwesentlich, das heißt unbedeutend oder auch nur weniger bedeutsam. Im Bremer Vortrag »Das Ge-stell« findet sich im Kontext dessen, was ein ›Abstand‹ ist, folgende Bemerkung, die für unseren Zusammenhang hilfreich ist. »Was man Abstand nennt, kennen wir als die Strecke zwischen zwei Punkten. Treten wir jedoch aus dem Haus unter den Baum in dessen Schatten, dann beruht der Abstand zwischen dem Haus und dem Baum davor freilich nicht in der Maßzahl der Strecke zwischen beiden. Der Abstand besteht vielmehr darin, dass und wie Haus, Baum und Schatten aus ihrem Zueinander miteinander uns angehen. Solcher Angang stimmt den Abstand (Distanz) zwischen dem Anwesenden innerhalb des Anwesens. Solcher Angang stimmt den Abstand alles An- und Abwesenden zu uns. Das, was unter sich zu uns solchen Abstand hat, geht in diesem Abstehen uns gerade an, sei es dass etwas uns fern liegt, sei es dass etwas uns nahe geht. Allein, auch jenes, was uns, wie wir sagen, nichts angeht, geht uns auf seine Weise sehr an. Denn das Gleichgültige geht uns daraufhin an, dass wir ständig an ihm vorbeigehen und es liegen lassen. Alles An- und Abwesende steht im Charakter des Anganges. Abstand beruht in Angang. Angang ruht in Nähe« (FV, 24). Wir beziehen uns im Folgenden nur auf einige Bezüge dieser Passage. Angang ist eine Weise des sichzeigenden Ansprechens von etwas. Etwas zeigt sich, wie in Heideggers Beispiel, als gleichgültig, spricht uns als etwas Unbedeutendes an, anderes erscheint uns wesentlich, spricht uns als etwas Bedeutsames an. Aber sprechen nicht eigentlich nur wir und nicht ›die Sachen‹, von denen wir sprechen? Liegt hier nicht eine poetische Überhöhung vor, eine Bedeutungsverschiebung des Wortes ›Sagen‹ oder ›Sprechen‹ in Gestalt einer Übertragung auf die uns angehenden Sachverhalte, also eine ›bloße Metapher‹ ? Wir kennen im Deutschen die Redewendung, dass ›uns etwas, zum Beispiel eine Landschaft oder ein Getränk, nichts sagt‹ im Sinn von: ich habe keinen Zugang dazu, es hat nichts Anregendes, zieht mich nicht an, lässt mich eher gleichgültig oder unbetroffen. Rechtfertigt aber eine solche Sprachwendung, bereits eine nichtmetaphorische Bedeutung vom Zú-Sagen, vom An-Sagen des Sichzeigenden? Alleine wohl kaum. A

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Und dennoch, wie bereits ausgeführt: Unser Sprechen oder Sagen, also das verlautbarende Sagen, setzt etwas Sagbares voraus. Sagbares ist Zuságendes. Dieses Sagbare ist das Sichzeigende. Das Sichzeigende geht mich je schon auf eine bestimmte, wandelbare Weise an. Unser Sprechen ist immer schon ein Entsprechen gegenüber dem Sichzeigenden. Wir entsprechen dem Sichzeigenden, indem wir es einfach verlautend sagen. Das Zusagende als das Sichzeigende ist als Unverborgenes da. Dieses Unverborgene ›sagt‹ von sich als Unverborgenem und von anderem, deutet auf sich als Unverborgenes und auf anderes, mit dem es in einem verweisenden Zusammenhang steht. Es sagt von sich, weil es im Unverborgenen als Unverborgenes sichzeigend uns auf irgendeine Weise bewegt, uns angeht. Auch das Gleichgültige ist auf seine Weise bewegend, wie wir gesehen haben. Diese Bewegung ist eine Unverborgenheitsbewegung gegenüber uns, den Sagenden. Mithin ist es aufgrund des Unverborgenheitsgeschehens möglich zu sagen: Der Berg ›sagt‹ von sich im Sichzeigen seiner selbst als Unverborgener. Er entspricht damit weder sich noch anderem, weil er nicht in der Offenheit des Sichzeigenden als Angesprochener, dem etwas offen sein kann, steht. Der Berg ist in einem weiten Sinne ›etwas Bedeutsames‹ : er deutet als Unverborgenes oder Gelichtetes auf sich und auf anderes, mit dem er in einem bedeutsamen Verweisungszusammenhang steht. Würde er jedoch ›ent-sprechen‹ können, müsste er einem Angang im Lichtungsgeschehen ausgesetzt sein. Die Einheitlichkeit des vollen Sprachgeschehens als des gegenschwingenden Zusammenhangs von sichzeigendem Sachverhalt und verlauten-lassendem Entsprechen zwingt zu einer solchen Redeweise. Unser Sagen ist so ein Nachsagen des Sich-Zusagenden. Die vielgestaltigen Bezüge des Sagens im Ganzen heißen ›die Sage‹. Erlauben wir uns an dieser Stelle einen kleinen Exkurs zum Verständigungsaspekt der Sprache. Die Sprache als ›unser Sagen‹ ist auf der einen Seite stets ein Sagen zu uns und zu Anderen, es ist Mitteilung. Auf der anderen Seite wird unser Sagen im Denken Heideggers in erster Linie im Kontext der uns sichzeigenden Sachverhalte, des Etwas, das sich uns zeigt, erörtert. Der Grund hiervon ruht in dem einfachen Umstand, dass das Sichzeigen von etwas jedem Sprechen zu uns und zu Anderen vorgängig ist. »Wir sagen Selbstverständliches und doch in seiner Tragweite kaum Bedachtes, wenn wir auf folgendes weisen. Zueinandersprechen heißt: einander etwas sagen, gegenseitig etwas zeigen, wechselweise sich dem Gezeigten zutrauen. Miteinander158

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sprechen heißt: zusammen von etwas sagen, einander solches zeigen, was das Angesprochene im Besprochenen besagt, was es von sich her zum Scheinen bringt. Das Ungesprochene ist nicht nur das, was einer Verlautbarung entbehrt, sondern das Ungesagte, noch nicht Gezeigte, noch nichts ins Erscheinen Gelangte. Was gar ungesprochen bleiben muß, wird im Ungesagten zurückgehalten, verweilt als Unzeigbares im Verborgenen, ist Geheimnis« (US, 253). Einer kann nur deshalb einem Anderen etwas sagen, wenn sich ihm etwas zu Sagendes gezeigt hat, das er dem Anderen mitteilt. Aus diesem Grund steht uns dieses ›sachliche Sprachgeschehen‹, mit dem Heidegger sich auseinandersetzt, auch wenn wir es ständig über-sehen und über-springen, im Grunde näher als jedes Miteinandersprechen, weil erst das eine das andere erlaubt. Bisher haben wir in Bezug auf das Zusagende nur von ›etwas‹ bzw. ›etwas Bestimmtem‹ gesprochen oder von ›Sache‹ oder ›Sachverhalt‹. Ein jegliches ›etwas‹, ob in Gestalt einer einfachen Nennung oder der eines Zusammenhangs in der Weise, dass das ›etwas‹ der Zusammenhang von ›etwas Bestimmtem mit etwas anderem Bestimmtem‹ ist, gehört in die sogenannte einheitliche Differenz oder differente Einheit von Sein und Seiendem, mit Heideggers Terminus in die ›Zwiefalt von Sein und Seiendem‹. »Das, was ist, ist keineswegs das Seiende. Denn dem Seienden wird das ›es ist‹ und das ›ist‹ nur insofern zugesprochen, als das Seiende hinsichtlich seines Seins angesprochen wird. Im ›ist‹ wird ›sein‹ ausgesprochen, das was in dem Sinne ›ist‹, dass es das Sein des Seienden ausmacht, ist das Sein« (TK, 44). Wenn ein Seiendes gesagt wird, wird es auf sein Sein hin angesprochen, wenn Sein genannt wird, ist der Bezug zum Seienden immer, ob ausdrücklich oder nicht, mitgemeint. Im Seienden erscheint einzig das Sein in einer bestimmten Daseinsweise. Mit der Differenz von Sein und Seiendem verhält es sich wie im Märchen von Hase und Igel: »Wir treffen dort, wohin wir die Differenz als angebliche Zutat erst mitbringen sollen, immer schon Sein und Seiendes in ihrer Differenz an. Es ist hier wie im Grimmschen Märchen von Hase und Igel: ›Ick bünn all hier‹« (ID, 54). Wir sprechen immer bereits aus einer unaufhebbaren und einheitlichen Differenz heraus. »Sagen wir ›Sein‹, dann heißt dies ›Sein des Seienden‹. Sagen wir ›Seiendes‹, dann heißt dies: Seiendes hinsichtlich des Seins. Wir sprechen stets aus der Zwiefalt« (WhD, 174). Bezogen auf uns, bedeutet dies: »Der Mensch west demnach als Mensch, insofern er dem Zuspruch der Zwiefalt entspricht« (US, 122). A

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In der Aufsatzsammlung Unterwegs zur Sprache finden sich in einigen Abhandlungen Formelwörter zum Wesen der Sprache, die extrem Verdichtetes in einer einfachen und zugleich rätselhaften Weise anzeigen und um deren Ausbuchstabierung sich der jeweilige Beitrag dreht. Die Formelwörter lauten: ›Sprache ist Sprache‹, ›Die Sprache spricht‹, ›Das Wesen der Sprache : Die Sprache des Wesens‹, ›Die Sprache als die Sprache zur Sprache bringen‹. Wenden wir uns im Rahmen unserer Aufgabenstellung der vorletzten Bestimmung zu ›Das Wesen der Sprache : Die Sprache des Wesens‹. Von dem bisher Gesagten kann der Zuspruch, der Angang der Sache als der Zwiefalt sofort mit der ›Sprache des Wesens‹ in Verbindung gebracht werden. Das Wesen ist die Differenz in Gestalt der Zwiefalt, sie sagt sich je und je dem entsprechenden einzelnen Dasein zu. Wesen heißt hier das Wesenhafte in Gestalt der Zwiefalt. Diese Zwiefalt ist das ›während Gewährende‹ unseres Sprechens, das heißt: wir sprechen von der Sache her, zu der Sache hin und um der Sache willen. Wir sprechen nichts anderes als die Zwiefalt, die sich in unserem Sprechen je und je zum geschichtlichen Austrag ihrer selbst bringt. Der geschichtliche Austrag ruht im Zusammenspiel von Entbergung und Verbergung. Das während Gewährende des Wesens der Zwiefalt ist somit im Grunde das Sich-Gewährende und Sich-Versagende. Wir könnten diese hier etwas verdichtet vorgetragenen Überlegungen noch weiter ausführen, doch wir halten inne, da sich in der Abhandlung, in der das Formelwort vorkommt, eine andere Bestimmung für die Sprache des Wesens, für das während Gewährende, findet. Diese andere Bestimmung führt uns unmittelbarer zu unserer Thematik. Die Sprache des Wesens ist hier bestimmt als »das Geläut der Stille« (US, 215). Im Rahmen unserer Aufgabenstellung werden wir die Ausdifferenzierung des Wesenhaften in Gestalt der Zwiefalt aus Gründen der Beschränkung jedoch zurückstellen, zugunsten des Versuchs, Licht in die rätselhafte Wendung ›Geläut der Stille‹ zu bringen. Andernfalls müssten wir uns in der Ausdifferenzierung der Zwiefalt auf den Unter-Schied von Welt und Ding einlassen, genauer der Welt-Gegenden Erde und Himmel, Sterbliche und Göttliche, und dies in Zusammenhang dessen, was ein Ding ist. Eine solche Entfaltung würde das hier gesetzte Unternehmen bei weitem übersteigen. Was wir jedoch aus den wenigen Äußerungen über die Sache der Zwiefalt mitnehmen müssen, ist die Einsicht, dass im Seienden nur Sein erscheint, im einzelnen Wesenden, im Jeweiligen nur Wesenhaftes sich zeigt, und dass das Sein als das Wesenhafte sich in einer 160

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»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«

unerschöpflichen Vielheit von Wesensweisen und Wesenszusammenhängen manifestiert. Diese Vielheit von Wesensweisen, von Seinsweisen, werden wir gleichsam verdichtet und programmatisch auf die Vielheit in Gestalt von ›einem‹ und ›anderem‹, genauer von ›einem‹ und ›anderes‹ beziehen. Die Notwendigkeit, dieses Verständnis mitzunehmen, resultiert aus der Bestimmung dessen, was das ›Geläut‹ ist. Das ›Geläut‹ ist ›das rufende Versammeln‹ (s. US, 215). Zur Versammlung bedarf es einer Mehrzahl von Zuversammelnden, es bedarf zumindest eines ›einen‹ und eines ›anderen‹. Doch gehen wir zum Zwecke der Erörterung dieser Versammlung zuerst einen Umweg und kehren dann zum ›Geläut‹, zur ›rufenden Versammlung‹ der Stille zurück. Sein als Differenz wird je und je zur Sprache gebracht. Diejenigen Weisen unseres Sagens, welche Sein als Differenz eigens zur Sprache bringen, sind das philosophische Denken und das Dichten. Bleiben wir bei der Bestimmung, dass das Sein als Zwiefalt vom Dichten und vom philosophischen Denken je und je zur Sprache gebracht wird, und sehen uns die damit verbundene Sprachbewegung in ihrer weitesten Aufspannung näher an. Die Bewegung des Zur-Sprache-Bringens, genauer des Zur-verlautenden-Sprache-Bringes, spielt sich im Gefüge von Zu-Sage der Zwiefalt und Nach-Sage des verlautenlassenden Daseins ab, von Zuspruch der Differenz und ihrer Entsprechung im verlautenden Wort. Unser Sagen ist immer auf das Sichzeigende verwiesen, es ist immer ein Sagen von etwas, das sich als Zu-sagendes in dem doppelten Sinn des Wortes – etwas Zuságendes und etwas (Sich-)Zúsagendes – gezeigt hat. Dieses Gefüge ist gegenschwingend: Zusage zum einzelnen Dasein und verlautenlassendes Zurücksagen zur Sache. Was ereignet sich in diesem Gegenschwung, vielleicht besser: warum ereignet er sich? Um diese Frage zu beantworten, gehen wir vom ›hohen Sprechen‹ in seiner gelingenden Gestalt aus. Dieses kann sich beispielsweise in einem Gedicht oder einer philosophischen Rede ereignen. ›Hohes Sprechen‹ soll hier heißen: es lässt Wesenhaftes, das Bestimmende, als solches erscheinen, bringt es als solches zur Sprache. Wenden wir uns im Folgenden diesem Bringen eingehender zu. Die sich zeigende Differenz von Sein und Seiendem, in welcher Ausprägung auch immer, nimmt einen Sagenden in Anspruch, er ist angezogen vom Zusagenden, hingezogen zum Zusagenden, ist ein von der Sache in Anspruch Genommener. Der Sagende sucht dem Sichzeigenden das geeignete Wort, die geeignete verlautenlassende Sprache. In einem solchen Zur-Sprache-Bringen des Wesenhaften ist der SagenA

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de eingebracht. Er ist weggebracht vom Gewöhnlichen und hingebracht zum Ungewöhnlichen. »Sagen ist Bringen als Zubringen, das zugleich wegbringt und uns einbringt in das Gesagte. Die sanfte Gewalt des Bringens durchwaltet das Sagen« (FV, 161 f.). Das Zur-Sprache-Bringen ist ein Zur-verlautenden-Sprache-Kommen, genauer: Es ist ein Ankommen in einer worthaften Darstellung. Die Ankunft hat einen Weg hinter sich, in der Ankunft vollbringt sich, erfüllt sich der Sprach-Weg des Sichzeigenden, Sichzúsagenden. Greifen wir hierzu weiter aus, bleiben jedoch bei der Ausbuchstabierung des vielbezüglichen Bringens. Zu diesem Zweck führen wir uns zwei Passagen aus dem Humanismusbrief vor Augen. »Wir denken das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug. Man kennt das Handeln nur als das Bewirken einer Wirkung. Deren Wirklichkeit wird geschätzt nach ihrem Nutzen. Aber das Wesen des Handelns ist das Vollbringen. Vollbringen heißt: etwas in die Fülle seines Wesens entfalten, in diese hervorgeleiten, producere. Vollbringbar ist deshalb eigentlich nur das, was schon ist. Was jedoch vor allem ›ist‹, ist das Sein. Das Denken vollbringt den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Es macht und bewirkt diesen Bezug nicht. Das Denken bringt ihn nur als das, was ihm selbst vom Sein übergeben ist, dem Sein dar. Dieses Darbieten besteht darin, daß im Denken das Sein zur Sprache kommt. Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung. Ihr Wachen ist das Vollbringen der Offenbarkeit des Seins, insofern sie diese durch ihr Sagen zur Sprache bringen und in der Sprache aufbewahren. Das Denken wird nicht erst dadurch zur Aktion, daß von ihm eine Wirkung ausgeht oder daß es angewendet wird. Das Denken handelt, indem es denkt. Dieses Handeln ist vermutlich das Einfachste und zugleich das Höchste, weil es den Bezug des Seins zum Menschen angeht. Alles Wirken aber beruht im Sein und geht auf das Seiende aus. Das Denken dagegen läßt sich vom Sein in den Anspruch nehmen, um die Wahrheit des Seins zu sagen. Das Denken vollbringt dieses Lassen« (BH, 5). Ergänzen wir diese Anfangspassage des Humanismusbriefes noch durch eine Stelle, die sich gegen Ende dieser Schrift findet, sachlich jedoch unmittelbar anschließt: »So ist das Denken ein Tun. Aber ein Tun, das zugleich alle Praxis übertrifft. Das Denken durchragt das Handeln und Herstellen nicht durch die Größe seines Leistens und nicht durch die Folgen eines Wirkens, sondern durch das Geringe seines erfolglosen Vollbringens. Das Denken bringt nämlich in 162

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»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«

seinem Sagen nur das ungesprochene Wort des Seins zur Sprache. Die hier gebrauchte Wendung ›zur Sprache bringen‹ ist jetzt ganz wörtlich zu nehmen. Das Sein kommt, sich lichtend, zur Sprache. Es ist stets unterwegs zu ihr. Dieses Ankommende bringt das ek-sistierende Denken seinerseits in seinem Sagen zur Sprache. Dieses wird so selbst in die Lichtung des Seins gehoben. Erst so ist die Sprache in jener geheimnisvollen und uns stets durchwaltenden Weise. Indem die also voll ins Wesen gebrachte Sprache geschichtlich ist, ist das Sein in das Andenken verwahrt. […] Nur im Vorbeigehen sei jetzt die Dichtung genannt. Sie steht derselben Frage in der derselben Weise gegenüber wie das Denken. Aber immer noch gilt das kaum bedachte Wort des Aristoteles in seiner Poetik, daß das Dichten wahrer sei als das Erkunden von Seiendem. Allein das Denken ist nicht nur als Suchen und Hinausfragen in das Ungedachte une aventure. Das Denken ist in seinem Wesen als Denken des Seins von diesem in den Anspruch genommen. Das Denken ist auf das Sein als das Ankommende (l’avenant) bezogen. Das Denken ist als Denken in die Ankunft des Seins, in das Sein als die Ankunft gebunden. Das Sein hat sich dem Denken schon zugeschickt. Das Sein ist als Geschick des Denkens. Das Geschick aber ist in sich geschichtlich. Seine Geschichte ist schon im Sagen der Denker zur Sprache gekommen. Diese bleibende und in ihrem Bleiben auf den Menschen wartende Ankunft des Seins je und je zur Sprache zu bringen, ist die einzige Sache des Denkens« (BH, 51 ff.). Das Vollbringen als in die Fülle des Wesens Bringen ist ein Ankommenlassen. Dieses volle Ankommenlassen geschieht als Entfaltung. Erst wenn das Sichzeigende in der sprachlichen Entfaltung da ist, ist es ganz oder eigentlich da. Es braucht unsere sprachliche Entfaltung, um als es selbst voll da zu sein. Von daher ist das Lichtungsgeschehen immer ein Sprachgeschehen im gegenschwingenden Verhältnis von Zu-sage und Nach-sage, von Angang des Sichzeigenden und seiner Entsprechung. Im Vollbringen, das ein Darbieten ist, ereignet sich das Zu-sich-Kommen des Zusagenden. Das Zu-sich-kommen der Sache, um derentwillen sich das Sprechen ereignet, ist ein Sich-gehören-Lassen. Das Sich-gehören-Lassen ist der eigentliche Sinn des Sprechens, wenn das Sprechen um der Sache willen sich ereignet. Worin ruht dieses Sprechen demnach? »Das Regende im Zeigen der Sage ist das Eignen. Es erbringt das An- und Abwesende in sein jeweilig Eigenes, aus dem dieses sich an ihm selbst zeigt und nach seiner Art verweilt. Das erbringende Eignen, das die Sage als die Zeige in ihrem Zeigen regt, A

