Sprache, Arbeit und geschlechtliche Identität: Wie moderne Arbeitsbegriffe alte Geschlechtslogiken transportieren. Eine sprachgeschichtliche und psychologische Studie [1. Aufl.] 9783839409411

Welche psychologische Rolle spielt die Sprache bei der subjektiven Verstetigung altüberlieferter Identitätsmuster? Und w

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INHALT
1 Einleitung
TEIL I. ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS
2 Zur Geschichte des neuzeitlichen Verständnisses der Arbeit und des rationalen Subjektes
2.1 Zum Aufstieg hervorbringender Arbeit
2.2 Objektivierung der Natur und das konstruktive Subjekt
2.3 Produktive Arbeit, als wertebildende, subjektkonstituierende Tätigkeit
2.4 Das individuelle Subjekt und der Gegensatz von Ratio und Emotion
3 Exkurs: Vergegenständlichende Arbeit, Subjektreflexion und die begrifflose Frau in Hegels Phänomenologie
3.1 Subjekterkenntnis und Selbstbewusstsein durch produktive Arbeit
3.2 Sachliche Arbeit und herrschaftliche Interessen
3.3 Zucht oder Verantwortung?
3.4 Das weltliche Gesetz des Mannes und das göttliche Gesetz der Frau
TEIL II. SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS
Vorbemerkung
4 Wygotski und die Kulturhistorische Schule
4.1 Methodologische Grundannahmen
4.2 Erkenntnistheoretische Probleme der Psychologie
Methodische Postulate
5 Kulturhistorische Entwicklung der höheren psychischen Funktionen
5.1 Zum Verhältnis von naturgeschichtlicher und kultureller Entwicklung
5.2 Kulturelle Entwicklung als instrumentell vermittelter Prozess
5.3 Sozialer Ursprung der Zeichen und der höheren psychischen Funktionen
5.4 Soziale Struktur des sprachlichen Zeichens
6 Genetische Wurzeln von Denken und Sprechen
6.1 Naturgeschichtliche Wurzeln von Denken und Sprechen
6.2 Handlungspraktisch-soziale Sprachgenese
Modalitäten des Spracherwerbs
Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung
6.3 Handlungsleitende Funktion der Sprache
6.4 Vom Sozialen zum Individuellen
7 Weitere Theoriebildung zum Verhältnis von Sprache und Handlung
7.1 Weiterentwicklungen in der sowjetischen Psychologie
7.2 Weiterentwicklungen in der westlichen Psycholinguistik
8 Handlungspraktisch-soziale Struktur der Sprache und soziale Identität
9 Sprache und Bedeutung
9.1 Zur Geschichte des Bedeutungsbegriffs
9.2 Dialektik von Verallgemeinerung und sozialem Verkehr
Abstraktion und Verallgemeinerung
Verallgemeinerung und logische Kategorie
Zur Definition des Merkmals
9.3 Kulturelle Bedeutungsgenese und geschlechtliche Kategorien
Politische Dimensionen
Öffentliche Diskursteilhabe und Begriffsperspektiven
10 Ontogenetische und historische Begriffsentwicklung
10.1 Experimentelle Untersuchung zur Begriffsentwicklung
Stufen der Begriffsentwicklung
Komplexer und verballogischer Begriff
10.2 Zur Logik von wissenschaftlichen und Alltagsbegriffen
11 Entwicklungspsychologische Wirkung der Sprache
11.1 Interfunktionale Reorganisation des Bewusstseins
11.2 Vom sozialen zum individuellen Gendering
Interaktive Geschlechtszuweisung
Intrapsychische Geschlechtseinordnung
12 Zusammenschau der sprachtheoretischen Aussagen und gendertheoretischen Ableitungen
TEIL III. HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN
Vorbemerkung
13 „Geschlechtscharaktere“ – ein soziopsychisches Schema der Moderne
13.1 Rolle der Anthropologie
13.2 Die Pädagogik und ihre pragmatischen Folgen
13.3 Motive und kulturpolitische Bedeutung
13.4 Sozial- und berufspolitische Folgen
13.5 Forschungsperspektiven
Hausens „Polarisierungs“-Modell
Historische Einordnung
„Polarisierung“ – eine affirmative Analysekategorie
Bürgerliche Familie und die Frau als innere Instanz
13.6 Zivilisatorische Tradition und beobachtende Methode
13.7 Eindeutige Männlichkeit und die weibliche Summenfigur
Sprachtheoretische Folgerungen
14 Frühneuzeitliche Entwicklungslinien geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitskategorien
14.1 Exkurs: Norbert Elias’ Theorie der abendländischen Zivilisierung
Historizität der Psyche und die Rolle der Sprache
Zur zivilisatorischen Funktion der Frauen
Zusammenfassende Thesen
14.2 Familiarisierung der Arbeit und die Genese des individuellen Subjekts mit seiner Ehefrau
Familiale Vergesellschaftung
Die Ehe als erste Vergesellschaftungsinstanz
Geschlechtliche Verteilung der Erwerbsarbeit
14.3 Familiarisierung und die Absorption der Ehefrau im Begriff des individuellen Subjekts
Geschlechtliche Strukturen der Familiarisierung
Die Ehefrau als Substruktur des individualisierten Subjekts
Doppelte Abstraktion der Frauenerwerbsarbeit
14.4 Zur Rolle der Universitäten
Soziostruktureller Wandel des Wissens
Vergeschlechtlichung von Ratio und Emotion
Abspaltungen und Inkonsistenzen der Begriffsentwicklung
14.5 Begriffliche Synthese von intellektueller und handwerklicher Arbeit
14.6 Mutter-Kind-Beziehung als erzieherische Basis des rationalen Subjekts
15 Logische Differenzen der Begriffsentwicklung
15.1 Geschlechtsdifferentielle Begriffslogiken
15.2 Parallelen frühneuzeitlicher und moderner Begriffe
15.3 Diskursive Verallgemeinerung und Begriffslogik
Zur Logik technisch-instrumenteller Begriffe
Zur Logik sozialer Tätigkeitsbegriffe
16 Ergebnisse der sozial- und begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzung
17 Verstetigung traditioneller Geschlechtslogiken im heutigen Sprachgebrauch
17.1 Semantische Valenz konventioneller Begriffe
17.2 Analyse aktueller Berufsbilder
Dipl. Ing. (FH) Maschinenbau
Dipl. Sozialarbeit (FH)
Heilerziehungspflege und Heilerziehung
Feinwerkmechanik
17.3 Fazit
18 Schlusswort
Literatur
Anhang
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Sprache, Arbeit und geschlechtliche Identität: Wie moderne Arbeitsbegriffe alte Geschlechtslogiken transportieren. Eine sprachgeschichtliche und psychologische Studie [1. Aufl.]
 9783839409411

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Isolde Albrecht Sprache, Arbeit und geschlechtliche Identität

2008-09-10 13-04-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028c188946816760|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 941.p 188946816768

Isolde Albrecht (Dr. phil.), Sozialarbeiterin und Dipl.-Pädagogin, lehrt an der Evang. Fachhochschule und der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. Psycholinguistik, Berufspädagogik und Gender.

2008-09-10 13-04-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028c188946816760|(S.

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Isolde Albrecht

Sprache, Arbeit und geschlechtliche Identität Wie moderne Arbeitsbegriffe alte Geschlechtslogiken transportieren. Eine sprachgeschichtliche und psychologische Studie

2008-09-10 13-04-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028c188946816760|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Zugl.: Darmstadt, TU, D 17, Dissertation, 2007; leicht gekürzte Fassung Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Schulzes Büro, Darmstadt Umschlagbild: Paul Klee: tätlich Keiten, 1940, 360, Kleisterfarbe auf Papier auf Karton, 29,5 x 21 cm, Tycoom Trust Reg, Tiesenberg (© by VG-Bildkunst, Bonn) Lektorat & Satz: Isolde Albrecht Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-941-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-09-10 13-04-02 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 028c188946816760|(S.

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INH AL T

1

Einleitung

11

TEIL I ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

2 2.1 2.2 2.3 2.4

3

3.1 3.2 3.3 3.4

Zur Geschichte des neuzeitlichen Verständnisses der Arbeit und des rationalen Subjektes Zum Aufstieg hervorbringender Arbeit Objektivierung der Natur und das konstruktive Subjekt Produktive Arbeit, als wertebildende, subjektkonstituierende Tätigkeit Das individuelle Subjekt und der Gegensatz von Ratio und Emotion

Exkurs: Vergegenständlichende Arbeit, Subjektreflexion und die begrifflose Frau in Hegels Phänomenologie Subjekterkenntnis und Selbstbewusstsein durch produktive Arbeit Sachliche Arbeit und herrschaftliche Interessen Zucht oder Verantwortung? Das weltliche Gesetz des Mannes und das göttliche Gesetz der Frau

27 28 30 34 36

45 48 53 55 57

TEIL II SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Vorbemerkung

65

4 Wygotski und die Kulturhistorische Schule 4.1 Methodologische Grundannahmen 4.2 Erkenntnistheoretische Probleme der Psychologie Methodische Postulate

67 70 71 75

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Kulturhistorische Entwicklung der höheren psychischen Funktionen Zum Verhältnis von naturgeschichtlicher und kultureller Entwicklung Kulturelle Entwicklung als instrumentell vermittelter Prozess Sozialer Ursprung der Zeichen und der höheren psychischen Funktionen Soziale Struktur des sprachlichen Zeichens

6 Genetische Wurzeln von Denken und Sprechen 6.1 Naturgeschichtliche Wurzeln von Denken und Sprechen 6.2 Handlungspraktisch-soziale Sprachgenese Modalitäten des Spracherwerbs Verlauf der kindlichen Sprachentwicklung 6.3 Handlungsleitende Funktion der Sprache 6.4 Vom Sozialen zum Individuellen

Weitere Theoriebildung zum Verhältnis von Sprache und Handlung 7.1 Weiterentwicklungen in der sowjetischen Psychologie 7.2 Weiterentwicklungen in der westlichen Psycholinguistik

79 79 82 85 86

91 92 93 93 95 95 99

7

8

Handlungspraktisch-soziale Struktur der Sprache und soziale Identität

103 103 105

111

9 Sprache und Bedeutung 9.1 Zur Geschichte des Bedeutungsbegriffs 9.2 Dialektik von Verallgemeinerung und sozialem Verkehr Abstraktion und Verallgemeinerung Verallgemeinerung und logische Kategorie Zur Definition des Merkmals 9.3 Kulturelle Bedeutungsgenese und geschlechtliche Kategorien Politische Dimensionen Öffentliche Diskursteilhabe und Begriffsperspektiven

117 118 126 129 133 136 140 142 144

10 Ontogenetische und historische Begriffsentwicklung 10.1 Experimentelle Untersuchung zur Begriffsentwicklung Stufen der Begriffsentwicklung Komplexer und verballogischer Begriff 10.2 Zur Logik von wissenschaftlichen und Alltagsbegriffen

147 149 151

11 Entwicklungspsychologische Wirkung der Sprache 11.1 Interfunktionale Reorganisation des Bewusstseins 11.2 Vom sozialen zum individuellen Gendering Interaktive Geschlechtszuweisung Intrapsychische Geschlechtseinordnung

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Zusammenschau der sprachtheoretischen Aussagen und gendertheoretischen Ableitungen

157

162

167 168 174 174 176

181

TEIL III HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Vorbemerkung

187

„Geschlechtscharaktere“ – ein soziopsychisches Schema der Moderne 13.1 Rolle der Anthropologie 13.2 Die Pädagogik und ihre pragmatischen Folgen 13.3 Motive und kulturpolitische Bedeutung

191 194 196 200

13

13.4 Sozial- und berufspolitische Folgen 13.5 Forschungsperspektiven Hausens „Polarisierungs“-Modell Historische Einordnung „Polarisierung“ – eine affirmative Analysekategorie Bürgerliche Familie und die Frau als innere Instanz 13.6 Zivilisatorische Tradition und beobachtende Methode 13.7 Eindeutige Männlichkeit und die weibliche Summenfigur Sprachtheoretische Folgerungen

14 14.1

14.2

14.3

14.4

14.5 14.6

15 15.1 15.2 15.3

Frühneuzeitliche Entwicklungslinien geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitskategorien Exkurs: Norbert Elias’ Theorie der abendländischen Zivilisierung Historizität der Psyche und die Rolle der Sprache Zur zivilisatorischen Funktion der Frauen Zusammenfassende Thesen Familiarisierung der Arbeit und die Genese des individuellen Subjekts mit seiner Ehefrau Familiale Vergesellschaftung Die Ehe als erste Vergesellschaftungsinstanz Geschlechtliche Verteilung der Erwerbsarbeit Familiarisierung und die Absorption der Ehefrau im Begriff des individuellen Subjekts Geschlechtliche Strukturen der Familiarisierung Die Ehefrau als Substruktur des individualisierten Subjekts Doppelte Abstraktion der Frauenerwerbsarbeit Zur Rolle der Universitäten Soziostruktureller Wandel des Wissens Vergeschlechtlichung von Ratio und Emotion Abspaltungen und Inkonsistenzen der Begriffsentwicklung Begriffliche Synthese von intellektueller und handwerklicher Arbeit Mutter-Kind-Beziehung als erzieherische Basis des rationalen Subjekts

Logische Differenzen der Begriffsentwicklung Geschlechtsdifferentielle Begriffslogiken Parallelen frühneuzeitlicher und moderner Begriffe Diskursive Verallgemeinerung und Begriffslogik

201 204 205 208 211 213 218 220 224

231 232 236 241 246 249 249 251 254 256 257 264 267 269 269 274 282 283 287

293 294 301 306

16

Zur Logik technisch-instrumenteller Begriffe Zur Logik sozialer Tätigkeitsbegriffe

308 310

Ergebnisse der sozial- und begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzung

317

17

Verstetigung traditioneller Geschlechtslogiken im heutigen Sprachgebrauch 17.1 Semantische Valenz konventioneller Begriffe 17.2 Analyse aktueller Berufsbilder Dipl. Ing. (FH) Maschinenbau Dipl. Sozialarbeit (FH) Heilerziehungspflege und Heilerziehung Feinwerkmechanik 17.3 Fazit

323 323 325 327 331 336 339 343

18

349

Schlusswort

Literatur

359

Anhang Berufsbilder der Bundesagentur für Arbeit

379

1 EINLEITUNG

Der Begriff der Arbeit in der traditionellen Bedeutung einer kultur- und subjektkonstituierenden Tätigkeit, über die sich die Teilhabe an gesellschaftlichem Einfluss und Reichtum sowie die Zuweisung von Identität und Fähigkeitspotentialen bricht, ist mit der Krise der Arbeitsgesellschaft ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung gerückt. Mit dem Sichtbarwerden der Grenzen und ökologischen Gefahren des globalen Wirtschaftswachstums, der Transformation von der industriellen zur Dienstleistungsgesellschaft und der dauerhaften Ausgrenzung großer Bevölkerungsteile aus dem Arbeitsprozess ist das traditionelle Werteverständnis der Arbeit in Frage gestellt. Das Paradigma vom Vorrang der Produktion als Basis gesellschaftlicher „Re“-Produktion und Kultur hat sich zugunsten der Aufwertung so genannter „Dienst“-Leistungsund humanitärer Aufgaben relativiert. Die Individualisierung der Arbeitsverhältnisse, das Abflachen betrieblicher Hierarchien unter Betonung von Teamarbeit und subjektiver Kompetenz (Baethge/BaethgeKinsky 1994; Voß 2002) ging mit einer neuen Verhältnisbestimmung der geschlechtlich aufgeladenen Subjektqualitäten „sachliche Rationalität“ und „sozialkommunikative Empathie“ einher. In der Industriesoziologie der 1980er und 1990er Jahre sprach man von der Hereinnahme „weiblicher“ Fähigkeiten in industrielle Abläufe (Jäger 1989), um die überwiegend männlichen Berufspersonen zu ganzen, nicht mehr nur rationalen, sondern auch sozial befähigten Menschen zu komplettieren. Die Dimension Gender – bislang selbstverständlich vorausgesetztes Strukturmerkmal einer männerzentrierten Arbeitsgesellschaft und eines entsprechenden Familienmodells, das vorrangig von der Frauenbewegung und feministischen Genderforschung problematisiert worden war – erlangte die Bedeutung einer wirtschaftsförderlichen Kategorie. 11

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Parallel zum Abbau des Sozialstaates und der Kommerzialisierung ehemals staatlicher Gemeinschaftsaufgaben wurde zum Anbruch des neuen Jahrtausends Geschlechtergleichstellung in den Stand einer hoheitlichen Aufgabe gehoben. Gender Mainstreaming, in den EU-Richtlinien als staatliche Direktive formuliert, soll nun durch „Top-Down“und „Bottom-Up“-Strategien auf allen gesellschaftlichen Ebenen durchgesetzt werden.1 Zu den Kernpunkten der Gender-Mainstreaming-Offensive gehört die nach wie vor drastische geschlechtliche Segregation des Arbeitsmarktes, die sich vertikal in der Unterrepräsentanz von Frauen auf den mittleren und hohen Leitungspositionen zeigt und sich auf horizontaler Ebene unter anderem in der Dominanz der Männer in den besser bezahlten technischen Berufen sowie der Konzentration der Frauen in vergleichsweise gering vergüteten Sozial-, Erziehungs-, Gesundheitsund anderen Dienstleistungsberufen ausdrückt. Neben Trainingseinheiten, in denen man betriebliche EntscheidungsträgerInnen und andere Multiplikatorengruppen für Genderfragen qualifizieren will, wurden seitens der Bundesregierung verschiedene Bildungsprojekte aufgelegt, um Mädchen und Jungen zur Wahl gegengeschlechtlich konnotierter Berufe zu motivieren. Die für Mädchen eingerichteten Programme – „Roberta“ und „Lizzynet“ – führen an Informatik, Technik und Informationstechnologien heran. Das Programm „Neue Wege für Jungs“ hebt auf „Flexibilisierung männlicher Rollenbilder“ und „Stärkung der Sozialkompetenz“ ab (BMBF Berufsbildungsbericht 2006, 16). Auch tarifliche Eingruppierungen sollen auf den Prüfstand geschlechtlicher Gleichbehandlung kommen. Nicht nur an offene Lohn- und Gehaltsunterschiede bei gleicher Arbeit, sondern auch an versteckte Diskriminierungen wie das Einkommensgefälle zwischen männlicher Lager- und weiblicher Reinigungsarbeit ist gedacht. Selbst die Sprache wurde nicht vergessen. Nach § 1 des Gleichstellungsgesetzes ist in schriftlichen Verlautbarungen die Dominanz männlicher Genera aufzuheben. Durch den Gebrauch geschlechtsintegrativer Formulierungen bzw. die Hinzunahme weiblicher Endungen gedenkt man zu gewährleisten, dass Frauen künftig auch sprachlich gleichbehandelt sind.

1

12

„Top-Down“ bedeutet Durchsetzung von Gender Mainstreaming seitens der Leitungs- und Führungsebenen von Institutionen, z.B. durch Bereitstellen von finanziellen und zeitlichen Ressourcen, Fortbildungen, Festlegen von Organisationszielen. „Buttom-Up“ wird als Ergänzung der hierarchischen Durchsetzungsstrategie empfohlen und meint das Einfordern und Aktivieren gleichstellungspolitischer Maßnahmen von der Arbeitsebene (vgl. BMFSFJ 2007; GenderKompetenzZentrum 2006).

EINLEITUNG

Innerhalb der feministischen Genderforschung wird die Behandlung von Geschlechtergleichstellung als Staatsdirektive ambivalent bewertet. Bedenken gibt es vor allem hinsichtlich der Reflektiertheit des zugrunde gelegten Genderbegriffs sowie der Wirksamkeit hierarchischer Durchsetzungsstrategien. In diesem Sinne wäre auch zu hinterfragen, ob die komplizierte Verwobenheit von Gender und Arbeit, die auf komplexe soziokulturelle und bedeutungsgeschichtliche Entwicklungen zurückgeht, per „Top-Down“-Strategie zu bewältigen ist. Besteht doch die Gefahr, dass hierbei androzentrische Sichtweisen und Strukturbildungen – die in der langen Geschichte geschlechtshierarchisch geordneter Arbeitsund Subjektverhältnisse herausgebildet wurden, die mit der Disparierung von institutionalisierter Berufs- und familial organisierter Erwerbsund Familienarbeit, mit der Trennung von Ratio und Gefühl sowie der Unterbewertung personennaher Frauenarbeit einhergegangen sind – unter dem Diktum formaler Gleichheit und persönlicher Leistungsfähigkeit verstetigt werden, indem sie auf andere Formen sozialer Ungleichheit, beispielsweise die ethnische, verlagert werden.

Thema und aktuelle Bezüge Mein Beitrag zu einer vertiefenden Reflexion des Verhältnisses von Gender und Arbeit ist die Auseinandersetzung mit historisch generierten Arbeits- und Subjektlogiken, die in der Sprache als Bindeglied zwischen Subjekt, Gesellschaft und Geschichte eingelagert sind und im sozialen Austausch wie auch im sprachlichen Denken erhebliche wahrnehmungsund denkpsychologische Wirkungen entfalten. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage nach der historischen Entwicklung und psychischen Wirkung geschlechtsdifferentieller Aussagelogiken moderner Arbeits- und Persönlichkeitskategorien. lntention ist, aufzuzeigen, wie sich traditionelle Arbeits- und Subjektlogiken im alltäglichen Sprechen und Denken verstetigen, und den hohen Stellenwert sprachlicher Reflexion als Bestandteil emanzipatorischer Strategien zu verdeutlichen. So werde ich im Ergebnis der Abhandlung am Beispiel aktueller berufskundlicher Texte der Bundesagentur für Arbeit aufweisen, dass schon der unreflektierte Gebrauch berufs- und alltagsgebräuchlicher Begriffe traditionelle Geschlechtsmuster bedient, deren sozial- und bedeutungsgeschichtliche Wurzeln mindestens in die Zeit der Spätaufklärung, ja in die Renaissance zurückgehen. Anhand dieser Beispiele wird sich auch zeigen, dass die Geschlechtsreferenz gängiger Arbeitsbegriffe so eng mit kulturellen Denktraditionen verwoben ist, dass sie kaum als solche zu erkennen ist. Denn ebenso wie andere soziale Kategorisierungen stellen sich geschlechtliche Bedeutungsmuster über Semantik und 13

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

syntagmatische Begriffsverbindungen her, was unabhängig vom grammatikalischen Genus von Berufs- oder Personenbezeichnungen funktioniert. Bevor ich den Aufbau der Arbeit darstelle, will ich die Relevanz dieses Themas anhand dreier Problemfelder umreißen, die praktische Bezugsgrößen meiner Auseinandersetzung sind: Anhand 1.) der Bewertung von Arbeit, 2.) dem Phänomen geschlechtsspezifischer Berufswahl, sowie damit zusammenhängend, 3.) der Entgegensetzung von technischer Rationalität und praktischer Moral. 1.) Zur Bewertung von Arbeit ist anzumerken, dass das Einkommensgefälle so genannter „klassischer“ Männer- und Frauenberufe2 historisch nicht nur mit dem Schema des berufstätigen Familienernährers und der (,zuverdienenden’) Mutter- und Ehefrau korrespondiert, sondern auch mit strukturellen Unterschieden, die sich ebenfalls aus der Gendergeschichte der Arbeit erklären. Hervorgegangen aus einer in die Renaissance zurückreichenden Tradition handwerklicher und akademischer Institutionen, zeichnen sich die überwiegend handwerklichen oder naturwissenschaftlich-technischen Männerberufe durch vergleichsweise enge arbeitsteilige Schneidungen fachlicher Fähigkeiten sowie systematisierte Ausbildung und Methodenvermittlung aus (Daheim/Schönbauer 1993; Paul-Kohlhoff/Zybell 2005). Personennahe Berufe hingegen, darunter Sozial- und Erziehungsberufe, Reinigung oder Gästebetreuung, die zu Beginn des 20. Jhs. als Frauenberufe aus dem familialen Bereich auf den Arbeitsmarkt transferiert wurden, weisen ungleich geringere Spezialisierungen auf, sind eher durch diffuse Ganzheitlichkeit charakterisiert (Becker-Schmidt 1994; Schlüter 1987). Ein Teil der berufsnotwendigen Fähigkeiten, so auch die viel diskutierte weibliche Sozialkompetenz, sind nicht Ausbildungsgegenstand, sondern werden als alltagspraktisch erworbene Fähigkeiten vorausgesetzt. Im Zuge von Gender Mainstreaming hat nun das BMFSFJ unter dem Stichwort „equalpay“ einen Leitfaden zur Anwendung des Grundsatzes der Entgeltgleichheit für Männer und Frauen herausgegeben (verfasst von Tondorf/Ranftl 2002), mit dem man der Minderbezahlung traditionell weiblicher Arbeitsbereiche entgegenwirken will. Diesem Leitfaden zufolge „müssen“ die „Tätigkeiten von Männern und Frauen [...] nach denselben Kriterien“ ermittelt werden, die „Art der Tätigkeit muss ihrem 2

14

Es gibt keine wissenschaftliche Definition von „Männer“- und „Frauenberufen“. Das Statistische Bundesamt zählt Berufe mit einem weiblichen Auszubildendenanteil bis zu 20% zu den „männlich dominierten Berufen“. Liegt der Frauenanteil zwischen 20% und 40%, wird von „überwiegend männlich besetzten Berufen“ gesprochen (vgl. Cornelißen et al 2002).

EINLEITUNG

Wesen nach und objektiv bewertet“ sein (Tondorf/Ranftl ebd. 19, Hvh. I.A.). Wie aber vergleicht man die Arbeitsqualität traditioneller Frauenberufe, etwa der Sozialarbeit, mit technischen Berufen? Nach Qualifikation, Verantwortung, Sozial- oder Entscheidungskompetenz, anerkannter Methodik, körperlicher oder psychischer Belastung, Produktwert oder Effekt? Stehen tatsächlich „objektive“ Parameter zur Verfügung, mittels derer man die Verantwortung oder Qualifikation einer Erzieherin/eines Erziehers ermessen und mit derjenigen von FeinwerktechnikerInnen vergleichen kann? Wie überhaupt stellt man das „Wesen“ einer Tätigkeit fest? Der Leitfaden empfiehlt dezidierte Tätigkeitsaufzeichnungen, Arbeitsbeobachtung und Gesprächsprotokolle, anhand derer Wesen und Wertigkeit von Arbeit zu ermitteln und dem Vergleich zuzuführen sind. Im Zweifelsfall, so die Empfehlung, sind männliche Berufsgruppen als Maßstab heranzuziehen. Daraus wird zweierlei deutlich: Erstens, dass solche Bewertungsprozesse notwendig unter sprachlicher Deutung und intersubjektiver Aushandlung erfolgen. Zweitens, dass männlich generierte Tätigkeits- und Kompetenzmuster letztlich auch hier als begriffliche Deutungsfolie herangezogen werden. Damit ist die Frage aufgeworfen, wie welche Tätigkeiten sprachlich präsentiert werden. Genauer: welche Klassifikations- und Werteschemata berufsgebräuchliche Termini transportieren. Sind die Qualitäten interpersonaler Arbeitsformen durch den Fokus technischer Begriffe überhaupt zu erfassen oder wirken sie im Gegenschein quantifizierender Logik defizitär? Mit Blick auf die jahrhundertealte Geschichte männlich institutionalisierter handwerklich-technischer Berufe und akademischer Professionen ist außerdem zu hinterfragen, ob Erziehungs-, Sozial- und andere personennahe „Dienstleistungs“-Berufe häuslicher Provenienz, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts verberuflicht worden sind, sich in ähnlich präzisen, trennscharfen Termini präsentieren, wie sie in den historisch älteren, institutionell systematisierteren Männerberufen gegeben sind. Meine These dazu lautet, dass die moderne Kultursprache für weiblich tradierte interpersonale Arbeit nicht nur andere, sondern auch unpräzisere Begriffe vorhält als für technisch-instrumentelles Produzieren. Was die unterschiedliche sprachliche Qualität technisch-instrumenteller und personenbezogener Tätigkeitsbegriffe ausmacht, vor dem Hintergrund welcher sozial- und begriffsgeschichtlicher Entwicklungen sie sich erklärt und welche (denk-)psychologischen Konsequenzen daraus erwachsen, will ich in diesem Buch explizieren.

15

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

2.) Eine wichtige psychologische Dimension des Zusammenhangs von Gender und Arbeit deutet sich in der Nachhaltigkeit geschlechtsspezifischen Berufswahlverhaltens an, das seit nahezu 30 Jahren Gegenstand vielfältigster Expertisen, Programme und Projekte ist, – ohne dass sich Wesentliches geändert hätte. Trotz tief greifender gesellschaftlicher Modernisierung und trotz Angleichung des Stellenwertes, den der Beruf in den Lebensentwürfen junger Frauen und Männer einnimmt (Fobe/Minx 1996; Shell-Jugendstudie 2002), unterscheiden sich die berufsinhaltlichen Interessen nach klassischem Muster: Junge Männer wählen die Bereiche Bau, Elektrotechnik, Metall. Junge Frauen bevorzugen Berufe im sozialen, pflegerischen und pädagogischen Bereich (Fobe/Minx 1996; Krewerth et al 2004; BMBF 2006). Lediglich ökonomische und Verwaltungsberufe scheinen für beide Geschlechter gleichermaßen interessant (Fobe/Minx 1996; BMBF 2006). An der Zurückhaltung junger Frauen gegenüber technischen Arbeitsbereichen hat sich wenig geändert. Bei den Ausbildungsverträgen für Metall- und Elektroberufe betrug ihr Anteil im Jahre 2005 knapp fünf Prozent (BMBF 2006). Moderne IT- und Kommunikationsberufe interessieren sie, wenn überhaupt, nur dann, wenn die Berufsbezeichnungen gestalterische oder soziale Bezüge signalisieren (Krewerth et al 2004). Umgekehrt beträgt der Anteil der Männer in den Kindergärten gerade 2, bei den KrankenpflegerInnen 13,5 Prozent.3 Schon mit den wenig erfolgreichen Kampagnen „Mädchen in Männerberufe“ der 1980er Jahre ist deutlich geworden, dass geschlechtliche Berufswahl nicht nur ein Ergebnis struktureller Ungleichbehandlung ist, sondern auch ein psychologisches Phänomen. So fragt sich, warum junge Menschen zu Zeiten, da Berufe nicht mehr vererbt werden und geschlechtliche Bildungsbarrieren zumindest formal eingeebnet sind, noch den Gender-Mainstreaming-Offerten widerstehen, indem sie willentlich an geschlechtlich tradierten Arbeitsinhalten festhalten und diese zur Identitätsstiftung heranziehen. Besonders denkwürdig wirkt dieses Phänomen bei jungen Frauen. Obwohl sie mittlerweile über die besseren Bildungsabschlüsse (BMFSFJ 2005) verfügen und die meisten von ihnen berufliche Pläne so hoch bewerten, dass sie sogar hochgeschätzte familiäre Wünsche dahinter zurückstellen (Fobe/Minx 1996; ShellJugendstudie 2002), halten sie aus persönlichen Motiven an den Inhalten traditioneller Frauenberufe fest und nehmen die damit verbundenen finanziellen wie sozialen Nachteile, einschließlich familienunfreundlicher Arbeitszeiten, in Kauf. 3

16

Vgl. zum Männeranteil in Kindergärten Budde (2008) sowie zur Krankenpflege: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2004), Berufe im Spiegel der Statistik.

EINLEITUNG

Aus der Jugend- und Berufswahlforschung (Heinz/Lappe 1998; Fobe/Minx 1996; Baethge 1994; Shell-Jugendstudie 2002) ist seit Längerem bekannt, dass inhaltlich sinnstiftende Motive immer wichtiger bei der Berufswahl werden. In Anbetracht der nachlassenden Bindekraft sozialer Lebensräume und der Diversifizierung ehemals vorgezeichneter Lebensläufe verbindet sich mit diesem Befund die Einschätzung, dass die identitätsstiftenden Dimensionen der Lebensplanung zunehmend in den Berufsinhalten gesucht werden (ebd.). So gesehen wäre die Präferenz geschlechtlich tradierter Arbeitsinhalte als Modus moderner, individualisierter Lebensplanung zu werten, die sich unter anderem in dem Wunsch nach Weiterentwicklung eines kohärenten, geschlechtlich definierten Selbstbildes kristallisiert. Schließt man biologistische Begründungen aus, erhöht sich damit der Erklärungsbedarf, warum junge Menschen noch oder vielleicht gerade unter individualisierten Sozialisationsbedingungen alttradierte Affinitäten von Geschlechtsidentität und funktionsteiliger Arbeit so nachhaltig reproduzieren. Das aus der Berufswahlforschung bekannte Argument vorberuflich entwickelter Neigungen mag etwas für sich haben, verschiebt das Problem jedoch nur auf andere, ebenso erklärungsbedürftige Ebenen genderförmiger Sozialisation. Ich sehe einen wichtigen Schlüssel zur Erklärung der Nachhaltigkeit geschlechtsspezifischer Berufswahl in der psychologischen Wirkung der Sprache, die als Mittel der Kommunikation und des individuellen Denkens historisch generierte Sinnverbindungen und Identitätsschemata transportiert. 3.) Schaut man auf die inhaltliche Struktur geschlechtlicher Arbeitsmarktsegregation, wird erkennbar, dass junge Berufssuchende mit der Präferenz geschlechtlich tradierter Berufe zwangsläufig die nach wie vor dichotomische Entgegensetzung von technischer Rationalität und sozialverantwortlicher Empathie reproduzieren, die in den arbeitsorganisatorischen, zeitlichen und fachlichen Strukturen der Arbeitswelt, in der Verhältnisbestimmung von Erwerbsarbeit und privater Reproduktion, in wirtschaftlichen Paradigmen und ethischen Wertemustern niedergelegt ist. Wie stark dieses Schema auch nach 30 Jahren Sex-and-Gender-Debatte mit biologistischen Auffassungen zusammenfällt, zeigt sich an der Hartnäckigkeit der erfahrungsgemäß unter Jugendlichen wie auch unter Studierenden verbreiteten Alltagsannahme, technische bzw. soziale Interessen seien „irgendwie“ in den Genen oder Hirnen der Geschlechter deponiert. Gemäß einer Mitte der 1990er Jahre durchgeführten Erhebung an der TH Darmstadt glaubten 47 (!) Prozent der befragten Psychologiestudenten und immerhin 19 Prozent der Psychologiestudentinnen, das Ausüben eines Ingenieurberufes führe bei 17

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Frauen zur „Vermännlichung“ im Sinne einer „Versachlichung“ des Denkens und eines „Verlustes an Einfühlungsvermögen“ (Stein 1997, 89). Die Deutung erinnert fatal an den Soziologen Ferdinand Tönnies, der 1887 warnte, eine Frau, die in der Fabrik arbeite, „wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewußt“ (zit. nach Hausen 1976, 379/380). Umgekehrt deutet sich in den Gender-Mainstreaming-Pro-grammen die Hoffnung an, man müsse Mädchen nur für technische Verfahren interessieren und Jungen Sozialkompetenz vermitteln, dann erledige sich die kulturelle Entgegensetzung von Technik und Sozialverantwortung gewissermaßen qua personeller Zusammenführung von selbst. Verrät sich hier nicht auch eine vielleicht nicht gerade biologistische, aber doch zumindest personalisierte Auffassung geschlechtlicher Zuständigkeiten, die längst in gesellschaftlichen Strukturen eingegraben sind? Wie will man die Dichotomie von technischem Hervorbringen und personennaher Verantwortung aufheben, ohne den dahinter stehenden Begriff von Arbeit sowie die mit ihm verbundenen wirtschaftlichen Paradigmen und Strukturbildungen zu hinterfragen? Insgesamt erhebt sich angesichts der nachhaltigen geschlechtlichen Aufladung von technischer Rationalität und praktischer Moral die Frage, wieso dieser Antagonismus, den schon Rousseau im Jahre 1762 als „natürlichen“ Geschlechtsunterschied thematisierte, noch zu Beginn des 21. Jhs. in der Genderfrage kulminiert.

Fragestellung und theoretische Grundlagen Damit bin ich bei den zentralen Fragestellungen meiner sozial- und sprachgeschichtlichen Auseinandersetzung angelangt: Wie, unter welchen historischen und bedeutungsgeschichtlichen Strukturbildungen, ging die Entgegensetzung von instrumenteller Vernunft und sozialverantwortlicher Empathie aus der Geschichte genderförmig organisierter Arbeits- und Lebensverhältnisse hervor? Und mittels welcher sprachlichen Logiken verstetigt sie sich im heutigen Denken so, dass sie auch in gendersensiblen Programmen an Männer und Frauen geheftet wird? Sprachtheoretisch stütze ich mich auf die Theorie Lew S. Wygotskis, die gewissermaßen die psycholinguistische Basistheorie meiner Betrachtung bildet und die ich auf aktuelle, in der Genderdebatte aufgeworfene Fra-

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EINLEITUNG

gen anwende. Zur Reflexion von sozialgeschichtlichen und epistemischen Entwicklungslinien ziehe ich historische Forschungsarbeiten und philosophische Literatur heran. Den Verlauf geschlechtlicher Kategorienbildung werde ich am Beispiel pädagogischer Konzepte und Texte reflektieren. In den 1920er und 30er Jahren erarbeitet, ist Wygotskis kulturhistorischer Ansatz etwa zeitgleich mit Ferdinand de Saussures strukturalistischer Sprachtheorie und George Herbert Meads Symbolischem Interaktionismus entstanden, deren poststrukturalistische bzw. sozialkonstruktivistische Ableitungen heute in der diskurstheoretischen Genderdebatte eine wichtige Rolle spielen. Was Wygotski aus meiner Sicht gegenüber dem vergleichsweise simplen sozialbehavioristischen Interaktionsmodell G. H. Meads und der agesellschaftlichen Linguistik de Saussures auszeichnet, ist seine interfunktionale und entwicklungstheoretische Betrachtungsweise, die historische, arbeits- und sozialpraktische, psychologische und semiotische Dimensionen der Sprachentwicklung zusammenführt. Von einem historisch-materialistischen Gesellschaftsverständnis herkommend, untersucht Wygotski Sprachentwicklung auf der entwicklungspsychologischen Ebene, gewissermaßen in actu. Unter eingehender psychologischer und linguistischer Auseinandersetzung schließt er von der kindlichen Begriffsentwicklung auf historische bzw. gattungsgeschichtliche Prozesse der Sprach- und Bewusstseinsentwicklung zurück. Im Ergebnis seiner Auseinandersetzung begreift er die Sprache als ein historisch generiertes Symbolsystem, das im Wege arbeits- und sozialpraktischer Kooperation und Kommunikation entstanden und Mittel des Sprechens und Denkens geworden ist. Von Wygotskis Arbeiten ausgehend, wird sich auch meine Abhandlung auf zwei ineinander greifende Ebenen beziehen: • auf die Ebene sozialgeschichtlicher Bedeutungs- und Logikentwicklung, die ich bis in die Renaissance zurückverfolge, um hernach den sprachlichen Transfer traditioneller Sinnverbindungen und Logiken anhand moderner Berufsbilder zu exemplifizieren • auf die sozial- und entwicklungspsychologische Ebene der Sprachentwicklung, die ich sowohl hinsichtlich soziohistorischer Phänomene der genderförmigen Kategorienbildung als auch hinsichtlich des Stellenwertes der Sprache für ontogenetische Prozesse geschlechtlicher Identitäts- und Interessensentwicklung erörtern werde. Mein Herangehen lässt sich somit als historio-psycholinguistische Auseinandersetzung charakterisieren.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Da sich Wygotskis Sprach- und Begriffsstudien nun nicht gerade auf die abendländische Gendergeschichte bezogen haben, ziehe ich zur Erörterung der für meine Fragestellung relevanten Trennung von Ratio und Affekt, Öffentlichkeit und Privatheit Norbert Elias’ Rekonstruktion der abendländischen Zivilisierung hinzu. Bestimmte Aspekte von Elias’ Theoriebildung werde ich nach Wygotski reformulieren. Obwohl Elias’ figurationstheoretischer Ansatz den Zusammenhang soziokultureller und psychogenetischer Entwicklungen vor allem anhand körperlich-psychischer Habitualisierung erklärt und die Rolle der Sprache eher vernachlässigt, ist er insoweit mit Wygotski zu vereinbaren, als beide Theorien von der Historizität gesellschaftlicher Prozesse unter Einschluss psychischer Entwicklungen ausgehen. Beide Theorien messen intersubjektiven Handlungspraktiken und Verkehrsformen eine bedeutungskonstituierende Wirkung bei. Eine dritte Gemeinsamkeit liegt in der Auffassung psychischer Individuation als einer sprachlichen (Wygotski 2002) bzw. habituellen (Elias 1997) Hereinnahme sozialer Strukturen in die individuelle Persönlichkeit.

Ausgangsproblem und Forschungsstand Ausgangsproblem meiner Abhandlung ist der Widerspruch zwischen der erforschten Sozialgeschichte von Männer- und Frauenarbeit und der Referenz des in dieser generalisierenden Form auf die Zeit der Spätaufklärung und Klassik zurückgehenden alltagssprachlichen Arbeitsbegriffes, dessen männliche Ausprägung „Produktivität“ und „instrumentelle Rationalität“ repräsentiert und der zur weiblichen Seite hin „naturnahe Empathie“ und „Sozialverantwortung“ signalisiert. Die Bedeutung dieses Begriffsgefüges widerspricht dem in verschiedenen historischen Phasen zu beobachtenden Geschlechtswechsel von Berufen, so der Vermännlichung ursprünglich weiblicher Arbeitsbereiche wie der Medizin oder Computerprogrammierung bzw. der Verweiblichung ehemals männlicher Berufe, etwa des Sekretärs oder Schriftsetzers (Gildemeister/Wetterer 1995; Wajcmann 1994). Auch belegt die historische und arbeitssoziologische Forschung (u.a. Wunder 1993a und b; Willms 1983a und b), dass Frauen vom Hohen Mittelalter an – teils vermengt mit, teils parallel zu familiärer Erziehungs- und Versorgungsarbeit – immer zu einem sehr hohen Prozentsatz auch produktive Erwerbsarbeit geleistet haben. Zugleich gibt es männlich tradierte Berufe, zum Beispiel den Schmied, Pfarrer oder Lehrer, die nicht ohne weiteres dem Topos instrumenteller Ratio zuzuordnen sind. Es fragt sich also, warum historisch, regional und ständisch höchst unterschiedliche Arbeitsweisen von

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EINLEITUNG

Männern und Frauen eine solche, komplementär aufscheinende, begriffliche Generalisierung erfahren haben. In der historischen Genderforschung wird die verallgemeinernde geschlechtliche Zuordnung bestimmter Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale überwiegend auf die bio-psychische Generalisierung der „Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976) im zeitlichen Umfeld der Französischen Revolution rückgeführt. Gemeint ist die aus körperlichen Schemata und erotischen Qualitäten hergeleitete Typologisierung geschlechtlicher Persönlichkeitsmerkmale, die man mit tatkräftiger Unterstützung der aufsteigenden Anthropologie und Pädagogik als naturgegebene Charaktermerkmale auswies. Dem kulturell konnotierten männlichen Typus wurden dabei vornehmlich Merkmale der Erwerbsarbeit zugeschrieben, dem naturnah verstandenen weiblichen Sozialcharakter überwiegend Merkmale der Erziehungs- und Hausarbeit (Hausen 1976; Honegger 1991). Die wahrscheinlich einflussreichste Interpretation dieser Vorgänge ist Karin Hausens (1976) These einer „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ im Sinne einer von männlichen Bildungsbürgern in der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert konstruierten Geschlechtstypologie. Eine andere, ebenfalls stark verbreitete, Deutung generalisierender geschlechtlicher Klassifikation liegt der sozialkonstruktivistischen Annahme einer permanenten, situativ-interaktiv hergestellten Geschlechtskonstruktion inne, die sich mit dem Begriff „doing gender“ verbindet (u.a. Hirschauer 1996; Gildemeister/Wetterer 1995; Wetterer 2002). Die gemeinsame Grundlage dieser mittlerweile recht verzweigten Forschungsrichtung bildet die These, dass Zweigeschlechtlichkeit mit Hilfe „eines axiomatischen Wissens erzeugt wird“, das „als selbstverständlicher und nicht-hinterfragter Hintergrund von Wahrnehmungsprozessen und Begründungsfiguren“ funktioniert (Hirschauer 1996, 243). Dieses „Wissen“ beruht auf den Basisannahmen, dass alle Menschen unverlierbar und aus körperlichen Gründen das eine oder andere Geschlecht seien (ebd.) Selbige These wird unter anderem von Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1995) zur Erklärung des Phänomens angewandt, dass die Vermännlichung ehemaliger Frauenarbeiten historisch mit Professionalisierung und damit Höherbewertung einhergeht, während die Verweiblichung von Berufen zur Deprofessionalisierung führt. Dem deontologisierenden Gedanken von der kulturellen Auslegung der Natur und „interaktiven Herstellung sozialer Wirklichkeit“ (Gildemeister/ Wetterer ebd. 230, Hvh. im Orig.) folgend, deuten die Autorinnen dieses Phänomen als fortwährende „Re-Konstruktion der hierarchischen Struktur des Geschlechterverhältnisses“ (ebd. 223). Wobei sie nicht Arbeitsinhalte als gemeinsames Moment der Klassifikation von Männer- und 21

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Frauenarbeit ansehen, sondern Hierarchie. Als treibende Kraft interaktiver Geschlechtsherstellung nehmen die Autorinnen unter Bezug auf angloamerikanische Theoriebeiträge4 zweigeschlechtlich und hierarchisch verfasste Geschlechtsklassifikationen an, die sie als „Basisklassifikation“ für weitere alltagsrelevante Klassifikationsvorgänge werten (245 ebd.). Stabilisiert durch Analogiebildungen und die „Naturalisierung sozialer Klassifikationen“ (ebd. 241), schreiben die Autorinnen, „leitet die binäre Geschlechts-Kategorie (hochflexibel!) jede Interaktion“ (ebd. 247, Klammer im Orig.). Was besagt, dass Geschlechtsklassifikationen als derart anpassungsfähig gesehen werden, dass sie unterschiedlichste soziale Konstellationen und Handlungskontexte überbrücken. Bei der Bearbeitung des Themas hat mich weder die Polarisierungsthese überzeugt noch die Annahme eines binären Klassifikationssystems, das Geschlechtszuweisung und Habitualisierungen unabhängig von Arbeits- und Lebensinhalten steuert. Die Polarisierungsthese verstetigt nach meiner Meinung herkömmliche Gegensatzbildungen zwischen instrumenteller Vernunft und sozialer Empathie und übergeht dabei tiefer liegende historisch generierte Bedeutungsebenen des „polar“ gedeuteten geschlechtlichen Referenzsystems. Ich werde das in einer eingehenden Erörterung aufzeigen. Die hier am Beispiel von Gildemeister/Wetterer (1995) skizzierte sozialkonstruktivistische These „binärer“ und „hierarchischer“ Klassifikation als gestaltendem Moment prozessualen Genderings halte ich aus weiteren Gründen für zu kurz: Hergeleitet aus der Transsexuellenforschung Garfinkels und Goffmanns, die die Übernahme gegengeschlechtlicher Habiti zwar minutiös, aber dennoch überwiegend beschrieben haben, bleibt diese Theorie meines Erachtens ebenfalls zu weiten Teilen deskriptiv. So erschließt sich erkenntnistheoretisch nicht, woher die als so fundamental gewertete Geschlechtskategorie ihre „binäre“ Struktur bezieht und warum sie – unabhängig von den Inhalten und Kontexten menschlicher Arbeits- und Sozialpraxis – stets mit hierarchischer Allokation zusammenfällt (vgl. dazu auch Becker-Schmidt/Knapp 2003). Auch geht aus der theoretischen Begründung nicht hervor, ob diese Art der Geschlechtsklassifikation nun apriorischer, biologischer oder historischer Herkunft ist. In psychologischer Hinsicht erscheint mir die Annahme einer immer situativ und interaktiv realisierten Geschlechtskonstruktion zu einfach, um vorausschauende psychische Orientierungsleistungen wie geschlechtliche Berufswahl zu erklären, die sich mit komplexen inhaltlichen Sinnmustern verbinden. Obwohl ich dem Begriff „doing gender“ wie auch der mikrosoziologischen Interaktionsforschung 4 22

Kessler & McKenna, West & Zimmermann, Lorber & Farell

EINLEITUNG

vieles abgewinnen kann, weil beides den prozessualen und sozialen Charakter von Gender hervorkehrt, scheint mir ein Manko dieser Theorierichtung zu sein, dass die mit der Sprache gegebene Historizität gesellschaftlicher Deutungen wie auch die Qualität des intrapsychischen Denkens zu wenig berücksichtigt ist. So werde ich ein psycholinguistisch unterfüttertes „doing gender“-Konzept vorstellen, das in die Betrachtung intersubjektiver Vergeschlechtlichungsprozesse historische, arbeits- und sozialpraktische sowie entwicklungspsychologische Gesichtspunkte einbezieht. Insgesamt ist aus meiner Beschäftigung mit Begriffsentwicklung im Kontext der genderförmigen Geschichte von Arbeit, Reproduktion und Generativität eine Auffassung erwachsen, die der gängigen Deutung polarer bzw. binärer Begriffskonstruktion widerspricht. Die Auffassung nämlich, dass der sprachliche Gegensatz von rationalen und empathischen Fähigkeiten, der mit dem Deutungsmuster männlicher Professionalität und weiblicher Privatheit korrespondiert, nur die selektive semantische Oberfläche aufeinander verweisender Kategoriensysteme vorstellt. Unter dieser Oberfläche offenbart sich eine komplizierte Dialektik von gegenseitigen Abhängigkeiten, sich verkehrenden Machtbalancen und überschneidenden Bedeutungen, die sich durch historisch unterschiedlich generierte Verallgemeinerungslogiken von männlich und weiblich zugeordneten Arbeitsbegriffen übermitteln. Um diese These in nachvollziehbarer Weise herleiten zu können, habe ich mich für einen dreiteiligen Aufbau der Abhandlung entschieden.

Aufbau Der erste Teil leuchtet – gewissermaßen in einem ersten Problemaufriss – die vordergründige Ideengeschichte und die Inkonsistenzen des technisch-instrumentellen Arbeitsbegriffs aus, der noch immer als Deutungsmatrix qualifizierter Arbeit herangezogen wird. Im zweiten Teil wird eine sprachtheoretisch-psychologische Auseinandersetzung zu Problemen der sprachlichen Bedeutungskonstitution, Logik- und Begriffsentwicklung sowie der denk- und entwicklungspsychologischen Funktion der Sprache geführt. Hier werden erste Thesen zur Referenz und Logik geschlechtsaffiner Arbeits- und Persönlichkeitskategorien entwickelt und aktuelle Probleme inter- und intrasubjektiver Geschlechtsverortung erörtert.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Ausgestattet mit dem psycholinguistischen Instrumentarium gehe ich dann im dritten Teil der Frage nach der Ausdifferenzierung geschlechtlich konnotierter Arbeits- und Subjektkategorien im Kontext sozialgeschichtlicher Entwicklungen nach. Die historische Betrachtung beginnt bei der „Geschlechtscharakter“-Debatte im Umfeld der Französischen Revolution, greift retrospektiv auf frühneuzeitliche Entwicklungslinien zurück, weist begriffsgeschichtliche Kontinuitäten auf und mündet in eine Erörterung der Referenz und Logik männlich und weiblich konnotierter Kategoriensysteme. Die Relevanz dieser Auseinandersetzung wird schließlich am Beispiel aktueller Berufsbilder demonstriert.

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I ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG D E S H E G E M O N I AL E N

AR B E I T S B E G R I F F S

2 ZUR GESCHICHTE V E R S T ÄN D N I S S E S

D E S N E U Z E IT L I C H E N DER

U N D D E S R AT I O N AL E N

AR B E I T SUBJEKTS

Die Durchsetzung des modernen Arbeits- und Subjektbegriffs in der heute vorherrschenden Bedeutung von zweckbestimmter, werte- und erkenntnisbildender Tätigkeit ist Ergebnis eines tief greifenden gesellschaftlichen und mentalen Wandels, der in der Renaissance eingeleitet wurde und in der bürgerlichen Gesellschaft zum Durchbruch kam. Mit dem Bedeutungszuwachs handwerklicher Arbeit und der Ausweitung des Handels hat sich seit dem Aufkommen der neuzeitlichen Naturwissenschaften und Techniken ein Arbeits- und Rechtsverständnis herausgebildet, das produkterzeugende Arbeit als Ursache von nationalem Reichtum, Eigentum und Recht ansieht (Böhme 1985; Riedel 1973; Walther 1990). Mathematische Messung und auf gegenständliche Objekte gerichtete methodische Herstellungsverfahren wurden zum Inbegriff schöpferischer Rationalität. Im Zusammenhang der Aufwertung warenproduzierender Arbeit zur kulturfundierenden Handlungsweise stand die ideengeschichtliche Konturierung des individuellen Subjektes als schöpferischem Zentrum von Erkenntnis, Wertebildung und Recht. Obwohl produktive Erwerbsarbeit realgeschichtlich keineswegs eine Männerdomäne ist, sondern Frauen seit der Frühen Neuzeit stets auch herstellende, marktverwertbare Arbeit geleistet haben (Wunder 1993a und b; Willms 1983b), entwickelte sich der rationale, hervorbringende Subjektbegriff zur männlichen Kategorie. Mit Aufsteigen der bürgerlichen Gesellschaft Ende des 18., Anfang des 19. Jhs. schlug sich dieser Subjektbegriff in einem individualisierten männlichen Berufskonzept nieder, das durch Ausbildung erworbene Fähigkeit, sachliche Vernunft 27

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

und kulturell systematisierte Methodik repräsentierte (Mayer 1996; Paul-Kohlhoff 1998; Voß 2002). Die Kehrseite dieser Entwicklung war die wissenschaftliche und literarische Generalisierung fürsorglicher sozialer Handlungsqualitäten als „natürliche“ weibliche Fähigkeiten, die die sprachliche Referenz ,typischer’ Frauenarbeiten bis heute dominiert. Niedergelegt in einem mütterlich-ehefraulich pointierten Sonderberufskonzept, prägte diese Geschlechtsauffassung die Frauen- und Mädchenbildung des 19. Jhs. Zu Beginn des 20. Jhs. wurde sie maßgeblich für die Entwicklung sozialer Frauenberufe und die Zulassung von Mädchen zu gewerblichen Berufen (Mayer 1996; Sachße 2003; Schlüter 1987). Warum der moderne Subjektstatus trotz der durchgängigen Beteiligung der Frauen am produktiven Erwerbsgeschehen bis ins beginnende 20. Jh. Männern vorbehalten blieb und in welchem entwicklungsgeschichtlichen Verhältnis der männlich konnotierte Arbeitsbegriff zur Bedeutungsgeschichte weiblich eingeordneter Arbeits- und Persönlichkeitsmerkmale steht, werde ich nach der sprachtheoretischen Erörterung anhand sozialgeschichtlicher Entwicklungsprozesse abhandeln. In diesem Kapitel will ich mich mit der Ideengeschichte des vorherrschenden Arbeitsbegriffs und seines Agenten, des schöpferischen Erkenntnissubjekts, beschäftigen. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung wird die Reflexion bestimmter Erkenntnis- und Handlungsprinzipien stehen, die zur Deutungsfolie qualifizierter Berufsarbeit geworden sind: Nämlich die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, das Prinzip der Vergegenständlichung kultureller Werte und erkennender Subjektivität sowie das Ideal emotional unbelasteter sachlicher Rationalität.

2.1 Zum Aufstieg hervorbringender Arbeit Das Wort „Arbeit“ ist kein normierter wissenschaftlicher Terminus, sondern ein umgangssprachlicher Ausdruck, dessen präzisere Bedeutung historisch höchst wechselhaft war. In der Antike galt Arbeit keineswegs als kulturfundierende Tätigkeit, sondern als etwas Sklavisches, das den Zwängen der Natur und der Animalität des Menschen unterlag (Böhme 1985). Im Mittelalter, wo körperliche Arbeit ein Merkmal der niedrigen Stände war, wurde nicht der schöpferische, sondern der Mühsal- und Lastcharakter von Arbeit betont (Riedel 1973; Conze 1972). Wortgeschichtlich geht „Arbeit“ auf verschiedene Wurzeln zurück. Walther (1990) und Riedel (1973) führen lat. arvum (Ackerland) und slav. rabu (Fron, Sklave, Knecht) an. Die Herkunftswörterbücher von Duden (2001) und Kluge (1999) nennen althochdeutsch ar[e]beit (Arbeit und

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ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Mühsal), verwandt mit germanisch orbho (verwaistes, körperlich schwer arbeitendes Kind) und altslavisch rabota (Sklaverei, Knechtschaft). Die gesellschaftliche Durchsetzung des modernen Arbeitsbegriffs in der Bedeutung von zweckbestimmter, werte- und erkenntnisbildender Tätigkeit vollzog sich mit dem Wandel von der agrarisch-handwerklich geprägten ständischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft (Riedel 1973; Böhme 1985; Conze 1972). Etwa ab dieser Zeit wurde – wenn auch nicht unumstritten – die kulturfundierende Bedeutung von Arbeit in die Systematik der Philosophie aufgenommen (ebd.). Obgleich Arbeit seit der Frühen Neuzeit eine grundlegende Umwertung erfahren hat, ist ihre begriffliche Bedeutung im Positiven wie im Negativen durch sprachliche Klärungsversuche antiker Systeme zweckrationalen Handelns bei Platon und Aristoteles beeinflusst (ebd.). In der platonisch-aristotelischen Philosophie galt zweckrationales Hervorbringen als nachrangige Tätigkeit (Böhme 1985; Hirschberger 1980 Bd. 1; Riedel 1973). Die Spitze dieser Werteordnung bildete soziale Prâxis, das politisch-ethische Handeln, das seinen Zweck in sich selbst trug und auf das glückliche, tugendhafte Leben zielte (ebd.). Ihr untergeordnet waren hervorbringende, auf einen außerhalb liegenden Zweck gerichtete Tätigkeiten, die im Begriff Poiesis zusammengefasst waren. Eng verwandt mit Poiesis war bei Aristoteles der Begriff TéchnƝ (Handwerk, Kunst, Fertigkeit, Wissenschaft), die zweckdienliche Umwandlung von Materialien, was teils als Nachahmung der Natur, teils als Hervorbringen dessen, was die Natur nicht zustande bringt, aufgefasst war. Technisch hergestellte Werke konnten ihren Zweck in weiteren Arbeitstätigkeiten haben oder Mittel der Prâxis sein. Da das Prinzip des Seins oder Zustandekommens für Aristoteles nicht im Werk, sondern in der herstellenden Person lag, bedeutete TéchnƝ eine Art Entbergung potentieller Seinsweisen (vgl. Castoriadis 1983). Obwohl schon spätantike Philosophieschulen die aristotelische Werteordnung verwarfen und Arbeit bereits in ihrer widrigen Form als Mühsal und Not den Charakter eines Tugendmittels zuerkannten, setzte sich lange keine neue Bedeutung des Arbeitsbegriffes durch (Riedel 1973). Auch das frühe Christentum, das Arbeit mythisch-doppeldeutig als Auftrag Gottes an den Menschen, sich die Erde untertan zu machen, und als fluchbeladene Folge seiner Schuld aufwertete, entwickelte keine neue philosophische Unterscheidung von Prâxis und Poiesis (ebd.). In der Hochscholastik (13. Jh.) wurde die christliche Aufwertung hervorbringender Arbeit durch Neurezeption der aristotelischen Philosophie konterkariert (ebd.). So bewerteten Albertus Magnus (1206-80) und Thomas von Aquin (1225-74) handeln (agere) höher als arbeiten (facere), nach ihrer Auslegung bedurfte produktives Arbeiten einer vorausgehenden, 29

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

zu formenden Materie, während das soziale Handeln seine „Form“ durch inneliegende Klugheit (prudentia) und Tüchtigkeit (virtus) der Handelnden gewann. Für Arbeit als hervorbringende Tätigkeit galt, dass ihr Zweck nicht in der Betätigung der Arbeitenden, sondern im Werk zu suchen war. Der arbeitende Mensch verlor demnach die gestaltende Kraft der „Form“ an den äußeren Stoff; Arbeit trug nicht zu seiner Formierung bei (vgl. Riedel 1973). Die Geltung dieser Denkweise änderte sich ab dem 14./15. Jh., als im Zuge der Kommerzialisierung des Handels und der Entwicklung naturwissenschaftlicher Methoden ein neues Verständnis zweckgerichteter Naturbearbeitung entstand (Conze 1972; Böhme 1985; Riedel 1973). Mit der methodischen Beobachtung und Vermessung der Natur begann die Geschichte des modernen Arbeitsbegriffs und des hervorbringenden Menschen, des homo faber. Unter dem Paradigma, die Natur zu benutzen und als „objektiven“ physikalischen Gesetzeszusammenhang zu erkennen, wurden Mensch und Natur nunmehr als Gegensatz definiert (Böhme 1998). War im mittelalterlichen Denken das Verhältnis von Mensch und Bearbeitungsgegenstand als sozial intendierte Bezugnahme verstanden worden,1 und hatte noch Thomas von Aquin die Materie als „materia circa quam“ – also nicht als losgelöstes Erkenntnisobjekt, sondern als das, worum es den Menschen geht (vgl. Oittinen 1999) – beschrieben, trat mit den naturwissenschaftlichen Methoden das erkennende, hervorbringende Subjekt seinem „objektiven“ Gegenstand gegenüber (ebd).

2.2 Objektivierung der Natur und das konstruktive Subjekt In der Renaissance war das mittelalterliche Denken mit neuen Gegebenheiten städtischer Handwerksblüte und Ansätzen frühkapitalistischer Handelstätigkeit konfrontiert worden. Die kopernikanische Weltdeutung hatte die bloß anschauende scholastische Vernunft diskreditiert und die aristotelische Dichotomie von Prâxis und Poiesis in Frage gestellt (Hochgerner 1986). Die philosophische und arbeitssoziologische Literatur (u.a. Böhme 1995; Castordiadis 1983; Hirschberger 1980 Bd. 2; Hochgerner 1986; Weizenbaum 1978) stellt den tief greifenden mentalen Wandel der Deutung von Natur, Mensch und Religion in den Zusammenhang eines neuen konstruktivistischen Weltverständnisses, das 1

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Beispielsweise bezeichnete eine „Sache“ im 8. Jh. keinen dinglichen Gegenstand, sondern eine soziale Angelegenheit und stand für „Rechtssache“, „Streit“ (vgl. Duden 2001; Kluge 1999).

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

mathematische Berechnung und technische Methodik zum Mittelpunkt eines verdiesseitigten Vernunftbegriffs machte. Der wissenschaftliche Konstruktivismus baute auf der sozialhistorischen Entwicklung quantifizierender Zeiteinteilung und Wertebemessung auf. Neben der zunehmenden Bedeutung der Messkunst in Handel und Gewerbe und dem Vorbild klösterlicher Arbeitsteilung (Hochgerner 1986) ist die Ausbreitung der 1370 (in Paris) erfundenen wetterunabhängigen Uhr anzuführen, die erheblich zur Mechanisierung und Kommerzialisierung der Arbeit beigetragen hatte (ebd.). Mit der Uhr, dem Stundenschlag der Kirchturmglocken, wurden die Lebensabläufe in den Städten und Gemeinden neu geregelt. Es war ein bedürfnis- und ereignisunabhängiger Parameter in die Welt gekommen, der die vormals auf natürliche Rhythmen und soziales Geschehen ausgerichtete Orientierungsweise der Menschen durch eine zeitlineare ersetzte und die Wahrnehmung von Zeit und Raum, Natur und Mensch grundlegend veränderte (Hochgerner 1986; Weizenbaum 1978). Lewis Mumford (zit. nach Weizenbaum, 1978, 43) misst der Uhr, die nach seiner Ansicht stärker noch als die Dampfmaschine das Industriezeitalter geprägt hat, einen entscheidenden Anteil bei an der frühneuzeitlichen „Entstehung des Glaubens an eine unabhängige Welt [...], in der alles auf mathematisch messbare Weise abläuft: die spezielle Welt der Naturwissenschaft.“ Zunächst auf politischem Gebiet von Macchiavelli (1469-1527) formuliert, fand der wissenschaftliche Konstruktivismus etwa hundert Jahre später seine naturwissenschaftliche Begründung durch die moderne Physik (Hirschberger 1980 Bd. 2). Eine entscheidende Rolle spielten dabei die methodische Anwendung technischer Instrumente und die mathematische Quantifizierung der so zu Tage geförderten Ergebnisse (Hirschberger 1980 Bd. 2; Böhme 1998). So wird besonders Galilei (1564-1642) die Leistung zugeschrieben, die Grundlagen der modernen Mechanik geschaffen zu haben, die später zur Ablösung der qualitativeidetischen durch die quantitativ-mechanische Seinsauffassung führte (ebd.). Dabei waren es nicht so sehr die Entdeckungen (Bestätigung des kopernikanischen Weltbildes, Trägheits- und Fallgesetz), die Galileis herausragende Stellung in der neuzeitlichen Ideengeschichte ausmachten, als vielmehr seine Methode technisch vermittelter Induktion (ebd.). Bekanntlich hatte Galilei die Phänomene des freien Falls nicht einfach an herunterfallenden Gegenständen beobachtet. Vielmehr hatte er mittels einer technischen Konstruktion, der schiefen Ebene, invariante Bedingungen hergestellt, anhand derer sich Regelmäßigkeiten ermessen ließen. Das heißt, er hat die Natur einer „bestimmten Hinsicht“ (Böhme 1998, 90) unterworfen, sie in bestimmter Weise im technischen Experiment „thematisiert“ (ebd.) und so spezifische Erscheinungen isoliert, die 31

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

als ,Gesetzmäßigkeiten’ systematisiert werden konnten. Böhme (1998, 90) wertet die experimentelle naturwissenschaftliche „Thematisierung“ der Natur nicht einfach als Schärfung der Wahrnehmung, sondern als „Bruch“ der „unmittelbaren leiblichen Bezügen [des Menschen] zur Natur“. Ich würde sagen, sie hat ältere Formen der arbeitspraktischen und begrifflichen Vermittlung von Mensch und Natur durch eine methodische Form technischer Thematisierung ersetzt. Die konstruktive Qualität dieser Erkenntnismethode bestand also darin, Naturerscheinungen mittels technischer Instrumente zu evozieren und anhand mathematischer Kategorien zu klassifizieren. Mit dem technischen Instrument und der Mathematik als kulturell entwickelten Mitteln der menschlichen Vernunft war eine spezifische Art des Auftretens von Naturphänomenen inszeniert und mit einer spezifischen Deutungsweise kombiniert worden. Da Galilei nicht einfach die Vielfalt leiblichaffektiver Wirkungen herunterfallender Gegenstände registrierte, sondern ausschließlich die Fallgeschwindigkeit anhand invarianter Parameter ermittelte, war das Verhältnis von Raum, Zeit und Gewicht als scheinbar „objektives“, den Dingen anhaftendes Verhältnis hervorgetreten, das die menschliche Vernunft induziert hatte. Rund zweihundert Jahre nach Galilei reflektierte Kant die konstruktivistische Qualität dieser Vorgehensweise in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft: „Als Galilei seine Kugeln die schiefe Ebene mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen oder Torricelli die Luft ein Gewicht, was er sich zum voraus mit einer ihm bekannten Wassersäule gleichgedacht hatte, tragen ließ [...] ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, daß die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müssen, auf ihre Fragen zu antworten.“ (Kant 1781/1963, B XII/XIII)

Hatte Galilei die im technischen Experiment regelmäßig aufscheinenden Naturphänomene als Gesetzmäßigkeiten rekonstruiert, bestimmte später Newton (1643-1727) die Prinzipien der Gesetze selbst (Böhme 1998). Durch die methodische Festlegung des Trägheitsprinzips und des Prinzips proportionaler Krafteinwirkung bei Bewegungsänderungen wurden Naturgesetze danach prinzipiell so inszeniert, dass Zustandsänderungen mit äußeren Kräften in Verbindung gebracht wurden (ebd.). Mithin wurde Natur in den neuzeitlichen Naturwissenschaften grundsätzlich definiert als „Mechanismus, als eine Mannigfaltigkeit von Zuständen, deren Änderung auf äußere Kräfte zurückgeführt wird“ (Böhme 1998, 91; vgl. auch Hirschberger, 1980 Bd. 2). Die Deutung der Natur als ein dem Menschen äußerer, objektiver und messbarer Gesetzeszusammenhang 32

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

entsprang also ihrer „Thematisierung im technischen Setting“ (Böhme 1998, 91). Charakteristisch für die quantitativ-mechanische Naturbetrachtung war nach Hirschberger (1980 Bd. 2) die Fokussierung der Sache im Sinne eines quantifizierbaren materiellen Objektes und der sich verselbstständigende logische Gedanke. Neue Methoden der Induktion durch Apparate und Experimente hatten, so Hirschberger (ebd.) weiter, die alte metaphysische Wesenswissenschaft abgelöst und durch empirisch aufscheinende Kausalrelationen ersetzt. Dem neuen naturwissenschaftlichen Seinsbegriff entsprach, dass Masse und Kraftquantum als fundamentaler angesehen wurden als die metaphysische Soseinsbestimmtheit. Allmählich wurde die in Raum und Zeit gegebene Kausalrelation zur ontologischen Determinante schlechthin, nützliche Techniken (artes) und das Beherrschen der Natur (opere) wurden als wissenschaftliche Handlungsweise prioritär. Wissen wurde nicht mehr wie bei Aristoteles als Selbstzweck gewertet, sondern stand „im Dienste technischer Utilität“ (Hirschberger ebd. 49). Obwohl zentrale Annahmen der quantitativ-mechanischen Naturauffassung später durch die Quantentheorie und die Kategorie der Ganzheit revidiert wurden,2 dominieren bis heute in umgangssprachlichen und wissenschaftlichen Arbeitsbegriffen mechanisch-kausale Gegenstandsmetaphern, die mit quantifizierenden Messmethoden synchronisiert sind und den arbeitenden Menschen als rational hervorbringenden homo faber kennzeichnen (Riedel 1973). Der philosophischen Umwertung der Arbeit war die Modifizierung des Wissenschaftsbegriffes vorausgegangen. Zeitlich parallel zu Galileis Revolutionierung der Naturwissenschaften hatte Francis Bacon (15611626) einen Wissenschaftsbegriff formuliert, der prototypisch wurde für ein methodisches Arbeitsverständnis unter dem Paradigma systematischer, auf politische Macht und wirtschaftliches Wachstum zielende Kraftentfaltung. Bacons Botschaft „Wissen ist Macht“ wurde symptomatisch für einen utilitaristischen Arbeitsbegriff, dessen Rationalität auf einem strengen methodischen Regelkanon beruhte und auf das Besiegen der Natur gerichtet war (Conze 1972; Hirschberger 1980 Bd. 2; Hügli/ Lübcke 2000). Im Vordergrund dieses Konzeptes stand „Arbeit als ,vernünftiges’ experimentierendes Machen im Sinne ,tätiger Wissenschaft’“ (Walther 1990, 18). In Hobbes’ (1588-1679) etwas späterem Entwurf praktischer Philosophie wurde dann Arbeiten selbst zum Zweck. Hobbes 2

Max Planck korrigierte die These, Quantität sei eine Fundamentalkategorie des Seins, indem er die Kategorie der Ganzheit hinzufügte. Die Annahme eines streng gleichmäßig fließenden Kausalnexus wurde durch die Quantentheorie ersetzt (Hirschberger 1980 Bd.2, 45 f.). 33

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

sah den Nutzen der Wissenschaft in der Technik, Körper und innere Bewegung zu messen, Lasten zu bewegen und Werkzeuge herzustellen. Auch er konnotierte hervorbringende Arbeit mit Macht (potentia) und deutete den Sinn menschlichen Handelns als Fortschreiten zu immer weiteren Gütern und Zielen (vgl. Conze 1972; Riedel 1973). Das Legitimieren der totalen Verfügbarkeit natürlicher Gegebenheiten verdrängte ältere, politisch pointierte wissenschaftliche Orientierungen. Descartes (1596-1650) brachte die neue Seinsauffassung auf die pragmatische Formel, die Natur beherrschen und besitzen (vgl. Castoriadis 1983). Im Anschluss an das der Unterwerfung und Ausbeutung der Natur verpflichtete Machbarkeitsideal brach John Locke (1632-1704) mit der Annahme einer unveränderlichen natürlichen Ordnung. Noch unter naturphilosophischer Begründung leitete er die These des bürgerlichen Liberalismus ein, dass Arbeit als Eingriff des Menschen in die Natur Recht verschaffe, indem sie natürliches Eigentum an Grund und Boden verleihe und jedem Ding seinen Wert gäbe (vgl. Conze 1972; Walther 1990). Auch formulierte er eine erste Arbeitswerttheorie, die unterschiedliche Zeitquanta der Feldarbeit zur Erklärung unterschiedlicher Ackerlandpreise heranzog (vgl. Walther 1990).

2 . 3 P r o d u k t i v e Ar b e i t a l s w e r t e b i l d e n d e , subjektkonstituierende Tätigkeit Mit der philosophischen Begründung der rechts- und werteschöpfenden Eigenschaft von Arbeit begann der Durchbruch des modernen Arbeitsbegriffs. Arbeit war zum Ursprung und zur Legitimationsbasis von Eigentum geworden, welches wiederum Voraussetzung des bürgerlichen Rechtsstatus war. Gesellschaftlich durchgesetzt wurde der neue Arbeitsbegriff während der industriellen Revolution in England. Systematisch formuliert hatte ihn erstmals Adam Smith (1723-1790), der Lockes Arbeits- und Rechtsverständnis auf den gesamten Kulturzustand bezog (vgl. Conze 1972). Entscheidend in der Politischen Ökonomie Adam Smith’ und der etwas früheren Physiokraten3 war die Forderung nach „Vervielfältigung“ der „Produktion“ und „Wachstum“ des nationalen „Reichtums“ (Smith, zit. nach Conze 1972, 175). In Anlehnung an die Physiokraten 3

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Die Physiokratische Nationalökonomie ermittelte Gesetze der Zirkulation und Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals (tableau économic) und definierte Politische Ökonomie als natürliche Ordnung. Hauptvertreter war Quesnay mit seinem 1758 erschienenen Werk Tableau économique (Conze 1972; Walther 1990).