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heiße das Ereignen« (US, 258). Ein dem Wesen der Sache entsprechendes Sagen muss dem Eigentümlichen der Sache gerecht werden, dem jeweiligen Eigenwesen der Sache zu genügen versuchen. Zu diesem Eigenwesen gehört auch seine Geschichtlichkeit und damit sein Verborgenes und das heißt vor allem sein für uns noch Aufbehaltenes. Die Einheit von Zuspruch der Zwiefalt und verlautendem Entsprechen durch das einzelne Dasein ist in seiner eigentlichen und das heißt immer äußersten oder höchsten Gestalt regiert von diesem ›Eignen‹. Auch die Vergessenheit dessen, die Weisen des Unwesens des Sagens, sind noch auf dieses Maß oder »Gesetz« (siehe US, 259) bezogen. Dies näher auszuführen wäre ein eigenes Thema. Die Mehrfältigkeit unseres Ausgangspunktes, also ›das Bringen‹ im ›Zur-Sprache-Bringen‹, ruht im Ereignen als dem ›erbringenden Eignen‹. Es kommt darauf an, das Eigentümliche des in Rede Stehenden im geeigneten Wort zu sich zu bringen, im Zur-Sprache-Bringen sich gehören zu lassen. Gesetzt den Fall, eine Sache würde in ihrem Eigentümlichen aufgrund des geeigneten Wortes und durch das geeignete Wort hindurch zu sich gebracht werden können, dann bringt sich damit zugleich uns die Sache in diesem gestifteten Sprachwerk – ob dichterisch oder philosophisch – entgegen, stellt sich uns als Entfaltete vor und beschenkt uns so mit ihrer Gegenwart. Das mehrfältige Bringen ist bestimmt von einem gegenseitigen Entgegenbringen, von einem gegenseitigen Reichen und Überreichen. Dass das Bringen ein Reichen, ein Überreichen ist, wird uns wieder auf die Spur unserer noch offenen Thematik zurückbringen. Das Reichen wird uns später erlauben, die ausstehende Bestimmung des ›Versammelns‹, die Versammlung als das rufende Versammeln der Stille, das ›Geläut der Stille‹, aufzunehmen. Bevor wir dies tun, führen wir die gegenschwingende Sprachbewegung von Zuspruch und Entsprechung zu dem Punkt, der uns die ungeklärte Bestimmung ›Stille‹ näher bringt. In dem Beitrag »Das Wesen der Sprache«, dem wir das Formelwort ›Das Wesen der Sprache : Die Sprache des Wesens‹ entnommen haben, findet sich eine Auseinandersetzung Heideggers mit einem Gedicht Stefan Georges. Verkürzt zusammengefasst mündet dieses denkende Gespräch mit dem Gedicht in die Auslegung der Verszeile ›kein ding sei wo das Wort gebricht‹. Die denkerische Auslegung dieser Verszeile spielt auf den grundlegenden Zusammenhang von Sein und Sprache an: alles ›es ist und ist nicht‹, ›es gibt und gibt nicht‹ schwingt in der Dimension von Sprache und Wort. Diese Auseinandersetzung wird in erster Linie im 164

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»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«

Blick auf die Versagung des geeigneten Wortes geführt. Der Verszeile Georges wird von Heidegger eine denkerische Zeile ergänzend entgegengesetzt. Um diesen Satz soll es uns im Folgenden gehen. Er lautet: »Ein ›ist‹ ergibt sich, wo das Wort zerbricht. Zerbrechen heißt hier: Das verlautende Wort kehrt ins Lautlose zurück, dorthin, von woher es gewährt wird: in das Geläut der Stille, das als die Sage die Gegenden des Weltgeviertes in ihre Nähe bewegt« (US, 216). Dass wir auf das Verhältnis von Welt und Ding, von Welt als Weltgeviert an dieser Stelle nicht näher eingehen können, haben wir im Kontext der fehlenden Ausdifferenzierung der Zwiefalt erwähnt. Die Rückkehr des verlautenden Wortes ins Lautlose wirft ein entscheidendes Licht auf das gegenschwingende Sprachgeschehen von Zuspruch und Entsprechung. Die Entsprechung im verlautenden Wort ist ein endliches, ein jeweiliges Sprachgeschehen. Der Herkunft des zúsagend Sichzeigenden, des Sagbaren, ist die Dimension der Verbergung. Die Dimension der Verbergung mit ihrem Verborgenen ist als Daseinsweise in der sprachlichen Dimension ›die Stille‹. Das Sagbare als das Sichzeigende kommt aus dem Sichversagenden, Sichnichtzeigenden. Das Versagende ruht in der Stille, der Stille entspricht auf der Seite unserer Entgegnung das Schweigen. Die Stille ist als Quelle in der einen Hinsicht Herkunft, in der anderen jedoch auch Zukunft des verlautenden Wortes – Zukunft deshalb, weil das verlautende Wort etwas Verweilendes und damit nicht nur etwas Aufgegangenes, sondern auch Vergehendes ist. »Das Wort stellt nicht etwas vor, sondern verweilt etwas in die Weite seines Sagbaren« (FW, 159). Das Verweilen ist ein Verwahren, ein Geborgensein im Wort, solange das Wort waltet, west, währt oder eben verweilt. In unserem Sagen wird das Lautlose der sichzeigenden Sache, das aus der Stille kommt, gebrochen. Die Quelle aller sagenden Entbergung ist die Verbergung. Alles übergängige Zusammenspiel von Entbergung und Verbergung ist zugleich stets umfasst vom Verhältnis von Sprache und Tod. »Die Sterblichen sind jene, die den Tod als Tod erfahren können. Das Tier vermag das nicht. Das Tier kann aber auch nicht sprechen. Das Wesensverhältnis von Tod und Sprache blitzt auf, ist aber noch ungedacht« (US, 215). Im Eintritt des Todes ist jedes Ansprechen und Entsprechen radikal versagt. Die äußerste Versagung alles Sagens ist durch den Tod angezeigt. Der Tod ist ein Name für die Versagung schlechthin, und damit für alles ›es ist‹ und ›ist nicht‹. Alles Sein, auch das Unwesen, schwingt in der Dimension der Sprache. Der Tod ist keine A

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anthropologische Eigenschaft, sondern die Aufhebung des unverborgen-verbergenden Seins als solchem. Diese Aufhebung gehört zum Sein selbst. Das Sein als Zwiefalt ist endlich, weil es nur ist im endlichen Unverborgenheitsgeschehen, das sich ausschließlich in der Sprache zeigt. Ein ›ist‹ jenseits oder außerhalb der Unverborgenheit ist unvordenklich. Doch kehren wir zu Heideggers Satz zurück: »Ein ›ist‹ ergibt sich, wo das Wort zerbricht«. Das Sichergeben des ›ist‹ ereignet sich in dem Augenblick, in dem es ins Lautlose zurückkehrt. Unterstellen wir einmal, dass dieses ›ist‹ das höchstmögliche ›ist‹ darstellt, – das »rein Gesprochene« (US, 16) in einem Gedicht zum Beispiel, wie es Heidegger in Unterwegs zur Sprache nennt –, dann ereignet sich in der Erfüllung ein Umschlag. Die Erfüllung, das Sichergeben des ›ist‹, das höchste Da-sein, ist nichts Bleibendes, sondern ereignet sich in einem erfüllten Augenblick des Verweilens, der zugleich die Rückkehr in seine Quelle ist. Im Augenblick der Erfüllung tritt eine ›gesättigte‹, ›befriedete‹ Stille ein, die umschlägt in die Zuweisung eines zukünftigen erneuten, gewandelten Sagens, das aus einer ›unbefriedeten‹, ›unruhigen‹ Stille kommt. Das kommende Sagen ist nicht einfach die Wiederholung des gewesenen Sagens. Das gewesene Sagen ist als dieses Sagen unwiederholbar. Gesetzt den Fall das gewesene Sagen ist ein anfängliches Sagen des Wesenhaften gewesen, dann kann das Sagen selbst nur anfänglich bleiben, wenn es von der Quelle der Verborgenheit her zu schöpfen versucht und gegenüber dem gewesenen Sagen ein anfänglicheres Sagen wird. Kommen wir zum ›Geläut‹ der Stille zurück. Wir erinnern uns: das Geläut ist das rufende Versammeln (Läuten bestimmt vom Versammlungspräfix ›Ge-‹). Die Frage stellt sich, was hier von der Stille zur Versammlung lautlos gerufen wird? Rekapitulieren wir dazu Folgendes: Die Sprache des Wesens ist die Sprache der Zwiefalt, die Zwiefalt ist das während Gewährende, das von uns um seinetwegen je und je zur Sprache gebracht wird. Um hier einen Schritt weiterzukommen, bringen wir folgende Ausführung aus dem V. Freiburger Vortrag »Grundsätze des Denkens« in unseren Blick: »Das Wesende der Sprache als des Sagens ist der Be-reich. Dieses Wort wird hier als Singularetantum beansprucht. Es nennt etwas Einziges, Jenes, worin alle Dinge und Wesen einander zu-gereicht, überreicht werden und so einander erreichen und einander zum Heil und Unheil gereichen, einander ausreichen und genügen. In dem Bereich allein ist auch das Unerreichbare zuhaus. Der jetzt als das Wesende des Sagens zu erfahrene Bereich ist 166

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»Vermutlich ist das Wesen der Sprache das eigentlich Märchenhafte«

das Reich des Spiels, darin alle Beziehungen der Dinge und Wesen zueinander-spielen und sich spiegeln. Sagen ist Reichen im Sinne des Bereichs. Der Hinweis darauf läßt uns das Wesen der Sprache als Sagen nur entfernt ahnen. Der Bereich ist die Ortschaft, in der Denken und Sein zusammengehören. Die Ortschaft selber ist das Verhältnis beider« (FV, 168). Die Sprache als der Be-reich ist hier konzentriert auf die Sache im Reichtum des Zueinanderspielens ihrer Differenzierungen. Ergänzt wird dieses spiegelnde Zusammenspiel der Sachverhalte und Sachverhältnisse durch eine andere Passage dieses Vortrags: »Wir müssen erst einmal das am meisten Befremdliche erfahren und aushalten: Dass das Wesen der Sprache vor allem Sein und Denken und vor dem Zusammengehören beider für dieses das in sich schwingende Spiel der Ortschaft ist, als welcher Bereich die Sage alle Dinge und Wesen einander überreicht und sie so für uns darreicht, dass wir sie allenthalben erreichen und verfehlen« (FV, 173). In dieser Ausführung ist das Gefüge des Reichens der Sprache als des Be-reichs aller möglichen Bereiche vollständig entfaltet, da das Darreichen für uns, das Sichzeigen, miteingebunden ist. Konzentrieren wir uns im Folgenden trotzdem auf das Zueinander im Sein selbst, das gegenseitige Erreichen und Ausreichen der Wesen und Dinge, das uns dargereicht wird. Was hat dieses Zueinanderspielen und Sich-Spiegeln mit der ›rufenden Versammlung‹ in der Sprache des Wesens zu tun? Wir können auch fragen: Warum ruft die Sache zur Versammlung ihrer Momente auf? Was soll sich in dieser Versammlung, in diesem zusammenkommenden Zueinander ereignen? Gehen wir hierzu für einen Augenblick zurück und Vergegenwärtigen uns die Gesamtsituation der Sprache oder des Sprechens. Die Einheit von Zusage der Sache und unserer verlautenden Nach-Sage, von Zuspruch und Entsprechung, ist umfasst vom Tod. Das Sprachgeschehen als Seinsgeschehen ist endlich. Im Sprachgeschehen ereignet sich stets ein Erscheinen und eigens Erscheinenlassen des Sichzeigenden. Wir lassen wiederum nur dasjenige dichterisch oder philosophisch Erscheinen, was uns als wesentlich erscheint, es geht um ein hohes Erscheinen, ein Erscheinen des wesentlichen Wesens. Das Wesentliche des Wesens kommt je und je geschichtlich-geschickhaft zur Sprache. Geschickhaft heißt: Vom bestimmtem Wesenhaften auf den Weg gebracht, dieses zur Erscheinung zu bringen, es zu sagen. Der Tod ist das zukünftige Nicht-Erscheinen, dieses gehört zum Sein selbst. Hohes und höchstes Erscheinen steht also dem möglichen Nichterscheinen A

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gegenüber. Zugespitzt formuliert: radikales Nichterscheinen in Gestalt des Todes und höchstes Erscheinen im Reingesprochenen des Gedichtes oder des philosophischen Wortes sind die zwei Enden, die die Spannung des Da-seins des Seins überhaupt aufbauen. Sie stehen immer schon in einem Zusammenspiel. Das Da-sein des Seins überhaupt ist von sich aus verwiesen auf das hohe Erscheinen unter Einbeziehung der Negativität in Gestalt des Todes und in Gestalt der sprachlichen Verweigerung (des Nichtfindens, des Sichnichtzeigens, der ›zögernden Versagung‹), um hier nur zwei Momente der Negativität zu nennen. Was hat dies aber alles mit der Frage nach der ›rufenden Versammlung‹ zu tun? Die rufende Versammlung der ›Dinge und Wesen‹ in ihr Zueinander macht nur dann Sinn, wenn sie eingebunden ist, in ein höheres oder höchstes Dasein der ›Dinge und Wesen‹. Wir kommen an dieser Stelle auf unsere Einschränkung der Differenzierung der Zwiefalt in der Weise ›eines‹ und ›anderes‹ zurück. ›Eines‹ sagt von sich als es selbst und sagt zugleich von ›Anderem‹, mit dem es in einer Verweisungsbeziehung, einer Be-deutungsbeziehung steht. Ein höheres Erscheinen des ›einen‹ und des ›anderen‹ wäre dann gegeben, wenn das ›eine‹ und das ›andere‹ in einem bestimmten eigens gestifteten gegenseitigen Erreichen eine Bereicherung ihrer selbst erfahren würden. Die Bereicherung ihrer selbst wäre das Eingebundensein in ein Ganzes, das die Wesensweisen und Dinge zwar zu Momenten dieses Ganzes machen würde, aber dergestalt, dass sie durch dieses Eingebundensein erst eigentlich zu sich selbst kämen. Die rufende Versammlung der Wesensweisen zueinander hat mit dem Ruf, mit dem Zug zum höchsten Dasein zu tun und der Versammlung der Dinge und Wesen zu einem Ganzen, das ein mehrendes, ein be-reicherndes Zusammenbringen ist. Wir können uns den Sachverhalt auch von folgender Seite klarmachen. In irgendeinem noch so unbestimmten Zusammenhang stehen die Wesen und Dinge von Anfang an. Eines steht immer schon irgendwie mit anderem zusammen. Doch in welcher Weise es zusammensteht, ist das Entscheidende. Jedes ›eine‹ steht auch in Zusammenhang mit seinen verborgenen Wesensweisen und den verborgenen des ›anderen‹. Die Herausstellung eines Zusammenhangs ist also keine Vergewaltigung, sondern die geschichtliche ›Gestaltwerdung‹ eines Zusammenhangs ins Hohe und Höchste – und dies in der Weise, dass die ›Dinge und Wesen‹ einander in der gelingenden Zusammenkunft zum ›Heil‹ gereichen. Das ›Heil‹ ist das hohe Ganze. ›Heil‹ kommt sachlich von einer unversehrten, unverletzten Ganzheit. 168

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Wenn also die (lautlos) rufende Versammlung der Stille der Zwiefalt, – die Sprache des Wesens – die Dinge und Wesen in ein Zueinander ruft, das ›einander zum Heil gereicht‹, zu einem hohen, wenn auch immer endlichen Dasein, einer endlichen Versammlung in einem endlichen Sprachgeschehen, dann ahnen wir vielleicht, warum das Wesen der Sprache als die Sprache des Wesens von Anfang etwas mit dem Märchenhaften zu tun hat. Der Zauber des Märchens spielt in einem hohen Scheinen, er spielt im Schönen. Das Schöne ist buchstäblich das hohe und höchste Scheinen bzw. Er-scheinen des ›Wesens und der Dinge‹. Dieses hohe Scheinen bedarf jedoch um zu leuchten des Dunkels. Im Kontext einer Erörterung der ›Grundsätze des Denkens‹ im ersten der »Freiburger Vorträge« finden sich folgende Bemerkungen, die nicht nur zu einer Erörterung der ›Grundsätze des Denkens‹ gehören. »Die Herkunft der Grundsätze des Denkens, der Ort des Denkens, das diese Sätze setzt, das Wesen des hier genannten Ortes und seiner Ortschaft, all dieses bleibt für uns in ein Dunkel gehüllt. Diese Dunkelheit ist vielleicht bei allem Denken jederzeit im Spiel. Der Mensch kann sie nicht beseitigen. Er muß vielmehr lernen, das Dunkle als das Unumgängliche anzuerkennen und von ihm jene Vorurteile fernzuhalten, die das hohe Walten des Dunklen zerstören. So hält sich das Dunkle geschieden von der Finsternis als der bloßen und völligen Abwesenheit von Licht. Das Dunkle aber ist das Geheimnis des Lichten. Das Dunkle behält das Lichte bei sich. Dieses gehört zu jenem. Darum hat das Dunkle seine eigene Lauterkeit. […] Das Licht ist nicht mehr Lichtung, wenn das Lichte in eine bloße Helle, ›heller aus tausend Sonnen‹, auseinanderfährt. […] Schwerer bleibt es, die Lauterkeit des Dunklen zu wahren als eine Helle beizuschaffen, die nur als solche scheinen will. Was nur scheinen will, leuchtet nicht« (FV, 93). Das Märchenhafte heißt in der Sprache Heideggers in den »Freiburger Vorträgen« im Zusammenhang mit der Sprache des ›Ereignisses‹ das Sagenhafte. »Gesang und Gedank, die jeweiligen Versammlungen des Singens und Denkens, (sind) beide im selben Wesen, im Sagenhaften der Sage zuhaus« (FV, 171). Das Dichten und Denken des Wesenhaften – versteht es sich aus seinem eigentlichen Sprachbezug heraus – ist von Anfang auf das Sagenhafte der Sprache des Wesens bezogen. Die Denkenden und Dichtenden sind dem Sagenhaften von Anfang an ›zugesagt‹, sie gehören dem Sagenhaften. Das Sagenhafte als es selbst zu sagen, es in der lautenden Sprache erscheinen, es erklingen zu lassen, gelten letztlich alle Bemühungen des Entsprechens des A

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Wesenhaften. Unser Sagen ist im Grunde immer schon bestimmt vom Äußersten des Sagens, vom Sagenhaften. Aus dem Sagenhaften des Bereichs der Sage werden erst »Denken und Dichten ihrem je eigenen Wesen überreicht« (FV, 172). Das Sagenhafte der Sage als der ›Sprache des Wesens‹ ist »jenes mannigfaltige Reichen, als welcher der Bereich in sich selber schwingt. Der Bereich ist die Ortschaft der Identität von Denken und Sein« (ebd.). Kein Sagenhaftes des Be-reiches der Sage ereignet sich jedoch ohne die Einbindung des Versagenden, des Dunklen, des Todes. Kein Sagenhaftes ist ohne die Würdigung der Negativität. Gehen wir dem Hinweis, das Sagenhafte sei »jenes mannigfaltige Reichen, als welcher der Bereich in sich selber schwingt«, für einige Schritte nach und versuchen uns zum Schluss zumindest die Richtung, in der das Sagenhafte weiter zu denken ist, bestimmungslogisch vor Augen zu führen. Das gegenseitige Reichen von einem und anderem ist die Versammlungsbewegung eines Auseinander zu einem gestifteten Zueinander. Im Zueinander, im wechselseitigen Zusammenspiel des einen und des anderen, muss sich eine Erhöhung des jeweiligen Daseins des einen und des anderen ereignen. Dieses gegenseitige Erhöhen im reichenden Zueinander ist als Versammlungsbewegung, als Bewegung des Zueinandergelangens, eine je-weilige, eine endliche Bewegung, die sich in einer Weile ereignet. Endlich heißt hier aber auch: Das Sagenhafte in seiner Fülle ergibt sich immer erst zuletzt, im höchstmöglichen Zusammenklang des einen und des anderen. Die Versammlungsbewegung der Momente hat einen möglichen Höhepunkt. Dieser Höhepunkt stillt die Versammlungsbewegung, er lässt sie zur Ruhe kommen. Wir können auch sagen: die Bewegung ruht in einem höchsten Zusammenklang. Dies wäre das Äußerste, das Sagenhafte als Vollbrachtes. Ist dieser uns unverfügbare Zusammenklang, der sich trotzdem allein durch unser Sagen und in unserem Sagen, im Gesagten, ereignen kann, erreicht – also die Ereignung des höchstmöglichen Zueinander –, dann ist diese gestillte Ruhe zugleich der Umschlag in eine unruhige Ruhe, die einem kommenden Zueinander von anderem als dem jetzt gewesenen Zueinander gehört. Der Höhepunkt, der Augenblick des höchsten Zusammenklangs, schlägt zugleich um in einen Entzug, der wiederum einen zukünftigen anderen Höhepunkt allererst freizugeben vermag. Das Höchste und Äußerste kann in der jeweiligen Versammlungsbewegung des Zueinandergelangens immer nur zuletzt kommen. Und doch und gerade deswegen ist das Letzte im Grunde das 170