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

wertete Smith produktives Arbeiten (Poiesis) höher als soziales Handeln (Prâxis) und als Ursache von nationalem Reichtum schlechthin. Während die ständisch argumentierenden Physiokraten Produktivität nur auf die Landwirtschaft bezogen hatten, entwickelte Smith eine allgemeine, alle Warenherstellung und -verteilung umschließende Theorie. Arbeit in Landwirtschaft, Handwerk, Industrie und Handel wurde die Grundkategorie seiner Politischen Ökonomie (vgl. Walther 1990; Conze 1972). Das nach aristotelischer Auffassung höher bewertete sozialpraktische Handeln der vorindustriellen Herrschaftsstände (Krieger, Politiker, Juristen, Philosophen und Künstler) hielt Smith für wertlos, weil es sich nicht in dauerhaften Gegenständen oder Werken realisiert (ebd.). Im Zuge der Aufwertung hervorbringender Arbeit hatte sich die gesellschaftliche Werteauffassung verändert. Smith reflektierte das, indem er erstmals die Warenwerte auf der Basis der Produktion anstelle der bis dahin üblichen Tauschwertvereinbarung nach Bedürfnisäquivalenzen definierte (vgl. Hochgerner 1986). So wurden bei Smith – wie später von Ricardo und Marx systematischer entwickelt – die zur Produktherstellung erforderlichen Arbeitsstunden elementares Maß der Tauschbzw. Warenwertbestimmung (ebd.).4 Damit waren es „nicht mehr Bedarfsgegenstände, die sich gegenseitig repräsentieren, sondern transformierte, verborgene, vergessene Zeit und Mühe“ (Foucault 1978, 278). Mit anderen Worten: Neben den Geldwert als quantitative Größe der Vermittlung von Arbeit und Bedürfnis war die lineare Zeit als weitere quantifizierende Maßeinheit getreten. Arbeit war eine von Bedürfnissen abstrahierte Größe geworden, die auf Zeitstandards und Veräußerungswerten als objektivierten Maßeinheiten von subjektivem Einsatz basierte. Mit der 1817 von Ricardo vorgenommenen Verabsolutierung von „Labour“ als wichtigstem Produktionsfaktor und Zentrum der ökonomischen Wertebildung (vgl. Walther 1990) wurde dann zeitlich standardisierbare produktive Arbeit zum Maß des Warenwertes und zur Quelle der gesellschaftlichen Wertebildung selbst. Produkterzeugende Arbeit stand nicht mehr auf der untersten Stufe der Werteordnung, sondern war zur universellen, Recht, Werte und nationalen Reichtum bildenden, Handlungsweise aufgestiegen (ebd.). Unter dem Einfluss der Physiokraten und Adam Smith’ politischer Ökonomie galt Arbeit bald auch im wirtschaftlich rückständigen deutschen Raum als produktive Leistung, unter die alle ökonomisch messbaren Tätigkeiten fielen (Conze 1972). In der klassischen deutschen Philosophie wurde herstellende Arbeit Kristallisationspunkt des menschlichen 4

Smith’ Definition des Warenwertgesetzes enthielt noch keine präzise Unterscheidung von Waren- und Tauschwert, die erst Ricardo und Marx entwickelten. 35

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Subjekts: Rund 30 Jahre nach Smith’ Wealth of Nations wertete Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807/1988) vergegenständlichende Arbeit als zentrale Modalität der Bewusstwerdung und Vernunftentwicklung des Menschen. Die arbeitend zu Tage geförderte und intersubjektiv vermittelte Vergegenständlichung der Mensch-Natur-Beziehung gehörte für Hegel zu den wichtigsten Übermittlungswegen der Selbsterkenntnis des modernen Subjektes. Wenige Jahre zuvor hatte Fichte (1798, zit. nach Conze 1972, 148) Arbeit als Konkretion der „absoluten Tätigkeit“ definiert, in der sich das Ich konstituiert. Ich war für Fichte zugleich das Tätige und das, was die Tat hervorbringt. Mit der Arbeit des Menschen sah Fichte „der Naturgewalt die möglichst größte, gebildete und geordnete Masse von vereinigter Vernunftskraft gegenübergestellt“ (ebd.). Arbeit bringt demnach zivilisatorischen Fortschritt, der im materiell-ökonomischen Bereich wie der menschlichen Vernunft sichtbar wird und die Voraussetzung von Freiheit bildet. Marx (1867/1972) definierte produktive Arbeit später als anthropologische Basis, auf der sich der gesellschaftliche Mensch konstituiert. Indem produktive Arbeit einen gesellschaftlichen Funktionswert als wertebildender Gebrauch der Natur und Vergegenständlichung des modernen Subjektes erhielt, löste sich auch der umgangssprachliche Begriff aus der traditionellen Verschränkung mit Armut und Mühsal (Conze 1972). Ab der zweiten Hälfte des 18. Jhs. sprach man von Arbeit als „beglückender und würdevoller“ Tätigkeit (Walther 1990, 22), die allerdings, wie Schillers Lied von der Glocke von 1799 bezeugt, besonders den männlichen Bürger zierte. Die naturwissenschaftliche Paradigmatik des neuzeitlichen Arbeitsbegriffs hatte sich bereits seit dem 16./17. Jh. in der deutschen Sprache niedergeschlagen. Begriffe wie „rational“ (16. Jh.) oder „exakt“ (17. Jh.) zeichneten methodisches, objektgerichtetes Vorgehen gleichermaßen als Subjektqualität und hochwertige Arbeit aus. Mit der Industrialisierung kam im 19. Jh. eine Vielzahl weiterer, teils aus dem Lateinischen transferierter, teils bedeutungsgewandelter deutscher Worte wie „objektiv“, „sachlich“ oder „konstruktiv“ hinzu (vgl. Duden 2001; Kluge 1999).

2 . 4 D a s i n d i vi d u e l l e S u b j e k t u n d d e r Gegensatz von Ratio und Emotion Wie später noch eingehender thematisiert wird, korrespondierte die Ideengeschichte des individuellen Subjektes mit der sukzessiven Ablösung feudal-agrarischer Wirtschaftsstrukturen durch familial organisierte Arbeit in Handwerk, Manufakturen und Handel. Mit der Familiarisie36

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

rung der frühneuzeitlichen Lebensverhältnisse (Wunder 1993a) wurde die römische Rechtkategorie des individuellen Handelssubjekts neu belebt (Sève 1999; Ariès 2000). Reformation und Gegenreformation verstärkten die Tendenz der Individualisierung von Glauben und Recht (Lebrun 2000; Ariès 2000). Die naturwissenschaftliche Bewältigung der Natur und der Aufstieg des methodisch arbeitenden, schöpferischen Subjekts stand also im Zeichen eines tief greifenden sozialen und mentalen Wandels, der sich als Verdiesseitigung und Individualisierung der Vernunft beschreiben lässt. Vernunft als Ausdruck des göttlichen Willens wurde nicht mehr als Bestandteil einer unveränderlichen Natur und feudal festgelegten Gesellschaftsordnung interpretiert, sondern als Ausdruck gestaltenden menschlichen Tätigseins. In der naturwissenschaftlich-philosophischen Reflexion ging die Hineinverlagerung der Vernunft in den Menschen mit einer „Mathematisierung“ des Vernunftsbegriffs (Burgio 1999, 1693) einher, die sich in der Zentralität des Maßes und der Berechnung, kurz: im Primat mathematisch-geometrischer Bedeutungserfassung niederschlug (Hirschberger 1980 Bd. 2; Hochgerner 1986). Der quantifizierende Betrachtungsfokus wurde nicht nur zu Erforschung der Natur, sondern auch zur Reflexion des Menschen angewandt. Womit „der“ Mensch – zumindest in Gestalt des frühneuzeitlichen Philosophen und Naturwissenschaftlers – sich selbst, oder besser: seine Mitmenschen zum Untersuchungsobjekt machte. Vergleichbar der berechnenden Subjektinstanz des Naturwissenschaftlers, der der Natur objektivierend gegenübertrat, trat in der mathematisch orientierten Denkrichtung des philosophischen Rationalismus ein denkendes Ich seiner Leiblichkeit gegenüber (Böhme 1985). Zeitgleich zu Galileis Naturexperimenten hatte der bekannteste Vertreter des philosophischen Rationalismus, René Descartes, ein Menschenbild entworfen, das die Auffassung des modernen Menschen bis heute beeinflusst (Böhme 1985; Hügli/Lübcke 2000). Das (individuelle) denkende Ich (cogito) war für Descartes die absolute erste Gewissheit, die sowohl Existenz (ergo sum) als auch Bewusstsein (sum res cogitans) umschloss. Den Leib zählte Descartes zur Materie (res extensa), deren Wesen er als zeitliche und räumliche Ausdehnung definierte. Obgleich Descartes das Ich mit dem Körper (über die Zwirbeldrüse) vermittelt sah, verwahrte er sich gegen die damals noch verbreitete Auffassung der Seele als leibstiftendem Prinzip. Zum physischen Körper umdefiniert, war der Leib für ihn ein physikalisch erfassbarer Mechanismus, eine Maschine, vergleichbar der Uhr (vgl. Hügli/Lübcke 2000; Hirschberger 1980 Bd. 2). Der entscheidende Punkt in Descartes’ Philosophie war bekanntlich die Dualität von Geist und Körper, die Trennung von res cogitans und 37

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

res extensa, die folgenreiche Auswirkungen auf das neuzeitliche Menschenbild zeitigte (Böhme 1985; Hügli/Lübcke 2000). Ein weiteres, wissenschaftstheoretisch ebenfalls traditionsbildendes Prinzip war die Hierarchisierung von Quantität und Qualität, mit der er den erkenntnistheoretischen Vorrang quantifizierender Bedeutungserfassung festschrieb. So hatte Descartes quantitative Merkmale (Ausdehnung, Gestalt, Größe, Anzahl, Ort und Zeit) als objektive Eigenschaften physischer Dinge definiert, die er dem Bereich der echten Erkenntnis (intellecto) des rationalen, sprich mathematisch arbeitenden Verstandes zuordnete. Qualitative Merkmale (Farben, Gerüche etc.) hingegen schlug er dem subjektiven Erleben, der Imagination zu, die durch Zusammenspiel von Sinnesorganen und Ausdehnungseigenschaften der Gegenstände hervorgerufen wird (vgl. Hügli/Lübcke 2000). Nun war Descartes, wie Gernot Böhme (1985) hervorhebt, keineswegs der Urheber der Trennung von Körper und Geist (und wohl auch nicht des Vorranges der Quantität). Vielmehr beurteilt Böhme den cartesianischen Dualismus als neuzeitliche Systematisierung der lange tradierten christlichen Leibfeindlichkeit, die ideengeschichtlich bis zu Platon zurückzuverfolgen ist (ebd.). In den älteren christlichen Auslegungen war der „Leib“ als affektiver „Gegenspieler der Seele mit einem dunklen diffusen Wollen“ aufgetreten und hatte als „Ausdruck der Unmöglichkeit oder der [...] Mühe des Menschen“ gegolten, „über sich selbst Herr zu werden“ (Böhme ebd. 113). Die von Descartes eingeleitete neuzeitliche Umdeutung „des menschlichen Leibes“ in einen physikalischen „Körper“ stellt Böhme (ebd. 114) in den Zusammenhang der damaligen Wiederentdeckung der Anatomie und wertet sie als Prozess, bei dem die frühere christliche „Verdrängung des Leibes in eine Entdeckung des Körpers“ umschlug. So war mit der naturwissenschaftlichen Thematisierung von Natur und Mensch nicht nur ein Gegensatz zwischen dinglichen Objekten und Subjekt, Materie und Geist formuliert. Es war auch ein innermenschlicher Gegensatz von erkennender Vernunft und leiblich-emotiven Humanita postuliert, der die sachliche Ratio des denkenden Subjektes von der Animalität des körperlich verorteten Affektes abhob. Durch das frühneuzeitliche Menschenbild verlief ein Riss, der den Körper von der Seele und die vernünftige Kognition von der Emotion schied. Wenngleich Descartes’ Dualismus später in Frage gestellt und partiell revidiert wurde, blieb jene, auf älteren Traditionen basierende Sonderung einer vernünftigen Ratio von Körper und Affekt ein Merkmal der aufklärerischklassischen Subjektreflexion, gepaart mit dem Vorrang quantifizierender Kognition.

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ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Hatte der deduktiv arbeitende, mathematisch ausgerichtete Rationalismus der Barockzeit, zu dem unter anderem Descartes und Spinoza gezählt werden, dem erkennenden, eingeborenen Logos eine Gegenstände mitkonstituierende Funktion eingeräumt, setzte der zeitlich etwas spätere, naturwissenschaftlicher ausgerichtete Empirismus (Bacon, Locke, Hobbes, Hume, Newton, Berkeley) auf Induktion und trennte zwischen den Gegenständen der sinnlichen Wahrnehmung und Gegenständen des Denkens (Oittinnen 1999; Russel 1999; Hügli/Lübcke 2000). Entgegen der rationalistischen Annahme apriorisch gegebener, angeborener Verstandesleistung stellte der Empirismus die These auf, Erkenntnis erfolge durch sinnliche Empfindung und zu Begriffen verdichtete Erfahrung. So führte der Frühaufklärer und Begründer des klassischen Empirismus, John Locke (1632-1704), menschliche Ideen auf zwei Quellen zurück: Die (individuelle) Sinneswahrnehmung äußerer Objekte (Perzeption) und die Erfahrung der eigenen Bewusstseinsaktivität (Reflexion). Beide Quellen lieferten Locke zufolge einfache Ideen, die vom Verstand zu „complexen“ Ideen (Substanzen, Modi, Relationen) zusammengesetzt werden (zit. nach Russel 1999; vgl. auch Hügli/Lübcke 2000). Nach naturwissenschaftlichem Vorbild ging er dabei ebenfalls von unterschiedlichen Erkenntnisqualitäten aus. Ähnlich Descartes unterschied nämlich auch Locke zwischen primären, quantifizierbaren Merkmalen (Ausdehnung, Beweglichkeit, Form, Dichte, Zahl) als objektiven Dingeigenschaften und sekundären Qualitäten wie Farbe, Geruch und Geschmack, die er nur als sinnlich hergestellte subjektive Eindrücke begriff (vgl. Russel 1999). Überindividuelle Qualitätszuerkennung durch intersubjektive Kommunikation war bei Locke noch nicht thematisiert. Während Locke die einfachen Ideen, die durch vom Objekt ausgehende sinnliche Reize verursacht wurden, als passive Denkform ansah, wertete er die geistige Herstellung komplexer Ideen als aktiven Verstandesvorgang (Vergleichen, Trennen, Verbinden, Abstrahieren). Obwohl er äußere Gegenstände als Träger der Ideen verursachenden Eigenschaften ansah, nahm Locke an, dass sich hinter den gedanklichen Aktivitäten eine geistige Substanz verbirgt, und gelangte letztlich zu dem Schluss, dass der „Geist bei allem Denken und Folgern kein anderes unmittelbares Objekt hat als seine eigenen Ideen“ (Locke, zit. nach Russel 1999, 620). Die Spaltung der Gegenständlichkeit in eine sinnlich erfassbare materielle und eine gedanklich hergestellte ideelle Welt (Oittinnen 1999) hatte weit reichende ideengeschichtliche Konsequenzen. Nicht zuletzt gewann sie großen Einfluss auf die moderne Medizin, Anthropologie und Psychologie. Ich werde das später im Zusammenhang der anthropologischen Vermessung und wissenschaftlichen Typisierung der Geschlechter zur Zeit der französischen Aufklärung und deutschen Klassik 39

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

thematisieren. Hier will ich nur auf zwei Sachverhalte aufmerksam machen: Erstens, dass auch diese subjektivistische Philosophie (Oittinnen 1999; Russel 1999) von einem erkenntnistheoretischen Vorrang des Maßes ausgegangen war, hinter dem das Erfassen nicht quantifizierbarer Prozesse und Entitäten zurückfiel. Zweitens, dass der Empirismus mit der Entgegensetzung von aktivem Verstand und passiver sinnlicher Perzeption ebenfalls ein gespaltenes Menschenbild konzipiert hatte, bei dem eine aktive Erkenntnisinstanz einer passiven Sinneswelt gegenübertrat. Zwar hatte Locke die Sinneswahrnehmung in den Stand erkenntnisstiftender Leistung gehoben und Freude wie Schmerzvermeidung als deren Motive benannt (vgl. Russel 1999). Doch sah er in der „Beherrschung unserer Leidenschaften“ das „wahre Fortschreiten in der Freiheit“ (Locke, zit. nach Russel 1999, 622), was er naturrechtlich begründete und in seinen pädagogischen Schriften erfolgreich vertrat. Zum Ende der Aufklärung strebte Kant (1724-1864) eine Synthese von Rationalismus und Empirismus an, indem er a priori gegebenen Verstandesleistungen eine auffassungsstrukturierende Funktion gegenüber der sinnlich-empirischen Wahrnehmung von Dingen beimaß (vgl. Oittinnen 1999; Russel 1999; Hügli/Lübcke 2000). Das sinnlich gegebene „Ding an sich“, das Objekt der Naturwissenschaften, entzog sich als solches bei Kant der Erkenntnis und erhielt seine logische kategoriale, genauer: seine raum-zeitlich quantifizierbare Form erst durch den menschlichen Erkenntnisapparat. Erkenntnis von intersubjektiv überprüfbarer Objektivität wie in den Naturwissenschaften gegeben, basiert demnach auf den Regeln des Verstandes, welcher seinerseits auf Sinnesdaten über äußere Erscheinungen angewiesen ist (ebd.). Auch hier war mit dem Primat des apriorischen Verstandes ein Gegensatz zwischen Materialität und körperlicher Sinnlichkeit auf der einen und kognitiver Ratio auf der anderen Seite thematisiert. Indessen bleibt noch zu zeigen, dass es auch nach Kants Überzeugung eines groß angelegten Erziehungsprogammes bedurfte, der rationalen Vernunft durch Verbergen der körperlichen Affekte zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Böhme 1985; Elias 1997) Hegel (1770-1831), mit der Kant’schen Unterscheidung von „Dingen an sich“ und subjektiver Erkenntnis unzufrieden, schloss Subjekt und Objekt wieder zusammen, indem er Intersubjektivität als Reflexionsebene einführte. Anknüpfend an die Metaphysik der Antike modellierte er in der Phänomenologie des Geistes (1807/1988) eine historischerkenntnistheoretisch verstandene Dialektik zwischen praktischem, objektbezogenem Tun (Formen, Hervorbringen) und intersubjektiver Reflexion, die zur Vergegenständlichung des Bewusstseins in den geformten, bleibenden Dingen und schließlich zur Selbsterkenntnis des tätig 40

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mit der Natur verbundenen Subjektes führt. In dieser Deutung waren Materie (res extensa) und Geist (res cogitans) wieder vereint, jedoch blieb der Gegensatz zwischen erkennendem Verstand versus Bedürfnis und Emotion bestehen. Indem Hegel Intersubjektivität als methodisches Prozedere einer Subjektreflexion akzentuierte, die zuerst über materiellstoffliche Vergegenständlichungen vermittelt werden muss, um sich im Begriff des selbstbewussten Subjektes als Vorstufe der Vernunft zu etablieren, stellte auch er produktgerichtetes Erzeugen in den Mittelpunkt erkennender Vernunft. Einfache, unvermittelte „Begierde“, „Rührung“ oder andere vergängliche Bewusstseinsmomente zählte Hegel (1807/ 1988, 299/300) nicht zur weltlichen, sondern zur „göttlichen Vernunft“, die als Bereich der Familie und Frauen der weltlichen Vernunft zwar vorgeordnet war, aber begrifflos blieb. Gleichgültig, ob Verstand und Vernunft wie bei Descartes synonym gebraucht wurden, ob der apriorisch gedeuteten Vernunft Vorrang vor dem Verstand (Kant) oder dem diskursiven Verstand Vorrang vor der Vernunft (Hegel) eingeräumt war (Burgio 1999), zentrierte sich die philosophische Klärung jener Begriffe um die Frage, in welchem Verhältnis sie zu der handwerklich-technisch hervorgebrachten bzw. naturwissenschaftlich thematisierten Gegenständlichkeit materieller Objekte stehen. In den unterschiedlichen Denkansätzen erschienen Vernunft und Verstand als Erkenntnisinstanzen, die vom affektiv-volitionalen Erleben abgehoben sind, auch dann, wenn sie wie bei Hegel als Modus intersubjektiver Selbsterkenntnis gedacht wurden. Als Kristallisationspunkt und Spiegel des neuzeitlichen Subjekts standen jeweils methodisch instruierte stoffliche Prozesse im Vordergrund, anhand derer sich das Subjekt als berechnende, messende, werteschöpfende Erkenntnisinstanz konturierte. Und so findet sich in der Deutung hervorbringender Arbeit im Sinne einer „Ich“- konstituierenden „absoluten Tätigkeit“ (Fichte, zit. nach Conze 1972, 184) oder selbstreflexiven Vergegenständlichung des bewussten Subjektes (Hegel 1807/1988) eine bestimmte Auffassung von Vernunft und Verstand, die noch in der heutigen Umgangssprache dem Begriff hochwertiger, vorzugsweise technischer Arbeit inneliegt: Die Auffassung sachgerichteter Kognition, die ihrem eigentlichen Zweck, der zeitlich aufgeschobenen und personell disparierten Bedürfniserfüllung scheinbar affektfrei gegenübersteht. Schaut man sich also die psychologische Struktur des neuzeitlichen Arbeits- und Subjektbegriffs genauer an und hinterfragt man, wie denn diese emotionsbereinigten, rationalisierenden Kategorien über Jahrhunderte mit der Bewältigung leib-seelischer Bedürfnisse und generativer Anforderungen zu vereinbaren waren, führt schon alleine die Frage zu 41

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

der Vermutung, dass die Aufspaltung von Ratio, Körper und Affekt intersubjektiv und arbeitsteilig geregelt gewesen sein muss. Womit sich wiederum andeutet, dass der hier vorgestellte hegemoniale Arbeitsbegriff nur die semantische Oberfläche einer weit komplexeren Bedeutungsentwicklung darstellen dürfte. Eines der historischen Indizien dafür, dass die dichotomisierende Gegenüberstellung von erkennender Vernunft versus Körper und Affekt projektiv auf der Ebene geschlechtlicher Zuständigkeiten verregelt wurde, ist die um die Zeit der Französischen Revolution aufgekommene wissenschaftlich-literarische Stilisierung der „Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976), auf die ich noch zu sprechen komme. In körperlichcharakterlicher Analogiebildung hatte man hier dem vernünftigen Kulturtyp des erwerbstätigen Bürgers eine emotionale Frauennatur in Gestalt der empathischen Mutter und Ehefrau zur Seite gestellt. Wissenschaftlich vermessen seitens einer vorzugsweise den weiblichen Körper objektivierenden Anthropologie (Honegger 1991), systematisiert in der klassischen deutschen Philosophie (Hoffmann 1983) und umgesetzt in den bildungspolitischen Konzepten des 19. und beginnenden 20. Jhs. (Mayer 1996), ist diese Deutung männlicher und weiblicher „Charaktereigenschaften“ prägend geworden für die moderne Auffassung geschlechtlicher Persönlichkeit und Arbeitskompetenz. In der feministischen Literatur wird die Vergeschlechtlichung von Ratio und Emotion gerne als machtvoll konstruierte „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976) interpretiert, die durch eine binäre Struktur (Gildemeister/Wetterer 1995) sich wechselseitig ausschließender Bedeutungen gekennzeichnet ist. Ich werde das im dritten Teil des Buches erörtern. Doch melde ich, von einer historischen Sprachauffassung ausgehend, hier schon Zweifel an, ob sich die sprachliche Entmischung von Ratio und Affekt, Körper und Geist einfach als binäre „Polarisierung“ kongruent gegenüberliegender Qualitäten begreifen lässt, die der Arbeits- und Lebenspraxis von Männern und Frauen ideenmächtig aufgesetzt ist. So sei an dieser Stelle eine im Weiteren zu begründende These formuliert. Nämlich dass die sprachliche Entgegensetzung rationaler und empathischer Fähigkeiten, wie sie sich in den „Geschlechtscharakteren“ darstellt, nur die geglättete semantische Oberflächenansicht einer weit komplizierteren soziohistorischen Wechselbeziehung der Bedeutungsgeschichte von Männer- und Frauenarbeit sein kann. Und dass hinter dieser „polar“ gedeuteten Oberfläche eine komplexe Vielfalt wechselseitig aufeinander verweisender und sich überschneidender Kategorien steht.

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ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Böhme (1985, 237) charakterisiert die spätaufklärerisch-klassische Geschlechterdebatte als Ausdruck einer „dialektisch verquere[n] Wechselbeziehung von Herrschaft“, die sich in der abendländischen Geschichte mit ganz anderen Auffassungen von zivilisierter Vernunft und affektiver Unberechenbarkeit verbindet, als die moderne Geschlechtstypologie zu erkennen gibt. Um einen ersten Eindruck zu vermitteln, wie jene Geschlechtsdialektik im Zusammenhang neuzeitlicher Arbeit und rationaler Vernunft reflektiert wurde, will ich vor der sprachtheoretischen Auseinandersetzung einen großen Denker des 19. Jahrhunderts als Zeitzeugen bemühen.

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3 EXKURS: V E R G E G E N S T ÄN D L I C H E N D E A R B E I T , SUBJEKTREFLEXION UND DIE BEGRIFFLOSE F R AU I N H E G E L S P H ÄN O M E N O L O G I E

In der Phänomenologie des Geistes (1807/1988) beschreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel historische Wissensentwicklung als fortschreitenden Reflexionsprozess, der von der einfachen Bewusstheit der gegenständlichen Welt über Selbstbewusstsein, Vernunft, Geist und Religion zum absoluten Wissen aufsteigt. Antreibende Bewegungsform ist die Dialektik, die durch Negation von Erkenntnisgegenständen und Bewusstseinslagen zur Vermittlung von Bewusstsein und Natur und schließlich zum allgemeinen Begriff der Wissenschaft führt. Geist (Logos) und Natur begreift Hegel pantheistisch als ursprünglich einheitliches Ganzes, das auf frühen historischen Bewusstseinsstufen gegensätzlich aufscheint. Anliegen seiner Phänomenologie ist es, die Einheit von Bewusstsein und Gegenstand auf höherer Ebene wieder herzustellen und den Gegensatz zwischen dem erkennenden Subjekt und der objekthaft aufgefassten Natur zu überwinden (Bonsiepen 1988). Dreh- und Angelpunkt des Prozesses selbstreflexiver Wissensentwicklung ist bei Hegel tätig vermittelte Intersubjektivität, die die verschiedenen individuellen Hinsichten auf das Leben im allgemeinen Begriff synthetisiert (ebd.). Zu den wichtigsten Mittlern („Mitten“) zwischen Natur und Bewusstsein gehört intersubjektiv organisierte Arbeit, die zur Selbstreflexion des erkennenden Subjekts führt. Er veranschaulicht diesen Prozess in der berühmten Herr-Knecht-Dialektik, die ich zur Erörterung seines Arbeitsund Subjektbegriffs heranziehe.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Hegels Auseinandersetzung setzt ein bei der Wahrnehmung des konkreten Dings im Stadium des neuzeitlichen Empirismus. In diesem Bewusstseinsstadium des einfachen Seins und der (individuellen) sinnlichen Gewissheit kann ihm zufolge das Wahrgenommene noch nicht als Einheit vieler Eigenschaften gedacht werden, tritt es dem Subjekt noch als Gegensatz gegenüber. Da sich mit der Wahrnehmung der Einzeldinge stets auch die Auffassung eines Allgemeinen verbindet, sieht Hegel Erklärungsbedarf, wie das einfache Bewusstsein die Einheit des Dinges mit seinen verschieden aufscheinenden Eigenschaften denken kann. Dies gelingt nicht im Stadium des gesunden Menschenverstandes, der der Willkür des einzelnen Subjektes unterliegt und verschiedene Rücksichten auf ein Ding (als spitz, rund, flüssig, fest, Same, Blume etc.) unterscheidet. Die beobachtende Vernunft der neuzeitlichen Wissenschaft hingegen vermag verschiedene Hinsichten auf ein Ding sowie die Veränderlichkeit seines Erscheinens als verschiedene Momente einer Einheit zu erkennen und als Gesetzmäßigkeit zu formulieren. Am Beispiel der Analyse der Kraft als Insichbleiben und Entäußerung zeigt er, dass die beobachtende Vernunft zum Dialog des Bewusstseins mit sich selbst im Sinne einer ersten Selbstreflexion führt, indem sie Bewegung und Gegensätzlichkeit als Gesetzmäßigkeit allgemeiner Naturerscheinungen erfasst: „Das Erklären des Verstandes macht zunächst nur die Beschreibung dessen, was das Selbstbewußtsein ist. Er hebt die im Gesetz vorhandenen schon rein gewordenen, aber noch gleichgültigen Unterschiede auf und setzt sie in Einer Einheit, der Kraft. Dies Gleichwerden ist aber ebenso unmittelbar ein Entzweien, denn er hebt die Unterschiede nur dadurch auf, und setzt dadurch das Eins der Kraft, dass er einen neuen Unterschied macht, von Gesetz und Kraft, der aber zugleich kein Unterschied ist; und hierzu, dass dieser Unterschied ebenso kein Unterschied ist, geht er selbst darin fort, dass er diesen Unterschied wieder aufhebt, indem er die Kraft eben so beschaffen sein lässt, als Gesetz. – Diese Bewegung oder Notwendigkeit ist aber so noch Notwendigkeit, und Bewegung des Verstandes, oder sie als solche ist nicht sein Gegenstand, sondern er hat in ihr positive und negative Elektrizität, Entfernung, Geschwindigkeit, Anziehungskraft, und tausend andere Dinge zu Gegenständen, welche den Inhalt der Momente der Bewegung ausmachen. In dem Erklären ist eben darum so viel Selbstbefriedigung, weil das Bewußtsein dabei, es so auszudrücken, in unmittelbarem Selbstgespräche mit sich, nur sich selbst genießt, dabei zwar etwas anderes zu treiben scheint, aber in der Tat nur mit sich selbst herumtreibt.“ (Hegel 1988, 116/117, Hvh. im Orig.)

Indem also der Verstand unterschiedliche Erscheinungsweisen auf einen allgemeinen Begriff, etwa den Begriff der Kraft bringt, beschreibt er 46

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Bewusstsein am Gegenstand, ohne es schon als Selbstbewusstsein zu reflektieren. Da der Verstand dabei wiederum zwischen dem Gesetz als Prinzip und der Kraft als Phänomen unterscheidet, eröffnet er einen neuen Gegensatz, der durch Verstandesbewegung wieder aufzuheben ist. Zwar liegt diesem Stadium schon Selbstbewusstsein inne, das der Mensch in Reflexion auf seinen Gegenstand herstellt. Doch ist die Denkbewegung noch nicht selbst Gegenstand des Bewusstseins. Gegenstände sind vielmehr äußerliche Dinge, die den Inhalt des Denkens ausmachen. Bewusstein im Sinne eines „reinen Innern“ und Selbstbewusstsein als ein „ins reine Innere schauenden Innern“ (Hegel 1988, 118) werden zwar vermittelt über empirische Erscheinungen, die als Momente des Allgemeinen und seiner Bewegungen erfasst werden. Doch erst wenn sich das Bewusstsein seiner selbst bewusst wird, ist die Einheit von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Erscheinungen hergestellt. Das konkrete, „Ansich“ eines Wahrnehmungsgegenstandes erscheint dann in einer Weise, wie es „nur für ein anderes ist“ (ebd. 120, Hvh. im Orig.). In Abgrenzung gegen Fichte, für den „Ich“ gleichermaßen Agent und Erkenntnisprodukt der Handlung ist, zeichnet Hegel Selbstreflexion nicht als monologischen Akt, sondern als dialogischen Prozess. Ein Selbstbewusstsein, das wie bei Fichte „nur sich selbst als sich von sich unterscheidet“, ist für ihn nur tautologisches „Ich bin Ich“ (ebd. 121). Hegel (ebd. 126) unterscheidet verschiedene historische Entwicklungsstufen des Selbstgewahrwerdens: a) Das ununterschiedene Ich, verstanden als erster, unmittelbarer Inhalt des Selbstbewusstseins, der noch nicht als Gegenstand erfasst wird. b) Die Befriedigung der Begierde durch Bezugnahme auf die Natur im Stadium der sinnlichen Gewissheit, die er deutet als „Unterscheiden des Nichtzuunterscheidenden“ (ebd. 122) im Sinne einer Differenzierung der ursprünglichen Einheit von Geist und Natur. Hier sieht er ein erstes Gewahrwerden des Selbstbewusstseins in sich selbst, das zur sinnlichen Gewissheit wird. c) Die Stufe der „gedoppelte[n] Reflexion“ (ebd. 126), auf der die intersubjektive Reflexion von Selbstbewusstsein durch Selbstbewusstsein erfolgt. Erst hier ist das selbstreflexive Bewusstsein zugleich Denkbewegung und Gegenstand. Der Stufe der gedoppelten Reflexion liegt schon der Begriff des „Geistes“ im Sinne der Einheit „verschiedener sich seiender Selbstbewußtsein“ inne, wo „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist. Das Bewußtsein hat erst in dem Selbstbewußtsein, als dem Begriff des Geistes, seinen Wendepunkt, auf dem aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits, und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet“ (Hegel ebd. 127, Hvh. im Orig.). 47

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Die intersubjektive Struktur des Selbstbewusstseins wiederum zeichnet sich aus durch doppeltes Tun. „Jedes [Selbstbewußtsein] sieht das andere dasselbe tun, was es tut; jedes tut selbst, was es an das andre fordert; [...] das einseitige Tun wäre unnütz; weil, was geschehen soll, nur durch beide zu Stande kommen kann. Das Tun ist also nicht nur insofern doppelsinnig, als es ein Tun ebensowohl gegen sich als gegen das andre, sondern auch insofern, als es ungetrennt ebensowohl das Tun des Einen als des Andern ist.“ (Hegel 1988, 129, Hvh. im Orig.)

Im intersubjektiv organisierten Tun wiederholt sich für Hegel (ebd.) das dialektische Spiel der Kraft auf der Ebene des Bewusstseins. Ebenso wie sich die Kraft als Gegensatz von Insichbleiben und Entäußerung darstellt, kommt das Bewusstsein durch das Tun außer sich, findet sich als anderes Wesen, hebt dieses auf und kehrt zu sich als Selbstbewusstsein zurück.

3.1 Subjekterkenntnis und Selbst b e w u s s t s e i n d u r c h p r o d u k t i v e Ar b e i t Durch Symbolisation im Begriff wird das intersubjektiv hergestellte Selbstbewusstsein auch zu einem intrasubjektiven Vermögen des Denkens. Hegel expliziert das anhand der Herr-Knecht-Methapher, wo er zwei prototypische soziale Seiten des Selbstbewusstseins in den gegensätzlichen Gestalten Herr und Knecht auftreten lässt: Der Herr symbolisiert das „für sich seiende“ (ebd. 132, Hvh. im Orig.) unmittelbare Selbstbewusstsein, dem das Ich noch der unreflektierte absolute Gegenstand ist. Wesentliches Moment des herrschaftlichen Selbstbewusstseins ist die Selbstständigkeit. Der Knecht steht für Unselbstständigkeit und das „seinende Bewußtsein oder Bewußtsein in Gestalt der Dingheit“ (ebd. 132, Hvh. im Orig.), das aus herrschaftlicher Sicht „mit der Dingheit überhaupt synthetisiert“ (ebd.), also Objekt ist. Die Dialektik dieser Beziehung ergibt sich nun daraus, dass das unmittelbare Bewusstsein des Herrn durch den Knecht mit sich selbst vermittelt und zum Selbstbewusstsein wird. Durch die Arbeit des Knechtes bezieht sich der Herr erstens auf Dinge als Gegenstände seiner Begierde und seines Genusses, zweitens auf ein Bewusstsein über Dinge und drittens auf den durch den Knecht geschaffenen Begriff seiner selbst. Indem der Herr den Knecht als vermittelnde Instanz einsetzt, schließt er sich über diesen mit der Unselbstständigkeit der Dinge zusammen und über48

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lässt damit die Seite der Selbstständigkeit dem Knecht, der durch Bearbeitung der Dinge die Begierden des Herrn sichtbar werden lässt, ihnen eine Bedeutung verleiht. Der bloße Genuss des Herrn überwindet nämlich nicht die Selbstständigkeit der Dinge, sondern lässt sie nur verschwinden (negiert sie vollständig) und überführt sie nicht in etwas Bleibendes. Der Knecht, dem die Auseinandersetzung mit der Natur obliegt, hebt sie aus ihrer Selbstständigkeit heraus, macht Bewusstsein durch Formen der Dinge sichtbar und verkörpert damit „Selbstbewußtsein überhaupt“ (Hegel 1988, 133). Weil er aber nicht für sich arbeitet, die Ergebnisse seiner Arbeit nicht genießen (vollständig negieren) kann, sondern die Dinge für den Herrn bearbeitet, ist sein Tun eigentlich das Tun des Herrn. Dem Herrn kommt damit das „Fürsichsein, das Wesen“ zu; „er ist die reine negative Macht, der das Ding nichts ist“ (ebd. 133). Dem Knecht verbleibt „ein nicht reines, sondern unwesentliches Tun“ (ebd). Zur Anerkennung des Knechtes fehlen die Momente, selbst Adressat seines Tuns zu sein und im Tun des Herrn gespiegelt zu werden. Im praktischen Tun, in der hierarchisch organisierten Arbeit, stellt sich also für Hegel das sachlich vermittelte Selbstbewusstsein intersubjektiv her. Innerhalb des ungleichen Anerkennungsverhältnisses von Herr und Knecht bedeutet das, dass der Gegenstand, das heißt, die „Wahrheit“ (ebd. 134) des ursprünglich selbstständig erscheinenden herrschaftlichen Bewusstseins das knechtische Bewusstsein ist. Denn der Knecht hat durch seine Arbeit sowohl die Macht als auch die Begierden des Herrn vergegenständlicht und mit sich selbst vermittelt. Die ursprünglich unselbstständige Knechtschaft geht als „in sich zurückgedrängtes Bewußtsein in sich“ (ebd. Hvh. im Orig.) und kehrt sich in Selbstständigkeit um. Damit das knechtische Bewusstsein zum reflexiven Selbstbewusstsein „an sich“ und „für sich“ in der gedoppelten Bedeutung von Bewusstseinsbewegung und -gegenstand wird, bedarf es nach Hegel zweier Momente: 1.) Der Todesfurcht, die – ausgelöst und versinnbildlicht durch den Herrn – die Unmittelbarkeit des natürlichen Daseins durchbricht, indem sie die Endlichkeit des Lebens gewahr werden lässt und so zum einfachen Selbstbewusstsein führt. 2.) Der Arbeit, die die Begierde des Herrn vergegenständlicht. Die Begierde des Herrn bleibt beim Negieren des Gegenstandes und dem unvermischten Selbstgefühl stehen, weil ihr die gegenständliche Seite fehlt. In der praktischen Arbeit des Knechtes am äußeren, stofflichen Ding aber wird die subjektive Begierde als Beziehung des Bewusstseins zum Leben anschaulich und kann Gegenstand der zwischenmenschlichen Wahrnehmung wie der Selbstreflexion werden. 49

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

„Die Arbeit [...] ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form derselben, und zu einem Bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbstständigkeit ist. Diese negative Mitte oder das formierende Tun ist zugleich Einzelheit oder das reine Fürsichsein des Bewußtseins, welches nun in der Arbeit außer es in das Element des Bleibens tritt; das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbstständigen Seins, als seiner selbst.“ (Hegel 1988, 135, Hvh. im Orig.)

Durch die formierende Arbeit des Knechtes wird das ältere Moment seiner Selbstbewusstheit, nämlich die im Anderen, dem Herrn, vergegenwärtigte und als fremde Negation erscheinende Todesangst, aufgehoben und durch ein Moment des Bleibens ersetzt, das dem Selbstbewusstsein des Knechtes Eigenständigkeit verleiht: „Im Herrn ist ihm [dem Knecht] das Fürsichsein ein anderes oder nur für es; in der Furcht ist das Fürsichsein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Fürsichsein als sein eigenes für es, und es kommt zu dem Bewußtsein, daß es selbst an und für sich ist.“ (Hegel 1988, 135 Hvh. im Orig.)

Man könnte jetzt den Herrn im Prozess der arbeitenden Vergegenständlichung von Selbstbewusstsein für marginal halten, da er außer Begierde und Todesdrohung wenig, nicht einmal die Anerkennung des Knechtes beiträgt. Damit wäre aber Hegels Konzept missverstanden. Denn die Funktion des Herrn besteht auch in der „Zucht des Dienstes“ (ebd. 136), die den Knecht zu einer bestimmten Art des Arbeitens veranlasst. „Ohne die Zucht des Dienstes und Gehorsams bleibt die Furcht beim Formellen stehen, und verbreitet sich nicht über die bewußte Wirklichkeit des Daseins.“ (Hegel 1988, 136)

Auch repräsentiert die Begierde des Herrn eine ältere historische Form des Selbstbewusstseins, nämlich die sinnliche Bezugnahme auf äußerlich erscheinende Dinge, die ja die rudimentäre Form des Selbstbewusstseins und damit eine Voraussetzung der gedoppelten intersubjektiven Selbstreflexion ist. Somit sind in der Figur des Herrn zwei subjektive Funktionen verbunden: Erstens die Begierde im Sinne subjektiver Bezogenheit auf die Natur, welche sich zweitens mit der so motivierten Zucht des Dienstes verbindet. Beides gibt der Arbeit des Knechtes und damit der Vergegenständlichung des Bewusstseins eine bestimmte Struktur. Daher sind beide Gestalten, Herr und Knecht, für die gedoppelte Reflexion des Bewusstseins notwendig, erst aus ihrer Synthese erwächst der neue Begriff des selbstreflexiven Ich. 50

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Hegel schreibt: „Das in sich zurückgedrängte Bewußtsein [des Knechtes] [...] wird sich im Formieren als Form der gebildeten Dinge zum Gegenstande, und an dem Herrn schaut es das Fürsichsein zugleich als Bewußtsein an. Aber dem dienenden Bewußtsein als solchem fallen diese beiden Momente, – seiner selbst als selbstständigen Gegenstandes, und dieses Gegenstandes als eines Bewußtseins, und hiermit seines eigenen Wesens auseinander. Indem aber für uns oder an sich die Form und das Fürsichsein dasselbe ist, und im Begriffe des selbstständigen Bewußtseins das Ansichsein das Bewußtsein ist, so ist die Seite des Ansichseins oder der Dingheit, welche die Form in der Arbeit erhielt, keine andere Substanz, als das Bewußtsein, und es ist uns eine neue Gestalt des Selbstbewußtseins geworden; ein Bewußtsein, welches sich als die Unendlichkeit, oder reine Bewegung des Bewußtseins das Wesen ist; welches denkt, oder freies Selbstbewußtsein ist. Denn nicht als abstraktes Ich, sondern als Ich, welches zugleich die Bedeutung des Ansichseins hat, sich Gegenstand sein, oder zum gegenständlichen Wesen sich so verhalten, daß es die Bedeutung des Fürsichseins des Bewußtseins hat, heißt denken.“ (Hegel 1988, 137, Zeile 1-21, Hvh. im Orig., Absatz und Zeilenumbruch I.A.)

Meines Erachtens springt Hegel hier in seiner Gedankenführung. So ist in den ersten beiden Sätzen (Absatz 1) gesagt, dass sich das knechtische Bewusstsein zwar durch Arbeit objektiviert und sich selbst zum Gegenstand (an sich) wird. Die Seite des Für sich aber, Motiv und Zweck des Denkens, vermittelt sich ihm nur in Übernahme der Sichtweise des Herrn. In den folgenden Sätzen (Absatz 2) setzt Hegel „für uns“ und „an sich“ übergangslos gleich. Das heißt, er synthetisiert das herrschaftliche Motiv mit der knechtischen Seite der Vergegenständlichung im Begriff des selbstreflexiven Ich. Die Aufklärung der Frage, wie denn der Knecht seinerseits zu einer interessensgeleiteten Form des Bewusstseins kommt, bleibt bei der Übernahme des herrschaftlichen Fürsich stehen. Auf diese Weise vereint der Philosoph im intersubjektiv hergestellten Ich-Begriff die Momente von Fürsich (motivationaler Antrieb) und Ansich (Gegenständlichkeit) des Bewusstseins, indem er die subjektiv sinnstiftende Dimension auf der herrschaftlichen Seite platziert. Nach meiner Interpretation folgt daraus nichts anderes, als dass der Knecht durch die Interessensperspektive des von ihm selbst vergegenständlichten herrschaftlichen Selbstbewusstseins hindurch auf sein eigenes Ich blickt. Das wiederum führt zu der logischen Konsequenz, dass der Knecht sich selbst aus herrschaftlicher Perspektive „mit der Dinglichkeit [...] synthetisiert“ (Hegel ebd. 132). Indessen entbehrt diese Logik nicht der historischen Wahrheit. Bedeutet sie doch, dass der Begriff des neuzeitlichen, reflektierten Selbstbewusstseins, welches der Knecht in der 51

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

„Zucht des Dienstes“ unter Vernachlässigung eigener Begierden produziert, von hegemonialen Interessen und Strukturvorgaben durchzogen ist, durch die hindurch die Arbeitsperson des 19. Jahrhunderts auf sich selbst als „rein“ produktives Bewusstsein schaut. Hegel schließt an: „Dem Denken bewegt sich der Gegenstand nicht in Vorstellungen, oder Gestalten, sondern in Begriffen, das heißt in einem unterschiednen Ansichsein, welches unmittelbar für das Bewußtsein kein unterschiednes von ihm ist. Das Vorgestellte, Gestaltete, Seiende, als solches, hat die Form, etwas anderes zu sein, als das Bewußtsein; ein Begriff aber ist zugleich ein Seiendes, – und dieser Unterschied, insofern er an ihm selbst ist, ist sein bestimmter Inhalt, – aber darin, dass dieser Inhalt ein begriffener zugleich ist, bleibt es sich seiner Einheit mit diesem bestimmten und unterschiedenen Seienden unmittelbar bewußt; nicht wie bei der Vorstellung, worin es erst noch besonders sich zu erinnern hat, dass dies seine Vorstellung sei; sondern der Begriff ist mir unmittelbar mein Begriff.“ (Hegel 1988,137, Zeile 21-35, Hvh. im Orig., Zeilenumbruch I.A.)

Der Begriff ist demnach Modus der gedoppelten Selbstreflexion des Bewusstseins im Sein, er stellt die Einheit von Sein und Bewusstsein auf reflektierter Ebene her. Mit dem Ansich und Fürsich, der gegenständlichen und subjektiven Dimension des Begriffes, verbinden sich zwei weitere Merkmale des Denkens: Die ursprünglich intersubjektive Aufteilung von herrschaftlicher Begierde auf der einen und vergegenständlichender Arbeit auf der anderen Seite ist im Begriff 1.) auf intrapsychischer Ebene zusammengeführt und 2.) auf ein verallgemeinertes Niveau gehoben. Somit ermöglicht der Begriff dem Individuum, sich selbst reflektierend gegenüberzutreten. Zugleich erfasst das Individuum nicht mehr nur einzelne Dinge und vereinzeltes Tun, sondern denkt in allgemeinen Begriffen, die die vielfältigen Erscheinungen der Dinge als mit seinem eigenen Bewusstsein verbundenes Allgemeines repräsentieren. „Im Denken bin Ich frei, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bei mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürmichsein ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst. – Es ist aber in dieser Bestimmung dieser Gestalt des Selbstbewußtseins wesentlich dies festzuhalten, daß sie denkendes Bewußtsein überhaupt oder ihr Gegenstand unmittelbare Einheit des Ansichseins und Fürsichseins ist. Das sich gleichnamige Bewußtsein, das sich von sich selbst abstößt, wird ansichseiendes Element, aber es ist sich dies Element nur erst als allgemeines Wesen überhaupt, nicht als dies gegenständliche Wesen in der Entwicklung und Bewegung seines mannigfaltigen Seins.“ (Hegel 1988, 137, Zeile 35-40 u. 138, Zeile 1-8, Hvh. im Orig., Zeilenumbruch I.A.)

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ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

Das Subjekt des angehenden 19. Jahrhunderts denkt demnach frei und individuell. Denn das ursprünglich intersubjektive Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft ist in einem allgemeinen kulturellen Begriff synthetisiert, der nun auf der individuellen Ebene dem intrasubjektiven Denken zur Verfügung steht. Dem Individuum ist dieser Begriff Denkform (für sich), die ihm zugleich erlaubt, über sein Bewusstsein als Gegenstand (an sich) zu reflektieren. Da Hegel zufolge aber nicht nur der Herr, sondern auch der Knecht mit einem Subjektbegriff operiert, dessen Fürsich entlang herrschaftlicher Interessen generiert ist, zeichnet sich eine Individualisierung hegemonialer Subjektdeutungen ab, angesichts derer die von ihm beschworene Freiheit des Denkens mindestens zweifelhaft ist.

3 . 2 S a c h l i c h e Ar b e i t u n d herrschaftliche Interessen Rekapituliert man das Hergeleitete unter dem Gesichtpunkt, wie Hegel den neuzeitlichen Arbeits- und Subjektbegriff konzipiert, springt als erstes der konstitutive Stellenwert produktiver Arbeit ins Auge. Zwar bringt Arbeit nach Hegels Konzept Subjektivität nicht hervor, doch verschafft sie ihr eine bewusst denkbare Bedeutung durch Vergegenständlichung. Demzufolge wird erst auf einem komplexen gesellschaftlichen Niveau, da die affektive Bezugnahme auf die Natur nicht mehr unmittelbar befriedigt, sondern im Wege arbeitsteiligen Schaffens über etwas Erarbeitetes, etwas „Bleibendes“ anschaulich wird, die Bedeutung von Subjektivität konstituiert. Erst dann vergegenständlicht sich Subjektivität im Produkt und wird im intersubjektiven Austausch zum Begriff. Hinter diesem Konzept steht eine bestimmte Auffassung von Intersubjektivität, die der Konstitution des arbeitend hergestellten Erkenntnis- und Subjektbegriffs zugrunde liegt: Eine Auffassung nämlich, die komplexe gesellschaftliche Gefüge auf zwei hierarchisch aufgestellte soziokulturelle Gestalten – den begierigen, züchtigenden Herrn sowie den furchtsamen poietischen Knecht – als Prototypen der Bewusstseinsbildung reduziert. In Hegels Konzept intersubjektiver Bedeutungsbildung interagieren somit herrschaftliche Begierde und Zucht auf der einen sowie folgsame, mit der Dingheit zusammengeschlossene Poiesis auf der anderen Seite. Außerhalb der Betrachtung bleiben Dimensionen der sozialen Prâxis und Generativität, die Hegel nicht der öffentlichen Vernunftsentwicklung zuschlägt, sondern dem privaten Bereich der Familie, der Frauen und Penaten (altrömische Hausgötter).

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Schaut man sich die sozialen Prototypen, den Herrn und den Knecht, als intersubjektive Vorläufer begriffsgeleiteter individueller Vernunft genauer an, findet man eine recht ungleiche Verteilung von antreibenden Subjektfunktionen und hervorbringender Kognition. So obliegen die „fürsich“ seienden, steuernden Subjektfunktionen dem Herrn, der leiblich-affektive „Begierde“ als Motiv, „Genuss“ als Ziel sowie „Zucht“ und „Todesdrohung“ als interessensförmige Strukturvorgabe der Vernunftentwicklung repräsentiert. Handlungsleitende Interessen, die die Art der Auseinandersetzung mit der Natur prädisponieren und einer bestimmten subjektiven Hinsicht unterwerfen, sind also auf der herrschaftlichen Seite platziert. Dem Knecht verbleibt in der Zucht des Dienstes der „rein“ kognitive und produktive Part. Synthetisiert in einem allgemeinen Begriff verschmelzen diese Bewusstseinsformen zu einer hegemonialen Auffassung von sachlicher Poiesis und Kognition, die herrschaftlichen Zwecksetzungen folgt. Durch tätige Auseinandersetzung und Gestaltung der Dinge erlangt der Knecht zwar ein „reineres“ Bewusstsein als der Herr. Der Preis dafür ist, dass er sein Tun durch den Begriff des Herrn hindurch mit der Dingheit gleichsetzt und aus der Perspektive des herrschaftlichen Begriffs auf sein eigenes Bewusstsein als ein von vitalen Bedürfnissen losgelöstes Denken blickt. Weil das dienende Bewusstsein statt eigener Motive herrschaftliche Begierden und Ziele vergegenständlicht, weil es qua „Zucht“ um persönliche Affekte bereinigt ist und ihm die „Furcht“ als einziges Antriebsmoment bleibt, repräsentiert es eine devitalisierte „Sachlichkeit“, die sich „im Formieren als Form der gebildeten Dinge zum Gegenstande“ wird (Hegel 1988, 137). Genau diese devitalisierte, emotionsenthobene Form der Kognition aber ist es, die laut Hegel zur „wahren Selbstständigkeit“ (ebd. 134) führt und die „neue Gestalt des Selbstbewußtseins geworden ist. Ein Bewußtsein, welches sich [...] als reine [sic!] Bewegung des Bewußtseins das Wesen ist; welches denkt, oder freies Selbstbewusstsein ist“ (Hegel, ebd. 137, Hvh. im Orig.). Vor dem Hintergrund hierarchischer Arbeitsteilung und einem eingeschränkten, um soziale Prâxis verarmten Verständnis gesellschaftlicher Intersubjektivität zeichnet der Philosoph also vergegenständlichende Rationalität als eine Bewusstseinsform, deren abgespaltene leiblichemotionale Sinnseite das strukturierende herrschaftliche Fürsich ist und deren Verantwortlichkeit vor allem aus der Furcht vor herrschaftlicher Zucht gespeist wird. Damit weist Hegel – historisch durchaus realitätsgerecht – den im Wege des Aufstiegs produktiver Arbeit zur kulturfundierenden Handlung entstandenen Subjektbegriff als hegemonialen Begriff aus, der eine als Sachzwang verkleidete Machtdynamik zum Hauptantriebsmoment von ,sachlicher’ Arbeit, schöpferischer Erkenntnis und 54

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

,objektiver’ Wahrheitsfindung erhebt. Die abendländische Trennung von Ratio und Affekt ist demnach als Konsequenz von hierarchischer Arbeitsteilung und einer damit einhergehenden Trennung von Motiv und Arbeitshandlung zu verstehen. Wenngleich Hegel selbst diese hierarchische Form intersubjektiver, respektive soziostruktureller Funktionsteilung nicht gerade kritisch sieht, sondern die Teilung von herrschaftlichem Trieb und emotionsbereinigter Ratio als Bedingung subjektreflexiven Denkens affirmiert, gibt er in der Herr-Knecht-Metapher die Figur des rationalen Subjektes als historisches Bedeutungskonstrukt zu erkennen, das herrschaftlichen Interessen verpflichtet ist. Die ,rationale Sachlichkeit’ des hervorbringenden individuellen Subjekts wird somit selbst bei Hegel als vordergründige Semantik durchschaubar, hinter der sehr wohl emotional getragene herrschaftliche Interessen stehen.

3.3 Zucht oder Verantwortung? Hegel reflektiert also das rationale Subjekt als Protagonisten des neuzeitlichen Arbeitsbegriffes, dessen Bedeutung sich aus herstellender Arbeit ergibt. Das Prozedere der Bedeutungsbildung führt er auf hierarchische Arbeitsteilung zurück, die die Spaltung von antreibendem Bedürfnis, Konsumption und sachgerichteter Kognition determiniert. Diese Spaltung deklariert er als Voraussetzung dafür, dass vergegenständlichende Arbeit überhaupt zur Symbolisation des Zusammenhanges von Naturbearbeitung und Bewusstsein führt. Nur so, glaubt er, kann der Knecht die bedürftige Bezugnahme auf die Natur in etwas Bleibendes überführen, ohne sie sogleich durch Genuss zu negieren. Wohl sind in diesem Modell res extensa und res cogitans zusammengeführt. Allerdings in einem verdinglichenden Begriff des arbeitenden Bewusstseins, der von dessen Gefühlen, Interessen und letztlich auch von dessen sozialer Verantwortung abstrahiert. Denn in der Herr-Knecht-Dialektik konzeptualisiert der Philosoph ein antagonistisches Verständnis von Intersubjektivität, die er als einzig fruchtbare Form subjektreflexiver Bewusstwerdung deklariert. Wie gesagt, bedarf es für Hegel zur Selbstreflexion, dem Denken des Denkens, zweier Momente, die das Bewusstsein zum Gewahrwerden seiner selbst führen: 1.) der Todesfurcht und 2.) der vergegenständlichenden Arbeit. Beide Momente durchbrechen die unmittelbare Wahrnehmung und sind im Stadium vorbegrifflichen Denkens nur als intersubjektive Erfahrungen durch Andere vorstellbar. Beide Momente setzt Hegel als Antagonismen ins Bild. Die Todeserfahrung, die die Negierbarkeit des Lebens bewusst macht und zum einfachen Selbstbewusstsein im Sinne „absolu55

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

te[r] Negativität“ und „reinen Fürsichsein[s]“ gereicht (Hegel 1988, 134), wertet er nur dann als anerkennungsträchtige Erfahrung, wenn sich zwei „Selbstbewußtsein [...] selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren“ (ebd. 130, Hvh. im Orig.). Auch Arbeit schafft für Hegel erst „bewußte Wirklichkeit“, wenn die „Furcht“ des Knechtes „durch die Zucht des Dienstes und des Gehorsams“ geht (ebd. 136). Infolge erscheint das arbeitende Bewusstsein als getriebene, um vitale Menschlichkeit verarmte Kognition. Nun fragt sich, ob diese antagonistische Form der Intersubjektivität zu Hegels Zeit die einzig denkbare Konstellation war oder ob nicht auch andere soziale Vorbilder der Reflexion zugänglich gewesen wären. Hätte Hegel anstelle des von Kampf, Zucht und Gehorsam geprägten HerrKnecht-Antagonismus ein Verhältnis der sozialen Verantwortung inszeniert, wie es zur Entstehungszeit der Phänomenologie im Ideal der liebenden Mutter und Ehefrau lebhaft diskutiert worden war, wäre möglicherweise ein anderes, nicht minder reflektiertes Subjektprofil entstanden: Die – nur als intersubjektive Erfahrung denkbare – Todesfurcht hätte als Modus von Selbsterkenntnis und bewusst geplanter gemeinschaftlicher Lebenserhaltung ins Bild gesetzt werden können. Der Widerspruch von Bedürfnis und Kognition hätte sich nicht als unhintergehbare Notwendigkeit dargestellt. Obwohl Hegels Gedanke sehr wohl einsichtig ist, dass eine Trennung von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung gegeben sein muss, damit Subjektivität durch Arbeit vergegenständlicht und in einen bedeutungshaften Begriff überführt werden kann, zieht diese Trennung nicht notwendig eine Spaltung von Handlungsmotiv und Kognition nach sich. Setzt man nämlich als interindividuelle Ausgangssituation der Subjekterkenntnis nicht Kampf und Zucht, sondern eine Beziehung der Liebe ins Bild, verändert sich das Verhältnis von Motiv und Erkenntnis, entsteht ein anderer Arbeitsbegriff. Greift man beispielsweise auf die zu Hegels Zeiten virulent erörterte Mutter-Kind-Beziehung zurück, ergibt sich folgende Konstellation: In dieser Beziehung liegen die Bedürfnisse als Motiv, der Genuss als Ziel der Arbeit und die Unselbstständigkeit auf Seiten eines Subjektes, des Kindes. Selbstständigkeit, Regulierung und Steuerung der Arbeit sind durch die andere, die mütterliche Seite, repräsentiert. Auch hier erhalten die Bedürfnisse und Nöte erst erkennbare Bedeutung durch die Handlungen der Anderen, in diesem Fall der Mutter, die sie teils durch vergegenständlichende Arbeiten, teils durch Zuwendung spiegelt. Obwohl auch die Mutter-Kind-Beziehung ein Machtverhältnis ist, sind Emotionen nicht aus dem Arbeits- und Erkenntnisprozess abgespalten. Um sinnvoll handeln zu können, muss die Mutter kindliche Äußerungen und Affekte deuten und regulieren. Bei dieser Art des intersubjektiven Aus56

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tausches erkennt das Kind die Bedeutung seines Selbst, seiner Wünsche durch die Handlungen der Mutter. Allerdings geht die Wirkung der mütterlichen Handlungen in die Entwicklung des Kindes ein, wird in der Psyche des Kindes zur Erfahrung und manifestiert sich allenfalls partiell in bleibenden, anschaulichen Dingen. Während in der Herr-Knecht-Metapher herrschaftliche Macht, bedürftige Begierden und Konsumption in einem antagonistischen Verhältnis zu produktiver Bedeutungsgebung und Erkenntnis stehen, fließen im Mutter-Kind-Schema soziale Macht, Bedürfniserkennung, Emotion, rationale Handlungssteuerung und Bedeutungsgebung zusammen, schließen Kognition und subjektreflektierende Arbeit die Wertschätzung und Abwägung von Bedürfnissen ein. Es entsteht ein völlig anderer Arbeits- und Subjektbegriff, der nicht nur dingliche Vergegenständlichung, sondern auch soziale Verantwortung und intersubjektive Handlungskompetenz integriert. Doch hatte Hegel für diese Art der Arbeit einen völlig anderen Begriff, den ich im Folgenden thematisieren will.

3.4 Das weltliche Gesetz des Mannes und das göttliche Gesetz der Frau Es braucht nicht betont zu werden, dass Hegel mit der Herr-KnechtDialektik einen androzentrischen Arbeits- und Subjektbegriff aufarbeitete, der den Geist des beginnenden Industriezeitalters reflektierte und seinem philosophischen Konzept der Vernunft zugrunde lag. Wie sehr dieses Subjektverständnis mit dem Begriff männlich praktizierter Kultur und Arbeit amalgamisiert war, zeigt seine Konzeption des allgemeinen Geistes: Der allgemeine Geist, von Hegel (1988, 289) verstanden als intersubjektiv getragenes sittlich-moralisches Leben eines Volkes und Ausgangspunkt des Tuns Aller, vereinheitlicht die Vielheit der sittlichen Beziehungen und reduziert sie auf das Zweifache des Einzelnen (Individuellen) und Allgemeinen. Der allgemeine Geist steht für die Sittlichkeit des öffentlichen Gemeinwesens, das durch die tätige Gestaltung der Vernunft bewusst gemacht wird. Im „Gegenschein der Individuen“ wird der Geist „für sich“ als handlungsleitende Sitte und „an sich“ als reflektierbarer Gegenstand und Substanz des kulturellen Bewusstseins (ebd. 293, Hvh. im Orig.). Hegel bezeichnet ihn als das „menschliche Gesetz“, das „in der Form der ihrer selbst bewußten Wirklichkeit ist“ (ebd. Hvh. im Orig.). Es repräsentiert auf der Ebene des Allgemeinen das bekannte Gesetz, die vorhandene praktizierte Sitte. Auf der Ebene des Einzelnen realisiert sich das menschliche Gesetz im bewussten Tun des bürgerli57

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chen Individuums, besonders in der Regierung, die seine Gültigkeit offenbart. Hinter dieser öffentlichen sittlichen Macht nun, wirkt eine andere Macht: das göttliche Gesetz. Hegel (1988, 293) definiert es als „Form einer unmittelbaren oder seienden Substanz“, die nicht durch arbeitendes Tun vergegenständlicht ist. Es ist der „bewußtlose noch innre Begriff“ des weltlichen Gesetzes und wird durch ein „natürliches sittliches Gemeinwesen“ (ebd. 294, Hvh. im Orig.), nämlich die Familie, verwirklicht. In Gegensatz bildender Reihenfolge führt Hegel aus: Die Familie „steht als der bewußtlose noch innre Begriff, seiner sich selbst bewußten Wirklichkeit, als das Element der Wirklichkeit des Volkes, dem Volke selbst, als unmittelbares sittliches Sein, - der durch die Arbeit für das Allgemeine sich bildenden und erhaltenden Sittlichkeit, die Penaten dem allgemeinen Geiste gegenüber.“ (Hegel 1988, 294, Hvh. im Orig.)

Obgleich er die Familie als den „innren Begriff“ und das „Element“ von Sittlichkeit und öffentlicher Moral ansieht, versteht Hegel die soziale Beziehung der einzelnen Familienmitglieder nicht als kulturelles (sittliches), sondern als natürliches Verhältnis. Die Sitte, die öffentliche Ethik, die Welt der Bürger, ist das Allgemeine. Ihr gehören persönliche „Empfindungen“ oder „ein Verhältnis der Liebe“ ebenso wenig an wie die „Begierde“ des Einzelnen (ebd. 294). Das Ineinandergreifen von Familie und Gesellschaft, oder mit Hegels (ebd. 294) Worten: das Verhältnis des „bewußtlosen noch innre[n] Begriff[s]“ der Sitte und der „durch Arbeit gebildeten öffentlichen Sittlichkeit“, realisiert sich bei Hegel vor allem durch die familiäre Aufgabe, der bewussten kulturellen Wirklichkeit den Tod als das „reine Sein [...] das unmittelbare natürliche Gewordensein hinzuzufügen (ebd. 295, Hvh. im Orig.). Indem die Familie den einzelnen Toten ehrt, macht sie ihn als allgemeines, der sinnlichen Wirklichkeit enthobenes Wesen zum Gegenstand des Bewusstseins. Der Tote, der „aus der langen Reihe seines zerstreuten Daseins sich in die vollendete Eine Gestaltung zusammenfasst, und [...] sich in die Ruhe der einfachen Allgemeinheit erhoben hat“ (ebd. 295), steht für das allgemeine Sein. Durch die familiäre Ehrung, sprich Thematisierung der Toten, gehört dies allgemeine Sein nicht mehr nur der Natur an, sondern wird Getanes, Bewusstes. Weil bei Hegel alle Erkenntnis dialektische Bewegung ist, die vom Insichsein zur Entäußerung gelangt und wieder zu sich zurückkehrt, geht das menschliche Gesetz vom unbewussten göttlichen Gesetz aus, wird zum bewussten irdischen Gesetz und kehrt wieder zu seinem Ausgangpunkt zurück. Ebenso erhebt sich das göttliche Gesetz aus dem Unwirk58

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

lichen zum bewussten Wirklichen. Ferment der Bewusstwerdung ist ein Tun. Die vergegenständlichende Arbeit dient der Bewusstheit von irdischer Sitte, der Totenkult der Bewusstwerdung von Vergänglichkeit. Gemäß seiner Sicht der Kulturentwicklung ordnet Hegel (1988, 295 f.) nun den Mann dem bewussten weltlichen Gesetz und die Frau dem unbewussten göttlichen zu. Der Mann, der innerhalb der „natürlichen“ Familie noch kein Bürger ist, sondern ein Einzelner, „der Bürger werden und aufhören soll, als dieser Einzelne zu gelten“ (ebd. 295, Hvh. im Orig.), schließt seine Individualität mit dem allgemeinen Geist des Gemeinwesens zusammen, wird Teil desselben und erhält Identität. So geht denn der junge Mann „aus dem göttlichen Gesetz, in dessen Sphäre er lebte, zu dem menschlichen über“ (ebd. 301). Die junge Frau hingegen, die „Schwester“, wird „Vorstand des Hauses und Bewahrerin des göttlichen Gesetzes“ (ebd.). „Auf diese Weise“, glaubt Hegel „überwinden die beiden Geschlechter ihr natürliches Wesen, und treten in ihrer sittlichen Bedeutung auf, als Verschiedenheiten, welche die beiden Unterschiede, die die sittliche Substanz sich gibt, unter sich teilen“ (ebd. 301). Das heißt, es verlassen beide Geschlechter den natürlichen Hort der Familie und teilen sich in kulturell definierte Identitäten. Weil „der sittliche Geist die unmittelbare Einheit der Substanz mit dem Selbstbewusstsein ist“ (ebd.), erscheint diese kulturelle Definition „nach der Seite der Realität und des Unterschiedes zugleich als das Dasein eines natürlichen Unterschiedes“ (ebd.). Die Geschlechtsbestimmung tritt an derjenigen „Seite“ zu Tage, „welche sich an der Gestalt der sich selbst realen Individualität, in dem Begriffe des geistigen Wesens, als ursprünglich bestimmte Natur zeigte. Dies Moment verliert die Unbestimmtheit, die es dort noch hat, und die zufällige Verschiedenheit von Anlagen. Es ist itzt der bestimmte Gegensatz der zwei Geschlechter, deren Natürlichkeit zugleich die Bedeutung ihrer sittlichen Bestimmung erhält.“ (Hegel 1988, 301, Hvh. im Orig.)

Die unbestimmte Bedeutung und Zufälligkeit verschiedener persönlicher Anlagen wird demzufolge durch das kulturelle Schema des geschlechtlichen Gegensatzes vereindeutigt; der vorbegrifflichen Natürlichkeit der Geschlechter wird eine sittliche Bedeutung zugewiesen. Um Zweifeln hinsichtlich der gerechten Platzierung von Frauen und Männern in der unbewussten göttlichen bzw. bewussten weltlichen Sphäre zu begegnen, setzt er nach, dass „nicht das Zufällige der Umstände oder der Wahl“ die Geschlechter den jeweiligen Gesetzen zuordne, sondern die „Natur“ (ebd. 305). Die „beiden sittlichen Mächte selbst geben sich an den beiden Geschlechtern ihr individuelles Dasein und Verwirklichung“ (ebd.). 59

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Mann und Frau beschreibt er als zwei komplementäre Seiten einer Substanz: „Der Unterschied der Geschlechter und ihres sittlichen Inhalts bleibt jedoch in der Einheit der Substanz [...]. Der Mann wird vom Familiengeiste in das Gemeinwesen hinausgeschickt, und findet in diesem sein selbstbewußtes Wesen; wie die Familie hierdurch in ihm ihre allgemeine Substanz und Bestehen hat, so umgekehrt das Gemeinwesen an der Familie das formale Element seiner Wirklichkeit und an dem göttlichen Gesetze seine Kraft und Bewährung. Keines von beiden ist allein an und für sich.“ (Hegel 1988, 301)

Hegel, der historisches Bewusstwerden nur in der irdischen Sphäre des kulturellen Gemeinwesens gegeben sieht und somit auch das Fortschreiten von der beobachtenden Vernunft zum Selbstbewusstsein dem öffentlichen Kulturraum zuordnet, räumt zwar ein, dass das selbstbewusste männliche Individuum und das mit ihm konnotierte sittliche Gemeinwesen „Kraft und Bewährung“ (ebd.) aus der Welt der Familie und der Frau schöpft. Die sprachliche Definitionsmacht und die über den allgemeinen Subjektbegriff hergestellte intersubjektive Anerkennung aber, siedelt er alleine in der Sphäre des weltlichen Gesetzes und seiner männlichen Individuen an. Das familiäre Reich der Frauen durchdenkt er nur insoweit, als er es für die Bestimmung seines Verhältnisses zur öffentlichen Kulturwelt des Mannes für erforderlich hält. Der wechselseitigen Anerkennung zwischen Mann und Frau billigt er keinen identitätsstiftenden Charakter zu, sondern definiert es als das „unmittelbare sich Erkennen des einen Bewußtseins im anderen, und das Erkennen des gegenseitigen Anerkanntseins. Weil es das natürliche sich Erkennen, nicht das sittliche ist, ist es nur die Vorstellung und das Bild des Geistes, nicht der Geist selbst. [...] dies Verhältnis hat daher seine Wirklichkeit nicht an ihm selbst, sondern an den Kinde, – einem andern, dessen Werden es ist und wohin es selbst verschwindet.“ (Hegel 1988, 298/299 Hvh. im Orig.)

Demzufolge gibt es keine Anerkennung zwischen Mann und Frau, die einem kulturellen Begriff entspräche. Selbst im Verhältnis von Eltern und Kindern vermittelt sich kein angemessenes Erkennen des eigenen Fürsichseins: „Die [Anerkennung] der Eltern gegen ihre Kinder ist eben von dieser Rührung affiziert, das Bewußtsein seiner Wirklichkeit in dem anderen zu haben, und das Fürsichsein in ihm werden zu sehen, ohne es zurück zu erhalten; sondern es bleibt eine fremde, eigne Wirklichkeit; – die der Kinder aber gegen die Eltern umgekehrt mit der Rührung, das Werden seiner Selbst oder das Ansich an 60

ENTWICKLUNG UND BEDEUTUNG DES HEGEMONIALEN ARBEITSBEGRIFFS

einem anderen Verschwindenden zu haben, und das Fürsichsein und eigene Selbstbewußtheit zu erlangen, nur durch die Trennung von dem Ursprung, – eine Trennung, worin dieser versiegt.“ (Hegel 1988, 299)

Über beide Verhältnisse – Mann und Frau sowie Eltern und Kind – also ist gesagt, dass sie bei der „Ungleichheit der Seiten“ stehen bleiben (ebd. 299), dass innerhalb dieser Verhältnisse die Bedeutung von Bedürfnissen und Handlungen nicht im Anderen gespiegelt werden, keine Selbstreflexion möglich ist. Zum Bewusstwerden des Bewusstseins fehlen die Momente der Vergegenständlichung und Verallgemeinerung. Diese scheinen nur in der gesellschaftsöffentlichen antagonistischen Beziehung von Herren und Knechten gegeben, die Subjektives durch die formende Arbeit des Anderen gegenständlich macht und zu einem allgemeinen öffentlichen Begriff führt. Intersubjektive Arbeit wie Erziehung und Pflege sieht Hegel keineswegs als bedeutungskonstituierend an. Denn solches Tun der Gattin, Mutter oder Tochter verflüchtigt sich in der „Einzelnheit“ (ebd. 300), gilt dem einzelnen Mann oder einzelnen Kind und ist dazu bestimmt, im Werden der Kinder bzw. im Verschwinden der Eltern zu versiegen. Und so definiert er das „Gesetz der Familie“ als das „ansichseiende, innerliche Wesen [...], das nicht am Tage des Bewußtseins liegt, sondern innerliches Gefühl und das der Wirklichkeit enthobne Göttliche bleibt. An diese Penaten ist das Weibliche geknüpft, welches in ihnen teils seine allgemeine Substanz, teils aber seine Einzelheit anschaut.“ (Hegel 1988, 299, Hvh. im Orig.)

Diese der „Wirklichkeit enthobene“ göttliche Welt der Familie, die „nicht am Tage des Bewußtseins liegt“ (ebd.), gereicht weder zum Selbstbewusstsein noch zum allgemeinen Begriff, sondern verliert sich im praktischen Einzelnen. Das der Familie vorstehende „Weibliche“ bleibt ein sprachlich unfassbarer „natürlicher“ Zustand, der dem kulturellen Begriff des bürgerlichen Individuums vorgelagert ist und die notwendige Voraussetzung, ja die „Kraft“ und, wie Hegel wiederholt betont, das „Element“ (ebd. 303/304 u. 313) desselben ist. Während der Philosoph den Begriff des männlichen Subjektes als ein identitätsstiftendes neuzeitliches Prinzip von produktiver, hierarchisch organisierter Arbeit und rationaler Erkenntnis reflektiert, definiert er Bewusstsein und Arbeit der familiär verorteten Frau als nicht zur Sprache gekommenes Tun und Reservat einer unbewussten, „inneren“ Moral, aus der die rationale Welt „Kraft und Bewährung“ (ebd. 301) zieht.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Das Kapitel endet in einer verschraubten Dialektik, wo sich der „allgemeine sich bewußte Geist“ durch die „Individualität des Mannes“ mit „seinem anderen Extrem, seiner Kraft und seinem Element“, nämlich dem „bewußtlosen Geiste“ des Weibes, zusammenschließt und selbiger wiederum durch die Vereinigung mit dem Manne aus „dem Unwissenden und Ungewußten in das bewußte Reich herauftritt“,– so dass zu guter Letzt die entzweiten geschlechtlichen Welten „in Eine vereinigt“ werden (Hegel ebd. 303/304 Hvh. im Orig.). Worauf es mir mit diesem Exkurs ankam, war ein Beispiel zu geben, wie ein ideengeschichtlich einflussreicher Denker die soziale und psychologische Struktur des vergegenständlichenden Arbeits- und Subjektbegriffes deutet und in welchem Verhältnis dazu er die Bedeutung weiblicher Arbeit und Persönlichkeit reflektiert. In der weiteren Auseinandersetzung wird sich erweisen, dass die bei Hegel formulierte Dialektik zwischen dem kulturell vordergründigen Begriff erkenntnisfördernder produktiver Arbeit und einem sprachlich diffusen weiblichen Begriff, der in der Vereinzelung verliert, symptomatisch ist für die differentielle Logik und wechselseitige Bezogenheit neuzeitlicher Geschlechtskategorien.

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II S P R AC H E AL S

M I T T E L D E R K O M M U N I K AT I O N UND DES

DENKENS

In einem ersten Problemaufriss wurde die vordergründige Ideengeschichte des männlich konnotierten produktiven Arbeitsbegriffs skizziert und die Gegensatzbildung von erkenntnisstiftender Vergegenständlichung versus begrifflos bleibender Familienarbeit problematisiert. Um später rekonstruieren zu können, warum sich die geschlechtliche Entgegensetzung von hervorbringender Rationalität und sozialer Empathie trotz der historisch durchgängigen Erwerbsbeteiligung von Frauen durchgesetzt hat, wie sich dieser Gegensatz in aktuellen Arbeitsbegriffen fortsetzt und welche psychologische Bedeutung dem sprachlichen Transfer alttradierter Geschlechtsdeutungen beizumessen ist, steige ich jetzt in die sprachtheoretische Auseinandersetzung ein. Ziel ist, ein sprachtheoretisches Instrumentarium zu erarbeiten, um • sozialgeschichtliche Entwicklungslinien genderförmiger Bedeutungen rekonstruieren zu können, die hinter modernen Arbeitsbegriffen stehen • und den psychologischen Stellenwert geschlechtlicher Kategorien bei Prozessen der Identitäts- und Interessensentwicklung zu erhellen. So werde ich am Ende dieses zweiten Teils ein psycholinguistisches doing-gender-Modell vorstellen. Die Rekonstruktion genderförmiger Begriffsentwicklung seit der Frühen Neuzeit sowie die Frage ihrer Verstetigung im modernen Sprachgebrauch nehme ich im dritten Teil vor. Wie gesagt, stützt sich die sprachtheoretische Abhandlung auf die Theoriebildung Lew S. Wygotskis, die im Vergleich mit anderen linguistischen und psychologischen Ansätzen erörtert und auf moderne Verhältnisse bezogen wird. Zum besseren Verständnis stelle ich einige Bemerkungen zu Wygotskis wissenschaftlichem Werdegang voran. 65

4 WYGOTSKI UND DIE KULTURHISTORISCHE SCHULE

Lew Semenovic Wygotski (1896-1934) war Begründer der Kulturhistorischen Schule, einer bestimmten Richtung der sowjetischen Psychologie, die Mitte der 1920er Jahre kurz nach der Oktoberrevolution entstanden war und im Zuge der Umgestaltung des kulturellen Lebens (Alphabetisierungskampagne, Entwicklung des Schulwesens etc.) förderliche Arbeitsbedingungen fand. Kennzeichnend für die Kulturhistorische Schule Wygotski’scher Prägung war die Annahme der Historizität des menschlichen Bewusstseins und seiner Entwicklung als zeichenvermittelter Prozess. Der Gegenstandsbereich dieser Psychologierichtung umfasste methodologische und philosophische Fragen der Psychologie, das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein, kindliche Sprach- und Bewusstseinsentwicklung, Behindertenpsychologie, Erziehung und Unterricht. Damit hob sich der kulturhistorische Ansatz deutlich von physiologischen Richtungen der sowjetischen Psychologie wie der behavioristisch beeinflussten Reaktologie Bechterews oder der Reflexologie Pawlows ab. Zu den engsten Mitarbeitern bzw. Schülern Wygotskis gehörten Alexander R. Lurija (1902-1977) und Alexej N. Leontjew (1903-1979). In der damaligen Sowjetunion entwickelt, sind Wygotskis Arbeiten von der eingehenden Auseinandersetzung sowohl mit der sowjetischen als auch der westlichen Psychologie geprägt, darunter den Arbeiten Karl Bühlers, Wilhelm Wundts, Klara und William Sterns, Sigmund Freuds und besonders des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piagets.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Wygotskis wissenschaftlicher Weg lässt sich grob in vier Phasen unterteilen: 1.) Er begann 1925 mit der semiotisch pointierten Dissertation Psychologie der Kunst. 2.) Ende der 1920er Jahre betrat Wygotski die psychologische Bühne mit Beiträgen zu methodologischen und erkenntnistheoretischen Fragen der Psychologie. Als deren wichtigster gilt das Essay über die Krise der Psychologie (1927/1985), dem zahlreiche entwicklungspsychologische Arbeiten folgten. 3.) Den kulturhistorischen Ansatz entwickelte er Anfang der 1930er Jahre. Prototypisch dafür ist die Monographie zur Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1931/1992), in der er zwischen naturgeschichtlicher und historischer Entwicklung differenzierte und eine kulturhistorische Zeichentheorie ausarbeitete. 4.) Seine letzte Arbeitsperiode ist gekennzeichnet vom Zusammenführen vorheriger Arbeiten zu einer in Denken und Sprechen (1934/2002) niedergelegten psychologisch-linguistischen Theorie. Inhaltlich damit überschnitten war die an Spinoza orientierte Weiterentwicklung seiner monistischen Psychologie. Hiervon zeugt unter anderem die Schrift Die Lehre von den Emotionen (1933/1996), eine, wie der Untertitel sagt, „psychologiehistorische“ Kritik der cartesianischen Spaltung von Körper und Psyche, in der er sich mit der zeitgenössischen Emotionenforschung auseinandersetzte. Wygotski starb 1934 mit 38 Jahren an Tuberkulose, kurz nach Fertigstellen von Denken und Sprechen, das er bereits aus dem Krankenbett diktiert hatte. Weitere Arbeitsvorhaben, darunter wahrscheinlich eine Monographie zur Entwicklungspsychologie (vgl. Elkonin 1987) sowie die Vertiefung seiner monistischen Vorstellungen zur Psychologie (vgl. Wertsch 1996), konnte er nicht verwirklichen. Die Kulturhistorische Schule unterlag von 1930 an stalinistischen Anfechtungen. 1936 wurde die Veröffentlichung von Wygotskis (insgesamt 180) Schriften verboten, mit der Konsequenz, dass sie mit Ausnahme der kurz nach seinem Tode veröffentlichten Monographie Denken und Sprechen (1934/2002) bis Mitte der 1960er Jahre unter Verschluss blieben und später teils verfälschend übersetzt bzw. redigiert wurden (Lompscher/Rückriehm 2002). Die stalinistische Neuinterpretation des Marxismus hatte Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der sowjetischen Psychologie, von denen auch die früheren Mitarbeiter Wygotskis, Lurija und Leontjew, nicht unbeeinflusst blieben. So lässt sich bei Lurija, der sich nach Wygotskis Tod durch entwicklungspsychologische und psycholinguistische Arbeiten sowie hirnphysiologische Untersuchungen mit kriegsverletzten Probanden hervortat, zumindest eine stärkere Betonung reflektorischer Mechanismen und kognitiver Aspekte des Sprachgebrauches ausmachen, was jedoch in seiner „völlig“ an Wygotski orientierten Vorlesungsreihe Sprache und Bewußtsein (Lu68

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

rija 1982, XVI)) nur marginal zum Ausdruck kommt. Weit ausgeprägtere Tendenzen der Rephysiologisierung sind bei Leontjew, dem Begründer der Tätigkeitstheorie, zu erkennen, der hierzulande vor allem mit der Arbeit Probleme der Entwicklung des Psychischen (1973) bekannt wurde. Leontjews – für sich genommen sinnvolle – Vertiefung naturgeschichtlicher Forschung und Pointierung handlungspraktischer Dimensionen der Bewusstseinsentwicklung korrespondierte mit einem naturund gesellschaftstheoretischen Objektivismus, der auf das Konzept des „objektiven Geistes“ in der Tradition Simmels zurückgeht (Keiler 1997) und bei Wygotski nicht angelegt war. Da Leontjews Tätigkeitstheorie gerne als Weiterentwicklung Wygotskis behandelt und mit dem Namen Kulturhistorische Schule identifiziert wird, sei darauf hingewiesen, dass sie methodologisch wie inhaltlich erheblich von Wygotski abwich (vgl. dazu Keiler 1997 und Papadopoulos 1998). Mit der pragmatischen Wende der Linguistik in den 1960er und 70er Jahren, genauer dem Einbeziehen soziokultureller und psychologischer Fragen in die linguistische Forschung, erfuhr Wygotski besonders in westeuropäischen Ländern eine erhebliche Renaissance (Papadopoulos 1998; Oksaar 1987). In den 1980er Jahren zu einer „eruptiven Rezeption“ (Papadopoulos 1998, 9) im nordamerikanischen Raum gesteigert, nahmen Wygotskis Arbeiten dort Einfluss auf manche psychologische und linguistische Theorie. Zu den bekanntesten Namen zählen Uri Bronfenbrenner, Michael Cole, James Wertsch sowie der kognitionspsychologisch arbeitende Psycholinguist Jerome Brunner (Miller 1993; Oksaar 1987; Papadopoulos 1998). Wygotskis Theoriebildung zeichnet sich durch eine interfunktionale entwicklungstheoretische Herangehensweise an das Verhältnis von Sprache und Bewusstsein aus, die soziale, handlungspraktische und historische Ebenen der Sprach- und Bewusstseinsentwicklung integriert. Im Ergebnis der skizzierten Arbeitsperioden sieht er in der Sprache ein historisch hervorgebrachtes Zeichensystem, das im Wege der Mensch-Umwelt-Auseinandersetzung als soziales Verständigungsmittel entstanden und zu einem Medium des individuellen Denkens geworden ist. In diesem Sinne stellt für ihn die Sprache ein zentrales Vermittlungsmedium zwischen historisch-gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsprozessen dar. Mit der soziohistorischen Herleitung der Sprache verbindet er die Annahme der gnostischen Einlagerung soziokultureller Bedeutungen in sprachliche Zeichen, die kognitive und emotionale, sachlichgegenständliche und soziostrukturelle Informationen integrieren. Demnach transferieren sprachliche Bedeutungen historisch generierte Sinnverbindungen und unterliegen zugleich der gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung. Indem Wygotski die Sprache gewissermaßen als 69

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Produkt der soziogenetischen Entwicklung des Menschen sieht, das aus der praktischen sozialen Daseinsvorsorge hergeleitet und zu einem System symbolischer, Kommunikation und Denken vermittelnder Zeichen verdichtet ist, beleuchtet er die Historizität des menschlichen Bewusstseins und wendet sich gegen apriorische Deutungen der sprachlichen Vernunft. Zugleich überwindet er mit der ganzheitlichen Konzeptualisierung der sprachlichen Bedeutung die Trennung von instrumentellem und sozialkommunikativem Handeln. Beides erweist sich als fruchtbar für die Reflexion der Genese und logischen Struktur geschlechtlicher Arbeits- und Subjektkategorien.

4.1 Methodologische Grundannahmen Wygotskis Sprachtheorie bildete das Kernstück seiner Psychologie, die sich grob umschreiben lässt als Integration von Zeichentheorie, Entwicklungspsychologie und historischer Gesellschaftstheorie. Methodologisch bezog er sich auf die marxistische Philosophie, die er um psychologische Einsichten erweiterte. Zu seinen wichtigsten philosophischmethodologischen Prinzipien gehören • die Anerkennung des Entwicklungsprinzips und damit des genetischen1 Aufbaus von Kultur, Ontogenese, Sprache und Psyche, was er forschungsmethodisch durch kontextuell-ganzheitliches Erfassen prozessualer Verläufe umzusetzen suchte. Seine, in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1931/1992) begründete, genetische Methode umfasste unter anderem experimentelle Untersuchungen der Begriffsentwicklung sowie vergleichende Beobachtungen der Sprachentwicklung behinderter und nichtbehinderter Kinder, früherer und späterer Stadien, rudimentärer und entwickelter kultureller Verhaltensformen. „Historisch forschen“ hieß für Wygotski (1992, 112), „die Kategorie ,Entwicklung’ auf die Gesamtheit der Phänomene zu beziehen, [...] eine Sache in ihrer Bewegung zu untersuchen, [...] das ist das Postulat der dialektischen Methode.“ Der genetische Ansatz korrespondiert mit einer historisch-materia• listischen Auffassung der Logik, was sich für Wygotski (1985; 1992; 2002) nicht nur als philosophisches, sondern auch methodisches Problem stellte und wesentlich wurde für seine Sprachtheorie. Er stützte sich dabei unter anderem auf die in Engels Dialektik der Natur (1975) vorgenommene Rückführung der Logik auf empirisch praktisches Erfassen der realen Welt. Für Wygotski folgte hieraus 1

70

„Genetisch“ bedeutet bei Wygotski entwicklungsförmig. Ich verwende den Ausdruck ebenfalls in dieser Bedeutung.

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS



als methodische Konsequenz die Differenzierung zwischen der logisch hergeleiteten Hypothese und der genetisch ausgerichteten experimentellen Untersuchung, basierend auf der Annahme, dass abstrakte Logik nicht per se das Prozedere ihrer Entstehung zu erkennen gibt. „Die Chronologie der einzelnen Untersuchungsschritte stimmt nicht immer mit der logischen Abfolge der der Untersuchung zu-grunde liegenden Ideen überein“ (Wygotski 1992, 113). Mit der historischen Auffassung der Logik wiederum verband sich die Anerkennung begriffsbildender Intersubjektivität als erkenntnisleitendem Prinzip, was er erstmals in einem Essay über die Krise der Psychologie (Wygotski 1927/1985) anhand des reziprok zum Untersuchungsgegenstand generierten wissenschaftlichen Begriffs ausführlich erörterte.

Aus den drei methodologischen Prinzipien – Entwicklungsförmigkeit, Historizität und Intersubjektivität von Kultur, Sprache und Bewusstsein – erwuchs Wygotskis These der Entwicklung des individuellen Bewusstseins aus dem sozialen, die er auf kulturgeschichtlicher und ontogenetischer Ebene postuliert. Diese These wird in meiner Abhandlung relativ breiten Raum einnehmen, weil sie hinsichtlich der Übermittlung soziokultureller und psychosozialer Bedeutungsstrukturen wie Gender von großem Erklärungswert ist.

4.2 Erkenntnistheoretische Probleme d e r P s yc h o l o g i e In dem umfangreichen Essay Die Krise der Psychologie in ihrer historischen Bedeutung formulierte Wygotski (1927/1985) methodologische Ansichten, die für seine psychologische wie psycholinguistische Forschung richtungsweisend wurden. Ausgangssituation war die in der Sowjetunion wie im westlichen Europa vorzufindende Uneinheitlichkeit der Psychologie. Wygotski (1985) beschreibt sie als Gemengelage verschiedenster Untersuchungsphänomene, Kategorien und philosophischer Zugänge, die vom Vulgärmaterialismus über Freuds Triebtheorie bis zur metaphysischen Annahme apriorischer Bewusstseinsleistungen reichte und sich forschungsmethodisch zwischen der phänomenologischen Introspektion Husserls und dem biologisch basierten Experiment der ReizReaktions-Psychologie bewegte. Metaphysische und biologistische Auffassungen trafen sich Wygotski (ebd.) zufolge in der Annahme körperlich-geistiger Dualität. Die ontologische wie erkenntnistheoretische Einordnung des menschlichen Bewusstseins und seiner Beziehung zu kör71

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

perlichen Prozessen war ebenso ungeklärt wie der Zusammenhang von Denken und Sprechen. Die Auseinandersetzung im Krisenessay zielte auf Erfassen des Psychischen aus dialektisch-materialistischer Sicht und den Aufbau einer methodologisch einheitlichen, den cartesianischen Körper-Geist-Dualismus überwindenden „allgemeinen“ Psychologie als einer wissenschaftlichen Leitdisziplin. Leitende Prämisse war die Anerkennung des Psychischen als reale, erkenntnismäßig erfassbare Entität, die, gleichwohl mit dem Körper verbunden, als eigenständige Qualität von diesem zu unterscheiden sei. Den Streit zwischen Idealismus und (Vulgär-)Materialismus über die Frage, ob das nicht-stoffliche Bewusstsein dem Bereich des Seins oder Scheins angehöre, entschied er im Anschluss an Ludwig Feuerbachs Differenzierung der ontologischen Ebene von „Denken an sich“ und der erkenntnistheoretischen Ebene von „Denken des Denkens“. Damit grenzte er sich zugleich gegen Husserls Identifikation von Sein und Erscheinen des Psychischen ab.2 Das heißt, Wygotski unterschied zwischen der ontologischen Zuordnung des Psychischen zum Bereich des Seins und der erkenntnistheoretischen Ebene seiner Erforschung. Im Sinne der Aussage, „der Geist ist nicht immer Subjekt, bei der Introspektion spaltet er sich in Objekt und Subjekt“ (Wygotski 1985, 241), markierte bei ihm der Terminus „objektive“ psychische Phänomene (ebd. 244) den Status des Erkenntnisobjekts innerhalb der Subjekt-Gegenstands-Relation. Was keinesfalls misszuverstehen ist als Reduktion des Psychischen auf seine physische Seite. Daher verzichtete er mit Rücksicht auf die vulgarisierte Bedeutung des Wortes „objektiv“ auf diesen Terminus zur Bezeichnung seiner Psychologie. Den Aufbau einer einheitlichen Psychologie stellte er sich keineswegs als Übertragung der bis dahin vor allem unter historischer, naturwissenschaftlicher und ökonomischer Perspektive entfalteten marxistischen Philosophie auf das Gebiet der Psychologie vor. Vielmehr forderte er eine eigenständige, am Gegenstand der Psychologie entwickelte 2

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Genauer gesagt reduziert Wygotski die Uneinheitlichkeit der Psychologie, die er seitenlang v.a. anhand vulgärmaterialistischer Ansätze expliziert, auf zwei konträre Positionen: 1.) die phänomenologische Auffassung Husserls, der einen grundlegenden Unterschied zwischen der physischen und der psychischen Seite des Seins konzeptualisiert und den ontologischen Status des Bewusstseins bestreitet, sowie 2.) die materialistische Position Feuerbachs, der den ontologischen Status der Psyche anerkennt und auch hier zwischen Sein und Schein unterscheidet. In diesen beiden Positionen sieht Wygotski (1985, 236) „das Wesen des ganzen Streits. Man muss nur verstehen, das erkenntnistheoretische Problem auch für das Psychische zu stellen und in ihm ebenfalls den Unterschied zwischen Sein und Denken zu finden, wie es der Materialismus für die Außenwelt lehrt.“

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Methodologie, was nach seinem Verständnis die philosophisch induzierte Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychologie, ihren differentiellen Erkenntniswegen, Kategorien und Befunden voraussetzte.3 Mithin wandte er sich sowohl gegen kategoriale Übertragung aus anderen Wissenschaften als auch gegen logizistische Deduktionen der damaligen „marxistischen Psychologie“, die er als „Anhäufung mehr oder minder zufälliger Zitate“ der marxistischen Klassiker „und deren talmudistische Deutung“ (ebd. 216) qualifizierte: „Die dialektischen Gesetze nicht der Natur aufoktroyieren, sondern aus ihr ableiten – diese Formel von Engels (1975, 348) wird hier in ihr Gegenteil verkehrt.“ (Wygotski 1985, 251)

Vielmehr gelte es „eine Theorie zu finden, die helfen könnte, das Psychische zu erkennen, und nicht eine Lösung des Problems des Psychischen im Sinne einer Formel. [...] Eine entsprechende Formel kann man überhaupt nicht im voraus haben, bevor man das Psychische wissenschaftlich untersucht hat, sondern sie entsteht im Ergebnis einer Jahrhunderte währenden wissenschaftlichen Arbeit. Vorerst kann man bei den Lehrern des Marxismus keine Lösung des Problems finden, ja nicht einmal eine Arbeitshypothese (weil sie auf dem Boden der jeweiligen Wissenschaft geschaffen wird), sondern die Methode, nach der die Hypothese aufzustellen ist.“ (Wygotski 1985, 254)

Die Forderung nach Auseinandersetzung mit der Geschichte der Psychologie korrespondierte mit dem hohen erkenntnistheoretischen Stellenwert, den Wygotski einer am Gegenstand vollzogenen intersubjektiven Wissensgenerierung beimaß. Er expliziert das zu Anfang des Textes, wo er unter methodologischer Fragestellung das Verhältnis von Empirie, begrifflicher Verallgemeinerung und Logik thematisiert: Psychologische Forschung wird hier konzeptualisiert als induktiv-deduktiv verschränkter Prozess im Sinne eines vom konkreten einzelwissenschaftlichen „Tatsachenmaterial“ zu verallgemeinernder wissenschaftlicher Kategorienbildung führenden Prozederes, das wiederum auf die Forschung zurückwirkt. Ein reziproker, vom empirisch Konkreten zum begrifflich 3

Wenngleich Wygotskis Forderung einer kategorial und methodologisch einheitlichen Psychologie ein Ideal blieb, löste immerhin er das Postulat der historischen Aufarbeitung der Psychologieentwicklung ein, indem er sich mit der Bandbreite der europäischen Psychologie auseinandersetzte. Darunter der Gestaltpsychologie, der Assoziationstheorie, dem amerikanischen Behaviorismus und der russischen Reflexologie, Freuds Psychoanalyse, Husserls Phänomenologie, der Entwicklungspsychologie Wundts, Bühlers, Klara und Wilhelm Sterns sowie insbesondere Jean Piagets. 73

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Abstrakten aufsteigender Erkenntnisweg also, der sich in Interdependenz von praktischer Forschung und kategorialer Verallgemeinerung vollzieht. Praktische Realitätserfahrung und abstrahierende Verallgemeinerung werden gefasst als ineinander greifende Erkenntnisverfahren, über die sich auch die Bildung abstrakter Logik generiert. Wygotski entwickelt diese Vorstellung anhand zweier Thesen: 1. Engels (1975) These, derzufolge jeder abstrakte logische Begriff, auch der mathematische, einen Rest konkreter wissenschaftlich erkannter Wirklichkeit enthält. Womit Logik letztlich auf das empirische Erfassen der realen Welt zurückgeführt wird und auch dem „bis zum äußersten abstrahierten Begriff [...] irgendein Merkmal der Wirklichkeit [entspricht], das der Begriff in abstrahierter, isolierter Form enthält“ (Wygotski 1985, 87).4 2. Hieraus entwickelt er im Umkehrschluss, dass „in jedem einzelnen [...], im höchsten Grade empirischen, rohesten naturwissenschaftlichen Fakt [...] die primäre Abstraktion angelegt“ ist. Schließlich unterschieden sich „die reale und die wissenschaftliche Tatsache [...] gerade dadurch voneinander, daß die wissenschaftliche Tatsache eine im Rahmen eines bestimmten Wissenssystems erkannte reale Tatsache ist, also die Abstraktion einiger Züge aus der unerschöpflichen Summe von Merkmalen der natürlichen Tatsache. Material der Wissenschaft ist nicht rohes, sondern logisch bearbeitetes, nach einem bestimmten Merkmal herausgehobenes Naturmaterial. Wird die Tatsache mit einem Wort benannt, wird sie mit einem Begriff versehen, hebt man eine ihrer Seiten hervor, so ist dies ein Akt des Verstehens der Tatsache, indem sie einer zuvor durch Erfahrung erkannten Kategorie von Erscheinungen zugeordnet wird“ (Wygotski 1985, 89). Die abstrahierende begriffliche Verallgemeinerung explorierter Gegenstände setzt sich für Wygotski historisch fort bis zur allgemeinsten Ebene philosophischer und mathematischer Formalisierung. Den sich entwickelnden Begriff, den er im Krisenessay nach Engels und Spinoza noch „Werkzeug“ nennt, versteht er gleichermaßen als Analyseinstrument und Forschungsergebnis, dessen Entwicklung in Abhängigkeit von praktischer Empirie erfolgt:

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Vgl. Engels (1975, 533/534): „Das mathematische Unendliche ist aus der Wirklichkeit entlehnt, wenn auch unbewußt, und kann daher auch nur aus der Wirklichkeit und nicht aus sich selbst, aus der mathematischen Abstraktion, erklärt werden.“

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

„Es stimmt, daß wir in den Einzelwissenschaften Begriffe als Werkzeuge zum Erkennen von Tatsachen verwenden, aber die Benutzung von Werkzeug ist gleichsam seine Überprüfung [...]. Bereits im ersten Stadium der wissenschaftlichen Bearbeitung empirischen Materials ist die Benutzung eines Begriffes Kritik des Begriffes durch Tatsachen.“ (Wygotski 1985, 93) „Jedes Wort ist eine Theorie. [...] Aber jede Anwendung des Wortes, dieses Embryos der Wissenschaft, ist eine Kritik des Wortes, ein Verwischen seiner Gestalt, ein Ausweiten seiner Bedeutung. Die Linguisten haben deutlich genug gezeigt, wie sich das Wort im Gebrauch wandelt. Anders würde sich die Sprache ja nie erneuern.“(Wygotski 1985, 93/94)

Aus der Wechselseitigkeit von gegenstandsgerichteter Empirie und fortschreitender begrifflicher Abstraktion leitet Wygotski das Gebot der Synthetisierung wissenschaftlicher Befunde in einem einheitlichen, hierarchischen, zur Verallgemeinerung führenden Kategoriensystem ab. Mit diesem Postulat wissenschaftlicher Kategorienbildung formuliert er nicht nur ein methodologisches Prinzip, sondern nimmt bereits ein Kernmoment der in Denken und Sprechen (2002) weiter ausgearbeiteten Auffassung sprachlicher Bedeutungsbildung vorweg: Die Auffassung der Sprache als einer im praktischen Umgang mit der Wirklichkeit historisch und intersubjektiv entwickelten Abstraktionsleistung, die Erkenntnismittel geworden ist (Wygotski 1985; 2002).

Methodische Postulate Die Verhältnisbestimmung von Sprache, Praxis und Erkenntnis verbindet Wygotski mit zwei Postulaten psychologischer Forschung: 1.) der „indirekten Methode“ als bewusster und reflektierter Anwendung der wissenschaftlichen Kategorie und 2.) deren praktischem Pendant, der „Induktions-Analyse“. 1.) Mit der (methodologisch verstandenen) indirekten Methode, die er von der Untersuchungstechnik unterscheidet, grenzt sich Wygotski ab gegen positivistische und intentionalistische Methoden der Psychologie, einschließlich der phänomenologischen Introspektion Husserls, die er nur als eine Untersuchungstechnik unter anderen anerkennt. Er erörtert das anhand des Verhältnisses von subjektiver Erfahrung und intersubjektiver Erkenntnis, das sich in der Geschichte der „spontan idealistischen Psychologie“ komplizierter darstelle als in den „spontan materialistischen“ klassischen Naturwissenschaften (Wygotski 1985, 188), weil sich erstere nicht auf sinnlich wahrnehmbare stoffliche Prozesse richte und nicht über quantifizierbare situationsinvariante Parameter verfüge. 75

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Den spontanen Idealismus der Psychologie sieht er durch zwei Spezifika ihres Gegenstandes gegeben: durch die Selektivität subjektiver Wahrnehmung, die sich in der direkten Beobachtung fortsetze, sowie durch die der sinnlichen Wahrnehmung entzogene Qualität des Psychischen. Zur Selektivität subjektiver Wahrnehmung schreibt er unter Bezug auf Hegel: „Das Psychische [...] ist das Auswahlorgan, das Sieb, durch das die Welt hindurch muß, wobei sie so verändert wird, daß Handeln möglich ist. Eben darin besteht die positive Rolle des Psychischen – nicht in der Widerspiegelung (Nichtpsychisches widerspiegelt auch; [...] ), sondern darin, nicht immer richtig zu widerspiegeln, das heißt, die Wirklichkeit subjektiv zum Nutzen des Organismus zu entstellen. Wenn wir alles sähen [...] und alle Veränderungen wahrnähmen, die ununterbrochen stattfinden, so stünden wir vor einem Chaos. [...] Ein Teich spiegelt alles wider; ein Stein reagiert im Prinzip auf alles. Aber seine Reaktion ist dem Reiz gleich. Die Reaktion des Organismus ist ,wertvoller’, sie ist nicht dem Reiz gleich, sie verausgabt potentielle Kräfte, sie wählt unter den Stimuli. Das Psychische ist die höchste Form der Auswahl. Rotes, Blaues, Lautes, Saures – das ist eine in Portionen zerschnittene Welt. Die Aufgabe der Psychologie ist es, herauszufinden, worin der Nutzen dessen besteht, daß das Auge vieles von dem nicht sieht, was aus der Optik bekannt ist.“ (Wygotski 1985, 140/141, Hvh. I.A.)

Emotional wertende, selektive Wahrnehmung in dieser Weise als Qualität des Psychischen anerkennend, die der Psychologie sowohl auf der Ebene ihres Gegenstandes wie auf der Forschungsebene begegnet, folgert er, dass „die unmittelbare Einsichtigkeit und die Analogie als Methoden des Herausfindens einer wissenschaftlichen Wahrheit im Prinzip identisch“ seien (ebd. 142). Als Lösung dieses Dilemmas postuliert er den „bewußt angewandt[en]“ wissenschaftlichen Begriff (ebd. 151). Der – historisch-intersubjektiv und reziprok zur Gegenstandsexploration entwickelte – Begriff erhält dabei die doppelte Funktion eines vom situativen Einzelerleben unabhängigen Parameters und eines Mittels der Deutung, ohne die, wie er zur Chemie ausführt, auch klassische Naturwissenschaft nicht auskomme. „Die Psychologie muß die Grenzen der unmittelbaren Erfahrung überschreiten [...] Der wissenschaftliche Begriff läßt sich von der spezifischen Wahrnehmung nur auf dem Boden der indirekten Methode scheiden. Die Entgegnung, die indirekte Methode bleibe hinter der direkten zurück, ist wissenschaftlich völlig falsch. Gerade weil sie nicht die ganze Fülle des Erlebens beleuchtet, sondern nur eine Seite, vollbringt sie eine wissenschaftliche Arbeit. Sie isoliert, analysiert, abstrahiert ein Merkmal.“ (Wygotski 1985, 140)

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SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Mit der „indirekten Methode“ wird bei Wygotski ähnlich wie bei Hegel die historisch generierte (wissenschaftliche) Kategorie Modus des Überschreitens selektiver Erfahrung und zugleich zu einem Mittel ihrer Erkenntnis. Bewusste Begriffswahl ist demnach erkenntnistheoretisches Prinzip und zugleich ein methodologischer Prozess, der Fragestellung, Verlauf und Ergebnis des Forschungsverfahrens organisiert. 2.) Die „Induktions-Analyse“ ist die praktische Seite der indirekten Methode, die dem Erfassen prozessualer Sachverhalte gilt. Am besten ist sie erklärt als Analyse der kleinsten interfunktionalen Einheit, vergleichbar einer Zelle, die Aufschluss über Funktionszusammenhänge eines Organs gibt. Sie setzt an am „typischen Vertreter einer Reihe von Erscheinungen, um daraus Thesen über die ganze Reihe abzuleiten“ (Wygotski 1985, 225, Hvh. im Orig.). Sie ist Induktion, weil sie am exemplarischen Fall arbeitet, unterscheidet sich aber vom spontanen Induktionismus, indem sie sich auf voruntersuchte Gegenstände bezieht und neue Verallgemeinerungen bzw. Sonderfälle erschließt.

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5 KULTURHISTORISCHE ENTWICKLUNG DER HÖHEREN PSYCHISCHEN FUNKTIONEN

Der kulturhistorische Charakter von Wygotskis Theorie erschließt sich aus drei ineinander greifenden Thesen, mit denen er die Entwicklung von individueller psychischer Orientierung aus dem Sozialen herleitet: Den Thesen über • die Herausdifferenzierung der kulturellen Entwicklungslinie aus der naturgeschichtlichen • den sozialen Ursprung der höheren psychischen Funktionen und ihre Entwicklung als zeichenvermittelter Prozess • die Entwicklungsförmigkeit des Zeichengebrauches, die vom sozialen Kommunikationsmittel zum individuellen Denken führt Er entwickelt diese Aussagen in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1931/1992) und präzisiert sie in der Monographie Denken und Sprechen (1934/2002).

5.1 Zum Verhältnis von naturgeschichtlicher und kultureller Entwicklung Aus dem anthropologischen Befund des hinsichtlich seiner körperlichen und elementaren psychophysischen Funktionen (Wahrnehmung, Bewegung, Reaktion etc.) weitgehend gleich gebliebenen homo sapiens sapiens leitet Wygotski (1931/1992) zwei Entwicklungslinien des modernen Menschen her: 1.) die bis zum Kulturmenschen reichende biologische Evolution und 2.) die darauf aufbauende historische Entwicklung,

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

die sich mit Herausbilden der so genannten „höheren“ psychischen Funktionen des Menschen verbinde. Worunter er bedeutungshaftes Sprechen, klassifizierendes Denken, logisches Gedächtnis und willkürliche Aufmerksamkeit versteht. Die kulturelle Entwicklungslinie qualifiziert er als völlig neue, durch den Gebrauch künstlicher Organe (Werkzeuge) und soziale Verkehrsformen gekennzeichnete Art der Anpassung, die die naturgeschichtlichen Orientierungsweisen transformierten. Die natürliche und die kulturelle Linie verflechten sich ihm zufolge in der Ontogenese, womit körperliche Reifung und kulturelle Entwicklung einen wechselseitig verbundenen, einheitlichen Prozess bilden. „Beide Entwicklungsebenen – die natürliche wie auch die kulturelle – fallen zusammen und fließen ineinander. Beide Reihen von Veränderungen durchdringen sich und bilden eine einheitliche Reihe der sozio-biologischen Persönlichkeitsbildung des Kindes.“ (Wygotski 1992, 63)

Der Übergang des Kindes vom organisch dominierten tierischen Aktionssystem ins sozial und instrumentell1 vermittelte menschliche Verhalten beginnt Wygotski (1992) zufolge Mitte bis Ende des ersten Lebensjahres mit dem ersten Werkzeuggebrauch des Kindes und nimmt, wie er an anderer Stelle (Wygotski 1987; 2002) expliziert, durch den Spracherwerb eine entscheidende qualitative Wendung. Diesen Übergang betrachtet er als Beginn eines Körper und Geist umspannenden interfunktionalen Entwicklungsprozesses, bei dem sich „nicht nur der Werkzeuggebrauch, sondern auch das System der Bewegungen und Wahrnehmung, Gehirn und Hände sowie der ganze Organismus des Kindes entwickeln“ (Wygotski 1992, 66). Er erläutert das am Beispiel des Gedächtnisses, das bei älteren Kindern durch den Gebrauch von Zeichen effizienter organisiert sei als bei jüngeren Kindern, die noch stärker der Anschauung verhaftet sind. Ein Beispiel, das Cole und Bruner später empirisch erhärten (Miller 1993). Ähnlich wie Piaget misst Wygotski (1992, 64) der kindlichen Exploration und mithin der aktiven praktischen Operation eine große entwicklungsdynamische Bedeutung bei. Doch bezieht er grundsätzlicher – und hier liegt der Unterschied zu Piaget – die soziokulturelle Vermitteltheit der ontogenetischen Entwicklung durch den Gebrauch historisch generierter Zeichen ein.

1

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Der Ausdruck „instrumentell“ bezieht sich bei Wygotski sowohl auf die Vermitteltheit der praktischen Handlung durch Werkzeug als auch auf die Vermitteltheit des Sprechens und Denkens durch sprachliche Zeichen.

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Mit der These von der Einheit der naturgeschichtlichen und kulturellen Entwicklungslinie – nicht zu verwechseln mit deren Identität – wendet sich Wygotski (1992, 104) gegen die naturalistische, unter anderem in der Reflexologie verbreitete Annahme eines physio-psychischen Parallelismus, der den „dialektischen Sprung“ von der evolutionären Anpassung zur kulturellen Entwicklung bewusster menschlicher Orientierung ignoriere: „Der naturalistische Zugang zum gesamten Verhalten, und so auch zu den höheren psychischen Funktionen, die sich in der historischen Epoche der Verhaltensentwicklung herausgebildet haben, mißachtet den qualitativen Unterschied zwischen der Geschichte des Menschen und der des Tieres. Er wendet das S-R-Schema2 [...] auf die Erforschung des menschlichen wie des tierischen Verhaltens an. Hier ist schon der Gedanke angelegt, daß die gesamte qualitative Besonderheit der menschlichen Geschichte, die ,gesamte Veränderung der Natur durch den Menschen’ (Engels 1975, 498), also der ganze neue Typ der menschlichen Anpassung – daß all dies sich nicht auf das Verhalten des Menschen niederschlage und den Menschen nicht grundlegend verändert habe. [...] So [...] unsinnig [...] ein solcher Gedanke auch ist, [...] er bleibt eben doch ein unausgesprochenes Prinzip der experimentellen Psychologie.“ (Wygotski 1992, 102)

Die 1931 veröffentlichte These von der Verflechtung der evolutionären und historischen Entwicklungsebene wurde Gegenstand heftiger Anfechtungen seitens der nachfolgenden sowjetischen Psychologie.3 Ich sehe sie als Durchbruch zu der ganzheitlichen Sichtweise von Körper, Psyche und Kultur, die Wygotski in der Lehre von den Emotionen (1933/1996) unter der expliziten Annahme der Historizität des körpergebundenen Affektes vertieft. In Denken und Sprechen (1934/2002) konkretisiert er sie anhand der Herleitung zweier getrennter naturgeschichtlicher Wurzeln des Denkens und Sprechens sowie der Annahme rudimentärer naturgeschichtlicher Fähigkeiten der Verallgemeinerung, auf denen das kulturvermittelte begriffliche Denken aufbaut.

2 3

„S-R-Schema“: Kürzel für „Stimulus-Reaktions-Schema“, das behavioristische oder reflexologische Theorien als Grundeinheit tierischen wie auch menschlichen Verhaltens annehmen. Die Kritik erklärt sich vor dem Hintergrund der Rephysiologisierung der sowjetischen Psychologie (Keiler 1997), die auch Konsequenzen für die westliche Wygotski-Rezeption in der Tradition der Tätigkeitstheorie nach sich zog (ebd.). Sie bewegt sich zwischen verfälschenden Vorwürfen Rubinsteins (1973), Wygotski habe die Naturgeschichte übergangen bis zur gönnerhaften Kritik ihrer „noch“ ungenügenden Berücksichtigung seitens des Chicagoer Tätigkeitstheoretikers Wertsch (1996). 81

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

5.2 Kulturelle Entwicklung als i n s t r u m e n t e l l ve r m i t t e l t e r P r o z e s s Der dialektische Sprung von der evolutionären zur kulturellen Entwicklung manifestiert sich für Wygotski nicht nur im Werkzeuggebrauch, sondern auch im Gebrauch kulturell hervorgebrachter „künstlicher“ Denkmittel, wozu er unter anderem sprachliche und mathematische Symbole, ikonische Darstellungen sowie mnemotechnische (gedächtnisstützende) Mittel zählt, die er „Zeichen“ nennt (1992, 135). Diese Position basiert auf zwei (anfangs noch relativ unverbundenen) Ausgangsthesen, die er zunächst nur hypothetisch verschränkt: Nämlich 1.) auf der marxistischen Formel des sich durch produktive Naturveränderung selbst verändernden Menschen,4 die er 2.) mit der Annahme historisch generierter Zeichen als Mittel der sozialen Verhaltenssteuerung zusammenführt. „Engels sagt: ,Naturwissenschaft wie Philosophie haben den Einfluss der Tätigkeit des Menschen auf sein Denken bisher ganz vernachlässigt, sie kennen nur Natur einerseits, Gedanken anderseits. Aber gerade die Veränderung der Natur durch den Menschen, nicht die Natur als solche allein, ist die wesentlichste und nächste Grundlage des menschlichen Denkens, und im Verhältnis, wie der Mensch die Natur verändern lernte, in dem Verhältnis wuchs seine Intelligenz.’ Diesem neuen Verhaltenstyp muß notwendigerweise ein neues Prinzip der Verhaltenssteuerung entsprechen. Wir finden es in der sozialen Determiniertheit des Verhaltens, das sich in der Zuhilfenahme von Zeichen äußert.“ (Wygotski 1992, 141/142, bezogen auf Engels 1975, 489).

Das verhaltenssteuernde Zeichen konzeptualisiert Wygotski in offensichtlicher Anlehnung an den französischen Aufklärer Condillac,5 der das „künstliche Zeichen“ als kommunikativ hergestelltes Mittel von „höheren“, der situativ-sinnlichen Wahrnehmung überlegenen, „willent4 5

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„Indem er [der Mensch] durch diese Bewegungen auf die Natur außer ihm wirkt und verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur“ (Marx, Das Kapital, Bd. 1, 1972, 192). Winfried Franzen (1996) würdigt Etienne Bonnot de Condillac (17141780) als wichtigsten Erkenntnistheoretiker der französischen Aufklärung, Hauptvertreter des Empirismus in Frankreich und damit Antipoden Descartes’. Selbst von Locke beeinflusst, nahm Condillac starken Einfluss auf die moderne Linguistik, darunter die Sprachtheorien Herders, Humboldts und de Saussures. Zu seinen einflussreichsten sprach- und erkenntnistheoretischen Schriften gehört das Essai sur l’ origine des connaissances humaines von 1746, wo auf sensualistisch-naturphilosophischer Grundlage semiotische Positionen dargelegt sind, die Wygotski in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1992) aufnimmt.

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

lichen Geistesoperationen“ thematisiert hatte und ebenfalls von der Entwicklungsförmigkeit des Zeichens ausgegangen war (zit. nach Franzen 1996, 168 f.). Condillacs’ sensualistische Zeichentheorie historisch und reflexologisch wendend, definiert Wygotski das Zeichen als vermittelnden Reiz, der der willkürlichen inter- oder intrasubjektiven Verhaltenssteuerung dient und der historischen wie ontogenetischen Entwicklung unterliegt. Die besondere Qualität des Zeichens macht für Wygotski (1992, 125) die „gewollte Einmischung des Menschen in die Situation, seine aktive Rolle“ beim „Einführen neuer, auf die Beherrschung des eigenen Verhaltens gerichteter Reize“ aus, was die Emanzipation von der situativen Reizdeterminiertheit ermögliche. Er erläutert das an rudimentären kulturellen Hilfsmitteln wie dem Taschentuchknoten als äußerer Gedächtnisstütze sowie anthropologisch beobachteten archaischen Praktiken wie etwa dem rituellen Werfen von Tierknöcheln zur Entscheidungshilfe oder gedächtnisstützenden Runen.6 Das Verwenden dieser Hilfsmittel interpretiert er als willkürliches Schaffen künstlicher Reize, so genannter „Mittler-Reize“ (ebd. 122), durch die sich das assoziative Reiz-Reaktions-Schema (A-B) in ein vermitteltes Schema (A-X-B) wandle. Die Kulturursprünglichkeit der Zeichen expliziert er anhand der Sprache, die er als aktive „Signifikationstätigkeit“ (ebd. 138, Hvh. im Orig.) qualifiziert, die in nichts mit der tierischen Signalisation vergleichbar sei. Während die auf Signalisation beruhenden tierischen Zerebralverbindungen nur eine reaktive „Widerspiegelung der natürlichen Beziehungen“ seien, zeichne sich die „menschliche Anpassung durch eine aktive Veränderung der Natur“ aus, was die „aktive Veränderung des menschlichen Verhaltens unabdingbar“ mache. So setze der „Mensch [...] künstliche Reize ein, signifiziert das Verhalten und stellt, von außen einwirkend, mit Hilfe von Zeichen neue Verbindungen im Gehirn her“ (Wygotski 1992, 139). Durch den Zeichengebrauch sieht Wygotski den Aufbau und die Funktionsweise der psychischen Orientierung zugunsten willkürlicher Aufmerksamkeit, logischem Gedächtnis, begrifflichem Denken und bedeutungshafter Wahrnehmung transformiert, was er durch Untersuchungen der kindlichen Wahrnehmungs- und Gedächtnisentwicklung verifiziert (Wygotski 1978; 1987). Als Beispiel für die Transformation des Denkens durch Zeichengebrauch nennt er das Fingerrechnen, durch das sich die ursprünglich qualitative Wahrnehmung einer Menge, z. B. einer Herde, zugunsten abstraktiver Quantifikation verändere. 6

Wygotski stützt sich diesbezüglich u.a. auf Lévy-Bruhl und den Sibirienforscher Arsenev. 83

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Dem Verhältnis von Werkzeug und Zeichen – und also dem aus heutiger Sicht geschlechtssensiblen Verhältnis von instrumentellem naturveränderndem Handeln und zeichenvermittelter sozialer Verhaltenssteuerung – nähert er sich in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1931/1992) in drei zunächst logisch-hypothetischen Thesen an: 1.) Beide Entitäten, Werkzeug und Zeichen, ordnet er Hegels Vermittlungsbegriff 7 als allgemeinstem Begriff der Vermitteltheit intelligenten Verhaltens zu. 2.) Den wesentlichsten Unterschied macht er daran fest, dass das Werkzeug „nach außen gerichtet“ sei und Veränderung „am Gegenstand der menschlichen Tätigkeit bezwecken“ solle. Hingegen sei das Zeichen „ein Medium der psychischen Einwirkung auf das Verhalten – auf fremdes wie auf eigenes“ und also „ein Mittel der inneren, auf die Selbststeuerung ausgerichteten Tätigkeiten des Menschen“ (ebd. 154, Hvh. im Orig.). Mithin sieht er 3.) eine Beziehung zwischen Werkzeug und Zeichen, deren (noch erforschungsbedürftiges) genetisches Zusammenwirken sich aus dem „realen Zusammenhang ihrer Entwicklung in der Phylo- und Ontogenese“ (ebd.) ergebe, die jedoch keine plumpe Analogie oder gar Identität darstelle. „Die Beherrschung der Natur und die des Verhaltens sind miteinander verknüpft, wie ja auch die Veränderung der Natur durch den Menschen die Natur des Menschen selbst verändert. Phylogenetisch ist dieser Zusammenhang anhand einzelner loser, allerdings unzweifelhafter Spuren wiederherstellbar. Ontogenetisch wird er experimentell aufzudecken sein.“ (Wygotski 1992, 154)

Ein Übertragen des technischen Werkzeugbegriffes auf das psychisch wirkende Zeichen, wie in Deweys oder Wundts Auffassung der Sprache als „Werkzeug des Denkens“, lehnt er ab, da sie die Unterschiede zwischen Technik und sozialem Verkehr ignoriere und technische Logik generalisiere: „John Dewey, einer der extremsten Vertreter des Pragmatismus, der die Idee einer instrumentellen Logik und Erkenntnistheorie entwickelt hat, definiert die Sprache als Werkzeug der Werkzeuge und überträgt damit die aristotelische Definition der Hand auf das Sprechen.“ (Wygotski 1992, 150/151 bezugnehmend auf Deweys Democracy and Education)

Der Begriff des Werkzeugs als Mittel der „mechanischen, physikalischen und chemischen“ Einflussnahme auf äußere Objekte und „Machtmittel“ zwecksetzender Naturveränderung (Wygotski 1992, 153 unter

7 84

Vgl. Hegel (1840): Enzyklopädie

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Bezug auf Marx8), schreibt er weiter, habe einen anderen Begriffsumfang als das kulturelle Zeichen, dessen Bedeutung erst noch zu ermitteln sei. Indem sich für Wygotski (1992; 2002) die ontogenetische Interiorisierung kultureller Zeichen nicht einfach als Adaption überlieferter Symbole vollzieht, sondern als mehrstufige psychische Transformation, in welcher das Kind die Bedeutung der kommunikativ übermittelten Symbolik im Abgleich mit praktischer Handlung und eigener Erfahrung erst füllt, ergibt sich als vierter Unterschied, dass die Entwicklung der Zeichen, und hier wieder besonders der Sprache, in weit höherem Maße biographie- und milieugeprägt ist und mithin auch im soziokulturellen Austausch weit dynamischer verläuft als die vergleichsweise statische Entwicklung des Werkzeugs.

5.3 Sozialer Ursprung der Zeichen und der höheren psychischen Funktionen Mit der These der soziokulturellen Entstehung verhaltenssteuernder Zeichen verbindet Wygotski (1992) die Annahme ihrer Hergeleitetheit aus kooperativen Tätigkeiten und sozialen Praktiken, die im Wege der psychischen Verinnerlichung Mittel individueller Verhaltenssteuerung werden. Sozietät gilt somit als Grundlage der historischen wie individuellen Bewusstseinsentwicklung, womit Wygotski den bedingten Reflex als physische Seite menschlicher Signifikationstätigkeit zwar anerkennt, dessen psychologische Erklärungskraft jedoch endgültig überschritten sieht. Gestützt auf die anthropologische Annahme der genetischen Mehrschichtigkeit kulturellen Verhaltens9 sowie die psychologische These Bühlers und Janets, Kinder wendeten im Laufe ihrer Entwicklung jene Verhaltensweisen gegenüber sich selbst an, die sie ursprünglich von anderen erfahren haben, schreibt er zur Entwicklung des kulturellen Verhaltens: „Wenn es stimmt, daß das Zeichen zunächst Kommunikationsmittel ist und erst sekundär Mittel des individuellen Verhaltens, dann ist evident, daß die kulturelle Entwicklung auf dem Gebrauch von Zeichen basiert, die zunächst in gesellschaftlicher, äußerer Form in das allgemeine Verhaltenssystem einbezogen wurden.“ (Wygotski 1992, 231) 8 9

Vgl. Karl Marx (1972): Das Kapital Bd. 1, 193 „Genetische Mehrschichtigkeit“ meint die Integration historisch älterer und jüngerer Verhaltensstrukturen, was Wygotski in Anlehnung an Werner, Kretschmer und Blonskij herleitet. 85

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Unter implizitem Bezug auf Feuerbach „daß wir erst durch andere wir selbst werden [...] gilt nicht nur für die Gesamtperson, sondern für die Geschichte jeder einzelnen Funktion“ (Wygotski 1992, 235), 10

formuliert Wygotski als „genetisches Grundgesetz“ der kulturellen Entwicklung: „Jede psychische Funktion tritt in der kulturellen Entwicklung des Kindes zweimal, nämlich auf zwei Ebenen, in Erscheinung – zunächst auf der gesellschaftlichen, dann auf der psychischen Ebene (also zunächst [...] als interpsychische, dann [...] als intrapsychische Kategorie). [...] es versteht sich von selbst, daß der Übergang von außen nach innen den Prozeß selbst, also dessen Struktur und Funktion, verändert. Hinter allen höheren Funktionen und ihren Beziehungen verbergen sich, genetisch gesehen, gesellschaftliche Beziehungen, das heißt reale Beziehungen zwischen Menschen. Aus diesem Grunde ist eines der Hauptprinzipien unseres Willens das Prinzip der Aufteilung der Funktionen auf verschiedene Menschen [...]. Es wäre also angebracht, das, was uns die Geschichte der kulturellen Entwicklung des Kindes offenbart, als ,Soziogenese des höheren Verhaltens’ zu bezeichnen.“ (Wygotski 1992, 236/237)

Sozietät als verbindendes genetisches Prinzip von Kultur, Gesellschaft und Psyche definierend, schließt er analog Marx’ (1983) sechster Feuerbachthese: „daß die psychische Natur des Menschen die Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen darstellt, die nach innen verlagert und zu Funktionen der Persönlichkeit und zu Formen ihrer Struktur geworden ist.“ (Wygotski 1992, 237)

5.4 Soziale Struktur des sprachlichen Zeichens Die soziogenetische Herleitung des Zeichens aus sozialer Hilfestellung, Aufforderung oder Kooperation impliziert bei Wygotski die gnostische Einlagerung soziostruktureller Beziehungen sowie sozial vermittelter gegenständlicher Inhalte im sprachlichen Begriff. Eine Aussage, die für die spätere Erörterung geschlechtlicher Kategorienbildung von besonde10 „Das Bewußtsein der Welt ist also für das Ich vermittelt durch das Bewußtsein des Du. So ist der Mensch der Gott des Menschen. Daß er ist, verdankt er der Natur, daß er Mensch ist, dem Menschen“(Feuerbach 1967, 165, Hvh. im Orig.). 86

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

rem Interesse ist, auch wenn Wygotskis Argumentation in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen noch kaum gesellschaftstheoretisch entwickelt ist. Wygotski thematisiert zur sozialen Strukturierung des Zeichens ausschließlich Machtbeziehungen im Arbeitsprozess, darunter die Funktionsteilung zwischen Aufseher und Sklaven in den „Urformen der Arbeitstätigkeit“ (1992, 233), deren Zusammenfallen im sprachlichen Zeichen zur historischen Herausbildung willkürlicher Aufmerksamkeit bei der Arbeit geführt habe. Mag die Annahme einer solchen Funktionsteilung bei den „Urformen“ der Arbeit mindestens fragwürdig sein, verweist trotzdem das Beispiel ähnlich der Hegel’schen Herr-KnechtDialektik auf eine logisch herleitbare Modalität sprachlicher Bedeutungskonstitution, nämlich die der Symbolisierung funktionsteiliger und mithin standpunkt- und interessensbezogener sozialer Strukturen im Zeichen. Eine weitere Erklärung, die die soziale Vermitteltheit gegenständlicher (dinglicher und sozialer) Inhalte in den Vordergrund rückt, entwickelt Wygotski anhand eines entwicklungspsychologischen Modells der hinweisenden Gebärde als Vorstufe der Sprachentwicklung, die sich in drei Phasen – von der intuitiven, gegenstandsgerichteten Greifbewegung des Kindes über die mütterliche Interpretation der Geste hin zur intersubjektiv geteilten Bedeutung – aufbaut. „Bei der hinweisenden Gebärde handelt es sich zunächst einfach um eine mißglückte, auf einen Gegenstand gerichtete Greifbewegung, die die intendierte Handlung sichtbar macht. Das Kind versucht, nach einem zu weit entfernten Gegenstand zu greifen. Seine Hände sind zu dem Gegenstand hingestreckt, und die Finger führen in der Luft Greifbewegungen aus [...] Hier entsteht zum erstenmal jene hinweisende Bewegung, die wir wohl als hinweisende Geste schlechthin bezeichnen dürfen. Diese kindliche Bewegung ist ein objektives Zeigen auf einen Gegenstand, und mehr nicht. Kommt nun die Mutter dem Kind zu Hilfe und legt seine Bewegungen als ein Hinweisen aus, verändert sich die Situation. Die hinweisende Gebärde wird eine Geste für andere. Als Antwort auf die mißglückte Greifbewegung des Kindes entsteht eine Reaktion, und zwar nicht am Gegenstand, sondern in einem anderen Menschen. Es sind also die anderen, die dieser mißglückten Greifbewegung einen Sinn unterlegen. Und erst in der Folge, wenn das Kind die mißglückte Greifbewegung bereits mit der objektiv gegebenen Situation in Zusammenhang bringt, kann es selbst beginnen, sich zu dieser Bewegung so zu verhalten, als sei sie ein Zeigen. Nun ändert sich [...] die Funktion der Bewegung: Aus der auf einen Gegenstand gerichteten Bewegung wird eine auf einen anderen Menschen gerichtete Bewegung, also ein Verständigungsmittel; das Greifen wird zum Zeigen. Das führt zu einer Reduzierung und Verkürzung 87

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

der Bewegung selbst und zur Herausbildung jener Form der hinweisenden Gebärde, die wir bereits ,Geste schlechthin’ nennen dürfen. Doch um zu einer Geste schlechthin zu werden, muß diese Bewegung zunächst ein Zeigen schlechthin sein. Sie muß objektiv alle Funktionen besitzen, die Voraussetzung des Zeigens und der Geste für andere sind. Sie muß also zunächst für die Mitmenschen als Zeigen deutbar sein. Erst als letztes versteht das Kind seine Geste. Bedeutung und Funktion der Geste werden anfangs von der objektiven Situation und erst dann von den Mitmenschen des Kindes geschaffen. Die hinweisende Gebärde beginnt also als bewegungsmäßiger Hinweis auf etwas, was von anderen verstanden wird, und wird erst später für das Kind selbst zum Zeigen.“ (Wygotski 1992, 234/235)

Wygotski nimmt dieses Modell exemplarisch für die genetische Struktur der Sprache, wobei sich versteht, dass es nur bedingt auf die historische Sprachentstehung anzuwenden ist, weil es die entwickelte Sprachfähigkeit erwachsener Bezugspersonen voraussetzt. Vergleichbar Humboldts dialogischer Vermitteltheit der Welterkenntnis (vgl. Di Cesare 1996) konzeptualisiert Wygotski in diesem Modell symbolische Bedeutungsentwicklung als dreistelligen Prozess, in welchem sich a) die subjektive Intention sowie b) der praktische (materielle oder soziale) Gegenstandsbezug der kindlichen Greifbewegung durch c) intersubjektives Verstehen zur wechselseitig verständlichen Bedeutung erweitern. Bedeutungskonstitution ist demnach verstanden als Vorgang, der intentional-affektive, handlungspraktisch-gegenstandsgerichtete und intersubjektive Momente integriert, wobei sich der affektiv-praktische Umweltbezug in der sozialen Verständigung bricht. Soziale Verständigung ist zugleich der Modus der Konvergenz der realen Handlung zur Symbolik: War die Greifbewegung eine praktische, auf reale Dinge zielende Handlung, transzendiert sie im Wege der Kommunikation zu einer davon abstrahierten symbolischen Geste als Vorstadium des bedeutungshaften sprachlichen Zeichens. Festzuhalten für die Erörterung geschlechtlicher Kategorienbildung wäre hier, dass Wygotskis Konzeptualisierung des sprachlichen Zeichens als einer sozial vermittelten gegenständlichen Bezugnahme die üblicherweise vorgenommene Trennung zwischen hervorbringender Poiesis und intersubjektiver Prâxis aufhebt. Was beinhaltet, dass sprachliche Bedeutungen, indem sie (soziale und dingliche) Gegenstände referieren, immer auch darauf gerichtete Intentionen und soziale Interpretationen repräsentieren, selbst auf der hoch verallgemeinerten Ebene abstrakter begrifflicher Rationalität.

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SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Da am Beispiel der beschriebenen Geste gerne auf Ähnlichkeiten zwischen Wygotski und George H. Mead (1934/1978) hingewiesen wird (Wertsch 1996; Luckmann 1993), dessen Symbolischer Interaktionismus via Erving Goffmanns Veröffentlichung Interaktion und Geschlecht (1994) in der sozialkonstruktivistischen Gendertheorie keine unwesentliche Rolle spielt, sei hier ein kurzer Vergleich angestellt: Weil auch G. H. Mead (1934/1973, 89) Bewusstsein aus der Gesellschaftlichkeit des Menschen herleitet und er die „signifikante Geste“, das bedeutungshafte sprachliche Zeichen, als symbolisch repräsentierte „verallgemeinerte Reaktion des Anderen“ (ebd.) konzipiert, finden sich zweifelsohne gewisse Ähnlichkeiten zu Wygotskis Zeichentheorie. Beide Modelle sehen ein „Selbst-gewahr-Werden“ aus der symbolisch vermittelten Perspektive der Anderen vor, in beiden Theorien ist das sprachliche Symbol ein Mittel des vorausschauenden Denkens. Darüber hinaus allerdings sind tief greifende weltanschaulich-methodologische Diskrepanzen zwischen Meads sozialbehavioristischem und Wygotskis kulturhistorischem Ansatz auszumachen, die erhebliche Unterschiede der Theoriebildungen nach sich ziehen. Ein erster Unterschied ist, dass sich Meads (1973, 89) Gesellschaftsbild auf Kommunikation beschränkt, weshalb auch sein Zeichenkonzept handlungspraktisch-gegenständliche Dimensionen der Bedeutungsbildung ausspart und lediglich soziales Interagieren fokussiert. Im Gegensatz zu Wygotskis dreistelliger Zeichenrelation, die Intentionen, gegenständlich-praktische Bezüge und intersubjektive Deutung synthetisiert, stellt Meads „signifikante Geste“ eine zweistellige Relation vor, in welcher die Reiz-auslösende-Geste mit der darauf erfolgenden Reaktion zusammenfällt. Nach behavioristischem Vorbild werden für Mead (1973, 86) einfache „Gesten zu signifikanten Symbolen, wenn sie im Gesten setzenden Wesen die gleichen Reaktionen implizit auslösen, die sie explizit bei anderen Individuen auslösen“. Der qualitative Sprung von der naturgeschichtlichen zur gesellschaftlichen Interaktion vollzieht sich hier als Umschlag von der hinweisenden zur signifikanten Geste, was im Wesentlichen auf zwei Komponenten beruht: a) Auf der „Vokalisation“, die er am Beispiel von Vögeln expliziert und die „die Fähigkeit“ schafft, „auf die eigenen Reize so zu reagieren, wie es andere tun“. Sowie b) auf der Organisation des „Zentralnervensystems“ (ebd. 105 und 109 f.), das die Koppelung der Reiz-auslösenden-Geste mit der Reaktion des Anderen im Signifikanten Symbol memoriert. So ist es für Mead (1973, 111) „die Beziehung dieses Symbols, dieser vokalen Geste zu einer solchen [zentralnervösen] Reaktionsreihe im Individuum selbst wie auch bei anderen Menschen, die diese vokale Geste zu einem signifikanten Symbol macht“. 89

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Während Wygotski die Sprache als historisch generiertes Signifikationssystem konzeptualisiert, durch das sich das naturgeschichtliche Reiz-Reaktions-Schema zugunsten kultureller Orientierung transformiert, leitet sich also G. H. Meads Symbolik aus unmittelbaren und interindividuell gleichen organismischen Reiz-Reaktions-Verbindungen her. Niedergelegt im und gesteuert über das „Zentralnervensystem“ (Mead 1973, 86), ist in dieser Theorie letztlich auch die „signifikante Geste“, das sprachliche Symbol, biologischer Provenienz. Fasst Wygotski die Sprache als soziokulturell entstandenes Kommunikations- und Denkmittel auf, mit dem der Mensch sich und seine Umwelt interpretiert und verändert, erwächst aus Meads Reiz-Reaktions-Schema eine wirklichkeitsschaffende Potenz. „Da der gesellschaftliche Prozeß Kommunikation voraussetzt ist er in gewisser Weise für das Auftreten neuer Objekte im Erfahrungsbereich des in ihn eingeschalteten individuellen Organismus verantwortlich. In gewisser Weise schaffen organische Prozesse oder Reaktionen selbst Objekte, auf die sie eine Reaktion darstellen; das soll heißen, daß der jeweilige biologische Organismus irgendwie verantwortlich ist für die Existenz der Objekte (im Sinn ihrer Bedeutung für ihn), auf die er physiologisch oder chemisch reagiert. [...] Ebenso schafft der gesellschaftliche Prozeß die Objekte, auf die er reagiert. [...] Die Sprache symbolisiert nicht einfach Situationen oder Objekte [...] sie macht die Existenz oder das Auftreten dieser Situationen oder Objekte erst möglich.“ (G. H. Mead 1934/1973,116/117)

Für Mead sind also Gegenstand und Bedeutung identisch und erscheinen gleichermaßen als kommunikativ hergestelltes Konstrukt. Hingegen unterscheidet Wygotski zwischen der ontologischen Ebene real gegebener Erkenntnisgegenstände und ihrer intersubjektiv vermittelten (Be-)Deutung. Während Wygotski psychosoziale und historisch-kulturelle Entwicklungszusammenhänge des sprachlichen Signifikationssystems heranzieht, konzeptualisiert Mead ein von der Reiz-Reaktions-Psychologie auf gesellschaftliche Prozesse übertragenes Modell.

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6 GENETISCHE WURZELN VON DENKEN UND SPRECHEN

Was sich in Wygotskis Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1931/1992) noch als teils mühsame Synthese von Condillacs Zeichentheorie, Feuerbachs tuistischer Philosophie, Psychologie und marxistischem Gesellschaftsbegriff liest, wird in Denken und Sprechen (1934/ 2002) zu einer experimentell unterfütterten Theorie. Einen wichtigen Schritt bildet dabei die These von den unterschiedlichen genetischen Wurzeln des Sprechens und Denkens und ihrer Verschränkung in der kindlichen Entwicklung, mit der er die Auffassung der soziohistorischen Entstehung zeichenvermittelten menschlichen Denkens erhärtet und die Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen konkretisiert. Die alte philosophische Streitfrage, ob die Sprache Ausdruck apriorischen Denkens sei oder sich umgekehrt das Denken aus dem Sprechen ergebe, quasi ein lautloses Sprechen sei, löst Wygotski (2002) zugunsten eines entwicklungstheoretischen Konzeptes, bei dem Denken und Sprechen weder identisch noch gleichursprünglich sind, sondern sich historisch wie ontogenetisch zu einer interfunktionalen Einheit verbinden. Auch innerhalb dieser Interdependenz ist das Verhältnis der Sprach- und Denkentwicklung „keine konstante, über den ganzen Entwicklungsverlauf unveränderliche Größe“, sondern „verändert sich sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht“ (Wygotski 2002, 136). Wygotski nähert sich diesem Problem auf naturgeschichtlicher wie auch auf ontogenetischer Ebene, indem er die These der unterschiedlichen Wurzeln von Denken und Sprechen aus dem Vergleich der zeitgenössischen Primatenforschung mit entwicklungspsychologischen Beobachtungen herleitet.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

6.1 Naturgeschichtliche Wurzeln von Denken und Sprechen Hinsichtlich der naturgeschichtlichen Entwicklung von Lautäußerung und Intelligenz stützt sich Wygotski (2002) vor allem auf Befunde aus Köhlers, Yerkes und Learneds Androidenforschung, aus denen er im Wesentlichen drei Ergebnisse extrapoliert, die die Intelligenz des Affen von der des Menschen unterscheidet: • Menschenähnliche Intelligenz – die Wygotski im Anschluss an Köhler im einfachen Werkzeuggebrauch der Androiden gegeben sieht – funktioniert unabhängig von der Sprache und ist an überschaubare optische Situationen gebunden. Charakteristisch für diese Art vorkulturellen intelligenten Verhaltens ist „das Fehlen der ,Ideation’, d.h. des Operierens mit Spuren vergangener Stimuli“ (Wygotski 2002, 147). • Lautäußerungen der Affen erfüllen Signalfunktion im unmittelbaren psychischen Kontakt oder sind Ausdruck affektiver Erregung. Sie stehen nicht in Verbindung mit dem Werkzeuggebrauch und haben keinerlei Zeichenfunktion, weisen also nicht auf etwas Gegenständliches hin. • Im sozialen Umgang begleiten zwar tierische Laute gestische und mimische Gebärden. Im Unterschied zu der einfachen menschlichen Zeigegeste beinhalten sie jedoch noch keine Abstraktion, sondern sind beginnende Realhandlungen, ein erster Schritt oder eine Greifbewegung, durch die der Wunsch zu gehen oder das Verlangen nach einer Banane angezeigt wird. In der emotional expressiven und sozialen Funktion der tierischen Phonetik sieht Wygotski die phylogenetischen Ursprünge des Sprechens. Den einfachen situationsgebundenen Werkzeuggebrauch betrachtet er als Wurzel der Intelligenzentwicklung, die noch keine Beziehung zum Sprechen aufweist. Er schließt daraus auf „verschiedene genetische Wurzeln“ von Denken und Sprechen, die sich „auf verschiedenen Wegen“ entwickeln (Wygotski 2002, 151) und sich erst in der menschlichen Kulturgeschichte verknüpfen. Auch zur Ontogenese macht er im Anschluss an Charlotte Bühler und William Stern anfänglich getrennte, naturgeschichtlich präformierte Entwicklungslinien von Denken und Sprechen aus. Schreien, Lallen und die ersten „autonomen“ (spontan gebildeten) Kinderworte interpretiert er als vorintellektuelles Stadium der Sprachentwicklung mit überwiegend sozialer und emotional expressiver Funktion. Parallel wertet er die mit der körperlichen Entwicklung anwachsende Fähigkeit zum Erfassen ein92

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

facher mechanischer Zusammenhänge und zielgerichteter Bewegungen als vorsprachliche Intelligenzentwicklung des ersten Lebensjahres. Mit dem allmählichen Erwerb der Kultursprache, so Wygotski (2002, 153), verschränken sich diese Linien zu einem einheitlichen Entwicklungsprozess und bilden „den Anfang einer völlig neuen Verhaltensform [...], die so charakteristisch für den Menschen ist“.

6.2 Handlungspraktisch-soziale Sprachgenese Typisch für Wygotski ist, dass er die während des zweiten Lebensjahres einsetzende aktive Anwendung der Kultursprache nicht einfach, wie William Stern, als „Entdeckung“ fertiger kultureller Begriffe versteht, die sich durch quantitativen Zuwachs des Wortschatzes auf das Niveau der Erwachsenensprache steigert. Vielmehr definiert er Sprachentwicklung als komplizierten mehrstufigen Prozess, innerhalb dessen sich Kinder sukzessive die historische Bedeutungsstruktur von Begriffen erarbeiten. Bezugnehmend auf ethnologische Forschungen1 sowie Delacroixs und Piagets Untersuchungen der Kindersprache geht er davon aus, „dass das Wort für das Kind lange Zeit eher eine Eigenschaft als ein Symbol des Dings ist: Das Kind eignet sich die äußere Struktur früher als die innere an“ (Wygotski 2002, 167, Hvh. im Orig.).

Modalitäten des Spracherwerbs Entscheidende Modalität des Erwerbs der Kultursprache ist für Wygotski das Zusammenwirken von „äußerer“ intersubjektiver Kommunikation und praktischer Handlung, die mit zunehmender Sprachfähigkeit des Kindes auch auf der intrapsychischen Ebene als symbolvermittelter Denkprozess vollzogen wird. Mit der These des Ineinandergreifens von sozialer Kommunikation und gegenstandsgerichtetem praktischem Handeln als Modus der Sprachentwicklung widerspricht er der gängigen, unter anderem von Piaget (1975) formulierten, These der Parallelität bzw. Unabhängigkeit sozialer, praktischer und sprachlicher Bewusstseinsentwicklung, die er als letztlich metaphysisch befangene Position kritisiert. „Die Sprache ist kein Nebenprodukt der kindlichen Aktivität [...]. Die Sprache und die Handlung nähern sich einander an und das ist von entscheidender Bedeutung sowohl für die Handlung als auch für die Sprache.“ (Wygotski 1987, 527) 1

Laut editorischer Anmerkung bezieht sich Wygotski auf die ethnische Psychologie von Lazarus und Steinthal. 93

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Die von Freud und Piaget vertretene Annahme eines halluzinatorischen „autistischen“ Bewusstseins des vorsprachlichen Kindes lehnt Wygotski ab. Vielmehr betrachtet er Phantasie, wie auch die Fähigkeit zur Lüge und zur Willensäußerung als abstraktive Fähigkeiten, die Sprache als Mittel situationsunabhängigen Denkens voraussetzen (Wygotski 2002; 1987). Sowohl dem Säugling als auch dem sensumotorisch agierenden Kleinkind attestiert er direkten, bedürfnis- und affektgesteuerten Realitätsbezug, der aufgrund der psychophysischen Abhängigkeit des Kindes von seinen Bezugspersonen von Anfang an sozial vermittelt ist. Soziale und kognitive Entwicklung vollzieht sich demzufolge als einheitlicher Prozess, der auch die Entwicklung der Emotionen umschließt. Soziale Kommunikation erweitert nicht bloß die Kontaktfähigkeit, sondern verändert zugleich die intentionale Beziehung des Kindes zu seiner sachlichen Umgebung. Weil sachliche Bezüge im Säuglingsalter ausschließlich über soziale Kontakte hergestellt werden und im Kleinkindalter überwiegend der sozialen Steuerung unterliegen, bricht sich das intentionale und praktische Verhältnis des Kindes zur äußeren Realität über „das Prisma sozialer Beziehungen“, wie es umgekehrt Soziales in Verschränkung mit vielfältigen Verrichtungen und sachbezüglichen Handlungen erfährt (Wygotski 1987, 107). Sozial vermittelte Welterfahrung als Modalität ontogenetischer Sprachentwicklung umschließt demnach von Anfang an soziale, emotiv-volitionale und gegenständlich-operationale Dimensionen, die Kinder anhand kultureller Sinngefüge und Abläufe integrieren. Indem Erwachsene oder ältere Kinder Zusammenhänge benennen und dabei wiederkehrende Entitäten, Handlungen und Strukturen signifizieren, eignet sich das Kind sprachliche Bezeichnungen in kontextuellen Zusammenhängen an und stellt dabei die ersten kulturellen Schemata und handlungspraktisch erschlossenen syntaktischen Bezüge zwischen Personen, Tätigkeiten und Gegenständen her. Hinsichtlich der primären Herausbildung sozialer, respektive geschlechtlicher Schemata und ihrer syntaktischen Verbindungen lässt sich hier ableiten, dass sie entlang kulturell formierter arbeitsteiliger Handlungsmuster verlaufen, aus denen heraus Kinder die Bedeutung von Personen erschließen und zugleich erste, kommunikativ geformte Repräsentationen ihrer eigenen Intentionen und Aktivitäten entwickeln. Da Kindererziehung auf kulturellem Niveau immer auch durch kulturelle Deutungsmuster führt, kann man außerdem annehmen, dass sich die sozial vermittelte Welterfahrung des Kindes von Anfang an in geschlechtlichen Deutungen und Interaktionsmustern seiner Erziehungspersonen bricht.

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SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Verlauf der Sprachentwicklung Die Entwicklung der kindlichen Sprache skizziert Wygotski (1987; 2002) wie folgt: Trug die erste Phase der kindlichen Lautäußerung und Gestik ausschließlich affektiven und sozialen Charakter, bildet sich Wygotski zufolge im Kommunizieren und arbeitsteiligen Handeln mit Erwachsenen als zweite Phase die noch unstabile „autonome“ Kindersprache im Sinne der ersten idiosynkratischen Worte mit hinweisender Funktion aus, die noch auf das Verstehen seitens Erwachsener angewiesen ist. Aus dem darauf aufbauenden Erwerb der symbolischen Kultursprache etwa zu Beginn des zweiten Lebensjahres erwächst allmählich auch eine individuelle kognitive Funktion. Zwar erfasst das Kind noch lange nicht die Bedeutungstiefe und den Umfang kultureller Begriffe, sondern wendet Worte zunächst eher als „Gegenstandssurrogate“ analog seiner bisherigen Erfahrung an (Wygotski 1987; vgl. auch Bruner 1971a). Doch vermag es mit Hilfe der gedächtnisstützenden und hinweisenden Funktion der Worte zunehmend ideell und situationsübergreifend mit Dingen und Verhältnissen zu operieren. Das Kind löst sich allmählich aus der situativen Verhaftetheit und unmittelbaren sozialen Abhängigkeit des vorsprachlichen Denkhandelns. Indem es die Bedeutung von Worten immer mehr zur Ausrichtung seiner Aktivitäten benutzt und seine Aufmerksamkeit anhand des sprachgestützten Gedächtnisses strukturiert, integriert es die zuvor von Erwachsenen ausgeübten Lenkfunktionen in den eigenen psychischen Bereich und richtet seine Tätigkeiten danach aus (Wygotski 2002). Waren das Säuglingsalter und die Phase der „autonomen“ Kindersprache durch intersubjektives Denken und Handeln im Sinne einer arbeitsteiligen Strukturierung der kindlichen Psyche mit Betreuungspersonen geprägt, erwächst aus dem Erwerb der Kultursprache ein Individuationsprozess, bei dem sich das „Ich“ aus der zuvor wahrgenommenen „Kind-Erwachsenen-Einheit“ heraushebt und das Kind einen ersten Begriff von „Ich-Selbst“ erlangt (Wygotski 1987, 210).