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Erste, das heißt der eigentliche Anfang der Versammlungsbewegung. Das Höchste ist der Anfang der Bewegung. Das ›erbringende Eignen‹, worin alles Sagen und das heißt Zeigen ruht, muss nun mit dem Sagenhaften, dem ›eigentlich Märchenhaften‹, das sich im Bereich des Zusammenspiels des einen und des anderen ergibt, zusammengedacht werden. Das Eigenwesen einer Sache kann aus diesem Grund nicht ein ein für alle Mal Festgelegtes sein, sondern das Sichgehörenlassen einer Sache ruht im Sagenhaften, das sich stets aus einem gegenseitigen Reichen mit anderem je und je anfänglich zu ergeben vermag. Eine Erörterung dieses Anfänglichen und des In-sich-Zurückwesens allen Wesens müsste sich hier nun anschließen, eine Entfaltung, die wir in diesem Beitrag jedoch nicht mehr leisten können. Das Sagenhafte der Sage ereignet sich um seiner selbst willen und dies unvermutet. Ein Unverfügbarkeitsmoment, Unberechenbarkeitsmoment ist ihm eigen. Das Sagenhafte schenkt dem Sagenden seine einfache Gegenwart – nichts anderes. Diese Gegenwart hat sich ergeben im höchsten Sagen. Dazu muss der Sagende vom Sagenhaften zuvor getroffen sein, es muss sich ihm winkhaft etwas als Sagenhaftes gezeigt haben, damit er es selbst überhaupt in seine volle sprachliche Gegenwart bringen möchte und kann. In unserem Sagen darf das Sagenhafte in seinem anfänglichen Wink nicht verloren gehen, im Gegenteil, es muss dort allererst ganz zu sich kommen können, zum ›Leuchten auf dunklem Grund‹ gebracht werden. Von daher ist jede Suche nach dem geeigneten Wort, nach dem geeigneten Sagen, zugleich ein Wagnis. Nicht jedes Sagen vom Sagenhaften gelingt. Die Sagenden können an der Aufgabe der Darstellung des Äußersten zerbrechen. Vom Sagenhaften angezogen sind sie selbst Gerufene, das Sagenhafte in der sprachlichen Darstellung zu vollbringen. Gelingt die Darstellung, sind sie nicht nur Gerufene, sondern auch Berufene des Sagenhaften, des ›eigentlich Märchenhaften‹. Das Sagenhafte zur Sprache zu bringen heißt so – mit Begriffen Heideggers aus der Ereignis-Konstellation – dem ›Seltsamen‹, dem ›Befremdlichen‹, dem ›Ungewöhnlichen‹, dem ›Ungeheuren im Gegenhalt gegen das Geheure und Gewohnte‹, dem ›Heiligen und Göttlichen‹ eine Stimme zu geben. Dass sich dies alles im ›Einfachen‹ und ›Änfänglichen‹ verbirgt, ist die Wegrichtung die – wie erwähnt – einzuschlagen wäre, würde man dem Sagenhaften jetzt weiter nachgehen wollen. Da sich das Sagenhafte im in sich spielenden Be-reich der Sage als des Überreichens und zum Heil Gereichens der Wesen und Dinge allerA

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erst ergibt, ist dieses fügende Sichfinden des einen zum anderen als des Sagenhaften eine Feier. Es ist eine Feier von etwas, was sich im gegenseitigen Zuspiel, im einander Erreichen ergeben hat, was sich aber nicht ergeben musste. Diese Feier bedarf stets einer Vorbereitung. Das Denken Heideggers zählt diese Vorbereitung selbst zur Feier hinzu. Wir sahen: es bedarf des Getroffenwerdens, des Berührtseins vom Sagenhaften, damit wir überhaupt in der Lage sind, es in der gegenschwingenden Sprachbewegung zu vollbringen. Getroffenwerden können wir schon dadurch, dass wir etwas zu ahnen beginnen, plötzlich einer wundersamen Vermutung nachgehen, dass hier etwas zauberhaft Versprechendes im Spiel sein könnte, das alles Gewöhnliche hinter sich lässt. »Denn das Feiern als Innehalten mit der Arbeit ist nämlich bereits Ansichhalten, ist Aufmerken, ist Fragen, ist Besinnung, ist Erwartung, ist der Überschritt in das wachere Ahnen des Wunders, des Wunders nämlich, dass überhaupt eine Welt um uns weltet, dass Seiendes ist und nicht vielmehr nichts, dass Dinge sind und wir selbst inmitten ihrer sind, dass wir selbst sind und doch kaum wissen, wer wird sind, und kaum wissen, dass wir dies alles nicht wissen« (AN, 64).

Siglenverzeichnis AN BH FV ID FW TK US WH

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Hölderlins Hymne »Andenken«, Gesamtausgabe Band 52, Frankfurt a. M. 1982. Über den Humanismus, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1991. Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe Band 79, Frankfurt a. M. 1994. Identität und Differenz, 9. Aufl., Pfullingen 1990. Feldweg-Gespräche, Gesamtausgabe Band 77, Frankfurt a. M. 1995. Die Technik und die Kehre, 6. Aufl., Pfullingen 1985. Unterwegs zur Sprache, 5. Aufl., Pfullingen 1975. Was heißt Denken?, 4. Aufl., Tübingen 1984.

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Tübinger Studienpreis der Philosophie

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Alle Wege fhren zu Kant. Heideggers Vorlesung Die Frage nach dem Ding und die Programmatik einer »aneignenden Verwandlung« Kants

Einleitung Für den Denkweg Heideggers ist Kant eine zentrale Figur, auf die er immer wieder stößt. In der Vorlesung Grundfragen der Metaphysik, später veröffentlicht unter dem Titel Die Frage nach dem Ding, zeigt sich besonders deutlich, dass Kants Relevanz sich nicht in seiner philosophiegeschichtlichen Stellung erschöpft. Hingegen bringt Heidegger in dieser Vorlesung ganz explizit auf den Punkt, dass er nicht nur nicht um das kantische Denken herum-, sondern noch nicht einmal wirklich aus diesem hinauskommt. Dies soll im vorliegenden Beitrag skizziert werden. Wohin Heideggers Weg mit Kant führt, wird am Ende mit einer knappen Betrachtung des ein Jahr später gehaltenen Schillerseminars aufgezeigt, mit welchem sich Heidegger die Möglichkeiten einer »aneignenden Verwandlung« (FnD, 143) Kants auszuloten vornimmt.

Kants Frage nach dem Ding Heideggers Kant-Vorlesung vom Wintersemester 1935/36 ist die zweite große Auseinandersetzung mit Kant nach dem ungleich kontroverseren Kantbuch (Kant und das Problem der Metaphysik). Insofern sie in die Zeitspanne zwischen dem Kunstwerk-Aufsatz (1935) und den Beiträgen zur Philosophie (1936–38) fällt, hat sie in der Heideggerexegese eher eine Schattenposition inne. Ihr kantgetreuer Duktus tut ihr Weiteres, und so wird die erneute Hinwendung zu Kant gerne als Flucht des nach der Rektoratsrede »gebeutelten« Heidegger aus dem Politischen gedeutet, was allerdings die Vorlesung, wie sich zeigen 174

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wird, zu Unrecht marginalisiert. 1 Dass und wie Heidegger sich nämlich Kant gerade in dieser Zeit der vielbeschworenen »Kehre« zuwendet, ist in der Tat für seine weitere Philosophie prägend. Somit hat es einen tieferen Grund, sowohl, dass sich Heidegger ausgerechnet Kant als auch, dass er sich Kant ausgerechnet mit der Frage nach dem Ding annimmt. 2 Die Antwort auf die Frage, warum Kant, gibt Heidegger gleich zu Beginn, wenn er seine Vorlesung als von einem seinsgeschichtlichen Interesse motiviert bestimmt: »Die Frage ›Was ist ein Ding‹ ist eine geschichtliche Frage.« (FnD, 41) Dass es dabei nicht um Philosophiehistorie gehen soll, liegt auf den Hand. Und so kommt Kant denn auch nicht als bedeutender Philosoph ins Spiel, sondern als epochaler Denker, der das Denken der Neuzeit nicht nur geprägt, sondern überhaupt erst ermöglicht und damit den philosophischen Boden, auf dem sich Heidegger bewegt, selbst bereitet hat. In dieser Hinsicht kann die Auseinandersetzung mit Kant zunächst einmal als eine Auseinandersetzung mit der nach wie vor waltenden philosophischen und seinsgeschichtlichen Dimension verstanden werden, deren Natur Heidegger durch den »mathematischen Charakter« – hierauf ist zurückzukommen – geprägt sieht. Damit ist denn auch schon eine Antwort auf die Frage, warum sich ausgerechnet die Ding-Frage mit Kant stellen muss, gegeben. Sie ist deswegen wichtig, weil sich an ihr der mathematische Charakter des neuzeitlichen Denkens besonders gut exponieren lässt, und dies deshalb, weil er eigentlich mit ihr und an ihr anhebt. 3 Mit dieser Zentralstellung der Dingfrage für das neuzeitliche Denken wundert die Hartnäckigkeit, mit welcher sie in Heideggers eigenem Fragen wiederkehrt, nicht. Heidegger stellt die Dingfrage nämlich hier nicht nur, er stellt sie erneut. 4 Bereits in Der Ursprung des

Zur systematischen Relevanz der Vorlesung siehe auch Knappstein (1967). Siehe dagegen Schultz (1964) oder auch Schalow (1992), die vorrangig die Vorwegnahme der Technikkritik als wesentlich erachten. Marquard (2005, 191) schlägt auch mit Bezug auf das später zu betrachtende Schillerseminar eine der gängigen antipolitischen Interpretation entsprechende vor. 2 Vgl. entsprechend auch Grondin, der zentral für die Kehre »la relation de la chose, plus précisement la relation à la chose« (1987, 15) erachtet. 3 Vgl. FnD, 42. 4 Und er wird sie auch wieder stellen, etwa im Bremer Vortrag Das Ding, der vielleicht den Zenit des in dieser Vorlesung angestoßenen Projektes darstellt; und auch die späteren Schriften zur Sprache kommen immer wieder auf das »Ding« zurück. 1

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Kunstwerks5 war sie thematisch geworden, um allerdings nicht beantwortet, sondern hinsichtlich geschichtlich gegebener Antworten, die aber alle die Sache, bzw. das Ding nicht treffen, an die Frage nach Zeug und eben dem Kunstwerk übergeben zu werden. Die Dingfrage selbst blieb am Ende als offene bestehen. So gesehen nimmt Heidegger die Frage nach dem Ding nun nicht nur als metaphysische Mitte Kants auf, sondern auch als eine ihn selbst umtreibende Frage, die bislang allerdings erst, wie er im Kunstwerkaufsatz bemerkt, »auf den Weg gebracht« (UK, 71) werden konnte. Warum die Zentralstellung der Frage? Nun, sie ist so wichtig, weil sie im Kern über sich selbst hinausweist: Die Frage nach dem Ding ist nämlich nicht nur die Frage nach dem Ding, sondern überhaupt die Frage nach dem daseinsmöglichen Bezug zum Sein. Dies ist freilich keine Neuerung des seinsgeschichtlichen Denkens, sondern knüpft an die bereits in Sein und Zeit zentrale seinsentbergende Rolle von Gegenständlichkeit an, im Umgang womit das Dasein in eine Welt ursprünglich eingelassen war. Sein und Zeit nun fokussierte vor allem die sozusagen »subjektiven« Bedingungen einer uneigentlichen und eigentlichen Seinsbeziehung: Das Dasein konnte sich entweder aus der herrschenden Ausgelegtheit des Man und dem reinen Aufgehen im geschäftigen Umgang mit Zeug, also uneigentlich verstehen, oder es konnte sich alternativ die Welt aneignen. Dazu bedurfte es der Vereinzelung durch die epoché der Angst, welche die Herrschaft des Man suspendierte, so dass das einzelne Dasein entschlussbereit im Rückgang in die Welt das je eigene Selbst übernehmen konnte. Im Zuge des seinsgeschichtlichen Denkens verschärft sich allerdings die Situation dahingehend, dass ein Freiseinkönnen nicht länger nur eine Frage der entschlossenen Übernahme der eigenen Endlichkeit bedeutet, sondern sich die Frage der möglichen Seinsbeziehung an dem das Sein selbst ›durchwesenden‹ Entzug bemisst. Damit ist die Frage nach einem eigentlichen Seinkönnen nicht mehr eine, die sich durch das Dasein beantworten ließe, sondern sie wird zur theoretischen, geschichtlichen Frage, die sich am jeweiligen ›Zuspiel‹ des Seins entscheidet. 6 Und geHier geht es Heidegger weniger um das Kunstwerk, denn um eine Annäherung an eine veränderte Ding-Auffassung durch das Werk. Die Zentralstellung des Dinges in diesem Aufsatz wird leider oftmals übersehen. 6 Dass diese Frage nach dem Dasein nach wie vor virulent ist, wird besonders auch in der Schelling-Vorlesung (1941) deutlich, deren erstes Kapitel sich dem Existenzbegriff und einer Rekapitulation von Sein und Zeit widmet. 5

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nau dies ist der Horizont der Auseinandersetzung mit Kant. Entsprechend kann Heidegger auch sagen: »Die Frage: Was ist ein Ding? Ist die Frage; Was ist der Mensch?« (FnD, 189) 7 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der vor allem ab dem zweiten Teil der Vorlesung deutlich exegetische Duktus auf manchen den Anschein erweckt hat, es gehe hier um einen Rückzug ins unpolitische Philosophiegeschäft nach Heideggers Ausflug in die Universitätspolitik. Das wundert nicht nur, insofern Heideggers im Umkreis der Vorlesung entstandene Schriften alles andere als den Anschein eines Eskapisten erwecken, sondern vor allem, da Heidegger als Anspruch der Vorlesung benennt, einen »Wandel der bisherigen Stellung zu den Dingen, ein[en] Wandel des Fragens und Schätzens, des Sehens und Entscheidens, kurz; des Da-seins inmitten des Seienden« (FnD, 38) einzuleiten. Warum dies gefordert ist? Weil das Wesen der neuzeitlichen Technik wie ein Damoklesschwert über dem Zeitalter hängt. Technik- und Wissenschaftskritik sind indessen das eine. Heideggers Radikalität besteht aber darin, dem Kritisierten nicht nur eine illegitime Position zuzuschreiben, sondern davon auszugehen, dass der Kritisierte diese Position geschichtsnotwendig beziehen muss, sofern nämlich sein Denken in mathematischem Boden ›wurzelt‹. Und damit kommen wir nun endlich detaillierter zur Vorlesung. Was heißt nun, der Charakter sei »mathematisch«? Mathematisch ist der Charakter des Denkens zum einen, indem das Begegnende quantifiziert wird. Dies ist aber nicht die ursprüngliche Dimension des Mathematischen, sondern nur seine Folge. Die ursprüngliche Dimension des Mathematischen besteht darin, dass das Besondere hinsichtlich seiner Allgemeinheit verstanden wird und genau dies sein Verstehen erschöpft: »[D]ie mathemata, das Mathematische, ist jenes ›an‹ den Dingen, was wir eigentlich schon kennen, was wir demnach nicht erst aus den Dingen herholen, sondern in gewisser Weise selbst schon mitbringen.« (FnD, 57) Wir bringen es mit, insofern wir uns in einem Bereich bewegen, in dem eine bestimmte Art des Denkens aufgrund einer bestimmten apophantischen Struktur 8 sozusagen »Türhüter« des Erscheinenden ist. Bei Kant haben die Vgl. diesbezüglich auch die Passage in den Beiträgen zur Philosophie, wo Heidegger den Menschen als jenen versteht, »von dem, um ihn in seinem Wesen zu denken, das Denken wegdenken muss.« (BPh, 301; vgl. auch 311, 323). Der Ort, wohin dieses Wegdenken führt, ist eben das Ding. 8 Bereits in Sein und Zeit benennt Heidegger zwei Modi, wie die Auslegung dem Sei7

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Grundsätze diese Funktion. Durch diese zementiert er Heidegger zufolge den axiomatischen Charakter in der Erkenntnis selbst und beschränkt damit den Erkenntnisbereich auf eben jenen, der durch diese Grundsätze regierbar ist; das Axiomatische tritt also in die Philosophie als Grundlage ihrer sicheren Erkenntnis ein. Da Heideggers Kritik des Mathematischen vielbeachtet ist, ist sie hier nicht en detail zu replizieren. Allerdings – und das ist ungleich interessanter – erspart uns Heidegger auch, mit ihm die bei vielen nach-heideggerschen Interpreten so populäre Kantschelte anzustimmen, und zwar nicht, indem er die Kritik an der kantischen kategorialen Regulation der Erkenntnis unter den Tisch kehrt – im Gegenteil, er widmet ihr ja gerade die Vorlesung –, sondern vielmehr, weil er sie in dieser Vorlesung durch die seinsgeschichtliche Stellung Kants »entschuldigt«. 9 Die von Heidegger selbst erstrebte Verfassung der Dingbeziehung, d. h. die eigentliche Grundstellung zu den Dingen »lag […] nicht im Vermögen Kants, weil eine solche Aufgabe das Vermögen auch des großen Denkers übersteigt; denn sie verlangt nichts Geringeres als über den eigenen Schatten zu springen. Das vermag keiner.« (FnD, 117) Kant konnte also schlicht nicht anders. So unmöglich nun aber dieser Schattensprung ist, umso leichter ist es, dann über den eigenen geschichtlichen Schatten zu springen, wenn dieser ein Schatten ist, den eigentlich ein anderer wirft. Und genau dieser Sprung ist nun das geforderte (vgl. FnD, 118) Ziel der seinsgeschichtlichen Reflexion, welche Kant erlaubt. Dabei zeichnet Kants Denken nicht nur vor, wie Heidegger nicht zu springen hat, sondern – und das macht Kant zum steten impliziten Gesprächspartner Heideggers – es zeichnet den Bereich vor, in welchen ein Abspringen von Kant maximal führen kann, insofern ein neues Denken auf »dem erst durch die ›Kritik der reinen Vernunft‹ selbst freigelegten Grund und nur aus diesem« (FnD, 117) erfolgen muss. Diese Bindung an den ›Boden‹ der Kritik ergibt sich daraus, dass Kant drei unhintergehbare Punkte zementiert hat, nämlich erstens die theoretische Ko-Konditionierung von Erfahrung und deren Gegenständen; zweitens die sprachliche Form derselben; drittens die Notwenenden begegnen kann: Sie kann aus dem Seienden »selbst schöpfen« oder dieses in eine Begrifflichkeit »zwängen« (vgl. SZ, 150). 9 »Daß die Dingbestimmung bei Kant auf Grundsätze zurückgeführt wird, nehmen wir als Zeichen dafür, daß Kant in der Überlieferung steht« (FnD, 145).