6.3 Handlungsleitende Funktion der Sprache Wygotski (2002) untersucht den Prozess kindlicher Individuierung anhand der von Piaget (1974) so benannten „egozentrischen“ Kindersprache, einem monologischen, syntaktisch verkürzten Sprechen des Kindes zu sich selbst, das der Mitteilungsfunktion entbehrt und zwischen dem dritten und achten Lebensjahr vor allem in Begleitung von Handlungen auftritt. 95

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Jean Piaget (1974; 1975) hatte diese Sprechweise erstmals in einem Genfer Kinderheim beobachtet und als Übergangsstadium zwischen frühkindlichem „Autismus“ und dem „sozialisierten“ realistischen Denken älterer Kinder und Erwachsener interpretiert. Piagets Annahme eines ursprünglichen, phantasiehaften und unterbewussten Autismus, der sich eine „aus Imagination und Träumen bestehende Wirklichkeit“ schafft, also nicht real bezogen ist, sondern der Wunscherfüllung dient und „streng individuell“ bleibt (Piaget 1975, 49/50), stützt sich auf Freud. Ähnlich jenem deutet Piaget ontogenetische Entwicklung als einen vom ursprünglich Individuellen zum Sozialen verlaufenden Prozess, der schließlich vom traumhaften zum „gelenkt[en]“, „bewußt[en] Denken“ (Piaget ebd.) führt. Der „egozentrischen“ Sprache misst Piaget eine Brückenfunktion bei, bei der das „Denken des Kindes seiner Struktur nach noch autistisch bleibt [...] die Interessen [des Kindes] aber nicht mehr einfach auf die organische oder spielerische Befriedigung zielen wie der reine Autismus, sondern schon auf die intellektuelle Anpassung, wie das Denken der Erwachsenen.“ (Piaget 1974, 206)

Piaget (1975) sieht „egozentrisches“ Sprechen also als Ausdruck eines noch ich-zentrierten Denkens, das Tätigkeiten lediglich skandiere und mit zunehmender Sozialisierung an der Schwelle zum Schulalter absterbe. Wygotski, der die These vom ursprünglichen Autismus als Solipsismus verwirft, kommt auf Grund seines eingangs beschriebenen weltanschaulich-methodologischen Zuganges und eigener experimenteller Untersuchungen (1987; 2002) der „egozentrischen“ Sprache zum gegenteiligen Schluss: Die Einschätzung dieser Sprechweise als Ausdruck ichbezogenen, traumhaften Denkens bestätigt er nicht. Vielmehr erachtet er sie als „Funktion des realistischen Denkens“, das „sich nicht der Traumlogik, sondern der Logik des vernünftigen, zweckmäßigen Handelns und Denkens annähert“ (Wygotski 2002, 92). Wohl erkennt er jener Sprechform auch eine emotional-expressive Bedeutung zu. Als qualitativ neues Charakteristikum jedoch ermittelt er die zunächst noch mit praktischen Operationen verwobene handlungsleitende Wirkung der egozentrischen Sprache und interpretiert sie als erste Verbindung von Sprache und praktischer Intelligenz, die sich auf dieser Entwicklungsstufe noch in Form laut geäußerten Denkens präsentiert. Aus seinen eigenen Untersuchungen führt Wygotski an, dass der Koeffizient egozentrischen Sprechens vor allem bei Schwierigkeiten der Aufgabenbewältigung ansteigt. Auch macht er eine Entwicklung der egozentrischen Sprache aus, in deren Verlauf sich die praktischen Ope96

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

rationen von Kindern zunehmend in sprachlich korrigierte bzw. geplante Handlungen transformieren. Während etwa ungeübte Kinder zuerst zeichneten und dann ihr Bild interpretierten, rücke dieses Sprechen mit fortschreitender Entwicklung an die Umbruchstellen und den Beginn einer Operation und erfülle die Aufgabe absichtsvoll planenden Denkens, bei dem der Wortgebrauch die Tätigkeit strukturiere und die Tätigkeitspraxis die Bedeutung der Worte präzisiere. „Wir konnten beobachten, wie das Kind in seinen egozentrischen Äußerungen, die seine praktische Tätigkeit begleiten, das Endergebnis und die hauptsächlichen Wendemomente seines praktischen Operierens abbildet und fixiert; wie dieses Sprechen mit der Entwicklung der Tätigkeit des Kindes mehr und mehr zur Mitte und dann zum Anfang der Operation selbst vorrückt und die Funktion der Planung und Lenkung der künftigen Handlung übernimmt. Wir beobachteten, wie sich das Wort, das das Handlungsergebnis ausdrückte, untrennbar mit der Handlung verband und eben deshalb, weil es die wichtigsten Strukturmomente der praktischen intellektuellen Operation in sich abbildete, schließlich selbst begann, die Handlung des Kindes zu erhellen und zu lenken, indem es sie einer Absicht und einem Plan unterordnete und auf das Niveau zweckmäßiger Tätigkeit erhob.“ (Wygotski 2002, 88)

Zur Verbindung von Sprechen und Denken schreibt er: „Die egozentrische Sprache verschmilzt synkretisch mit der Handlung des Kindes. [...] Das Kind denkt sich nicht mit Hilfe der Sprache irgendeine praktische Verhaltensweise aus. Im Gegenteil gewinnt die [kindliche] Sprache erst dadurch bestimmte logische Formen, wird erst dadurch intellektualisiert, daß sie die praktischen intellektuellen Operationen des Kindes widerspiegelt.“ (Wygotski 1987, 526/527)

Auch die ontogenetische Entwicklung von Sprechen und Handeln ist demzufolge ein reziproker Prozess, bei dem Kinder anfangs die Bedeutung der im sozialen Umgang erworbenen Worte praktisch erschließen, was sie umgekehrt zunehmend in die Lage versetzt, ihre Praxis mittels der Sprache vorausschauend zu organisieren. Lurija (1982, 171) bezeichnet diese primäre Form handlungsverbundenen Sprechens als „sympraktisches“ Sprechen, auf dem später das „synsemantische“ Sprechen und Denken aufbaut. Gleichwohl sich das zwei- bis dreijährige Kind zuerst nur der gegenständlichen Referenz und Syntax der historisch herausentwickelten Sprache (Wygotski 2002; vgl. auch Bruner 1971a) bedient, deren Bedeutung und logische Struktur es gerade erst zu erschließen beginnt, wird es durch den Wortgebrauch in kulturelle Sinngefüge, Erfahrungen und Zwecksetzungen eingeführt. Das heißt, das

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Kind individuiert sich, indem es sein Denkhandeln unter immer selbstständigerer Verwendung historischer Denkmittel strukturiert und sprachlich repräsentierte Formen sozialer Erfahrung und Instruktion psychisch integriert. Hinsichtlich der Genderfrage beinhaltet das, dass das Kind auch zunehmend geschlechtliche Kategorien zur selbstständigen Ausrichtung seiner Orientierung nutzt. Entgegen Piaget wertet Wygotski die egozentrische Sprache keineswegs als absterbendes Phänomen. Aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem sprachlichen Denken Erwachsener, die in funktionaler Hinsicht in der Abzweigung des kognitiven Sprechens aus der Mitteilungsfunktion sowie in struktureller Hinsicht in syntaktischen und semantischen Verschiebungen, Kürzungen, Aussparungen besteht, beurteilt er die „egozentrische“ Sprache vielmehr als „Übergangsform des äußeren zum inneren Sprechen“ (Wygotski 2002, 96) und also als Vorläufer der inneren Sprache, die ab dem Schulalter möglich wird. „Wenn wir Piagets Faktenmaterial aufmerksam analysieren, erkennen wir, dass er, ohne es selbst zu bemerken, anschaulich darstellt, auf welche Weise äußeres Sprechen in inneres übergeht. Er hat gezeigt, dass egozentrisches Sprechen seiner psychologischen Funktion nach inneres und seiner physiologischen Natur nach äußeres Sprechen ist. Sprechen wird somit früher ein psychologisch inneres, als es wirklich inneres Sprechen wird.“ (Wygotski 2002, 95)

Die innere Sprache versteht Wygotski (2002) als sprachliches Denken, das zwar nicht die alleinige, so doch die Hauptform des Denkens Erwachsener darstellt. Daneben stehen für Wygotski Aspekte praktischen und mechanischen Denkens, die nicht zur Sprache gelangen. Aus meiner Sicht gehören dazu auch Habitualisierungen, soziales Erfahrungswissen und intentionale Deutungen, die nicht bewusst werden, weil die betreffende Person keinen sprachlichen Begriff dafür hat oder auch die Kultursprache keine entsprechenden sprachlichen Ausdrücke vorhält. Auch definiert Wygotski (ebd. 442 f.) die innere Sprache nicht einfach als lautreduziertes Sprechen, sondern als eine syntaktisch verdichtete, prädikative Sprache, bei der das Subjekt des Satzes mit dem Prädikat zusammenfällt. Die innere Sprache ist wesentlich idiomatischer, das heißt, sie bindet sich viel enger an persönliche Perspektiven, Motive, biographische Erfahrungen und beinhaltet reichere Sinnaspekte als die kommunikative Sprache, mit der sie in ständiger Wechselbeziehung steht und deren intentionalen Subtext sie bildet. Bei Erregung oder komplizierten Verrichtungen tritt die innere Sprache auch bei Erwachsenen wieder syntaktisch entfaltet und lautlich hervor, bahnt sich gewissermaßen den Weg durch die sinnärmere „phasische“ Seite der Sprache und 98

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

gibt ihre funktionale Ähnlichkeit mit der egozentrischen Sprache zu erkennen (Wygotski 2002, 402). Denken und Sprechen sind Wygotski zufolge also auch auf entwickeltem Sprachniveau nicht identisch, sondern überlappen und verschränken sich in dem wichtigen Bereich des sprachlichen Denkens. Mit der Dialektik von äußerer und innerer Sprache korrespondiert die Dialektik von historisch gewachsener (denotativer) Bedeutung und persönlichem (idiosynkratischem) Sinn, was der Interdependenz von ontogenetischer Praxis- und Sprachentwicklung entspricht. Der persönliche Sinn, die Intentionen und Motive der hinter den Worten stehenden Gedanken gehen keineswegs in der konventionellen Sprachanwendung auf. Gedanke und Wort verlaufen weder parallel noch fallen sie zusammen, sondern bilden eine flexible, sich wechselseitig durchdringende Einheit. Die „Beziehung des Gedanken zum Wort ist vor allem [...] ein Prozess – die Bewegung vom Gedanken zum Wort und umgekehrt vom Wort zum Gedanken“, der eine Reihe von Entwicklungsphasen durchläuft (Wygotski 2002, 399). Mithin äußert sich der Gedanke nicht einfach im kulturell präformierten Wort, sondern „vollzieht“ sich in ihm (ebd.). Das heißt, die näher an Motiven, Gefühlen und persönlichen Erfahrungen liegenden Gedanken objektivieren sich in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, indem sie spezifische semantisch-syntaktische Verbindungen eingehen. Wygotski sieht das als ein wesentliches Moment der ontogenetischen wie auch der historischen Sprachentwicklung an: „Die Inkongruenz [von innerem und äußerem Sprechen] hindert den Gedanken nicht, sich im Wort auszudrücken, sondern ist eine notwendige Bedingung dafür, dass sich die Bewegung vom Gedanken zum Wort realisieren“ und zu persönlichen Sinnpointierungen führen (ebd. 405).

6.4 Vom Sozialen zum Individuellen Zusammenfassend bestimmt Wygotski (2002) ontogenetische Sprachentwicklung als einen von der handlungsförmig-sozialen Verständigung zum individuellen Denken führenden Prozess, der sich von der kommunikativen sozialen über die egozentrische hin zur inneren Sprache entwickelt. Die intellektuelle Funktion sprachlichen Denkens zweigt sich dabei aus der als primär angenommenen kommunikativen Sprache ab, mit der sie weiter interagiert: „Ursprungsfunktion des Sprechens ist die Funktion der Mitteilung, der sozialen Beziehung, der Einwirkung auf andere von Seiten sowohl der Erwachsenen als auch des Kindes.[...] Erst im weiteren Wachstumsprozess entwickelt

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

sich das multifunktionale Sprechen nach dem Prinzip der Differenzierung einzelner Funktionen und teilt sich in einem bestimmten Alter ziemlich klar in egozentrisches und kommunikatives Sprechen. [...] Egozentrisches Sprechen entsteht demnach auf der Basis sozialen Sprechens durch Übertragung von sozialen Verhaltensformen, von Formen kollektiver Zusammenarbeit durch das Kind in die Sphäre der persönlichen psychischen Funktionen [...] Auf der Basis des egozentrischen, vom sozialen getrennten Sprechens entsteht dann beim Kind das innere Sprechen, das die Grundlage seines Denkens bildet – sowohl des autistischen wie des logischen.“ (Wygotski 2002, 94/95)

Mit dem Entwicklungsschema soziales – egozentrisches – inneres Sprechen kehrt Wygotski schließlich Piagets Vorstellung einer vom intimen autistischen zum sozialisierten logischen Denken verlaufenden Enkulturation um und stellt die These der Herausentwicklung des individuellen Denkens aus dem sozialen Sprechen und Handeln entgegen. Er bekräftigt damit die Annahme der Historizität der menschlichen Psyche und präzisiert zugleich seine historische Auffassung der Logik, der zufolge die „Logik der Handlung“, genauer gesagt, die Logik der kommunizierten Handlung, „der Logik des Denkens vorausgeht“ (Wygotski 2002, 118). Eine Sichtweise, die hinsichtlich ontogenetischer wie auch soziohistorisch-epistemischer Verläufe geschlechtlicher Kategorienbildung von hohem Interesse ist. Die Entwicklung des Verhältnisses von Sprechen und Denken ordnet Wygotski (2002, 160/161) grob in vier Stadien: 1. Das erste Stadium ist das des vorsprachlichen, handlungspraktischen Denkens und der vorintellektuellen Sprache. 2. Das zweite Stadium ist das Stadium der sozialen Sprache, die mit den ersten gerichteten praktischen Operationen und bewussten sozialen Erfahrungen zusammenfällt. Es entspricht der „naiven Physik“ auf der Ebene des praktischen Denkens. Der „naive“ Gebrauch kultureller Zeichen, bei dem das Kind die historische Bedeutung der von ihm benutzten Zeichens noch nicht erfasst, geht dabei, wie er mit Piaget argumentiert, der logischen gedanklichen Operation voraus. „Das Kind lernt die Syntax des Sprechens früher als die Syntax des Denkens“ (Wygotski 2002,. 160). 3. Aus der Verarbeitung „naiver psychologischer Erfahrungen“ (ebd.) erwächst das Stadium der äußeren Zeichen und äußeren Operation. Gemeint ist das egozentrische Sprechen oder das Fingerrechnen, mit deren Hilfe das Kind innere Aufgaben löst. 4. Das Stadium des „Nach-innen-Wachsens“ bezeichnet bildlich, dass äußere Operationen in psychische transformiert werden. Beispiele 100

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wären Kopfrechnen, stumme Arithmetik und das zeichengestützte „logische Gedächtnis“ (ebd. 161), das Wechselbeziehungen zwischen inneren Zeichen herstellt. Auf dem Gebiet des Sprechens entspricht dem die innere Sprache. Aus der „Abhängigkeit der Entwicklung des Denkens vom Sprechen, von den Mitteln des Denkens und von den sozialen und kulturellen Erfahrungen des Kindes“ (Wygotski 2002, 170, Hvh. im Orig.) leitet er in Zusammenschau mit den Befunden der Primatenforschung als Hauptergebnis dieser Untersuchung ab, „dass die eine Entwicklung nicht einfach eine direkte Fortsetzung der anderen ist, sondern dass sich auch der Entwicklungstyp selbst von einem biologischen zu einem gesellschaftlich-historischen gewandelt hat. (Wygotski 2002, 170, Hvh. im Orig.) „Damit überschreitet das Problem von Denken und Sprechen aber die methodologischen Grenzen der Naturwissenschaft und verwandelt sich in das zentrale Problem der historischen Psychologie.“ (Wygotski 2002, 170)

Mit der Einschränkung, dass die kindliche Sprachentwicklung durch eine existierende Kultursprache forciert wird – was für die kulturelle Sprachevolution, die lediglich auf vorausgegangener Symbolisation aufbaut, nicht gilt – schließt Wygotski (2002, 224 f.) von der ontogenetischen auf die gattungsgeschichtliche Sprachgenetik. Auch diesbezüglich nimmt er eine anfänglich enge Abhängigkeit kommunikativer Äußerungen vom praktischen Handeln an, aus der sich die verballogische Systematik der Sprache generiert. Er stützt diese Hypothese mit dem etymologischen Hinweis auf die ursprüngliche Anschaulichkeit und referentielle Instabilität überlieferter Worte, was er als Indiz für die konkrete Kontexthaftung kollektiven Handlungssprechens interpretiert. Die Annahme handlungsverwoben-kommunikativer Sprachursprünge wurde in der nachfolgenden historiolinguistischen Forschung erhärtet. Joachim Hoffmann (1986) zeigt unter Bezugnahme auf Untersuchungen von Klix (1980) und Cohen (1983) zur Klassifizierungslogik so genannter Naturvölker,2 dass diese eng mit den jeweiligen Handlungsbedingungen korrespondiert. Beispielsweise teilten die nordamerikanischen Navahos analog ihres Jagdverhaltens alle Tiere in laufende, fliegende und kriechende Tiere ein, die sie wiederum in Reisende auf dem Wasser, auf der Erde, bei Tag und bei Nacht untergliederten. Auch im 2

Vgl. Klix, F. (1980): Erwachendes Denken, Berlin und Cohen, G. (1983): The psychology of cognition, London 101

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interkulturellen Vergleich fielen, wie Hoffmann (1986, 19) mit Blick auf die Differenziertheit der Ausdrücke für Schnee bei den Inuit bzw. der Ausdrücke für Kamele bei den Arabern argumentiert, „Unterschiede in den Klassifikationssystemen auf, die auf die Wirkungen unterschiedlicher Verhaltensnotwendigkeiten verweisen“. „Dort, wo notwendige Verhaltensalternativen Unterscheidungen erzwingen, [...] finden [sie] ihren Niederschlag in der Sprache. Dort, wo Unterscheidungen zwar wahrgenommen werden können, aber für die Verhaltensdynamik nicht bedeutsam sind, führen sie auch zu keinen stabilen begrifflichen Differenzierungen“ (Hoffmann ebd.).

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7 WEITERE THEORIEBILDUNG V E R H ÄL T N I S V O N S P R AC H E

ZUM UND

H AN D L U N G

Die These der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen unter Herleitung der Logik des Denkens aus der kommunizierten Handlung wurde in der sowjetischen Psychologie der 1960er und 70er Jahre insbesondere von Galperin untersucht. In der westlichen Forschung ist sie vor allem von kognitionspsychologisch orientierten Theorierichtungen (u.a. Bruner, Cohen, Dux) weiter verfolgt worden. Die erkenntnistheoretische Brisanz dieser These besteht darin, die Genese sprachlicher Logik einschließlich syntaktischer Strukturen auf handlungspraktische intersubjektive und also historische Verläufe zurückzuführen. Womit eine völlig andere Sicht auf Entstehungszusammenhänge und Wirkungsweisen sozialer, einschließlich geschlechtlicher Kategorien möglich wird, als die metaphysische bzw. biologistische Annahme einer apriorischen oder angeborenen Sprachlogik vorgibt, wie sie heute noch von Noam Chomsky vertreten wird.

7.1 Weiterentwicklungen in der s ow j e t i s c h e n P s yc h o l o g i e Galperins (1967, 1979, 1980) experimentellen Untersuchungen zufolge basiert jede intellektuelle Handlung genetisch auf der entfalteten „materiellen“ (gegenständlichen) und „materialisierten“ (vergegenständlichenden) Handlung. Erst auf einem entwickelten äußeren Handlungsniveau geht die intellektuelle Handlung in eine syntaktisch entfaltete kommunikative Sprache und schließlich in die innere Sprache über. Man

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kann bei Galperin kritisieren, dass er sich vornehmlich „materiellen“ und hervorbringenden „materialisierten“ Tätigkeiten unter Vernachlässigung der sozialen Modalitäten praktischen Handelns widmet. Ungeachtet dessen sind die Folgerungen von Interesse, die Lurija aus Galperins Forschung ableitet. Auch Lurija (1982, 130 f. und 299 f.) hat sich in entwicklungspsychologischen und anthropologischen Studien eingehend mit dem genetischen Verhältnis von Sprache und Handlung auseinandergesetzt: Der etablierten linguistischen These von der Priorität der ganzen Aussage (des ganzen Satzes) vor dem einzelnen Wort folgend, vertritt Lurija (1987) die Annahme, dass die menschliche Sprache – analog der kindlichen Entwicklung – zunächst aus einzelnen Worten bzw. Lauten bestand, deren situative Bedeutung und grammatikalische Position an ganzheitliche Handlungskontexte gebunden waren. Ähnlich wie der komplexe Einwortsatz des Kleinkindes in manchen Fällen ein Subjekt, in manchen ein Objekt vertritt, während die anderen Satzteile noch in einer Geste oder Handlung bestehen, geht Lurija (ebd. 168/169) davon aus, dass auch die gattungsgeschichtlichen Sprachursprünge „sympraktischen“ Charakter trugen; erst in späteren Etappen haben sich daraus „synsemantische“ Strukturen entwickelt, bei denen die Handlung bzw. Geste auf das Verb übergegangen sei. So versteht Lurija (1982, 170/ 171) die syntaktisch gegliederte Phrase als „einheitliches, als Reihe organisiertes System“, das „seiner Herkunft nach mit der ursprünglich ,sympraktischen’ Sprache zusammenhängt, die stets die Struktur ,Wunsch - Name’ oder ,Name - Handlung’ hat“ und „mitunter kompliziertere Formen (,Name - Handlung - Objekt’) an[nimmt]“. Auf die syntagmatische Valenz, das heißt die Ergänzung fordernde Unvollständigkeit handlungsbezogener Verben (beispielsweise verlangt „lieben“ „wen“; „bauen“ verlangt „was, „womit“, „wo“) hinweisend, die er als aus sympraktischen Zusammenhängen herausgelöste Wortverbindungen (Syntagmenketten) interpretiert, hält Lurija Chomskys nativistischer Theorie entgegen, dass „sich die Sprache [...] auf der Grundlage der realen Handlung entwickelt, die eine entfaltete praktische Grundlage für die künftige Beziehung ,Subjekt → Prädikat → Objekt’ schaffen, die den einfachsten, den ,Kern’-Strukturen, der Sprache zugrunde liegen.“ (Lurija 1982, 181 bezugnehmend auf Lurija 1975; McNeill 1970 und Bruner 1973)

Semantik und Syntax der Sprache gehen demzufolge auf handlungspraktische Logiken zurück.

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Entwicklungsgeschichtlich unterscheidet Lurija (1982, 172 f.; vgl. auch Bruner/Olson 1984) zwei Arten sprachlicher Logik: • die früher entwickelte syntagmatische Struktur der Ereigniskommunikation, die praktischen Ereignis- oder Handlungsketten folgt (der Hund bellt, dieses Haus brennt) sowie • die später herausgebildete paradigmatische Aussage der Relationskommunikation, die kategoriale Urteile enthält (Hund und Katze sind Haustiere, Holz brennt). Syntagmatisches Sprechen versteht Lurija als historisch und ontogenetisch ursprünglichere Form, auf der die logisch dichtere Paradigmatik des kategorialen Denkens aufbaut, die selbstverständlich mit der Syntax korrespondiert. Ich komme auf dieses Problem zurück.

7.2 Weiterentwicklungen in der w e s t l i c h e n P s yc h o l i n g u i s t i k Zu den namhaftesten amerikanischen PsycholinguistInnen, die die Verbindung von Sprechen, Denken und Handeln unter Anerkennung der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen bearbeiteten, gehört der schon erwähnte kognitionspsychologisch arbeitende Jerome Bruner. In einer Entwicklungsstudie thematisiert Bruner (1987) – ähnlich Wygotski – die körperliche und psychische Unreife des menschlichen Säuglings als artspezifischen Entwicklungsraum, in dem „natürliche Kontexte“ in sozial systematisierte „Formate“ (Bruner 1987,114) überführt werden, welche die Vorläuferstrukturen von Semantik und Syntax bildeten. Gestützt auf Ergebnisse der Säuglingsforschung geht Bruner (ebd. 101) von einer phylogenetischen Mindestausrüstung des Kindes aus, die er als „Mittel-Zweck-Bereitschaft, Sensibilität für transaktionale Prozesse, systematische Organisation der Erfahrung sowie Abstraktheit der Regelbildung" definiert. Als entscheidend für die Entwicklung kultureller Formate und deren Transformation in Semantik und Syntax erachtet Bruner den handlungspraktisch-verbalen Dialog mit sprachfähigen Personen in Alltag und Spiel, was er anhand zweier Fallstudien dokumentiert. Das Bereitstellen eines „Language Acquisition Support System“ (ebd. 102) genannten Spracherwerbs-Hilfesystems seitens Erwachsener, das keineswegs nur sprachlicher, sondern auch praktischer Natur sei, sieht er als grundlegend an für die kindliche Enkulturation. Pragmatisch argumentierend, schließt Bruner zwar Noam Chomskys Hypothese einer angeborenen universellen Grammatik (Language Acquisition Device, kurz LAD) nicht unbedingt aus. Jedoch hält er sie in105

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soweit für lässlich, als die erwähnten phylogenetischen Anlagen ein bestimmtes sozial entwickeltes „Funktionsstadium erreicht haben müssen, bevor irgendein LAD damit beginnen kann, ,sprachliche Hypothesen’ hervorzubringen“ (Bruner, ebd. 24). Weit größeres Gewicht bei der Grammatikentwicklung misst er kanonisch wiederholten Sprechakten sowie der in Alltagspraxis und Spiel vollzogenen Wandlung von Kontexten und Perspektivwechseln bei, anhand derer das Kind Objektkonstanz und syntaktische Schemata bildet. Semantikentwicklung führt Bruner im Anschluss an Hilary Putnams realistische Sprachphilosophie auf zwei Grundparadigmen zurück: den gestischen bzw. sprachlichen Hinweis (Deixis) sowie die gemeinsame Aufmerksamkeit auf reale Objekte, über die sich – ähnlich wie bei Wygotski – Bedeutung konstituiert. So sieht er Semantik im Wesentlichen über gemeinsame Aufmerksamkeit auf und arbeitsteilige Handlungen an Objekten entwickelt, was durch den absichtsvollen Hinweis eingeleitet werde und unabhängig von begrifflichen Diskrepanzen zwischen Erwachsenen und Kindern funktioniere. Bei „der Steuerung der gemeinsamen Aufmerksamkeit“, schreibt Bruner (1987, 55 Hvh. im Orig.), „geht es nicht nur um eine Beziehung zwischen etwas im Kopf einer Person und etwas in der Welt, wie das im klassischen ,BedeutungsDreieck’ von Ogden und Richards ausgesagt wird. Vielmehr wird der Vorgang durch Arbeitsteilung charakterisiert“. Wichtig sei zudem, „daß das Hinweisen eine Zielstruktur aufweist. Nicht nur die Hinweisabsicht spielt eine Rolle, sondern auch die hierzu gewählten Mittel und Wege sowie die Angabe von Kriterien, wann das Ziel erreicht ist“ (ebd.). Bedeutungsentwicklung sieht er somit als Frage, „wie die Menschen gegenseitig ihre Aufmerksamkeit mit sprachlichen Mitteln beeinflussen und ausrichten“ (ebd. 55/56). Wie sprachliche Aufmerksamkeit die vorsprachliche überlagert, beantwortet er in Beobachtung entwicklungssensibler Erwachsenen-Kind-Interaktion, die er, wie die meisten EntwicklungspsychologInnen, als Mutter-Kind-Interaktion reflektiert. Vergleicht man Bruners Schema der Semantikentwicklung mit Wygotskis (1992) Modell, so stellt sich in beiden die Bedeutung des Zeichens aus der willkürlichen sozialen Lenkung von Aufmerksamkeit im Rahmen handlungspraktisch-sozialer Kooperation her. Mit dem Unterschied, dass Wygotski stärker auch emotiv-intentionale Aspekte sowie die Reziprozität von sprachlicher Kommunikation und Tätigkeitserfahrung thematisiert. Eine radikalere handlungstheoretische Position als Bruner vertritt der ebenfalls kognitionspsychologisch argumentierende Kulturtheoretiker und Soziologe Günter Dux (2005), der sich offensichtlich auch an Wy106

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gotski und Lurija orientiert, auf deren Lektüre er allerdings nur einleitend hinweist. In seiner umfangreichen Monographie mit dem Titel Historisch-genetische Theorie der Kultur entwirft er in weitgreifender Auseinandersetzung mit Anthropologie, Kultur- und Philosophiegeschichte eine ebensolche Theorie. Ich konzentriere mich auf seine sprachtheoretischen Einlassungen: Auch Dux geht davon aus, dass sich die phylogenetischen Grundlagen der menschlichen Psyche in der Ontogenese entlang historischgesellschaftlicher Strukturen transformieren. Hinsichtlich der kulturellen Entwicklung des Denkens spricht er von einer „materialen Logik des Weltverstehens“, die „von der Struktur der Handlung bestimmt“ sei (Dux 2005, 117). Im historisch frühen Denken bis etwa zur Renaissance habe sich diese Denkform als „Subjektlogik“ dargestellt, in der „Erklärungen für das, was in der Welt vorgefunden wird und geschieht“, so gewonnen werden, „als ob sie von einem handelnden Agens hervorgebracht respektive aus ihm herausgesetzt würden (ebd. Hvh. im Orig.). Jene Subjektlogik habe sich in der Moderne, wo sich der Mensch selbstreflexiv zu seinem Handeln bestimme, in die abstraktere Idee des absoluten Geistes bzw. einen teleologischen Konstruktivismus transformiert. Im Unterschied zum frühen Denken basiere der neuzeitliche Konstruktivismus auf einer depersonalisierten Logik, die nicht mehr von der anthropomorphen Gestalt einer göttlichen Ursache, sondern einer sinnhaften materiellen Ordnung der Welt ausgehe. Die historisch ältere subjektivistische Logik, die er mit Piagets Beobachtung des frühkindlichen Animismus vergleicht, erklärt Dux genetisch aus dem Zusammenhang von Sozietät und Handeln, genauer damit, „daß jedes Gattungsmitglied in der frühen Ontogenese die kategorialen Strukturen der Interaktion mit einem immer schon kompetenteren anderen ausbildet“ (ebd.). Weil nun „die sorgenden anderen die schlechterdings dominanten Objekte im Umfeld des nachwachsenden Gattungsmitgliedes sind, [...] bildet es den Objekten und Ereignissen der Welt die Struktur der Handlung ein“ (ebd.). Mithin sieht Dux in der Handlungsstruktur die Matrix für die basale Kategorisierung von Ereignissen und Objekten, aus der auch die Auffassung von Kausalität, Zeit, Raum, Substanz und Identität erwachse. An der handlungsförmig erschlossenen „Materialität der Welt“ entwickle sich, so Dux (2005, 122), die „Medialität des Denkens wie der Sprache“. Dabei werde „im frühen Denken [...] die Medialität der Materialität verbunden gehalten“, mit anderen Worten also sympraktisch gehandhabt. „Erst nach einem langen Prozeß der Verstandeskultur, in dem sich Subjekt und Welt dezentrieren, bringt sich die Differenz zwischen der Materialität und dem Denken in einer Weise zu Bewußtsein, daß sie thematisch wird“ (ebd.). Sprich, dass das 107

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Denken als solches zum Gegenstand des Bewusstseins wird. Zu den bis heute geltenden Eigentümlichkeiten subjektivistischer Logik gehöre, dass Handlungen von den Tuenden und ihren Interpreten als eine vom intentional planenden Subjekt zum Ziel verlaufende, zweistellige Relation verstanden werden, womit man Handlungen und Ereignisse als „aus dem Subjekt herausgesetzt“ (Dux 2005, 120) begreife. Während die Wahrnehmung der Handlung vom Subjekt zum Ding verlaufe, gehe im Falle der Erklärung eines Phänomens „das Denken vom Phänomen aus“, führe „es in die Subjektivität des Agens zurück, um aus ihm herausgesetzt zu sehen“ (ebd. 120). In beiden Fällen sei auch im heutigen Verständnis das Subjekt in der Lage, Geschehnisse in Gang zu bringen und Anfänge zu setzen. Zur Erläuterung führt er an, dass man noch heute die Frage nach dem Grund der Senkung des Diskontsatzes mit dem Hinweis beantworte, die Zentralbank habe die Konjunktur anschieben wollen. Diese Art explikativer Inanspruchnahme der subjekthaften Handlung zeige: „Der Rekurs auf das Subjekt als Explikans für das Explikandum hat ein fundamentum in re“ (ebd. 120, Hvh. im Orig.). Womit gesagt ist, dass sich der Begriff des verursachenden Subjektes aus seiner Handlung an der Sache herleitet. Gattungsgeschichtliche Sprachentstehung wie Wygotski und Bruner aus der Ontogenese rekonstruierend, erklärt Dux auch die semantischsyntaktische Sprachstruktur aus der Organisation der Handlung. Leitender Gedanke ist für ihn, dass vor der Sprache ein pragmatisch-kognitiver Kompetenzerwerb erfolgt sein müsse, aus dem Semantik und Syntax hervorgehen. „Denn wenn [...] die Sprache Mittel im Prozeß ist, um Handlungskompetenz zu gewinnen und die Welt zu organisieren, dann kann sie sich einzig mit und vermöge der Organisation der Handlung entwickeln [...] Stellt man in Rechnung, daß Sprache dadurch Mittel der Entwicklung der Handlungskompetenz und Organisation der Welt ist, dass sie im Prozeß einer reflektierenden Abstraktion deren Strukturen objektiviert [...], wird klar, daß Sprache in ihren eigenen Strukturen erst entwickelt werden kann, wenn die Organisation von Handlung und Welt vorsprachlich schon angelaufen ist.“ (Dux, 2005, 287/288)

Spracherwerb steigt demnach in den Bildungsprozess der Handlung und die „Organisation der Welt“ ein und „objektiviert“ (ebd.) durch reflektierende Abstraktion die Struktur der Handlung wie der wahrgenommenen Welt, indem er sie symbolisch vergegenwärtigt. Auf entwickeltem Niveau „nutzt das Gehirn die semiotischen Möglichkeiten“ der Sprache, „indem es sie in den Bildungsprozeß der Handlung integriert und letztere dadurch effektiviert“ (ebd. 289). Ähnlich Wygotski sieht Dux die kindliche Sprachentwicklung nicht als Übernahme der Kultursprache, 108

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sondern als eigenständigen Entwicklungsprozess, der durch die Kommunikation mit Erwachsenen „effektiviert“ werde, so dass „sich die Strukturen“ der kindlichen Sprachbildung „in den jeweiligen Strukturen der Sprache des Umfeldes konkretisieren“ (ebd. 287). Mit Chomskys nativistischer generativer Grammatik, die dem Kleinstkind die grammatikalische Reflexionsleistung eines Linguisten abverlange, geht Dux hart ins Gericht. Die Annahme einer angeborenen grammatikalischen Tiefenstruktur verleugne den geistig-soziokulturellen Charakter der Sprache und verlagere „die ganze sinnhafte Intentionalität, die in der Sprache mitgeführt wird, in das naturale Stratum zurück“ (ebd. 285). Wie vor ihm schon Lurija (1982) kritisiert er Chomskys Hierarchisierung einer semantischen Oberflächen- und grammatikalischen Tiefenstruktur mit dem Argument, ohne Semantik sei die syntaktische Organisation der Lexik genetisch nicht vorstellbar. So stelle sich die syntaktische Subjekt-Objekt-Relation eines Satzes aus der Logik der Handlungsfolge her. Selbst in der Wahrnehmung des Kleinkindes schlage nicht der Hund den Mann, sondern der Mann den Hund, was semantisch auch in der Syntax des Passivsatzes, in der der Hund vom Mann geschlagen wird, erhalten bleibe. Vergleicht man Dux mit Wygotski, findet man Gemeinsamkeiten in der These der Handlungsursprünglichkeit und sympraktischen Entstehung der Sprache sowie der hieraus erschlossenen Historizität der Logik. Unterschiede liegen vor allem in der Gewichtung von Intersubjektivität. Während Dux von einem zweistelligen symbolischen Relationsschema, nämlich „Subjekt-(Handlungs)ziel“ spricht, konzeptualisiert Wygotski mit dem Schema „Subjekt-Kommunikation-Handlungsziel“ eine dreistellige Relation, bei der sich die gegenstandsgerichtete Intention durch intersubjektive Deutung und Lenkung der Aufmerksamkeit transformiert. Wie ausgeführt, bricht sich demnach bei Wygotski (1987) die Organisation der Handlung wie letztlich auch die symbolisch repräsentierte Wirklichkeit im Prisma sozialer Sinngebung, wodurch die Sprache das Handeln nicht nur, wie Dux (2005, 289) schreibt, „effektiviert“, sondern in Rückkoppelung mit der Handlungserfahrung grundlegend organisiert.

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8 H AN D L U N G S P R AK T I S C H - S O Z I AL E S T R U K T U R D E R S P R AC H E U N D S O Z I AL E I D E N T I T ÄT

Mag Wygotskis Theorie von den unterschiedlichen Wurzeln des Denkens und Sprechens noch einer dualistischen Auffassung von Téchnēund Prâxis-Denken verhaftet gewesen sein. Und mag seine Verortung naturgeschichtlicher Intelligenz im einfachen Werkzeuggebrauch die umweltreflexive Variabilität tierischen Sozial- und Brutpflegeverhaltens und deren Bedeutung für die Intelligenzentwicklung unterschätzt haben (vgl. Kuckenburg 1998 zur jüngeren Tierforschung), hält doch die weiter reichende These der ontogenetischen Verschränkung von Sprechen und Handeln, aus der er auf Prozesse der historischen Sprach- und Logikentwicklung schließt, der jüngeren Theoriebildung stand. So überzeugt gerade die Herleitung der Denkentwicklung aus der sympraktisch eingebundenen sozialen Mitteilung, die Folgerungen bezüglich des Zusammenhanges von Arbeit, Sozialpraxis und sozialer, respektive genderförmiger Kategorienbildung nahe legt. Eingedenk dessen, dass man über die gattungsgeschichtlichen Anfänge der Sprache, die anthropologisch (Kuckenburg 1998; Jürgens 2006) mindestens 300 000 Jahre vor unserer Zeit vermutet werden, allenfalls spekulieren kann, will ich dazu folgende Gedanken formulieren: Nimmt man gemeinsame Daseinsvorsorge, Nachkommenspflege, Gefahrenabwehr etc. als Sinn und sympraktisches Sprechen als Ursprung der Sprachentwicklung an, lässt sich hinsichtlich der – aus heutiger Sicht – geschlechtssensiblen Relation von sozialer Prâxis und hervorbringender Poiesis ein bestimmtes Wirkungsverhältnis vermuten, das Hintergründe der modernen genderförmigen Versprachlichung jener Handlungsqualitäten wenigstens ansatzweise erhellt.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Zunächst wäre zu rekapitulieren, dass die Hypothese der handlungspraktisch-sozialen Sprachentstehung mit der These der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen zusammenfällt. Was wiederum die Annahme einer (ontogenetisch wie historisch) primären arbeitsteiligen menschlichen Psyche (Wygotski 1987 und 2002; Lurija 1982; Bruner 1987; Dux 2005) impliziert, aus der sich im Zuge der Sprachentwicklung individuelles Denken kristallisiert. Gehen wir zuerst ein auf die These sympraktisch-sozialer Sprachentstehung und der ihr inneliegenden Interdependenz von Kommunikation und gegenstandsgerichtetem Handeln: Sie besagt, dass soziale Prâxis poietisches Hervorbringen sozial zwecksetzend motiviert und damit letztlich auch strukturiert. Umgekehrt bilden Erfahrungen der praktischen Naturbearbeitung die Gegenstände des Kommunikationsprozesses, die sich im sprachlichen Zeichen in Form sozial gebrochener Gegenstandswahrnehmung symbolisch manifestieren. In Zusammenschau mit der Annahme einer ursprünglich arbeitsteiligen psychischen Organisation sprechhandelnder Menschen ergibt sich daraus als weitere Folgerung, dass anschauliche Objekte und Verfahren der Naturbearbeitung früher zur Sprache gekommen sein dürften als die sie regulierende soziale Prâxis selbst, die ihrerseits so etwas wie eine soziale Tiefenstruktur der Sprach- und Wissensentwicklung vorstellt, deren begriffliche Reflexion auf der Herausbildung anschaulicher Bedeutungen aufbaut. Hinter dieser Folgerung steht die Überlegung, dass beim sympraktischen sozialen Sprechen die affektiv motivierte sinnlich-physische Bearbeitung/Behandlung anschaulicher Objekte – seien sie nun physikalischer oder sozialer Natur – auch die primären Gegenstände sympraktischer Kommunikation bilden, denen die gemeinsame Aufmerksamkeit gilt und deren allgemeinverständliche Bedeutung sich im Wege handlungsverbundenen Sprechens aus der Vielheit einer noch rudimentär bearbeiteten Umwelt erst herausdifferenziert. Wenn auf einem solchen Sprachniveau sozialer Austausch und Kooperation noch eine arbeitsteilige interpsychische Aufgabe erfüllen, wäre deren sprachliche Signifikation eine selbstreflexive Leistung, die Wygotski (2002) und Piaget (1974) zufolge erst auf entwickeltem Begriffsniveau möglich und also mit sympraktischem Sprechen kaum zu bewältigen ist. Analog Hegels (1988) Schema des Aufstieges von der sinnlichen Gewissheit zum beobachtenden Bewusstsein und Selbstbewusstsein, wäre also zu hypostasieren, dass das praktische physische Bearbeiten, Differenzieren und Analogisieren anschaulicher Objekte zu den unmittelbarer zugänglichen Gegenständen sprachlicher Repräsentation gehört, anhand derer sich be-

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deutungshafte Distinktion und symbolische Repräsentation des Sozialen erst entfaltet. Bedenkt man nun, dass physisch behandelte anschauliche Gegenstände – ob Grabstöcke, Kochgeschirr oder Jagdwerkzeug – nicht nur in gedächtnisförmig einprägsamer Weise soziale Zwecksetzungen materiell vergegenwärtigen, sondern als Gebrauchs- und Arbeitsinstrumente auch soziales Anschlusshandeln und damit Zukünftiges präformieren, wird gerade unter der Annahme sympraktischer Sprachursprünge vorstellbar, dass sich aus der Wechselwirkung von Kommunikation, Gebrauchsgutherstellung und -verwendung rückblickendes und vorausschauendes symbolisches Denken und mithin die Fähigkeit zu langsichtig organisierter Arbeit herausbildet. Klaus Holzkamp (1978) schreibt dazu, der Mensch baue über die Vergegenständlichung von Gebrauchswerten Bedeutungsstrukturen in die Welt hinein, über die sich die Deutung der Natur wie auch die zwischenmenschliche Wahrnehmung vermittle. Der Entwicklung des Werkzeuges misst er insofern eine große Rolle bei, als sich in ihm vorausgegangene Arbeitserfahrungen und zukunftsgerichtete Zwecksetzungen manifestieren und Werkzeuge zugleich als relativ konstante Parameter von Materialeigenschaften, raum-zeitlichen Verhältnissen, Handlungsfolgen etc. die wissensförmige Generierung von Invarianzen und Kausalitäten unterstützen. Mit der Herausbildung funktionsteiliger Arbeitsstrukturen, die sich historisch mit relativ konstanten Bündelungen kohärenter Fähigkeitsmuster und antizipierbarer Leistungspotentiale verbindet, sieht er die Wahrnehmung und Bewertung von Personen bzw. Personengruppen über sprachlich symbolisierte Merkmale ihrer jeweiligen Tätigkeiten vermittelt. Unter Hinweis auf zeitüberdauernde soziokulturelle Fähigkeitsmuster spricht Holzkamp (1978, 44) von „dispositionalen Person[en]bedeutungen“, die für die interpersonale Wahrnehmung in komplexen Gesellschaften deshalb unabdingbar sind, weil sie nicht nur als Orientierungsmittel für die situative Abstimmung von Teilarbeiten wirken, sondern auch die gesellschaftliche Koordination langfristiger, raum-zeitlich getrennter Tätigkeitssequenzen ermöglichen. Denkt man also die These weiter, dass die sprachliche Repräsentation anschaulicher Gegenstände und physischer Tätigkeiten historisch primärer ist als die Reflexion des sozialen Prozederes selbst, folgt, dass sich Signifizierung von Personen in frühen kulturellen Stadien überwiegend über die Wahrnehmung anschaulicher Tätigkeitsarten und die Antizipation ihres Nutzens vollzieht. Ähnlich wie Kinder die Bedeutung von Personen, Dingen und Handlungen kontextuell erfahren und Personen darüber klassifizieren, wer was womit zu welchem Behufe tut (Lurija 1982), wäre zur frühgeschichtlichen Herausbildung sozialer Katego113

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rien zu hypostasieren, dass sie entlang der kommunizierbaren Merkmale differentieller Arbeitspraktiken entwickelt wurden und damit zwangsläufig subjektiven und selektiven Charakter trugen. Eingedenk der sozialen Genese funktionsteiliger Arbeit impliziert das zugleich, dass diese arbeitsförmig generierten Bezeichnungen des Sozialen kognitive, motivationale und affektive Merkmale von Arbeitstätigkeiten und Arbeitsergebnissen repräsentierten. So gedachte frühe Identitätsbegriffe wären also motivationale, gegenständlich-kognitive und emotional-werteförmige Informationen integrierende Kategorien, die mit der Anschauung der Arbeit und Bewertung ihres anschaulichen Zweckes korrespondierten. Mit der Ausdifferenzierung überdauernder arbeitsteiliger Strukturen ist weiter anzunehmen, dass soziale Identitätskategorien notwendige Erkennungsmarken einer zeitliche und räumliche Distanzen überschreitenden Kooperation wurden, die neben der Erwartbarkeit bestimmter sachlicher Fähigkeitsund Leistungspotentiale auch Informationen über motivationale Haltungen und ethische Einstellungen der jeweiligen kategorial erfassten Personen integrierten. Der vorerst nur psychologische Gedanke, dass die Versprachlichung von anschaulichen Praktiken und Gebrauchswertvergegenständlichungen primärer ist als die Reflexion der dahinter stehenden sozialen Beziehungen, führt also zu der – schon von Hegel (1988) getroffenen – Schlussfolgerung, dass die Entwicklung sozialer Kategorien ursprünglich eng mit der anschaulichen Einsehbarkeit arbeitsteiligen Handelns korrespondiert. Bezüglich des identitätsstiftenden Stellenwertes und der kulturellen Wertigkeit von produktiven und sozialkommunikativen Arbeitsanteilen ergibt sich daraus, dass sich die gesellschaftliche Versprachlichung hervorbringender marktförmiger Arbeit einfach deshalb, weil sie in sicht- und quantifizierbaren Tauschprodukten vergegenständlicht ist, „naturwüchsiger“ mit öffentlich kommunizierter Identitätszuweisung verbindet als subsistenzwirtschaftliche Arbeit oder traditionell weibliche Aufgaben wie Hauswirtschaft und andere zuarbeitende Tätigkeiten, deren Signifikation sich – wie ich später historisch herleite – im Begriff marktförmiger Produktion bricht. Da unter der Annahme der Interdependenz von Sprache und Handlungspraxis hinsichtlich historischer Brüche und Entwicklungsschübe zu vermuten ist, dass die kulturelle (Weiter-)Generierung sozialer Kategorien immer auch auf überlieferten Sprachtraditionen aufbaut und sich regionale Begriffsunterschiede mit der Ausdehnung von Handelsbeziehungen tendenziell angleichen, findet sich damit auch eine Erklärung für die Zentralität hervorbringender Arbeit als Kern und geschlechtliche Scheidelinie des modernen abendländischen Arbeitsbegriffs. 114

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Wie sich das im konkreten geschichtlichen Kontext darstellt und welche Konsequenzen daraus für die geschlechtliche Referenz von Arbeit und Persönlichkeit erwuchsen, werde ich im nächsten Teil des Buches diskutieren. In Anknüpfung an die vorausgegangene Erörterung der Entwicklung des neuzeitlichen Arbeitsbegriffs sei hier nur in Erinnerung gerufen, dass mit der räumlichen Ausweitung des Tauschhandels, der Vermessung der Zeit und Einführung des Geldes die identifikatorische Zuerkennung von Arbeitsleistungen und -zwecken immer mehr vom konkreten zwischenmenschlichen Austausch gelöst und durch abstrakte quantitative Parameter hindurch kommuniziert wurde, was sich schließlich in nationalökonomischen Diskursen mit der Bildung von Rechtsund Wertekategorien verband. Auf diese Weise wurde nicht nur die referentielle Prominenz marktförmiger Arbeits- und Identitätsprofile entscheidend befördert. Es wurde auch dieser Art öffentlicher Identitätsbildung ein „objektiv-sachlicher“ Anschein gegeben, weshalb das soziale und selektive Prozedere ihrer Herausbildung hernach kaum mehr zu erkennen war. Ich will mit dieser Überlegung keineswegs auf immer da gewesene geschlechtliche Diversifizierungen von produktiven und reproduktiven Arbeiten, geschweige denn von technisch-operationalem und sozialpraktischem Handeln hinaus, wie es manche reinterpretierende Geschichtsschreibung tut. Hinsichtlich technischer Entwicklung folge ich dem – unter der Annahme sympraktischer Sprachentstehung allemal wahrscheinlichen – Gedanken Judy Wajcmans (1994), dass unter rudimentären kulturellen Verhältnissen Werkzeuge und Techniken aus dem Arbeitsvollzug heraus hergestellt und optimiert werden. Sie also von denjenigen Gruppenmitgliedern, Männern und Frauen, entwickelt werden, die sie gebrauchen. Das heißt, dass frühe geschlechtliche Arbeitsteilung, wie sie für Jäger- und Sammlerkulturen sowie erste Formen der Sesshaftigkeit angenommen wird, vielleicht in der Einteilung unterschiedlicher Zuständigkeiten bestanden haben mögen, nicht aber in der Trennung von operational hervorbringendem und sozialem bzw. reproduktivem Handeln, die noch nicht einmal für frühneuzeitliche agrarische und handwerkliche Arbeitsformationen als dominantes Muster anzunehmen ist (Wunder 1993a; Davis 1990). Selbst wenn man davon ausgeht, dass Frauen kulturübergreifend stets stärker mit generativen Aufgaben befasst waren und deshalb einen höheren Anteil sozialpraktischer Arbeit geleistet haben, resultiert daraus keinerlei exklusive Affinität zu sozialer Prâxis oder Reproduktivität. Die philosophische Literatur (Böhme 1985; Hirschberger 1980; Riedel 1973; Fischer 1996) nennt als Ausgangsparadigma der abendländischen Trennung von produktivem und sozialkommunikativem Handeln 115

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die aristotelische Unterscheidung von Prâxis und Poiesis, die bekanntlich in der Antike weniger mit geschlechtlichen als vielmehr mit ständischen Klassifizierungen der Sklavenhaltergesellschaft zusammenfiel. Als geschlechtliches Muster taucht die Spaltung von operationalem und sozialem Handeln in der Frühneuzeit mit der kulturellen Aufwertung hervorbringender Arbeit und ihrem Korrelat, der familialen Erziehung, auf (Müller 1993; Niestroj 1985; Rang 1986); und erst zur Zeit der Spätaufklärung und Klassik wurde sie als charakterliches Geschlechterschema generalisiert (Hausen 1976; Frevert 1995). Gleichwohl die Trennung von operationalem und sozialem Handeln noch in der Moderne allenfalls oberflächlich mit den Arbeits- und Lebensverhältnissen korrespondierte (Wunder 1993a und b; Willms 1983a), gewann die unterschiedliche Symbolisierungsqualität von sozialer Prâxis und hervorbringender Poiesis in der bürgerlichen Gesellschaft erhebliche Relevanz für die differentielle sprachliche Repräsentation männlich und weiblich verorteter Arbeit und Persönlichkeit. Um die bis heute nachwirkende mentale Brisanz dieser Entwicklung sozialgeschichtlich und sprachpsychologisch aufarbeiten zu können, sei im Folgenden auf Probleme der historischen Kategorienentwicklung eingegangen und die Frage nach dem logischen Aufbau männlich und weiblich assoziierter Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe gestellt.

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9 S P R AC H E

UND

BEDEUTUNG

Mit dem Ineinandergreifen von Kommunikation und praktischer Tätigkeit als genetischem Grundverhältnis sprachlicher Bedeutungskonstitution überwindet Wygotski den in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (1992) noch durchscheinenden Parallelismus von instrumentellem Handeln und sozialer Zeichenentwicklung zugunsten einer dialektischen Auffassung von Kultur- und Sprachentwicklung, die auch das Verhältnis von Gesellschaft und individuellem Subjekt in dynamischerer Weise darstellt: Denn wenn sich ontogenetische Entwicklung unter Zuhilfenahme kultureller Wortbedeutungen vollzieht, deren Sinnhaftigkeit sich in praktischen Handlungszusammenhängen und Lebenskontexten präzisiert, wie sich umgekehrt die Bedeutung von Praxis sozialkommunikativ bricht, werden sprachlich verfasste Logiken und Erfahrungen historisch nicht einfach transferiert, sondern in Verschränkung mit dem unterschiedlichem Tun und den Interessen menschlicher Subjekte aus verschiedenen historischen, sozialen wie auch individuellen Perspektiven heraus angereichert und modifiziert. Sprachentwicklung ist damit eine Frage der sozialen Gestaltung menschlicher Praktiken und der Aushandlung von Bedeutungen im gesellschaftlichen Diskurs, womit sich nicht zuletzt im Genderbezug die politische und auch ideologische Dimension der Sprache erhellt. Indem Wygotski also die Marx’sche Formel des sich durch Naturveränderung selbst verändernden Menschen um das sozial generierte Zeichen erweitert, hebt er die bedeutungsstrukturierenden (inter-)subjektiven Dynamiken des historischen Prozesses hervor. Der Gedanke, dass der intentionale Gegenstandsbezug auf historischem Niveau kommunikativ transformiert wird, impliziert, dass sich die Wahrnehmung der Natur wie auch die Intention ihrer Bearbeitung in der Bedeutung des Zei117

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chens bricht. Demzufolge fördern Menschen nicht einfach Ergebnisse der Naturbearbeitung zu Tage, die sie zur Veränderung der Lebensverhältnisse und Wissensanreicherung nutzen. Sie sind vielmehr zur kulturellen Lebensgestaltung erst durch den Gebrauch intersubjektiver Zeichen fähig, mittels derer sie ihr Tun vorausschauend und arbeitsteilig zu organisieren vermögen, womit sie wiederum neue Erscheinungen technisch-artifizieller wie soziokultureller Art generieren und signifizieren. Wenn nun, wie Wygotski darlegt, sprachliche Zeichen nicht einfach kognitive Abbilder der Umweltauseinandersetzung sind, sondern bedürfnisbezogene emotionale Sinnmuster, die praktische soziale und operationale Erfahrungen sowie soziostrukturelle Informationen integrieren, symbolisieren sie Realität in ihrer intersubjektiv gebrochenen Bedeutung für die Menschen, entlang derer Strukturen des Wissens und der Logik generiert werden. Mit der Transformation des Marx’schen Schemas „Mensch-Tätigkeit-Natur“ in „Mensch-Tätigkeit/Sprache-Natur“, konzeptualisiert Wygotski also eine sich wechselseitig vorantreibende Dynamik von Kulturgeschichte und sprachlicher Bedeutungsbildung und weist auf die Interessensförmigkeit der Bedeutungsgenese hin. Um später historisch herleiten zu können, wie sich die interessensförmige Prägung der Bedeutungsgeschichte in geschlechtlichen Kategorienbildungen niederschlägt, gehe ich im Folgenden auf Wygotskis Auffassung der „Bedeutung“ und ihrer Relation zum menschlichen Bewusstsein ein, die mit dem Ineinandergreifen von Kommunikation und Tätigkeit wohl angerissen, aber nicht hinreichend geklärt ist.

9.1 Zur Geschichte des Bedeutungsbegriffs Seit der Antike ist die Auseinandersetzung über den Begriff der semantischen „Bedeutung“ um die Frage zentriert, ob und wie sprachliche Zeichen Wirklichkeit im Sinne außersprachlicher Entitäten (Dinge, Handlungen, Beziehungen, Zusammenhänge etc.) bzw. auf der Metaebene auch sprachliche Gegenstände repräsentieren und welche Rolle hierbei die Vorstellung, Intention und Interpretation der Sprechenden spielt. In der abendländischen Sprachphilosophie und Lingustik hat die Kategorie der „Bedeutung“ eine sehr wechselhafte Geschichte erfahren, die ich hier allenfalls anreißen will. Bis heute ist „Bedeutung“ in den verschiedenen linguistischen, philosophischen und psychologischen Strömungen nicht einheitlich geklärt (Demmerling 1999; Mersch 1998), was teils auf unterschiedliche erkenntnistheoretische Grundannahmen, teils auf unterschiedliche Arten der Fokussierung der Sprache zurückzuführen ist (ebd.). 118

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Hatte im rationalistischen Bedeutungsbegriff der Aufklärung noch die nominalistische Auffassung einer zweistelligen Beziehung von Zeichen und Gegenstand im Sinne einer Abbildtheorie (Mersch 1998) dominiert, favorisierten die formallogischen und pragmatischen Sprachtheorien im Zuge der so genannten linguistischen Wende1 der idealistischen Philosophie Anfang des 20. Jhs. eine – wenngleich divergierende – dreistellige Relation, die die Interpretationsleistung des sprachlichen Zeichens (wohlbemerkt nicht des Subjektes) integriert (ebd.). Zu den einflussreichsten Modellen gehört das semiotische Dreieck des angloamerikanischen Pragmatikers Charles S. Peirce (1839-1914), der die Hinweisfunktion des Zeichens („Repräsentamen“) mit dem Objekt und einer zeicheninternen Interpretation der Objektbedeutung („Interpretant“) zusammenführt (vgl. Mersch 1998; Seiler 2001). Da der Interpretant selbst zum triadischen Zeichen erklärt wird, löst jedes Symbol einen unendlichen Prozess von Interpretationen aus, dessen Ziel die umfassende Interpretation der Wirklichkeit ist (vgl. Mersch). In diesem Modell wird, wie Mersch (1998, 17) schreibt, bedeutungshafter „Realismus gleichsam in die Zeichen selbst eingelassen“ und das menschliche Denken durch die „Apriorie“ des Zeichens bestimmt (ebd. 16). Eine andere, nicht minder einflussreiche Bestimmung des semiotischen Dreiecks findet sich in der explizit antipsychologischen analytischen Sprachphilosophie Gottlob Freges (1848-1925), der die Sprache unter arithmetischen Gesichtspunkten untersucht und die Bedeutung mit einer naturwissenschaftlichen Auffassung von Wahrheit zusammenschließt (vgl. Mersch 1989; Blume/Demmerling 1998). Freges Antipsychologismus ist darauf gerichtet, zwischen psychischen Abläufen und Vorstellungen einerseits sowie Gegenständen und Begriffen andererseits zu unterscheiden (vgl. Blume/Demmerling 1998); womit er den sprachlichen Begriff von menschlich Subjektivem trennt. Von der Überlegung getrieben, die Bedeutung eines allgemeinen Ausdruckes wie „Pferd“ könne gleichermaßen eine Idee, ein Wesen oder etwas Universales bezeichnen, weil es zwar einzelne Pferde aber kein sinnlich wahrnehmbares „allgemeines Pferd“ gebe, führt Frege das Kontextprinzip in die Sprachphilosophie ein, das den Satz und nicht das Wort als kleinste semantische Einheit behandelt. Mit dem Konzept, dass sich die Bedeutung 1

Die linguistische Wende rückte die Sprache ins Zentrum philosophischer Auseinandersetzung, Sprachphilosophie wurde philosophische Basisdisziplin. Hatten nach der im Anschluss an Kant vollzogenen kopernikanischen Wende erfahrungs- und gegenstandskonstitutive Leistungen des Subjektes im Mittelpunkt philosophischer Analysen gestanden, nahmen mit dem linguistic turn Fragen nach der Logik und Referenz sowie der Unhintergehbarkeit der Sprache diese Stelle ein (Blume/Demmerling 1998). 119

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der Wörter abhängig von ihrer Funktion und Stellung im Satz durch dasjenige bestimmt, was sie zur Satzbedeutung beitragen, wehrt er die Vorstellung ab, dass jedem Wort ein adäquater Gegenstand entspricht (vgl. Blume/Demmerling 1998). Zur Grenzziehung zwischen objektiver Zeichenaussage und subjektiver Vorstellung unterscheidet Frege Bedeutung und Sinn. So differenziert er zwischen der Bedeutung (Bezeichnung eines objektiven Gegenstandes) und dem Sinn (Art des Gegebenseins) eines Namens/Zeichens sowie zwischen der Bedeutung eines Satzes (Wahrheitswert der Satzaussage) und dem in ihm ausgedrückten Gedanken als Sinn. Berühmtes Beispiel sind die Ausdrücke „Abendstern“ und „Morgenstern“, die für den naturwissenschaftlich gebildeten Logiker Frege dasselbe bedeuten, weil sich beide auf die Venus beziehen, die aber wegen der unterschiedlichen Gegebenheit eines abends bzw. morgens aufleuchtenden Sterns einen jeweils anderen Sinn präsentieren. Bedeutung wäre demzufolge der naturwissenschaftlich explorierte und benamte Gegenstand, während der Sinn eine bestimmte Perspektive auf denselben markiert. Den Wahrheitswert eines Satzes, der für Frege (zit. nach Blume/Demmerling 1998, 25) „keines Trägers bedarf“ und wie der pythagoreische Lehrsatz „zeitlos wahr sein kann, unabhängig davon, ob irgendjemand ihn für wahr hält“, bestimmt er nach der mathematischen Definition von Funktion und Argument.2 Freges Bedeutungskonzept, das sich vornehmlich auf die gegenständliche Referenz namentlich oder kontextuell prädizierter Einzeldinge und die Aussage von Sätzen bezieht, stößt an seine Grenzen, wo es um die Bedeutung allgemeiner Begriffe geht. Seine Begriffstheorie bleibt Blume/Demmerling (1998, 39) zufolge „tentativ und programmatisch“. Vielleicht ist es die strikte Trennung zwischen psychischen Abläufen und Vorstellungen auf der einen und dem Begriff auf der anderen Seite, die ihn hindert, das Allgemeine, das ja immer nur eine vom konkret Empirischen abstrahierte Vorstellung sein kann, als Verallgemeinerung des Realen zu qualifizieren. So bedeuten bei Frege „Begriffsworte“ (kategoriale Begriffe) im Unterschied zum „Namen“ des empirischen Einzeldings keine realen Gegenstände, sondern ergeben sich aus dem, was subordinierte Begriffe 2

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Blume/Demmerling (1998) führen dazu die mathematische Funktionsgleichung f (x) = x + 2 an, die je nach Argument für x unterschiedliche Werte hat. Bezogen auf Behauptungssätze wie „Walter tanzt mit Rita“, wäre „tanzt mit Rita“ die Funktion, für die sich durch Einsetzen unterschiedlicher Argumente wie „Roberto“, „Jochen“ verschiedene Wahrheitswerte ergeben. Um vom „Sinn zur Bedeutung vorzudringen“ und den Wahrheitswert eines Satzes zu prüfen, schlägt Frege (zit. nach Blume/Demmerling 1998, 35) vor, ein Argument durch ein anderes unterschiedlichen Sinns (z.B. Abendstern durch Morgenstern), aber gleicher Bedeutung (Venus) zu ersetzen, wodurch sich zeige, dass der Wahrheitsgehalt immer der gleiche bleibe.

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zum Inhalt haben. Blume/Demmerling (1998) erläutern dazu, dass die Bedeutung von Begriffsausdrücken für Frege keine Entitäten bezeichnen, sondern sich durch den Gebrauch von Begriffen konstituieren. Bleibt zu folgern, dass Begriffe wie „Existenz“ oder auch „Tier“, obschon kein „allgemeines Pferd“ existiert, einen durch Sprachgebrauch konstituierten Inhalt haben, was Freges antipsychologischem Logizismus eigentlich widerspricht und ihn an ein „drittes Reich“ der Logik glauben lässt (vgl. Blume/Demmerling 1998). Trotz dieser Antinomie hatte Freges Bedeutungskonzept starken Einfluss auf die analytische Sprachphilosophie und moderne Linguistik. Im Anschluss an seine Definition von Bedeutung und Sinn traf Carnap (1891-1970) die Unterscheidung zwischen der alle bezeichneten Gegenstände umschließenden „Extension“ (Umfang) und der „Intension“ (Sinngehalt) eines Begriffs, woraus unter dem Einfluss von Morris (1901-1979) „Denotation“ und „Signifikation“ wurde (vgl. Demmerling 1999; Mersch 1998). Alle drei Definitionen lassen eine Reflexion von im Begriff liegenden subjektiven Operationen und diskursiven Aushandlungsprozessen vermissen. Für Mersch (1989, 20) stellen sie letztlich „mathematische Relationsformen“ vor, die sich qua „Aufzählung der Elemente, auf die sie bezogen sind, oder hinsichtlich der Eigenschaften, durch die sie erklärt werden“, bestimmen. Freges Schüler Ludwig Wittgenstein (1889-1951) folgte zunächst im Tractatus der Auffassung, dass Namen reale Gegenstände und Sätze Sachverhalte referieren, schloss dabei allerdings transzendentalphilosophische Überlegungen ein. So ging er hier noch von einer Strukturgleichheit von Sprache und Welt aus, die sich in einer durch die Logik der Sprache vorgegebenen Form präsentiert (vgl. Blume/Demmerling 1998). Später wandte sich Wittgenstein gegen die formallogische Abhandlung der Sprache und konzentrierte sich auf die Beobachtung der Rolle, die der Sprachgebrauch, vornehmlich der alltagssprachliche, für das Begriffsverständnis im Kontext von Situation und Praxis spielt (vgl. Majetschak 1996, Blume/Demmerling 1998). In seinem zweiten Hauptwerk, den Philosophischen Untersuchungen (PU, 1999), verwarf Wittgenstein das Name-Gegenstands-Modell zugunsten der These, die Bedeutung von Worten sei durch den Sprachgebrauch in konkreten Anwendungssituationen gegeben (ebd.). Mit den Konzepten „Sprachspiel“ (Sprechen als Teil praktischer Handlungen) und „Lebensform“ (regelhafte menschliche Praxis) akzentuierte er die Verbindung der Sprache mit nichtsprachlichen Lebensvollzügen und hob auf intersubjektive Komponenten ab. Für meine Lesart kreist diese Auseinandersetzung um Probleme des Zusammenhanges von Einzelerscheinungen und sprachlich zusammengeführtem allgemeinen Begriffen, die Wittgenstein über121

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wiegend anhand sympraktischer Sprachanwendungsbeispiele und syntagmatischer, ereignis- und handlungsreferierender Satzkonstruktionen diskutiert, ohne allerdings Handlungspraxis als bedeutungskonstitutiv zu thematisieren. Bezüglich der Referenz und Zugehörigkeit von Begriffen zu oberbegrifflichen Kategorien kam er zu der Auffassung, dass der Umfang dessen, was ein allgemeiner Begriff charakterisiert, nicht exakt festgelegt sei, sondern sich nur am konkreten Beispiel ermitteln ließe. Anhand des Oberbegriffes „Spiel“ erläutert er, dass die Vielfalt der Brett-, Ball-, Kampfspiele etc. nicht durch ein gemeinsames Merkmal verbunden sei, sondern durch ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“ (PU § 67), womit „Spiel“ ein „Begriff mit verschwommenen Rändern“ (PU § 71) sei. Er leitet daraus das Konzept der „Familienähnlichkeit“ her, demzufolge es zwar Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Anwendungsweisen und Referenzgegenständen ein und desselben Begriffes geben kann, aber keinen gemeinsamen Wesenskern (ebd.). Wie bei einer Familie, die durch Verwandtschaft zusammengehalten ist, aber größere Ähnlichkeit mancher Mitglieder und Unähnlichkeit anderer aufweist, „können“ sich die gemeinsamen Merkmale der von einem „Begriffswort“ referierten Gegenstände „kettenartig verbinden, so daß zwei einander nahe Glieder [...] gemeinsame Züge haben, einander ähnlich sein [können], während andere nichts mehr miteinander gemein haben, doch zur gleichen Familie gehören“ (Wittgenstein, Mutmaßungen 140, zit. nach Krüger 1994, 7, Hvh. im Orig.)..Mit dem Konzept der Familienähnlichkeit – das Wittgenstein, wie Krüger (1994, 8) anmerkt, in seinen späteren Werken „nicht weiter entwickelt“, sondern „für die Analyse des Wortgebrauchs unter Verwendung einfacher Sprachbeispiele lediglich benutzt“ – greift der Sprachphilosoph die Annahme eines allgemeingültigen Zusammenhanges zwischen Extension und Intension von Begriffen an und macht auf Bedeutungsverschiebungen und Unschärfen aufmerksam. Ich komme in Zusammenhang mit Wygotskis Begriffsentwicklungskonzept auf dieses Problem zurück. Eine andere Art formaler Sprachanalyse als sie Frege vorlegt, findet man im französischen Strukturalismus und seiner poststrukturalistischen Steigerung, der derzeit wohl einflussreichsten Zeichentheorie, die via Ethnologie und Psychoanalyse auf die Genderforschung ausstrahlt. Kern dieser Theorierichtung ist die Annahme eines Zeichensystems, das mittels einer strukturalen Ordnung von Differenzen funktioniert, die fernab jeder gegenständlichen Bezugnahme oder menschlichen Deutung definieren, was bedeutungshaft ist (vgl. Mersch 1998; Linke et al 2004). Bedeutung entsteht hier weder durch Beziehung zu weltlichen Dingen oder Ereignissen noch durch psychische Operation, sondern allein als 122

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Effekt einer selbstreferentiellen symbolischen Struktur. Für Mersch (1998, 25) ist „das Besondere am Strukturalismus, die Konstitution des Zeichens vollkommen außerhalb jeden Begriffs der Wirklichkeit oder Bedeutung zu bestimmen“. So definierte de Saussure (1931/1967) die Sprache als System von „Werten“, die wiederum Schnittflächen bilden, durch die Bezeichnendes und Bezeichnetes, „Signifikant“ und „Signifikat“, gleichermaßen gegeben sind. Die dahinter liegende, von de Saussure nicht weiter vertiefte psychologische Vorstellung ist einfach: Zeichen sind im Gedächtnis niedergelegt und werden im sozialen Verkehr lediglich realisiert. Die Verbindung von Zeichenform (Laut) und Zeicheninhalt (Signifié) erfolgt für ihn rein assoziativ und das gilt überindividuell. Trotz willkürlicher, „arbiträrer“ Beziehung von Laut und Gehalt eignet dem Zeichen nach de Saussure eine auf Vereinbarung beruhende konventionelle Stabilität. Hatte de Saussure noch den „Wert“ (valeur) als untrennbare Doppelseitigkeit von Signifikat und Signifikant gedacht, verblasst im Poststrukturalismus das Bezeichnete zu einem „halluzinatorischen Anhängsel des Signifikanten“ (Mersch 1998, 25). Bei allen Unterschieden zwischen Freges analytischer Sprachphilosophie und der strukturalistischen Linguistik ist eine Gemeinsamkeit die antipsychologische bzw. bei de Saussure letztlich apsychologische mathematische Analysierweise, die die Sprache als logisches bzw. strukturales System über menschliches Sprechen und Denken erhebt und dadurch von sozialen und subjektiven Gehalten trennt. Bei de Saussure manifestiert sich diese Trennung bekanntlich in der Gegenüberstellung der gesprochenen Rede (parole) und der sie organisierenden Sprache als systematischer Form (langue). Hatte Frege zur Bedeutungsdefinition von allgemeinen Begriffen auf die Kontextualität des Satzes zurückgegriffen, um ihre „objektive“ Bedeutung analytisch zu isolieren, greift de Saussure hinsichtlich der sinnstiftenden Distinktionskraft der „Werte“ zur semantisch-syntaktischen Ordnung des Systems. In beiden Modellen erschließt sich Bedeutung letztlich nur paraphrasisch als innersprachliche Relation. Außerhalb der Theoriebildung bleibt die Beziehung der Sprache zur menschlichen Auseinandersetzung mit weltlichen Entitäten, die den Zusammenhang zwischen sprachlicher Bedeutungsbildung, kultureller Praxis und Kommunikation erhellt. Die im Gefolge der 1968er-Bewegung mit der „pragmatischen Wende“ der Linguistik aufblühende Sprechakttheorie John L. Austins und John R. Searles wandte sich der praktischen Seite des Sprechens zu und fragte nach Intention, Wirkung und Regeln der Kommunikation (Searle 1965). Indessen impliziert auch diese Theorie eine Dualität von Sprache und Sprechen, da sie semantisch-syntaktische Sprachregeln (types) von der Sprachanwendung (token) unterscheidet und sich für eine von Spre123

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chenden gesteuerte Auswahl von Sprach-Mustern interessiert (vgl. Linke et al 2004). Wohl hat die Sprechaktschule eine Handlungstheorie entwickelt, die Sprechen als Handeln mit sozialer Folgewirkung definiert. In der Tradition des späten Wittgenstein stehend, der sich ebenfalls stärker für den Gebrauch der Begriffe interessierte als der Frage nach der bedeutungsstiftenden Wirkung des praktischen Umgangs mit den bedeuteten Gegenständen und Verhältnissen nachzugehen, bleibt jedoch diese Theorie bei der Sprech-handlung stehen. „Bedeutung“, in der einschlägigen Terminologie mit „Proposition“ (wofür ein Ausdruck steht) und „Intention“ (Absicht des Sprechers) übersetzt (Searle 1965), realisiert sich im Sprechakt als „Lokution“ (Lautäußerung, Realisierung von types, propositionale Aussage), „Illokution“ (Mitteilung von Intention, z.B. Warnung, Empfehlung), „Perlokution“ (Wirkung auf die Anderen) und vereindeutigt sich immer nur in der konkreten Situation. Ein in der Genderdebatte wichtig gewordener Begriff ist die „Performation“, die im Sprechen vollzogene Handlung (z.B. versprechen, danken, verleumden), die bei Derrida zur sprachlichen Inszenierung (performance) wird (vgl. Linke et al 2004) und bei Butler (1991) schließlich Geschlechtsidentität konstituiert. Stellt man die Bedeutungskonzepte der strukturalistischen Sprachtheorie de Saussures bzw. der analytischen Sprachphilosophie Freges – deren Einfluss über Wittgenstein bis hinein in die Sprechakttheorie reicht – Wygotskis Bedeutungsbegriff gegenüber, lassen sich erhebliche Unterschiede sowohl des Betrachtungsfokus’ als auch des erkenntnistheoretisch-methodologischen Zugangs ausmachen. Während Frege und Saussure mit einer anti- bzw. apsychologischen, mathematischen Herangehensweise sprachliche Bedeutungslogik jenseits menschlicher Praktiken, Bedürfnisse und Kommunikationsbeziehungen konzeptualisieren, fokussiert Wygotski unter explizit psychologischem Forschungsinteresse die sozio- und psychogenetische Entwickeltheit von Denken und Sprechen und damit auch der sprachlichen Bedeutung. Von einem historischmaterialistischen Logikverständnis herkommend, trennt Wygotski außerdem nicht zwischen der Sprache als apriorisch formgebendem System und dem vitalen Sprechen. Vielmehr verwendet er in der Regel den Ausdruck „Sprechen“ und behandelt Sprache als praktiziertes System des sozialen Verkehrs und des Denkens, das, wie er vermutet, „aus dem Bedürfnis entstand, sich im Prozess der Arbeit zu verständigen“ (Wygotski 2002, 50) – also im Wege praktischer kooperativer respektive gesellschaftlicher Handhabung sozialer und weltlicher Verhältnisse entwickelt ist.

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Somit ergibt sich bei Wygotski schon aus der Verschränkung von praktischem Tun und kommunikativem bzw. innerem Sprechen ein im weitesten Sinne referentielles Bedeutungskonzept, in welchem die Bedeutung lautlicher Zeichen (Worte) Gegenstände im Sinne real vorkommender und thematisierter Entitäten (Dinge, Zusammenhänge, Praktiken, Gefühle etc.) unter Integration sozialer Hinsichten, Erfahrungen und Deutungen repräsentiert. Anders als Frege oder de Saussure fasst er „Bedeutung“ nahe dem Wortsinn als aktiven soziopsychischen Vorgang, der den deiktischen Hinweis auf und die handlungspraktisch-diskursiv erarbeiteten Sinndimensionen von Dingen und Verhältnissen enthält. Demzufolge bilden Worte Gegenstände nicht einfach in ihrer sinnlich wahrnehmbaren Gegebenheit ab, sondern repräsentieren deren intersubjektiv erarbeitete und kommunikativ ausgehandelte Bedeutung in symbolischer Form. Dabei differenziert Wygotski (2002, 226 f.) zwischen der genetisch früheren Referenzfunktion (auch „indikative Funktion“, „Hinweis auf ein Ding“ oder „gegenständlicher Bezug“ genannt) und der signikativen Bedeutung, die auf verallgemeinernden Interpretationsleistungen beruht und der ontogenetischen wie historischen Entwicklung unterliegt. Mit der analytischen Differenzierung zweier zusammengehörender Bedeutungskomponenten, der Referenz und der Verallgemeinerung, erweitert er das Konzept eines auf die Menge aller referierten Gegenstände abhebenden Bedeutungsumfanges (Extension) um psychologische und sozialhistorische Dimensionen, ohne den Bedeutungsbezug zur materiellen Welt zu negieren. Der verallgemeinerte Begriff, das „allgemeine Pferd“, ist in seiner Theorie eine diskursiv-gedanklich transformierte, aber aus dem Realen geschöpfte und ihm dialektisch verbundene Kategorie. Wie schon gesagt, unterscheidet auch Wygotski (2002, 387 f.) zwischen Bedeutung und Sinn. Wobei er den Sinn nicht nur, wie Frege, bei der Perspektivität verschiedener Namen („Morgenstern“ und „Abendstern“) einer naturwissenschaftlich für wahr gehaltenen Bedeutung („Venus“) ansiedelt. Vielmehr impliziert bei Wygotski auch die historisch generierte Bedeutung soziale Perspektiven. Den Sinn fasst er als persönlich-intentionale Auslegung der Begriffs-Gegenstandsrelation, die mit der Bedeutung interagiert und deren Entwicklung via Kommunikation vorantreibt. „Der Sinn eines Wortes ist [...] immer ein dynamisches, fließendes, komplexes Gebilde mit verschiedenen Zonen unterschiedlicher Stabilität. Die Bedeutung markiert nur eine Zone jenes Sinns, den das Wort im Kontext des Sprechens annimmt, und zwar die stabilste, einheitlichste und präziseste. Bekanntlich ändert ein Wort in unterschiedlichen Kontexten seinen Sinn. Die Bedeutung da125

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gegen [...] bleibt bei allen Änderungen des Wortsinns stabil. [...] Diese Bereicherung des Wortes durch den Sinn, den es aus dem ganzen Kontext gewinnt, stellt das Grundgesetz der Bedeutungsdynamik dar. Aus dem Kontext, in den es einbezogen ist, nimmt das Wort den intellektuellen und emotionalen Gehalt auf.“ (Wygotski 2002, 448/ 449, Hvh. I.A.)

Wygotski entwickelt sein Bedeutungskonzept im ersten Kapitel von Denken und Sprechen (2002) und präzisiert es in den Kapiteln zur Entwicklung der Begriffe. Er selbst thematisierte überwiegend die semantische Seite der Bedeutungsentwicklung und deren logische Systematik. Lurija (1982) ging später auch auf den Zusammenhang von semantischer Bedeutungsbildung und syntaktischer Strukturentwicklung ein.

9.2 Dialektik von Verallgemeinerung und sozialem Verkehr Im Einführungskapitel von Denken und Sprechen erörtert Wygotski (2002, 41 f.) die Frage der Bedeutung im Zusammenhang von methodologischen Problemen der Erforschung ineinander greifender semiotischer, sozialer und psychischer Prozesse, die das Verhältnis von Denken und Sprechen umfasst. In Auseinandersetzung mit zeitgenössischen linguistischen und psychologischen Forschungsansätzen, darunter der Strukturpsychologie Diltheys und Wundts, wendet er sich gegen zerlegende Analysemethoden, die vornehmlich die phonetische Seite des Sprechens fokussierten und die Bedeutung „wie die Rückseite des Mondes“ unerkannt ließen (ebd. 48). Eine solche atomisierende Forschung, kritisiert er, verstelle den Zugang zur besonderen Qualität des menschlichen Sprachlautes. Sie übergehe, dass lautliche Zeichen stets Träger historisch gewachsener Bedeutungen seien, und bediene die falsche traditionelle Annahme, ein Laut könne mit jedem beliebigen psychischen Inhalt oder Wahrnehmungsgegenstand assoziiert werden. Schon forschungsmethodisch wandle sich dadurch die „vom Lautaspekt des Wortes losgetrennte Bedeutung in eine reine Vorstellung, einen reinen Denkakt“ apriorischer Provenienz (Wygotski 2002, 47). Nicht minder kritisch sieht er die „Trennung der intellektuellen Seite unseres Bewusstseins von der affektiv-volitionalen“ und wertet sie als einen „der gravierendsten Fehler der gesamten traditionellen Psychologie“, der das Denken entweder in ein lebensfernes „Epiphänomen“ verwandle oder in „irgendeine autonome, ursprüngliche Kraft“, die das Bewusstsein „auf unbegreifliche Weise beeinflusst“ (Wygotski ebd. 54). 126

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Jener zerlegenden Forschung stellt er als eigene methodologische Prämisse die Interfunktionalität und Entwicklungsförmigkeit sozialer und psychischer Prozesse entgegen, die er „kausal-genetisch“ (Wygotski 2002, 52) anhand der kleinsten interfunktionalen Einheit zu erfassen sucht. So sieht er nicht nur das Verhältnis von Praxis, Sprechen und Denken als ineinander greifenden entwicklungsförmigen Zusammenhang. Auch das menschliche Bewusstsein begreift er als interfunktionale Verbindung psychischer Funktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotion und Kognition, deren Zusammenwirken sich im Laufe der psychosozialen Entwicklung verändert. Dem Sprachgebrauch misst er dabei eine entscheidende Rolle bei. Als kleinste interfunktionale Analyseeinheit, die jene prozessuale Interfunktionalität exemplarisch offenbart, wählt er die Wortbedeutung, die – anders als das Morphem – nicht nur die Laut-, sondern auch die Bedeutungsseite des Sprechens umschließt. Er vergleicht sie mit einem Wassertropfen, wo nicht die Einzelelemente die besondere Qualität des Wassers ergeben, sondern die Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff. Anhand der Wortbedeutung weist Wygotski (2002, 49) auf, dass sich die lautliche Seite des Wortes (Zeichen) stets mit seiner semantischen Bedeutung verbindet: „Ein Wort ohne Bedeutung ist kein Wort, sondern ein leerer Laut“. Das „Wesen der Wortbedeutung“ (ebd. 48) sieht er in Anlehnung an Edward Sapir3 nicht in der bloßen Gegenstandsreferenz, sondern in der Verallgemeinerung, der er die Qualität eines „dialektischen Sprungs“ (ebd. 49) von der Empfindung zum Denken beimisst: „Das Wort bezieht sich nie auf irgendeinen einzelnen Gegenstand, sondern auf eine ganze Gruppe oder eine ganze Klasse von Gegenständen. Deshalb stellt jedes Wort eine verdeckte Verallgemeinerung dar, jedes Wort verallgemeinert bereits. [...] Wie leicht zu erkennen ist, handelt es sich bei der Verallgemeinerung um einen ganz besonderen sprachlichen Denkakt, der die Wirklichkeit völlig anders wiedergibt, als unmittelbare Empfindungen und Wahrnehmungen.“ (Wygotski 2002, 48/49, Hvh. im Orig.)

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Vgl. Edward Sapir, Language. An Introduction of the Study of Speech (1921/1961, 21, zit. nach Wygotski 2002, 51). „Die elementare Sprache muss mit einer ganzen Gruppe, mit einer bestimmten Klasse unserer Erfahrungen verbunden sein. Die Erfahrungswelt muss außerordentlich vereinfacht sein und verallgemeinert sein, damit sie symbolisiert werden kann. [...] denn die einzelne Erfahrung lebt im einzelnen Bewußtsein und ist streng genommen nicht mitteilbar. Damit sie mitteilbar wird, muß sie einer gewissen Klasse zugeordnet werden, die nach stillschweigender Übereinkunft der Gesellschaft als Einheit betrachtet wird. “ 127

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Weil Denken „die Wirklichkeit im Bewusstsein qualitativ anders spiegelt als die unmittelbare Empfindung“ und die soziale wie mentale Qualität der Wortbedeutung, „hauptsächlich in der verallgemeinerten Widerspiegelung der Wirklichkeit besteht“ (Wygotski 2002, 49), folgert er, „dass die Wortbedeutung, die wir gerade aus psychologischer Sicht als Verallgemeinerung zu charakterisieren suchten, einen Denkakt im eigentlichen Sinne des Wortes darstellt. Gleichzeitig ist die Bedeutung ein unabdingbarer Bestandteil des [lautlichen] Wortes als solchen. Sie gehört in gleichem Maße zum Bereich des Sprechens wie zum Bereich des Denkens. [...] Ein Wort, dessen Bedeutung abhanden gekommen ist, gehört schon nicht mehr zum Bereich des Sprechens. Die Wortbedeutung kann daher in gleichem Maße als Phänomen des Sprechens wie des Denkens betrachtet werden. [...] Sie ist gleichzeitig Denken und Sprechen, weil sie eine Einheit des sprachlichen Denkens ist.“ (Wygotski 2002, 49, Hvh. im Orig.)

Die Entwicklung der Sprechen und Denken umfassenden Wortbedeutung wiederum verbindet sich für Wygotski untrennbar mit den Notwendigkeiten und Dynamiken des sozialen Verkehrs: Da „Sprechen“ genetisch gesehen „zuallererst ein Mittel des sozialen Verkehrs, der Äußerung und des Verstehens“ ist (ebd. 50, Hvh. im Orig.), leitet er die Beziehung von verallgemeinerndem Sprechen und Denken aus der Entwicklung menschlicher Verständigung her. Im Unterschied zur tierischen Signalgebung, die er nach Darwin eher als „Ansteckung“ (ebd. Hvh. im Orig.) denn als bewusst intendierte Mitteilung erachtet, zeige sich auf menschlichem Niveau, „dass ein Verkehr ohne Zeichen ebenso unmöglich ist wie ein Verkehr ohne Bedeutung. Um einem anderen Menschen irgendein Gefühl oder einen Bewusstseinsinhalt mitzuteilen, gibt es keinen anderen Weg, als diesen Inhalt einer bestimmten Klasse oder Gruppe von Erscheinungen zuzuordnen, und dies erfordert [...] unbedingt die Verallgemeinerung. Der Verkehr setzt also notwendigerweise die Verallgemeinerung und somit die Entwicklung der Wortbedeutung voraus, d.h. Verallgemeinerung wird bei der Entwicklung des Verkehrs möglich. Die höheren, dem Menschen eigenen Formen des psychischen Verkehrs sind folglich nur dadurch möglich, dass der Mensch durch Denken die Wirklichkeit verallgemeinert abbildet.“ (Wygotski 2002, 51, Hvh. I.A.)

Die „Verbindung zwischen Verkehr und Verallgemeinerung“ noch einmal als „Grundfunktionen des Sprechens“ (ebd. 51/52) hervorhebend, zu denen er auch die „Laute des menschlichen Sprechens [...] als Träger

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einer bestimmten Zeichenfunktion mit einer bestimmten Bedeutung“ (ebd. 53, Hvh. im Orig.) zählt, formuliert Wygotski als zentrale These: „Es gibt allen Grund, die Wortbedeutung nicht nur als Einheit von Denken und Sprechen zu betrachten, sondern auch als Einheit von Verallgemeinerung und Verkehr.“ (Wygotski 2002, 52, Hvh. im Orig.)

Im Hinblick auf die Wechselseitigkeit von kommunikativem Sprechen und intrapsychischem Denken sowie die Interfunktionalität kognitiver und emotiver Bewusstseinsebenen ergänzt er dieses Modell durch Hinweis auf ein „dynamisches Sinnsystem, das die Einheit der affektiven und intellektuellen Prozesse darstellt. Jede Idee enthält in verarbeiteter Form eine affektive Beziehung zur Wirklichkeit. Unsere Analysemethode gestattet es, die direkte Bewegung von Bedürfnissen und Strebungen des Menschen zu einer bestimmten Richtung des Denkens und umgekehrt von der Dynamik des Denkens zur Dynamik des Verhaltens und zur konkreten Tätigkeit der Persönlichkeit aufzudecken.“ (Wygotski 2002, 55)

Mit dem Zusammenwirken von Denken, Sprechen, Verallgemeinerung und Verkehr, das sich in der Wortbedeutung manifestiert und in Verschränkung mit handlungspraktischer Bedeutungserschließung affektivvolitionale wie kognitive Bezüge zur Realität integriert, entwickelt Wygotski einen methodologischen Schlüssel zum Erfassen interfunktionaler Prozesse der Bedeutungsbildung und beschreibt zugleich ein genetisches Prinzip der Sprachentwicklung. Die Tragweite dieser These verdeutlicht sich anhand des Verhältnisses von Verallgemeinerung, Abstraktion und Begriff.

Abstraktion und Verallgemeinerung Bekanntlich gehört das Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem, Abstraktem und Konkretem – oder, wie Hegel (Logik III, vgl. Klaus/ Buhr 1965) sagt, die Dialektik des Einzelnen (Individuellen), Besonderen (Art) und Allgemeinen (Gattung) – zu den zentralsten Problemen der Philosophie. Indem dieses Verhältnis Kernfragen der Logik im Sinne von Klassifikation, begrifflicher Zuordnung und Schlussfolgerung berührt, ist seine Bestimmung entscheidend für die ontologische und erkenntnistheoretische Auffassung von Wesentlichkeit, Identität und Differenz. In der Philosophiegeschichte kreist die Frage der Relation von Wahrnehmung und Erkenntnis in der Regel um Probleme der Zugehörigkeit bzw. Zuordnung des Einzelnen zum Allgemeinen, was sich – je 129

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nach Weltsicht – anhand gemeinsamer „substantieller“ Eigenschaften bzw. sinnlich, praktisch oder diskursiv zugeordneter Merkmale entscheidet. Die Frage der Merkmalsbestimmung wiederum, verbindet sich seit Alters her mit dem Begriff der Abstraktion, worunter im weitesten Sinne das diskursive oder gedankliche Herausheben gemeinsamer Merkmale aus real gegebenen Entitäten oder Prozessen zu verstehen ist, anhand derer die Zugehörigkeit von sprachlich bezeichneten Gegenständen und Handlungserfahrungen zu einer allgemeinen Klasse oder Kategorie bestimmt wird. Schon Aristoteles hatte sich mit Abstraktion beschäftigt, als er die Frage stellte, wie das Denken vom Einzelnen zum Allgemeinen, der Form, gelangt. In seinem Konzept der ersten und zweiten Substanz (Einzelding und Allgemeines) war zwar letztlich das Einzelne durch das Allgemeine metaphysisch prädiziert. Die das „Wesen“ der Einzeldinge ausmachenden Ideen existierten für ihn jedoch nicht losgelöst vom empirischen Einzelnen, sondern wurden durch verstandesmäßige Handlung von diesem abstrahiert (vgl. Klaus/Buhr 1975; Hirschberger 1980 Bd. 1). Da das Denken das Allgemeine nur vermittels der Vorstellungsbilder erkenne, die von der Wahrnehmung stammten, sondere es bestimmte Eigenschaften von konkreten Gegenständen ab. Der Mathematiker etwa ließe alles Sinnliche weg und betrachte das Quantum für sich (Aristoteles, Metaphysik K 3, zit. nach Klaus/Buhr 1975). Hinsichtlich der Einzeldinge unterschied Aristoteles – grob gesagt – zwischen akzidentiellen (zufälligen) und substantiellen (wesentlichen) „Eigenschaften“, aus welchen sich das Allgemeine erschließt. Der erstmals von ihm formulierte syllogistische Schluss – „Alle Menschen sind sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich“ – arbeitet mit der aus „wesentlichen“ allgemeinen Merkmalen hergeleiteten kategorialen Zuordnung und Deduktion. Aus einer dialektischen Sicht, derzufolge das Allgemeine als Erscheinung der absoluten Idee allem Einzelnen vorausgeht und den Reichtum des Einzelnen und Besonderen umfasst, hielt Hegel Abstraktion für ein wesentliches Moment des Erkenntnisprozesses; wobei er sich gegen die empiristische Vorstellung wandte, beim Abstrahieren fielen nur Sinnesdaten weg. Abstrahierendes Denken definierte er in konstruktivem Sinne als „Aufheben“ des sinnlichen Stoffes und „Reduktion desselben als bloßer Erscheinung auf das Wesentliche, welches sich nur im Begriff manifestiert“ (Hegel, Logik II, zit. nach Klaus/Buhr 1975, 42). In materialistischer Umkehrung der Hegel’schen Dialektik baut die marxistische Bestimmung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen auf einer monistischen Vorstellung von Naturgesetzen auf. Die Welt wird als Gesamtheit wechselwirksamer Struktur-, Bewegungs- und Ent130

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

wicklungsformen gesehen, bei der Einzelerscheinungen verschiedene gemeinsame Merkmale aufweisen. „Der Stoff, die Materie ist nichts anderes als die Gesamtheit der Stoffe, aus der dieser Begriff abstrahiert, die Bewegung als solche nichts als die Gesamtheit aller sinnlich wahrnehmbaren Bewegungsformen; Worte wie Materie und Bewegung sind nichts als Abkürzungen, in die wir viele verschiedene sinnlich wahrnehmbare Dinge zusammenfassen.“ (Engels 1975, 503, Hvh. im Orig.)

Das Allgemeine einer Objektklasse integriert dabei nicht nur gemeinsame Merkmale, sondern weist auch gemeinsame Relationen und Wechselwirkungen der Dinge einer Klasse zu anderen Klassen von Dingen auf (Engels 1975). Da das Allgemeine nur im Konkreten existiert, vermittelt sich auch seine Erkenntnis über den praktischen Umgang mit jenem. Für Marx (1973) erschließt sich Allgemeines historisch durch wiederholte, sich erweiternde Tätigkeit und manifestiert sich in dem daraus hergeleiteten Begriff (vgl. auch Engels 1975). Die für die Klassifikation maßgebliche Herausgliederung gemeinsamer Merkmale wird, wie Marx in Randglossen zu einem zeitgenössischen Ökonomen formuliert, entlang von Bedürfnissen, Erfahrungen und Gebrauch generiert. Abstraktion wird also keineswegs als bewusst intendiertes Extrahieren von Merkmalen aus immer schon erkannten allgemeinen Vehältnissen verstanden, sondern als bedürfnisgeleitetes, handlungspraktisches Herausheben bestimmter Gesichtspunkte aus wiederkehrenden Erfahrungen, die dann der kulturellen sprachlichen Verallgemeinerung zugeführt werden: „Menschen beginnen keineswegs damit, in diesem ,theoretischen Verhältnis zu den Dingen der Außenwelt zu stehen’. Sie fangen, wie jedes Tier, damit an, zu essen, zu trinken etc. also nicht in einem Verhältnis zu ,stehen’, sondern sich aktiv zu verhalten, sich gewisser Dinge der Außenwelt zu bemächtigen durch die Tat und so ihr Bedürfnis zu befriedigen [...]. Durch die Wiederholung dieses Prozesses prägt sich die Eigenschaft dieser Dinge, ihre ,Bedürfnisse zu befrieden’ ihrem Hirn ein, die Menschen wie die Tiere lernen auch ,theoretisch’ die äußeren Dinge, die zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen, von allen anderen zu unterscheiden. Auf gewissem Grad der Fortentwicklung [...] werden sie auch bei der ganzen Klasse diese erfahrungsmäßig von der übrigen Außenwelt unterschiednen Dinge sprachlich taufen. [...] Aber diese sprachliche Bezeichnung drückt durchaus nur aus als Vorstellung, was wiederholte Betätigung zur Erfahrung gemacht hat, nämlich daß den in einem gesellschaftlichen Zusammenhang bereits lebenden Menschen [...] gewisse äußere Dinge zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse dienen. [...] sie nennen sie vielleicht ,Gut’ oder sonst etwas, was ausdrückt, daß sie praktisch diese Dinge

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gebrauchen, [...] und geben dem Ding diesen Nützlichkeitscharakter als von ihm besessen, obgleich es einem Schaf schwerlich als eine seiner ,nützlichen’ Eigenschaften vorkäme, daß es vom Menschen eßbar ist.“ (Marx 1973, 362/ 363, Hvh. im Orig.)

Verallgemeinerungen sind demzufolge Klassifikationen, die anhand abstrahierter Merkmale vorgenommen werden. Wobei Marx deutlich zum Ausdruck bringt, dass er die in wiederholten Tätigkeitserfahrungen gewonnenen „wesentlichen“ Merkmale nicht als den Dingen anhaftende „Eigenschaften“ versteht, sondern als subjektiv erarbeitete, sprachlich signifizierte Erfahrungswerte der Mensch-Umwelt-Auseinandersetzung, die Kriterien der sprachlichen Unterscheidung und Zusammenfassung von Objektklassen in allgemeinen Begriffen sind. Weil sich im Allgemeinbegriff die Vielfalt historisch erschlossener bedeutungshafter Merkmale und Merkmalsbeziehungen einschließlich naturgesetzlicher Invarianzen aus dem jeweiligen historischen Wissensstand heraus spiegelt (Engels 1975), ist er ein wichtiges Instrument des Erkenntnisprozesses. Menschliche Erkenntnis vollzieht sich, wie Engels (ebd.) betont, als fortlaufende induktiv-deduktive Dialektik, bei der sich die tätigkeitsvermittelte Definition des Allgemeinen aus dem konkret Bearbeiteten und umgekehrt der Abgleich des Einzelnen mit dem schon erarbeiteten Allgemeinen reziprok zur sprachlichen Definition entwickelt. Ein historisch entwickelter allgemeiner Begriff strukturiert das Erfassen unbekannter oder unerforschter Phänomene, deren Exploration wiederum modifizierend auf den allgemeinen Begriff und sein Verhältnis zu anderen Begriffen zurückwirkt. Diese Sichtweise impliziert, dass die Beziehung von Extension (alle unter einen Begriff fallenden Gegenstände) und Intension (Bedeutungsdefinition anhand von Merkmalen und Merkmalsbeziehungen) eines Begriffes keine statische, mathematisch exakte Relation sein kann, die bedürfnis- und handlungsunabhängiges Wissen über alle je gewesenen, gegenwärtigen und zukünftigen Vertreter von Objektklassen voraussetzen würde, sondern ein entwicklungsoffenes, von menschlichen Gebräuchen und Interpretationen abhängiges Verhältnis ist. Wie im Krisenessay schon angeklungen, hält sich Wygotski (1985; 2002) ebenfalls an diese Auffassung, wenn er von „Verallgemeinerung“ als in Wortbedeutungen niedergelegten aktiven (inter-)subjektiven Vorgängen spricht, die sich reziprok zur handlungspraktischen bzw. wissenschaftlichen Auseinandersetzung vollziehen. Auch für ihn ist Abstraktion eine notwendige Voraussetzung der Verallgemeinerung. Anhand einer Untersuchung zur Begriffsentwicklung legt er dar, dass der logische Begriff auf „Analyse und Synthese“ (Wygotski 2002, 233) beruht, in132

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dem für wesentlich befundene Gesichtspunkte der Umweltexploration im Abgleich verschiedener Phänomene und Situationen von ihren ursprünglichen, situativ erfahrbaren Verbindungen abstrahiert und auf einer allgemeineren begrifflichen Klassifikationsebene synthetisch zusammengeführt werden. Gemäß seinem genetischen Sprachverständnis führt auch Wygotski Abstraktion und Verallgemeinerung entwicklungsgeschichtlich auf bedürfnisgeleitete handlungspraktische Explorationen zurück. Rudimentäre Formen sieht er schon auf naturgeschichtlichem Niveau gegeben (Wygotski 2002, 235). Etwa bei Generalisierungsleistungen von Affen, die alle möglichen langen Gegenstände als Hilfsmittel verwenden, indem sie die längliche Form gewissermaßen als Gebrauchsmerkmal abstrahieren und für unterschiedliche Anwendungen verallgemeinern. In der kulturellen Entwicklung – und hier kommt die Bedeutung der These über den genetischen Zusammenhang von Denken und Sprechen, Verallgemeinerung und sozialem Verkehr zum Tragen – spielt darüber hinaus die intersubjektive sprachliche Aushandlung und Weitergabe übertragbarer Erfahrungsaspekte eine entscheidende Rolle bei der Merkmalsgenerierung. Aus der Möglichkeit der willkürlichen sozialen Lenkung von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis durch sprachliche Zeichen (Wygotski 1992) erwächst eine neue Qualität der abstraktiven Hervorhebung verhaltens-, bedürfnis- und gebrauchsrelevanter Gesichtspunkte, die mit Hilfe des bedeutungstragenden Zeichens memoriert und situationsübergreifend mit den Erfahrungen anderer Menschen abgeglichen, sprich verallgemeinert werden können. Im Unterschied zur tierischen Generalisierung, die der gesichtsfeldabhängigen Wahrnehmung in praktischen Handlungskontexten verhaftet ist, vermögen demnach Menschen mittels sprachlicher Zeichen bedeutsame Aspekte aus ganzheitlichen Gegebenheiten und Situationen ideell zu extrahieren, mit mannigfaltigsten Erfahrungen anderer Menschen in Zeichen zusammenzuführen und auf diese Weise die Bedeutung der Zeichen zu entwickeln.

Verallgemeinerung und logische Kategorie Gemäß klassischer linguistischer Theorien sind in Begriffen oder auch in Worten sprachlich repräsentierte Gegenstände (Dinge, Gefühle, Erfahrungen, Handlungen, Verhältnisse etc.) unter Hervorheben gemeinsamer und Vernachlässigung unterscheidender Merkmale in Objektklassen zusammengefasst, die wiederum großenteils in hierarchischen Gefügen von Ober- und Unterbegriffen, so genannten Begriffspyramiden, organisiert sind und mit anderen Kategoriensystemen korrespondieren 133

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(vgl. auch Wygotski 2002; Lurija 1982; Hoffmann 1986; Brunner/Olson 1984). Lurija (1982, 190) versteht die Einbindung von Begriffen in hierarchischen Kategoriensystemen als in langen historischen Zeiträumen handlungspraktisch und intersubjektiv generierte paradigmatische Struktur, die, ontogenetisch mit der Sprache angeeignet, auf entwickeltem Sprachniveau bei jeder Wortverwendung aktiviert wird. Über den Platz eines Wortes im hierarchischen Begriffssystem – zum Beispiel „Katze“ als Unterbegriff von „Haustier“ und Nebenbegriff von „Hund“ – werden historisch generierte Merkmalszuerkennungen erfasst, die die Bedeutung von Worten präzisieren und Urteile (z.B. „die Katze ist ein Tier, also atmet sie“) auch situations- und erfahrungsunabhängig organisieren (ebd.). Anders als die syntagmatische Struktur einer Ereignisaussage („dieses Haus brennt“, „Opa kocht“), die konkrete Handlungs- oder Ereignisfolgen referiert, ist die paradigmatische Systematik von Wortbedeutungen („Hunde sind Tiere“, „Holz brennt“) im individuellen Sprechen und Denken nicht empirisch, sondern nur gedanklich anhand der kategorialen Zugehörigkeit von Worten nachzuvollziehen. Die paradigmatische Struktur der Sprache als prozessuales Ergebnis jahrtausendealter Tätigkeitserfahrung und diskursiver Bedeutungsaushandlung wertend, sieht Lurija (1982, 41, Hvh. im Orig.) im verallgemeinernden Wort „eine Zelle des Denkens“. Denn das „Wort verdoppelt die Welt nicht nur, gewährleistet nicht nur das Entstehen der entsprechenden Vorstellungen, sondern ist ein mächtiges Werkzeug zur Analyse der Welt, indem es die gesellschaftliche Erfahrung in Bezug auf einen Gegenstand übermittelt“ und „über die Grenzen der sinnlichen Erfahrung hinaus [...] in die Sphäre des Rationalen“ führt (Lurija ebd. 44/46, Hvh. im Orig.). Demzufolge ist die auf Abstraktion und Verallgemeinerung basierende Systematisierung von Wortbedeutungen eine Grundvoraussetzung des über persönliche Erfahrungen und Situationswahrnehmungen hinausreichenden logischen Denkens und ebensolcher Verständigung. Immerhin beruht die alltägliche Zuordnung vielfältigster Dinge und Prozesse nicht auf immer neuer Exploration und Bedeutungsaushandlung, sondern auf intellektuellen Operation mit begrifflichen Instrumentarien, die qua Merkmalshervorhebung und/oder Stellung in historisch generierten Kategoriensystemen orientierungswirksame Informationen über sprachlich referierte Gegenstände und Verhältnisse liefern und sich im Handeln präzisieren bzw. modifizieren. Der Psycholinguist Joachim Hoffmann (1986) sieht die Transitivität von Begriffshierarchien, das heißt das Vorkommen der oberbegrifflichen Merkmale in den Unterbegriffen, als grundlegende Voraussetzung 134

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erfahrungsüberschreitender kognitiver Vorgänge wie der Aneignung neuer Begriffe, Urteil und Schluss. Unter Ausnutzen der Transitivität kann, so Hoffmann, ein neuer Begriff durch nur zwei Informationen – die Zugehörigkeit zu einem Oberbegriff und die Differenzierung zu Nebenbegriffen – im Gedächtnis etabliert werden, ohne dass die betreffende Person ein Objekt der entsprechenden Begriffsklasse je gesehen hat. Der subjektive Gebrauch relativ stabiler kontextunabhängiger transitiver Merkmale, die die Grundlage der Klassifikation bilden, ist seitens der psychologischen Begriffsforschung vielfach nachgewiesen (vgl. u.a. Olver/Hornsby 1971; Bruner/Olson 1984; Hoffmann 1986).4 Allerdings scheint die Transitivität bei historisch gewachsenen, nicht wissenschaftlich definierten, Begriffen unterschiedlich gelagert und keineswegs immer im streng formallogischen Sinn zu gelten. Aus der psycholinguistischen Forschung ist weiterhin bekannt, dass die paradigmatische Struktur von ober- und unterbegrifflich geordneten Kategoriensystemen nicht universell ist. Beispielsweise zeigen Untersuchungen von Lurija (1993), Scribner/Cole (1973) oder Greenfield/Reich/ Olver (1971) bei Volksstämmen, die nicht über eine Schriftsprache verfügten, dass Menschen hier keine hierarchischen oberbegrifflichen Beziehungen, sondern syntagmatische Beziehungen gemäß praktischer Handlungserfahrungen herstellten. Auch im europäischen Sprachgebrauch weisen, wie ich noch im Zusammenhang geschlechtlicher Arbeitsbegriffe thematisiere, längst nicht alle konventionell gebräuchlichen Begriffe eine logisch-hierarchische Struktur auf. Darüber, wie die paradigmatische Struktur von Begriffen entstanden ist, lassen sich nur begründete Vermutungen anstellen. Eine wichtige Rolle dürfte die Herausbildung der Schriftsprache gespielt haben, die aufgrund ihrer größeren Distanz zum handlungsverbundenen Sprechen einen wesentlich höheren Grad gedanklich-diskursiver Verallgemeinerung aufweist als die gesprochene Sprache (Wygotski 2002; Lurija 1982; Bruner/Olson 1984). Eine weitere Erklärung wäre die Entwicklung institutioneller Arbeits-, Wissenschafts- und Bildungsstrukturen, die zur Verdichtung und Standardisierung von praktischen Kooperationsbeziehungen sowie einer neuen Qualität des diskursiven Austausches führt. 4

Hoffmann nennt unter anderem Barslou (1982), der nachweist, dass einige Merkmalskennzeichnungen unabhängig von Kontext und Darbietung gleichschnell und stabil von Versuchspersonen bestätigt werden sowie McClokey/Glucksberg (1979), Smith/Shoben/Rips (1974) und Klix (1980). Letztere ermitteln stabile transitive Merkmalsbeziehungen, die allerdings nicht als solche im Gedächtnis repräsentiert, sondern prozedural durch Abgleich von Ober- und Unterbegriffen abgeleitet werden (Quellen jeweils nach Hoffmann 1986). 135

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Zur Definition des Merkmals Kommen wir zum Problem der Merkmalsdefinition: Die erkenntnistheoretische Bestimmung von „Merkmalen“, die die Grundlage kategorialer Einordnung bilden, ist kompliziert. Nicht zuletzt deshalb, weil Merkmalsangaben immer nur aspekthaft extrapolierte Informationen über ganzheitliche Handlungsvollzüge, Vorstellungen oder Denkprozesse wiedergeben und diese also anders spiegeln als die unmittelbare Wahrnehmung. Hinzu kommt, dass Merkmalshervorhebungen beim sympraktischen Sprechen mit ganzheitlichen sensumotorischen Wahrnehmungsmodalitäten korrespondieren, während sie im synsemantischen Sprachgebrauch eine Form doppelter sprachlicher Reflexion im Sinne der aspekthaften sprachlichen Vergegenwärtigung menschlicher Deutungen darstellen. Lurija (1982) bezeichnet kategorial hervorgehobene Merkmale, die bedeutsame Informationen über sprachlich referierte Entitäten repräsentieren, als praktisch erarbeitete und im sozialen Verkehr synthetisierte Erfahrungswerte der Mensch-Umwelt-Mensch-Auseinandersetzung, die in Wortbedeutungen eingelassen sind. Er fasst sie als eine Art Informationsmarken der „Gegenstandsanalyse“ (Lurija 1982, 40), die historisch generierte Erfahrungen übermitteln und der kulturellen wie ontogenetischen Entwicklung unterliegen. Indem Wortbedeutungen sehr flexibel kategorisiert werden können (z.B. Kohle als Zeicheninstrument, Brennmaterial oder chemischer Stoff), werden je nach kontextueller Verwendung und persönlicher Intention unterschiedliche Merkmalshervorhebungen mobilisiert, die je verschiedenen Hinsichten und Handlungsnotwendigkeiten entsprechen und mit unterschiedlichen semantischen Aspekten der Wortbedeutungen und ihrer kategorialen wie lexikalischen Einbindung interagieren. Wygotski äußert sich nicht explizit zur Merkmalsdefinition. Meistens verwendet er „Merkmal“ in der Bedeutung von (kommunizierten) Erfahrungswerten des Umgangs mit außersprachlichen Entitäten. In der (noch darzustellenden) Untersuchung zur Begriffsentwicklung (Wygotski 2002) spricht er im Zusammenhang sensorischer Auffassung auch von den Gegenständen anhaftenden Merkmalen. Indessen impliziert seine in der Geschichte der höheren psychischen Funktionen (Wygotski 1992) postulierte Annahme der Transformation von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit durch den Gebrauch kultureller Zeichen, dass die sensorische Wahrnehmung nicht unbeeinflusst von sprachlichen Deutungen bleibt. Ich halte mich an Lurijas Definition sprachlich referierter Merkmale im Sinne menschlich erarbeiteter Erfahrungsaspekte, die meines

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Erachtens auch einer konsistenten Auslegung von Wygotskis Theoriebildung entspricht. Hoffmann (1986, 57) sieht Begriffe als „im Gedächtnis gespeicherte Einheiten, die Informationen über Umweltausschnitte zusammenfassend widerspiegeln“. „Begriffliche Merkmale“ definiert er als „Teile von Begriffen“, die „Eigenschaften der im Begriff zusammengefassten Objekte und Erscheinungen der objektiven Realität und Relationen zu anderen Begriffen“ repräsentieren. Indem er „Merkmale“ ausdrücklich auf „Gedächtniseinheiten“ (ebd.) bezieht, fasst er sie ebenfalls als verarbeitete Informationen auf, die nicht den Dingen anhaften, sondern bedeutsame Gesichtspunkte von Dingen und Erscheinungen mehr oder minder angemessen wiedergeben. Auch er sieht Merkmalsbildung als entwicklungsoffenen Vorgang, der im individuellen wie historischen Begriffsbildungsprozess nie abgeschlossen ist. Unter Hinweis auf einschlägige Untersuchungen zeigt er, dass Merkmalsangaben eng mit persönlichen Erfahrungen und situativen Kontexten korrespondieren. Dabei gäbe es jedoch immer einen Teil von relativ stabilen, kontextunabhängigen Begriffsmerkmalen, die den „Kern eines Begriffes“ bestimmen (Hoffmann ebd. 33). Hoffmann (1986) nennt verschiedene Merkmalsgruppen, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und untereinander vernetzt sind: Hinsichtlich der Gegenstandsreferenz unterscheidet er sensorische, emotionale und verhaltenswirksame Merkmale, die die jeweiligen Wirkungen der bezeichneten Objekte repräsentieren, sowie relationale Merkmale (Schwester, primär, vorne), die Beziehungen von Objekten anzeigen. Als weitere Merkmalsgruppe führt er Sprachmerkmale an, die über syntagmatische (horizontale) und kategoriale (vertikale) Bindungen von Begriffen informieren. Horizontale Merkmale (frames) evozieren kontextuelle Begriffszusammenhänge (Lehrer - unterrichten; Malen - Bild), vertikale Merkmale zeigen kategoriale Über- und Unterordnungen (Instrument - Werkzeug - Hammer) an. Während sich horizontale Beziehungen empirisch nachvollziehen lassen, sind vertikale Beziehungen das Resultat begrifflicher Denkprozesse, die man nur gedanklich herstellen kann. Kritisch anzumerken ist, dass Hoffmann eine etwas schematische Trennung zwischen verhaltenswirksamen Merkmalen und solchen sensorischen, emotionalen oder relationalen Gehalts vornimmt. Dadurch übersieht er interfunktionale Wirkungsweisen (beispielsweise die Verhaltensrelevanz und emotionale Qualität der „Spitzheit“ von Nadeln als sensorischer Information). Ein anderes Problem ist, dass er zwar den Zusammenhang von Handlung und Begriffsbildung betont und an anthropologischen Beispielen zeigt, wie stark die Art sprachlicher Klassi137

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fizierung mit kulturellen Praktiken korrespondiert. Trotzdem spart er bei seiner Auflistung gebrauchsförmige Merkmale aus, die sowohl die handlungspraktische als auch die emotionale Wertigkeit von bezeichneten Gegenständen repräsentieren. Meines Erachtens übergeht er damit eine wichtige genetische Dimension historischer Begriffsentwicklung, die die Hervorgehobenheit kategorialer Merkmale mindesten miterklärt. Denn es zeigt sich, dass sensorische Merkmale bei Klassenzusammenfassungen genau dann eine prominente Stellung einnehmen, wenn sie gebrauchsrelevant sind. Beispielsweise sind sensorische Merkmale, die zugleich gebrauchsförmigen Charakter tragen (etwa die gewölbte Form von „Gefäßen“, die Süße von „Äpfeln“ oder Schärfe und Länge von „Messern“) in den Wortbedeutungen „Gefäß“, „Apfel“, „Messer“ repräsentiert. Wohingegen andere sensorische Merkmale – in diesem Fall Farben oder besondere Formen – für die Klassenbildung irrelevant sind und allenfalls bei der syntagmatischen Ereignisaussage eine Rolle spielen. Indessen scheint die Repräsentation funktionaler sensorischer Merkmale weitgehend auf die unteren Klassifikationsebenen beschränkt. Bemerkenswert ist nämlich, dass schon bei alltagsgebräuchlichen Zuordnungen zu Oberbegriffen – z.B. „Hammer“ und „Zange“ zu „Werkzeug“ oder „Lauch“ und „Karotte“ zu „Gemüse“– der sensorische Informationsgehalt von gebrauchsförmigen Merkmalen abnimmt. Fallen auf den untersten Ebenen („Hammer“, „Karotte“) Gebrauchsrepräsentationen noch mit sensorischen Merkmalen wie Schwere, Form, Farbe oder Konsistenz zusammen, zeigen schon die Wortbedeutungen der mittleren Abstraktionsebenen („Werkzeug, „Gemüse“) von sensorischen Informationen gelöste Gebrauchsmodalitäten an, die nur qua situativer Beobachtung oder eben, im Sprachgebrauch, gedanklich-diskursiv zu erfassen sind. Auch Untersuchungen zur kindlichen Begriffsentwicklung im interkulturellen Vergleich (Greenfield/Reich/Olver 1971; Mosher/Hornsby 1971; Olver/Hornsby 1971) zeigen, dass sensorische Merkmalszuerkennungen mit zunehmender Fähigkeit zur oberbegrifflichen Äquivalenzbildung zugunsten dominant werdender funktionaler, sprich gebrauchsförmiger Zuordnungskriterien abnehmen. So mag die Prominenz von Gebrauchsmerkmalen bei historisch gewachsenen Begriffen ein Indiz dafür sein, dass sich Menschen Bedeutungen bedürfnisorientiert und handlungsförmig-diskursiv erschließen. Welche Rolle der Gebrauchsaspekt bei geschlechtlichen Kategorienbildungen spielt, ob auch hier hierarchische Begriffsgliederung „Verhaltensorientierungen“ folgt, die aus „gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen entwickelt“ sind (Hoffmann 1986, 34), oder ob sie eher einer hege138

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monialen Interessensperspektive unterliegen, bleibt in den Kapiteln zur Herausbildung geschlechtlicher Arbeitsbegriffe zu untersuchen. Vorerst will ich den psychologischen Stellenwert von Abstraktion und Verallgemeinerung, Merkmalshervorhebung und -synthese an einem sehr viel einfacheren Beispiel demonstrieren: Das Wort „Apfel“, beispielsweise, fasst eine Klasse von Früchten zusammen, indem es gemeinsame Merkmale der Gestalt, des Geschmacks, des Gebrauchs und der Herkunft vom Baum referiert. Von besonderen Merkmalen einzelner Äpfel, speziellen Größen oder Zeichnungen, ist abstrahiert. Bereits auf dieser Ebene findet eine Synthetisierungsleistung von ähnlichen Erfahrungen statt, da weder Form und Geschmack einzelner Äpfel noch ihr jeweiliger situativer Gebrauch identisch ist. Die nächst höhere Ebene, auf welcher „Apfel“, „Erdbeere“, „Banane“ etc. zum Oberbegriff „Obst“ zusammenfallen, referiert nur noch sehr unspezifisch süßen Geschmack, agrarische Herkunft und rohe Genießbarkeit als gemeinsame Gebrauchs- bzw. Herstellungsattribute. Hier ist bereits von Gestalt und Pflanzenart abgesehen. Auf der folgenden Verallgemeinerungsstufe „Nahrungsmittel“ erscheint nur noch der nährende Gebrauchswert. Waren die allgemeinen Merkmale der vorgenannten Ebenen noch an „Essen“ gebunden, bildet die nächste Ebene „Nahrung“ eine generalisierte Wirkung ab, die vom Essen gelöst und auf andere Vorgänge übertragen werden kann, etwa „Creme“ als Nahrung der Haut, „Sensationen“ als Nahrung von Gerüchten. Auf einer darüber liegenden Verallgemeinerungsebene findet man den noch abstrakteren Begriff der „Wirkung“ mit einem sehr weiten Bedeutungsumfang und einem sehr hohen Grad der Reduktion, sprich synthetischen Verdichtung von Merkmalen. Begriffspyramide „Wirkung“ „Nahrung“ „Nahrungsmittel“ „Obst“ „Apfel“

„Banane“

„Creme“

„Sensationen“

„Backwaren“ „Erdbeere“

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Wortbedeutungen spiegeln also, wie Wygotski (2002, 49) konstatiert, die „Wirklichkeit völlig anders als unmittelbare Empfindungen und Wahrnehmungen“. In ihnen sind wesentliche Merkmale verallgemeinert und vom Gesamterscheinen der Dinge abstrahiert. Durch Verallgemeinerung ,wesentlicher’ und Absehen von ,unwesentlichen’ Merkmalen werden Klassen von Dingen im Wort synthetisiert. Je höher die Klassifikationsebene, desto gelöster ist der Gegenstandsbezug des Wortes von den konkreten Merkmalen des referierten Gegenstandes und desto übertragbarer ist die Bedeutung auf andere Dinge und Verhältnisse. Anhand der verballogisch organisierten Begriffspyramide, die von konkreten Objektklassen zu immer allgemeineren Begriffen führt, wird einsichtig, dass klassifizierende Begriffsbildung eine Voraussetzung von situationsunabhängigem logischem Denken, Schlussfolgerung und Analogiebildung ist. Es können analoge Funktionen so verschiedener Gegenstände wie Lebensmittel und Sensationen erschlossen werden. Mittels des abstrakt-hierarchischen Begriffsaufbaus lässt sich deduktiv vom allgemeinen Begriff auf wesentliche Gebrauchseigenschaften und Wirkungen des Einzelnen schließen und induktiv vom Einzelnen ausgehend das Besondere bzw. Allgemeine präzisieren. Indem das Allgemeine das Einzelne definiert, referieren oberbegriffliche Kategorien nicht nur kognitive Informationen, sondern auch kulturelle Wertevorstellungen, die Bedürfnisse und Emotionen berühren. So zeigt die Kategorie „Nahrung“ mit den Gebrauchseigenschaften auch die Wertemerkmale der Subkategorie „Apfel“ an. Ein Ding, etwa ein verdorrter Apfel, das oberbegriffliche Gebrauchsschemata nicht erfüllt, erscheint bereits qua Begriffslogik defizitär. Schon das profane Beispiel lässt ahnen, wie stark sprachliche Logik mit selektiver Hervorhebung und Bedeutungsübertragung operiert, die unsere Aufmerksamkeit lenkt und das Erfassen von Identitäten sowohl in kognitiver als auch in emotionaler Hinsicht organisiert.

9.3 Kulturelle Bedeutungsgenese und geschlechtliche Kategorien Auch geschlechtlich zugeordnete Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe sind durch Abstraktion, selektive Verallgemeinerung und Bedeutungsübertragung generiert, was deren Aussage nachhaltig prägt. Da ich das später in der Auseinandersetzung mit der Soziogenese geschlechtlicher Begriffe eingehend thematisiere, sei vorab nur ein Beispiel selektiver geschlechtlicher Verallgemeinerung angeführt, das später vertieft werden soll. Es verdeutlicht, dass die in Begriffssystemen verdichteten „gesellschaftlichen Erfahrungen“, von denen Lurija (1982, 44/46) spricht, 140

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sehr wohl ideologische Züge aufweisen können. – Gerade weil der Zusammenhang von sozialem Verkehr und Verallgemeinerung subjektive und mithin interessensförmige Vorgänge aspekthafter Merkmalshervorhebung impliziert. Zu den historisch folgenreichsten Beispielen selektiver geschlechtlicher Kategorienbildung gehört die schon erwähnte Debatte über die „Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976), die im Vorfeld der Französischen Revolution unter männlichen Literaten und Humanwissenschaftlern ausgetragen worden war. Unter abstraktiver Hervorhebung empathischer versus rational-hervorbringender „Charaktereigenschaften“ hatte man hier weibliche und männliche Persönlichkeitsqualitäten stilisiert. Für den weiblichen Sozialcharakter waren vornehmlich Merkmale der Kindererziehung extrahiert und verallgemeinert worden, für den männlichen Attribute der Berufsarbeit (Hausen 1976; Frevert 1995). In diesem Begriffsbildungsprozedere war nicht nur von den konkreten Gegebenheiten individueller Männer- und Frauenarbeit abstrahiert worden, sondern von der Arbeits- und Lebensweise ganzer sozialer Schichten, etwa der Manufakturarbeiterinnen oder Bäuerinnen, die im Interessensfokus des damaligen meinungsbildenden Bildungsbürgertums eine untergeordnete Rolle spielten. Medizinisch vermessen und philosophisch systematisiert (Honegger 1991) wurden die charakterlichen Geschlechtstypologien maßgeblich für die Erziehungskonzepte des 19. und beginnenden 20. Jhs. und enfalteten auf diesem Wege lebenspraktische Evidenz. War die mütterliche Kategorisierung der Frauen in der Debatte des ausgehenden 18. Jhs. noch körperlich begründet gewesen und an häusliche Erziehung gebunden, änderte sich dies zu Beginn des 20. Jhs.: Angesichts der drängenden sozialen Industrialisierungsfolgen nämlich wurde das Leitmerkmal „Mütterlichkeit“ aus dem häuslich-familiären Kontext gelöst und nunmehr unter dem Leitbegriff „geistige Mütterlichkeit“ auf die gesellschaftsöffentliche Ebene der neu gegründeten sozialen Frauenberufe übertragen (Sachße 2003; Hausen 1976), sprich: es wurde mit anderen Merkmalen synthetisiert. Selektive Kategorienbildung heißt nicht, dass oberbegrifflich abstrahierte Verhältnisse der Symbolisierung entzogen wären. Sie bedeutet „nur“, dass die Aufmerksamkeit auf betonte Gebrauchsfunktionen gelenkt wird, die Wertemuster transportieren und orientierungsrelevant sind. Soziale Praktiken, die nicht den oberbegrifflich zusammengeführten Eigenschaftszuerkennungen entsprechen, werden unscharf oder defizitär gespiegelt. Beispielsweise führte die amtliche Berufestatistik die in Familienbetrieben arbeitenden Handwerks- und Bauersfrauen bis in die 1980er Jahre als „mithelfende Familienangehörige“ (Willms 1983a, 35, Hvh. I.A.). Frauenfabrikarbeit, die durch die Merkmalsraster beider bür141

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gerlicher Geschlechtsbegriffe fiel, wurde im vorherrschenden sozialpolitischen Diskurs des beginnenden 20. Jhs. gleich doppelt defizitär (Wobbe 1989) – widersprach Frauenfabrikarbeit doch sowohl dem männlich aufgeladenen Produktivitätsbegriff als auch der ehefraulich-mütterlichen Kategorisierung der Frauen.

Politische Dimensionen Was Wygotskis genetisches Modell der sprachlichen Bedeutungsentwicklung im Zusammenspiel von Praxis, Verallgemeinerung und sozialem Verkehr für die Analyse sozialer Kategorien so brauchbar macht, ist, dass es Vorgänge der Abstraktion, Hervorhebung und Verallgemeinerung als intersubjektive Aushandlungsprozesse kenntlich macht, die sich im Wege funktionsteiliger Arbeits- und Sozialpraktiken vollziehen. „Wesensmerkmale“ und daraus deduzierte Identitäten werden als kulturell hervorgehobene Qualitäten erkennbar, die die Logik von Bedeutungen strukturieren. Damit weist dieses Modell zugleich auf gestalterische Potenzen sprachlicher Bedeutungsbildung hin. Beinhaltet es doch, dass sprachliche Logiken im Wege der Veränderungen von gesellschaftlicher Praxis und Bedeutungsaushandlung modifizierbar sind. Zwar ist damit nicht gesagt, Sprache sei individuell und willkürlich zu verändern. – Die Möglichkeiten der Bedeutungsmodifikation konventioneller Begriffe sind durch die Notwendigkeit intersubjektiver Verständlichkeit und die tiefe mentale Verankerung sprachlicher Konvention begrenzt. – Im historischen Maßstab jedoch wird Sprache erkennbar als Mittel von Machtausübung wie auch als Mittel der Emanzipation. Nicht zuletzt erschließt sich aus der Dialektik von konventioneller Bedeutung und persönlichem Sinn die Möglichkeit des Widerspruchs und der sprachlichen Reflexion: Da Menschen in arbeitsteiligen Gesellschaften je nach Tätigkeitsausschnitt unterschiedliche Wirklichkeitsaspekte zu Tage fördern und sie – je nach gesellschaftlichen Positionen und Lebensverhältnissen – in unterschiedliche Kommunikationsbeziehungen, Lebens- und Interessenslagen eingebunden sind, folgt daraus, dass auch bei der sprachlichen Verallgemeinerung unterschiedliche Merkmale abstraktiv hervorgehoben werden. Will sagen, dass auch konventionelle sprachliche Bedeutungen verschiedene Perspektiven integrieren. Lurija (1982) zufolge umfasst ein Begriff ein ganzes Spektrum persönlich, sozial und historisch differenter Sinnaspekte, die um einen gemeinsamen Bedeutungskern kreisen (vgl. auch Hoffmann 1986). Dass Worte trotzdem allgemeinverständlich sind und lange historische Zeiträume überbrücken, führt er darauf zurück, dass ihre Bedeutung im Zusammenspiel mit überlieferten Begriffsinstrumentarien sozial- und ar142

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beitspraktisch erschlossen sowie diskursiv ausgehandelt wird. Ein Prozedere, das in komplexen Gesellschaften bekanntlich über Kooperationsbeziehungen, Markt und Handel, Institutionen, politische und wissenschaftliche Diskurse, Buckdruck und Medien erfolgt. Beispielsweise war das Wort „Acker“ im Mittelalter mit ganz anderen Arbeitsverfahren und sozialen Verhältnissen assoziiert als heute. Dennoch repräsentiert es einen zeitübergreifenden Bedeutungskern, der gemeinsame Bearbeitungs- und Gebrauchsweisen referiert. In Wortbedeutungen sind folglich veränderliche historische Praktiken und Verhältnisse miteinander verbunden. Das Beispiel zeigt auch, dass sprachliche Zeichen unterschiedliche soziale und mithin subjektive Sichtweisen integrieren, die zu differentiellen Merkmalshervorhebungen führen. So dürfte sich die Sicht des Gutsherrn auf die Ackerarbeit mit anderen Sinnaspekten verbunden haben als die Perspektive von Mägden und Knechten. Bedeutete „Acker“ für den einen Reichtum, Nutzen und Macht, so bedeutete es für die anderen wohl Plage und Abhängigkeit, aber auch Arbeitserfahrung und Wissen. Auch heute repräsentieren Worte differente subjektive Deutungen, die sich aus verschiedenen Perspektiven des Arbeitens, Gebrauchens und Wissens ergeben. Dennoch gibt es vorherrschende konventionelle Bedeutungen, die bestimmte Merkmale der in Worten referierten Gegenstände hervorheben. Welche Merkmale das sind, ist nicht zuletzt eine Frage der Teilhabe an und des Einflusses bei öffentlichen Diskursen. Und genau hier hält die Geschichte erhebliche Geschlechtsunterschiede vor. Was Wygotski und Lurija nicht explizit ausdrücken, sich meines Erachtens aber logisch anschließt, ist, dass in den bedeutungskonstitutiven Zusammenhang von Praxis, Verallgemeinerung und sozialem Verkehr Machtfaktoren eingehen, die im historischen Prozess sowohl auf gesellschaftspraktischer als auch auf diskursiver Ebene wirksam sind. Einesteils tragen Machtverhältnisse erheblich zur Strukturierung von Leben und Arbeit bei, womit sie auch menschliche Hinsichten auf die Bedeutungen der sie umgebenden Welt beeinflussen. Anderenteils schlägt sich diskursive Definitionsmacht – die sich gewöhnlich mit politischer und ökonomischer Macht paart, aber auch eine Frage der Integration in öffentlichen Institutionen ist – in Verallgemeinerungsprozessen nieder. Daraus wiederum folgt, dass bei der Bedeutungsaushandlung vor allem die Interessens- und Wahrnehmungsperspektiven derjenigen Raum greifen, die qua institutioneller Integration und/oder gesellschaftlicher Gestaltungsmacht an öffentlichen Diskursen partizipieren.

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Öffentliche Diskursteilhabe und Begriffsperspektiven Vergegenwärtigt man sich, dass Frauen jahrhundertelang aus den Universitäten als Institutionen der Entwicklung von Wissen und Methodik ausgeschlossen waren (Lundt 1996; Opitz 1996) und sie spätestens seit dem 16. Jh. aus den ohnehin männlich institutionalisierten Handwerkszünften verdrängt wurden (Wunder 1993b; Davis 1990), zeichnen sich sowohl auf der gesellschaftspraktischen als auch auf der diskursiven Ebene machtpolitische Einflüsse auf die Bedeutungsentwicklung weiblicher Arbeitsbegriffe ab: • Auf der gesellschaftspraktischen Ebene waren die beruflichen und akademischen Entwicklungsmöglichkeiten wie auch die politische Einflussnahme von Frauen restringiert, was sich mit traditionsbildenden Einschränkungen ihrer Lebens- und Arbeitspraxis verband. • Auf der Diskursebene war es den Frauen infolge der Ausgrenzung aus öffentlichen, institutionell systematisierten Diskursen in Zünften und Universitäten verwehrt, ihre in Reproduktions- und Erwerbsarbeit getätigten Arbeitserfahrungen aus eigener Perspektive in öffentliche Aushandlungsprozesse einzubringen und der Verallgemeinerung zu unterziehen. Nimmt man die Interfunktionalität von Tätigkeitspraxis, Denken, Sprechen, Verallgemeinerung und sozialem Verkehr als bedeutungsbildendes Prinzip, deutet dieser Sachverhalt auf eine höchst differentielle Verallgemeinerungsgeschichte männlich und weiblich konnotierter Arbeitsbegriffe hin. Im Vorfeld der konkreten historischen Auseinandersetzung lassen sich daraus zwei Hypothesen zur Perspektivität geschlechtlicher Arbeitsbegriffe bilden: 1. Bei allen Unterschieden zwischen der exklusiv männlichen Entwicklung der akademischen Professionen und der Geschichte der männlich institutionalisierten Handwerksberufe ist als Gemeinsamkeit auszumachen, dass die daraus hergeleiteten Arbeitskategorien über Jahrhunderte im Rahmen institutionellen Austausches entwickelt worden sind. Indem in Zünften und Universitäten Arbeitsverfahren im Zusammenhang mit Arbeitspraxis thematisiert und optimiert wurden, dürfte die Aushandlung ihrer sprachlichen Bedeutung vergleichsweise systematisch und unter Beteiligung der ausführenden Personen erfolgt sein. Womit also anzunehmen ist, dass die so generierten Arbeitsbegriffe in starkem Maße die Perspektive der Tuenden repräsentieren und besonders auch arbeitsmethodische Merkmale fokussieren.

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2. Die epochenübergreifende Ausgrenzung von Frauen aus akademischen und beruflichen Institutionen hingegen indiziert, dass der öffentliche Diskurs über Frauenarbeit kaum aus der Innenperspektive der Arbeitenden erfolgte. Was bedeutet, dass weiblich tradierte Arbeitsbegriffe – wie sich bei Hegel zeigt – eher eine äußere Sicht auf Zuständigkeiten und brauchbare ,Eigenschaften’ von Frauen repräsentieren. Zu den historischen Tatbeständen, die für diese These sprechen, gehören die im 16. und ausgehenden 18. Jh. aufbrandenden Mütterlichkeitsdebatten unter männlichen Akademikern (Niestroj 1985; Hausen 1976), die weit reichende Folgen für die geschlechtliche Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft zeitigten. Ein mit der institutionellen Ausgrenzung von Frauen überschnittenes Problem, das ebenfalls die Verallgemeinerungsweise geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe betrifft, deutet sich in der Etymologie berufsbezeichnender Worte an: Noch heute sind personennahe Frauenberufe durch Verben wie „sorgen“, „pflegen“ „kümmern“ etc. referiert, deren Wortgeschichte auf germanische Wortbildungen aus dem 8. Jh. und früher zurückreicht (vgl. Duden 2001; Wahrig 1999). Hervorbringende technische Arbeit hingegen wird durch Tätigkeitsbegriffe wie „konstruieren“, „entwickeln“ prädiziert, die im 16. und 17. Jh. (ebd.), also bereits in der Epoche neuzeitlicher naturwissenschaftlicher Methodenentwicklung, gebildet wurden. Es wurde hier die noch näher zu untersuchende Hypothese aufgestellt, dass aus der unterschiedlichen Integration von Männern und Frauen in neuzeitlichen Institutionen der Berufs- und Wissensentwicklung unterschiedliche Begriffsperspektiven resultieren. Mit der ungleichen etymologischen Entwicklungsgeschichte berufsgebräuchlicher Worte deutet sich eine weitere Konsequenz an, die den logischen Aufbau jener Begriffe betrifft. Dieses Problem erschließt sich anhand der entwicklungstheoretischen Analyse von Begriffsbildungsprozessen, die ich nun thematisieren will.

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10 O N T O G E N E T I S C H E U N D H I S T O R I S C H E BEGRIFFSENTWICKLUNG

Die oben dargestellte abstrakt-hierarchische Verallgemeinerungsstruktur der Begriffspyramide ist, wie Wygotski (2002, 244/255) anhand einer Untersuchung zur Begriffsentwicklung expliziert, keineswegs von Anfang an und bei jedem Begriff gegeben. Sie ist vielmehr Ergebnis eines langen Entwicklungsverlaufes, dem sowohl historisch als auch ontogenetisch handlungspraktisch entwickelte anschauliche Denkformen mit völlig anderen Verallgemeinerungsmodalitäten vorausgehen. Auch entwickeln sich sprachliche Bedeutungen nicht, wie man anhand der Begriffspyramide vielleicht glauben könnte, vom sprachlich differenzierten Einzelnen zum Allgemeinen, sondern aus der Undifferenziertheit einer relativ formlosen Gemengelage zum differenzierten sprachlichen Ausdruck hin (Wygotski 2002; Lurija 1982). Das heißt, aus dem noch nicht signifizierten Ganzen werden bestimmte Erfahrungen mit Dingen, Personen, Verhältnissen sprachlich herausdifferenziert, die wiederum in komplizierten Entwicklungsprozessen der Verallgemeinerung zugeführt werden. Hinter den ersten kindlichen Worten beispielsweise stehen komplexe Sinnkonglomerate („Blume“ kann für alles Mögliche Blühende, Bunte, Grüne aus unterschiedlichen Kontexten stehen), aus denen erst relativ spät konkrete Bezeichnungen hervorgehen (Wygotski 2002; vgl. auch Lurija 1982 und Hoffmann 1986). Ein weiterer Indikator für die Entwicklung sprachlicher Aussagen aus dem undifferenzierten Ganzen ist die frühkindliche Holophrase, der sympraktisch und gestisch eingebundene Einwortsatz, der kontextabhängig die unterschiedlichsten Aussagen beinhalten kann, immer gebunden an ganzheit-

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liche, konkrete Ereignissituationen (Wygotski 2002; Lurija 1982; Bruner/Olson 1984). Von der Annahme ausgehend, dass Begriffsbildung der Entwicklung unterliegt und dass Kinder mit anschaulicheren Logiken operieren als Erwachsene, gleichwohl sie kommunikationsbedingt schon früh die gleichen Worte benutzen wie diese, verfolgt Wygotski mit seiner Untersuchung zur Begriffsentwicklung zwei Ziele: 1.) den Verlauf der Begriffsentwicklung zu erforschen und 2.) zu ermitteln, welche psychologische Rolle das kommunizierte Wort bei der Entwicklung abstrakter verballogischer Begriffe spielt. Das heißt, Wygotski (2002, 181 f.) unterscheidet zwischen Wort und Begriff. Worte mit ihren inneliegenden historisch generierten Verallgemeinerungen fasst er als bedeutungstragende Zeichen und Mittel der ontogenetischen Begriffsbildung. Unter Begriff versteht er im weitesten Sinne den hinter den Worten stehenden gedanklichen Prozess, der bei praxisgebundenen anschaulichen Denkformen anders funktioniert als beim verballogischen Denken mit abstrakt-hierarchisch aufgebauten Begriffen. Als „echten Begriff“ bezeichnet er (ebd. 235, Hvh. I.A.) den durch Abstraktion und Synthese hergestellten verballogischen Verallgemeinerungstypus der Begriffspyramide, der erst im Jugendalter möglich wird. Die entwicklungstheoretische Sicht auf die Beziehung von Wort und Begriff impliziert ein dialektisches Verhältnis der Entwicklung von Wortbedeutungen und Begriffen: Während das verallgemeinernde Wort mit seinen kulturellen Merkmalshervorhebungen gedankliche Operationen organisiert und so das ontogenetische Voranschreiten von der anschaulichen zur verballogischen Begriffsbildung unterstützt, wirkt im gesellschaftlich-historischen Prozess der sozial kommunizierte verballogische Begriff auf die konventionell gebräuchliche Verallgemeinerungsstruktur und mithin auf die allgemeinverständliche Bedeutung des Wortes zurück. „Für die Lingustik erschöpft sich die Entwicklung des Sinnaspektes des Sprechens in der Veränderung des gegenständlichen Inhaltes der Wörter. Dagegen bleibt ihr der Gedanke fremd, dass sich im Verlauf der historischen Entwicklung der Sprache die Sinnstruktur und die psychische Natur der Wortbedeutung verändert, dass das sprachliche Denken von niederen und primitiven Formen der Verallgemeinerung zu höheren und komplizierteren übergeht, die ihren Ausdruck in abstrakten Begriffen finden, und dass sich schließlich nicht nur der gegenständliche Gehalt des Wortes, sondern selbst der Charakter der Widerspiegelung und Verallgemeinerung der Wirklichkeit im Wort im Verlauf der historischen Sprachentwicklung verändert hat.“ (Wygotski 2002, 391)

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Für den Zusammenhang von Sprache, Arbeit und Gender ist die Untersuchung zur Begriffsentwicklung zweifach relevant. • Auf der historischen Ebene ergeben sich daraus Rückschlüsse auf die Entwickeltheit und logische Beschaffenheit geschlechtlich konnotierter sozialer und technischer Arbeitsbegriffe. Gibt doch die Dialektik von Wort und Begriff die Überlegung auf, ob alte, aus dem 8. Jh. stammende Wortbedeutungen für personennahe Tätigkeiten wie „sorgen“ und „pflegen“ vielleicht auf anderen Entwicklungen beruhen und mithin andere Logiken integrieren als neuzeitliche technische Termini wie „konstruieren“ oder „berechnen“, die aus institutionellen Zusammenhängen hervorgegangen sind. • Auf der entwicklungspsychologischen Ebene leiten sich daraus Einsichten in den Wirkungszusammenhang von Begriffsentwicklung, geschlechtlicher Identitäts- und Interessensbildung ab, auf die ich noch zu sprechen kommen will.

10.1 Experimentelle Untersuchung zur Begriffsentwicklung Wygotskis Untersuchung zur Begriffsentwicklung knüpfte an der Auseinandersetzung mit einschlägigen Forschungsarbeiten von Ach, Rimat und Uznadse an und arbeitet mit der „Methode der doppelten Stimulierung“ (Wygotski 2002, 183). Anhand zweier Stimuli-Reihen wurden gegenstandsbezogene begriffliche Verallgemeinerungsprozesse und die dabei zu Tage tretende organisierende Wirkung des Zeichens untersucht. Die eine, konstant bleibende, Stimulus-Reihe bestand aus verschiedenartigen geometrischen Figuren als „Objekt“ der Tätigkeit (ebd.). Die andere Reihe waren auf der Unterseite der Figuren angebrachte künstliche Wörter; sie fungierten als „Zeichen“, mit denen die „Tätigkeit organisiert wird“ (ebd.).1 Den Versuchspersonen war die Aufgabe gestellt, zuerst einem einzelnen, vom Versuchsleiter aufgedeckten KunstwortGegenstandspaar passende Objekte zuzuordnen, die ebenfalls diese Aufschrift tragen könnten. In mehreren Durchgängen wurde unter Aufde1

Konkret handelte es sich um in Farbe und Größe variierende geometrische Figuren (Kreise, Halbkreise, Dreiecke, Romben, Quadrate etc.). Auf deren verdeckter Unterseite waren Kunstwörter (cev, mur, bik, lag) aufgedruckt, die einen experimentellen Begriff bezeichneten. Die Aufgabenstellung, das Zuordnen von Objekten zu einem Äquivalenzbegriff, war von Anfang an vollständig erklärt. Es gab also keine Lernphase außerhalb des Experimentes. Die Mittel zur Lösung, die Stimuli-Zeichen (Kunstwörter) wurden nach und nach eingeführt, so dass der Erarbeitungsprozess von Begriffen beobachtet werden konnte (Wygotski 2002, 183 f.). 149

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cken von immer mehr Zeichen erfasst, wie sich die Lösung der ansonsten konstant gebliebenen Zuordnungsaufgabe durch Zeichenverwendung veränderte. Beteiligt waren etwa 300 Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Personen mit pathologischen Störungen, deren Begriffsbildungsverfahren verglichen wurden. Die verlangte Subsumtion von Gegenständen unter künstliche Zeichen hatte den Sinn, den „lenkenden Einfluss der Wörter unserer Sprache mit einem festgelegten, stabilen Bedeutungsumfang“ experimentell auszuschließen (Wygotski 2002, 209). Die ProbandInnen waren also veranlasst, Wortbedeutungen selbst zu verallgemeinern. Die „große Bedeutung des Experimentes“ bestand darin, „zu klären, worin die eigene Aktivität des Kindes bei der Aneignung der Sprache Erwachsener besteht“ (ebd.). „Das Experiment zeigt uns, wie die kindliche Sprache wäre und zu welchen Verallgemeinerungen das kindliche Denken käme, wenn es nicht durch die Sprache der Umwelt gerichtet würde, die schon vorab den Kreis konkreter Gegenstände voraussetzt, auf den die Bedeutung eines Wortes bezogen werden kann.“ (Wygotski 2002, 209)

Zu den wichtigsten Ergebnissen der Untersuchung gehört denn auch, dass der abstrakt-hierarchisch aufgebaute verballogische Begriffstyp „Produkt eines langwierigen und komplizierten Entwicklungsprozesses“ (Wygotski 2002, 247) ist und auf vorausgehenden Phasen des praktisch handelnden und anschaulichen Denkens aufbaut. Das heißt, im Verlauf der ontogenetischen Entwicklung treten unterschiedliche Denktypen zu Tage, die sich auch historisch rekonstruieren lassen. Ihr Systemaufbau unterscheidet sich nach der Art der vorgenommenen Verallgemeinerung, weshalb Wygotski (ebd. 357) auch von unterschiedlichen „Verallgemeinerungsstrukturen“ spricht. Die Wortbedeutung entwickelt sich, indem unter Wahrung desselben Gegenstandsbezuges eine immer neue Sinnstruktur herausgebildet wird, bei der sich sowohl die Art der Verallgemeinerungen als auch die damit verbundenen psychischen Operationen verändern. Während sich die Bezeichnungsfunktion des Wortes aufgrund der sympraktisch eingebundenen Kommunikation des Kindes mit Erwachsenen schon im Vorschulalter festigt, werden der logisch-hierarchische Begriff und die damit verbundene signifikante Bedeutungsstruktur des Wortes erst im Jugendalter möglich. Der Systemaufbau und die Sinnstruktur der Wortbedeutung entwickeln sich also weiter, wenn die Bezeichnungsfunktion längst stabilisiert ist. Im gesamten Prozess der Begriffsentwicklung spielt, so Wygotski (2002, 187), die „funktionale Verwendung des Wortes [...] als Mittel zur

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aktiven Ausrichtung von Aufmerksamkeit, zur Gliederung und Aussonderung von Merkmalen und zu ihrer Abstraktion und Synthese“ eine außerordentlich wichtige Rolle.

Stufen der Begriffsentwicklung Im Ergebnis der experimentellen Untersuchung unterscheidet Wygotski vier Stufen der Begriffsentwicklung: 1. den Synkretismus, 2. die Komplexbildung, 3. den genuinen Begriff und 4. den abstrakt-hierarchisch aufgebauten verballogischen Begriff. Die drei erstgenannten Stufen, die sich nicht nacheinander, sondern eher in einem wechselwirksamen Nebeneinander entwickeln, bilden die Voraussetzung des „echten“ verballogischen Begriffs. 1. Synkretismus Die erste Stufe, nach Piaget Synkretismus genannt, beschreibt er als eine Art Haufenbildung. Charakteristisch ist eine beliebige, affektiven und situativen Wahrnehmungen folgende Einordnung von Objekten unter einen labilen und flüchtigen Äquivalenzbegriff. Im Experiment erfolgt die Verkettung von Gegenständen im synkretischen Begriff zunächst nach dem Versuch-Irrtum-Prinzip, dann nach der räumlichen Lage und dann gemäß einer vorher in der Wahrnehmung des Kindes entstandenen Klassifikation. 2. Komplexbildung Die zweite Stufe der Begriffsentwicklung, die Komplexbildung, beruht Wygotski (2002) zufolge auf anschaulicher empirischer Erfahrung und bildet die ontogenetische wie auch die historische Grundlage logischer Begriffsentwicklung (vgl. auch Lurija 1982). Sie dominiert im kindlichen Denken wie auch in der Alltagssprache Erwachsener. Ist Synkretismus vom affektiven Bezug auf Gegenstände bestimmt, zeichnet sich der Komplex durch objektorientiertes Einordnen von Dingen unter einen Äquivalenzbegriff aus, der allerdings noch keine Abstraktion und Hierarchisierung von Merkmalen enthält. Die komplexe Verallgemeinerung stützt sich auf anschauliche bzw. praktische Erfahrung und erfolgt aufgrund unstabiler Merkmale. Die Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen ist gleichrangig. Klein- und Vorschulkinder bilden komplexe Begriffe sympraktisch unter Zuhilfenahme der von Erwachsenen dargebotenen Worte.

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Wygotski (2002, 199 f.) beschreibt fünf Grundtypen des komplexen Denkens, die ich in Hinblick auf den logischen Aufbau geschlechtlicher Arbeitsbegriffe referiere: 1) Den assoziativen Komplextyp, der beliebige Verbindungen mit einem subjektiv bestimmten Komplexkern assoziiert, ohne dass die Elemente selbst in Zusammenhang stehen müssen. (Z.B. ordnet ein Kind um ein gelbes Quadrat aufgrund farblicher Ähnlichkeit ein gelbes Dreieck und einen orangefarbenen Kreis.) Verallgemeinerungsprinzip ist alleine die „empirische Verwandtschaft mit dem Kern des Komplexes“ (Wygotski 2002, 200). 2) Der Sammlungstyp fasst Dinge gemäß ihrer Beteiligung am Alltagshandeln zu einer Kollektion zusammen (Holzstück, Säge, Beil zum Holzmachen). Während synkretisches Denken „emotionale subjektive Verbindungen zwischen Eindrücken“ herstellt und dem assoziativen Komplex „die sich wiederholende [...] Ähnlichkeit von Merkmalen einzelner Gegenstände zu Grunde liegt, beruht die Kollektion auf den Verbindungen und Beziehungen der Dinge, die in der praktischen und anschaulichen Handlungserfahrung“ (ebd. 201) ermittelt werden. Dieser Komplextyp ist tief in der Alltagserfahrung verwurzelt und auch in der Umgangssprache Erwachsener sehr gebräuchlich. 3) Der Kettenkomplex wird anhand eines unstabilen gemeinsamen Merkmals gebildet. Im Unterschied zum assoziativen Typ hat er kein gemeinsames Zentrum. Verallgemeinerungsprinzip ist Bedeutungsübertragung durch Verschmelzen des Allgemeinen mit dem gleichrangigen Besonderen (beispielsweise steht das kindliche Wort „kwa“ [Ente] erst für eine Ente im Teich, dann für Flüssigkeit, später für einen Adler auf einer Münze und dann für Münzen). Die Eigenart des Komplexdenkens – die Gleichrangigkeit verschiedener Merkmale und das Fehlen der hierarchischen Beziehung des Allgemeinen zum Besonderen – ist bei ihm besonders deutlich. 4) Der diffuse Komplex, ebenfalls eine „außerordentlich stabile“ Denkform, zeichnet sich durch „Unbestimmtheit seiner Konturen“ und „prinzipielle Unbegrenztheit“ aus (Wygotski 2002, 206). Er vereinigt Gruppen von Dingen durch diffuse Assoziationen (einem Dreieck wird wegen ungefährer Ähnlichkeit ein Trapez beigestellt, dem folgt ein Quadrat, dann ein Sechseck, dann ein Kreis, etc.), wobei das „Merkmal, das [...] konkrete Elemente in einen Komplex vereinigt, selbst gewissermaßen diffundiert, [...] und unbestimmt wird“ (Wygotski 2002, 205). Ähnlich einem Familiennamen bezieht der diffuse Komplex unendlich viele, aber konkrete Dinge in ein Wort ein. Seine – auch im Genderbezug relevante – psychologische Bedeutung be152

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steht darin, dass er, anders als der alltagspraktisch fundierte Sammlungstyp, der Prototyp anschaulicher, aber praxisferner Zuordnungen ist. Weil er „Dinge vereinigt, die außerhalb der praktischen Erkenntnis des Kindes liegen, beruhen die Verbindungen auf falschen, unbestimmten, gleitenden Merkmalen“ (Wygotski 2002, 207). 5) Der in entwickelten Sprachkulturen am häufigsten auftretende Komplextyp ist der Pseudobegriff, der auf der ontogenetischen Nutzung historisch generierter Worte beruht und im kindlichen Denken am gebräuchlichsten ist. Auch die Sprache Erwachsener geht, sofern sie auf „reine Alltagserfahrung“ (Wygotski ebd. 241) bezogen ist, oft nicht über dieses Niveau hinaus. Der Pseudobegriff ist Bindeglied zwischen dem anschaulichen und begrifflich-abstrakten Denken, insofern er Dinge nach anschaulichen Merkmalen vereinheitlicht, aber qua Gegenstandsbezug mit abstrakten Begriffen zusammenfällt. Das heißt, die hinweisende, indikative Funktion ist konventionsangemessen entwickelt, ein Kind ordnet Dinge „richtig“ zu (Elefant und Maus zu „Tier“). Doch entspricht der dahinter stehende intellektuelle Weg noch nicht der kategorialen Signifikationsleistung des logischen Begriffes, dessen Verallgemeinerung auf Abstraktion und Synthese beruht (Wygotski 2002, 210). Die Klassifikation erfolgt in Anwendung erlernter Worte aus der sozialen Umwelt, die bereits Verallgemeinerung, Abstraktion und Synthese integrieren. Das Kind erarbeitet diese der Wortbedeutung inneliegenden Leistungen aber noch nicht selbst, sondern nutzt sie – in den Grenzen seines bis dahin entwickelten Intellektes – als Instrument der Tätigkeitsausrichtung und Klassifikation. Im Experiment, wo keine kulturellen Wortbedeutungen zur Verfügung standen, sondern Kunstworte zu erarbeiten waren, vereinigten Kinder Dreiecke nicht entlang des Wortes, sondern anhand des konkret vorliegenden, anschaulichen Exemplars. Unter alltagsüblichen Bedingungen, wo Kinder kommunikationsbedingt mit fertigen Kulturworten operieren, vollzieht sich dieser Prozess in einer komplizierten Auf- und Abbewegung, die vom Verallgemeinerungsgehalt des Wortes hin zur Tätigkeit mit dem konkreten Ding und umgekehrt führt (Wygotski ebd. 244 unter Hinweis auf Bühler). 3. Genuine Begriffe Als dritte – mit der Komplexbildung überschnittene – Stufe der Denkentwicklung, ermittelt Wygotski im Experiment die Bildung genuiner Begriffe, deren genetische Funktion er (2002, 234) in der „Entwicklung der Zergliederung, der Analyse und Abstraktion“ sieht. Wygotski bestimmt sie als zweite Wurzel der Begriffsentwicklung neben dem Komplex. Ist Komplexbildung gewissermaßen der semantische Vorläufer des 153

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späteren Begriffs, bildet die Abstraktion die logisch-strukturelle Voraussetzung für die hierarchische Verallgemeinerung, die die kategoriale Struktur eines Begriffes bewirkt. Denn der Begriff setzt „nicht nur die Zusammenfassung und Verallgemeinerung einzelner konkreter Erfahrungselemente voraus, sondern auch die Hervorhebung, Abstraktion und Isolierung einzelner Elemente sowie die Fähigkeit, diese hervorgehobenen, abstrahierten Elemente außerhalb der konkreten und tatsächlichen Verbindung zu betrachten, in der sie gegeben sind“ (Wygotski 2002, 233). In dieser Hinsicht sieht Wygotski (ebd.) das vom „Überfluss“ und der „Überproduktion“ von Verbindungen auf der einen und Abstraktionsschwäche auf der anderen Seite gekennzeichnete komplexe Denken hilflos. So sei bei der Begriffsbildung entscheidend, dass Abstraktionsprozesse und Synthetisierungsprozesse auftreten, Merkmale aus ihren anschaulich-konkreten Verbindungen herausgelöst und auf neue Verhältnisse übertragen werden können. Die Entwicklung genuiner Begriffe wiederum unterteilt der Autor in zwei ineinander greifende Phasen oder Prozesstypen: 1) In der ersten Phase werden konkrete Dinge nach dem Prinzip der maximalen Ähnlichkeit vereinigt. Merkmale mit maximaler Ähnlichkeit treten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und werden aus dem Gesamtkontext herausgelöst. Obwohl in diesem Verallgemeinerungsverfahren noch keine Hierarchisierung erfolgt, ist hier bedeutsam, dass erstmals ein vager Abstraktionsprozess auftritt, der „in die ganzheitliche Wahrnehmung des Kindes [...] eine Bresche“ schlägt (Wygotski 2002, 234). „Ein konkreter Gegenstand geht nicht mehr mit allen seinen Merkmalen, in seiner ganzen faktischen Fülle in den Komplex, in die Verallgemeinerung ein, sondern lässt einen Teil außerhalb des Komplexes zurück [...]; dafür treten Merkmale, die als Grundlage für die Einbeziehung in den Komplex dienten, dem Kind besonders deutlich hervor“ (ebd.). 2) Die zweite Phase bildet der potentielle Begriff, der häufig mit dem Aufbau von Komplexen zusammenfällt. Der potentielle Begriff ist ein genetisch sehr frühes, „vorintellektuelles Gebilde“ (Wygotski 2002, 235), das schon bei der tierischen Verhaltensorientierung eine wichtige Rolle spielt (vgl. auch Hoffmann 1986). Im Experiment subsumieren Kinder eine Gruppe von Dingen unter ein privilegiertes gemeinsames Merkmal. Entscheidend ist hier, dass die Merkmalsabstraktion im Gegensatz zum Komplex stabil ist, anhand eines privilegierten Merkmals erfolgt und durch Merkmalsherauslösung von konkret gegebenen Verbindungen abstrahiert (beispielsweise bei „Obst“ die Herauslösung des süßen Geschmacks aus konkreten Ver154

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bindungen mit Farben, Formen etc.). Obgleich abstraktiv, bleibt dieser Begriffstyp „potentiell“, weil er an anschaulich-praktische Verhältnisse gebunden ist. Doch spielt er eine wichtige Rolle bei der Entwicklung abstrakt-logischer Begriffe, denn „mit Hilfe der Abstraktion einzelner Merkmale“ zerstört das Kind eine „konkrete Situation, zerreißt die konkrete Verbindung der Merkmale und schafft dadurch die notwendige Voraussetzung, um diese Merkmale auf neuer Grundlage erneut zu vereinen. Nur die Beherrschung des Abstraktionsprozesses zusammen mit der Entwicklung des Komplexdenkens befähigt das Kind zur Bildung echter Begriffe“ (Wygotski 2002, 238). 4. Verballogische Begriffe Die vierte Stufe, die Bildung „echter“ (verballogischer) Begriffe, setzt, wenngleich noch labil, im Übergangsalter (etwa elftes, zwölftes Lebensjahr) ein. Sie ist gegeben, wenn die Merkmalsabstraktion stabil gehalten wird und die extrahierten Merkmale die Grundlage der hierarchisierenden Synthese bilden. (Wenn sich beispielsweise „Nahrung“ nicht auf Essen beschränkt, sondern durch Merkmalssynthese mit analogen Wirkungen zusammengeführt werden kann.) „Ein Begriff entsteht, wenn eine Reihe abstrahierter Merkmale wieder synthetisiert und die so gewonnene abstrakte Synthese zur Hauptform des Denkens wird, mit der das Kind die es umgebende Wirklichkeit erfasst und verstehen lernt. Das Experiment zeigt, [...], dass dem Wort dabei eine entscheidende Bedeutung zukommt. Mit dessen Hilfe richtet das Kind seine Aufmerksamkeit willkürlich auf bestimmte Merkmale, mit Hilfe des Wortes synthetisiert es sie, mit Hilfe des Wortes symbolisiert es den abstrakten Begriff und operiert mit ihm als dem höchsten unter allen Zeichen, die das menschliche Denken geschaffen hat.“ (Wygotski 2002, 238/239)

Waren die früheren Stadien von affektiven und sensorischen Zuordnungskriterien (Synkretismus) bzw. praktischen Erfahrungen (Komplex und potentieller Begriff) geprägt, erlangt das Denken in Begriffen einen verballogischen Charakter, indem es mit Hilfe bereits gebildeter Wortbedeutungen situativ anschaulich gewonnene Merkmalserfahrungen klassifiziert und hierarchisch systematisiert. Während im Experiment Kunstworte als symbolische Gedächtnisstütze für erarbeitete Äquivalenzbildungen fungierten und auf diese Weise die Aufmerksamkeit auf bestimmte, synthetisierbare Gegenstandserfahrungen lenken, erfüllen bei alltäglichen Begriffsbildungsprozessen kulturelle Wortbedeutungen diese Funktion und ermöglichen es, mit historisch erschlossenen Merk155

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malshervorhebungen und Sinnverbindungen zu operieren. Allerdings scheint verballogische Begriffsbildung zu Beginn des Jugendalters noch ein labiler, weiterhin entwicklungsbedürftiger Prozess. In diesem Stadium gelingt sie Wygotski (2002, 248) zufolge am besten bei der „Lösung“ einer praktischen und anschaulichen „Aufgabe“. Schon die Übertragung eines gebildeten Begriffes vom Konkreten ins Abstrakte bzw. auf andere konkrete Aufgaben bereite Schwierigkeiten. Am schwierigsten gestalte sich die Anwendung des begrifflichen Denkens auf die Reflexion der Begriffe selbst, die – in Abhängigkeit vom schulischen Bildungsniveau – erst zum Ende des Jugendalters möglich sei. Wygotski (2002, 241) konstatiert eine „Divergenz“ zwischen dem in praktischer Aufgabenstellung früher entwickelten „Begriff“ und seiner „verbalen Definition“, die nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen und „mitunter in einem weit entwickelten Denken“ auftrete. Für ihn eine Bestätigung dafür, „dass Begriffe nicht einfach aus einer logischen Verarbeitung dieser oder jener Erfahrungselemente entstehen und das Kind sich Begriffe nicht einfach ausdenkt, sondern diese auf ganz anderem Wege entstehen und erst später bewusst erfasst und logisiert werden.“ (Wygotski 2002, 242)

Den logischen Unterschied zwischen dem Komplex und dem verballogischen (abstrakt-hierarchischen) Begriff expliziert Wygotski wie folgt: [Bei der Bildung verballogischer Begriffe geht] „jeder einzelne Gegenstand, der von einem allgemeinen Begriff erfasst wird, [...] auf einer mit allen anderen Gegenständen identischen Grundlage in die Verallgemeinerung ein. Alle Elemente sind mit dem in einem Begriff ausgedrückten Ganzen und durch ihn miteinander auf einheitliche Weise, durch eine Verbindung ein- und desselben Typus verknüpft. Im Unterschied dazu kann jedes Element eines Komplexes mit dem im Komplex ausgedrückten Ganzen und mit den zu ihm gehörenden Elementen auf die unterschiedlichste Weise verbunden sein. Im Begriff handelt es sich [...] um das Verhältnis des Allgemeinen zum Einzelnen und des Einzelnen zum Einzelnen über das Allgemeine. Im Komplex können Verbindungen ebenso vielfältig sein wie die tatsächliche Berührung und die tatsächliche Verwandtschaft der unterschiedlichsten Gegenstände, die in einer beliebigen konkreten Beziehung zueinander stehen.“ (Wygotski 2002, 199, Hvh. im Orig.)