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digkeit der Adjustierung dieser an dem, was de facto erfahren wird. 10 Entsprechend fasst Heidegger sein Programm als »aneignende Verwandlung« Kants. Wer die Kritik begreife, »beherrscht eine Grundstellung unseres geschichtlichen Daseins, die wir weder umgehen, noch überspringen, noch sonst wie verleugnen können. Aber wir müssen sie in der aneignenden Verwandlung zum Austrag in die Zukunft bringen.« (FnD, 143) Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle ersterer: Kants wechselseitige Konditionierung von Erfahrung und deren Gegenständen, wobei sich, insofern wir es mit genuinen Erfahrungsbedingungen zu tun haben, nicht die Gegenstände allein nach den Bedingungen zu richten haben, sondern diese eben auch nach den Gegenständen, um diese »entgegenstehen [zu] haben als sie selbst« (FnD, 188). Heidegger verwendet dafür den Ausdruck des dienenden Verhältnisses 11, das mit der kantischen Philosophie durch Rückkopplung der Vermögen an die Welt, die zu begreifen sie da sind, überhaupt erst anhebe. Es geht also primär um die relationale Bestimmung der Vermögen eines endlichen Subjektes, die zugleich »dem Wesen der Sache selbst« (FnD, 122) verpflichtet sind. Kant löst diese Aufgabe bekanntlich durch den zweiten Punkt: die kategoriale Präformation der Erfahrungsgegenstände, welche eine bestimmte Hinsichtnahme auf Gegenständlichkeit festlegt, die urteilslogisch fundiert ist: »Wir können uns diesen jetzt herausgestellten Tatbestand nicht oft und eindringlich genug vor Augen halten – daß nämlich diejenigen Bestimmungen, die das Sein eines Seienden, also des Dinges selbst, ausmachen, ihren Namen haben von Aussagen über das Ding. […] [Dies] ist der schärfste Ausdruck für das, was wir bereits heraushoben: daß der Bau des Dinges mit dem Bau der Aussage zusammenhängt.« (FnD, 48)

Hier spielen freilich zwei Erfahrungsbegriffe hinein: der kantisch-theoretische, also der auf die objektive Erkenntnis bezogene, und der alltagssprachliche, welcher sich auf der Ebene dessen bewegt, was bei Kant bloß das subjektive Wahrnehmungsurteil betrifft. Das Auseinanderfallen beider wird von dieser adjustierenden Annäherung freilich vorausgesetzt und damit auch, dass die Wahrnehmung nicht ihrerseits immer schon durch die Kategorien geregelt ist, wovon Heidegger ausgeht. Zur strittigen Frage nach der kategorialen Form der Wahrnehmung in der kantischen Philosophie siehe u. a. Prauss (1971), sowie die Übersicht in Natterer (2002). 11 Vgl. u. a. FnD, 116. Diese Metapher kehrt bei Heidegger immer wieder. In Die Grundprobleme der Phänomenologie wird dies als die eigentliche Aufgabe der Phänomenologie ausgegeben. Vgl. GPh, 467. 10

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Entscheidend ist, dass es sich bei diesem Zusammenhang nicht um einen kontingenten, sondern um einen notwendigen handelt, der in der Doppelbedingung von Erfahrung und Gegenständlichkeit wurzelt, die gerade sprachlicher Natur ist. Nun tritt aber eine interessante Verschiebung auf. Während nämlich Heidegger im Kantbuch – entgegen Kants gegenteiligen Beteuerungen – Kants Festhalten am Urteil als bloßem Begriffsverhältnis und damit sein unreflektiertes Übernehmen der Tradition kritisiert 12 , weicht er in dieser Vorlesung von dieser Lesart ab und anerkennt vielmehr Kants revolutionären Bruch mit der rationalen Metaphysik, der in seiner immanenten Subversion des Urteils liege. Kants Revolution besteht also darin, an etwas festzuhalten, was gerade dabei seinen Charakter ändert. Heideggers Enthusiasmus bezüglich dieser Revolution darf betont werden: »Die Logik wird neu gegründet und gewandelt« (FnD, 117). Damit ergibt sich eine eigenwillige Verschiebung der Bewertung von Kants revolutionärer Leistung. Heidegger versteht sie nun eigentlich als Revolution des logos; die kopernikanische Revolution ist nur im Hinblick auf eben diese sie tragende zu sehen. Kants Orientierung am Urteil ist damit Heidegger zufolge bloß nominal ein Festhalten an der Tradition; de facto bricht er auf entscheidende Weise mit ihr, und zwar, indem er das Erfahrungssubjekt in seiner kopulativen ich-verbinde-Funktion zum wesentlichen Teil des Urteils macht und in synthetischen Urteilen eben der Maßstab seiner Entbergung idealiter an den Gegenstand übereignet wird. Damit vollzieht Kant nicht nur eine beliebige Neuerung, sondern eine solche, die Heidegger zufolge einen ganz wesentlichen Punkt deutlich zeigt: die seinsgeschichtliche Variabilität des logos. Das, was den Bezug zum Sein erst stiftet, zeigt sich als wandelbar. Nehmen wir Heideggers neue Perspektive ein, welche die Struktur der Sprache nun als veränderliche versteht, dann wird klar, warum er Kant die ›Validität‹ der Ableitung der Kategorien und damit der Verstandesgesetze vom Urteil wesentlich leichter durchgehen lassen kann als dies im Kantbuch der Fall war: Jetzt geht es nicht mehr um die rechtmäßige Struktur des Denkens, sondern nur noch um eine geschichtliche Möglichkeit, die Strukturen des Denken zu fassen. Kant illustriert für Heidegger also weniger, wie das Denken eben ist oder Vgl. Makkreel (2003, 63), der aber Heideggers Äußerungen der Ding-Vorlesung nicht berücksichtigt.

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nicht ist, sondern primär, dass das Denken so aber auch ganz anders sein kann. Valide ist die kantische Auffassung Heidegger zufolge freilich dennoch nicht. Kants logische, das heißt am Urteils-logos orientierte Denkauffassung zeichne sich durch eine ›Verkürzung‹ aus. Dies ist als Vorwurf ja noch aus dem ersten Kantbuch bekannt. Die ›Verkürzung‹ verdanke sich konkret der Dominanz des Verstandes über die Anschauung. Zwar mache der Verstand neben der Sinnlichkeit nur eine Seite der Erkenntnis aus, allerdings eine solche, die sich ihr Anderes unterwerfe, insofern »das Wesen der Empfindung […] aus ihrer Rolle innerhalb des Transzendenzbezuges umgrenzt« (FnD, 168) sei. Damit sei nun aber Antizipation auf der Ebene der Rezeptivität eingeführt, mit der Konsequenz, dass der Begegnischarakter des Erfahrbaren nur noch auf Basis von dessen Intensität und eo ipso mathematisch verstanden werde. Heidegger wirft denn auch implizit Kant an dieser Stelle eine illegitime Bereichserweiterung des Mathematischen vor: Er verfasse die Wahrnehmung ihrerseits kategorial, was ein Opfer fordere: Das schlicht in der Wahrnehmung ursprünglich ›Andrängende‹ : Kant hat »jenen Bereich der Dinge von vornherein übersprungen, in dem wir uns unmittelbar heimisch wissen« (FnD, 164). Insofern dieser Bereich ›übersprungen‹ sei, ergebe sich auch ein eingeengter Begriff all dessen, was sich als Gegenstand überhaupt qualifiziere 13 , wobei der Begriff der Gegenständlichkeit eben darum gerade nicht mit dem Bereich des unmittelbaren Sichheimischfühlens koinzidiere, den Heidegger hier klar in die Nähe der Gegebenheit 14 rückt. Das Problem, das Heidegger darin sieht, ist zumindest nachvollziehbar: Wenn in der Tat eine derartige Engführung der Gegebenheit und des Erfahrbaren hinsichtlich dessen Gegenständlichkeit zu diagnostizieren ist, dann heißt dies natürlich, dass ein jeder derartiger Entwurf eben gerade nicht zum ›Frieden mit der Sache selbst‹ kommen kann, zumindest dann nicht, wenn als ›die Sache‹ nicht von vornherein das durch die Grundsätze Qualifizierte verstanden wird 15 , sondern das, was eigentlich und ursprünglich ›andrängt‹. Aber das fällt ja gerade unter den Tisch. Anstatt aus der Sache in ihrem Empfindungsreichtum zu ›schöpfen‹, sind also die Grundsätze Korsett. Kants Ansatz ist Heidegger zufolge indessen nicht falsch, sondern 13 14 15

Vgl. FnD, 100 f. Zum Unterschied von Gegenständlichkeit und Gegebenheit vgl. Prauss (1971, 119). Vgl. diesbezüglich den Zirkularitätseinwand Heideggers (FnD, 173 f.). A

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nur eng: »Verbindung ist immer ein vorstellendes Zusammensetzen im Hinblick auf eine mögliche Art von Einheit, die das Zusammen kennt. In dieser Kennzeichnung des Urteils scheint noch verblaßt der ursprüngliche Sinn des lgo@ als Sammlung durch« (FnD,146). Die Enge besteht in der Fokussierung des Urteils, das weder den ursprünglichen Wahrnehmungsreichtum erfassen kann, noch die Dinge, wie sie gegeben sind 16 , noch – das ist das Positive – den logos selbst, noch – und das ist das eigentliche Fatale – den Menschen, der sich ›inständig‹ eben auch und vor allem in diesem Bereich bewegt. Hier kommen wir nun auch an den Punkt, da der oben schon zitierte Satz, bei der Dingfrage gehe es eigentlich um die Frage nach dem Menschen, seine tiefere Relevanz gewinnt. Heidegger macht die Verbindung von Dingfrage und Freiheit explizit, wenn er auf die Postulate des empirischen Denkens – eine Passage, die er immer wieder ins Bewusstsein ruft, als liege darin die eigentliche Lösung17 – zu sprechen kommt. War im bislang Dargelegten eher von der Aspektblindheit der kategorialen, am Urteil orientierten Hinsichtnahme die Rede, erweist sich diese nun als Einschränkung des Raumes des Möglichen selbst, welcher in seiner Subjektrelationalität prima facie nicht weiter sein kann als es die subjektiven Bedingungen zulassen. Dies ist freilich nur eine Konsequenz aus dem bisher Gesagten, denn wo die möglichen Erfahrungsdinge in bestimmten Hinsichten restringiert sind, ist es auch das der Möglichkeit nach Erfahrbare und somit – so die Wirklichkeit kantisch über die Relation zum Erfahrungssubjekt bestimmt wird – eben das, was möglich ist. Das so entborgene Sein ist natürlich nicht die ganze potentielle Fülle. Wenn wir es aber mit dem Menschen als einem Wesen zu tun haben, das seine Möglichkeiten ist, dann ist das dergestalt potentialrestringierte Subjekt freilich hinter seiner Eigentlichkeit zurückbleibend. Allerdings gilt auch hier, dass, wo die Gefahr wächst, auch das Rettende zu finden ist, und das hängt mit der mindestens doppelten Verkürzung zusammen, welche Heidegger Kant vorwirft, nämlich der von logos und Möglichkeitsreichtum zumal. Der springende Punkt ist, dass sich der Bereich des Möglichen zwar als Funktion der subjektiven Bedingungen – die sprachlich strukturiert sind – erweist, dieser aber,

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Vgl. dazu Kants interpretatorenreizende Passage KrV, A 89, B 122. Vgl. etwa BPh, 279, sowie MdI, 17.

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und das hat Kant gezeigt, zwar notwendig sprachlich strukturiert ist, nicht aber notwendig eine bestimmte sprachliche Struktur haben muss. Die Notwendigkeit des logos geht also mit einer Kontingenz der Urteilsform einher. Und wenn diese dasjenige ist, was den subjektiven Raum des Möglichen einschränkt, dann ist die jeweilige Beschränkung der Freiheit des Daseins sowenig wie das urteilende Verhältnis zum Seienden etwas Unerschütterliches. »Wem … [die] Präsenz des Gegenstandes präsentiert wird … hängt von dem Ich ab, nämlich von der Weite und dem Ausgriff der Einheit und der Regeln, unter die das Verbinden der Vorstellungen gebracht wird, d.h im Grunde von der Tragweite und der Art der Freiheit, kraft deren ich selbst ein Selbst bin.« (FnD, 147) Wenn geboten ist, zugunsten einer Rekonzeption des denkenden Ichs und einer Ausweitung seiner regelnden Freiheit in die kantische ›Übersprungsdimension‹ des Andrängenden ›einzukehren‹, um den darin übersprungenen Möglichkeitsreichtum aufzufangen und den Menschen in seiner Inständigkeit ursprünglicher zu fassen, dann geht das nur durch ein Umdenken in und durch die Sprache selbst. Das ist, worin die geforderte »aneignende Verwandlung« Kants besteht.

Parallele Schiller Wie ernst es Heidegger mit der »aneignenden Verwandlung« ist, wird deutlich, wenn er sich im folgenden Jahr mit der Frage nach einer möglichen Rekonstruktion der Kantischen Philosophie Schillers Briefen über die ästhetische Beziehung des Menschen zuwendet 18 : »Schillers philosophische Stellung, die mit seiner dichterischen innerlich zusammengeht, ist wesentlich bestimmt durch Kant. Wir müssen daher versuchen, die Grundstellung der Kant’schen Philosophie uns klar zu machen und zu sehen, wie Schiller Kant verwandelt« (ÜA, 9).

Dass es sich hierbei nicht um eine beliebige mögliche Verwandlung Der Status der 2005 veröffentlichten Schrift ist umstritten. Da es sich nur um eine Seminarmitschrift handelt, die von Heidegger nicht autorisiert wurde, ist sie nicht im Rahmen der Gesamtausgabe erschienen, sondern wurde von der Deutschen Schillergesellschaft zum 200. Jahrestag des Dichters herausgegeben. Dies sollte zwar dazu veranlassen, die Schrift mit Sorgfalt zu behandeln, nicht aber dazu, sie zu ignorieren. Dazu besteht auch wenig Grund, insofern sich der Gedankengang durchaus in Heideggers gesamtes Denken fügt.

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handelt, macht Heidegger in seiner zeitgleich gehaltenen NietzscheVorlesung kenntlich, in der er betont, dass bislang überhaupt nur einer – er selbst freilich ausgenommen – die Kantische Konzeption des Schönen wirklich verstanden habe; eben Schiller. 19 Was Schillers Position für Heidegger so interessant macht, ist neben seiner geschichtsphilosophischen Orientierung die Tatsache, dass er eine rezeptionsästhetische Sichtweise bemüht 20 , die überhaupt erst so etwas wie eine aktive Verwandlung der Grundstellung zu den Dingen nicht nur denkbar, sondern zumindest auf den ersten Blick herbeiführbar macht. Heideggers Auseinandersetzung fokussiert naheliegend diese subjektive Bereitschaftsdimension für das reichere Sein, wenn er sich hauptsächlich der Briefe 19–22 als des eigentlichen Herzstücks annimmt. Damit zeigt er ferner, dass er Schillers Anspruch, in diesen Passagen sein »System« dazulegen, durchaus ernst nimmt. 21 Ernst nimmt er vor allem auch dessen Verfahren, nämlich das transzendentalphilosophische, das er hier als überhaupt einzige Möglichkeit ausgibt, dem »rechnenden Wesen« der Zeit beizukommen. Allerdings sieht er nicht nur in der Transzendentalphilosophie eine wesentliche Parallele zur kantischen Philosophie. Vielmehr geht Heidegger so weit, Schiller und Kant im Grunde dieselbe Frage – »was ist der Mensch?« (ÜA, 70) – zuzuschreiben; und nur weil Schiller und Kant eben dasselbe intendieren, ist Schillers Schritt zurück eine Erhellung der kantischen Problematik und damit auch für Heidegger richtungsweisend. Ich will an dieser Stelle weniger auf den Systemanspruch als viel eher auf den ›Ort‹ eingehen, an den dieser Schritt zurück mit Schiller führt, nämlich den ästhetischen Zustand als für Heidegger vielversprechende Vorbereitungsposition des Vor-Urteilshaften. 22 Wenn Heidegger das Adjektiv »ästhetisch« nicht primär auf die Kunst bezieht, sondern – gemäß dem griechischen aisthetis – auf den Zustand des Wahrnehmens überhaupt, dann nimmt er den Faden des Rückgangs in die von Kant ›übersprungene‹ Wahrnehmungsdimension der Sache Vgl. NWM, 125. Vgl. dazu Düsing (1984, 189). 21 Diesen Anspruch stellt Schiller zumindest in einem Brief an Körner (womit er konkret die Briefe 17–22 im Auge hat, was er in einem Briefentwurf an Fichte zugunsten der Briefe 19–23 als eigentlicher ›Nervus der Sache‹ modifiziert). Vgl. dazu Düsing (1984, 161). 22 Vgl. die parallele Auseinandersetzung mit Nietzsches ästhetischem Zustand in NWM. 19 20

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nach auf, so dass wir sagen können, dass für Heidegger Schiller direkt an den Punkt des Übersprungs und das heißt kantisch: an die vorbegriffliche Synopsis der Einbildungskraft in der Wahrnehmung führt, als deren Wiederaneignung Heidegger diesen Schritt (mit Schiller) begreift (vgl. ÜA, 57). Wesentlich dabei ist natürlich der Hintergrund, durch welchen diese Aneignung der Sinnlichkeit motiviert ist: Es geht primär darum, diese in einer erneuerten Freiheitskonzeption aufzuheben, um damit einer einseitigen Verstandesfreiheit einen Entwurf an die Seite zu stellen, in welchem beide Stämme der menschlichen Erkenntnis zu ihrem vollen Recht kommen, das heißt – in Schillerscher Terminologie – Sachtrieb und Formtrieb versöhnt werden. Das übersprungene ›Gegebene‹ kommt denn auch im ästhetischen Zustand de nomine zu seinem Recht, insofern dieser von Schiller als der Zustand der realen Bestimmbarkeit qualifiziert wird, also als Bestimmbarkeit durch das »andrängende Reale«. 23 Entscheidend nun ist für Heidegger, dass Schillers ›Regelung‹ der Sinnlichkeit gerade nicht Grundsätze bemüht, bzw. das System der Kategorien des reinen Verstandes, sondern eine Idee, die sich ihrerseits erst im Bezug auf das Gefühl bestimmen lässt: die Idee des Schönen. Der Sache nach ist dies freilich auch in der kantischen Bestimmung des Schönen implizit, dessen Grundlage das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand ist, von welchem wiederum »kein anderes Bewußtsein […] als durch Empfindung der Wirkung […] möglich« 24 ist. In seiner Nichtbegrifflichkeit bringt ja auch das Reflexionsurteil keine objektive Erkenntnis, weshalb auch ›schön‹ nicht objektive Bestimmung des Gegenstandes und ›das Schöne‹ überhaupt kein möglicher Gegenstand ist. Daran hält auch Schiller fest, obgleich er, wie wir sehen werden, gegen Kant versucht, einen Objektivitätsbezug des urteilenden Subjekts herzustellen. Dazu aber gleich. An dieser Stelle ist zunächst wesentlich, dass wir es mit ›dem Schönen‹ mit einem Non-Objekt zu tun haben, dem kein Begriff zugrunde liegt, weshalb allein Empfindung und das Bewusstsein derselben kriterial für das Geschmacksurteil sind. Die Sinnlichkeit kommt also der Möglichkeit nach zu ihrem Recht; die Dominanz des Verstandes ist zumindest aufgeschoben. Das Verhältnis von Schönheit, Freiheit und Ganzheit, welche für den ästhetischen Zustand Bezugspunkt ist, lässt sich hier nicht ent23 24

Zum damit verbundenen Zeitcharakter siehe Janke (1984). Kant, KdU, AB 31. A

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wickeln. Nur so viel sei angemerkt: Die Kongruenz von Schönheit und Ganzheit ergibt sich für Heidegger daraus, dass das Schöne als im Gefühl Gegebenes gerade vorbegrifflich und damit vorobjektiv ist und sich niemals auf ein als Gegenstand gefasstes ›Dieses‹ allein beziehen kann: 25 »›Zustand der realen Bestimmbarkeit‹ ist das ›Freisein‹ für den sinnlichen Andrang im Ganzen. Das besagt, negativ genommen: nicht durch ein einzelnes Dieses, in dem Sinne, daß ich durch eine bestimmte Richtung der Erfahrung durch das Sehen und Hören festgelegt werde – sondern die Realität im Ganzen unter Weghebung jeder Vereinzelung und jeder Schranke. Im Zustand der realen Bestimmbarkeit liegt diese Aufhebung, in der sie sich eigentlich verwirklicht, das Reale im Ganzen wirklich ist.« (ÜA, 72)