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Komplexer und verballogischer Begriff Gehen wir in Hinblick auf die Erörterung der Entwicklungsgeschichte geschlechtlich konnotierter Arbeitsbegriffe noch etwas näher auf die Unterschiede zwischen komplexer und verballogischer Begriffsbildung ein: Wygotski diskutiert verschiedene Eigenarten des komplexen Denkens, darunter das Phänomen der Partizipation. Einer, wie er (2002, 220) schreibt, „Besonderheit des primitiven Denkens“, das wörtliche Beziehungen zwischen Erscheinungen herstellt, die manchmal als partiell identisch, manchmal als einander beeinflussend angesehen werden, ohne dass zwischen ihnen eine vom logischen Standpunkt erkennbare kausale Beziehung besteht. Partizipation wurde in der Anthropologie (u.a. von Lévy-Bruhl) sowie in der Kinderpsychologie vor allem von Piaget beschrieben. Wygotski erläutert dieses Phänomen anhand von Lévy-Bruhls Beobachtungen eines nordbrasilianischen Stammes, dessen Mitglieder sowohl sich selbst als auch eine rote Papageienart mit „arara“ bezeichneten. Was vom logischen Begriff aus betrachtet wie eine Identifikation von Menschen und Vögeln wirkt, interpretiert er als Eigenart des komplexen Denkens, wo ein Name für einen bestimmten Komplex steht, zu dem sowohl Menschen als auch Vögel gehören. Auch im Experiment zeigte sich, dass die „Partizipation“, sprich die gleichzeitige Zuordnung eines konkreten Gegenstandes zu zwei oder mehr Komplexen oder auch die Subsumtion logisch verschiedenartiger Dinge unter einem gemeinsamen Namen, „keine Ausnahme, sondern eher die Regel des Komplexdenkens“ ist (Wygotski 2002, 222). Die lange und grundlegende sprachgeschichtliche Tradition der komplexen Verallgemeinerung expliziert er anhand zahlreicher etymologischer Beispiele (Wygotski 2002, 224 f.; vgl. auch Lurija 1982, 35 f.). Bedeutsam für die gendertheoretische Fragestellung ist der Nachweis, dass die pragmatisch-komplexen Ursprünge heutiger Wortbedeutungen verschiedenartigste Verhältnisse und Sinnaspekte integrierten und einer anderen Logik folgen als der „echte“, abstrakt-hierarchisch verallgemeinerte Begriff. „Warum bedeuten ,svin’ja’ [Schwein] und ,ženščina’ [Frau] gleichermaßen ,rodjaščaja’ [Gebärende], warum werden ,medved’ [Bär] und ,bobr’ [Biber] beide ,buryj’ [die Braunen] genannt [...]? Verfolgen wir die Geschichte dieser Wörter, so erkennen wir, dass ihnen nicht logische Notwendigkeit und nicht einmal in Begriffen gefasste Verbindungen zu Grunde liegen, sondern rein anschauliche konkrete Komplexe [...] ganz der gleichen Art, wie wir sie im Denken des Kindes studieren konnten. [...].

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Wenn wir verfolgen, nach welchem Gesetz Wortfamilien vereinigt werden, so sehen wir, dass neue Erscheinungen und Gegenstände gewöhnlich nach einem Merkmal benannt werden, das [...] nicht das Wesen dieser Erscheinung logisch zum Ausdruck bringt. Die Bezeichnung entsteht nie als Begriff. Unter logischem Aspekt erweist sich die Bezeichnung deshalb einerseits als unzureichend, weil zu eng, aber andererseits als zu weit. So ist ,rogatoje’ [gehörnt] als Bezeichnung für die Kuh oder ,vor’ [Dieb] für die Maus in dem Sinne zu eng, dass Kuh bzw. Maus nicht mit dem genannten Merkmal erschöpfend gekennzeichnet sind. Andererseits sind sie zu weit, weil diese Namen einer ganzen Reihe anderer Gegenstände zugeordnet werden können. Wir beobachten [...] in der Sprachgeschichte einen ständigen, nicht einen Tag unterbrochenen Kampf zwischen dem Denken in Begriffen und dem altertümlichen Denken in Komplexen. Eine Komplexbezeichnung nach einem bestimmten Merkmal gerät in Widerspruch zu dem Begriff, den sie bezeichnet, und im Ergebnis entsteht der Kampf zwischen dem Begriff und dem Bild, das dem Wort zu Grunde liegt. Das Bild verblasst [...], wird aus dem Gedächtnis [...] verdrängt, und die Verbindung zwischen Laut und Begriff als Wortbedeutung wird für uns unverständlich.“ (Wygotski 2002, 227/228, Hvh. I.A.)

Demzufolge ist auch hinsichtlich der historischen Dialektik von Wort und Begriff zwischen dem „gegenständlichen Bezug“ des Wortes und seiner begrifflich-kategorialen „Bedeutung“ (Wygotski 2002, 224) zu unterscheiden: Verweist die Wortgeschichte der „diebischen“ Maus2 auf komplexe affektive Sinnverbindungen, entwickelte sich daraus im Zuge arbeitspraktisch-diskursiver (respektive naturwissenschaftlicher) Ausleuchtung der logisch-hierarchisch organisierte Begriff der zur Kategorie „Säugetier“ gehörenden „Maus“. Gleichwohl der moderne Begriff eine Vielzahl von Sinnaspekten („Störenfried“, „Versuchstier“ etc.) integriert, zeichnet er sich durch einen stabilen paradigmatischen Bedeutungskern aus. Auch in Bezug auf die logische Begriffsqualität, die nach Wygotski vor allem ein Problem der Verallgemeinerungssystematik ist, greift also die Formel ihres genetischen Zusammenhangs mit dem sozialen Verkehr. Und auch diesbezüglich dürfte die Frage, was aus welchen sozialen Perspektiven und ausgehend von welchem Praxis- und Interessensbezug der diskursiven Merkmalshervorhebung unterliegt, entscheidend für die Fortentwicklung von Wortbedeutungen sein. Dass der von Wygotski (2002, 228) betonte „ständige Kampf zwischen dem Denken in Begriffen und dem Denken in Komplexen“ keineswegs gleichmäßig auf allen gesellschaftlichen Schauplätzen spielt(e) 2

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Auch die deutsche „Maus“ geht auf indogerm. mus- [stehlen] zurück und findet, nebenbei bemerkt, eine komplexe Verkettung im „(Daumen-)Muskel“ (vgl. Wahrig 1999).

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und deshalb auch die Verallgemeinerungsstruktur heutiger Worte eine unterschiedliche ist, indiziert nicht zuletzt das moderne berufliche Lexikon. Hält es doch neben neuzeitlichen technischen Wortbildungen wie „konstruieren“ und „produzieren“ gerade für personennahe Frauenberufe aus dem 8. Jh. transferierte Worte wie „sorgen“ und „pflegen“ mit nahezu unveränderten Bedeutungen bereit, von denen sich noch erweisen wird, dass ihre Merkmalsdefinitionen analog dem zitierten Beispiel einerseits „zu eng“ führen, um die Qualität von Arbeit zu erfassen, und andererseits zu „weit“ sind, um Handlungsformen trennscharf zu qualifizieren. Für die Erörterung geschlechtlicher Arbeitsbegriffe ist festzuhalten, dass dem Aufbau des komplexen Denkens „keine abstrakte und logische, sondern eine konkrete und empirische Verbindung zwischen seinen einzelnen Elementen zu Grunde liegt“ (Wygotski 2002, 198). Was neben logisch-strukturellen Besonderheiten der Begriffsbildung auch psychologische Konsequenzen der Bedeutungserfassung nach sich zieht. Der psychologische Unterschied zwischen den beiden Denkformen nämlich manifestiert sich Wygotski (2002, 219) zufolge darin, dass im genetisch älteren komplexen Denken mit seinen empirisch-konkreten und situativ relativ beliebigen Verbindungen „dieselben Wörter in verschiedenen Situationen unterschiedliche Bedeutungen haben, d.h. auf unterschiedliche Gegenstände hinweisen können“. Für die historische Betrachtung genderförmiger Bezeichnungen nicht minder relevant ist, dass „ein und dasselbe Wort sogar gegensätzliche Bedeutungen in sich vereinigen [kann], vorausgesetzt sie können [...] aufeinander bezogen werden“ (Wygotski ebd. Hvh. I.A.). Der historisch jüngere und intersubjektiv ausgeleuchtetere abstrakt-logische Begriff hingegen, der – vereinfacht gesagt – von der untersten bis zur obersten Klassifikationsebene durch einen relativ stabilen Kern invariant definierter, wenngleich im Entwicklungsfluss befindlicher synthetischer Merkmale justiert ist, bildet die Grundlage logischer Operationen wie Inklusion und Exklusion, Widerspruch und Schluss. Lurija (1982) erläutert den qualitativen Unterschied zwischen dem komplexen und dem verballogischen Denken anhand der Entwicklung des Syllogismus, der überempirischen Schlussfolgerung. Der Syllogismus operiert bekanntlich mit drei Bestandteilen: 1.) dem Allgemeinurteil des Obersatzes („Alle Menschen sind sterblich“), 2.) der kategorialen Objektzuordnung im Untersatz („Sokrates ist ein Mensch“) und 3.) dem deduktiven Urteil im Schluss („Sokrates ist sterblich“). Nach Piaget (1975) ist der Syllogismus erst im Alter von etwa 11 bis 14 Jahren im Stadium des formalen Operierens ausführbar, ebenso wie logische Ein159

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

sichten in das „Beharrungsgesetz“ bzw. das „Gesetz der Irreversibilität“ von Mengen erst möglich sind, wenn sich Kinder von unmittelbaren praktischen Eindrücken lösen und zu verballogischen Operationen übergehen. Wie Lurija (ebd.) in mehreren Untersuchungen ermittelte, folgern Kinder, die praktisch-empirisch denken, weder deduktiv noch induktiv. In ihrem Denken stellt sich noch nicht einmal ein Zusammenhang zwischen dem syllogistischen Ober- und Untersatz her. Kausalität folgt hier dem „unmittelbaren Schluß aus dem äußeren Eindruck“ (Lurija 1982, 295, Hvh. im Orig.), was Piaget als Transduktion bezeichnet hatte. Wenn beispielsweise kleine Kinder erklären sollen, warum von schwimmenden Gegenständen manche untergehen und andere nicht, antworten sie: „Dieser geht unter, weil er rot ist“, „Boote schwimmen, weil sie leicht sind“ etc. Erklärungen leiten sich nicht aus einem hierarchischen Klassifikationsgefüge, sondern vom unmittelbaren Eindruck ab. Vergleichbare Denkweisen ermittelte Lurija (ebd.) bei Erwachsenen eines sowjetischen Volksstammes, der, im Gegensatz zu Kindern, über eine weit entwickelte handwerkliche Praxis und reichhaltige empirische Erfahrungen verfügte, aber noch keine Schriftsprache entwickelt hatte. Selbst wenn es jenen Probanden – unter erheblichen Schwierigkeiten – gelang, einen Syllogismus verbal zu wiederholen (z.B. „Auf trockenen Feldern verdorren Pflanzen, das obere Feld ist seit Langem trocken, also ...“), schlossen sie nicht logisch, sondern erfahrungsgemäß, etwa nach dem Typus „ich weiß es (nicht), ob die Pflanzen vertrocknet sind, weil ich (nicht) dort war“. Diejenige Probandengruppe jedoch, die sich der Alphabetisierungskampagne und dem schulischen Unterricht unterzogen hatte, war zu 90 Prozent fähig zum formallogischen Schluss. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Greenfield (1971) bei ihrer Untersuchung von französischsprachigen Stadt- und Wolof sprechenden Landkindern aus dem Senegal. Indessen sind Kinder, wie Lurija unter Hinweis auf Untersuchungen Galperins und anderer sowjetischer PsychologInnen zeigt, bereits im Alter von fünf und sechs Jahren zu syllogistischen Ableitungen in der Lage, wenn sich ihre sprachliche Überlegung auf eine zuvor entfaltete praktische Handlung stützt. Für Lurija (1982, 302) ein Beleg dafür, dass sprachliche Logik aus diskursiv verdichteter Empirie hervorgeht, also „die logische Ableitung ein Produkt der historischen Entwicklung ist und keinerlei primäre [apriorische] Denkeigenschaft darstellt“. Zusammenfassend sei noch einmal hervorgehoben, dass Wygotski mit Unterscheidung der (von einfachen Abstraktionen durchdrungenen) synkretischen und komplexen Begriffsbildung vom verballogischen Begriff auf Entwicklungsunterschiede hinweist, die nicht nur die individuelle 160

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Sprachkompetenz, sondern auch die genetische Struktur von konventionellen kulturellen Wortbedeutungen und Begriffen betreffen. Bei der Definition von Komplex und verballogischem Begriff fallen Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeit“ auf. So ähnelt Wygotskis Diagnose des komplexen Begriffes geradezu frappierend Wittgensteins Beobachtung kettenförmig verschobener Referenzmerkmale von Alltagsbegriffen. Zu den Unterschieden gehört, dass sich Wittgenstein nicht zur Begriffsentwicklung äußert und auf die Analyse alltagssprachlicher Beispiele (Krüger 1994) konzentriert. Hingegen sieht Wygotski Komplexbildungen als genetische Vorläufer der verballogischen Begriffe und postuliert eine Koexistenz beider Begriffstypen im Sprachgebrauch Jugendlicher und Erwachsener. Auch diese Aussage ist für die Untersuchung geschlechtlicher Arbeitsbegriffe relevant. In der westlichen Psycholinguistik wurde Wygotskis Untersuchung zur Begriffsentwicklung unter anderem von der Forschungsgruppe um den amerikanischen Psycholinguisten Jerome Bruner (Bruner/Kenney 1971; Olver/Hornsby 1971; Maccoby/Modiano 1971; Mosher/Hornsby 1971; Greenfield/Reich/Olver 1971) aufgegriffen und in aufwändigen, teils interkulturell angelegten Vergleichsstudien vertieft. Manche dieser AutorInnen beziehen sich bei der Charakterisierung komplexer Begriffe auch ausdrücklich auf Wittgensteins Konzept der „Familienähnlichkeit“. In diesen Studien wurden teils ähnliche, teils variierende Komplextypen ermittelt, wie sie Wygotski nennt. Auch wurden – kulturell variierende – genetische Beziehungen zwischen komplexer und verballogischer Begriffsbildung ausgemacht. Beispielsweise stellten Olver/Hornsby (1971) bei nordamerikanischen Kindern eine Dominanz komplexer Begriffe bis zum sechsten, siebten Lebensjahr fest, die mit zunehmendem Alter zugunsten oberbegrifflicher Zuordnungen zurückgingen, so dass sich beide Begriffsarten im neunten Lebensjahr etwa die Waage hielten. Maccoby/Modiano (1971) fanden bei einer Untersuchung mit mexikanischen Stadt- und Landkindern heraus, dass die unregelmäßiger beschulten Landkinder viel stärker mit komplexen, erfahrungsabhängigen Äquivalenzbildungen arbeiteten als die hinsichtlich ihres Begriffsbildungsverhaltens mit nordamerikanischen Kindern vergleichbaren ProbandInnen aus Mexiko-City. Greenfield/Reich/Olver (1971) ermittelten bei einer Untersuchung im Senegal, dass die Verwendung einer Schriftsprache eine entscheidende Rolle bei oberbegrifflichen Klassifikationen spielt. Methodisch unterscheiden sich diese Studien insoweit von Wygotskis, als mit bekanntem sprachlichem Material, Bildern und/oder realen Gegenständen gearbeitet wurde, was vermutlich mehr emotionale 161

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Beteiligung der ProbandInnen zuließ als Wygotskis Kunstsilben und geometrische Figuren. Dadurch konnten zwar nicht die Einflüsse der Kultursprache auf die Begriffsentwicklung ausgeschlossen werden. Dafür aber waren genauere Einblicke in die Art alltäglicher Merkmalszuordnung möglich. So wurde in der Untersuchung von Olver/Hornsby (1971) wie auch den interkulturellen Vergleichsstudien von Mosher/Hornsby 1971 und Greenfield/Reich/Olver 1971 herausgefunden, dass Komplexbildung überwiegend mit perzeptiv wahrnehmbaren Merkmalen arbeitet, während oberbegriffliche Äquivalenzzuordnungen anhand stabiler gebrauchsförmiger Merkmale gebildet werden.

1 0 . 2 Z u r L o g i k von w i s s e n s c h a f t l i c h e n u n d Al l t a g s b e g r i f f e n Ich kehre zurück zu Wygotski, der anhand einer Experimentenreihe zum Verhältnis von Alltagsbegriffen und schulisch erworbenen wissenschaftlichen Begriffen weitere gravierende Unterschiede zwischen dem empirischen und dem verballogischen Denken beschreibt (Wygotski 2002, 251 f.). Als wichtigste Unterschiede zwischen Alltags- und wissenschaftlichen Begriffen nennt er die reichhaltigere persönlich gewonnene Gegenstandserfahrung, die dem Alltagsbegriff zugrunde liegt, gegenüber der historisch generierten paradigmatischen Verallgemeinerungsstruktur des wissenschaftlichen Begriffes, der in ein ganzes System von Kategorien eingebunden ist.3 Er erläutert das unter anderem anhand der Begriffe „Bruder“ und „Gesetz des Archimedes“: Während ein Kind aus Erfahrung genau wüsste, was ein Bruder ist, aber (wie von Piaget dokumentiert) in Verwirrung gerate, wenn es eine abstrakte Aufgabe über den Bruder des Bruders lösen soll, vermöge dasselbe Kind das Archimedische Prinzip viel leichter abstrakt zu definieren, müsse sich aber die praktische Anwendung dieses Prinzips vom Begriff ausgehend erarbeiten.

3

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Indem sich Wygotski bei dieser Untersuchung auf psychologische Fragen der Begriffsbildung konzentriert, bleibt die sprachphilosophische Frage nach dem Unterschied zwischen wissenschaftlichen und Alltagsbegriffen unbefriedigend beantwortet. Auch zeichnet er aus meiner Sicht ein etwas idealtypisches Bild des „wissenschaftlichen Begriffs“. Eventuelle Qualitätsunterschiede wissenschaftlicher Begriffe – etwa zwischen naturwissenschaftlichen Begriffen, die auf eine relativ homogene Begriffsgeschichte zurückgehen, und der im Krisenessay so eingehend problematisierten uneinheitlichen Terminologie der Psychologie – thematisiert er hier nicht.

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

Anders als das oben beschriebene Experiment hatte diese Untersuchung nicht künstlich evozierte Begriffsbildungsprozesse, sondern reale Begriffsaufbauten von Kindern und Jugendlichen zum Gegenstand. Bei komplizierten Wechselbeziehungen zwischen spontanen alltagssprachlichen und schulisch erarbeiteten wissenschaftlichen Begriffen ermittelt Wygotski beträchtliche psychologische Differenzen, die aus den verschiedenen Arten des persönlichen empirischen Zuganges sowie dem unterschiedlichen Gegenstandsbezug, der Verallgemeinerungsstruktur und der Eingebundenheit der Begriffsarten in wissenschaftlich ausgeleuchtete Kategoriensysteme erwachsen. Zunächst ist festzuhalten, dass den Ergebnissen dieser Untersuchung zufolge auch der wissenschaftliche Begriff des Kindes auf den Verallgemeinerungen des vorausgegangenen praktisch-anschaulichen Denkens aufbaut, sie gewissermaßen in sich aufnimmt, indem nicht etwa neue Verallgemeinerungsverfahren einzelne Gegenstände bestimmen, sondern die Entwicklung wissenschaftlicher Begriffe aus der „Verallgemeinerung der Verallgemeinerung“ (Wygotski 2002, 364) erwächst. Die „früheren Verallgemeinerungen“ gehen als „Voraussetzung in die neue Gedankenarbeit ein“ (Wygotski ebd. 364). Das heißt, der in der Schule erarbeitete wissenschaftliche Begriff bewegt sich auf einem Abstraktionsniveau, für das nicht der empirisch-sympraktische Bezug, sondern das verbale Erfassen von thematisierten Gegenständen charakteristisch ist. Sein Gegenstandsbezug ist verbal vermittelt, seine Bedeutung durch ein ganzes System anderer Begriffe justiert. Während also der spontane Begriff, reguliert durch die Wortbedeutung, aus unzähligen Auseinandersetzungen mit konkreten Objekten, Situationen, Handlungen und deren anschaulicher Verallgemeinerung erwächst, beginnt der wissenschaftliche Begriff mit einer verbal vermittelten Beziehung zum Objekt, verläuft „vom Begriff zum Ding“ und verbindet sich dann erst mit der Erfahrung (Wygotski 2002, 345). Auch steht der wissenschaftliche Begriff im Kontext eines entsprechenden Bedeutungssystems, zu dessen Erfassen der Alltagsbegriff sowohl Basis als auch Brücke ist. Seine Erarbeitung und willkürliche Anwendung setzt beim Kind die Existenz ausreichend entwickelter Alltagsbegriffe voraus. Umgekehrt wirkt die Erarbeitung wissenschaftlicher Begriffe auf die spontanen Begriffe des Kindes zurück. „Der Alltagsbegriff, der eine lange Entwicklung von unten nach oben hinter sich hat, hat den Weg für das weitere Wachstum nach unten vorbereitet. [...] Ebenso hat der wissenschaftliche Begriff [...] den Weg für die Entwicklung des Alltagsbegriffes gebahnt, indem er eine Reihe struktureller Gebilde vorbe-

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

reitet, die für die Beherrschung höherer Eigenschaften des Begriffes erforderlich sind.“ (Wygotski 2002, 346/347)

Bleibt angesichts der historisch unterschiedlichen Diskursqualität geschlechtlicher Arbeitsbegriffe zu fragen, ob das für alle alltäglichen und wissenschaftlichen Wortbedeutungen gilt. Vor dem Hintergrund der androzentrischen Tradition neuzeitlicher Wissenschafts- und Berufsentwicklung ist jedenfalls von einer gewissen Brisanz, dass der wissenschaftliche Begriff mit seinem hohen abstraktiven Verallgemeinerungsgrad eine „hierarchische Systematisierung“ der untergeordneten Begriffe“ voraussetzt, mit denen ihn „wiederum ein ganz bestimmtes Beziehungssystem“ verbindet (Wygotski 2002, 295, Hvh. I.A.). Als Bestandteil eines wissenschaftlichen Kategoriensystems führt der wissenschaftliche Begriff außerdem umfassender als der Alltagsbegriff in historisches Wissen ein. Denn sein höheres „Allgemeinheitsmaß“ (Wygotski ebd. 371) umschließt nicht nur eine größere Menge von Gegenständen (hat einen breiteren Begriffsumfang), sondern stellt auch eine systematischere Beziehung zwischen den repräsentierten Gegenständen und denjenigen anderer Kategoriensysteme her. Dadurch ist der wissenschaftliche Begriff sensibler für Widersprüche und dem Alltagsbegriff in der Urteilsbildung überlegen. Weil „jeder Verallgemeinerungsstruktur“ – ob Synkretismus, Komplex, Vorbegriff oder Begriff – ein „eigenes System der Allgemeinheitsrelationen“ (Wygotski ebd. 372) im Sinne eigener Relationen von über-, unter- und nebengeordneten Begriffen inklusive deren Beziehung zu anderen Kategoriensystemen entspricht, über die sich der gedankliche Bezug zu den Objekten und den Beziehungen zwischen den Objekten herstellt, bestimmen sich über das „Allgemeinheitsmaß“ eines Begriffes die mögliche Vielfalt und Qualität gedanklicher Operationen (Wygotski ebd. 362). Jeder im Bewusstsein entstehende Begriff bildet „Prädispositionen und Bereitschaften für bestimmte Bewegungen der Gedanken“; jede gedankliche Operation, ob Vergleich, Urteil oder Schluss, „setzt eine bestimmte strukturelle Bewegung“ im Netz der unterschiedlichen Verallgemeinerungsrelationen voraus (Wygotski 2002, 362). Der qualitative Unterschied zwischen dem spontanen und dem wissenschaftlichen Begriff besteht Wygotski (ebd. 373) zufolge darin, dass Letzterer in ein System begrifflicher Ordnungs- und Unterordnungsbeziehungen eingebunden ist, das logische „überempirische Verbindungen“ möglich macht. Hingegen sieht er den Alltagsbegriff in situativen Verbindungen von Gegenständen befangen, in denen die „Logik der Handlung“ (ebd. 373) dominiert. Während demnach also eine begrifflich strukturierte Wortbedeutung zu einer gewissen Eindeutigkeit und logi164

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schen Folgerichtigkeit auch im Verhältnis zu anderen Kategorien führt, changiert die Bedeutung alltagssprachlicher Worte im Kontext unterschiedlicher empirischer Ereignisse und wird erst durch sie präzisiert. Entscheidend dafür, ob eine Wortbedeutung die Qualität eines wissenschaftlichen Begriffes erreicht, ob sie logisch-abstrakte oder nur alltäglich-empirische intellektuelle Operationen prädisponiert, ist, so Wygotski (2002, 372), nicht nur die individuelle Begriffsfähigkeit, sondern auch die Eingebundenheit der jeweiligen Wortbedeutung in ein kategoriales „System“. Demzufolge bestimmt sich die Logik gedanklicher Operationen nicht nur nach der persönlichen Begriffsbildungskompetenz, sondern auch nach dem historischen Verallgemeinerungsniveau der verwendeten Worte und ihrer kategorialen Systematik. Spätestens hier wirft sich bezüglich der ungleichen historischen Teilhabe von Männern und Frauen an wissenschaftlichen bzw. beruflichen Institutionen die Frage auf, ob sich das in logisch unterschiedlich systematisierten Arbeitsbegriffen niedergeschlagen hat und welche denkpsychologischen Konsequenzen daraus resultieren. Immerhin ist zu bedenken, dass institutionell systematisierte Arbeit eher mit kulturell tradierten und kommunizierten Verfahren ausgestattet ist, womit sich ein höherer Grad der Invarianzbildung und diskursiven Ausleuchtung von Tätigkeiten verbindet, als für Arbeit in familialen oder subsistenzwirtschaftlichen Verhältnissen anzunehmen ist. Auch bleibt weiter zu hinterfragen, ob denn jeder wissenschaftliche Begriff natur-, human- oder gesellschaftswissenschaftlicher Provenienz eine stringent verballogische Systematisierung aufweist. – Oder ob nicht auch bei wissenschaftlichen Begriffen Unterschiede hinsichtlich ihrer arbeitspraktischen Explorations- und diskursiven Verallgemeinerungsqualität auszumachen sind, die mit den jeweiligen Erkenntnisinteressen der Forschenden sowie der Art der Gegenstandsausleuchtung korrespondieren.

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ENTWICKLUNGSPSYCHOLOGISCHE

WIRKUNG

DER

S P R AC H E

Bevor ich mich in Teil III der sozialgeschichtlichen Entwicklung geschlechtlicher Arbeitsbegriffe und ihrer Verallgemeinerungslogiken zuwende, will ich die Auswirkungen historischer Begriffsentwicklung auf heutige Vergeschlechtlichungsprozesse in einer psychologischen Erörterung verdeutlichen. Dazu greife ich noch einmal zwei zentrale Thesen Wygotskis auf: 1. Die These von der Interfunktionalität der psychischen Funktionen, die besagt, dass sich mit der Sprachentwicklung nicht nur das Denken, sondern auch die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und der Affekt transformieren. Womit zugleich ein entscheidender Hinweis auf die Historizität der menschlichen Psyche einschließlich der Emotionen und Interessen gegeben ist. Da dieses Konzept sowohl die individuelle Ebene geschlechtlicher Identitäts- und Interessensentwicklung als auch sozialhistorische Prozesse genderförmiger Kategorienbildung betrifft, werde ich Wygotskis entwicklungspsychologische Begründung dieser These im Folgenden etwas ausführlicher referieren. 2. Die These von der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen, aus der sich u.a. die orientierungsleitende Funktion der Sprache erklärt. Ich ziehe sie später zur Erarbeitung eines psycholinguistischen doing-gender-Modells heran.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

11.1 Interfunktionale Reorganisation des Bewusstseins Wygotski (2002; 1987) zufolge werden Kinder mit dem Erwerb der Sprache nicht nur in kulturelle Gebräuche, Zuordnungsschemata und Wertungen eingeführt, sondern es reorganisiert sich mit der Sprachentwicklung die Art und das interfunktionale Zusammenwirken aller Bewusstseinsfunktionen einschließlich der Affekte (vgl. auch Lurija 1982; Lurija/Judowitsch 1977). Zentrale psychologische Bedeutung misst er der Verallgemeinerung bei, durch die sich die naturgeschichtlich entwickelte Art affektiver situationsgebundener Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Erinnerung und Aktion in den kulturellen Typus sinnerfassender vorausschauender Orientierung wandelt. Die „Verallgemeinerung“, schreibt er, „ist das Prisma, durch das alle Formen des Bewusstseins gebrochen werden“ (Wygotski 1987, 235, Hvh. I.A.). Er konkretisiert diese Ansicht in den Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit (Wygotski 1987), wo er sich unter anderem mit dem Übergang vom Kleinkindalter zum Vorschulalter auseinandersetzt. Dabei stützt er sich teils auf eigene Untersuchungen, teils auf andere psychologische Forschungsarbeiten, vor allem auf Arbeiten des deutschen Strukturpsychologen Kurt Lewin und Jean Piagets. Ich referiere die wichtigsten Aussagen zum Einfluss der Sprache auf die Entwicklung der kindlichen Psyche, so die sprachinduzierte Veränderung des Zusammenhanges von Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motorik und Affekt: Das Kleinkindalter fasst Wygotski (1987) als Phase des Laufenlernens und beginnenden Spracherwerbs, in der sich das Kind physisch von der Mutter zu lösen beginnt, aber psychisch noch stark an sie gebunden ist. Im Anschluss an Kurt Lewin und Jean Piaget sieht er in der sinnlichen Wahrnehmung die dominante psychische Funktion dieser Entwicklungsetappe. Verbunden durch den Affekt schließt sich Wygotski zufolge die Wahrnehmung in diesem Stadium noch eng mit motorischen Aktivitäten zusammen. Ähnlich wie Piaget spricht Wygotski (1987, 203) deshalb von der „Einheit sensorischer und motorischer Funktionen“ im Kleinkindalter, der andere Bewusstseinsfunktionen wie Gedächtnis und Aufmerksamkeit noch untergeordnet sind. Aufmerksamkeit und Handeln des Kleinkindes seien, sofern nicht von sozialen Bezugspersonen gelenkt, von situativen sensorischen Reizkonstellationen determiniert. Das Gedächtnis bilde hier noch die „Fortsetzung“ des Wahrnehmungsaktes, „realisiert sich in der aktiven Wahrnehmung“ in Form von „Wiedererkennen“ (ebd. 238) und ermöglicht noch kein Zurückerinnern. Auch Affekte äußerten sich vornehmlich im unmittelbaren Zusammen168

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hang der Wahrnehmung äußerer Gegebenheiten oder innerer Zustände. Das „Denken“ in dieser Entwicklungsphase beurteilt Wygotski (1987, 238) als „anschaulich-praktisches Umstrukturieren der Situation“. Als Charakteristika für das Verhalten des Kleinkindes führt er (ebd. 200) nach Lewin die „Situationsgebundenheit“ und „Feldmäßigkeit“ der Handlung, das heißt die Orientiertheit an der situativen Struktur der jeweiligen Handlungsfelder, an. Das ändert sich mit dem Spracherwerb, genauer mit dem Wechsel von der autonomen Kindersprache zur Anwendung erster kultureller Wortbedeutungen. Laut Wygotski (1987, 215) beginnt die konventionelle Sprache alsbald „die sensomotorische Einheit zu zerstören und Bindung des Kindes an die Situation zu lösen“. Der Gebrauch erster wortinduzierter Verallgemeinerungen zeuge von einer sich verändernden Beziehung und Funktionsweise der Bewusstseinsfunktionen, was er folgendermaßen beschreibt: Wahrnehmung und Aufmerksamkeit werden zunehmend durch Bedeutungsbezug strukturiert. Unterschiedliche lokomotionsbedingte Hinsichten auf Dinge (beispielsweise auf einen Tisch, der sich aus unterschiedlichen Perspektiven und Distanzen, von oben, unten, nah und fern verschieden darstellt) sowie Besonderheiten (etwa des Wohnzimmerund Küchentisches) werden dadurch zu allgemeinen Schemata vereinheitlicht. Es entsteht „konstante Wahrnehmung“ (ebd. 229) und die abstrahierende Wahrnehmung eines Dinges als Exempel wird möglich. Mit dem schnell anwachsenden Gebrauch verallgemeinernder Worte erweitert sich die Fähigkeit zur situationsübergreifenden Kommunikation, das Kind vermag immer mehr Beziehungen zwischen allgemeinen Vorstellungen herzustellen und sich aus dem praktischen Denkhandeln zu lösen. Das wortgestützte Gedächtnis wirkt als Korrektiv der unmittelbaren Wahrnehmung und wird beim etwa dreijährigen Vorschulkind zur dominierenden Orientierungsfunktion, die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit strukturiert. Indem sich die zunehmend sprachlich strukturierte Wahrnehmung aus der engen affektiven Bindung an die Motorik löst, verändert sich auch die Umsetzung und Struktur der Affekte: Es wandelt sich, wie Wygotski (ebd. 263/264) es ausdrückt, der „Charakter der Interessen und Bedürfnisse“, die „nicht mehr allein durch die Situation“ determiniert sind, sondern durch den „Sinn der jeweiligen Situation“. Das heißt, die Wortbedeutungen mit ihren hervorgehobenen Merkmalen und Sinnaspekten beeinflussen nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch den ursprünglich eng an die Wahrnehmung gebundenen Affekt, indem sich die Bedeutung gewissermaßen zwischen die sensorische Wahrnehmung und den handlungsauslösenden Affekt schiebt. Die anfänglich impulsive Af169

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fekthandlung transformiert sich allmählich in einen komplizierteren Prozess vor- und rückschauenden interessensgeleiteten Handelns. Indem nunmehr die Orientierung „vom Gedanken zur Situation“ verläuft und nicht mehr „von der Situation zum Gedanken“ (Wygotski 1987, 264), erlangt das Kind die Fähigkeit zu Idee, Phantasie und eigenem Willen. Folglich verändert sich auch der Charakter der Tätigkeit, die, wie zur egozentrischen Sprache gezeigt, zunehmend konstruktive und willkürliche Züge annimmt. Nicht zuletzt wirkt sich die wortinduzierte Verallgemeinerung auf die Selbstbewusstheit des Kindes aus. Mittels der aktiven Anwendung der Wortbedeutung vermag es sich von seinem unmittelbaren Erleben zu distanzieren. Das Kind erlangt die Fähigkeit, sein Empfinden und Handeln bedeutungshaft einzuordnen und sein Ich aus der Verbundenheit mit der sozialen Umwelt zu exponieren. Wie man sich die „Rekonstruktion“ der Bewusstseinsfunktionen genauer vorstellen kann, expliziert Wygotski (1978) in einer Studie zur Entwicklung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. Im Ergebnis einer Untersuchungsreihe zum Wahlverhalten (Auswahl und Zuordnung von Symbolen zu bildlich dargestellten Situationen) vier- bis fünfjähriger Kinder, die sich noch im Stadium der äußeren – und deshalb beobachtbaren – Operation mit Zeichen befinden, führt er aus: „Der Gebrauch von Hilfszeichen zerbricht die Verschmolzenheit des sensorischen Feldes und des motorischen Systems und macht dadurch neue Verhaltensweisen möglich. Zwischen die beginnenden und die beendenden Momente der Wahlreaktion ist eine ,funktionelle Barriere’ getreten; der unmittelbare Bewegungsimpuls wird durch vorbereitende Kreisläufe verschoben. Das Kind, das das Problem früher impulsiv [durch motorische Bewegung] löste, löst es jetzt durch eine innerlich hergestellte Verbindung zwischen dem Stimulus und dem entsprechenden Hilfszeichen. Die Bewegung, die vorher die Wahl selbst ist, dient jetzt allein dazu, die vorbereitende Operation durchzuführen. Das System der Zeichen rekonstruiert den gesamten Prozeß und befähigt das Kind, seine Bewegung zu beherrschen [...] Die Bewegung trennt sich von der unmittelbaren Wahrnehmung und gerät dadurch unter Kontrolle der in die Wahlreaktion einbezogenen Zeichenfunktion. [...] Zusätzlich zur Reorganisation des visuell-räumlichen Feldes bringt das Kind mittels der Sprache ein Zeitfeld hervor [...] Das sprechende Kind hat die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit auf dynamische Weise zu lenken. Es kann Veränderungen seiner gegenwärtigen Lage aus dem Blickwinkel vergangener Tätigkeiten betrachten, und es kann vom Blickwinkel der Zukunft aus in der Gegenwart handeln. [...] für den Affen ist diese Aufgabe unlösbar, es sei denn, das Ziel und das Objekt, mit dem es zu erreichen ist, sind gleichzeitig zu sehen. [...] Folglich umfasst die Aufmerksamkeit eines Kindes nicht eines, sondern eine ganze Reihe potentieller Wahrnehmungsfelder, die über die Zeit 170

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

hinweg eine aufeinanderfolgende, dynamische Struktur bilden. [...] Die Möglichkeit, Elemente vergangener und gegenwärtiger visueller Felder [...] in einem Aufmerksamkeitsfeld zu verknüpfen, führt [...] zur Rekonstruktion [...] des Gedächtnisses. Durch die verbale Formulierung vergangener Situationen und Tätigkeiten löst sich das Kind von den Einschränkungen unmittelbarer Erinnerung; es fährt fort, Vergangenheit und Gegenwart zu synthetisieren, um an seine Ziele zu gelangen. Diese Veränderung in der Struktur des kindlichen Verhaltens hängt mit grundlegenden Änderungen der kindlichen Bedürfnisse und Motive zusammen. [...] Die im Tier vorherrschenden ,instinktiven’ Triebe treten beim Kind an die zweite Stelle. Neue Motive, sozial verwurzelt und äußerst stark, versehen das Kind mit einer Richtung.“ (Wygotski 1978, 34/35, Hvh. im Orig.)

Ein praktisches Beispiel der sprachinduzierten Neuorganisation des Bewusstseins bietet die Studie von Lurija/Judowitsch (1977) mit organisch gesunden eineiigen Zwillingen, die aufgrund familiärer Umstände und der Zwillingssituation (starke wechselseitige Bezogenheit bei gutem nichtsprachlichen Verstehen) im Alter von fünf Jahren noch im autonomen Sprechen und sympraktischen Agieren verhaftet waren. Am Anfang der Untersuchung waren beide unfähig, bei Beschäftigungen des Kindergartens, etwa Sing- und Rollenspielen mit fiktionalem Inhalt oder sequenziell auszuführenden Bastelarbeiten, mitzuhalten. Ihre Spiele waren auf das Hantieren mit und Hinweise auf vorhandene Dingen begrenzt; sprachliche Mitteilungen blieben für Außenstehende unverständlich und waren an eben jenes situative Agieren geknüpft. Zur Förderung der Sprachentwicklung wurden die Kinder in getrennten Kindergartengruppen untergebracht. Aus experimentellen Gründen erhielt zuerst nur der schwächer entwickelte Junge Sprachunterricht; der andere wurde später beschult. Nach drei bis vier Monaten hatte sich die Sprache beider Kinder alleine durch die Kommunikation in getrennten Kindergartengruppen entwickelt. Dabei überflügelte der Junge, dem das Sprachtraining zuerst zuteil geworden war, seinen ursprünglich stärkeren „Kontroll“Zwilling in der Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeit. Auch sein Basteln und Zeichnen nahm zunehmend gegliederten Charakter an, seine Aufmerksamkeit und emotionale Gerichtetheit veränderten sich. Während sein sprachlich weniger trainierter Bruder kaum zeichnen konnte und schnell das Interesse an Aufgaben verlor, war er zunehmend zu Arbeiten in der Lage, die zeitübergreifende Gedächtnisleistungen und abstraktive Merkmalsreduktionen erforderten. Die Autoren berichten, dass er tagelang an der Zeichnung einer Metrobahn arbeitete, was ihn emotional so beschäftigte, dass er abends im Bett davon erzählte. Bei Bildinterpretationen, etwa der Darstellung eines weinenden Mädchens und einer Katze, konnte er kausale Zusammenhänge (das Mädchen weint, weil es von der 171

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Katze gekratzt wurde. Die Katze hat gekratzt, weil sie keine Milch bekommen hat) herleiten, die im Bild nicht dargestellt waren. Kurz: Er vermochte situations- und zeitüberschreitende Zusammenhänge zu synthetisieren und dadurch Vorstellungen über Gefühle und Handlungsequenzen Anderer zu bilden, während sein sensumotorisch agierender Bruder nur Einzelheiten benannte. Die orientierungsleitende Funktion der Sprache, die zur Reorganisation des Bewusstseins einschließlich der kulturellen Transformation der Affekte hin zu bewusster, interessensgeleiteter Orientierung führt, wurde im Zuge der pragmatischen Wende der Linguistik in den 1960er und 70er Jahren eingehend untersucht. Lurija (1982, 136 f.) und Lurija/Judowitsch (1977, 45 f.) nennen dazu eine Reihe von Forschungsarbeiten, die ich in Hinblick auf geschlechtliche Zuordnungsprozesse kurz anführe: • Jerome Bruner (1973) führte den Nachweis, dass die menschliche Sprache im Säuglingsalter Orientierungsreflexe hervorruft, die den Ablauf instinktiver Prozesse hemmt. • Eine Reihe von Untersuchungen, die Lurija mit Polkakowa/Rosnowa (1958) und Subbotski (1975) ausführte (vgl. Lurija 1982), zeigt, dass die steuernde Funktion der Erwachsenensprache in der kindlichen Ontogenese erst entwickelt wird: Zwar setze diese Funktion im Kleinkindalter mit der Erwachsenen-Kind-Interaktion ein, bei der die „sprachlichen Einwirkungen des Erwachsenen [...] nicht mehr einfach eine allgemeine Orientierungsreaktion, sondern [...] spezifische“ Reaktionen auf konkrete Dinge hervorrufen (Lurija 1982, 136). Doch sei das anfangs noch an hinweisende Gesten und praktische Handhabung gebunden. So gerieten zweijährige Kinder noch in Konflikt zwischen der sprachlichen Instruktion und der Anziehung des sensorischen Feldes (Lage oder Farbe der Gegenstände). Widerspreche die sprachliche Anweisung des Versuchsleiters seiner Handlung (sollte z.B. ein Kind den Finger heben, während er eine Faust machte), reagierten sie mit einer kurzen Bewegung, folgten aber dann dem sinnlichen Eindruck. Diese „sensorische Anfälligkeit“ verschwindet Lurija (1982, 140) zufolge etwa im Alter von drei bis dreieinhalb Jahren. Ab dann beeinflussten sprachliche Anweisungen Erwachsener die Bewegungsabläufe und kompensierten bei organisch gesunden Kindern die motorische Reaktion. • Das Alter, ab dem Kinder fähig werden, ihre Aufmerksamkeit und Motorik durch eigenes Sprechen zu regulieren, geben Lurija/Judowitsch (1977, 50/51) mit vier bis fünf Jahren, dem Auftreten der „egozentrischen“ Sprache, an. Ist die sprachliche Selbstinstruktion des „egozentrisch“ sprechenden Kindes noch an laut memorierten 172

SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS





Anweisungen Erwachsener orientiert und Teil seiner äußeren Handlung, stellt das fünf- bis sechsjährige Kind bereits innere sprachliche Verknüpfungen her (ebd.). Zum Verhältnis von kategorialer und sensorischer Wahrnehmung führt Bruner (1971b) eine Untersuchung zur Mengenkonstanz von Flüssigkeit in verschiedenen Gefäßen an, der zufolge Kinder, die ihre Wahrnehmung sprachlich zu regulieren vermögen, sensorische Unterschiede (es sieht verschieden aus, ist aber gleich) sehr wohl registrieren und benennen können. Dieses Ergebnis spricht für die Wechselseitigkeit von sensorischer und kategorialer Wahrnehmung sowie die genetische Interdependenz von praktischer Handlungserfahrung und Begriffsbildung. Dass bei Klassifizierungsprozessen mit zunehmendem Alter anschauliche sensorische Beurteilungen ab- und kategoriale Einordnungen zunehmen, weisen unter anderem Greenfield/Reich/Olver (1971) in ihrer interkulturellen Studienreihe mit nordamerikanischen, mexikanischen und Inuitkindern sowie ein- und zweisprachigen (Wolof und/oder Französisch) sprechenden Kindern aus dem Senegal auf. In kritischer Auseinandersetzung mit Whorfs simplifizierender These einer direkten Beeinflussung der Wahrnehmung durch einzelne Worte heben sie hervor,1 dass für die sprachunterstützte Bedeutungszuordnung weniger „die isolierten Worte als die Tiefe von deren hierarchischer Integration“ (ebd. 363), sprich der „Allgemeinheitsgrad“ (ebd.) und die semantisch-syntaktischen Bezüge der Worte im Begriffssystem bedeutsam sind. So sei der Besitz abstrakter Begriffe wie „Farbe“ oder „Form“ entscheidend dafür, ob Kinder bei der Bildung von Gegenstandsklassen farbliche oder figürliche Gesichtspunkte aus Gesamteindrücken herauslösen könnten. Auch dieser Befund bekräftigt, dass der Gebrauch verballogischer Begriffe qualitativ andere Zuordnungsprozesse organisiert als das anschauliche-komplexe Denken, das sich eher an ganzheitlichen sensorischen Eindrücken orientiert.

Welche Wahrnehmungs- und Kategorisierungsprozesse geschlechtlich konnotierte Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe evozieren und welche Rolle hier der Allgemeinheitsgrad der Wortbedeutungen spielt, werde ich im dritten Teil des Buches anhand der historischen Rekonstruktion geschlechtlicher Kategorienentwicklung und am Beispiel berufskundli1

Die als „Sapir-Whorf-These“ bekannte Aussage B. L. Whorfs (1963) leitete sich aus der Beobachtung der Inuit- und Hopi-Sprache her und behauptet eine unmittelbare Sprachabhängigkeit des Denkens, was vielfach als Sprachdeterminismus kritisiert wird. 173

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cher Texte diskutieren. Zuvor sei der psychologische Zusammenhang von Sprachentwicklung und geschlechtsaffiner Identitäts- und Interessensbildung thematisiert.

11.2 Vom sozialen zum individuellen Gendering Hinsichtlich aktueller Fragen zur Wirkungsweise alltäglichen Genderings zeigt die entwicklungspsychologische Auseinandersetzung, dass die Übermittlung soziokultureller Geschlechts(be)deutungen kaum auf situativ-interaktive Zuweisungsakte habitueller Schemata reduziert werden kann, wie es das eingangs erwähnte sozialkonstruktivistische Konzept alltäglichen doing genders (Gildemeister/Wetterer 1995; Hirschauer 1996) vorgibt. Deutlich wird auch, dass geschlechtliche Klassifikation unter Verwendung der symbolischen Kultursprache keineswegs als Nachvollziehen „binärer“ Klassifikationsschemata zu verstehen ist, das sich nur auf „der grundlegende[n] Ebene der interaktiven Herstellung sozialer Wirklichkeit“ (Gildemeister/Wetterer 1995, 230, Hvh. im Orig.) realisiert. Anzunehmen ist vielmehr, dass kulturelle Geschlechtsbedeutungen in gebräuchliche Kategoriensysteme eingelassen sind, die Menschen für intersubjektive wie intrapsychische Zuordnungsprozesse und mithin für die Wahrnehmung von Personen einschließlich der eigenen heranziehen. Da es schlicht die Lesbarkeit meiner Abhandlung übersteigen würde, hier noch einmal tiefer auf das mikrosoziologisch basierte sozialkonstruktivistische doing-gender-Modell einzugehen, beschränke ich mich darauf, ein Konzept vorzustellen, das die psychische Wirkung historisch generierter sprachlicher Bedeutungen integriert. Ich beziehe mich dabei ebenfalls auf Ergebnisse der mikrosoziologischen Genderforschung, die ich im Folgenden kurz referiere und anschließend anhand Wygotskis These der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen interpretiere:

Interaktive Geschlechtszuweisung Aus der angloamerikanischen Transsexuellen- und Interaktionsforschung hervorgegangen und in den 1970er Jahren auf Probleme soziokulturellen Genderings zugespitzt, hatte die mikrosoziologische Genderforschung erheblichen Anteil an der Dekonstruktion des biologistischen Geschlechtsbegriffs und der forschungsmethodischen Entkoppelung von körperlichem (Sex) und sozialem Geschlecht (Gender) (Becker-Schmidt/ Knapp 2003).

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SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

In den 1980er Jahren von der deutschen Frauenforschung unter verschiedenen methodologischen Zugängen aufgegriffen, bestand der große Wert dieser Forschung vor allem in der minutiösen Beobachtung geschlechtsgerichteter Interaktions- und Deutungsprozesse und der Untersuchung ihrer Wirkung. Unter dem Eindruck des traditionellen biologistischen Geschlechtsbegriffs war diese Forschung noch in den 1970er Jahren von der Frage geleitet, ob denn überhaupt kontextunabhängige, überdauernde Verhaltens- und Kompetenzunterschiede zwischen den Genusgruppen auszumachen seien. Wegweisend für die Hinwendung zur soziokulturellen Erklärung von Geschlechtsidentität wurde der in mehreren Einzel- und Metastudien (zusf. bei Hagemann-White 1984) erbrachte Nachweis, dass geschlechtliche „Eigenschaften“ im Sinne kontextunabhängiger kognitiver, sozialer, sprachlicher, motorischer oder perzeptiver „Fähigkeiten“ empirisch allenfalls mit geringen quantitativen Abweichungen zu ermitteln sind und dass diesbezügliche interindividuelle Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen weit größer sind als der vermeintliche Geschlechtsunterschied (vgl. auch Alfermann 1989). Aufschlussreiche Hinweise auf die Wirkung interaktiven Genderings gaben die Befunde zur soziokulturellen und schichtspezifischen Variabilität geschlechtlicher Identitätsmuster sowie zur Abhängigkeit persönlicher Interessensentwicklung vom familiären bzw. schulischen Umfeld (vgl. Hagemann-White 1984). Bekanntes Beispiel ist der erstmals von Fennema und Shermann (vgl. Hagemann-White 1984) ermittelte und in verschiedenen Folgestudien (u.a. Horstkemper 1987; Valin 1993) erhärtete Befund, dass traditionell gegengeschlechtlich gewertete Kompetenzen wie die Leistungen von Mädchen in Mathematik in deutlicher Abhängigkeit zu familiären Einstellungen stehen. Wichtige Einsichten hinsichtlich der Funktionsweise geschlechtlicher Deutung erbrachten die Studien zur geschlechtsspezifischen Erwachsenen-Kind-Interaktion. Beispielsweise dokumentierten Untersuchungen von Lake und Rubin/Provenzan/Luria (vgl. jeweils Keller 1978), dass Eltern schon nach der Geburt geschlechtliche Schemata mobilisierten, indem sie Mädchen signifikant häufiger als „schwach und feingliedrig“ und Jungen als „stark, munter, gut koordiniert“ beschrieben, obwohl bei Neugeborenen kein geschlechtlicher Unterschied hinsichtlich Körpergröße, Gewicht oder Reaktionsverhalten besteht (vgl. auch Alfermann 1989). Dass geschlechtliche Interpretationen differentielles Zuwendungsverhalten nach sich ziehen, zeigte eine Reihe weiterer, bei Keller (1978) zusammengefasster Arbeiten, denen zufolge Mädchen im ersten Lebensjahr eher durch Sprache und Mimik, Jungen eher durch Berührung und Bewegung stimuliert werden. Dieselben Studien zeigen, dass Väter, die in der Regel weniger Zeit mit Kindern verbrin175

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gen, stärker zu Geschlechtsstereotypen neigen als Mütter (ebd.). Dass sich geschlechtliche Vorannahmen auch angesichts desselben Verhaltens mit divergenten Deutungsmustern verbinden, dokumentierten verschiedene Baby-X-Studien, darunter das Experiment von Condry & Condry (vgl. Keller 1978), die Studierenden einen Film über ein neun Monate altes schreiendes Kind vorführten, worauf diejenigen ProbandInnen, die das Kind für ein Mädchen hielten, überwiegend ein ängstlich erschrockenes und jene, die von einem Jungen ausgingen, ein ärgerliches Baby zu sehen glaubten. Auf den unbewussten und ungewollten Charakter solcher Deutung wiesen Experimente wie das von Will/Self/Datan (1976, vgl. Keller 1978) hin, wo Mütter, die angaben, bei ihren eigenen Söhnen und Töchtern keine Erziehungsunterschiede zu machen, zur Beschäftigung eines jeweils als Junge oder Mädchen vorgestellten Kleinkindes zu geschlechtstypischem Spielzeug griffen. Unbewusstes Gendering weisen auch die Studien zur schulischen Interaktion (u.a. EndersDragässer/Fuchs 1989) nach, denen zufolge selbst geschlechtssensibel denkende Lehrkräfte geschlechtstypische Muster bedienen.

Intrapsychische Geschlechtseinordnung Um nun Wygotskis Theoriebildung auf diese Forschungslage anzuwenden, rufe ich die These der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen in Erinnerung: Sie geht, wie gezeigt, von einer anfänglich vollständigen sozialen Abhängigkeit des Kindes und der intersubjektiven Strukturierung seiner Psyche aus. Die Bezüge des Säuglings zur Außenwelt wie auch die affektive Sensomotorik des Kleinkindes sind durch das „Prisma der sozialen Beziehungen“ (Wygotski 1987, 108) gebrochen; Denken vollzieht sich anfänglich im „äußeren“ situationsabhängigen Handeln und sozialen Kommunizieren. Aus dem sympraktisch-sozialen Erwerb der Sprache erwächst die Fähigkeit zur erfahrungs- und situationsüberschreitenden ideellen Operation. Das soziokulturell strukturierte Symbolsystem ermöglicht die Hereinnahme ursprünglich intersubjektiver Orientierungsleistungen in den intrapsychischen Bereich und wird für das Kind zum Mittel, um die eigene Aufmerksamkeit, Affektation und Handlung entlang kultureller Bedeutungsstrukturen zu regulieren. Schaut man sich unter diesem Fokus zunächst das Säuglings- und Kleinkindalter an, heißt Brechung der kindlichen Realitätsbezüge durch das „Prisma der sozialen Beziehungen“, dass innerhalb der arbeitsteiligsozialen Organisation der frühkindlichen Psyche nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungserfahrungen des Kindes sozial vermittelt sind, sondern auch seine sachlichen Erfahrungen und Selbstrepräsentationen. Aufgrund der Forschungsergebnisse über geschlechtsspezifische 176

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Eltern-Kind-Interaktion ist anzunehmen, dass was dem Kind wie zur Verfügung gestellt wird, welche Dinge und Spielzeuge ihm aus welchen Distanzen gereicht werden und unter welchen elterlichen Kommentaren es was wahrnehmen kann, einer sozialen Regulation unterliegt, die von kulturellen Geschlechtsdeutungen durchdrungen ist. Im Verbund mit solcherart sozial vorstrukturierter Welterfahrung ist auch die Art, wie Betreuungspersonen auf den Körper des Kindes, seine mimischen und lautlichen Äußerungen, seine Reaktionen auf äußere Signale und propriorezeptive Wahrnehmungen antworten, eine erste Spiegelung seines Selbst. Kurz: Kinder bilden ihre ersten sozialen, sachlichen und propriorezeptiven Schemata im Zusammenhang der Zuwendungen und Darreichungen ihrer Bezugspersonen aus, von denen man anhand der Forschungslage annehmen kann, dass sie bewusst und/oder unbewusst an geschlechtlichen Interpretationsmustern orientiert sind. Gleichwohl Erwachsene oft intuitiv auf Kinder reagieren und es – den Beobachtungen des Säuglingsforschers Daniel Stern (1979) zufolge – so etwas wie „kleinkindevoziertes“ Erwachsenenverhalten gibt, ist nach allem, was zur psychischen Wirkung der Sprache ausgeführt wurde, anzunehmen, dass auch die spontane Zuwendung Erwachsener nicht naturhaft instinktiv, sondern über ein kulturelles Begriffsrepertoire vermittelt ist, das die unmittelbare Wahrnehmung zugunsten kategorialer Sinnerfassung korrigiert. Da dieses Repertoire neben anderen sozialen Mustern eben auch geschlechtliche bereit hält, die differentielle Bedürfnisinterpretationen, Verhaltensannahmen und Stimulationsschemata evozieren, leitet sich ab, dass kulturelle Geschlechtsbegriffe, indem sie Erziehungsverhalten strukturieren, von Anfang an in die intersubjektive Regulation der kindlichen Psyche eingehen und in Verschränkung mit den sozialen Erfahrungen auch die sachlichen Perspektiven und Operationen einschließlich der affektiven Gerichtetheiten des Kindes beeinflussen. Das heißt, dass sprachlich übermittelte Geschlechtskategorien – in ihrer jeweiligen historischen und soziokulturellen Bedeutung und idiosynkratischen Auslegung – schon im Säuglings- und Kleinkindalter geschlechtlich selektierte Erfahrungen und affektive Gerichtetheiten organisieren, die die Interessensausrichtungen von Kindern mindestens prädisponieren. Mit Wygotski ist außerdem zu folgern, dass der kindliche Geschlechtsbegriff, der sich im Wege einer so spezifizierten Sympraxis entwickelt, aufs Engste mit dem Selbstbild verbunden ist. Die These der Entwicklung vom Sozialen zum Individuellen besagt weiter, dass Kinder mit dem Auftauchen der egozentrischen Sprache im dritten, vierten Lebensjahr anfangen, ihre Bezugnahme zur Welt, ihre Aufmerksamkeit und ihr Handeln selbst anhand sprachlicher Bedeutun177

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gen zu strukturieren. Was logischerweise impliziert, dass sie auch die zuvor von Erwachsenen geleisteten Deutungen ihrer Person zunehmend sprachlich erschließen. Bedenkt man, dass die Repräsentation der eigenen Wünsche und des eigenen Vermögens unerlässlich ist für die Zielantizipation und das Abschätzen von Handlungsschritten, ist sinnfällig, dass sprachlich strukturiertes Vorgehen notwendigerweise unter wechselseitigem In-Beziehung-Setzen der „äußeren“ Handlungsumstände mit der selbstreflexiven Vergegenwärtigung der eigenen Absichten, Kompetenzen und Chancen vonstatten geht. Gemäß Wygotskis Beobachtungen zur egozentrischen Sprache dürften Kinder nicht nur Bedeutungen ihrer Umwelt, sondern auch den Begriff ihrer Selbst peu a peu im Abgleich mit praktischen Erfahrungen und sozialen Anweisungen erarbeiten, die ihnen in diesem Alter noch in eng geführten Aufgabenstellungen, Ge- und Verboten zuteil werden. Da sich mit Erlernen der Sprache der Radius sozialer Kontakte vergrößert und Kinder – sofern nicht längst durch ältere Geschwister, Bilderbücher, audiovisuelle Medien etc. geschehen – spätestens beim Eintreten in öffentliche Erziehungseinrichtungen aus purer Verständigungsnotwendigkeit veranlasst sind, ihr Sprachverständnis konventionsangemessen zu erweitern, reichern sie ihren im häuslichen Umfeld erarbeiteten idiosynkratischen Geschlechtsbegriff immer mehr um konventionelle Bedeutungsaspekte an. Man kann also davon ausgehen, dass Kinder auch ihr Selbstbewusstsein immer selbstständiger anhand konventioneller Wortbedeutungen ausloten, was wahrscheinlich mit dem Auftreten der egozentrischen Sprache beginnt und im Alter von fünf bis sechs Jahren mit Festigung der Fähigkeit, sich an eigenen sprachlichen Anweisungen zu orientieren (Lurija/Judowitsch 1977), ebenfalls stabilisiert. Denn wenn Kinder die „Syntax des Sprechens früher als die Syntax des Denkens“ erlernen (Wygotski 2002, 160) und konventionelle Wortbedeutungen in kulturelle Begriffe einführen, führen Worte auch in soziale Kategorien ein, die komplexe Informationen zur kulturüblichen Verhältnisbestimmung von Kompetenzen, Tätigkeitsarten und Habiti auf der einen und sozialen Kategorien wie Geschlecht oder Ethnie auf der anderen Seite systematisieren. Hieraus wiederum leitet sich ab, dass sich spätestens mit der Entwicklung der inneren Sprache die Repräsentation des Selbstbildes im intrapsychischen Geschlechtsbegriff bricht und dieser zur Handlungsorientierung herangezogen wird. Das aber heißt, neben oder besser: in Wechselwirkung mit begriffsgeleiteter sozialer Interaktion tritt das eigene sprachliche Denken im Sinne der intrapsychischen Begriffsanwendung, mit der Personen kulturelle geschlechtliche Schemata orientierungswirksam nutzen. Und ähn178

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lich wie sich interpersonale Interaktion vielleicht nicht immer, aber oft mit geschlechtlich spezifizierten sozialen und sachlichen Verrichtungen, Aufforderungen und Darreichungen verbindet, kann man bezüglich intrapsychisch angewandter Geschlechtskategorien davon ausgehen, dass auch sie Mittel sind, affektive Intentionen kulturell zu regulieren und die sozialen wie sachbezogenen Aufmerksamkeiten und Wahrnehmungsperspektiven selektiv auszurichten. Bei hinreichender Passung von inter- und intrapsychischem Begriffsgebrauch wird eine sich wechselseitig bestätigende kumulative Dynamik vorstellbar, deren alltagstaugliche Evidenz durch einschlägige Gegenstandssymboliken und institutionelle Strukturen zusätzlich validiert wird. Die Folgerung, dass daraus im Selbstbild niedergelegte geschlechtsdifferente Erfahrungen und zu Interessen verdichtete emotionale Gerichtetheiten erwachsen, bedarf keiner großen Fantasie. Mögen vielleicht heute geschlechtliche Orientierungen nicht mehr in jeder Alltagssituation relevant sein, weil habituelle Gepflogenheiten mit der Öffnung des Bildungssystems, der Liberalisierung von Sexualmoral etc. geringere Disparitäten aufweisen als noch vor fünfzig Jahren. Weichenstellende biographische Entscheidungen wie die Berufs- oder Studienwahl jedoch dürften sich mindestens partiell aus solcherart selektiv strukturierten biographischen Erfahrungen erklären. Zudem ist anzunehmen, dass sich bei komplexen Prozesse wie der Berufsorientierung – wo es ja um bewusste Reflexion und Planung der eigenen Identitätsentwicklung geht – die Deutungen der eigenen Biographie und ihrer Passung zu beruflichen Strukturen in geschlechtlichen Kategorien bricht: Weil Berufswahl allenfalls punktuell durch praktische Exploration zu bewältigen ist und gedankliche Abwägungen erfordert, bei welchen das begriffliche Erfassen der eigenen Fähigkeiten, Intentionen und Chancen ins Verhältnis zu setzen ist zu den ebenfalls sprachlich zu reflektierenden Handlungsbedingungen, liegt außerdem nahe, dass zur Selbsteinordnung herangezogene Genderbegriffe mit einschlägigen Symboliken der Berufswelt und genderförmigen Arbeitsbegriffen korrespondieren. Vergegenwärtigt man sich den psychologischen Stellenwert, der dem kategorialen Begriffsgefüge für gedankliche Prozesse der Klassifikation, Exklusion und Wertung zukommt, lässt sich auch der Einfluss ermessen, den unreflektierte geschlechtliche und andere soziale Kategorien gerade unter individualisierten Entscheidungsbedingungen bei solchen Orientierungsleistungen gewinnen. Indessen begreife ich das hier entwickelte Modell inter- und intrasubjektiven Genderings nicht als unhintergehbare Dynamik. Zum einen geht der idiosynkratische Begriff, die persönliche Sinndimension der Begriffe, nicht gänzlich in der kulturellen Bedeutung auf. Zum anderen 179

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

transferiert die Kultursprache nicht nur traditionelle Bedeutungslogiken, sondern ist auch ein Mittel ihrer Reflexion. Die Auffassung von sprachlicher Bedeutungsentwicklung im Zusammenwirken von Praxis und Kommunikation impliziert, dass sprachliche Bedeutungen durch zweckgerichteten subjektiven Gebrauch einer stetigen Modifikation unterliegen. Im Zusammenspiel mit persönlichen sozial- und arbeitspraktischen Erfahrungen sind Begriffe einer ständigen Prüfung unterzogen, werden modifiziert, angereichert oder bestätigt (Wygotski 2002; Bruner 1971a). Diskrepanzen zwischen konventionellen Begriffsinhalten, praktischen Handlungserfahrungen und persönlichem Sinn bergen immer auch die Chance der Weiterentwicklung sprachlicher Bedeutungen. Gleiches gilt für in sich widersprüchliche Begriffsinhalte. Allerdings sehe ich die Chance der subjektiven Weiterentwicklung von Begriffen sehr viel eher auf dem Niveau des verballogischen Denkens gegeben als auf dem Niveau der Komplexbildung, die Widersprüche eher integriert. Abstrakt-logisches Denken versetzt in die Lage, sowohl kategorial hervorgehobene Merkmale als auch die historische Bedingtheit der Begriffe selbst zu reflektieren. Hingegen arbeitet das komplexe Denken auf der Ebene des erfahrungs- und wortinduzierten Zuschreibens von Merkmalen und ist deshalb traditionellen Bedeutungen stärker verhaftet. Das schließt zwar nicht aus, dass auch Alltagsbegriffe auf Grund von Diskrepanzen zwischen Wortbedeutung und Erfahrung weiterentwickelt werden. Doch führt die Logik des komplexen Denkens eher zur Einreihung neu erfahrener Besonderheiten in alte Begriffsschemata als zu deren Überarbeitung. Demgegenüber birgt abstrakt-logisches Denken die Möglichkeit, den gesamten begrifflichen Systemaufbau zu überarbeiten und neue Merkmalsverbindungen zu synthetisieren. Obgleich der individuelle Begriff immer auch durch persönliche Erfahrung, Praxis, Bildungsteilhabe und Reflexion geprägt ist (Wygotski 2002; Lurija 1982), erfordert es erhebliche Aufmerksamkeit und gedankliche Anstrengung, die konventionelle Aussagelogik und intersubjektiv hergestellte Evidenz gebräuchlicher Bedeutungen zu hinterfragen und zu modifizieren. Da die Fähigkeit zur Sprachreflexion am Ende eines langen Entwicklungsweges steht und mit dem schulischen Bildungsniveau korrespondiert, tritt die Wichtigkeit von Sprachreflexion als Bestandteil geschlechtsreflexiver und emanzipatorischer Pädagogik deutlich hervor.