Im Schönen als Unbegrifflichem ist also das Reale als Ganzes wirksam. Das zeigt Heidegger, wenn er seinen Studierenden im Seminar vor Augen hält, dass an die Schönheit bzw. den Werkcharakter des Gedichts »Der Römische Brunnen« von C. F. Meyer kein Maßstab heranreicht. Es ist »eine Gesetzlichkeit ohne ausdrückliche Grundsätzlichkeit, eine Gesetzlichkeit ohne Gesetz, ohne daß das Gesetz als solches herauskommt« (ÜA, 66). Entsprechend ist »die Gesetzlichkeit […] der Sinnlichkeit nicht aufgestoppelt, sondern aus der Sinnlichkeit herauswachsend« (ebd., 67). Damit ist die subjektive Rezeptivität nicht nur Überleitung und einer Erkenntnis dienstbar, sondern ihrerseits im Bezug auf das Werk nomologisch responsiv und, aufbauend darauf, gesetzausbildend, also die Mannigfaltigkeit gemäß der im Werk (und nicht im Verstand) vorgezeichneten Einheit synthetisierend. Wir sehen oder ahnen zumindest, inwiefern dies eine Annäherung an die Struktur der Synthesis der Apprehension sein soll. Auch diese gilt Heidegger als ursprünglich anblicksverschaffend 26 gemäß der rezeptiv gegebenen Strukturen und als ihre Gesetzlichkeit selbst ausbildend. 27 Allerdings – und das lässt Schiller, wie Heidegger es nennt, noch hinter Kant zurückbleiben 28 – begnügt sich Schiller nicht mit dieser Subjektivität des Schönen im Gefühl, sondern führt es auf einen Vgl. entsprechend auch das Aufstellen einer Welt durch das Kunstwerk im Kunstwerkaufsatz und das ›Dingen‹ des Gevierts im späteren Vortrag Das Ding. Ob Heidegger mit dieser Kürzung der Intentionalität des Gefühls Recht hat, steht hier nicht zur Debatte. 26 KPM, 92 ff., 179 f. 27 KPM, 179, wenn auch hier mit Bezug auf die Zeitbildung. 28 ÜA, 73. 25

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objektiven Einheitsgrund in einer Vernunftidee zurück. Diesen Schritt kann und will Heidegger nicht mitgehen, denn sein Ziel ist ja gerade eine Entsubjektivierung der den Menschen ›eingrenzenden‹ Subjektivität und nicht eine Objektivierung des Schönen.29 Heidegger wirft Schiller diesbezüglich vor, den ästhetischen Zustand instrumentalisiert zu haben, um ihn nur transitorisch als dem sittlichen Zustand dienend aufzufassen. Dies sei falsch, aber deswegen sei der ästhetische Zustand nicht minder bedeutsam. Seine Relevanz für Heidegger lässt sich konkret an den seminarinternen Werkinterpretationen, die Schillers Versuch eines Auf-denBegriff-Bringens des Schönen performativ ad absurdum führen, ablesen. Anstatt des Schönen an sich wird dessen steter Geheimnischarakter (ÜA, 80) gefunden. Allerdings dient die Exegese nicht nur der Falsifikation der Schillerschen Objektivitätsthese, sondern auch und vor allem dem Aufzeigen der Bedeutung, welche die Sprache für die im Schönen gewährte Ganzheitsbeziehung hat. Damit sind wir wieder am schon bei Kant aufgewiesenen Punkt des Ding-Satz-Isomorphismus. Heidegger geht mit Bezug auf Schiller zwar wohl auf die dichterische Form der Sprache ein 30 , viel wichtiger aber ist, dass er auch hier wieder auf die Konditionierung der Erfahrung des Schönen durch eine ihr gemäße Sprachform abhebt: »Falls uns ein solcher Zugang glücken sollte [d. h. Zugang, der »den Raum schafft, innerhalb dessen das Betroffen-werden, von einer ›Magie‹ möglich ist«, S. N.], – nicht allein durch dies Wissen und Überlegen –, aber vielleicht im Verlauf derselben, dann wäre auch die Erfahrung des Werkes und das Sprechen von diesem Werk als schönen nur möglich in einer Form der Darstellung, die selbst ihre eigene Gestaltung hat, eine Gesetzlichkeit, die wir eigentlich noch nicht kennen, nämlich Gesetzlichkeit der Auslegung des Kunstwerkes selbst.« (ÜA, 80 f.; Hervorh. S. N.)

Vorher war mit Heidegger gesagt worden, das Mathematische sei »jenes ›an‹ den Dingen, was wir eigentlich schon kennen, was wir demnach nicht erst aus den Dingen herholen, sondern in gewisser Weise selbst schon mitbringen.« (FnD, 57) Hier nun erweist sich die Sprachform, bzw. die Gesetzlichkeit als ›noch unbekannte‹ und damit als entZur Motivation Schillers, diesen Schritt zu tun, in dem nicht nur Heidegger einen »Irrtum« sieht, siehe Düsing (1984, 194 f.). 30 Heidegger hebt hier vor allem die neuen ›Gefüge‹, welche durch Klangverbindungen wie Reime gestiftet werden, hervor. 29

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schieden nichtmathematischer Entwurf. Es ist die eigennomologische Struktur des Gegebenen, welche das Gesetz diktiert, nicht die Struktur des Verstandes. Der Satzbau wird also dem Ding angemessen, nicht der Dingbau dem Satzbau. Das Problem dieses Ansatzes ist freilich dessen Zirkularität, denn als in die Sprache ›Geworfene‹ tragen wir den Satzbau apriorisch perfektiv, d. h. ›immer schon‹ an die Sachen heran und haben sie daher immer schon übersprungen, so dass es gar nicht erst zum eigentlichen »Schöpfen aus den Dingen« kommen kann. Das Problem sieht auch Heidegger, ohne es indessen lösen zu können. Der ästhetische Zustand ist eben unverfügbar. So wenig erzwingbar er allerdings auch ist, so wesentlich ist er doch als vorkategorialer Bezugsbereich zu dem, was ist, in seinem Sein. Ja, der ästhetische Zustand ist überhaupt nicht nur »ein Zustand unter anderen, sondern die Zuständlichkeit des Menschen überhaupt […], sofern der Mensch ein geschichtlich Handelnder ist.« (ÜA, 24) Was bleibt, deutet sich allerdings doch an und zwar darin, dass die Beziehung Werk – Auslegung, welche die Auslegung ihrerseits zwingt, eine ihr gemäße Sprache zu finden, hier analog zu der Beziehung Ursprungserfahrung – Werk verstanden wird, die ja gerade in der empfindungsresponsiven und empfindungsreflektierenden Sprache des Werkes mündet. Wenn dem so ist, wenn also die Auslegung der schöpferischen Sprache ihrerseits »in einer Form der Darstellung, die selbst ihre eigene Gestaltung hat, eine Gesetzlichkeit, die wir eigentlich noch nicht kennen, nämlich Gesetzlichkeit der Auslegung« stattfindet, worin sie das ›dichterische Wohnen‹ repliziert, dann bietet sich überhaupt nur ein einziger 31 Weg aus dem Zirkel oder in den Zirkel an: Der Weg, den Heidegger denn auch begehen wird, nämlich im auslegenden Zwiegespräch mit paradigmatischen, ausgewählten 32 ›schönen Werken‹ – wie jenen Hölderlins –, einen entsprechenden Zustand vorzubereiten. Dass Heidegger in Hölderlin seinen »Halbgott« findet, ist bekannt, wobei die Pointe freilich darin besteht, dass für Heidegger wie für Hölderlin das dichterische Genie nur insofern Genie ist, als es gerade aus jenem Ort der kantischen spontanen Einbildungskraft heraus In den Beiträgen zur Philosophie entwickelt Heidegger allerdings den Ansatz einer alternativen Grundstimmung: die Verhaltenheit, eine Mischung aus Erschrecken und Scheu. 32 Wie wichtig die Wahl ist, wird nicht nur mit Heideggers beschränkter Anzahl von Dichtern deutlich, sondern er hebt es im Seminar auch selbst hervor. Vgl. ÜA, 92. 31

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dichtet. Es sitzt sozusagen direkt an der Synthesis der Apprehension, behaust »übermütig« und »gesetzes-unbedürftig« 33 den ästhetischen Zustand selbst, um un- bzw. vorgegenständliche Strukturen in der direkten Begegnis nachzuzeichnen. 34 In dieser schlechthinnigen Gesetzesunbedürftigkeit, welche Hölderlin proklamiert, bleibt letztlich er Heideggers Ansprechpartner für den Rückgang in den Zustand der reinen Empfänglichkeit für das Sein, bzw. einen ›anderen Anfang‹ und eine ›veränderte Grundstellung zu den Dingen‹. Heideggers Dichtungsreflexionen setzen damit also die Dingfrage fort: Es geht um eine Sprache, die dem Wesen eines Daseins als an die Welt der Dinge überantwortetes Möglichsein gerecht wird. Diese Sprache ist eben Dichtung: »Das Dichten ist die im strengen Sinn des Wortes verstandene Maß-Nahme, durch die der Mensch erst das Maß für die Weite seines Wesens empfängt.« (VA 190) Inwiefern das dichterische Sprechen dies schafft? Heidegger deutet eine Antwort in der Schiller-Auslegung zumindest an: Indem es in Abkehr vom rein Begrifflichen des logos die Klanglichkeit der Sprache zum strukuralen Element macht und damit den Menschen nicht nur intellektuell, sondern in seiner sinnlichen Angängigkeit und Stimmungshaftigkeit an das in der Sprache Erscheinende und Aufscheinende bindet. Das dichterische ›ich verbinde‹ ist damit mehr denn nur eine Verstandestätigkeit.

Literatur Siglen zu Schriften Martin Heideggers BPh FnD GPh KPM

Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989 (GA 65). Die Frage nach dem Ding: Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, Tübingen 1987. Die Grundprobleme der Phänomenologie, hg. von F. W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1975 (GA 24). Kant und das Problem der Metaphysik, hg. von F. W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 5 1991.

So interpretiert Heidegger Hölderlins Rede von der »Gesetzlosigkeit« der Dichter (vgl. GA 39, 276). 34 Dies ist hier freilich nicht reproduktiv, sondern schöpferisch verstanden, eben im Sinne des Anblick-Verschaffens, auf das Heidegger bezüglich der Synthesis der Apprehension so viel Wert legt. 33

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Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling, hg. von G. Seubold, Frankfurt a. M. 1991 (GA 49). Nietzsches Wille zur Macht als Kunst, hg. von B. Heimbüchel, Frankfurt a. M. 1985 (GA 43). Sein und Zeit, Tübingen 18 2001. Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Wegmarken, Frankfurt a. M. 6 1980. Übungen für Anfänger: Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Wintersemester 1936/7, hg. von U. von Bülow, Marbach 2005: Deutsche Schillergesellschaft (= Marbacher Bibliothek 8).

Weitere Quellen Cassirer, Ernst, 1931, »Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation«, in: Kant-Studien XXXVI, S. 1–26. Dewalque, Arnaud, 2003, Heidegger et la question de la chose, Paris. Düsing, Wolfgang, 1984, »Ästhetische Form als Darstellung der Subjektivität. Zur Rezeption Kantischer Begriffe in Schillers Ästhetik«, in: Jürgen Bolten (Hg.), Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, Frankfurt a. M., S. 185–228. Grondin, Jean, 1987, Le tournant de la pensée de Martin Heidegger, Paris. Janke, Wolfgang, 1984, »Die Zeit in der Zeit aufheben. Der transzendentale Weg in Schillers Philosophie der Schönheit«, in: Jürgen Bolten (Hg.), Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, Frankfurt a. M., S. 229–260. Kant, Immanuel, 1998, Kritik der reinen Vernunft, Darmstadt (KrV). Ders., 1998, Kritik der Urteilskraft, Darmstadt (KdU). Knappstein, Thorwald, 1967, Heideggers Auseinandersetzung mit dem Denken Kants, Freiburg (Diss.). Makkreel, Rudolf, A., (2003), »Ontologische Schematisierung, Einbildungs- und Urteilskraft. Wie Kant, Dilthey und Heidegger den Idealismus beurteilen«, in: Harald Seubert (Hg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln/Weimar/Wien, S. 59–76. Marquard, Odo, »Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger«, in: Übungen für Anfänger: Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Wintersemester 1936/7, hg. von U. von Bülow, Marbach 2005: Deutsche Schillergesellschaft (= Marbacher Bibliothek 8), 191–206. Natterer, Paul, 2002, Systematischer Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft, Berlin. Prauss, Gerold, 1971, Erscheinung bei Kant. Ein Problem der ›Kritik der reinen Vernunft‹, Berlin. Schalow, Frank, 1992, The Renewal of the Heidegger-Kant-Dialogue, Albany. Schultz, Uwe, 1964, Das Problem des Schematismus bei Kant und Heidegger, München (Diss.).

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Zur Rolle des Raumes beim spten Heidegger

»Das Bleibende im Denken ist der Weg. Und Denkwege bergen in sich das Geheimnisvolle, daß wir sie vorwärts und rückwärts gehen können, daß sogar der Weg zurück uns erst vorwärts führt« (US, 99 1 ).

Der folgende Beitrag fasst gemäß dem Leitspruch der Gesamtausgabe »Wege – nicht Werke« 2 das Heideggersche Werk im Ganzen als einen dem Wandel unterworfenen Weg. Zudem wird der von Heidegger unablässig betonte Wegcharakter des Denkens ernst genommen und deshalb Denken und Weg in einem »Denkweg« aufeinander bezogen und ineinander gefügt. »Das Denken selber ist ein Weg« (WD, 164). Wie auf jedem Denkweg erweisen sich eingeschlagene Pfade entweder als gangbar oder als steinig. Einige können fortgeführt, andere müssen umakzentuiert oder sogar liegengelassen werden. Es wird zudem davon ausgegangen, dass diese Ganzheit von Heideggers Denkweg »außerhalb der Idee eines vorgeplanten Ganges liegt, die sich im Gehen eines Weges ergibt und die auch dann noch gewahrt bleibt, wenn der Weg einen Bogen beschreibt« 3 . Die »Kehre« im Denken Heideggers soll nicht als Bekehrung oder Umkehr gefasst werden, sondern vielmehr als eine Wegkehre im alemannischen Sinne, eben ein eingeschlagener Bogen auf dem Weg, der durch ein gewandeltes Sichzeigen derselben

Heideggers Schriften werden im Haupttext mit der jeweiligen Sigle und der Seitenzahl zitiert. 2 Heidegger hatte beabsichtigt, dem ersten Band seiner Gesamtausgabe ein Vorwort voranzustellen, dessen Ausarbeitung ihm jedoch verwehrt blieb. Stattdessen verfasste er den Leitspruch und zwei diesen erläuternde kurze Texte (vgl. das Nachwort des Herausgebers in: FS, 437 f.). 3 Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Die Selbstinterpretation Martin Heideggers, Meisenheim/G. 1964, S. 277. 1

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Michael Ruppert

»Sache des Denkens« notwendig wurde 4. Und auch Heidegger selbst hat sein Denken im »Seminar von Le Thor 1969« nicht als eine von Brüchen gekennzeichnete Umkehrung gelesen, sondern vielmehr als einen zweifachen Übergang: Zunächst von der »Frage nach dem Sinn von Sein« aus Sein und Zeit (1927) zur »Frage nach der Wahrheit des Seins« im Umkreis der drei Vorträge »Der Ursprung des Kunstwerkes« (1935/36) sowie der Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (1936– 38) und darüber hinaus schließlich zur »Frage nach dem Ort oder der Ortschaft des Seins« in der kleinen Schrift Aus der Erfahrung des Denkens aus dem Jahr 1947. Sinn, Wahrheit und Ort – griechisch topos – sind demnach drei Hinblicknahmen oder sich verändernde Sehepunkte, unter denen das Sein betrachtet wird, die »gleichzeitig drei Schritte auf dem Weg des Denkens bezeichnen« (S, 344, vgl. auch ebd., 335). Der vorliegende Beitrag versteht sich als ein erster unabgeschlossener Versuch, den Blick auf Momente des Raumes, des Wohnens und des Aufenthalts in Heideggers Denken zu lenken, um so den Heideggerschen Schritt zur Engführung und Zusammenfügung von Sein und Ort in einer Onto- oder Seinstopologie anders und gelungenenfalls besser verstehen zu lernen. Mal wirken sie en passant eingestreut, ja geradezu parenthetisch, ein andermal nehmen sie eine exponierte Stellung ein – Gesichtspunkte und Hinsichten des Raumes finden sich auf Heideggers Denkweg jedenfalls allerorten 5 . Bereits in Sein und Zeit spricht Heidegger dem Dasein »ein eigenes ›Im-Raum-sein‹« zu, »das aber seinerseits nur möglich ist auf dem Grunde des In-der-Welt-seins überhaupt« (SZ, § 12, 56). Dies bedeutet, genauer gesprochen, dass das Im-Raum-sein des Daseins durch dessen In-der-Welt-sein ontologisch fundiert ist, und es deutet sich an, was in den §§ 22–24 im Einzelnen seine Entfaltung erfährt. Die Durchführung der Analyse des existenzialen Raumes muss eingebettet sein in die Analyse der Welt, womit auch die überlieferte gängige Vorstellung, die Welt sei im Raume, einer Revision unterzogen wird: Die Welt ist nicht länger in den Raum eingebettet, sondern umgekehrt der Raum in die Welt. Anschließend versucht Hei4 Vgl. zum Motiv der »Kehre« die Begriffserklärungen Hans-Georg Gadamers, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt a. M. 2 1995, S. 217. 5 Die zentrale Stellung der Raumkonzeption auf Heideggers Denkweg betonen neuerdings auch: Jeff Malpas, Heidegger’s Topology. Being, Place, World, Cambridge/Mass. 2006; und Theodore R. Schatzki, Martin Heidegger. Theorist of Space, Stuttgart 2007.

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Zur Rolle des Raumes beim späten Heidegger

degger in § 70 die »Zeitlichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit« freizulegen, indem er »existenzial-analytisch nach den zeitlichen Bedingungen der Möglichkeit der daseinsmäßigen Räumlichkeit« fragt, »die ihrerseits das Entdecken des innerweltlichen Raumes fundiert« (SZ, 367). Hier zeigt sich ähnlich wie in Kants »Transzendentaler Ästhetik« ein tendenzieller »Vorrang der Zeit gegenüber dem Raum« (ebd.), freilich mit dem Unterschied, dass Heidegger Kants Aufspaltung der Erscheinungen und die damit verbundene Grenzziehung von äußerer und innerer Anschauung ablehnt, sondern vielmehr meint, dass »die Räumlichkeit des Daseins von der Zeitlichkeit im Sinne der existenzialen Fundierung ›umgriffen‹ wird« (ebd.). Wie schwierig sich dieses Vorhaben gestalten sollte, zeigt die spätere Rücknahme im Studiumgenerale-Vortrag »Zeit und Sein« aus dem Jahr 1962: »Der Versuch in ›Sein und Zeit‹ § 70, die Räumlichkeit des Daseins auf die Zeitlichkeit zurückzuführen, läßt sich nicht halten« (ZSD, 24). Sein und Zeit unter der Perspektive des späten Heidegger gelesen, eröffnet die Möglichkeit, eine allgemeingültige Aussage über das Verhältnis von Raum- und Zeitanalysen zu machen. »Bis heute und nicht nur in der Themenfolge, erörtert man den Raum stets vor der Zeit, auch wenn man den Zeitanalysen, wie seit Kant, einen Vorrang einräumt. Und doch kann man bemerken, daß letztere ›am Ende‹ unvermeidlich zu einem Problem des Raumes zurückkehren, das man ›anfangs‹ zu überschreiten glaubte« 6 .

Das erste Anliegen dieses Beitrags ist es, die spätere Gleichrangigkeit des Raumes mit der Zeit aus der versammelnden Verknüpfung beider in einem »Zeit-Raum« bzw. »Zeit-Spiel-Raum« und dessen Wichtigkeit für das »Ereignis-Denken« im Ganzen schlaglichtartig zu beleuchten. Das zweite Anliegen besteht darin, dem Verhältnis von logos und topos und dessen Bezug zum Sein im Ganzen nachzugehen, um das zunächst dunkel erscheinende Formelwort von der »Topologie des Seyns« (ED, 23) etwas zu erhellen. Mit seinem »Schritt in die Kunst« 7 modifiziert Heidegger im Hinblick auf den Raum vieles aus seinen 6 Zu diesem Resümee gelangte jedenfalls Hans-Dieter Bahr, Die Sprache des Gastes. Eine Metaethik, Leipzig 1994, S. 371. 7 Vgl. zu diesem Begriff: Odo Marquard, »Der Schritt in die Kunst. Über Schiller und Heidegger«, in: Martin Heidegger, Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37, hg. von Ulrich von Bülow, Marbach/N. 2005, S. 191–206.

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Anfangsjahren, vieles aber bleibt bestimmend, »es wird in den folgenden Schritt eingebaut und diesem vorgebaut« (WD, 165). Für Heideggers, am Aristotelischen Begriff des topos angelehnten, Raum- und Ortsbegriff aufschlussreich ist die Ansprache mit dem Titel Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, die er anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung mit Werken des Bildhauers Bernhard Heiliger in der Galerie im Erker in St. Gallen im Jahre 1964 hielt. Ferner enthält die kleine – dem spanischen Bildhauer Eduardo Chillida gewidmete – Schrift Die Kunst und der Raum des Jahres 1969 wertvolle Hinweise zur Kunst, zur Eigenart von Raum und Räumlichkeit schlechthin und zum Ineinanderspiel beider. Die Schriften zur Kunst thematisieren die Gründung und Eröffnung des Spielraums durch die Bestreitung des Streites von Erde und Welt im Werk und bestimmen die Plastik als ein »verkörperndes Ins-Werk-Bringen von Orten und mit diesen ein Eröffnen von Gegenden möglichen Wohnens der Menschen, möglichen Verweilens der sie umgebenden, sie angehenden Dinge« (KR, 13). Von zentraler Bedeutung für Heideggers späte Konzeption des Raumes ist außerdem der Text »Bauen Wohnen Denken«, den er am 5. August 1951 im Rahmen der »Darmstädter Gespräche« über »Mensch und Raum« vor Architekten und Bau-Künstlern vortrug. Im Hinblick auf die im Vortrag genannten Konzeptionen des Bauens und Wohnens, des Schonens, des Gevierts und des Dings gehören in das thematische Umfeld des Textes die Vorträge »Das Ding« (1950), »›… dichterisch wohnet der Mensch …‹« (1951) sowie »Das Wohnen des Menschen« (1970). Mit einem Blick auf den Zusammenhang von »Zeit-Spiel-Raum« (US, 214) und dem »Zeit-Raum als Ab-grund« (BPh, 379) gelangt unsere schrittweise Wanderung zu einer vorläufigen Einkehr. Gehen wir also ein paar Schritte gemeinsam mit Heidegger und verweilen wir an den jeweiligen »Wegmarken« – den »Aufenthalten im Unterwegs« (WM, V) – für angemessene Zeit, um im Unterwegs des Denkens weder vorschnell weiterzueilen noch uns zu verirren.

1.

Die Topologie des Seyns

Nähern wir uns in einem ersten Schritt dem griechischen Verständnis des Raumes und des topos, um anschließend Heideggers Rede von der Seinstopologie erhellen zu können. In der Vorlesung Einführung in die 194

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Metaphysik vom Sommersemester 1935 findet sich folgende Bemerkung zum Raumbegriff der Griechen: »Die Griechen haben kein Wort für ›Raum‹. Das ist kein Zufall; denn sie erfahren das Räumliche nicht von der extensio her, sondern aus dem Ort (tpo@) als cðra, was weder Ort noch Raum bedeutet, was aber durch das Dastehende eingenommen, besetzt wird. Der Ort gehört zum Ding selbst. Die verschiedenen Dinge haben je ihren Ort« (EM, 50).

Das griechische Raumverständnis geht nicht von dem Raum aus, sondern denkt ausgehend von Orten räumlich 8 . Im griechischen Denken waren Ding und Ort offensichtlich unmittelbar zusammengedacht. Da dieser Gedanke nicht sofort einleuchtet, aber für Heideggers Raumverständnis zentral ist, wollen wir einen Blick auf den Aristotelischen Ortsbegriff werfen. Schon in der Kategorienschrift wird der Ort (topos) als ein Zusammenhängendes (syneches) gekennzeichnet. »Die Teile des Körpers (sôma), die sich an einer gemeinsamen Grenze (horos) zusammenfügen, nehmen nämlich einen Ort ein. Folglich fügen sich die Teile des Ortes, die jeder Teil des Körpers einnimmt, an derselben Grenze zusammen, an der auch die Teile des Körpers sich zusammenfügen« 9 . In der Physik ist der topos auf der einen Seite »ein Gefäß, das man nicht wegsetzen kann (angeion ametakinêton)«, auf der anderen Seite »die erste (d. h. innerste), unbewegliche Grenze (peras) des Umfassenden (periechon)« 10 . Aus den zitierten Definitionen wird ersichtlich, dass der Ort (topos) einen Körper – z. B. einen Tisch – unmittelbar umfasst, in etwa so wie ein eng anliegender Handschuh die Hand. Im Gegensatz zum Handschuh ist der Ort aber unbeweglich (akinêton), d. h. wenn der Tisch weggetragen wird, wird sein Ort nicht mitbewegt, sondern der Tisch nimmt einen anderen Ort ein. Beim topos handelt es sich also, anders als bei der Gegend (chôra), nicht um ein Singularetantum: Es gibt nicht den monistischen und geometrischen 8 Dass die Antike nicht den Raum kannte, sondern Orte, betonte Heidegger erneut in einem Gespräch mit Heinrich Wiegand Petzet am 24. Februar 1952 (vgl. Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger 1929–1976, Frankfurt a. M. 1983, S. 85). 9 Aristoteles, Die Kategorien. Griechisch-deutsch, übers. von Ingo W. Rath, Stuttgart 1998, 6, 5a8–12. 10 Aristoteles, Physik. Vorlesung über Natur. Griechisch-deutsch, übers. von Hans Günter Zekl, 2 Bde., Hamburg 1987/88, IV 4, 212a15 f. und 20 f. Heidegger selbst verweist auf diese beiden Stellen in seinem Handexemplar des Vortragstextes »Bauen Wohnen Denken«, vgl. GA 7, 156, Anm. h (VA, 149).

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Raum schlechthin und nichts sonst, denn nach Aristoteles’ Raumkonzeption »empfangen die Räume ihr Wesen aus Orten und nicht aus ›dem‹ Raum« (VA, 149). Das griechische Raumverständnis denkt den Raum vom Körper aus »als dessen Ort und Ortbehalt. Jeder Körper hat jedoch seinen – eigenen –, ihm gemäßen Ort« (KPR, 10 f.). Der Ort wird vom Körper und Ding aus gedacht, zumal jeder Körper je seinen eigenen Ort hat, an einen »eigenen Ort« (oikeios topos) gehört und sich an diesen bewegt, »wenn man ihn nicht daran hindert, der eine nach oben (anô), der andere nach unten (katô)« 11 . Damit geht einher, dass dem griechisch gedachten Raum »ausgezeichnete Örter und diastffimata, Auseinanderstände (nicht gleich: extensio)« (KPR, 11) zukommen. Halten wir zur Beziehung von Raum, Ort und Körper kurz fest: Heidegger folgt Aristoteles’ Topologie, die die Unterscheidung von topos und chôra noch kennt. Jedem einzelnen Körper wird ein ihm selbst gehöriger Ortbehalt eingeräumt, diese Orte wiederum werden aufgenommen und umfangen von Raum. Doch wie macht Heidegger die Aristotelische Topologie nun für sein Seinsdenken fruchtbar? In der 1947 geschriebenen aphoristischen Spruchsammlung Aus der Erfahrung des Denkens verwendet Heidegger erstmals den Begriff der Seinstopologie: »Der Dichtungscharakter des Denkens ist noch verhüllt. Wo er sich zeigt, gleicht er für lange Zeit der Utopie eines halbpoetischen Verstandes. Aber das denkende Dichten ist in der Wahrheit die Topologie des Seyns. Sie sagt diesem die Ortschaft seines Wesens« (ED, 23).

Das Wort »Utopie« muss hier im ursprünglichen, d. h. griechischen Sinne verstanden werden. Wer Platon gelesen hat, weiß ganz genau, was es heißt atopos zu sein. Was atopos ist, ist entweder – wie etwa Sokrates im Symposion 12 – nicht in den gewöhnlichen Vorstellungen unterzubringen oder hat seinen Orientierungssinn verloren, weil es keinen Ort, keinen topos mehr hat. Der »Dichtungscharakter des Denkens« scheint also gleichsam keinen eigentlichen Ort zu haben, aus dem her der Denker ›sich im Denken orientieren‹ könnte. Diesem Wort »Utopie« widerspricht hier in aller Strenge das Wort »Topologie« in dem Ausdruck »Topologie des Seyns«. Geht man von den beiden grieAristoteles, Physik, IV 1, 208b8–12. Platon, »Das Gastmahl«, in: Werke in acht Bänden. Griechisch-deutsch, Bd. 3, hg. von Gunther Eigler, Darmstadt 3 1990, 215a2 f.

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chischen Wortbestandteilen – logos und topos – aus, so bedeutet Topologie in etwa: versammelnde Sage des Ortes. Mit »Seyn« bezeichnet Heidegger das Sein im Ganzen, d. h. je schon in seiner Differenz von Sein und Seiendem. »Topologie des Seyns« besagt demnach: versammelnde Sage des Ortes bzw. Erörterung der Ortschaft des Seins im Ganzen. Sein und Ort fügen sich in Heideggers Seinstopologie ineinander, was impliziert, dass Sein gerade keine »Utopie« darstellt und insofern nicht als »utopisch« bezeichnet werden kann. Sein ist nicht atopos, sondern hat als topos schlechthin zu gelten: Ist doch »das Sein und es allein der tpo@ für alles Seiende« (P, 141). Die Rede vom noch verhüllten Dichtungscharakter des Denkens und dem denkenden Dichten, soll anzeigen, dass Dichten und Denken gleichursprüngliche Weisen des Sprechens der Sprache sind, die nicht auf das je andere rückführbar sind, sondern sich gegenseitig ergänzen und insofern einander brauchen. Da sich sowohl Dichten als auch Denken innerhalb der Sprache bewegen, gehören beide in eine Nachbarschaft, die grundsätzlich von einer Wesensnähe bestimmt wird, aber auch Momente der Ferne in sich birgt. Beide bewegen sich in einer gegenschwingenden NäheFerne-Relation, die nie zur Ruhe kommt, sondern in einer steten oszillierenden Bewegung ihren Raumort und Zeitpunkt zwischen beiden Polen auszuloten sucht 13 . Wie jedes nachbarschaftliche Verhältnis sind demnach auch das denkende Dichten Hölderlins und das dichtende Denken Heideggers durch eine Dynamik geprägt, die Gemeinsamkeiten, aber auch Verschiedenheiten mit sich führt. Um Heideggers berühmte Formulierung aufzugreifen: »Weil jedoch das Gleiche nur gleich ist als das Verschiedene, das Dichten und Denken aber am reinsten sich gleichen in der Sorgsamkeit des Wortes, sind beide zugleich am weitesten in ihrem Wesen getrennt. Der Denker sagt das Sein. Der Dichter nennt das Heilige.« (WM, 312)

Und auch Hölderlin weiß um die »Zwiesprache der Dichter und Denker, die ›nahe wohnen auf getrenntesten Bergen‹« (ebd.). Unter diesem Aspekt kann der Denkweg Heideggers auch als eine »Erörterung der Ortschaft« (Topologie) gefasst werden, die nicht bei einer »Ortsbeschreibung« (Topographie) stehen bleibt, sondern nach dem Raum

Dieses zwiefache Geschehen von Nähe und Ferne fasst Emil Kettering typographisch als NÄHE: »NÄHE nennt das ganze Geschehen, Nähe nur eine Seite davon« (NÄHE. Das Denken Martin Heideggers, Pfullingen 1987, S. 17, Anm. 9).

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für einen oder mehrere zusammenhängende Wege durch das Gebirge sucht, das die beiden vom Dichter und Denker bewohnten Berggipfel zwar voneinander scheidet, aber dennoch miteinander verbindet 14 . Obwohl die Ausdrücke »Topologie« und »Analysis situs« ursprünglich als termini technici der Mathematik durch Johann Benedict Listing und Gottfried Wilhelm Leibniz eingeführt wurden 15 , wendet sich Heidegger mit seinem Formelwort von der »Topologie des Seyns« gegen ein parametrisches Raumverständnis. Der Raum wird nicht ›angemessen‹ durchmessen durch den Mathematiker, Physiker oder Techniker und ist deshalb nicht reduzierbar auf den durch rechnerischmessbares Volumen ausfüllbaren Raum der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Da das »Maß« durch »den nur noch rechnenden Menschen« auf das bloße »Quantum« reduziert wird (DE, 159), fehlt ihm auch die ›Maß-nahme‹ des dichterischen Entbergens. Das Undichterische heutigen Wohnens liegt gerade im Unvermögen des rechnenden Menschen, ›angemessen‹ Maß zu nehmen. »Der Mensch nimmt für seinen Willen zur Produktion seiner selbst und der bestellbaren Bestände das Maß von dieser durch seine Machenschaft verunstalteten Erde. Ihm fehlt das Gehör für Hölderlins Antwort auf diese Frage: ›Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines‹« (ebd.) 16 .

Dichten ist für Heidegger ein vor allen anderen Arten ausgezeichnetes »Messen« (VA, 190) und in der Maßnahme der Dichtung zeigt sich das In seinem Beitrag zur Festschrift für Ernst Jünger aus dem Jahre 1955 will Heidegger Jüngers »Topographie des Nihilismus« ergänzt wissen um eine »Topologie«, im Sinne einer »Erörterung desjenigen Ortes, der Sein und Nichts in ihr Wesen versammelt, das Wesen des Nihilismus bestimmt und so die Wege erkennen läßt, auf denen sich die Weisen einer möglichen Überwindung des Nihilismus abzeichnen« (WM, 412). 15 Vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler, »Geschichtliche Betrachtungen zum Begriff ›Topologie‹ : Leibniz und Listing«, in: SFB 230 (Hg.), Topologie-Workshop. Ein Ansatz zur Entwicklung alternativer Strukturen, Stuttgart 1994, S. 1–13. Dass sich Heidegger dieser Begriffsverwendung in der Mathematik bewusst war, belegt sein Verweis in Sein und Zeit (112, Anm. 1) auf die Studie des Mathematikers und Husserl-Schülers Oskar Becker, »Beiträge zur phänomenologischen Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen Anwendungen«, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 6 (1923), S. 385–560, hier: S. 420–424. 16 Friedrich Hölderlin, »In lieblicher Bläue …«, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, hg. von Michael Knaupp, München 1992 [= MA], S. 908, Z. 25. Zu Heideggers Beurteilung der Überlieferung dieses ›Gedichts‹ als Prosatext in Wilhelm Waiblingers Roman Phaethon (1823) sind dessen Ausführungen im »Zürcher Seminar« aufschlussreich (vgl. S, 426). 14

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Wesen des Maßnehmens schlechthin. Deshalb wird gerade der Künstler und – auf seine je eigene Weise – der Dichter dem eigenen metron des Raumes gerecht. Maßnehmend am nicht irdisch vorhandenen Maß, winkt der Dichter die Winke, die er von den »Göttlichen« – den »winkenden Boten der Gottheit« – empfangen hat, weiter ins Volk. Sehen wir uns dieses dichterische Wohnen in einer »Neigungsgegend«, das durch ein eigentümliches Verwiesensein der irdisch »Sterblichen« auf die »Himmlischen« und vice versa geprägt zu sein scheint (DE, 156), im Folgenden genauer an.

2.

Geviert – Ding – Zeit-Spiel-Raum

2.1. Das vierfältig schonende Wohnen im Geviert Bereits Ende der 1930er Jahre ist die Struktur der »Vierung« 17 – wie Heidegger die »Einheit des Gevierts« bezeichnet (VA, 173) – der Sache nach bereits angelegt, freilich noch stärker am Streit von Welt und Erde aus dem Kunstwerk-Aufsatz 18 orientiert und deshalb auch noch unter anderen Titeln zu finden: In den Beiträgen etwa wird der Buchstabe »E« des Ereignisses mit Welt und Erde, Mensch und Göttern umgeben (BPh, 310). Ferner ist hier die Rede davon, dass sich das »Seyn« in der »Entgegnung der Götter und Menschen als dem Grund des Streites von Welt und Erde« enthülle (BPh, 479). Das »Seyn«, je schon gedacht in seiner Zweiheit von Sein und Seiendem, wird differenziert zu einer Vierheit mit den Relationsgliedern Götter – Menschen auf der einen und Welt – Erde auf der anderen Seite. Außerdem scheinen im ersten der sogenannten Feldweg-Gespräche mit dem Titel »3Agcibasfflh. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg« aus dem Zum Zusammenhang zwischen der Pythagoreischen Harmonia und der GeviertKonzeption: Platon, »Gorgias«, in: Werke in acht Bänden. Griechisch-deutsch, Bd. 2, hg. von Gunther Eigler, Darmstadt 3 1990, 507e7–508a4, sowie Hermann Diels / Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Berlin 6 1951 [= DK], 47 B 3. Vgl. zum Stellenwert der Tetraktys (»Vierheit«) in der Pythagoreischen Lehre: DK 58 B 15 u. C 4. 18 So heißt es in den Beiträgen, der »Zeit-Raum« sei zu denken als »Bestreitung des Streites« und als »Rücknahme in den Streit, Welt und Erde – Ereignis« (BPh, 261). – Vgl. zum Streitgeschehen des Weiteren den Verweis im Kunstwerk-Aufsatz (UK, 29) auf Heraklits polemos-Fragment (DK 22 B 53). 17

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Jahre 1945 die vier Welt-Gegenden bereits bei der Beschreibung eines Kruges als Welt-Ding 19 aufzutauchen, äußert doch »Der Weise«: »Der Krug wäre dann etwas Festliches. Und zu jener Weite, in der Erde und Himmel genannt sind, gehörte auch das Fest, das, wie mir dünkt, selbst schon eine Weite ist, die den Menschen verweilt« (FW, 136; Herv. M. R.).

Auch hier muss einschränkend gesagt werden, dass die Stelle, die später die »Göttlichen« einnehmen, zu dieser Zeit noch vom »Fest« besetzt ist. Jedoch erst in den 1950er Jahren erfährt die Geviert-Konzeption eine eindringlichere Entfaltung. Zum einen vollzieht sich eine terminologische Umgestaltung: »Welt« taucht nun als Name für das »Geviert« selbst im Ganzen auf, nicht länger – wie etwa noch in den Beiträgen – nur als eines der vier Relationsglieder desselben. Zum anderen verdeutlicht Heidegger das Verhältnis der vier Welt-Gegenden des Gevierts zueinander und erläutert, wie die Identität und Differenz von Erde und Himmel, Göttlichen und Sterblichen gewahrt bleiben und somit schonendes Wohnen gelingen kann. Der »vierfältige Aufenthalt im Geviert« ist nur möglich durch den »Aufenthalt bei den Dingen« (VA, 145). Wir halten uns in angemessener Weise bei den Dingen auf, wenn wir die Dinge als Dinge begegnen lassen. Nach den Regeln der Logik sagen die sich in Heideggers Spätdenken häufig auffindbaren Wendungen »die Sprache spricht«, »das Wesen west«, »das Ding dingt«, »die Welt weltet«, »die Zeit zeitigt« und »der Raum räumt« zweimal das Selbe und liefern keinen Erkenntnisgewinn; sie scheinen nichts sagend zu sein. Aber dennoch ist das Beharren auf dieser Tautologie unverzichtbar, denn das Selbe, to auto – oder anders formuliert: die »tautologische Differenz« und das »Eigenwesen« 20 – ist nicht durch etwas anderes bestimmbar. Wenn wir zum Beispiel einen Baum nicht mehr in erster Linie als Baum nehmen, sondern ihn als ens creatum

In der überarbeiteten Fassung, die 1959 in der Schrift Gelassenheit unter dem Titel »Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken« erschien (G, 27–71) und in etwa dem letzten Drittel der Fassung von 1945 entspricht (FW, 105–157), ist die ausführliche Passage über den Krug als Ding (FW, 126–138) nicht enthalten. Vgl. zum Krug als Versammlungsort der vier Welt-Gegenden – wie er im Vortrag »Das Ding« beschrieben wird – Kap. 2.2. dieses Beitrags. 20 Vgl. zu diesen Begriffen: Dietmar Koch, »›Das erbringende Eignen‹. Zu Heideggers Konzeption des Eigenwesens im ›Ereignis-Denken‹«, in: Damir Barbaric´ (Hg.), Das Spätwerk Heideggers. Ereignis – Sage – Geviert, Würzburg 2007, S. 95–107. 19

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oder Zellulose- und Holzlieferant betrachten, werden wir dem Baum als Baum in seinem Eigenen nicht mehr gerecht. Mit dieser Prämisse des Gevierts im Hintergrund wollen wir nun das »vierfältige Schonen des Gevierts« näher betrachten (vgl. VA, 143 ff., 170 f.). Als erstes nennt Heidegger das Retten der Erde. Um diese Wendung angemessen verstehen zu können, muss man beachten, dass Heidegger an dieser Stelle eine Wortbedeutung von »Retten« im Blick hat, die über unser heutiges Verständnis hinausgeht und dieses zum Teil hinter sich lässt. Retten ist mehr als ein bloßes in Sicherheit bringen, am Leben erhalten und in seinem Fortbestand sichern, denn der Wortbedeutung folgend, die Gotthold Ephraim Lessing noch geläufig war, besagt »retten« ursprünglich: »lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hut nehmen, wahren. Lessing gebraucht noch das Wort ›Rettung‹ betonterweise in dem Sinne von Rechtfertigung: in das Rechte, Wesenhafte zurückstellen, darin wahren« (TK, 41). »Rettungen« nannte Lessing eine Reihe von Schriften, in denen er Autoren aus verschiedenen Literaturgattungen und Zeiten öffentlich verteidigte, die in die unglückliche Fügung gerieten, von der Mit- oder Nachwelt nicht anerkannt zu sein. Lessings Ansinnen war es, diese verfemten Literaten zu rechtfertigen und erneut zu ihrem Recht kommen zu lassen, um so den Weg zur Einkehr in ihr Wesen zu bereiten. »Retten« besagt für Heidegger »einholen ins Wesen, um so das Wesen erst zu seinem eigentlichen Scheinen zu bringen« (TK, 28). Retten der Erde heißt demnach: die Erde in ihr eigenes Wesen Freilassen. Hölderlins Gedicht »Patmos« kennzeichnet die Gefahr selbst als das Rettende: »Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch« 21 . Das Wesen der Gefahr ist ihre ambivalente Struktur, wonach das Gefährliche der Gefahr darin besteht, sie gerade nicht als das zu erkennen, was sie ist, nämlich als Gefahr. Nur wenn die Gefahr als Gefahr erkannt wird, kann das Rettende aufgehen und langsam im Verborgenen gedeihen. Retten bedeutet entgegen unserer heutigen Auffassung eben nicht, etwas plötzlich der Gefahr zu entreißen, sondern ist ein langwieriger Prozess, der der Vorbereitung bedarf und auch dann nur zu seiner Zeit gelingen mag. Unbedingte Vorraussetzung jedenfalls ist, dass die Sterblichen die Erde nicht schrankenlos ausbeuten, sie nicht herausfordern und sie nicht als ersetzbaren Bestand betrachten. Friedrich Hölderlin, »Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. [Erste Fassung]«, in: MA, S. 447, V. 3 f.