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12 Z U S AM M E N S C H AU D E R S P R AC H T H E O R E T I S C H E N A U S S AG E N U N D G E N D E R T H E O R E T I S C H E N AB L E I T U N G E N

Für die nun folgende Rekonstruktion der sozialhistorischen Entwicklung geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe fasse ich einige psycholinguistische Kernaussagen in vier Themenblöcken zusammen, denen ich meine (mit Pfeil gekennzeichneten) gendertheoretischen Ableitungen anschließe: 1. Handlungspraktisch-soziale Bedeutungsgenese und primäre Vergegenständlichung Die kulturhistorische Theorie Wygotski’scher Prägung geht von der historischen Entwickeltheit des sprachlichen Symbolsystems aus. Aus der Konvergenz zweier ursprünglich getrennter naturgeschichtlicher Entwicklungslinien – dem gesichtsfeldabhängigen Handlungsdenken und der sozialen Lautäußerung – ist dieser Theorie zufolge ein kulturelles Signifikationssystem als Mittel des Sprechens und Denkens erwachsen, das kognitive, soziale, motivationale und emotionale Erfahrungswerte der Mensch-Natur-Auseinandersetzung repräsentiert. Ähnlich der kindlichen Sprachentwicklung wird zur historischen Sprachgenese hypostasiert, dass sie im sympraktischen Zusammenspiel von Handlungspraxis und sozialem Austausch herausgebildet und in langen Entwicklungszeiträumen zu einem synsemantischen Zeichensystem verdichtet wurde. Demzufolge geht sprachliche Semantik und Syntax auf die Logik kommunizierter praktischer Handlungen zurück und entwickelt sich reziprok zur arbeitspraktischen, wissenschaftlichen und sozialen Auseinandersetzung. Die These der sympraktischen Sprachentstehung korrespondiert 181

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

mit der Annahme einer ursprünglich zwischenmenschlich organisierten Psyche, die erst im Verlauf der Sprachentwicklung einen Individuationsprozess durch die sprachliche Hereinnahme sozialer Prozesse in das individuelle Denken durchläuft. → Der Annahme sympraktischer Sprachentstehung bei intersubjektiv strukturierter psychischer Orientierung folgend, habe ich zu Fragen der sozialen, respektive geschlechtlichen Bedeutungsbildung hergeleitet, dass anschauliche Arbeitsobjekte und Tätigkeitsarten historisch die ersten Gegenstände sprachlicher Thematisierung gewesen sein dürften, da das Bennennen intersubjektiv gerichteter Tätigkeitsmomente ein vergleichsweise höher entwickeltes sprachliches Reflexionsvermögen voraussetzt. Das beinhaltet, dass sich sowohl die Signifizierung der sozialen Antriebsmomente kooperativer Tätigkeit als auch das sprachliche Erfassen sozialer Identitäten genetisch durch den Begriff einsehbarer Tätigkeiten und ihrer anschaulichen Ergebnisse hindurch entwickelt hat. Mit Blick auf die raum-zeitliche Ausweitung marktförmiger Kooperationsbezüge wurde daraus der diskursive Vorrang vergegenständlichender Produktion vor der vergleichsweise flüchtigen und beziehungspointierten Familienarbeit erklärt. 2. Verallgemeinerung, Machtverhältnisse und Begriffsperspektiven Wygotski definiert sprachliche Bedeutung als historisch generierte Wirklichkeitsinterpretation, deren verallgemeinerter Sinngehalt sich im Zusammenspiel von bedürfnisgeleiteter praktischer Umweltauseinandersetzung, sozialem Verkehr, Sprechen und Denken entwickelt. Sprachliche Bedeutungsbildung ist demnach ein fortlaufender soziohistorischer Prozess, der praktisch-kommunikativ erschlossene kognitive, affektivvolitionale und soziostrukturelle Sinnaspekte integriert. Verallgemeinerung als Bedingung von situationsübergreifender Verständigung und gedanklicher Zuordnung konzeptualisiert Wygotski als tätigkeitspraktisch erschlossene und sozial ausgehandelte Klassifikationsleistung sprachlich repräsentierter Objekte und Verhältnisse. Je nach Entwickeltheit der Begriffsbildung stellt sich Verallgemeinerung als anschauliche Verknüpfung empirisch Sinnzusammenhänge oder als hierarchische Äquivalenzbildung entlang abstrakter synthetischer Merkmalsbildungen dar. Da Verallgemeinerung stets mit der gedanklichen Herauslösung diskursiv betonter Erfahrungswerte, respektive abstrahierter und synthetisierter Merkmale, aus konkreten Gegebenheiten einhergeht, spiegelt die Sprache die Wirklichkeit anders als die unmittelbare Empfindung. → Ich habe daran angeschlossen, dass bei der gesellschaftlichen Aushandlung allgemeiner Bedeutungen zwangsläufig auch Machtver-

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SPRACHE ALS MITTEL DER KOMMUNIKATION UND DES DENKENS

hältnisse wirksam werden, die sich auf zwei Ebenen manifestieren: Auf der gesellschaftspraktischen Ebene beeinflussen sie Leben und Arbeiten und damit die praktische Bedeutungserschließung. Auf der Ebene diskursiver Bedeutungsaushandlung sind politische Definitionsmacht und institutionelle Diskursteilhabe mitentscheidend dafür, welche Sinnaspekte aus wessen Perspektive in die hegemoniale Begriffsbildung eingehen. In Anbetracht der historisch unterschiedlichen Teilhabe von Männern und Frauen an öffentlichen Diskursen und neuzeitlichen Institutionen der Berufs- und Wissensentwicklung wurde die (vorläufige) These hergeleitet, dass männlich und weiblich tradierte Arbeitsbegriffe auf unterschiedlichen Aushandlungsdynamiken beruhen und auch unterschiedliche Perspektiven repräsentieren. So wurde die Annahme formuliert, dass der weiblich konnotierte soziale Arbeitsbegriff eher die äußerliche Perspektive eines akademischen Diskurses über Frauenarbeit vorlegt, während der institutionell systematisierte technische Begriff stärker die Innenperspektive der Arbeitenden repräsentiert. 3. Begriffsentwicklung und logisches Denken Wygotskis Untersuchungen der ontogenetischen Begriffsentwicklung zufolge baut verballogisches Denken auf dem alltagspraktisch verankerten komplexen Sprechen und Denken auf. Gestützt auf anthropologische Befunde nimmt er Gleiches auch für die historische Sprachentwicklung an, was interkulturelle Vergleichsstudien von Lurija (1982), Greenfield/Reich/Olver (1971) und anderen erhärten. Komplexe und verballogische Begriffe unterscheiden sich durch ihre Verallgemeinerungsrelationen und evozieren unterschiedliche Denkoperationen. Im Unterschied zu der gleichwertig reihenden Verallgemeinerungsart des genetisch früheren Komplexes, der anschauliche Sinnverbindungen hervorruft, eignet dem verballogischen Begriff eine abstrakt-hierarchisch aufgebaute Verallgemeinerungsstruktur, die paradigmatisch durch ganze Systeme hierarchisch gegliederterer Kategorien führt. Während das erfahrungsverhaftete komplexe Denken dazu neigt, Widersprüche zu vereinbaren, ermöglicht das Denken mit verballogischen Begriffen, überempirische logische Sinnverbindungen herzustellen. Aufgrund historisch verdichteter transitiver Merkmalsverbindungen prädisponiert der verballogische Begriff kategoriale Denkbewegungen, die für die logische Klassifikation und Schlussfolgerung notwendig sind. Gleichwohl Begriffsbildung der Entwicklung unterliegt, benutzen Kinder (aufgrund der Kommunikation mit Erwachsenen) lange bevor sie selbst zur Bildung verballogischer Begriffe in der Lage sind, Wortbedeutungen konventionsangemessen. Das heißt, sie arbeiten früh mit wortinduzierten kulturellen Logiken, deren Gehalt sie erst allmählich erschließen. Im Sprachgebrauch Jugendli183

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

cher und Erwachsener koexistieren komplexe und verballogische Begriffsbildungen. In Anbetracht der Dialektik von historischer Begriffsentwicklung und Verallgemeinerung der Wortbedeutung scheint das Problem, ob und hinsichtlich welcher Themen Menschen mit komplexen oder verballogischen Begriffen operieren, also nicht nur eine Frage des persönlichen Begriffsvermögens zu sein, sondern auch von der Allgemeinheitsrelation gebräuchlicher Termini abzuhängen. → Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Ausgrenzung von Frauen aus beruflichen und wissenschaftlichen Institutionen wurde die Frage aufgeworfen, ob sich der Allgemeinheitsgrad männlich und weiblich tradierter Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe unterscheidet und welche denkpsychologischen Konsequenzen das beinhaltet. Als erster Hinweis auf unterschiedliche Verallgemeinerungslogiken wurde die Wortgeschichte gebräuchlicher technischer und sozialberuflicher Termini angeführt, die im Falle technischer Ausdrücke auf neuzeitliche und im Falle sozialberuflicher auf mittelalterliche Wurzeln zurückgeht. 4. Psychologische Dimensionen und sprachliches Gendering Für die historische Auseinandersetzung ebenfalls erhellend ist die entwicklungspsychologische Aussage, dass Spracherwerb alle Bewusstseinsfunktionen zugunsten kultureller Sinnerfassung reorganisiert und zu bedeutungsgeleiteter Wahrnehmung, logischem Gedächtnis, willkürlicher Aufmerksamkeit und gedanklich strukturierten Emotionen führt. Eine zentrale These schließlich, die sowohl in entwicklungspsychologischer Hinsicht als auch im Zusammenhang der Bedeutungsgeschichte von „männlicher Ratio“ und „weiblicher Emotion“ interessiert, ist die These der Entwicklung vom Sozialen zum Individuellen, die besagt, dass vor der psychischen Individuation des rationalen Subjektes die soziale Sprache und die zwischenmenschliche Regulierung steht. → Von diesen beiden Thesen ausgehend, habe ich ein psycholinguistisch basiertes doing-gender-Modell entworfen, das den Stellenwert des sprachlichen Kategoriensystems bei der Entwicklung geschlechtsaffiner persönlicher Erfahrungen und Interessen erhellt. Um auszudrücken, dass sprachliches Gendering kein subjektenthobener Determinismus ist, sondern sehr wohl emanzipatorischen Veränderungen zugänglich ist, war es gerade in diesem Zusammenhang wichtig, die Dialektik von historisch generierter Bedeutung und persönlichem Sinn als Triebfeder von Begriffsentwicklung und -reflexion zu thematisieren.

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III H I S TO R I S C H E VERGESCHLECHTLICHUNG VON AR BEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

In diesem Teil wende ich Wygotskis Sprachtheorie zur Erörterung soziokultureller Entwicklungsverläufe geschlechtlicher Kategorienbildung an. Ziel ist, historisch eingelagerte Bedeutungsgehalte und Verallgemeinerungslogiken moderner Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe zu rekonstruieren. Die sozial- und begriffsgeschichtliche Betrachtung setzt ein bei spätaufklärerisch-klassischen Geschlechtscharakterisierungen, die im zeitlichen Umfeld der Französischen Revolution herausgebildet wurden und prägend für die Geschlechtsauffassung in der modernen Gesellschaft geworden sind. Nach Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit und den theoriegeschichtlichen Konsequenzen der charakterlichen Geschlechtstypologien gehe ich im nächsten Kapitel auf dahinter liegende frühneuzeitliche und mittelalterliche Bedeutungsbildungen zurück. Die Frage, wie sich historische Begriffsentwicklung in heutigen Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffen niedergeschlagen hat, wird abschließend anhand der Analyse aktueller Berufsbilder diskutiert. Ich hatte eingangs die ideengeschichtliche Entwicklung des hegemonialen Arbeitsbegriffs skizziert, der naturwissenschaftliches, technisches und handwerklich-industrielles Hervorbringen unter der Bedeutung werte- und erkenntnisbildender methodischer Tätigkeit subsumiert. Bis weit ins 20. Jh. ausschließlich männlich gebraucht, vermag dieser Begriff heute zwar die unterschiedlichsten gewerblichen und naturwissenschaftlich-technischen Berufe zu integrieren. Reproduktive Tätigkeiten und personenbezogene Leistungen aber, die unter „privater Hausarbeit“ firmieren oder in reproduktionsnahen Frauenberufen zusammengefasst sind, entziehen sich dieser Verallgemeinerungslogik und sind ihr teils sogar kontradiktorisch entgegengesetzt. 187

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Wie schon dargelegt, ist seitens der historischen und arbeitssoziologischen Forschung gut belegt, dass produktive Erwerbsarbeit sozialgeschichtlich keineswegs eine Männerangelegenheit ist, sondern Frauen vom Hohen Mittelalter an stets zu einem sehr hohen Prozentsatz produktiv gearbeitet haben (Davis 1990; Wunder 1993a und b; Willms 1983a). Dieselben Quellen bezeugen, dass besonders von Ehefrauen ausgeübte produktive Erwerbsarbeit – ebenfalls historisch durchgängig – mit erzieherischer und hauswirtschaftlicher Arbeit zu vereinbaren war, die seit dem späten 18. Jh. zum Inbegriff des weiblichen Sozialcharakters wurde. Letzteres wirkt bis heute im strukturellen Aufbau und in der sprachlichen Symbolik von Frauenberufen nach. Die androzentrische Aufladung des produktiven Arbeitsbegriffs und die häusliche Stilisierung der Frau lassen sich als Ergebnis selektiver Begriffsbildungsprozesse interpretieren, die die lange Geschichte produktiver Frauenarbeit zugunsten eines häuslichen, empathisch aufgeladenen Weiblichkeitsbegriffs unterschlagen. Damit korrespondiert eine andere Form selektiver sprachlicher Generalisierung, nämlich die Vermännlichung der kulturellen Fähigkeitsmerkmale Rationalität und hervorbringende Methodik. Sprachtheoretisch gibt dieses Phänomen die Frage auf, welche Abstraktions-, Synthetisierungs- und Verallgemeinerungsleistungen im Wege welcher soziokulturellen Strukturbildungen in die geschlechtliche Kategorisierung der Arbeit eingegangen sind, die in so offensichtlichem Widerspruch zu sozialgeschichtlichen Erfahrungen steht. Zugleich stellt sich die Frage nach der kulturellen Nachhaltigkeit und psychologischen Wirkung dieser Kategorien. Obwohl die ideologischen Züge offensichtlich sind, scheint es mir in Anbetracht der Jahrhunderte überdauernden Tragfähigkeit dieser Kategorien zu einfach, sie als machtpolitische Artefakte oder semiotische Konfigurationen abzutun, die sich durch bloße Dekonstruktion auflösen ließen. Wenn Sprache historisch generierte sozial- und arbeitspraktische Bedeutungen einschließlich hegemonialer Ideologisierungen, Abstraktionen und Generalisierungen transportiert, halte ich es für erhellender, Bedeutungsbildung im historischen Kontext von sozialer Praxis, institutioneller Strukturbildung, Ideengeschichte und machtpolitischen Einflüssen zu durchdenken. Dieses Vorhaben erfordert Mut zur Lücke: Erstens weisen die historische wie die epistemische Geschichtsschreibung zur Gendergeschichte der Arbeit viele weiße Stellen auf. Gerade auch zur Entwicklung des Verhältnisses von Frauen- und Männerarbeit liegen lediglich unverbundene, bruchstückhafte Rekonstruktionen vor. Wie dieses Verhältnis sprachlich reflektiert wurde, ist nur mehr anhand ideengeschichtlicher 188

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Systematisierungen in Philosophie und Pädagogik zu rekonstruieren, die eben nur auf die hegemoniale Begriffsgeschichte und nicht auf praxisnahe alltagsgebräuchliche Bedeutungsbildungen zurückschließen lassen. Ein zweites Problem ist die Fülle des historischen Stoffes, den ich natürlich nur ausschnitthaft bearbeiten kann.

Fragestellung Das Motiv meiner Geschichtsbetrachtung bildet eine Reihe von Fragen, die sich aus einem historisch-subjekttheoretischen Sprachverständnis angesichts der selektiven Repräsentationsqualität moderner Arbeits- und Subjektkategorien stellen. Die Ausgangsfrage lautet:



Im Zusammenhang von welchen Arbeits- und Sozialpraktiken, gesellschaftlichen Strukturbildungen und politischen Verregelungen mündete die neuzeitliche Entwicklung von Arbeit und Leben in die Gegenüberstellung eines androzentrischen Subjektbegriffs und einer häuslich-empathischen Frauennatur?

Hieran schließen sich als differenziertere Fragestellungen an:



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Wieso vermochte der rationale Arbeits- und Subjektbegriff über lange historische Zeiträume unterschiedliche Identitäten wie Handwerker, Industriearbeiter, Ärzte, Lehrer, Ingenieure zu integrieren, während er produktive Frauenarbeit ausblendet und weiblich konnotierten personennahen Arbeiten sogar kontradiktorisch entgegen liegt? Welchen Begriffslogiken sind die geschlechtlichen Referenzsysteme verhaftet, an denen wir uns heute noch abarbeiten? Und schließlich: Welche Arbeits- und Subjektprofile übermitteln diese Begriffe?

Schon der Widerspruch zwischen dem Begriff und der Sozialgeschichte von Frauenarbeit gibt zu erkennen, dass sich diese Fragen nicht aus der Anschauung einer getrennten Männer- oder Frauengeschichte erklären, sondern aus der Betrachtung des Geschlechterverhältnisses als einem kulturellen Entwicklungszusammenhang. Ich beginne nun die Begriffsrekonstruktion zur Zeit der Französischen Revolution, dem Eintritt in die Moderne im ideengeschichtlichen Umfeld von Spätaufklärung und Klassik.

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13 „ G E S C H L E C H T S C H AR AK T E R E “ – E I N SOZIOPSYCHISCHES SCHEMA DER MODERNE

Die standesübergreifende Generalisierung geschlechtsqualifizierender Arbeits- und Persönlichkeitsmerkmale, die uns noch heute als klischeehafte, sprachlich und institutionell verankerte Komplementarität von hervorbringender Rationalität und versorgender Empathie gegenübertritt, wird in der historischen Genderforschung überwiegend auf die kulturellen Umbrüche des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jhs. zurückgeführt, die Zeit der beginnenden politischen Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und des Übergangs von der geburtsständischen zur individualisierteren bürgerlich-berufsständischen Ordnung (Mayer 1999). Ich gebe zunächst den diesbezüglichen Forschungsstand wieder, um anschließend weiterführende Fragen zur Genese moderner Geschlechtskategorien zu erörtern: Nach übereinstimmender Literaturlage (u.a. Hausen 1976; Hoffmann 1983; Rang 1986; Frevert 1995; Honegger 1991; Schmid 1996; von Felden 1999) erfolgte in Zusammenhang mit den staats- und kulturpolitischen Umstrukturierungen im Umfeld der Französischen Revolution eine semantische Neugruppierung der Geschlechtsbegriffe, die ältere patriarchalisch standesspezifische Geschlechtsdefinitionen durch eine sozial verallgemeinernde charakterliche Geschlechtstypologie ablöste. Hatten in den lexikalischen, anthropologischen und pädagogischen Publikationen des frühen 18. Jhs. bei der Beschreibung geschlechtlicher Normen noch sittliche und soziale Begründungen dominiert (Frevert 1995; Honegger 1991) und hatte es hier, insbesondere hinsichtlich handwerklicher und bäuerlicher Sozialmilieus, noch keine scharfen Abgrenzungen zwischen Erwerbs- und Hausarbeit (Frevert 1995) gegeben, so gingen

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

im bildungsbürgerlichen Diskurs des ausgehenden 18. Jhs. soziale Unterscheidungskriterien immer mehr zugunsten naturalisierender Geschlechtscharakteristiken (Hausen 1976; Frevert 1995; Hoffmann 1983; Honegger 1991) zurück. In humanwissenschaftlichen, staatsphilosophischen, literarischen und lexikalischen Publikationen wurden universell verstandene Geschlechtstypologien dominant, die in Parallelisierung von Körper und Psyche funktionsteilige geschlechtliche Zuständigkeiten als gegensätzlich-komplementäre Charaktereigenschaften von Mann und Frau essentialisierten. Unter Bezugnahme auf die „Natur“ schrieb man in Analogie zu komplementär gezeichneten erotischen Merkmalen dem männlichen Charakter Aspekte der Erwerbsarbeit, dem weiblichen überwiegend Aspekte der Generativität, Erziehung und Hausarbeit zu und ordnete sie semantisch um die Begriffspaare außen vs. innen, Stärke vs. Schwäche, Aktivität vs. Passivität, Ratio vs. Emotion (Hausen 1976; Rang 1986; Honegger 1991; Hoffmann 1983; Frevert 1995). Den Schwerpunkt der Auseinandersetzung bildete die Erforschung, Erziehung und soziale Verortung „der Frau“, deren psychosoziale Qualitäten immer ausschließlicher von den Gebärorganen hergeleitet wurden (ebd). Im 19. Jh. verstärkte sich diese Physiologisierung (Honegger 1991; Hoffmann 1983). Obwohl Mitte des 20. Jhs. naturalisierende Geschlechtstypiken wieder zugunsten sozialer Begründungen zurückgingen (Frevert 1995), blieben, wie noch zu zeigen ist, normative Essentialisierungen in identitätszuweisenden Persönlichkeits- und Berufsbegriffen erhalten. Initiiert und sozial getragen war der Diskurs über die „Geschlechtscharaktere“ von männlichen Bildungsbürgern (Hausen 1989; Frevert 1995; Honegger 1991), die als Literaten, Mediziner, Juristen, Pädagogen und Philosophen erheblichen Einfluss auf die kulturelle Meinungsbildung nahmen, oder auch, wie Kant, Fichte oder Wilhelm von Humboldt, bei der juristischen und bildungspolitischen Gestaltung des preußischen Nationalstaates mitwirkten. Soziostrukturell korrespondierte der Diskurs mit der Individualisierung des männlichen Berufsschemas und einer verstärkten Trennung der Berufs- und Familiensphäre des zur politischen Verantwortung strebenden Bürgertums (Mayer 1999). In diesem Kontext ist das Programm der „Geschlechtscharaktere“ weniger als Reflexion der empirischen Lebensverhältnisse und Arbeitsvermögen zu verstehen, denn als virulent erörtertes Erziehungsprojekt im Rahmen sozialer Neuorientierung und politischer Utopiebildung. So bestätigen Rekonstruktionen zur Lebensweise der teils hoch gebildeten bildungsbürgerlichen und adeligen Frauen (vgl. dazu Damm 1992; Honegger 1991), dass die idealtypische Trennung von Ratio und Emotion selbst hinsichtlich dieser Schichten weniger der Empirie denn der politischen Willensbil192

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

dung geschuldet war. Die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Ende des 18. Jhs. in Deutschland noch überwiegend in Landwirtschaft und Hausindustrie tätigen handarbeitenden Stände, bei denen Haushalt und Broterwerb noch ineinandergriffen und Frauenerwerbsarbeit nicht nur unerlässlich für das Familieneinkommen war, sondern oft den Hauptteil ausmachte (Kuczynski 1981), blieben außerhalb der Reflexion. Die qualitativ neue bio-psychische Charakterzuschreibung, die nicht nur geschlechtliche, sondern auch ethnische, nationale und berufliche Identitätskategorien betraf (Böhme 1985; vgl. z.B. Wilhelm von Humboldt 1792/1960), war Bestandteil einer tief greifenden Neureflexion von Mensch, Staat und Gesellschaft und stand im Zeichen eines epistemischen Wandels, der im Zusammenhang des Aufstiegs des individuellen Arbeits- und Rechtssubjektes zur werteschöpfenden Grundeinheit liberaler Gesellschaftsvertragsentwürfe zu sehen ist. Beispielhaft sind Rousseaus Contrat social von 1762 und sein im selben Jahr erschienener Erziehungsroman Emile. Beide Schriften waren eng an die staatsphilosophischen und pädagogischen Konzepte des englischen Empiristen und Autors der ersten Arbeitswerttheorie John Locke angelehnt und verhalfen der deistisch-antimetaphysischen1 Orientierung des englischen Empirismus zum Durchbruch in Mitteleuropa (Klaus/Buhr 1975; Hirschberger 1980 Bd. 2; Honegger 1991). Kennzeichnend für den epistemischen Wandel war die in Naturphilosophie, Anthropologie und Pädagogik vollzogene Neuformulierung des Naturbegriffes als einem entwicklungstheoretischen Pendant zur technisch-mechanischen Herstellung (Honegger 1991; Köchy 2002), die sich unter anderem in Rousseaus „Entdeckung der Kindheit“ als eines phasenförmigen Entwicklungsprozesses (Knoob/Schwaab 1994) ausdrückte. Von zentraler erkenntnisleitender Bedeutung war dabei die Rehabilitierung des Körpers als vollständigem Organismus, die dem Interesse verpflichtet war, den cartesianischen Körper-Geist-Dualismus zu bewältigen (Honegger 1991). Der menschliche Körper galt nicht mehr, wie bei Descartes, als Maschine, sondern erlangte unter der naturgeschichtlich entfalteten „Metapher der Organisation“ eine sinnkonstituierende Bedeutung (Figlio, zit. nach Honegger ebd. 110; vgl. auch Köchy 2002).

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Deismus gilt als antidogmatische religionsphilosophische Strömung, die die Idee einer vernunftgemäßen, allen positiven Religionen inneliegenden Naturreligion vertrat und auf die Parallelität von Vernunft und Natur abhob. Hauptvertreter und Vorreiter waren in England Locke und Humes, in Frankreich v.a. Rousseau und Voltaire sowie in Deutschland Lessing (Klaus/Buhr 1975). 193

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Mit dem Bedeutungszuwachs des Empirismus wurden cartesianisch geprägte frühaufklärerische Naturrechtsauffassungen, die noch den Gedanken des geschlechtsneutralen Geistes zugelassen hatten,2 zugunsten physiologisierender Geschlechtsdeutungen verdrängt (Honegger 1991; Glantschning 1993). Zu den nachhaltigsten Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels gehört die charakterliche Essentialisierung somatischer Unterschiede, die nunmehr wissenschaftlich „bewiesen“ und ideengeschichtlich wie bildungspolitisch verstetigt wurden (Honegger 1991; Hoffmann 1983; Mayer 1999). Der anstelle der rationalistischen Vernunftauffassung in den Vordergrund gerückte naturalistische Vernunftsbegriff führte geschlechtliche Differenzierungen auf die „Gesetze der Natur“ (Rousseau 1762/1983) zurück und wurde zu einem Grundmuster der philosophischen und pädagogischen Argumentation. Wie Claudia Honegger (1991, 186 f.) ausführlich dokumentiert, war Fichtes viel zitierte Forderung nach der ehelichen Unterwerfung der Frau „durch ihren eignen fortdauernden nothwendigen und ihre Moralität bedingenden Wunsch, unterworfen zu sein [...]. Freiheit [...] kann [sie] vernünftigerweise nicht wollen“ ein geradezu zeittypischer Appell an die Vernunft der Frauen, sich „naturgemäß“ zu verhalten (Fichte 1796, zit. nach Hausen 1976, 373)

1 3 . 1 R o l l e d e r An t h r o p o l o g i e Bedeutenden Anteil an dieser Entwicklung hatte die seit Mitte des 18. Jhs. parallel zur bürgerlichen Pädagogik aufstrebende Anthropologie, die den Menschen als vollständige bio-psychische Entität empirisch zu erfassen suchte (Honegger 1991). Mit der Aufwertung der Sinneswahrnehmung, der Entdeckung des Nervensystems und der Ausarbeitung induktiv vergleichender Methoden erfolgte die Wiederbelebung des antiken Prinzips der Analogie (ebd.). Der Aufstieg des Körpers zum wissenschaftlich bedeutsamen Prinzip der „Organisation“ hatte zur Folge, dass die vergleichende Anatomie Basiswissenschaft der Anthropologie wurde und die Medizin eine zentrale Stellung innerhalb der Humanwissen2

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Geschlechtsegalitäre frühaufklärerische Positionen hatten u.a. die Juristen Wolff (1615) und Eberartus (1617) vertreten. Große Beachtung scheinen auch die philosophischen Abhandlungen von Charlotte de Brachart (1604) und Anna Maria van Schurmann (1641) zur geistigen Gleichheit der Geschlechter sowie ähnlich lautende medizinische Schriften von Scaliger (1592) und de Graaf (1682) gefunden zu haben. Als besonders fortschrittlicher Naturrechtstheoretiker gilt Christian Thomasius (1655-1728), der die Dominanz der Männer auf bessere Bildung zurückführte (Rang 1987; Glantschnig 1993).

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schaften erhielt (ebd.). Zugleich veränderte das naturwissenschaftliche Paradigma der „kohärente[n] Gesamtheit einer Organisation“ die Art wissenschaftlichen Klassifizierens (Foucault, zit. nach Honegger 1991, 110). Das an der Körperoberfläche Sichtbare wurde nicht mehr für sich interpretiert, sondern als Zeichen einer tiefer liegenden Ursache gewertet. Die paradigmatische Prämisse, „der anatomische Bau entscheidet über die Funktion“ (Albrecht Haller, zit. nach Honegger 1991, 110), wurde maßgebend für die Kategorisierung der Anderen und die „Verwissenschaftlichung der Differenz“ (Honegger 1991, 113). Parallel zur Entwicklung der Psychiatrie, die Wahnsinn jetzt als organische Erkrankung definierte, erfolgte im Nachgang der Schematisierung außereuropäischer Völker die naturwissenschaftliche Erforschung der Frau (ebd.). Ausgehend von der französischen Debatte über die „Natur der Frau“ der 1770er Jahre entstand die weibliche Sonderanthropologie als eigener Forschungszweig, der nach 1850 von der Gynäkologie, der „psychophysiologisch belehrenden Wissenschaft vom Weibe“ (Honegger 1991, 188), abgelöst wurde. Hinsichtlich der Herstellung der charakterlichen Geschlechtssemantik ist besonders die Art und Weise anthropologischer Gegenstandsfokussierung und -auslegung von Interesse. Denn die mit der romantischen Poetisierung von Gefühl und Intuition einhergehende empiristische Besinnung auf die „Natur“ widersprach keineswegs der Huldigung mathematischer Quantität. Vielmehr expliziert Kristian Köchy (2002) anhand der Naturphilosophie Alexanders von Humboldt, dass sich dessen Deutung der Natur als Gesamtorganismus aus ästhetisch geordneter Quantifizierung ableitete, bei der Polarität ein wichtiges Ordnungsmuster war. Mit der anthropologischen Erweiterung des naturphilosophischen Organismuskonzeptes gewann unter anderem das geographisch-physikalische Prinzip „Polarität“ den Stellenwert einer humanwissenschaftlichen Metapher, das in der Geschlechtertypologie des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jhs. bevorzugt bedient wurde (Hausen 1976; Honegger 1991; Hofmann 1983) und noch von der heutigen Forschung (dto.) als Analysekategorie herangezogen wird. Indem sich die neue induktive Methodik unter dem Paradigma der „Organisation“ auf die Untersuchung des Körpers richtete, das Erfassen sozialer Phänomene aber der noch unsystematischeren Menschenbeobachtung (Böhme 1985) unterlag (die Soziologie war noch nicht erfunden), gewann die biopsychische Analogiebildung des ärztlichen Augenscheins hohe wissenschaftliche Autorität (Honegger 1991). Damit kam neben mathematischer Quantität ein weiteres Auslegungsinstrument der Geschlechterdifferenz ins Spiel: die Sprache, die als Mittel der Merkmalsaussonderung und -synthetisierung für Analogiebildung unerlässlich ist. 195

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Honeggers (1991) Dokumentation von schriftlichen Verlautbarungen aus Anthropologie, weiblicher Sonderanthropologie und darauf rekurrierender klassischer deutscher Philosophie offenbart einen geradezu überbordenden sprachlichen Analogismus, der die verworfene nomologische Deduktion des Rationalismus abgelöst hatte. Von sozialer Empirie weitgehend ungetrübt, wurden aus dem „zierlicheren“, „reizbareren“, „ästhetischeren“ weiblichen Körper, seiner „Schwäche“, „Empfindsamkeit“, „Empfänglichkeit“, „Kindlichkeit“ etc. (vgl. Honegger ebd.) psycho-soziale Merkmale deduziert, die den Rückschluss von „passiv“ gedeuteten weiblichen Sexualorganen auf die mütterlich-ehefrauliche „Naturbestimmtheit“ der Frau komplettierten. Die ältere Perspektive des Augenscheins, die noch zu Beginn des 18. Jhs. gebräuchliche Deutung produktiver weiblicher Generativität (vgl. Schriftdokumente bei Frevert 1995 und Wunder 1993a), wurde dabei verdrängt. „Der männliche Testikel ist das tätige Gehirn, der Kitzler ist das untätige Gefühl überhaupt“ (Hegel 1830, zit. nach Honnegger 1991, 168) ist eines von vielen Beispielen charakterlicher Physiologisierung, die sich Mitte des 19. Jhs. noch zuspitzen sollte.

13.2 Die Pädagogik und ihre pragmatischen Folgen Das praktische Pendant der anthropologischen Reflexion bildete die mit der Gesellschaftsvertragsdebatte aufstrebende bürgerliche Pädagogik, deren außerordentlich hohe Bewertung als gesellschaftliches Gestaltungsinstrument dem 18. Jh. den Ruf der Kindheitsentdeckung eingetragen hat. Doch ist es mit Blick auf ähnlich virulente Debatten des 16. Jhs. (Niestroj 1985; Blättner 1961) angemessener, die Zeit um die Französische Revolution als die der bürgerlichen Entdeckung von Kindheit und Erziehung zu verstehen. In der Erziehungseuphorie des 18. Jhs. verschränkte sich die Vision der kulturangemessenen Erziehung des individualisierten Staatsbürgers mit dem staatlichen Interesse an nationaler Bevölkerungsmehrung und der Sorge um die Bewältigung sozialer Verelendung, was sich in einem gesteigerten Interesse an Schwangerschaft, Geburt und Kindespflege ausdrückte und in Preußen zum gesetzlichen Schutz unverheirateter Mütter führte (Toppe 1996; Schmid 1989). Zentraler Bestandteil der Debatte war ein weitestgehend unter Männern geführter (Hausen 1989; Toppe 1986; Schmid 1996) Mütterlichkeitsdiskurs, der zwar nicht ohne historische Vorbilder (Niestroj 1985) war, jedoch im Umfeld der Französischen Revolution neue mentale, staats- und bevölkerungspolitische 196

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Dimensionen erreichte: Seit den 1960er und 70er Jahren des 18. Jhs. mehrten sich die ärztlichen Ratschläge über das Selbststillen, diätische Verhaltensvorschriften sowie Säuglingspflege- und Erziehungsempfehlungen für Schwangere und junge Mütter. Zum Ende des Jahrhunderts steigerten sich diese Empfehlungen zur kampagnenartigen Flut medizinischer, pädagogischer und literarischer Schriften sowie populärwissenschaftlicher Ratgeber (Toppe 1996; Hausen 1989). Die Leidenschaftlichkeit, mit der männliche Bildungsbürger während der Wende des 18. zum 19. Jh. über Kindererziehung und Mütterlichkeit debattierten, spiegelt sich in der pädagogischen Literatur jener Zeit, etwa bei Rousseau, Humboldt, Campe, Schleiermacher oder Pestalozzi. Die zuerst an bürgerliche und adelige Frauen gerichtete Mütterlichkeitspropaganda war insofern nicht neu, als bereits die theologisch tradierte Hausväterliteratur Empfehlungen an die „Mütter der gesitteten und gebildeten Stände“ verbreitet hatte (Toppe 1996, 346). Doch markierte die Debatte des ausgehenden 18. Jhs. aufgrund ihrer wissenschaftlichen Autorität, ihrer starken publizistischen Verbreitung und staatspolitischen Bedeutung eine neue Qualität politischer Regulierung. Eindrucksvolle Einblicke in die bis zu detailliertesten Verhaltens-, Hygieneund Stillvorschriften reichenden Maßregelungen der Mütter vermitteln Sabine Toppes Arbeiten (1995;1996) über die „medizynische Polizey“.3 Die Initiative dieses Diskurses wird Rousseau zugeschrieben (Hausen 1976; Hoffmann 1983; Schmidt 1996; Toppe 1996), der in seinem 1762 erschienenen pädagogischen Roman Emile oder Über die Erziehung eine Erziehungsanleitung zu seinem im selben Jahr veröffentlichten Contrat social formuliert hatte. In Überwindung der Aufklärung und romantisierender Besinnung auf die Natur hatte Rousseau in Emile ein geschlechtskomplementäres Erziehungsmodell entworfen. Die an die „liebe und weise Mutter“ (Rousseau 1762/1983, 9) gerichtete Erziehungsschrift hebt auf kulturelle Ertüchtigung des zukünftigen Staatsbür3

Die „medizynische Polizey“ war ein Verwaltungsinstrument des absolutistischen Staates, das seit dem 16. Jh. zur sittlichen und gesundheitlichen Überwachung der Untertanen diente. Im 18. Jh. bestand sie aus einem Konsortium von Medizinern, hoheitlichen Leibärzten und Verwaltungsbeamten, die obrigkeitsstaatliche Programme zur Erziehung und Kontrolle der Mütter entwickelten. Hinsichtlich bürgerlicher Frauen zielten diese Programme auf Einschärfungen mütterlicher Pflichten, Empfehlungen zur Ehegattenwahl, Schwangerschaft, Stillpraxis, Säuglingspflege und Kleinkinderziehung. Ein weiterer, auf den massiven Kindsmord jener Zeit reagierender Forderungskatalog, schloss die Frauen der unteren Stände ein und empfahl den gesetzlichen Schutz von Schwangeren und unverheirateten Frauen sowie Maßnahmen zur Vorbeugung von Kindsmord und Abtreibung. Anfang des 19. Jhs. wurde dieses Regierungsinstrument durch hochauflagige Ratgeberliteratur abgelöst (Toppe 1996). 197

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

gers ab und stellt mütterliche und ehefrauliche Empathie in deren Relation: Im Zentrum dieses aus fünf Büchern bestehenden Romans steht die phasenförmige Entwicklung eines von Natur aus handwerklich und rational begabten Knaben, dessen natürliche Anlagen ein umsichtiger Erzieher subtil evoziert. Die Basis dieser Erziehung bildet die mütterliche Kleinkindversorgung, ihre Vollendung die erotische Liebe zu einer Lebensgefährtin. So erteilt Rousseau den Müttern im ersten Buch gesundheitliche Verhaltens- und Säuglingspflegeanweisungen und hebt die moralischen Vorteile des (damals unüblichen) Selbststillens hervor. Im fünften Buch entwirft er das Erziehungskonzept einer idealtypischen Ehefrau: Sophie. Sie besticht durch Bescheidenheit, Empathie, erotische Reize, Besinnung aufs Hauswirtschaftlich-Praktische und Sittlichkeit, womit sie Rousseau für geeignet hält, nicht nur die Kraft, sondern auch die Moral und Nächstenliebe des Mannes zu erwecken. „Die ganze Erziehung der Frau muß [...] auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, ihnen liebens- und achtenswert sein, sie in der Jugend erziehen und im Alter umsorgen, sie beraten, trösten und ihnen das Leben angenehm machen und versüßen: das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau, das müssen sie von ihrer Kindheit an lernen.“ (Rousseau 1762/1983, 394)

Obwohl Rousseaus offensichtlich am männlichen Bedarf orientiertes Frauenbildungskonzept die zeitgenössische Debatte nicht unwidersprochen passierte und ihm bisweilen auch Spott eintrug (vgl. dazu Honnegger 1991), wurde sein Credo „die Prinzipen und Axiome der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe abzielt, ist nicht Sache der Frauen. Ihre Studien müssen sich auf das Praktische beziehen. Ihre Sache ist es, die Prinzipien anzuwenden, die der Mann gefunden hat. Sie müssen Beobachtungen machen, die den Mann dahin führen, Prinzipien aufzustellen.“ (Rousseau 1762/1983, 420)

maßgebend für geschlechtliche Erziehungskonzepte des ausgehenden 18. und des 19. Jhs. Im staatlichen Bildungswesen (Hausen 1976; Mayer 1999) entfaltete es schließlich seine lebenspraktische Evidenz. Auch Joachim Heinrich Campe (1746-1818) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) – um zwei Klassiker der modernen Pädagogik zu nennen – legten die Kleinkinderziehung ausschließlich in die Hände der Mütter und konzipierten die frühe Mutter-Kind-Beziehung als Grundlage der väterlich konnotierten Verstandesbildung. Campe vervollkommnete seine Empfehlung mütterlicher Kleinkinderziehung (Campe 1785?/ 1985) durch einen auflagenstarken Väterlichen Rath für meine Tochter, 198

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

der die „beglückende Gattin, bildende Mutter und weise Vorsteherin des Hauses“ (Campe 1789, zit. nach Mayer 1996) in den Mittelpunkt eines weiblichen Sonderberufskonzeptes stellte. Der so konzipierte „natürliche Beruf der Frau“ wurde Leitbild der bürgerlichen Mädchenerziehung des 19. Jhs. und auch für die Beschulung der Mädchen aus klein- und unterbürgerlicher Schichten relevant (Mayer 1996). Pestalozzis Modell einer sittlichen Wohnstubenerziehung (Lienhardt und Gertrud, 1818-1820) mit dem Herzstück einer empathischen mütterlichen Erzieherin, wurde wegweisend für die moderne Heimerziehung (Thiersch/Rauschenbach 1987). Wilhelm von Humboldt (1767-1835), Begründer des neuhumanistischen Bildungsideals und zeitweiliger preußischer Kultusbeamter, sah den Bildungsauftrag des Staates ebenfalls geschlechtlich differenziert. Im Plan einer vergleichenden Anthropologie (Humboldt 1795/1960, 363/364) essentialisierte er den „Unterschied der Geschlechter, welche die Natur zu einer so unverkennbaren Eigenthümlichkeit [...] und einer so scharf entgegengesetzten Verschiedenheit bestimmt hat“, in der Weise, dass er Mann und Frau auf verschiedenen Ebenen der Reizbarkeit, Kognition und Moral ansiedelte: „Um das weibliche Geschlecht von seiner eigenthümlichen Seite zu sehen, muss man von dem moralischen Charakter ausgehen. Wie bei den Männern der Geist, so ist bei den Frauen die Gesinnung am meisten rege und thätig.“ (W. von Humboldt 1795/1960, 371)

Hatte Rousseau den Gegensatz von handwerklich-technisch basierter Vernunftentwicklung und mütterlich-ehefraulicher Empathie noch pädagogisch hergeleitet, unterschied Humboldt nun essentiell zwischen dem begrifflichen Denken des Mannes und der sinnlichen Wahrnehmung der Frau. Ähnlich wie Rousseau leitete auch Humboldt (1795/1960, 372) aus der Sinnlichkeit und „größere[n] Reizbarkeit“ der Frau erhebliche Vorteile für die männliche Erkenntnisfähigkeit ab. So kommt Humboldt (ebd. 366) zufolge zwar das weibliche Ich „der Erforschung der Wahrheit nicht so nah“, weil es einen „Mangel an derjenigen sondernden Kraft, welche das eigene Ich recht scharf von der Welt abscheidet“ aufweise, also über keinen Begriff verfüge. Trotzdem erkennt er jenem, mit der „umgebende[n] Welt [...] in Eins“ (ebd.) verschmelzenden weiblichen „Ich“ wertvolle psychologische und kognitive Funktionen zu: „Darum wirkt gerade der weibliche Geist so wohlthätig auf den männlichen. Wo der letztere durch willkührliche Einfälle und grübelndes Speculieren zweifelt, da beruhigt und befestigt ihn oft der gesunde und natürliche Blick des ers-

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

teren; wo jener hingegen, weil er seiner Meynung widersprechende Thatsachen übersieht oder gering achtet, zu früh gewiss ist, fordert ihn dieser zum Zweifel auf. Ausserdem aber sieht der Mann die unendliche Bahn [der Erkenntnis], die er langsam und Schrittweise durchmessen soll, in dem Geiste des Weibes, der schnell und durch überspringen der mittleren Schritte beide Enden zusammenknüpft, als einen kurzen Weg sinnlich dargestellt.“ (W. von Humboldt 1795/1960, 366-367, Schreibweise im Orig.)

Als Grundlage jener Wohltaten nennt Humboldt (1795/1960, 372) das den Weibern „schlechterdings eigenthümlich[e] Muttergefühl, das aber durch die „Einseitigkeit des Verstandes“ innerhalb der „intellektuelle[n] Cultur [...] vermindert“ wird und sogar „in gebildeten Frauen [...] bis auf ihre letzten kaum noch erkennbaren Spuren“ verschwindet (ebd. 373). Sucht man das Gemeinsame zwischen Rousseau und Humboldt, findet man es in der Idealisierung natürlicher mütterlicher Eigenschaften sowie in der geschlechtlichen Verteilung von Sinnlichkeit und Kognition. Dem naturnäheren Weib mit seinem unmittelbareren Realitätsbezug obliegt die sinnliche Rezeption dessen, was der männliche Geist kategorial definiert. Der bei John Locke formulierte empiristische Gegensatz zwischen passiver sinnlicher Rezeption und aktiver Verstandestätigkeit tritt hier als intersubjektives Verhältnis auf der geschlechtlichen Ebene hervor.

13.3 Motive und kulturpolitische Bedeutung Zu den Motiven der naturnah-mütterlichen Abgrenzung der Frau gegen den männlichen Kulturtyp nennt die Literatur drei Zusammenhänge: • Patriarchalische Restaurationsbestrebungen angesichts geschlechtsegalitärer Tendenzen der Menschenrechtsbewegung und der Umdeutung der Ehe in ein beidseitig kündbares Vertragsverhältnis (Hausen 1976 und 1989; Rang 1986) • Androzentrische Erziehungs- und Versorgungsansprüche der Männer (Schmidt 1996) • Bevölkerungspolitische Interessen des absolutistischen Nationalstaates (Toppe 1996) Ein dahinter liegendes Motiv erhellt Claudia Honegger (1991) mit dem Hinweis auf kulturpessimistische Tendenzen der damaligen Gesellschaftsvertragsdebatte, die sich teils aus den noch unbewältigten Folgen des Dreißigjährigen Krieges erklären (Kuczynski 1981) und sich zur Zeit der Französischen Revolution mit antizivilisatorischen Zügen der

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Feudalismuskritik überschnitten. Die unter anderem von Rousseau und Kant vorgetragene Kritik machte sich besonders an der einflussreichen Stellung und sittlichen Freizügigkeit der Frauen am französischen Hof fest, die man als Ursache kultureller Degeneration interpretierte (Honegger 1991; Elias 1997 Bd. 1). Im Zusammenhang der anthropologischen Erforschung sogenannter „Natur“-Völker, die dem Interesse galt, hinter die eigene kulturelle Vergangenheit zu blicken, um den in den Staatsvertragskonzepten proklamierten „Urzustand“ zu erforschen, wurde jene Zivilisationskritik schließlich so kanalisiert, dass die Frauen ins Zentrum des politischen Gestaltungswillens rückten. Mit der zunehmenden Reisetätigkeit europäischer Menschenkundler wurden die ersten, historisch ausgerichteten anthropologischen Forschungsansätze4 bald durch romantisierende Strömungen überlagert, die – wie Honegger mit Blick auf Rousseau (1762/ 1983) schreibt – eher literarisch projektiv denn empirisch angelegt waren. Die „mit idealistischem Pathos überhöhte und restlos ahistorische Vorstellung der Frau im Naturzustande“ (Honegger ebd. 113) wurde Dreh- und Angelpunkt einer politischen Utopiebildung, die kulturelles Unbehagen durch Naturalisierung der Frau zu bewältigen suchte. Der Begriff „Naturmensch“ mit der impliziten Annahme „naturnäherer“ und „naturfernerer“ Menschen (Honegger ebd.) entwickelte sich zur Schlüsselkategorie der weiblichen Sonderanthropologie (ebd.) und wurde wegweisend für die pädagogische Vorstellung, den männlichen Kulturtypus durch naturverbundene Weiblichkeit zu regulieren.

13.4 Sozial- und berufspolitische Folgen Die geschlechtlich versprachlichte Entgegensetzung von Natur und Kultur, Sinnlichkeit und Geist hat die Struktur der bürgerlichen Gesellschaft nachhaltig beeinflusst. Seit Beginn des 19. Jhs. wurde die psychosomatische Geschlechtscharakteristik philosophisch systematisiert. Das Schema natürlich basierter frühkindlicher Muttererziehung und väterlich instruierter kultureller Vernunft bildete das Grundmuster pädagogischer Konzepte und fand Eingang in die moderne Psychologie. Im Zuge der Transformation der geburtsständischen in eine berufsständische Gesellschaft wurde der denkende, berufstaugliche Bürger die Zielvorgabe der Knabenerziehung, während die Mädchenerziehung –

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Honegger (1991) führt zu den historischen Forschungsansätzen den Jesuitenpater Lafiteau an, der aufgrund langjähriger soziographischer Erforschung der Irokesen als Begründer der ethnographischen Soziologie gilt. 201

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

schichtspezifisch gebrochen – 5 auf mütterliche und ehefrauliche Sozialkompetenz abhob (Mayer 1999; Hausen 1989; Schmid 1996). Parallel zur Ausdifferenzierung des männlichen Berufes stieg der erstmals von Campe formulierte „weibliche Sonderberuf“ zum praktischen und theoretischen Leitbild der bürgerlichen Mädchenerziehung des 19. Jhs. auf und bildete das Maß für den zugestandenen Grad weiblicher Bildung (Mayer 1999). Im Zuge der deutschen Industrialisierung wurde das bürgerliche Frauenmodell Mitte bis Ende des 19. Jhs. zur normativen bildungspolitischen Vorgabe aller sozialer Schichten verallgemeinert (ebd.), was jedoch mit der Lebensrealität der in Landwirtschaft, Heimund Fabrikarbeit tätigen Frauen (Willms 1993b) allenfalls vordergründig korrespondierte. Anfang des 20. Jhs. erklärte der Gründer der modernen Berufschule, Georg Kerschensteiner, mütterlich-hausfrauliche Mädchenbildung zur Staatsangelegenheit und konzipierte einen Mädchenberufsschultyp, bei dem der „natürliche Beruf der Frau“ bis in die 1960er Jahre der Bildungskern aller un-, angelernten und erwerbslosen Mädchen blieb (Mayer 1996). Die Aushandlung der Zulassungsbedingungen zur gewerblichen und kaufmännischen Berufsausbildung führte zu dem Ergebnis, dass Mädchen nur für solche Berufe zugelassen wurden, die mit den mütterlichen und hausfraulichen Aufgaben vereinbar schienen (Schlüter 1987). Obwohl zu Beginn des 20. Jhs. alleine die statistisch erfasste Frauenerwerbsquote (ohne die Dunkelziffer der Heimarbeiterinnen) bei 46 Prozent lag, und der Frauenanteil in Industrie und Handwerk ca. 20 Prozent betrug (Willms 1983a),6 blieb den Frauen mit Ausnahme textiler Berufsbildungen bis Mitte des 20. Jhs. die industrielle Facharbeiterausbildung ebenso verschlossen wie die in den männlichen Handwerkszweigen. Die soziale Verallgemeinerung des bürgerlichen Familienernährerund Hausfrauenmodells erklärt sich unter anderem vor dem Hintergrund der sozialen Industrialisierungsfolgen, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. drastisch verschärft hatten. Landflucht und Verstädterung hatten traditionelle Arbeits- und Reproduktionszusammenhänge zerstört und zur sozialen Entwurzelung und Verelendung breiter Bevölkerungs5

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In der Mädchenerziehung des ausgehenden 18. Jhs. wurde unterschieden zwischen der „angemessenen“, auf den häuslichen Wirkungskreis zielenden Erziehung der Töchter höherer Stände und der „zweckmäßigen“, auf Erwerbsfähigkeit gerichteten Erziehung der Mädchen niedriger Schichten, was sich im Verlauf des 19. Jhs. mit dem Anstieg der Arbeiterreallöhne nivellierte (Mayer 1996 und 1999). Willms (1983a) bezieht sich auf Angaben der amtlichen Berufestatistik im Jahr 1907. Die Dunkelziffer der Heimarbeiterinnen und „mithelfenden“ Familienangehörigen ist nicht mitgezählt.

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kreise geführt. Zu den drängendsten und meist thematisierten Problemen dieser Zeit gehörte die hohe Säuglingssterblichkeit und massenhafte Kinderverelendung (Sachße 2003; Wobbe 1989). Im Gegenzug zur Formierung der Arbeiterbewegung hatte der preußische Staat unter Bismark eine von Wissenschaftlern, Unternehmern und privaten Wohlfahrtsorganisationen unterstützte Neuorientierung der staatlichen Sozialpolitik eingeleitet, in deren Mittelpunkt mütterliche Fürsorge als tragendes Konzept staatlicher Sozialpolitik und privater Wohlfahrtspflege stand. Damit wurde die auf mütterlich-hausfrauliche Fähigkeiten ausgerichtete Erziehung der Proletarierinnen zum Lösungsansatz der sozialen Frage (Sachße 2003; Hausen 1976; Mayer 1999). Außerhäusliche Frauenerwerbsarbeit, und hier vor allem Frauenfabrikarbeit, galt im Mainstream der bürgerlichen Meinungsbildung als geschlechtsentfremdend und als Ursache kultureller Verrohung.7 Einen nicht unerheblichen Anteil an der Verbreitung und mentalen Verankerung des mütterlichen Frauenbildes hatten die beiden ersten Frauenbewegungen, die mit unterschiedlichen Argumenten auf einen exklusiv weiblich verstandenen Erziehungs- und Versorgungsauftrag rekurrierten (Sachße 2003; Wobbe 1989): Die proletarische Frauenbewegung, die sich in den Dienst der Reproduktion der Klasse gestellt und Frauengleichstellung auf den Sozialismus verschoben hatte, bediente das normative Mütterlichkeitsschema implizit, indem sie ihre zeitnahen Forderungen unter Betonung der mütterlich-familialen Aufgaben der Proletarierinnen auf den Arbeiterinnenund Mutterschutz konzentrierte (Wobbe 1989). Den entscheidenden Beitrag zur Verberuflichung des Mütterlichkeitskonzeptes und seiner Generalisierung als weibliches Kompetenzmerkmal erbrachte die bürgerliche Frauenbewegung. Erwachsen aus der Wohlfahrtspflege hatte sie ihre politischen und beruflichen Forderungen unter die Leitidee der „weiblichen Kulturaufgabe“ bzw. „geistigen Mütterlichkeit“ (Hausen 1976; Fleßner 1996; Sachße 2003) gestellt. Das aus Fröbels Kindergartenpädagogik abgeleitete Programm „Geistige Mütterlichkeit“ zielte auf das doppelte Anliegen, weibliche Profession zu sein und durch Übermittlung „objektiver Werte im sozialen Leben“ (Bäumer 1928, zit. nach Hausen 1976, 380) zur moralischen Regulierung der Gesellschaft und Lösung der sozialen Frage beizutragen. Verstanden als moralisches Pendant der technisch-rationalen Erwerbswelt, repräsentier7

Ein Beispiel ist der schon zitierte Soziologe Ferdinand Tönnies, der 1887 Fabrikarbeiterinnen durch „Bewußtheit und Herzenskälte“ bedroht sah. Eine Frau, die gesellschaftlichen Einflüssen derart ausgesetzt war, glaubte er, „wird aufgeklärt, wird herzenskalt, bewußt. Nichts ist ihrer ursprünglichen Natur fremdartiger, ja schadhafter“ (zit. nach Hausen 1976, 379/ 380). 203

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te „geistige Mütterlichkeit“ eine auf das gesellschaftliche Allgemeinwohl gerichtete Reproduktionsaufgabe und moralische Regulativfunktion der Frauen und transponierte somit den bis dahin innerfamiliär verorteten weiblichen Sozialcharakter auf die gesellschaftsöffentliche Ebene des Berufes (Sachße 2001; Fleßner 1995; Lisop 1984). Mit der Gründung der staatlichen Fachhochschulen für Sozialarbeit durch Alice Salomon zu Beginn des 20. Jhs. und Helene Langes zeitgleich entstandenen Hauswirtschaftsschulen nahm „Geistige Mütterlichkeit“ professionelle Formen an und erlangte großen Einfluss auf die Ausprägung der heutigen Frauenberufe (Sachße 2003; Lisop 1984). Nicht zuletzt war jener Leitgedanke Argumentationsgrundlage für den Umbau der Krankenpflege in einen empathischen, der naturwissenschaftlich-rationalen Medizin untergeordneten Frauenberuf (Bischoff 1994). Ursprünglich dazu angelegt, die Bildungsinteressen und Wohlfahrtsaktivitäten bürgerlicher Frauen mit der Möglichkeit außerehelicher Selbstständigkeit zu vereinbaren, wurde „geistig-mütterlich“ instruierte Sozialarbeit die inhaltliche und soziostrukturelle Folie moderner Sozialund Pflegeberufe (Sachße 2003; Fleßner 1995; Lisop 1984).

1 3 . 5 F o r s c h u n g s p e r s p e k t i ve n Das beschriebene Prozedere komplementärer geschlechtlicher Kategorienentwicklung, das Ende des 18. Jhs. durch einen Identitätsbildungsund Erziehungsdiskurs männlicher Wissenschaftler und Literaten eingeleitet wurde, das in gesellschaftlichen Bildungs- und Erziehungsstrukturen niedergelegt und schließlich Anfang des 20. Jhs. mit Hilfe der bürgerliche Frauenbewegung auf die berufliche Ebene übertragen worden ist, gehört zum gut ausgeleuchteten Fundus der Genderforschung. Einen Meilenstein dieser Forschung hatte Karin Hausen mit ihrem 1976 erschienenen Aufsatz über Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ vorgelegt, in welchem sie diese Entwicklungslinie erstmals für eine breitere Fachöffentlichkeit aufbereitet hatte. Hausens Aufsatz ist mittlerweile ein Klassiker der historischen Genderforschung geworden, der in keinem einschlägigen Literaturverzeichnis fehlt und mit dessen Rezeption sich eine bestimmte Einschätzung der beschriebenen Entwicklung durchgesetzt hat. So wird in Anlehnung an Hausen häufig von „Polarisierung“ im Sinne einer sich wechselseitig ausschließenden „binären“ Strukturierung geschlechtlicher Bedeutungen gesprochen (u.a. Honegger 1991; Hoffmann 1983; Rang 1986; Gildemeister/Wetterer 1995). Mit der – an die spätaufklärerische Debatte angelehnten – Kategorie „Polarisierung“ verbindet sich bei Hausen eine 204

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bestimmte modale und zeitliche Einordnung der Genese jener Geschlechtscharakteristik. Entgegen ihrem eigentlichen Anspruch einer sozialgeschichtlichen Herleitung geschlechtlicher Kategorien nämlich kennzeichnet sie die „Geschlechtscharaktere“ als wissenschaftliche Konstruktion, die zur Zeit der Spätaufklärung und Klassik gewissermaßen „ ,erfunden’ “ (Hausen 1976, 369) worden ist. Auch diese Deutung hat in der genderreflexiven Literatur ihre Kreise gezogen. Ausgehend von Wygotskis psycholinguistischer Theorie, derzufolge allgemeinverständliche sprachliche Bedeutungen in langen historischen Entwicklungsprozessen generiert werden, halte ich es jedoch für zweifelhaft, ob die Modifikation alltagspraktisch relevanter Kategorien wie Geschlecht einfach machtpolitisch durchgesetzt werden konnte. Nach meiner Überlegung ist der Bedeutungswandel derart basaler Begriffe vielmehr als Transformation zu verstehen, die auf sprachlich überlieferten und mental verankerten Bedeutungsstrukturen aufgebaut und auch in einem gewissen Bezug zur Lebens- und Arbeitspraxis der Menschen gestanden haben muss, um in der alltäglichen Kommunikation überhaupt Evidenz zu entfalten. So habe ich mich gefragt, ob die Rückführung heutiger Geschlechtskategorien auf das Konstruktionsvermögen frühmoderner Bildungsbürger nicht zu kurz greift und den Blick auf tiefer liegende historische Bedeutungen verstellt. Fraglich ist außerdem, ob die naturwissenschaftlich entlehnte „Polarisierungs“-Diagnose nicht selbst dem Machbarkeitsideal der Aufklärung aufsitzt. Bei der Beschäftigung mit Hausens Aufsatz bin ich dann auch auf historische und kategoriale Engführungen gestoßen, die den konstruktiven Charakter jener Geschlechtscharakteristiken überhöhen. Weil nun dieser Aufsatz wichtige Einsichten vermittelt, zugleich aber folgenreiche Fehlinterpretationen enthält, will ich ihn noch einmal zur Debatte stellen und die Entwicklung der „Geschlechtscharaktere“ aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Ziel dieser Auseinandersetzung ist, tiefer liegende historische Bedeutungslogiken und Verweisstrukturen der heutigen Geschlechtsbegriffe aufzuspüren, die hinter dem scheinbar „polaren“ Deutungsmuster stehen.

Hausens „Polarisierungs“-Modell Karin Hausen (1976) kennzeichnet die „Geschlechtscharaktere“ als normatives, die Moderne prägendes Deutungsmuster, das in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. in der natur- und humanwissenschaftlichen Theoriebildung entstanden ist und im Verlauf des 19. Jhs. philosophisch systematisiert wurde. Auch sie beurteilt das charakterliche Geschlechtsmuster als Amalgam biologistisch hergeleiteter erotischer, sozialpraktischer und 205

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geistig-moralischer Zuschreibung, die als „naturgegebene“ Wesensmerkmale ausgewiesen wurden und die Geschlechter wie komplementäre „Pole“ eines arbeitsteiligen Ganzen anordneten. Um das Gegensatzpaar Rationalität-Emotionalität gruppiert (Hausen 1976, 369), habe das Schema mit der voranschreitenden Trennung von Erwerbs- und Familiensphäre korrespondiert, wobei im männlichen Charakterbild vorrangig Aspekte der Erwerbsarbeit, im weiblichen überwiegend Aspekte der Kindererziehung verdichtet worden seien. In Hinblick auf die naturwissenschaftliche Machart des Deutungsmusters, das die Geschlechter wie eine physikalische „Entgegensetzung zusammengehöriger und zu gemeinschaftlichem Produktionszweck wirkender Kräfte“ (Brockhaus 1815, zit. nach Hausen 366) definierte, spricht sie von einer „Polarisierung“, deren Kernstück die „Neuinterpretation der sozialen und häuslichen Position der Frauen“ (ebd. 372) als Gegenwelt des berufstätigen männlichen Staatsbürgers gewesen sei. Die neue Qualität der Geschlechtsdeutung sieht die Autorin (ebd. 370) in Übereinstimmung mit späteren AutorInnen in der charakterlichen Verortung und sozialen Generalisierung geschlechtlicher Zuständigkeiten. Auch sei jetzt nur noch die Frau und nicht mehr der Mann durch Familie definiert worden (ebd. 375). Indem anstelle von Standesdefinitionen Charakterdefinitionen traten, wurde, so Hausen (ebd. 370), „ein partikulares durch ein universelles Zuordnungsprinzip“ ersetzt. Arbeitsteilige Zuständigkeiten seien auf diese Weise personalisiert und gleichsam „als Wesensmerkmal ins Innere des Menschen verlegt“ (ebd. 369/370) worden. Laut Hausen (ebd. 369) wurden die „Geschlechtscharaktere“ im letzten Drittel des 18. Jhs. humanwissenschaftlich „ ,erfunden’ “. Als Entstehenskontext nennt sie die anstehende Umsetzung naturrechtlicher Gesellschaftsvertragsentwürfe. Auslösende Wirkung misst sie den familialen Umbrüchen zu, so dem in jene Zeit datierten „Übergang vom ,ganzen Haus’ zur ,bürgerlichen Familie’“ (ebd. 370/371) sowie der individualrechtlichen Umdeutung der Ehe. Den auf tendenziell geschlechtsegalitären Naturrechtsauffassungen basierenden Wandel von der patriarchalisch strukturierten lebenslangen Ehe in ein beidseitig kündbares Vertragsverhältnis deutet sie sodann als Zeichen der „politischen Entpflichtung“ der Familie (ebd. 372, Hvh. I.A.) und spricht von einer tendenziellen Auflösung von „Ehe und Familie als Institution“. Hinsichtlich seiner politischen Funktion wertet die Autorin (ebd. 371) das „polarisierende“ Geschlechtsmuster als Mittel zur Durchsetzung eines restaurativen Familienmodells, welches der „ideologischen Absicherung von patriarchalischer Herrschaft“ (ebd. 375) gedient und zugleich das Vorenthalten der naturrechtlich geforderten Rechtsgleich206

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heit der Frauen legitimiert habe. Als weiteres Motiv nennt Hausen (1976, 378) die Wahrung von „humanen Bedürfnissen“ durch die Frauen. Die in der Romantik vollzogene Umdeutung der Ehe von einer wirtschaftlich-sozialen Zweckgemeinschaft zum Verhältnis der Liebe und psychischen Verschmelzung (ebd. 372) habe geschlechtsegalitäre naturrechtliche Bestrebungen mit dem eingeschränkten häuslichen Spielraum der Frauen ausgesöhnt. Die philosophische Integration der ursprünglich revolutionären Denkansätze bewertet sie als gelungene Kanalisierung des Gleichheitspostulates. Unter Betonung der Gleichwertigkeit von Mann und Frau sei ein komplementäres Menschenbild entstanden, welches das aufklärerische „Ideal der Menschheit“ durch Vereinigung der Qualitäten „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ bedient (ebd. 373) und die Dissonanz von Erwerbs- und Familienleben harmonisiert habe. Jenes restaurative „Legitimations- und Orientierungsmuster geschaffen zu haben“, ja, „in wenigen Jahren entworfen“ zu haben, betrachtet Hausen als „Leistung der deutschen Klassik, der es gelingt, die heterogenen Denkansätze bei gleichzeitiger Vergeistigung der ursprünglich praktisch revolutionierenden Elemente zu integrieren“ (ebd. 372/373, Hvh. I.A.). Die charakterliche Zuschreibung habe zunächst nur der Lebensrealität des mit adeligen Gruppen überschnittenen Bildungsbürgertums und Berufsbeamtentums entsprochen. Mit dem Aufkommen von Ausbildungs- und Laufbahnverordnungen, geregelten Einkünften und Pensionsansprüchen sei letztgenannte Gruppe prototypisch für die Trennung von Familie und Beruf geworden. Den Bedeutungszuwachs mütterlicher Kindererziehung erklärt Hausen (ebd. 384/385) vor dem Hintergrund väterlich vorgezeichneter standesgemäßer Berufsperspektiven. Den in bildungsbürgerlichen Kreisen reklamierten Gegensatz zwischen männlicher Rationalität und weiblicher Emotionalität deutet sie im Rückgriff auf geschlechtliche Bildungsunterschiede seit dem 16. Jh. und weist in diesem Kontext auf Beschränkungen der Geschäftsfähigkeit von Ehefrauen seit dem 14. Jh. hin (ebd. 386/387). Hier findet sich eine der wenigen Bezugnahmen auf frühneuzeitliche Entwicklungen. Nach 1800 seien, wie Hausen im Einklang mit anderen AutorInnen (Sachße 2001; Mayer 1999) darlegt, die „Geschlechtscharaktere“ immer nachdrücklicher unter der Vorstellung eines häuslich-weiblichen Refugiums und Regulativs zur rauhen, unsittlichen Erwerbswelt expliziert worden. Die starke Verbreitung der Geschlechtstypologie führt sie zurück auf bildungspolitische Institutionalisierung und zunehmende Unterschiede der geschlechtlichen Arbeitsbereiche (ebd. 387). Im Weiteren geht sie auf die sozialpolitische Inanspruchnahme des weiblichen Sozialcharakters zur „Lösung der ,sozialen’ Frage“ (ebd. 383) ab der zweiten 207

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Hälfte des 19. Jhs. ein und erörtert das Konzept „Geistige Mütterlichkeit“ der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Refugiums- und Regulativfunktion der weiblich repräsentierten Familie zieht sie schließlich zur Erklärung der Langlebigkeit des fraglichen Geschlechtsmusters heran. Am Beispiel moderner Autoren wie Horkheimer (1936), der die Familie „auf Grund der durch die Frau bestimmten menschlichen Beziehungen [als] ein Reservoir von Widerstandskräften gegen die völlige Entseelung der Welt“ ansah oder Parson (1961), der die Frau zu „einem Spezialisten in ,human relations’“ ausbilden wollte (jeweils zit. nach Hausen 1976, 380/381), verdeutlicht sie die fraglos wegweisende Bedeutung dieses Geschlechterschemas für die moderne Psychologie und Sozialwissenschaft.

Historische Einordnung Brita Rang (1986) bemängelt an Hausens Ausführung vor allem deren Beschränkung auf den Zeitraum der industriell-kapitalistischen Entwicklung, die epistemische, mentalitäts- und sozialgeschichtliche Faktoren außer Acht lasse, welche für das Offenlegen zählebiger Verbindungen älterer mit neueren Geschlechtsideologemen relevant seien. Rang selbst siedelt die Entwicklung der modernen Geschlechtskategorien in Form einer noch unsystematischen Renaissance antiker Geschlechtsmuster während des 16. Jhs. an. Unter Verweis auf Aristoteles, Platon, Plutarch, Epictet, Hippokrates und Galenus leitet sie her, dass die epistemische Geschichte jener Geschlechtsmuster mindestens bis ins 5. Jh. vor Chr. zurückreicht und im intellektuellen Diskurs der Frühen Neuzeit, also der Phase der Herausbildung bürgerlich-städtischer Wirtschaftsformen, reformuliert worden war.8 Das Wiederaufnehmen antiker körperlich-psychischer Analogien war Rang (ebd.) zufolge bereits in der Renaissance ein wichtiges, wenngleich noch nicht entscheidendes Moment der Herstellung geschlechtstypisierender Aussagen gewesen. Beispielsweise 8

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Nach antiker Vorstellung produzierten Körpersäfte und die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft, Erde je nach Vorkommen und Mischung psychische Eigenschaften. Mehr Feuer im Körper des Mannes aktivierten, mehr Säfte im Körper der Frau machten ängstlich und rachsüchtig. Die Weichheit des weiblichen Fleisches galt als Ursache eines sanften, impulsiven, passiven Charakters. Den feuchten, kalten Säften des Frauenkörpers, die zum Warmen und Trockenen des perfekteren Mannes drängten, entsprachen Phantasiereichtum und dem Hang zur Unbeständigkeit (Rang 1986). Rang (ebd.) zufolge wurde im 16. Jh. das antike Verständnis vom schwachen Charakter der Frau zur Rechtfertigung für den Ausschluss aus öffentlichen Ämtern reproduziert. Noch im 17. Jh. sei eine Kausalität zwischen dem unfertigen Organ Gebärmutter und geschwächter Rationalität hergestellt worden.

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

habe die Lehre von den Säften (Aristoteles, Galenus, Hippokrates) und Urstoffen (Empedokles) eine wichtige Rolle bei der Wiederbelebung antiker Geschlechtstypologien gespielt (Rang, 1986, 200). Zwar habe es, so Rang (ebd.; vgl. auch Wunder 1993a), damals noch keine einheitliche Position zur „Natur“ von Mann und Frau gegeben. Doch sei im Laufe des 16. Jhs. ein geschlechtshierarchisches Muster hervorgetreten, in welchem Männlichkeit mit Begriffen wie aktiv, befehlend, stark und tapfer, Rationalität etc. und Weiblichkeit mit passiv, gehorchend, schwach und feige, unbeständiger Geist etc. konnotiert war. Dieses Muster habe der juristischen Dualität von männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Privatheit entsprochen, die durch Rückgriff auf das römische Recht neu belebt worden war. Die rund 200 Jahre später mit dem Wechsel der sozialen Trägergruppe einhergegangene, einheitlicher betriebene „Polarisierung“ der „Geschlechtscharaktere“ (ebd. 202) wertet Rang ähnlich wie Hausen als gelungenen Versuch des Bürgertums, feudale Abhängigkeiten betreffende Veränderungen traditioneller Beziehungsgefüge herbeizuführen und zugleich ein Übergreifen auf das Geschlechterverhältnis zu verhindern. Mit Blick auf die politischen Umwälzungen des späten 18. Jhs. misst sie der charakterlichen Geschlechtstypologie vor allem die Funktion bei, Lebensgewohnheiten zu bewahren und „in neuer Weise alte Selbstverständlichkeiten“ (ebd. 202) zu sichern. Auch ich sehe zeitliche Verengung, infolge derer die „Geschlechtscharaktere“ wie eine männliche Erfindung des 18. Jhs. aufscheinen, als ein Grundproblem des Hausen’schen Aufsatzes. Gepaart mit einer sehr rezeptiven Darstellung, die vorgefundenen Begriffslogiken verhaftet ist, führt dieses Herangehen eher zur Dopplung denn zur Reflexion des fraglichen Begriffsschemas. Zur Verdeutlichung sei ein Textabschnitt zur Refugiumsfunktion der Familie angeführt, wo es heißt: „Ehe und Familie und die Frau als Personifizierung der speziellen familialen Qualitäten wurden in dem Augenblick anhand einer Reihe von erstrebenswerten Eigenschaften definiert, als in den sich herausbildenden außerfamilialen Gesellschaftsstrukturen und für den unter diesen Strukturen zum Reüssieren verpflichteten Mann eben diese Eigenschaften jeglichen Wert verloren und als Störfaktoren eliminiert wurden. Die exklusive Zuweisung der Eigenschaftskomplexe Rationalität-Aktivität für den Mann und Passivität-Emotionalität für die Frau ist demnach zu verstehen als Reaktion auf und zugleich Anpassung an eine Gesellschaftsentwicklung, die dem in der Aufklärung ausgearbeiteten Ideal der autonomen, harmonisch entfalteten Persönlichkeit zunehmend den Wirklichkeitsgehalt entzieht.“ (Hausen 1976, 381)

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Demzufolge wäre die bürgerliche Neudefinition der Familie und der sie repräsentierenden Frau als kalkulierte Reaktion auf die Verdrängung familiärer Qualitäten aus der männlich definierten Berufs- und Gesellschaftsöffentlichkeit zu verstehen. Als Subargument taucht die Realitätsuntauglichkeit des autonomen Subjektideals auf, wobei unklar bleibt, wieso ausgerechnet die geschlechtliche Aufspaltung von Rationalität und Emotionalität geeignet gewesen sein soll, die Brüchigkeit jenes Ideals zu beheben. In Anbetracht der eingangs erörterten Ideengeschichte des emotionsfernen rationalen Subjektes fragt sich, ob hier nicht Ursachen und Wirkungen durcheinander geraten und komplexe historische Prozesse auf eine vereinfachende Kausalitätslogik reduziert worden sind, die der Referenz des vordergründigen männlichen Subjektbegriffes aufsitzt. Weil Hausen nämlich die Entwicklung der bürgerlichen Familie auf die Zeit während und nach der Französischen Revolution begrenzt und ihre Bedeutung lediglich aus der Motivationslage und den Zwängen der berufstätigen Bürger heraus fokussiert, bedient sie nicht nur die androzentrische Sicht auf die Familie als privatem Hintergrund öffentlicher Gestalten, sondern greift auch hinsichtlich der Entstehung des familiär konnotierten weiblichen Geschlechtscharakters ausschließlich auf das Reflexions- und Konstruktionsvermögen männlicher Bildungsbürger zurück. Aus meiner Sicht affirmiert die Autorin damit das Verständnis einer aktiven rationalen Männerwelt, die sich eine passive, weibliche Familie als emotionales Rückhaltebecken konstruiert. Außerhalb des Begründungszusammenhanges bleiben sozial- und bedeutungsgeschichtliche Traditionen, die die Entwicklung und mentale Eingängigkeit der Trennung von öffentlicher Ratio und familiärem Gefühl erklären und nicht zuletzt den Beitrag der Frauen erhellen könnten, die als bevorzugte Zielgruppe der geschlechtscharakterisierenden Literatur (Hoffmann 1983) schwerlich als bloße Opfer des Geschehens vorstellbar sind. Indem sich also Hausen auf die Entstehungsphase der bürgerlichen Gesellschaft konzentriert, entgehen ihr sozial- und ideengeschichtliche Entwicklungslinien, die während der Spätaufklärung und Klassik als Phasen der politischen Formierung des Bürgertums zwar zusammengeführt und umgesetzt (Hirschberger 1980, Bd. 2), keineswegs aber neu „geschaffen“ worden sind. Dazu gehören frühneuzeitliche Mütterlichkeitsdiskurse, die schon während der Renaissance – die gerade durch Familiarisierung der Arbeit und kaum durch Getrenntheit von Erwerbsund Familiensphäre gekennzeichnet war (Wunder 1993b) – mit dem vordergründigen Ideal eines autonomen männlichen Subjektes korrespondierten (Niestroj 1985; Blättner 1961).

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Historische Engführung verführt anscheinend dazu, aus Erklärungsnot machtpolitische und konstruktive Aspekte zu übersteigern, die bei der Begriffsentwicklung zweifellos mitgespielt haben, die aber, um sinnstiftend zu wirken, an sozialen und mentalen Strukturen angesetzt haben müssen. Dass die Konzentration auf machtpolitische Dynamiken gerade im Genderzusammenhang Gefahr läuft, hegemoniale Begriffslogiken zu reproduzieren, sei im Folgenden anhand von Hausens Polarisierungsthese und Familienbegriff gezeigt.

„Polarisierung“ – eine affirmative Analysekategorie Um den Entstehungsprozess der „Geschlechtscharaktere“ zu kennzeichnen, hält sich Hausen an die spätaufklärerische Metapher „Polarisierung“ und beurteilt die lexikalische Entgegensetzung von Mann und Frau als ideologischen Vorgang, der die Geschlechter in einen symmetrischen Gegensatz hineinrationalisiert. Anhand literarisch extrahierter Begriffsschemata referiert sie ein weibliches Geschlechtsstereotyp, das sich wie eine spiegelbildliche Entsprechung des rationalen männlichen Subjektes liest. Diese scheinbare Symmetrie des spätaufklärerischen Geschlechtslexikons verdoppelt sich nun, indem Hausen den naturwissenschaftlichen Begriff „polar“ als Instrument ihrer Begriffsrekonstruktion übernimmt. Sie deckt zwar mit dem substantivierten Verb Polarisierung den rationalisierenden Modus jener Zuschreibung auf, doch bleibt ihre Reflexion der quantitativen Logik des Wortes „polar“ verhaftet. Folglich erscheint auch auf der Analyseebene der weibliche Geschlechtsbegriff wie ein quantifizierbares Negativbild eines vorgängigen männlichen Arbeits- und Subjektbegriffes. Das heißt, es leitet sich nicht nur das historische Frauenstereotyp selbst, sondern auch dessen Analyse aus der Negativbedeutung männlich verwendeter Kategorien ab. So schreibt sie zur Wirkung geschlechtlicher Bildungsunterschiede seit dem 16. Jh., „daß es im 18. Jahrhundert beim Bürgertum tatsächlich hinsichtlich der Rationalität zwischen Mann und Frau erhebliche, anerzogene Wesensunterschiede gab. Die auf traditionelle Weise im Hause sozialisierten Frauen hatten offenbar Verhaltensweisen konserviert, die als irrational, emotional, spontan, unbeherrscht etc. von denen der formal ausgebildeten Männer abstachen und in dem Moment, wo der Rationalismus sich als allgemeines Prinzip durchzusetzen begann, [...] als bemerkenswertes Phänomen hervorgehoben wurden.“ (Hausen 1976, 386, Hvh. I.A.)