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Zweitens wird das Empfangen des Himmels als Himmel erwähnt. Die Sterblichen sollen die Nacht nicht zum Tag und den Tag nicht zur gehetzten Unrast machen, sondern im Einklang mit dem zirkulären Lauf der Gestirne, der kosmischen Rhythmik des Wechsels der Tagesund Jahreszeiten und den Wetterbedingungen leben. Die Menschen leben unter dem Himmelsgewölbe dann in schonender Weise, wenn sie den auf der Erde und unter dem Himmel gedeihenden Pflanzen ihren jeweils rechten Zeitpunkt zugestehen und das Ernten der Früchte nicht überstürzen. Denn wo am Ende eine Ernte stehen soll, bedarf es auch einer angemessener Reife- und Wachstumszeit. Jedes Ding hat seinen eigenen kairos, seine Weile und Eile, wenn wir gelernt haben, dies zu respektieren, empfangen wir den Himmel wieder als das, was er selbst ist, nämlich als Himmel. An dritter Stelle steht das Erwarten der Göttlichen als den Göttlichen. Im reinen Warten, nicht im Er-warten, sollen die Sterblichen auf die »Winke ihrer Ankunft« hoffen und diesem angedeuteten Zuspruch entsprechen. Die Sterblichen sollen ihren Blick auf die Unsterblichen richten und mit einem gesunden Maß an Ehrfurcht auf die »Göttlichen« als die »winkenden Boten der Gottheit« achten. Mit Hölderlins »Rousseau« lässt sich sagen: »Winke sind / Von Alters her die Sprache der Götter« 22 . Folgt man Heraklit, so kommt dem Winken – wie einem Boten – eine Mittelstellung zu: »Der Herrscher, dessen Wahrsagung zu Delphi geschieht, ote lffgei ote krÐptei, er sammelt weder, noch verbirgt er, ⁄llÞ shmafflnei, sondern er gibt Winke« (EM, 130) 23 . Doch was ist ein Wink? Wenn jemand winkt, gibt er mit der Hand oder einem Gegenstand ein Zeichen, er be-deutet (sêmainei). Aber auch ein Wink mit dem Kopf kann gemeint sein, ein Neigen des Kopfes oder ein grüßendes Zunicken im Vorübergehen. Die deutschen Verben neigen und nicken – die über das gemeinsame Etymon nîgen sowohl untereinander, als auch mit den lateinischen Verben nutare, nuere (zunicken und winken) und nictare (mit den Augen zwinkern, zublinzeln) sprachverwandt sind 24 – verdeutlichen diesen Sachverhalt: Denn das lateinische numen bezeichnet entweder einen göttlichen Friedrich Hölderlin, »Rousseau«, in: MA, S. 268, V. 31 f. DK 22 B 93. 24 Art. »neigen«, in: Jacob und Wilhelm Grimm (Hg.), Deutsches Wörterbuch, Bd. 13, Leipzig 1889, Sp. 568–577, hier: Sp. 568 und Art. »nicken«, in: ebd., Sp. 735–737, hier: Sp. 735. 22 23

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Wink, der durch die »Göttlichen« überbracht wird, kann aber auch direkt auf die »Gottheit« selbst Bezug nehmen. Der Wink in diesem Sinne ist also ein rede- und wortloser Gruß, der uns im Vorbeigehen aus der Ferne erreicht. Man gibt dem Gegenüber zwar durch ein Zeichen zu verstehen, dass man es kennt und seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hat, verbirgt aber zugleich wohin und zu welchem Zweck man auf dem Weg ist; dennoch sind sich der Gegrüßte und der Grüßende in Gedanken nahe. Das Phänomen des Winkes vereint somit Nähe und Ferne in sich. Entsprechend sind sich im Geviert Sterbliche und Göttliche nah und fern zugleich: »Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott« 25 . Viertens wird das Geleiten der Sterblichen genannt. Die Sterblichen wohnen dann in angemessener Weise im Geviert, wenn sie den Tod als Tod vermögen. Bereits in der Todesanalyse von Sein und Zeit resümierte Heidegger, »daß das Aus-der-Welt-gehen des Daseins im Sinne des Sterbens unterschieden werden muß von einem Aus-derWelt-gehen des Nur-lebenden. Das Enden eines Lebendigen fassen wir terminologisch als Verenden« (SZ, 240). Deutlich zeigt sich also der Unterschied von Sterben des Daseins und Verenden des Lebenden (Tiere und Pflanzen). Der Titel »Sterben« sei nämlich reserviert »als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist. Darnach ist zu sagen: Dasein verendet nie« (SZ, 247). Und auch in Heideggers Konzeption des Gevierts ist der Mensch nicht in erster Linie das zoˆon logon echon oder animal rationale, sondern dasjenige Lebewesen, ˙das in einer ausgezeichneten Beziehung zum thanatos steht: »¡ qnht@ ist dasjenige Wesen, das sterben kann« (FW, 224). Sterben heißt: den Tod nicht als unnötige Negativität verstehen, sondern ihn als notwendig und zum Leben gehörig integrieren. Durch die Hereinnahme und Nähe des Todes ergibt sich eine wesenhaft andere raum-zeitliche Lebenserfahrung und das jeweils gelebte Leben wird durch die Jeweiligkeit des Sterbens allererst zu einem hohen gelebten Leben. Der jeweilige Tod bleibt zwar durch andere unvertretbar, aber man kann sich durch den Tod anderer auf den eigenen Tod verwiesen sehen. Das Geleiten der anderen Sterblichen begreift somit Vereinzelung und Gemeinschaft zugleich in sich: Sterblichkeit aber wird so gesehen zum Gemeinschaftsmoment. Wenn die Nichtigkeit des Daseins als solche erFriedrich Hölderlin, »Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. [Erste Fassung]«, in: MA Bd. 1, S. 447.

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fahren wird, wird der Zeit-Raum eröffnet, in dem die Götter überhaupt erst in Erscheinung treten können: »Nicht nach dem Tod, sondern durch den Tod erscheinen die Götter. Durch den Tod – will sagen: nicht durch den Vorgang des Ablebens, sondern dadurch, daß der Tod in das Dasein hereinsteht« (SE, 9).

Durch das Hereinstehen des Todes in das Dasein, wird das Dasein zu einem gesteigerten Dasein: Der Tod gehört als ›Grenze‹ in das Da. Wobei ›Grenze‹ – griechisch gedacht – nicht nur als das verstanden werden darf, wo etwas aufhört, sondern auch und gerade in gesteigertem Maße beginnt und zur Vollendung gelangt (vgl. KPR, 10; VA, 149). Das vierfältig schonende Wohnen im Geviert heißt die Dinge nicht zu »überfallen« und zu »stellen«, sondern sie zu schonen und die Welt-Gegenden nicht zu verwohnen, sondern verantwortungsvoll zu bewohnen. »Das Wohnen schont das Geviert, indem es dessen Wesen in die Dinge bringt« (VA, 145). Inwiefern aber wird das Geviert in die Dinge gebracht und verwahrt? Dies führt uns zu Heideggers Dingbegriff.

2.2. Das Ding als Versammlungsort der vier Welt-Gegenden Heidegger verweist zunächst auf das Etymon des Wortes »Ding«, das althochdeutsche thing, das die Volks- und Gerichtsversammlung zur Klärung eines Rechtsstreitfalles bezeichnet (vgl. VA, 147, 166 f.). Die deutsche Bedeutung von Ding (und englisch: thing) als Sache leitet sich von der dort zur Rede stehenden und behandelten Rechtssache ab. Der Ort oder Platz, an dem eine solche Versammlung abgehalten wurde, heißt Thingplatz oder Thingstätte. Ein Ding im Sinne Heideggers ist also ein Ort ausgezeichneter Art, nämlich ein Versammlungsort. Sehen wir uns drei Beispiele an, um zu verstehen, was damit gemeint sein kann. In seinem Vortrag »Das Ding« entwickelt Heidegger am Beispiel eines Weinkruges 26 einen Dingbegriff, der seinem Anspruch nach das Ding als Ding begreift und die Dingheit des Dinges nicht wie andere Bezeichnenderweise verwendet Heidegger mit dem Weinkrug ein ganz ähnliches Beispiel wie Aristoteles bei seiner Abhandlung über den topos, der auf eine mit Wein gefüllte Amphore hinweist. Vgl. Aristoteles, Physik, IV 3, 210b10-b22.

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Dingvorstellungen »überfällt«: Weder ist das Ding als Träger von Eigenschaften, noch als Einheit einer Empfindungsmannigfaltigkeit, noch als geformter Stoff auszulegen (vgl. UK, 5–16). Vordergründig ist der Krug nichts als »ein Gefäß; solches anderes in sich faßt« (VA, 158). Was ist indes »am Gefäß das Fassende«? Genau besehen, besteht das Fassende in einem Mangel, nämlich in der Leere des Kruges. Diese Leere fasst auf zweierlei Weise: Zum einen im »Nehmen von Einguß« und zum anderen im »Einbehalten des Gusses«; die eigentliche Bestimmung des Kruges aber ist das »Ausgießen«. Das »Krughafte des Kruges« kommt damit im »Geschenk des Gusses« zu stehen (VA, 163 f.). Da im vom Krug gefassten Wein, der durch die »Frucht des Rebstocks« gegeben ist, das »Nährende der Erde« und die »Sonne des Himmels« vereint sind und der höchste und eigentliche Guss in der Spende und im Opfer des Weines der Sterblichen an die unsterblichen Götter besteht, kommt Heidegger dazu, das »Wesende des Kruges« als »dieses vierfältig einfache Versammeln« zu bestimmen (VA, 165 f.). Im Vortragstext »Bauen Wohnen Denken« geht Heidegger anhand einer Brücke der Frage nach »Was ist ein gebautes Ding?« (VA, 146). Ausgangspunkt für dieses Beispiel ist sehr wahrscheinlich Vincent van Goghs Gemälde Die Brücke von Langlois bei Arles. Dieses Gemälde soll sich zur Zeit der Entstehung des Textes neben dem Arbeitstisch Heideggers im Rötebuck-Haus in Freiburg befunden haben 27 . Die auf dem Bild dargestellte Brücke ist eine »alte Holzbrücke, die seit Jahrhunderten Ufer mit Ufer verbindet« (TK, 15). Die Brücke überspannt die beiden natürlichen Flussufer, die zwar voneinander geschieden liegen, aber dennoch zueinander gehören; kein Ufer ist ohne das andere. Die durch die Brücke geschaffene Nähe negiert nicht die Ferne, denn sie bringt die Ufer in ihrem Abstand einander nahe. Das Wesen der Brücke ist es damit, Nähe und Ferne in sich zu vereinigen. Der von der Brücke überspannte Flusslauf schlängelt sich durch das ihm von der Erde vorgegebene Flussbett und in ihm spiegelt sich der Himmel. Der Brückenbau gestaltet die ihn umgebende Landschaft, indem er sich in das vorgegebene Gleichgewicht von Erde und Himmel einfügt. Die Sterblichen überqueren »das Überschwingende der BrüVgl. hierzu Hans Friesen, der auf den (wohl mündlichen) Bericht Dieter Jähnigs verweist: (»Heideggers Architekturtheorie und die Moderne«, in: Eduard Führ (Hg.), Bauen und Wohnen. Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster 2000, S. 177–188, hier: S. 180.

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ckenbahn […], um sich vor das Heile des Göttlichen zu bringen«. Die Brücke ist eben ein Ding und »versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich« (VA, 147). Differenziert betrachtet ist die Brücke »freilich ein Ding eigener Art; denn sie versammelt das Geviert in der Weise, daß sie ihm eine Stätte verstattet. Aber nur solches, was selber ein Ort ist, kann eine Stätte einräumen. Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. […] So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. […] Dinge, die in solcher Art Orte sind, verstatten jeweils erst Räume« (VA, 148).

Mittels einer detaillierten Beschreibung eines Schwarzwaldhofes verdeutlicht Heidegger, wie sich das Wohnen im Geviert vollziehen könnte. Der Schwarzwaldhof ist kein rein auf Funktionalität angelegtes Bauwerk, sondern ist errichtet worden durch das bäuerliche Wohnen. Der Hof steht mit der Rückwand an die Erde des Berghangs gelehnt, sein Schindeldach schützt die Bewohner vor dem Schnee des Himmels und auch der Herrgottswinkel hat seinen Platz hinter dem Esstisch, an dem sich mehrere Generationen einfinden. Den Welt-Gegenden ist der ihnen angemessene Ort eingeräumt, um zur Entfaltung zu kommen: »Hier hat die Inständigkeit des Vermögens, Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen einfältig in die Dinge einzulassen, das Haus gerichtet«. Wer so baut, wie den von Heidegger beschriebenen Bauernhof, vermag das Wohnen. Zwar geht es Heidegger nicht um eine Wiederholung dieses ländlichen Bauens, sondern es handelt sich dabei um die Schilderung eines »gewesenen Wohnen[s], wie es zu bauen vermochte« (VA, 155). Der nicht nur zeitliche Abstand, der uns vom Schwarzwaldhof trennt, trennt uns auch vom Geviert, was auch daran liegt, dass wir die Dinge als Bestand entbergen und nicht als Versammlungsort des Gevierts. Jedenfalls sollte Heideggers schonendes Wohnen im Geviert als eine ernstzunehmende Alternative zum stellenden Entbergen, das bloß eine Privation alles urbanen Lebens darstellt, verstanden und nicht vorschnell als reaktionärer Gedanke abgetan werden. Denn darauf, dass es mehr als nur den einen neuzeitlich-technischen Zugang zu den Dingen gibt, macht Heidegger in ausgezeichneter Weise aufmerksam. Alle von Heidegger beschriebenen Dinge – Krug, Brücke und Schwarzwaldhof – eint, dass sie nur durch das einfältige Zusammen206

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spiel der vier Welt-Gegenden zum Ding werden. Dieses von Heidegger »Spiegel-Spiel« genannte Zusammenspiel vollzieht sich dann, wenn Erde, Himmel, Göttlichen und Sterblichen der Freiraum eingeräumt wird, in ihr eigenstes Selbst treten und dennoch beim je anderen der vier sein zu können. »Dieses Spiegeln ist kein Darstellen eines Abbildes. Das Spiegeln ereignet, jedes der Vier lichtend, deren eigenes Wesen in die einfältige Vereignung zueinander« (VA, 172).

Der Spiegel, und nur dieser, zeigt anders als ein bloßes Abbild stets den Hintergrund des Gespiegelten mit, den jede der vier Welt-Gegenden den jeweils anderen drei in der Bewegung des Spiegelns darbietet, aber auch bereit ist, deren Hintergrund anerkennend zu empfangen 28 . Die Bewegung des spielenden Spiegel-Spiels scheint einer tänzerischen Bewegung zu gleichen, was sich auch etymologisch niederschlägt, da Spiel in seiner althochdeutschen Form spil ursprünglich den Tanz bezeichnete 29 . »Das Spiegel-Spiel von Welt ist der Reigen des Ereignens« (VA, 173) 30 . Schauen wir uns nun in einem letzten Schritt an, wie Heideggers Spielverständnis geartet ist, inwiefern es das »ab-gründige Spiel« ist, das im Ausdruck »Zeit-Spiel-Raum« Zeit und Raum als Gleichrangige zusammenfügt, und warum der ›spielende Ab-grund‹ als »die ursprüngliche Einheit von Raum und Zeit, jene einigende Einheit, die sie erst in ihre Geschiednis auseinandergehen läßt« (BPh, 379), gekennzeichnet wird.

2.3. Der Zeit-Spiel-Raum und der Ab-grund In den drei Vorträgen »Das Wesen der Sprache« (1957/58) will Heidegger »vor eine Möglichkeit bringen, mit der Sprache eine Erfahrung zu machen« (US, 159). Um ins Unterwegs dieser Denkerfahrung zu geVgl. zum Spiegel-Motiv die brillanten Ausführungen Wolfgang M. Schröders: Politik des Schonens. Heideggers Geviert-Konzept, politisch ausgelegt, Tübingen 2004, S. 68–71. 29 Angelika Corbineau-Hoffmann, Art. »Spiel«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Basel 1995, Sp. 1383–1390, hier: Sp. 1383. 30 Dass der Reigentanz des Spiegel-Spiels einiges mit dem Tanz des Chors in der griechischen Tragödie gemein hat, soll hier nur noch angedeutet sein, muss aber letztlich ein noch Aufbehaltenes dieses Beitrags bleiben: »Der Reigen ist der griechische cor@, der festlich singende, den Gott feiernde Tanz« (EH, 174). 28

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langen, bedarf es neben der Bereitschaft, den Weg um der Sache willen zu gehen, ein betroffenes Angesprochen-worden-sein durch die Sache; etwas muss sich uns schon zugesprochen haben. Um auf den Weg zu gelangen, muss sich uns ein Bereich, der uns angeht – Heidegger nennt diesen Bereich »Gegend« – bereits gezeigt haben. Indem wir uns auf den Weg machen, legen wir Wege in diese durch uns größtenteils noch unbegangene Gegend. »Der Weg ist, hinreichend gedacht, solches was uns gelangen läßt und zwar in das, was nach uns langt, indem es uns be-langt. […] Die Gegend ergibt als Gegend erst Wege. Sie be-wëgt« (US, 197).

Die Lichtung ist die Gegend aller möglichen Gegenden, zu der es kein Außerhalb gibt, da sie als der Bereich, in dem sich der Austrag von Sein und Seiendem ereignet, das Phänomen der Zugänglichkeit schlechthin bezeichnet 31 . Das Spielen ist das Höchste, was es an Be-wëgung gibt, und die Be-wëgung des Spiels ist, wie jede Be-wëgung, verspannt in Raum und Zeit. Damit aber ist gesagt, dass zu jeder Weise von Bewëgung Zeit und Raum schon hinzu gehören. Das »Gegen-einanderüber« 32 der Welt-Gegenden impliziert eine nachbarliche Nähe, die eigentliches Einander-nahe-kommen-lassen und Innigkeit erst ermöglicht. »Das Selbe, was Raum und Zeit in ihrem Wesen versammelt hält, kann der Zeit-Spiel-Raum heißen. Zeitigend-einräumend be-wëgt das Selbige des Zeit-Spiel-Raumes das Gegen-einander-über der vier Welt-Gegenden: Erde und Himmel, Gott und Mensch – das Weltspiel« (US, 214).

Um diesen Gedanken besser nachvollziehen zu können, müssen wir im Folgenden dem Zusammenhang von Spiel und Ab-grund nachgehen. In der Vorlesung Der Satz vom Grund vom Wintersemester 1955/ Bekanntermaßen leitet Heidegger das Wort »Lichtung« nicht von »Licht«, sondern von »leicht« her. So etwa im 1964 gehaltenen Vortrag »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«: »Das Substantivum ›Lichtung‹ geht auf das Verbum ›lichten‹ zurück. Das Adjektivum ›licht‹ ist dasselbe Wort wie ›leicht‹. Etwas lichten bedeutet: etwas leicht, etwas frei und offen machen, z. B. den Wald an einer Stelle frei machen von Bäumen.« (ZSD, 72) Erneut in einer Beilage zu einem Brief an Ernst Jünger vom 7. November 1969: »›Lichtung‹ gehört nicht zu ›Licht‹, sondern zu ›leicht‹ ; die Anker lichten, sie los, frei machen; die freie Stelle im Wald, sie ist auch frei im Dunkel – licht« (JH, 76). 32 Die Wendung »gegen-einander-über« stammt aus dem dichterischen Sprachgebrauch Johann Wolfgang von Goethes und Eduard Mörikes (vgl. US, 211 u. SG, 141). 31

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56 stellt Heidegger der geläufigen – auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückgehenden – Interpretation des Satzes vom Grund »Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund« eine neue Lesart in gewandelter »Tonart« gegenüber: »Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund«. Während der Satz vom Grund in der gängigen Fassung – der ersten »Tonart« – ein Satz über das Seiende bleibt, sagt er in Heideggers Auslegung – der zweiten »Tonart« – etwas über das Wesen des Grundes, nämlich über das Sein als solches (SG, 75). Doch die gewandelte Lesart bedeutet nicht nur eine Wandlung des Satzes vom Grund von einem Satz über das Seiende zu einem Satz über das Sein als solches, sondern macht es notwendig, sich auf den Sprung in ein anderes Denken einzulassen (SG, 95). Der »Satz« im Sinne einer Aussage, eines Grundsatzes oder Prinzips wandelt sich nun zu einem »Satz« im Sinne eines Sprunges (SG, 151), der vom scheinbar sicheren Grund der Metaphysik abspringt und das Wagnis auf sich nimmt, in das Sein selbst als Ab-grund zu springen. Für Heidegger ist das Sein selbst »grundartig«, Sein und Grund gehören in das Selbe. Und weil das Sein selbst Grund »ist«, kann es nicht noch einen Grund außer sich haben, der es begründet: »Sein bleibt als Sein grund-los« (SG, 185). Da der Grund vom Sein »als ein es erst begründender Grund, weg und ab« bleibt, kann Sein als der »Ab-Grund« gekennzeichnet werden (ebd.). Es gilt demnach zu unterscheiden zwischen der gängigen metaphysischen Auffassung des Seins als begründendem Grund für das Seiende und der Heideggerschen Ahnung des ab-gründigen Grundes, als welcher das Sein als Sein »west«. Wenn das Seiende ist, kann nämlich nicht auch vom Sein gesagt werden, dass es »ist«. »Das Seyn west; das Seiende ist« (BPh, 260). Insofern sich das Spiel nicht mehr vom Sein als Grund her bestimmen lässt, müssen wir den Versuch wagen und »Sein und Grund, Sein als Ab-Grund aus dem Wesen des Spiels her denken« (SG, 186). Das Reizvolle eines Spiels scheint sich aus dem Spannungsverhältnis von nahezu unbegrenzten Möglichkeiten einerseits und strenger Regelbindung andererseits zu speisen. Konstitutiv für das Spiel ist es, dass es um seiner selbst willen gespielt wird und jeglicher Ziel- und Zweckgerichtetheit entbehrt 33 . Insofern das Spiel wie das Sein keinen Vgl. hierzu die konzise Charakterisierung des Spiels durch den niederländischen Kulturanthropologen Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956, S. 34. 33

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»Grund« außerhalb seiner selbst hat, ist es als »ab-gründiges« zu kennzeichnen 34 . Der »Grund« des Spiels ist in ihm selbst zu suchen, vom Spiel kann deshalb nur gesagt werden: »Es spielet, weil es spielet« (SG, 188), wobei alles daran liegt, das »Weil« hier nicht kausal zu verstehen, sondern aus dem Umkreis von Weile und Verweilen zu denken, ganz ähnlich zum Blühen einer Rose, die laut eines Gedichts von Angelus Silesius ohne »Warum« ist und »blühet, weil sie blühet« (SG, 68). »Das ›Weil‹ versinkt im Spiel. Das Spiel ist ohne ›Warum‹. Es spielt, dieweil es spielt. Es bleibt nur Spiel: das Höchste und Tiefste« (SG, 188). Mit Heidegger kann zusammenfassend gesagt werden: »Sein als gründendes hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiel, das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt« (ebd.). Beherzigen wir diesen Gedanken, dann liegt alles daran, uns als Mitspieler in dieses Spiel einzufügen und mitzuspielen.

3.

Der Schritt zurck auf dem Weg des Denkens

Wie wir auf unserer schrittweisen Wanderung durch Heideggers Raumdenken sahen, war dieses anfangs noch wesentlich beeinflusst durch einen Vorrang der Zeitlichkeit vor der Räumlichkeit und um eine Auseinandersetzung mit der Kantischen Subjektbezogenheit des Raumes bemüht. Doch mit Heideggers »Schritt in die Kunst« beginnt sich eine Verschiebung abzuzeichnen: Allmählich wechseln die Gesprächspartner, immer mehr rückt der Herakliteische Streit- und Spielgedanke ins Blickfeld, der zu einem erstrittenen Spielraum der Gründung und Eröffnung führt. Einflüsse von Hölderlin, dem »Dichter des Dichters« (EH, 34), die Aristotelische Topologie und der Pythagoreische Harmonia-Gedanke veranlassen Heidegger zu einem von ihm selbst häufig geforderten »Schritt zurück auf dem Weg des Denkens« (US, 216), der ihn hinter Kants Postulat von Raum und Zeit als Formen der Anschauung blicken lässt 35 . Verbunden mit diesem »Schritt zurück« an den

Um die ontologische Stellung des Spiels von Begründungszusammenhängen frei zu halten, übersetzt Heidegger in Heraklits Spiel-Fragment (DK 22 B 52) aiôn statt mit »Weltzeit« mit »Seinsgeschick« (SG, 188). 35 Bereits in den Beiträgen bemerkt Heidegger, dass Raum und Zeit »bei Kant einfach dem menschlichen Subjekt zugesprochen!« werden, jedoch freilich »all dies ohne Ahnung des Zeit-Raums« (BPh, 373). 34

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»Ersten Anfang« ist der Versuch, durch die Verwindung der Metaphysik einen »Anderen Anfang« zu gründen. Der »Schritt zurück« lässt sich somit als »die Grundbewegung im Denken Heideggers« kennzeichnen 36 . Doch worin bestehen die Probleme, die Heidegger mit Kants transzendentalphilosophischem Raumbegriff hatte? Da Kant den physikalischen Raumbegriff Newtons zu einem philosophischen Konzept transformierte, musste dessen Raumkonzeption reduktionistisch bleiben, insofern sie Raum auf einen physikalisch-mathematischen Bezugsrahmen verengte. Der dreidimensionale und unendliche newtonsche Raum, dem ein orthogonales Achsensystem zugrunde liegt, ist ein stets mit sich selbst gleich bleibendes Kontinuum. In ihm kann durch eine einfache Verschiebung der Koordinaten jeder beliebige Punkt zum Koordinatenmittelpunkt gemacht werden. Da der physikalische Raum als homogen und isotrop vorgestellt wird, gibt es keinen Ort und keine Richtung, die sich von anderen qualitativ abheben könnte, sondern ausschließlich und einzig über die messbare Quantität definierte gleichförmige Raumstellen und Raumrichtungen. In der neuzeitlichen Physik »verliert der Raum die Auszeichnungen der in ihm möglichen Orte und Richtungen« (KPR, 11). Deshalb betont Heidegger, wie weit unser physikalisch geprägtes Raumverständnis vom griechischen »Ort-Raum« 37 entfernt ist: »Für uns Heutige ist nicht der Raum durch Orte, sondern alle Orte als Punktstellen durch den endlosen, überall gleichartigen, nirgendwo ausgezeichneten Raum bestimmt« (WM, 248 f.).

Der Raum wird in der Physik zu einem Parameter für Abstandsmessungen funktionalisiert und auf eine quantifizierbare Größe eines Nebeneinanders reduziert. Da in einem homogenen Raumkontinuum die Punkte und Stellen niemals zu einer qualitativen Beziehung zueinander gelangen können, schließt dieser Raumbegriff von vornherein ein nachbarliches »Gegen-einander-über« aus. Da die physikalisch-mathematische Wissenschaft Raum und Zeit nur als Parameter fasst, ist sie auch nicht annährend dazu in der Lage, dem Eigentümlichen des »ZeitSpiel-Raums« zu entsprechen. In einer Konzeption von parametrischer

Otto Pöggeler, »Metaphysik und Seinstopik bei Heidegger«, in: Philosophisches Jahrbuch 70 (1962), S. 118–137, hier: S. 133. 37 So jedenfalls erläutert Heidegger den Begriff topos bei seiner Übersetzung (vgl. KR, 5) von Aristoteles, Physik IV 4, 212a7–8. 36

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Nähe, die Nähe auf möglichst geringe vermessbare Distanz reduziert, hat ein Phänomen wie Nachbarschaft keinen Platz (vgl. US, 210). Deshalb ist es auch nicht möglich von einem ›ärmeren‹ Raumbegriff, wie dem der Physik, zu einem ›reicheren‹ Raumbegriff zu gelangen, indem man einfach etwas anfügt und zu vervollständigen sucht, da der physikalisch-mathematische Raum in der Differenz von Räumlichkeit und Räumlichem fundiert ist. Räumlichkeit ermöglicht allererst das Räumlich-Seiende, das der mathematischen Physik als Untersuchungsgegenstand dient. Eine im nachhinein angehängte Differenz ist eben keine Differenz mehr, die den Raum ›gibt‹, d. h. diesen zulässt und ermöglicht. Im Fernseh-Interview mit Richard Wisser erläutert Heidegger seinen Anstoß erregenden Satz »Die Wissenschaft denkt nicht« (WD, 4) anhand eines Beispieles: »Die Physik bewegt sich in Raum und Zeit und Bewegung. Was Bewegung, was Raum, was Zeit ist, kann die Wissenschaft als Wissenschaft nicht entscheiden. Die Wissenschaft denkt also nicht, sie kann in diesem Sinne mit ihren Methoden gar nicht denken« (IG, 72).

Die Physik kann mit ihren Methoden allerhöchstens zu richtigen Aussagesätzen gelangen 38 . Der Weg jedoch zu einer ursprünglicheren Wahrheit über Bewegung, Zeit und Raum muss für sie zwangsläufig verschlossen bleiben, weil sie den methodos nicht als von der Sache vorgegeben betrachtet, sondern als Vorgehens- und Verfahrensweise, die auf einer stets rechnenden Leitlinie fußt. Wohlverstandener Rückschritt ist in einem derart auf Fortschritt zielenden Regelkalkül weder geplant noch vorgesehen; aber Schritte zurück, Umwege und Irrwege sind notwendig, um im eigentlichen Sinn auf dem Weg des Denkens vorwärts zu kommen. Wie der physikalische Raum ein ärmerer Raumbegriff gegenüber Heideggers »Zeit-Spiel-Raum« darstellt, so scheinen in dieser Hinsicht auch die Methoden der Physik ärmer, gegenüber dem besinnlichen und unablässigen Denken, das sich die »Offenheit für das Geheimnis« und die »Gelassenheit zu den Dingen« bewahrt hat (G, 25) und auch bereit ist, die hermeneutische Prämisse zu beherzigen, dass erst der Weg zurück den Weg als ganzen zu einer Einkehr »Die Auslegung von Raum und Zeit aus dem Zeit-Raum will nicht das bisherige Wissen von Raum und Zeit als ›falsch‹ erweisen. Im Gegenteil, es wird erst in den freilich begrenzten Bezirk seiner Richtigkeit eingefügt und deutlich gemacht, dass Raum und Zeit so unerschöpflich sind im Wesen wie das Seyn selbst« (BPh, 378).

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gelangen lässt und diesen vollendet 39 . Am Ende, so scheint es nun, ist alles Weg, nämlich Weg zurück an den Anfang. Deshalb bleiben wir verwiesen auf das bekannte Novalis-Wort: »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause« 40 . Oder um mit Heidegger noch präziser zu sprechen: »Wir müssen erst da-hin zurückkehren, wo wir uns eigentlich schon aufhalten« (US, 190).

Siglenverzeichnis BPh DE ED EH EM FS FW G IG JH KPR KR P S SE SG SZ TK UK US

Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), (GA 65), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 3 2003. Denkerfahrungen, hg. von H. Heidegger, Frankfurt a. M. 1983. Aus der Erfahrung des Denkens, Stuttgart 8 2005. Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, (GA 4), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 6 1996. Einführung in die Metaphysik, Tübingen 6 1998. Frühe Schriften, (GA 1), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1978. Feldweg-Gespräche, (GA 77), hg. von I. Schüßler, Frankfurt a. M. 2 2007. Gelassenheit, Stuttgart 13 2004. Martin Heidegger im Gespräch, hg. von R. Wisser, Freiburg / München 1970. Ernst Jünger – Martin Heidegger. Briefe 1949–1975, hg. von G. Figal, Stuttgart / Frankfurt a. M. 2008. Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum, hg. von H. Heidegger, St. Gallen 1996. Die Kunst und der Raum / L’art et l’espace, St. Gallen 1969. Parmenides, (GA 54), hg. von M. S. Frings, Frankfurt a. M. 2 1992. Seminare, (GA 15), hg. von C. Ochwadt, Frankfurt a. M. 2 2005. »Das Sein (Ereignis)«, in: Heidegger Studies 15 (1999), S. 9–15. Der Satz vom Grund, Stuttgart 9 2006. Sein und Zeit, Tübingen 18 2001. Die Technik und die Kehre, Stuttgart 10 2002. »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Holzwege, (GA 5), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 8 2003, S. 1–74. Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 13 2003.

Dies betont auch Dietmar Koch: »Der Weg bedarf des verwandelnden Rückwegs, um der ganze Weg zu sein. Rückweg ist nicht Hinweg, jener läßt anderes sehen«, »Hermeneutisches im Ereignis-Denken Martin Heideggers«, in: ders. (Hg.), Denkwege 1. Philosophische Aufsätze, Tübingen 1998, S. 77–111, hier: S. 92. 40 Novalis, »Heinrich von Ofterdingen«, in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1, hg. von Paul Kluckhohn, Stuttgart 3 1977, S. 325, Z. 16. 39

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Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 10 2004. Was heißt Denken?, Stuttgart 5 1997. Wegmarken, (GA 9), hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 3 2004. Zur Sache des Denkens, Tübingen 4 2000.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Andreas Arndt Dr. phil., apl. Professor am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Leiter der Arbeitsstelle Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Vorsitzender des Vorstandes der Internationalen Hegel-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Klassische deutsche Philosophie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, Dialektik, Hermeneutik, Sozialphilosophie. Publikationen: Dialektik und Reflexion (1994); Die Arbeit der Philosophie (2003); Unmittelbarkeit (2004). Michael Franz Dr. phil., apl. Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Bildungsgeschichte des 17. Und 18. Jahrhunderts. Publikationen: Schellings Tübinger Platon-Studien (1996); »Hölderlins Platonismus. Das Weltbild der ›exzentrischen Bahn‹ in den Hyperion-Vorreden«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (22/1997); als Hg.: »… im Reiche des Wissens cavalieremente«? Hölderlins, Hegels und Schellings Philosophiestudium an der Universität Tübingen (2005). Bärbel Frischmann Professorin für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Frühromantik, Existenzphilosophie, Postmoderne, Kulturphilosophie, Politische Philosophie. Publikationen: Vom transzendentalen zum frühromantischen Idealismus. J. G. Fichte und Fr. Schlegel (2005); mit Elizabeth Millán-

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Zaibert(Hg.), Das neue Licht der Frühromantik. Innovation und Aktualität frühromantischer Philosophie (2008). Christoph Jamme (Lüneburg) Professor für Philosophie an der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Phänomenologie und Hermeneutik, Ästhetik, Theorie des Mythos, Kulturphilosophie. Publikationen: Einführung in die Philosophie des Mythos (1991); Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart (1999); als Hg.: Grundlinien der Vernunftkritik (1997); hg. mit Frank Völkel: Hölderlin und der Deutsche Idealismus. Dokumente und Kommentare zu Hölderlins philosophischer Entwicklung und den philosophisch-kulturellen Kontexten seiner Zeit, 4 Bde. (2003). Marion Hiller (Vechta) Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Forschungsschwerpunkte: Literaturtheorie und allgemeine Ästhetik, Verhältnis von Philosophie und Dichtung, Theorien von Sprachlichkeit und Medialität; Habilitationsprojekt »Raum und Zeit: zum Verhältnis von Literatur, Bild und Musik«. Publikationen: Das »zwitterhafte« Wesen des Wortes. Eine Interpretation von Platons Dialog »Kratylos« (2001); ›Harmonisch entgegengesetzt‹. Zur Darstellung und Darstellbarkeit in Hölderlins Poetik um 1800 (2008); »Das Eine in sich selbst Unterschiedene. Zum spekulativen Verhältnis von Sein und Verstehen ausgehend von Gadamers ›Wahrheit und Methode‹«, in: Philosophisches Jahrbuch (109/2002); »Umschlag. Zu Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹«, in: Oya Erdogan und Dietmar Koch (Hg.), Im Garten der Philosophie (2005). Anton Friedrich Koch Professor für Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Klassische griechische Metaphysik, Kant und Hegel, Philosophie der Gegenwart, Themen: Wahrheit, Freiheit, Subjektivität, Raum und Zeit. Publikationen: Subjektivität in Raum und Zeit (1990); Subjekt und Natur. Zur Rolle des »Ich denke« bei Descartes und Kant (2004); 216

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Bärbel Frischmann (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Versuch über Wahrheit und Zeit (2006); Wahrheit, Zeit und Freiheit. Einführung in eine philosophische Theorie (2006). Dietmar Koch Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Vorsitzender der »Tübinger Gesellschaft für Phänomenologische Philosophie«. Wissenschaftliches Mitglied im Vorstand der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte: Antike Philosophie, Deutscher Idealismus, Hermeneutik, Phänomenologie, Geschichte der Philosophie, Philosophie der Kunst. Publikationen: Hg. mit Oya Erdogan: Im Garten der Philosophie. Festschrift für Hans-Dieter Bahr zum 65. Geburtstag (2005); hg. mit Julia Peterson: »Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!«. Schellings Philosophie in der Sicht der neueren Forschung (2010). In Vobereitung: mit Irmgard-Männlein Robert, Niels Weidtmann (Hg.): Platon und das Göttliche (2010). Simone Neuber Studium der Philosophie und Neueren Englischen Literatur in Tübingen und New York. Seit ihrem Magisterabschluss Mentorin am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen. Promotionsprojekt: Scheingefühle in der analytischen Ästhetik. Michael Ruppert studiert Philosophie und Neueren Geschichte an der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen. Interessensschwerpunkte: Phänomenologie und Hermeneutik (Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer), Vorsokratiker, Begriffsgeschichte. Wolfgang M. Schröder Privatdozent für Philosophie und Dilthey-Fellow an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Rechtsphilosophie, Global Governance, EU-Konstitutionalismus. Publikationen: Grundrechtsdemokratie als Raison offener Staaten. Verfassungspolitik im europäischen und im globalen Mehrebenensystem (2003); Politik des Schonens. Heideggers GeviertA

Sprache – Dichtung – Philosophie https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Konzept, politisch ausgelegt (2004); mit G. Jochum, N. Petersson und K. Ullrich: Legitimationsgrundlagen einer europäischen Verfassung. Von der Volkssouveränität zur Völkersouveränität (2007). Jure Zovko Professor für Philosophie an den Universitäten Zagreb und Zadar. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutische Philosophie, Philosophie der Antike und Philosophie des Deutschen Idealismus. Mitglied des Institut International de Philosophie. Publikationen: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik (1990); Essays über Platon (1998 kroatisch; 2. erweiterte Auflage 2006); Kroatische Philosophie im europäischen Kontext (2003); Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. von Andreas Arndt und Jure Zovko (2007).

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ALBER PHILOSOPHIE

Bärbel Frischmann (Hg.) https://doi.org/10.5771/9783495996904 .

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