Abgesehen davon, dass das Klischee „irrationaler Spontaneität“ kaum den gebildeten, sittenstreng erzogenen bildungsbürgerlichen Frauen des

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

ausgehenden 18. Jhs. entsprochen haben dürfte (vgl. Damm 1992; Elias 1997), ist diese Aussage auch deshalb fragwürdig, weil sie sich trotz kritischem Impetus einer vom rationalen Subjektbegriff herkommenden Diktion bedient, die abgespaltene und weiblich verortete emotive Qualitäten durch Negativkontrastierung bestimmt. Über einen solchen – alltagsüblichen – Zugang wird jedoch die tiefer liegende qualitative Aussage weiblich assoziierter Begriffe wie „spontan“ und „emotional“ verstellt, wechselseitige Verweisstrukturen des weiblich und männlich konnotierten Begriffsgefüges bleiben verdeckt. Offenbart doch die Herleitung des verweiblichten Begriffsrepertoires aus dem vermännlichten lediglich ein Verhältnis von Über- und Unterordnung bzw. Positiv- und Negativ-Bestimmung, aus dem sich weder die genaueren Bedeutungen noch das Ineinandergreifen der geschlechtlich entmischten Kategorien Ratio und Emotion erschließen. Dass „weiblich“ zugeordnete Emotionalität nicht einfach als untergeordnetes Kontrastprogramm der „männlichen“ Ratio fungierte, sondern vielmehr beide Kategorien ein sich gegenseitig bedingendes Verhältnis repräsentieren, offenbart schon die spätaufklärerische und klassische Literatur. Schlägt man beispielsweise bei Rousseau (1762/1983) nach, findet man intentionale und empathische Qualitäten „der Frau“ als eine im Verborgenen wirkende Macht beschrieben, durch die die männliche Subjektwerdung überhaupt erst gewährleistet wird (vgl. dazu auch Schmid 1996 und van Felden 1999). Diese Deutung, die sich auch bei Humboldt, Campe oder Pestalozzi finden lässt, durchzieht die pädagogische Literatur und ist, nicht zuletzt bei Hegel, philosophisch integriert. Wenn Hausen (1976, 385) also der „männlichen“ Ratio historischen Vorrang vor der „weiblichen“ Emotion einräumt, indem sie schreibt, „Rationalität muss als spezifisch menschliches Leistungsvermögen ausgebildet sein und als Wert erachtet werden, bevor es sinnvoll ist, Emotionalität als konträre Verhaltensweise davon abzugrenzen“, stellt sich dieses Verhältnis in der Primärliteratur anders dar: Weibliche Praxis, Empfindung und Empathie sind hier überwiegend als Voraussetzung des rationalen Subjektes thematisiert, welchem wiederum obliegt, die durch die Frau lebenspraktisch zu Tage geförderten Wirklichkeitsphänomene sprachlich zu definieren und der Erkenntnis zuzuführen (vgl. dazu Rousseau 1762/1983; Humboldt 1792/1960 und Hegel 1807/1988). Böhme (1985, 273) spricht von einer „dialektisch verqueren Wechselbeziehung von Herrschaft“, die sich bei Kant in einer Liste komplementärer Eigenschaften niederschlage. Durchdringt man die vom rationalen Begriffssystem herkommenden „polaren“ Gegensätze wie außen-innen, Weite-Nähe, Energie-Schwäche, Geist-Gefühl der spätaufklärerischen und klassischen Literatur, erweisen 212

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

sie sich als scheinbar symmetrische Oberflächenordnung, hinter der in den jeweiligen Textzusammenhängen weit kompliziertere Bedeutungen stehen. Der Anschein von „Polarität“ stellt sich her, weil kontradiktorisch gebrauchte Humanita wie Vernunft und Gefühl, Denken und Sinnlichkeit im Zuge psycho-somatischer Analogiebildung in den Kontext von räumlichen (groß-klein, außen-innen) oder physikalischen (KraftAnziehung, Stärke-Schwäche) Begriffen gestellt sind, die charakterliche Qualitäten wie quantifizierbare physikalische Gegensätze aufscheinen lassen. Als Exempel sei wieder Rousseau (1983, 386 u. 388) herangezogen, der den „ersten“ Unterschied in der „moralischen“ Beziehung der Geschlechter dadurch bestimmt, dass der eine Teil „aktiv und stark [...], der andere passiv und schwach“ sein muss, um zwei Seiten später zur „dritten Folge“ jenes Unterschiedes zu dozieren, „daß der Stärkere nur scheinbar der Herr ist und in Wirklichkeit vom Schwächeren abhängt“. Jene Schwäche-Stärke-Dialektik, die wohl auch Rousseau nicht erfunden hat, war ein typisches Muster spätaufklärerischer und klassischer Geschlechtsdeutungen, die sich mal mit Misogynie (Kant, Hegel), mal mit sentimental verklärenden weiblichen Charakterbeschreibungen (W. von Humboldt, Pestalozzi) verschränkten. Platte Dichotomie jedoch repräsentieren sie genauso wenig wie bloße Negativkontrastierungen der Frau. Eher wurden die weiblich konnotierten Bedeutungen, wie auch bei Hegel deutlich wurde, als naturhafte Grundlage männlicher Stärke und Erkenntnisfähigkeit verstanden, was besonders an der familiären Funktion der Mutter und Ehefrau festgemacht wurde.

Bürgerliche Familie und die Frau als innere Instanz Hausen (1976, 371) stellt den Übergang „vom ganzen Haus“ zur „bürgerlichen Familie“, den sie nach Schwab im zeitlichen Umfeld der Französischen Revolution ansiedelt, als wichtigstes Motiv für die „Polarisierung“ der „Geschlechtscharaktere“ vor. Im Zuge der verstärkten Dissoziation von Berufs- und Familiensphäre und ausgelöst durch die damalige Gesellschaftsvertragsdebatte, schreibt sie, sei das „Infragestellen des alten Familienbegriffes zwischen 1780 und 1810 theoretisch soweit getrieben [worden], daß die ,soziale Rolle der Familie’ überhaupt zurückgedrängt zu werden drohte“ (ebd. 371). Die individualrechtliche Umdeutung der Familie wertet sie als „politische Entpflichtung“ (ebd. 372). Mit dem in der Romantik hervorgekehrten Wandel der Ehe von einer Kinder erzeugenden, lebenslangen Zweckgemeinschaft zum freiwilligen Liebesverhältnis glaubt sie, „lösen sich tendenziell Ehe und Familie als Institution auf“ (ebd.). Diesem Gedanken folgend wertet sie die von der deutschen Klassik „geschaffen[e]“ Geschlechtstypologie (ebd. 371) als 213

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

gelungenen restaurativen Versuch, „ein die Verhältnisse stablisierendes neues Orientierungsmuster an die Stelle des veralteten zu setzen“ (Hausen 1976, 372). Auch in diesem Bezug fallen historische Verkürzungen und eine vom männlichen Begriff her kommende Perspektive auf, infolge derer die soziohistorische Bedeutung der Familie und des mit ihr konnotierten weiblichen Geschlechtsbegriffs unterwertig erfasst sind. Der Wandel zur bürgerlichen Familie wird auf das ausgehende 18. und beginnende 19. Jh. zusammengedrängt. Als vordergründiges Bedeutungsmerkmal des alten Familienbegriffes führt die Autorin das „institutionelle Gefüge der Familie als hausväterliches Regiment und damit vor allem die Herrschaft des Ehemanns und Vaters“ (ebd. 371/372) ins Feld, das nunmehr durch die vertragsrechtliche Umdeutung der Ehe bedroht sei. Hinsichtlich der Frauen, um die es in jener Debatte immerhin ging, begnügt sie sich mit dem schemenhaften Hinweis auf die traditionelle christliche Positionierung der „herrschaftsunterworfenen Frau“ (ebd. 371), womit sie wiederum männliche Herrschaft in den Vordergrund stellt und weibliche Bedeutungen verschattet. Jüngeren Forschungen zufolge (Wunder 1993a und b; Müller 1993) setzte der Übergang des ganzen Hauses zur bürgerlichen Familie jedoch schon während der Frühen Neuzeit mit der Ablösung der grundherrschaftlichen Wirtschaftshöfe durch familiär organisierte Handwerksund Handelsbetriebe und außerhäusliche Lohnarbeit ein. Schon im 16./17. Jh. war dieser Prozess mit sozialen Individualisierungs- und politischen Formierungsprozessen verbunden, bei denen der Familie eine außerordentlich wichtige sozialisatorische Rolle zukam (Wunder 1993b; Elias 1997). In diese Zeit fällt auch die Renaissance antiker Gesellschaftsvertragsideen in Form einer bürgerlichen Utopiebildung, die den Staat als vertragsrechtlichen Zusammenschluss freier Individuen begriff (Klaus/Buhr 1975). Selbst die Umdeutung der Ehe in ein Liebesverhältnis war allenfalls eine Weiterentwicklung seitens der bürgerlichen Romantik. Denn schon in Luthers (1522/2002) Familienlehre, die auf die damaligen Individualisierungsschübe reagierte, hatten Liebe und Erotik den Zweckverband Ehe durchaus sinnhaft angereichert (Scharffenorth 1993; Müller 1993). Wenn nun diese Ideen im Umfeld der Französischen Revolution neu reflektiert und zu tragenden politischen Kategorien verdichtet wurden, warum sollte dann ausgerechnet der Gesellschaftsvertrag die „politische Entpflichtung“ der Familie bewirkt oder die romantische Liebe gar die „tendenzielle Auflösung“ von Ehe und Familie bedeutet haben? Hausen übersieht, dass die Familie schon in den frühneuzeitlichen Staatsvertragstheorien als Voraussetzung des bürgerlichen Subjektes 214

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mitgedacht und der Mutter- und Ehefrauenrolle hierbei eine wichtige erzieherische Bedeutung beigemessen worden war (Niestroj 1985). Hatte schon John Locke seinen Gesellschaftsvertragsentwurf von 1690 mit eingehenden Anweisungen zur familiären Erziehung parallelisiert (vgl. Blättner 1961; Niestroj 1985), traf das noch mehr auf Rousseaus Contrat social (1762/1984) zu, der großen Einfluss auf die Französische Revolution und die Rechtsphilosophie Kants, Fichtes und Hegels erlangte (Hügli/Lübcke 2000). Wie gesagt, veröffentlichte Rousseau zeitgleich zum Contrat social den Erziehungsroman Emile (1762/1983), der auf die soziale Basis jenes politischen Konzeptes zielte. In diesem Roman konzipierte er eine gesellschaftstaugliche männliche Erziehung, die den im Gesellschaftsvertrag beschworenen „Naturzustand“ herstellen und eine dem „Akt der Vergesellschaftung“ (ebd. 506) zuträgliche individuelle Charakter- und Vernunftbildung gewährleisten sollte. Dieses Subjektmodell bedurfte der Frauen. Mutterliebe war für Rousseau (ebd.) Bindeglied zwischen Vater und Kind und Basis der arbeitspraktisch-naturwissenschaftlichen Erziehung, mit der ein männlicher Pädagoge einschlägige „Anlagen“ des Knaben Emile förderte. Als Vollendung dieser Erziehung sah er die Liebe der sittlich erzogenen Verlobten Sophie an, deren Aufgabe es war, Emiles Moral und Nächstenliebe zu erwecken (ebd.). Erotische Liebe war bei Rousseau nicht nur bindendes Moment der Ehe, sondern naturgesetzlicher Modus der männlichen Moralentwicklung: „Sobald der Mann eine Gefährtin braucht, ist er kein Einzelwesen mehr. Sein Herz ist nicht mehr allein. Alle Beziehung zu seiner Gattung, alle Regungen seiner Seele entspringen der einen: seine erste Leidenschaft bringt die anderen in Wallung.“ (Rousseau 1762/1983, 213, Hvh. I.A.)

Um diese moralische Aufgabe zu erfüllen, musste Liebe auf Freiwilligkeit basieren: „Zwang und Liebe gehen schlecht zusammen [...] Das gegenseitige Verlangen begründet das Recht; die Natur kennt kein anderes.“ (Rousseau 1762/1983, 526)

Denn an der freiwilligen Vereinigung der Geschlechter „sieht man, wie uns das Physische unmerklich zum Moralischen führt, und wie aus der rohen Vereinigung der Geschlechter langsam die süßesten Gesetze der Liebe erwachsen. Die Frauen herrschen nicht, weil es die Männer wollen, sondern weil es die Natur so will: sie herrschten schon, bevor sie zu herrschen schienen.“ (Rousseau 1762/1983, 389) 215

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Auch Wilhelm von Humboldt plädierte für die freiwillige Ehe, als er über den Staat und die charakterliche Integrität seiner Bürger räsonierte. Das Ziel, „den positiven Wohlstand der Nation zu erhöhen“ und „Sorgfalt für die Bevölkerung des Landes“ zu gewährleisten, war für Humboldt (1792/1960, 71) nicht durch „Zwang – befehlende, verbietende Gesetze“ zu erreichen, sondern durch Einflussnahme auf „Charakter und Denkungsart“ (ebd. 70). „Denn bei sorgfältig angestellten Versuchen hat man die ungetrennte, dauernde Verbindung Eines Mannes mit Einer Frau der Bevölkerung am zuträglichsten gefunden. [...] Allein, der Fehler scheint mir darin zu liegen, daß das Gesetz befiehlt, da doch ein solches Verhältnis nur aus Neigung, nicht aus äussren Anordnungen entstehen kann, [...] Daher [...] sollte der Staat [...] von der Ehe seine ganze Wirksamkeit entfernen, und dieselbe [...] der freien Willkür der Individuen und der von ihnen errichteten mannigfaltigen Verträge [...] überlassen. Die Besorgnis, dadurch alle Familienverhältnisse zu zerstören [...] würde mich, insofern ich allein auf die Natur der Menschen und Staaten [...] achte, nicht abschrekken. Denn nicht selten zeigt die Erfahrung, daß gerade das, was das Gesetz löst, die Sitte bindet.“ (W. von Humboldt 1792/1960, 81/ 82, Hvh. und Schreibweise im Orig.)

Immerhin „bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schaz der Sittlichkeit. Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte, und wenn [...] der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken zu entfernen, welche dem Wachstum hinderlich sind; so zieht die sorgsame Hand der Frau die wohlthätige innere in welcher allein die Fülle der Kraft sich zu Blüthe läutern mag und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse feiner durchschauen [...], [was] sie des Vernünftelns überhebt, das so oft die Wahrheit verdunkelt.“ (W. von Humboldt 1792/1960, 80, Hvh. und Schreibweise im Orig.)

Bei beiden Autoren treten Moralität und Sittenstärke als bedeutsame Merkmale des weiblichen Sozialcharakters hervor. Als weiteren Sinnaspekt benennt Humboldt (1792,1960, 80) die tiefere Menschenkenntnis, die er als Korrektiv der männlichen Vernunft definiert. Die Bedeutung der Frau, die auf „sinnlichem“ Wege (Humboldt 1795/1960, 367) aufspürt, was der männliche Geist kategorisiert, erweitert sich also um sittlich-moralische und psychologische Überlegenheit. Auch Rousseau (1762/1983, 420), der „die Prinzipien [...] der Wissenschaften, alles, was auf die Verallgemeinerung der Begriffe abzielt“, dem Mann vorbehielt, zählte die psychologische Reflexion des männlichen Genius zu den Auf216

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gaben der häuslichen Frau: „Sie muß [...] bis auf den Grund den Geist des Mannes erforschen“ und den Männern „durch ihre eigenen Reden, Handlungen, Blicke und Gesten die Gefühle eingeben können, die ihr gefallen“ (Rousseau ebd. 421). Schließlich sei es „Aufgabe der Frauen, gewissermaßen die praktische Moral zu finden; unsere ist es, sie in ein System zu bringen. [...] Die Frau beobachtet; der Mann zieht Schlüsse“ (Rousseau ebd. 421). Aus beiden Argumentationen wird erkenntlich, dass die vertragsförmige bürgerliche „Vergesellschaftung“ (Rousseau ebd. 506) und individualrechtlich-freiwillige Ehe weder die „Auflösung“ noch die „politische Entpflichtung“ (Hausen 1976) der Familie heraufbeschwor. Im Gegenteil, es stand die politische Inpflichtnahme der Familie auf psychosozialer Ebene zur Debatte, die Charakterbildung, bei der Frauen grundlegende psychosoziale Funktionen zugesprochen wurden. Nicht gesetzlicher Zwang, sondern die Verinnerlichung moralischer Gebote war der Modus des bürgerlichen Aufbruchs, für den das autonome Subjekt nach Befund der pädagogischen Staatsphilosophen einer mütterlichehefraulichen Stütze bedurfte, sein häusliches und moralisches „Inneres“ zu stabilisieren. Im Kern ging es um die familiale Erziehung des individuellen Vernunftmenschen und dessen „innere“ Integrität, die man im Zuge der Ablösung der alten Ordnung durch psychosoziale Funktionsteilung der Geschlechter zu bewältigen strebte. Ziehen wir Wygotskis (1992) Gedanken der Genese sprachlicher Zeichen aus intersubjektiv strukturierten Sozialbeziehungen heran, verrät die Deutung der Frau als Verkörperung einer lebensnäheren „praktischen“ Moral, die Rousseau und Humboldt als zuliefernde „sinnliche“ Grundlage und zugleich als Regulativ männlicher Definitionskraft signifizieren, eine Rückbindung des rationalen Subjektbegriffes an die familiale Prâxis und interpsychische Regulationsfähigkeit, die der Begriff der Ehefrau repräsentiert. Diese Semantik rekurrierte auf eine ins Mittelalter zurückreichende Sittenstärke der Frau (Günther et al 1973; Marianne Weber 1907/1989), die seit der Frühen Neuzeit Gegenstand von Eheund Erziehungslehren (Bennewitz 1996) war und die nun, zum biopsychischen Wesensmerkmal umgedeutet, in zweierlei Hinsicht für das Bürgertum bedeutsam wurde: Neben der mütterlichen Bevölkerungsmehrung und kulturtauglichen Kindererziehung ging es um die Ehefrau als „wohlthätige innere“ (Humboldt 1796/1960, 80) Instanz und alter Ego des Mannes. Die in diesem Zusammenhang gebräuchliche Analogisierung von häuslichem und psychischem „Innenraum“ war ebenfalls keine Neuerfindung der deutschen Klassik, sondern Bestand weit älterer zivilisatorischer Traditionen, die Norbert Elias (1997 Bd. 1 und 2) analysiert. 217

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13.6 Zivilisatorische Tradition und beobachtende Methode Wenn man Elias’ (1997) Zivilisationstheorie auf den gesellschaftlichen Umbruch des 18./19. Jhs. anwendet, erkennt man alle Anzeichen eines soziokulturellen Formierungsprozesses auf hohem wissenschaftlichem Niveau: Die voranschreitende Individualisierung der menschlichen Sozietät ging mit einer wissenschaftlichen Verregelung von Gebräuchen und Erziehungsvorstellungen einher, die Eingang in Denk- und Verhaltensweisen fanden, indem sie über Literatur, Benimm- und Erziehungsschriften verbreitet und bildungspolitisch festgeschrieben wurden. Die dazu gehörige humanwissenschaftliche Kategorienbildung beruhte Elias (1997) zufolge jedoch nicht auf Neuerfindung, sondern auf der Beobachtung, Zerlegung und Neusynthetisierung vorgefundener Sitten und Praktiken, was sich mit einer historischen Sprachauffassung weit besser vereinbaren lässt als die Vorstellung willkürlicher Konstruktion. Jene Methode der systematischen Beobachtung und Neukomposition menschlicher Verhaltensweisen nämlich lag den Programmen der empirischen Psychologie und der Etikette-Literatur des 18. Jhs. (Böhme 1985; Elias 1997) zugrunde. Auch Humboldt (1792/1960, 81) hat sicher an Beobachtung gedacht, als er von „sorgfältig angestellten Versuchen“ über die Einehe schrieb. Gleiches gilt für Rousseaus Reiseempfehlung im Schlussteil von Emile, die auf die Beobachtung archaischer Sitten und Kulturen zum Zwecke der Definition der idealen Ehe abhob. Gemeinsames Anliegen des ursprünglich von höfischen Kreisen ausgehenden Zivilisationsprozesses und des (bei Kant formulierten) bürgerlichen Programmes der „Kultivierung“ (Elias 1997; Böhme 1985) war die unschwer als geschlechtsrelevant zu erkennende Bewältigung des menschlichen Affektes unter Disparierung von äußerem Auftreten und inneren Gefühlen, gesellschaftlicher Öffentlichkeit und familiärer Privatheit (ebd.). Seit der Frühen Neuzeit verbanden sich diese Prozesse der Verinnerlichung gesellschaftlicher Regularien mit tief greifenden Veränderungen der menschlichen Psyche, bei denen gerade in der bürgerlichen Traditionslinie die Familie von großer Bedeutung war (Elias 1997). Elias schreibt mit Blick auf die bürgerliche Kultivierung: „Je größer die Umformung, die Regelung, die Zurück- und Geheimhaltung des Trieblebens ist, die das gesellschaftliche Leben vom Einzelnen verlangt, [...] desto stärker konzentriert sich die Aufgabe der ersten Züchtigung dieser gesellschaftlich notwendigen Triebgewohnheiten im intimen Zirkel der Kleinfamilie.“ (Elias 1997, Bd. 1, 353)

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Die Brisanz, die die Regulierung von kultiviertem äußeren Erscheinen und innerem Affekt noch Ende des 18. Jhs. besaß, verdeutlicht Böhme (1985.) anhand der nachhaltigen Popularität von Kants Vorlesungen zur pragmatischen Anthropologie, die besonders auch von Frauen wahrgenommen wurden. Thema dieser Vorlesungen war die Vernunftwerdung des bürgerlichen Subjektes unter Bewältigung seines „tierische[n] Hangs“ (Kant, Anthropologie, zit. nach Böhme 1985, 269). Für Kant war die Unterscheidung des äußeren, intelligiblen Vernunftsmenschen von dem zu verbergenden „tierischen“ Inneren eine Grundvoraussetzung der menschlichen Gesellschaft und machte seine Definition des Gattungswesens Mensch aus (vgl. Böhme 1985). Wurde der „Mensch“ bei Kant „erst Mensch durch Erziehung“ (Kant, Pädagogik, zit. nach Böhme, 268), gehörte zum didaktischen Teil auch das Einüben bürgerlicher Sitten: „Denn dadurch, daß Menschen diese [kultivierte] Rolle spielen, werden zuletzt Tugenden [...] wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über“ (Kant, zit. nach Böhme, 271). Solche Erziehungsempfehlungen entsprachen Böhme (1985) zufolge einem starken zeitgenössischen Orientierungsbedürfnis und erlangten hohen Einfluss auf die Literatur. Kants Ordnungsvorstellungen waren maßgeblich beteiligt, die affektgeladenen Ich-Darstellungen der goethezeitlichen Sturm-und-Drang-Literatur in ästhetisch und charakterlich überschaubare Bahnen zu lenken (Frenzel 2001). Die in diesem Denken enthaltenen geschlechtlichen Klassifizierungen waren jedoch, wie noch zu zeigen bleibt, keine Neuerfindungen der deutschen Klassik, sondern allenfalls Neues aufnehmende Umsynthetisierungen älterer Kategorien. Obwohl sich das deutsche Bürgertum gegen die freizügigen erotischen Sitten des französischen Hofes (Honegger 1991) abgegrenzt und der höfischen Zivilisierung ein moralisch engeres Kultivierungsprogramm (Elias 1997) entgegengesetzt hat, spricht Böhme (1985, 269) bezüglich der Kant’schen Differenzierung des affektiven inneren und vernünftigen äußeren Menschen von einer „bürgerlichen Antwort“ auf den höfischen „Prozeß der Zivilisierung“, die einschlägige Methoden der Menschenbeobachtung beerbte (vgl. auch Elias 1997 Bd. 1). Zwar beklagte Kant (zit. nach Böhme 1985, 268), dass die Physiognomik9, die „Ausspähungskunst des Inneren im Menschen vermittels gewisser äuße9

Die antike Physiognomik gewann in der Aufklärung hohe Popularität. Ein Beispiel ist die Schrift des deutschen Frühaufklärers Thomasius mit dem vielsagenden Titel Das Verborgene des Herzens anderer Menschen auch wider ihren Willen aus der täglichen Konversation zu erkennen von 1692, die dem Kurfürsten von Brandenburg empfahl, die Spionagetechniken des französischen Hofes zu übernehmen. Mit wachsender Kultivierung der Umgangsformen wurde die Physiognomik auch im Bürgertum bedeutsam und erlebte Ende des 18. Jhs. eine gewisse Blüte (Böhme 1985). 219

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rer unwillkürlich gegebener Zeichen ganz aus der Nachfrage gekommen“ sei. Doch hinderte das nicht den Fortgang der bürgerlichen Kultivierung. Denn mit universellem Anspruch und weit größerer publizistischer Verbreitung hatte die vermessende Anthropologie die Rolle der alten Physiognomik übernommen. Was die humanwissenschaftlich forcierte bürgerliche Kultivierung des 18. und 19. Jhs. in methodischer Hinsicht von der frühneuzeitlichen Zivilisierung unterschied, waren also weniger die Beobachtung menschlicher Praktiken oder deren Deutung nach Maßgabe des Augenscheins (Honegger 1991) und der sprachlichen Deduktion, die nunmehr reisende Menschenkundler, begutachtende Ärzte und Pädagogen übernahmen. Neu waren vielmehr die Qualität ihrer bio-psychischen Sziensifizierung (Honnegger ebd.) sowie die Möglichkeit des Rückgriffes auf einen bis dahin weiterentwickelten Fundus zivilisatorisch überformter Kategorien.

13.7 Eindeutige Männlichkeit und die weibliche Summenfigur Dass die scheinbare „Polarität“ der damaligen Geschlechtscharakteristiken auf sprachlichen Deduktionen und Umsynthetisierungen beruhte, die weitaus kompliziertere Bedeutungen überdeckten, zeigt Volker Hoffmanns (1983) literaturwissenschaftliche Analyse der goethezeitlichen Literatur. Sie bestätigt, dass die klassischen Geschlechtstypologien nicht als einfache Dichotomisierung von vorausgehender männlicher Ratio und nachgeordneter weiblicher Emotionalität zu verstehen sind. Ich gebe diese Analyse kurz wieder, weil sie wichtige Einblicke in die Logik und wechselseitigen Verweisstrukturen geschlechtlicher Bedeutungen vermittelt. Hoffmann (1983, 81-83) beschreibt die Entwicklung der „polaren“ Geschlechtscharakteristiken als Prozess, in dessen Verlauf tendenziell geschlechtsegalitäre soziale Deutungsansätze durch physiologisierende Interpretationen überlagert wurden. Den Übergang von den standesspezifischen Geschlechtskategorien zu bio-psychischen Schematisierungen unterteilt er in fünf Phasen, die von der Neureflexion überlieferter Eigenschaftszuschreibungen während der Sturm-und-Drang-Zeit hin zur anthropologischen Naturalisierung polarer Deutungen im deutschen Idealismus verlaufen sind: • Die erste Phase von ca. 1771 bis 1775 sieht Hoffmann noch von einer emanzipatorischen Umwertung des traditionell dichotomen Geschlechterverständnisses geprägt: So verkehrten August W. Hupel und Theodor Gottlieb v. Hippel die traditionellen Ehezwecke, indem 220

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sie partnerschaftliche Hilfeleistung vor die Fortpflanzung stellten. Hamann und Herder reflektierten in einem Briefgespräch die Frau als „Geburtshelferin bei der Vernunftwerdung des Menschen“ (Hoffmann 1983, 81). In der zweiten Phase seien die „niederen, [...] ,tierischen’ Vermögen des Menschen (Sinnlichkeit, Affekte, auch Einbildungskraft und Wille) und höheren Geistes- und Seelenkräfte (Verstand und moralische Vernunft) neu verteilt“ worden (ebd. 81), wofür unter anderem Goethes Leiden des jungen Werther von 1774 charakteristisch sei. Zur Rezeption dieser Normänderung habe man „vor allem auch Frauen gewonnen“ (ebd.). In der dritten, von 1787 bis kurz nach 1800 währenden Phase, konstatiert Hoffmann restaurative Gegenströmungen gegenüber den bislang eher egalitären Tendenzen. Signalgebend dafür sei die antizivilisatorische Schrift des Göttinger Beamten Brandes Über die Weiber gewesen. In Folge hätten sich die Auffassungen von einer körperlich-psychischen Geschlechterdichotomie und einer außerhalb der Fortpflanzung existierenden Geschlechtergleichheit konträr gegenübergestanden. Erst die vierte Phase, von 1795 bis ebenfalls kurz nach 1800, sieht der Autor durch „Geschlechtspolarität“ infolge der Übernahme anthropologischer Positionen in die literarisch-pädagogische Debatte geprägt. 1795 mit Wilhelm von Humboldts anthropologischem Merkmalskatalog über die gegensätzliche ,Natur’ und wechselseitige Bezogenheit der Geschlechter eingeleitet, sei diese Position unter anderem in Schillers Glocke plakativ vergröbert worden. Die Gegenposition habe, wenngleich mit misogynen Subargumenten, Schlegels Lucinde sowie Schleiermachers Katechismus der Vernunft der edlen Frauen eingenommen, wo dichotomische Charakteristika jeweils in einem Geschlecht zusammengeführt waren. Ähnliches gelte für Goethes frauenfreundlich intendierten Text Die guten Frauen, der implizit ebenfalls auf dichotome Geschlechtstypisierung zurückgefallen sei. Die abschließende fünfte Phase bildete, so Hoffmann (ebd. 83) mit Hinweis auf Hegel, die „Integration der Geschlechtspolarität in [philosophische] Systembildungen“ sowie deren literarische Popularisierung und Umsetzung in pädagogischen Konzepten. Danach habe die Debatte stagniert und sei erst 20 Jahre später im pädagogischen Diskurs unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Goethezeit wieder in Gang gekommen.

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Bei starken Kontroversen zwischen und erheblichen Widersprüchen innerhalb der verschiedenen Strömungen, schreibt Hoffmann (1983, 83), habe sich bei der überwiegenden Mehrheit der untersuchten Texte „Geschlechterpolarität als weiterentwickelte Form der traditionellen Geschlechterdichotomie“ durchgesetzt. Innerhalb des geschlechtspolaren Lagers sieht er „trotz einer scheinbaren systematischen Ordnung zahlreiche Inkonsistenzen in Argumentation und Anwendung“ (ebd. 84, Hvh. I.A.). Den Versuch, die „lange Liste der binären Merkmalsreihen (z.B. stark vs. schwach, aktiv vs. passiv, produktiv vs. rezeptiv, außenorientiert vs. innenorientiert, kultur- vs. naturrepräsentierend, rational vs. gefühlsbestimmt usw.) nach anthropologischen Bereichen (physischkörperlich, niederes Seelenwesen: Gemüt, höheres Seelenwesen: Intellekt, moralischer Wille) zu ordnen“, sieht er „einer teilweise widersprüchlichen, teilweise ad hoc konstruierten Scheinordnung“ verhaftet (ebd.). Neben „wiederholte[n] gewagte[n] Deduktionen aus dem Sprachgebrauch“, die Hoffmann (ebd. 86) unter anderem bei Kants Anthropologie in der „Gegenüberstellung des erhabenen gegen das schöne, des starken gegen das schwache Geschlecht“ feststellt, macht der Autor bei der Wandlung der dichotomischen zur „polaren“ Geschlechtstypologie besonders zwei sprachliche Kostruktionsmodalitäten aus: Die eine betrifft die Art der Gegensatzbildung: Hier seien konträr gegenüberliegende graduelle Gegensätze (stark-schwach) des dichotomischen Geschlechtsbildes zu kontradiktorischen Gegensätzen des polaren Schemas verschärft. Kontradiktorische Gegensätze seien durch die geforderte Wechselwirkung so behandelt, als könnten sie lückenlos ineinander übergehen. Der so hergestellte „polare Binarismus“ (ebd. 85) entgehe dem zur Goethezeit „als irritierend angesehenen Diffusionismus“ (ebd. 86) und entspräche dem Wunsch nach totaler Wirklichkeitserfassung bzw. Synthetisierung des Singulären, vermeide jedoch die bloße Identität der hergestellten Pole. Damit korrespondiere eine stillschweigende Generalisierung des sozialen Gültigkeitsbereiches für alle Stände (Hoffmann 1983, 85). Die andere Zuschreibungsmodalität betrifft die Paradigmen der dichotomisch-polaren Geschlechtscharakteristik, die nach Hoffmann (ebd. 85) „an die Kette der analogen naturphilosophischen, intellektualen und ästhetischen Ordnungsschemata“ der Goethezeit angeschlossen war. Jenen Ordnungskategorien sei ein ontischer Wirklichkeitsstatus zugesprochen worden, der sich aus ihrer „Renaturalisierung“ (ebd. 85), also ihrer epistemischen Fundierung in der Natur, bei gleichzeitigem Zurückdrängen sozialer Begründungen wie positives Recht, Gesellschaftsentwicklung, Erziehung, ergeben habe. Zur Goethezeit habe die Anwendungs222

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breite der Geschlechtscharakteristik noch so stark varriiert, dass sie, je nach Standpunkt, auf einen anthropologischen Teilbereich, etwa den physiologischen, beschränkt oder auf mehrere bis alle ausgedehnt gewesen seien. Während im ausgehenden 18. Jh. neben naturalisierenden Paradigmen teilweise noch soziale Konventionen zur Begründung der Geschlechtscharakteristik herangezogen worden seien (z.B. von Hippel), habe sich die Renaturalisierung im 19. Jh., etwa bei Hegel und Schopenhauer, immer ausschließlicher zur Rephysiologisierung verengt (Hoffmann 1983, 97). Widersprüche innerhalb des polarisierenden Standpunktes markierte einesteils die unter anderem in Schillers Würde der Frauen präsentierte Vorstellung des Mannes als „antagonistisch-gespaltenes Wesen“ gegenüber der Frau als „ruhendem Pol“ (ebd. 84). Dagegen stünden Darstellungen, in denen dem Mann „eine klar definierte geschlechtscharakterisierende Einheit, nämlich Männlichkeit“ zugeordnet sei, während „die ideale Weiblichkeit aus verschiedenen Frauenrollen (Jungfrau, Mutter, Schwester, Madonna, Dirne)“ mit konfligierenden moralischen Bewertungen projiziert sei (ebd. 84/85). „Gibt es“, so Hoffmann (ebd. 85), „schon Diskrepanzen [...] bei einem Vertreter der Geschlechtsdichotomie, so vervielfältigen sie sich zwischen den Vertretern [...] und werden Legionen, wenn man ihre Übertragung auf literarische Texte heranzieht“. Insgesamt bewertet der Autor das „dichotom-polare“ Geschlechtsmuster des späten 18. und beginnenden 19. Jhs. als „flexibles Argumentationsinstrument, das Unschärfen und Widersprüche in Kauf“ (ebd. 85) nehme und seine klassifikatorischen Inkonsistenzen vor allem bei der Einordnung der Frau offenbare. Während der „Mann als Geschlechtscharakter von fraglosem eindeutigem Wert“ sei, erscheine die Frau wie „eine klassifikatorische Summenfigur“ (ebd. 86), die verschiedene soziale Rollen vereinige und bisweilen auch männlich verstandene Qualitäten (der Regentin, Amazone etc.) integriere. Vermögen wie Verstand und Phantasie würden „der Frau bald ab-, bald zugesprochen und im letzteren Fall gerne mit einer zusätzlichen Spezifizierung, etwa schöner, nicht tiefer Verstand“ (Hoffmann 1983, 85 mit Bezug auf Kant) versehen. Zur anthropologischen Einordnung der Frau rekurriere die Lexik vieler Texte auf die ältere dichotome Geschlechtscharakteristik, bei der der erwachsene Mann den eigentlichen Menschen darstelle, während die Frau „mit klassifikatorischen Bereichen unterhalb oder überhalb des Menschlichen (Pflanze, Tier, Engel) in Verbindung gebracht“ würde (ebd. 86, bezugnehmend auf Fichte und Hegel, Hvh. I.A.). Auch seien Frauen vielfach als Kind bezeichnet bzw. mit kindlichen Eigenschaften

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versehen oder als Ding semantisiert worden (Hoffmann ebd; vgl. dazu auch Hausen 1976). Als brisantes Streitthema hebt Hoffmann (ebd. 87) die Positionierung der Frauen als Erzieherinnen hervor. Die Frage, „ob die Frau fähig ist, als Erzieherin des Mannes zu wirken“, sei von der zivilisationsfeindlichen Position verneint und von der fortschrittlichen bejaht worden. Und obgleich die goethezeitliche Literatur die „aktive Erzieherrolle“ der Frau als „Bildnerin und Erzieherin“ mehrheitlich befürwortet habe, sei die „passive Darstellung der Frau als Objekt des Bildungsprozesses“ überwiegend abgelehnt worden (ebd.). Als Beispiel führt er den fortschrittlich eingeordneten Knigge an, der Frauen, ohne dass sie selbst Lehrjahre durchlaufen hätten, hohe bildende Kräfte gegenüber Jünglingen zubilligte. Dem Ausschluss der Frauen aus dem Bildungsprivileg habe eine stark verankerte polare Merkmalsbestimmung entsprochen, die dem Mann Attribute von Werden und Veränderung, der Frau hingegen Merkmale von Sein und Konstanz zugesprochen habe. Gleichzeitig habe jedoch ein anderes Muster derselben Geschlechtscharakteristik „die Frau“ als so „integrationsfähig“ dargestellt, dass sie „Neues und Fremdes, und hier vor allem Männliches absorbieren kann, während der Mann dazu nicht fähig ist, ohne seine Männlichkeit aufzugeben“ (ebd. 88). Aus diesem Muster folge, „daß die Frau im Bildungsprozeß sich als aufnahmefähiger erweist und am Ende als alle Bereiche synthetisierende Figur dem Mann, der in der Vereinzelung stecken bleibt, überlegen ist“ (ebd. 88). Literarische Abwertungen und Eliminierung der Frauen aus der formalen Bildung wie in Goethes Die guten Frauen wertet der Autor als dazugehörige Abwehrreaktion. Soweit Hoffmanns Literaturanalyse zu den Inkonsistenzen und sich verkehrenden Hierarchien der klassischen Geschlechtstypologien, die der These einer logisch konstruierten Symmetrie sich gegenseitig ausschließender Bedeutungen widerspricht. Trennschärfe verzeichnet der Autor allenfalls hinsichtlich der höheren „Eindeutigkeit“ des männlichen Begriffes im Gegensatz zu der „alle Bereiche synthetisierende[n]“ sprachlichen Bedeutung der Frau (Hoffmann 1983, 88, Hvh. I.A.).

Sprachtheoretische Folgerung In Zusammenschau mit Wygotskis Sprachtheorie ergeben sich aus Hoffmanns Analyse aufschlussreiche Hinweise auf inhärente Logiken und wechselseitige Verwobenheiten des geschlechtlichen Begriffsgefüges, die ich hier hypothesenartig, gewissermaßen als Richtschnur für die weitere Auseinandersetzung, auflisten will. Rekapitulieren wir dazu zuerst zwei Aussagen Wygotskis: 224

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Erstens die These der genetischen Herkunft sprachlicher Bedeutungen aus realen Sozialbeziehungen und kommunizierten Praktiken, die im Wege des sozialen Verkehrs unter abstrahierender Hervorhebung wesentlicher Merkmale zu signifikanten Begriffen verdichtet werden und dadurch ihre logische Struktur erhalten. Sowie zweitens den zur Begriffsentwicklung ermittelten Befund unterschiedlich entwickelter Begriffsniveaus, die in der Umgangssprache koexistieren. Hier interessieren besonders zwei Begriffstypen, nämlich a) der ontogenetisch und historisch frühere komplexe Begriff, der noch der anschaulichen Erfahrung verhaftet ist, sowie b) der höher entwickelte verballogische, wissenschaftliche Begriff, dem eine diskursiv ausgeleuchtetere abstrakt-hierarchische Verallgemeinerungsstruktur inneliegt. Zu den logischen Unterschieden der beiden Begriffsarten hatte ich nach Wygotski und Lurija expliziert, dass der verballogische Begriff aufgrund seines hierarchisch-abstrakten Verallgemeinerungsniveaus eindeutigere, situationsübergreifende Signifikationen zulässt und in logische Operationen wie Exklusion, Inklusion oder Widerspruch einführt, während der alltagspraktisch befangene komplexe Begriff mit seiner einreihenden Verallgemeinerungsweise abhängiger von konkreten Situationen und unempfindlicher gegen Widersprüche ist. Kennzeichnend für das komplexe Denken ist nach Wygotski die Partizipation, die (nach Piaget so bezeichnete) Subsumtion logisch disparater und sogar widersprüchlicher Sinnaspekte unter einem Begriff. Wygotski (2002, 219) zufolge können im anschaulich komplexen Denken „dieselben Wörter in verschiedenen Situationen unterschiedliche Bedeutungen haben“, ja es kann „ein und dasselbe Wort sogar gegensätzliche Bedeutungen in sich vereinigen, vorausgesetzt sie können [...] aufeinander bezogen werden“.

Interpretieren wir unter diesen Gesichtspunkten die von Hoffmann benannten Auffälligkeiten des geschlechtlichen Begriffsgefüges, die der Autor als logische Inkonsistenzen reflektiert: 1. Als erstes springt die Figur der ungebildeten Erzieherin des Mannes ins Auge, die mit der kulturpessimistisch (Honegger 1991) intendierten Rückbesinnung auf die Natur zusammenfiel. Aus logischer Sicht mag diese Figur paradox erscheinen. Wenn man sie allerdings aus sprachgenetischer Sicht betrachtet, erschließt sich der Sinn dieser Denkfigur als sprachlich eingelagerte soziohistorische Rückbindung des männlichen Begriffes an naturhaft verstandene weibliche Bedeutungen, wie sie in den Textpassagen Rousseaus und Humboldts zu 225

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

finden war. In der nachfolgenden Betrachtung zur Soziogenese des rationalen Subjektbegriffes wäre also zu hinterfragen, in welcher genetischen Beziehung die Bedeutung des männlichen Individuums zu abgespaltenen weiblichen Bedeutungen steht. Damit ist die Frage aufgeworfen, im Zusammenhang welcher soziohistorischer Prozesse sich die abstraktive Herauslösung und weibliche Zuordnung naturhaft verstandener Sozialkompetenzen aus dem individualistischen Begriff des rationalen Subjektes erklärt. 2. Als zweites Phänomen fällt die weibliche Bedeutungsvielfalt im Verhältnis zur relativen Eindeutigkeit des Männlichen auf. Hier fragt sich, wieso das zur Goethezeit ebenfalls differentielle Auftreten von Männern (als Bauern, Intellektuelle, Beamte, Adelige, Handwerker) unter ein relativ einheitliches Begriffsschema subsumiert werden konnte, ganz im Gegensatz zu der widersprüchlichen, auch männlich konnotierte Sinnaspekte integrierenden weiblichen „Summenfigur“. Spätestens hier drängt sich der – ebenfalls weiter auszuleuchtende – Verdacht auf, dass das männliche Begriffssystem der wissenschaftlich ausgeleuchteteren Logik des abstrakt-hierarchischen Denkens folgt, während die Ansammlung weiblicher Bedeutungsaspekte noch der anschaulich-komplexen Verallgemeinerung unterliegt. Gerade die breit gefächerte, schwankende Semantik des weiblichen Begriffes deutet auf eine Verallgemeinerungsstruktur hin, die je nach Kontext unterschiedliche und sogar konfligierende Bedeutungen zulässt (etwa ungebildete Erzieherin bei höherer Bildungsfähigkeit der Frau) und dabei an anschauliche Gestalten (Hure, Erzieherin, Amazone etc.) geheftet ist. 3. Eine dritte Auffälligkeit, die ebenfalls die Verallgemeinerungslogik des weiblichen Begriffes betrifft, ist die kindliche Vertextung und also Analogisierung der Frau mit ihrem Betätigungsfeld, der Kindererziehung. 4. Dazu gesellt sich viertens die semantische Ansiedelung der Frau im über- oder untermenschlichen Bereich, die mit dem naturwissenschaftlichen Zeitgeist des aufgeklärten Empirismus so gar nicht zusammenpassen will. Hier stellt sich als weiterführende Frage, inwieweit bestimmte weibliche Handlungsqualitäten, die sich der beobachtenden Vernunft der diskutierenden Humanwissenschaftler entzogen und obendrein mit den damaligen naturwissenschaftlichen Kategorien nicht zu klassifizieren waren, mystifiziert wurden und auf welche sprachlichen Traditionen das zurückgeht. Anhaltspunkte sprachlicher Mystifizierung findet man in den angeführten Textpassagen Rousseaus (1983) und Humboldts (1960) zur Verklärung der Frau als naturnäherer moralischer Instanz des Mannes oder auch in 226

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Hegels (1988) Verortung der Frau im Bereich einer vordiskursiven, mit kulturellen Kategorien kaum zu fassenden „göttlichen“ Vernunft. Die Einordnung der Frau im vorkulturellen natürlichen bzw. göttlichen Bereich ist Bestandteil jener merkwürdigen Begriffsdialektik, die der Frau einerseits den objekthaften Status eines der rationalen Perspektive gegenüberliegenden Untersuchungsgegenstandes gibt, ihr aber andererseits die Bedeutung einer dieser Ratio vorausgehenden, regulierenden „inneren“ Kraft beimisst. Insgesamt deutet diese Dialektik weniger auf logische Inkompetenzen oder willkürliche Setzungen der deutschen Klassiker hin als auf eine komplizierte, historisch gewachsene Dialektik unterschiedlich systematisierter und wechselseitig aufeinander bezogener geschlechtlicher Kategorien, die auch in den Neureflexionen der sprachlich sensiblen Literaten und politisch engagierten Philosophen zum Ausdruck kam. Lesen wir zur logischen Beschaffenheit des weiblichen Begriffes und der semantischen Rückbindung des Mannes an die naturbelassene Frau noch einmal den Sprachphilosophen und Bildungstheoretiker Wilhelm von Humboldt, finden wir hier sogar ein Beispiel logischer Partizipation. In der (zuvor schon zitierten) Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen von 1792 geht es um die Frage, wie der Charakter des verantwortlichen Staatsbürgers beschaffen sein muss. Deutlich bemüht, die Trennung von zweckgerichteter Ratio und Emotion zu überwinden, um „Neigungen des Herzens und Zwekke der Vernunft“ (Humboldt 1792/1960, 78) zu vereinen, hebt der Begründer des neuhumanistischen Bildungsideals nicht etwa auf die bildungsförmig herzustellende intra-psychische Integrität des individuellen Subjektes ab. Vielmehr setzt er auf die intersubjektive Bewältigung dieser Aufgabe, genauer auf eine interpsychische eheliche Verbindung, und weist der weiblichen Psyche den Part zu, die Schaffenskraft des Mannes mit innerem Sinn zu versehen. Zu den [...] „interessantesten Menschen, welche am zartesten und leichtesten auffassen, und am tiefsten bewahren [...] kann man mit Recht [...] mehr das weibliche, als das männliche Geschlecht rechnen, [...] .Von sehr vielen äusseren Beschäftigungen gänzlich frei; fast nur von solchen umgeben, welche das innere Wesen beinahe ungestört sich selbst überlassen; stärker durch das, was sie zu sein, als was sie zu thun vermögen; ausdrucksvoller durch die stille, als die geäusserte Empfindung; mit aller Fähigkeit des unmittelbarsten, zeichenlosesten Ausdrucks, bei dem zarteren Körperbau, dem beweglicheren Auge, der mehr ergreifenden Stimme, reicher versehen; im Verhältnis gegen andre mehr bestimmt zu erwarten und aufzunehmen, als entgegenzukommen; schwächer

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

für sich, und doch nicht darum, sondern aus Bewunderung der fremden Größe und Stärke inniger anschliessend; in der Verbindung unaufhörlich strebend, mit dem vereinten Wesen zu empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet zurückzugeben; zugleich höher von dem Muthe beseelt, welchen Sorgfalt der Liebe, und Gefühl der Stärke einflösst, die nicht dem Widerstande, aber dem Erliegen im Dulden trotzt – sind die Weiber eigentlich dem Ideale der Menschheit näher, als der Mann [...]. Wenn es keine unrichtige Vorstellung ist, dass jede Gattung der Trefflichkeit sich [...] in einer Art der Wesen darstellt; so bewahrt der weibliche Charakter den ganzen Schaz der Sittlichkeit. Nach Freiheit strebt der Mann, das Weib nach Sitte, und wenn [...] der Mann sich bemüht, die äusseren Schranken zu entfernen [...]; so zieht die sorgsame Hand der Frauen, die wohlthätige innere, in welcher allein die Fülle der Kraft zu läutern mag, und zieht sie um so feiner, als die Frauen das innre Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse feiner durchschauen, als ihnen jeder Sinn am willigtsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt, das so oft die Wahrheit verdunkelt.“ (W. von Humboldt 1792/1960, 79/80, Hvh. und Schreibweise im Orig.)

Hat man Pathos und Grammatik durchdrungen, steht man vor einer widersprüchlichen Darstellung weiblicher Charaktermerkmale, deren partizipative Logik sich nur durch den gemeinsamen Bezug auf die soziopsychischen Beziehungsbedarfe des Mannes als verbindendem Schema ergibt: Humboldt paart die „leichtere“ und „tiefere“ Auffassungsgabe der Frau mit der eher vorkulturellen Fähigkeit des „unmittelbarsten, zeichenlosesten“, sprich sprachlosen Ausdrucks. „Mehr bestimmt zu erwarten und aufzunehmen“, übernimmt die von „äußeren“, öffentlichen Aktivitäten freie, zeichenlose Frau die geheimnisvolle Aufgabe, „mit dem vereinten Wesen zu empfangen, das Empfangene in sich zu bilden, und gebildet zurückzugeben“. Ausgestattet mit dem kulturellen „Schatz der Sittlichkeit“, entpuppt sich die rezeptive weibliche Psyche letztlich als steuernde Kraft, der „jeder Sinn am willigsten zu Gebote steht, und sie des Vernünftelns überhebt, das so oft die Wahrheit verdunkelt“. Im Subtext der weiblichen Charakterbeschreibung steht also die Sorge um die moralische Integrität und psychische Stabilität des „vernünftelnden“ Kulturtyps, von dem Rousseau (1983, 388) schon wusste, dass ihn die Frau nur „den Stärkeren sein lässt“. Auch in der Reflexion des Sprachphilosophen ergibt sich demnach der tiefere Sinn des widersprüchlichen weiblichen Begriffes aus der soziopsychischen Anbindung des individualisierten männlichen Subjektes an eine „zeichenlos“ definierte weibliche Kraft.

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HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

In der nun folgenden Auseinandersetzung mit den frühneuzeitlichen und mittelalterlichen Entwicklungslinien der abendländischen Geschlechtsbegriffe ist also zu erfragen, welche soziohistorischen Strukturbildungen hinter der von Humboldt, Rousseau oder Hegel bedienten Semantik einer sprachmächtigen und individuellen männlichen Ratio gegenüber einer begrifflos gedeuteten weiblichen Moral stehen.

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14 F R Ü H N E U Z E I T L I C H E E N T W I C K L U N G S L I N I E N G E S C H L E C H T L I C H E R AR B E I T S - U N D P E R S Ö N L I C H K E I T S K AT E G O R I E N

Um die Soziogenese geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe in der dargelegten Wechselbeziehung zu rekonstruieren, greife ich jetzt auf frühneuzeitliche Entwicklungslinien zurück. Gegenstand dieses recht umfangreichen Kapitels wird geschlechtliche Kategorienbildung im Kontext sozialgeschichtlicher Prozesse sein. Mit Blick auf genderförmige Bedeutungsentwicklung werde ich insbesondere die Herauslösung spezialisierter Männerarbeit aus ganzheitlichen Arbeits- und Versorgungszusammenhängen, die Entwicklung von Handwerkszünften und Universitäten sowie den kulturellen Bedeutungszuwachs familiärer Erziehung thematisieren. Den Leitfaden dieser Auseinandersetzung bilden die bei der Erörterung der spätaufklärerisch-klassischen Geschlechtscharakteristiken präzisierten Fragestellungen bezüglich der Abstraktion der Frauenarbeit aus dem produktiven Arbeitsbegriff, der semantischen Rückbindung des männlichen Subjektbegriffs an weiblich tradierte Bedeutungen sowie der unterschiedlichen Verallgemeinerungslogik geschlechtlicher Kategorien. Zur sozialgeschichtlichen Einordnung des Begriffsbildungsprozederes ziehe ich u.a. Heide Wunders historisches Forschungskonzept über die „Familiarisierung“ von Arbeit und Leben seit dem Hohen Mittelalter heran. Da dieses Konzept die frühneuzeitliche Entwicklung von Beruf und Familie, Frauen- und Männerarbeit nicht als parallele Vorgänge, sondern als zusammenhängenden Vergesellschaftungsprozess aufarbeitet, lässt es hilfreiche Einblicke in die wechselseitige Verwobenheit geschlechtlicher Bedeutungsentwicklung zu. 231

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Einleiten will ich die Erörterung der frühen Begriffsentwicklung mit einem Exkurs zu Norbert Elias’ Untersuchung Über den Prozeß der Zivilisation (1997), der die Spaltung von Ratio und Emotion, Öffentlichkeit und Privatheit als sozio- und psychogenetischen Prozess beschreibt. Obwohl Elias die Genderfrage eher unergiebig abhandelt, ergeben sich aus seiner Arbeit wertvolle Hinweise zu den kulturellen Entwicklungsmodalitäten geschlechtlicher Kategorien, insbesondere zur Bedeutung des weiblichen Sozialcharakters als Substruktur des individuellen Subjektes. Da sich diese Einsichten allerdings erst unter Mitdenken der Sprache als Mittel der Regulierung menschlicher Orientierungsweisen erschließen, referiere ich zuerst einige Kernaussagen aus Elias’ Arbeit, um sie dann unter Hereinnahme der psycholinguistischen Theorie Wygotskis zu reformulieren.1

14.1 Exkurs: Norbert Elias’ Theorie der abendländischen Zivilisierung Norbert Elias (1997 Bd. 1 und 2) untersucht den abendländischen Prozess der Zivilisation von der Entwicklung feudaler Strukturen im 9. Jh. über die Phase des frühneuzeitlichen Absolutismus bis hin zur Bildung bürgerlicher Nationalstaaten im 18./19. Jh. Er kennzeichnet diesen Prozess als ganzheitliche Transformation von sozialen Beziehungen und psychischen Orientierungen. Soziogenetische Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung und Umstrukturierungen der menschlichen Psyche wertet er als zusammengehörige Bewegungen derselben Entwicklung: Die mit der frühneuzeitlichen Staatenbildung erfolgende politische Zentralisierung führte ihm zufolge zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Verflechtung arbeitsteiliger Beziehungsgefüge, die mit tief greifenden Veränderungen der menschlichen Psyche und der Transformation sozialer Habiti zusammenfiel. Kennzeichen dieses in Vor- und Gegenbewegungen verlaufenden Prozederes sei die fortschreitende Vergesellschaftung und Individuierung der Menschen, was mit der Transformation gesellschaftlicher Ordnungsmuster in immer stabiler werdende Selbstregulierungsmechanismen einhergegangen sei. Analog Freud 1

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Wie eingangs dargelegt, ist der figurationstheoretische Ansatz von Elias mit Wygotskis Theorie insoweit vereinbar, als beide Autoren von der historischen Interdependenz gesellschaftlicher und psychischer Entwicklungen ausgehen und psychische Ausdifferenzierungen als Verinnerlichung soziokultureller Prozesse betrachten. Auch messen beide Theorien intersubjektiven Handlungspraktiken eine bedeutungskonstituierende Funktion bei.

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

qualifiziert er die sich ausdifferenzierenden psychischen Strukturen als „Unbewußtes“, „Ich“ und „Über-ich“ (Elias 1997 Bd. 1, 355) bzw. als „Selbstkontrollapparatur“ (ebd. Bd. 2, 328). Darin inbegriffen ist die Entwicklung vorausschauender Orientierungs- und Verhaltensweisen, so genannter „Langsicht“ (ebd. Bd. 2, 350), die immer größere räumliche und zeitliche Distanzen des sozialen Austausches überbrückten. Eine Besonderheit der abendländischen Entwicklung, die zunächst die Selbstdisziplinierung der Menschen hinsichtlich der „höfischen Funktionen“ in den feudalen Herrschaftszentren sowie der „kaufmännischen Funktionen in den Zentren der Fernhandelsverflechtungen“ hervorgebracht habe (ebd. Bd. 2, 350), sieht Elias in der allmählichen standesübergreifenden Verbreitung zivilisierter Verhaltensmuster, durch die der habituelle und soziale Kontrast zwischen den sozialen Ständen verringert worden sei. Als symptomatisch dafür nennt er unter anderem die kulturelle Aufwertung und Verbreitung der Arbeit, die früher nur ein Merkmal der unteren Stände war. Als historisch durchgängiges Muster der Wandlung von Fremd- in Selbstzwänge wertet er das fortschreitende Verdrängen von Affekten aus der Kulisse des gesellschaftlichen Lebens sowie das Verlegen „aller körperlichen Funktionen [...] hinter ,verschlossene Türen’“ des Hauses (Elias ebd. Bd. 1, 354, Hvh. I.A.). Was zur Unterscheidung einer „öffentliche[n]“ und einer „intime[n]“ psychischen Sphäre menschlichen Lebens geführt habe (ebd. 355). Besonders starke Schübe der Selbstkontrolle macht er zwischen dem Hohen Mittelalter und der frühen Renaissance (ebd. Bd. 1, 64) aus, was mit dem Zurückdrängen spontaner individueller Gewalt im Zuge des Entstehens feudalstaatlicher „Monopolinstitute[ ] der körperlichen Gewalttat“ (ebd. Bd. 2, 331) eingeleitet und im 15./16. Jh. durch die höfische Sittenreglementierungen verstärkt worden sei. Äußere Anzeichen dieses Prozesses seien das Vorrücken von Peinlichkeit und Scham sowie die zunehmende Tabuisierung der Sexualität gewesen, korrespondierend mit einem Einstellungswandel zur Geschlechterbeziehung und dem Herausbilden asexueller Kindheitsmuster. Mit dem Aufsteigen des Berufsbürgertums zur Oberschicht Ende des 18., Anfang des 19. Jhs. sieht der Autor einen sozialen Richtungswechsel der Zivilisierung eingeleitet, den der Kant’sche Begriff der „Kultivierung“ reflektiert. Obgleich mit höfischen Sitten teils amalgamisiert, habe sich die puritanisch-protestantisch bzw. gegenreformatorisch-jesuitisch tradierte bürgerliche Entwicklungslinie von der höfischen Zivilisierung durch andere Familienstrukturen und berufszentrierte Langsicht unterschieden (Elias ebd. Bd. 2, 412). Kennzeichen der bürgerlichen Formierung seien die stärkere Trennung von gesellschaftlicher Öffentlichkeit 233

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

und familiärer Privatsphäre sowie die schärfere Reglementierung von Ehe und Sexualität gewesen, was mit der allgemeinen Hebung von Lebensstandard und Arbeitsdisziplin sowie der zunehmenden Kultivierung der unteren Schichten einhergegangen sei (Elias 1997, Bd. 2, 428 f.). Wiewohl Elias (ebd. Bd. 2, 324) dem Prozess der Zivilisation mit seinen soziopsychischen Rationalisierungen eine „eigentümliche Ordnung“ zuerkennt, führt er weder die historischen noch die individuellen Dimensionen dieses Prozesses auf rationale Planungen, Technik oder andere willentliche Urheberschaften zurück. Die Fortentwicklung der Zivilisation ergebe sich vielmehr aus eigendynamischen „Verflechtungen“, in welchen emotionale Regungen und rationale Pläne der Einzelnen beständig ineinander greifen und „Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat [...] und eine Ordnung von ganz spezifischer Art“ ergeben, die „stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden“ (ebd. Bd. 2, 324/325, Hvh. im Orig.). Individuelle Zivilisierung vollzieht sich bei Elias weitgehend „blind“ (ebd. Bd. 1, 343) durch Weitergabe soziogener „Triebfiguren" und „Reflexe" (ebd. 352). Als „primäre[s] Züchtigungsorgan“ (ebd.) wertet er die Kleinfamilie, die maßgeblich zur Integration sexuell tabuisierter Kindheitsstrukturen beigetragen habe. Trotzdem sieht Elias Spielräume für „planmäßige[ ] Eingriffe in das Verflechtungsgewebe und den psychischen Habitus“ (ebd. Bd. 2, 327), die auf Kenntnis der „ungeplanten Gesetzmäßigkeiten“ des zivilisatorischen Prozesses beruhen. Nach seinen Worten gaben die „großen Denker des Abendlandes“ der tagtäglichen Erfahrung des zivilisatorischen Prozesses „einen gesammelten und vorbildlichen Ausdruck“ und wirkten „als Hebelarme auf dessen Gang“ ein, indem „sie versuchten, die rationaleren Denkformen, die sich allmählich aufgrund einer umfassenderen Strukturwandlung des gesellschaftlichen Gewebes herausbildeten, zu reinigen und mit ihrer Hilfe zu den Fundamenten des menschlichen Daseins vorzudringen“ (ebd. Bd. 2, 406/407). Die Renaissance-Humanisten würdigt Elias (ebd. Bd. 1, 328) als „Exekutoren“ des Wiederauflebens der Antike, die das Bedürfnis nach gelehrten Schriften aufgegriffen, Zukunftsvorstellungen formuliert und Verhaltensstandards festgelegt haben. Als wesentlichen Teil ihres Wirkens wertet er die auf Menschenbeobachtung beruhende „Psychologisierung“ (ebd. Bd. 2, 388) bei Hofe, das denkbar Machen und Durchdringen des Psychischen mit empirischer Erfahrung. Die dazugehörige Methode, die „genauere Beobachtung des Anderen und seiner selbst über längere Motivationsreihen und größere Zusammenhangsketten hin“, nimmt er exemplarisch dafür, „wie sich das, was wir ,Orientierung an der Erfahrung’ nennen, [...] dann [...] zu entwickeln beginnt, wenn der Aufbau der Gesellschaft selbst den Ein234

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

zelnen dazu drängt, seine augenblicklichen Affekte in stärkerem Maße zurückzuhalten und seine Triebenergien in hohem Maße umzuformen“ (Elias 1997 Bd. 2, 385). Durchgreifende gesellschaftliche Geltung habe jene Psychologisierung und Rationalisierung durch literarische Menschenschilderungen erlangt, die in der Moderne von Roman und Film perpetuiert worden seien. Womit eine „gerade Traditionslinie“ von der höfischen Menschenbeobachtung zur modernen „Gestaltung des Lebens breiterer Schichten durch Schriftsteller [...] und eine Reihe von [...] Filmen“ (ebd. 387) verlaufen sei. Hier findet sich ein Widerspruch in Elias’ Konzeption: Obwohl er bewusste subjektive Gestaltungsanteile der abendländischen Entwicklung negiert, holt er sie mit der rationalen Denk- und Beobachtungsmethode der humanistischen Denker sowie der Rolle von Schrift, Buchdruck und Film wieder herein. Ein Beispiel ist seine Interpretation der Colloquien Erasmus von Rotterdams aus dem Jahre 1522, ein vielfach aufgelegtes und übersetztes Standardwerk der Knabenerziehung, das Sexuelles thematisiert und Zurückhaltung empfiehlt. Für Elias verkörpert dieses Buch „einen mächtigen Schub in Richtung auf jene Art der Triebzurückhaltung, die das 19. Jahrhundert dann vor allem in der Form der Moral rechtfertigte“ (ebd. Bd. 1, 326). Er wertet es als „Zeugnis damaliger weltlich-gesellschaftlicher Verhaltensstandards“, wobei „die Forderungen an die [...] Mäßigung des Verhaltens [...], über diesen Standard hinausgingen und, die Zukunft vorwegnehmend, als Wunschbild erkennbar sind“ (ebd. Bd. 1, 328). Mich überzeugt Elias vor allem wegen seines materialreichen historischen Nachweises ineinander greifender sozio- und psychogenetischer Entwicklung, die bis in die Modellierung des körperlichen Habitus hineinreicht (ebd. Bd. 2, 388/389). Ähnlich wie Wygotski (2002) nimmt er damit das Verhältnis von Mensch und Gesellschaft als ganzheitlichen bio-psycho-sozialen Geschichtsprozess wahr und begreift die Entwicklung psychischer Orientierungen als intrasubjektive Integration sozialer Lebensverhältnisse. Hinsichtlich der Modalitäten sozialer Bedeutungskonstitution gibt er mit dem Begriffspaar „Psychologisierung“ und „Rationalisierung“ im Sinne von denkbar Machen und Steuern psychosozialer Prozesse zu erkennen, dass er soziokulturelle Konfigurierung keineswegs als freie Konstruktion oder semiotische Eigendynamik konzeptualisiert, sondern deren konstruktives Moment auf die Beobachtung und Neuzusammenstellung vorgefundener sozialer Beziehungen und Praktiken zurückführt.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Meine Kritik an Elias’ Herleitung richtet sich auf zwei Gesichtspunkte: • Sie betrifft einmal das inhaltliche Ausleuchten funktionsteiliger, insbesondere geschlechtlicher Beziehungen, die er ausschließlich vom Manne her in Richtung sexueller Triebdämpfung fokussiert. Womit er die regulative Funktion der Ehe – und hier vor allem die versittlichende Rolle der Ehefrauen, wie sie in der spätaufklärerischen Literatur beschworen wird – unterschätzt. • Die andere, damit zusammenhängende, Kritik gilt der inkonsistenten Abhandlung von Subjektivität und gesellschaftlicher Gestaltung. So zeichnet Elias den Zivilisationsprozess einerseits als eigendynamisches Ineinandergreifen von Trieb und Sozialverflechtung, bei dem andererseits rationale Gelehrte mit dem nötigen Multiplikatorenstatus den Charakter von „Exekutoren“ annehmen und ungebildetere Menschen den einer formbaren Masse. Zudem erkennt er der medialen Verbreitung von Sittenschriften, Menschenschilderungen, Romanen und Filmen eine nachhaltige gesellschaftliche Formierungskraft zu.

Historizität der Psyche und die Rolle der Sprache Bleiben wir zunächst beim Subjektverständnis: Mir erscheinen Elias’ psychologische Annahmen, die der Freud’schen Triebtheorie sehr verhaftet sind, zu starr, um daraus die soziopsychischen Dynamiken der abendländischen Zivilisation auch subjekttheoretisch überzeugend abzuleiten. Ein Problem ist, dass er meines Erachtens analog Freud die Dämpfung der „sexuellen Impulse“ (Elias 1997 Bd. 2, 412) im Verhältnis zu den sozialen Funktionen der Geschlechterbeziehung überbewertet. Ein anderes sehe ich darin, dass sich nach diesem Modell Affekt und Ratio, Bewusstes und Unbewusstes im Laufe der Zivilisierung gegeneinander abdichten, statt sich, wie etwa bei Wygotski als wechselseitig verbundener interfunktionaler Gesamtzusammenhang kulturell zu entwickeln. Obwohl sich Elias wiederholt gegen die Atomisierung der Psyche verwahrt (ebd. Bd. 1, 356 f. und Bd. 2, 402) und er davon ausgeht, dass sich die Beziehungen der „Funktionsschichten der psychischen Selbststeuerung“ im einzelnen Menschen [...] „als Ganzes im Laufe des Zivilisationsprozesses entsprechend einer spezifischen Transformation der Beziehungen zwischen den Menschen, der gesellschaftlichen Beziehungen“ wandeln, folgert er, dass „das Bewußtsein weniger triebdurchlässig und die Triebe weniger bewußtseinsdurchlässig“ würden (ebd. Bd. 2, 401, Hvh. im Orig.). Dadurch entstehe jene „eigentümliche Gespaltenheit des Menschen“ (ebd. Bd. 1, 354) in eine öffentliche Sphäre 236

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erlaubten Benehmens und einen intimen Bereich unerlaubten, trieb- und körperorientierten Verhaltens, die Freud als „Über-ich“ und „Unterbewußtsein“ unterschieden habe (Elias 1997 Bd. 1, 356). Fragwürdig an dieser Argumentation ist nicht die vielfach bestätigte Beobachtung einer historischen Differenzierung von öffentlichen und privaten Lebensorten und Verhaltensweisen, sondern deren Erklärung: Die nämlich leitet Elias aus einer Verhältnisbestimmung von „Trieb“ und Bewusstsein als disparaten Bewegungen ab, welche im Verlauf der Zivilisierung immer weiter auseinanderdriften. Aus der Annahme fortschreitender Entflechtung aber würde folgen, dass „Triebe“ im Verlaufe menschlicher Vergesellschaftung etwas Ungesellschaftlich-Urwüchsiges behielten und Rationalität immer affektfreier würde, was Elias’ eigene These der Historizität der menschlichen Psyche tendenziell unterläuft. Er schreibt: „Erst wenn sich im Laufe der Menschheitsgeschichte oder [...] eines individuellen Zivilisationsprozesses die Ich- oder Überichsteuerung auf der einen Seite, die Triebsteuerung auf der anderen Seite stärker und stärker voneinander differenzieren, erst mit der Herausbildung von weniger triebdurchlässigen Bewußtseinsfunktionen erhalten die Triebautomatismen mehr und mehr jenen Charakter, den man ihnen heute [...] als eine geschichtslose, rein ,naturale’ Eigentümlichkeit zuschreibt, den Charakter des ,Unbewußten’. Und im Zuge der gleichen Transformation wandelt sich das Bewußtsein selbst in der Richtung einer zunehmenden ,Rationalisierung’: Erst mit dieser stärkeren [...] Differenzierung des Seelenhaushaltes nehmen die unmittelbar nach außen gerichteten, psychischen Funktionen den Charakter eines relativ trieb- und affektfreien, eines rational funktionierenden Bewußtseins an.“ (Elias 1997 Bd. 2, 401/402, Hvh. im Orig.)

In letzter Konsequenz hieße das, dass sich Gefühle in zivilisierten Gesellschaften kaum mehr mit Gedanken verbänden und rationales Denken sich unter zunehmendem Wegfall emotionaler Motive vollzöge – eine Gedankenführung, die die Vorstellung bedient, Rationalität funktioniere ohne subjektive Interessen. Mit ihr korrespondiert ein Mensch-Gesellschafts-Verständnis, das Menschen die bewusste, interessensgeleitete Teilhabe an gesellschaftlicher Formierung abspricht und sie allenfalls als rational vorausschauende Erfüllungsgehilfen eines eigendynamischen Geschehens definiert. Meines Erachtens sitzt Elias bei diesen psychologischen Passagen einer traditionsreichen, sprachlich nahe gelegten Auffassung disparater psychischer Antriebsfunktionen auf, die als Trennung von Ratio und Emotion, Öffentlichkeit und Privatheit für die abendländische Definition des Mann-Frau-Verhältnisses prägend geworden ist. 237

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Während mich bei Elias überzeugt, dass er den Fortgang der Zivilisierung als komplexes intersubjektives Geschehen darlegt, dessen Werden nicht auf ideellen Konstruktionen Einzelner oder Mächtiger beruht, sondern auf interdependenten menschlichen Praktiken und Orientierungen, halte ich es für ein Manko seiner Theorie, dass er die Rolle der Sprache unterschätzt und sie lediglich als schriftliches Medium zur Formulierung zivilisatorischer Eigendynamik berücksichtigt. Dadurch bleibt seine psychologische Herleitung relativ mechanisch und in gewisser Weise auch subjektenthoben. Denn mangels angemessener Konzeptualisierung der Sprache entbehrt sein Modell jener Symbolisierungsfähigkeit, mittels derer Menschen überhaupt erst vermögen, ihre Lebensumstände und sozialen Verflechtungen zu überdenken, vorausblickende „Langsicht“ zu entwickeln und ihr Verhalten introspektiv zu steuern. Mithin sind subjektive Potentiale wie Phantasie, Wille, Interesse, Planung, die aufgrund sprachlich-symbolischer Auseinandersetzung, also durch Abstraktion, Verallgemeinerung und Synthese des Erfahrenen möglich sind, unzureichend ausgeleuchtet. Reformuliert man aber Elias’ Modell unter Mitdenken der Sprache, ergibt sich ein schärferer Blick auf die Machart des zivilisatorischen Umbaus der menschlichen Psyche und die sprachliche Aufspaltung von Ratio und Affekt: Erste Reformulierung: Sprache als Mittel der Reflexion, Langsicht und Gestaltung Auch Wygotskis Psycholinguistik, die Denken als eine aus historischer Praxis generierte Symbolisierungs- und Synthetisierungsfähigkeit begreift, schließt die vorbildlose Konstruktion von Sitten und Habiti aus. Allerdings impliziert sie, dass die sprachliche Reflexion von Verkehrsund Verhaltensweisen, arbeitsteiligen Praktiken und Zuständigkeiten auch deren willentliche Regulierung einschließt; – wenngleich sich das in den Grenzen dessen hält, was auf dem jeweiligen historischen Entwicklungsstand handlungspraktisch-sprachlicher Bedeutungsdialektik denk- und kommunizierbar ist. Ein gutes Beispiel sind gerade die von Elias als „Psychologisierung“ ausgewiesenen Menschenbeobachtungen und -schilderungen, wo aus dem Studium vorgefundener Verhalten neue, erfahrungsdurchdrungene Ausdrucksformen und Sittenlehren abgeleitet wurden (Elias 1997 Bd. 2, 385 f. und Anmerkung S. 468). Hier wurde, wie Elias selbst immer wieder ausführt, Neues nicht einfach erdacht, sondern es wurde aus „Form- und Gefühlselemente[n]“ des Vorausgegangenen „Neues“ synthetisiert (ebd. Bd. 2, 121). Denn: „die Ge-

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schichte hat ihre Kontinuität: die Späterkommenden knüpfen wissentlich oder nicht an das Vorhandene an und führen es fort“ (ebd.). Nach Wygotski erklären sich solche, Altes mitschleppende Neuformierungen aus mehr oder minder reflektierter sprachgeleiteter Deutung, die im Zusammenspiel mit Praxis immer durch historisch herausgebildete Bedeutungen hindurch erfolgt. Demnach ist sowohl das Einordnen neu beobachteter Phänomene als auch das Gestalten des Herkömmlichen stets sprachlich weitergegebenen Sinngebungsmustern verhaftet. Das heißt, neue Begriffe, Sittenlehren, Sichtweisen entstehen durch Abstraktion und sprachlich-handlungspraktische Neusynthetisierung von Elementen. Und hier spielt der sprachlich antizipierte, willentliche Plan sehr wohl eine Rolle. Die von Elias verflechtungsdynamisch ausgelegte rationalisierende „Psychologisierung“, in der Bedeutung von denkbar Machen, empirischem Durchdringen und Umkomponieren des Psychischen in Menschenschilderungen und Verhaltenslehren wäre also zu reformulieren als sprachgeleitete subjektive Reflexion und Neusynthetisierung vorgefundener menschlicher Praktiken, in die sehr wohl subjektive Interessen und Sichtweisen einfließen. Zweite Reformulierung: Alltagspraxis, Kommunikation und diskursive Systematisierung Ich bin überzeugt, dass solche intersubjektiv verflochtenen Steuerungsprozesse in der tagtäglichen Kommunikation und Handlungspraxis gang und gäbe sind und dass die scheinbar „blinde“ – weil als Gesamtprozess nicht zu überschauende – Dynamik gesellschaftliche Entwicklungen in hohem Maße bestimmt. Mithin kommen die Praktiken und Langsichten alltäglich agierender Frauen und Männer ins Spiel, die keineswegs als bloße Opfer, sondern als konstituierende Subjekte des Zivilisierungsprozesses zu verstehen sind. Zugleich messe ich auch institutionell systematisierten Methoden und Diskursen eine hohe Definitionsmacht bei. Neben den Klöstern und Handwerkszünften hatten die in den Zentren politischer und wirtschaftlicher Macht agierenden „großen Denker des Abendlandes“ mit ihren universitär ausgehandelten Denkmethoden und ihrer immensen schriftlichen Verbreitung herausragende Multiplikatorenpositionen inne. Ihr Wirken als „Hebelarme“ der Zivilisation (Elias 1997 Bd. 2, 407) war, wie ich noch zeige, keineswegs frei von subjektiven Intentionen und gab gerade auch der geschlechtlichen Formierung des Abendlandes ein besonderes Gepräge.

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Dritte Reformulierung: Sprachlich vermittelte Interdependenz von Intellekt und Affekt Auch Elias’ ahistorische Entzweiung von Affekt und Ratio lässt sich durch Hereinnahme der Sprache reformulieren, wenn man mit Wygotski (2002) davon ausgeht, dass die Sprache ein sich historisch fortentwickelndes, intellektuelle und affektiv-volitionale Aspekte integrierendes Bedeutungssystem ist: Nach Wygotskis Modell wäre die Zivilisierung der menschlichen Psyche als interfunktionale Weiterentwicklung intellektueller und emotiver Geistesfunktionen zu verstehen, die mit dem Wandel der gesellschaftlichen Lebensweisen und somit auch mit dem Wandel der Bedeutungen von Verhalten, Handlungsbedingungen und -zielen korrespondiert. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass sich mit zunehmender gesellschaftlicher Verflechtung und politischer Zentralisierung ja nicht nur die soziale Kommunikation stetig erweitert und sprachlich vereinheitlicht, sondern dass mit der Transformation der Lebensverhältnisse auch die sie repräsentierenden Wortbedeutungen und Begriffe weiterentwickelt werden. Das heißt, es ändern sich nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst, sondern auch deren sprachvermittelte Wahrnehmung, das Denken und der Affekt. Der (für archaischere Gesellschaften angenommene) unvermitteltere situative Affekt wandelt sich demnach sukzessive zugunsten gesellschaftlich kommunizierter sprachlicher Bedeutungserfassung. Ähnlich wie Wygotski (1987; 2002) zur kindlichen Entwicklung darlegt, lässt sich herleiten, dass mit der gesellschaftlichen Entwicklung und Angleichung des Sprachgebrauchs Handlungsimpulse immer weniger dem situativen Reiz verhaftet sind, weil sie mehr und mehr durch kulturell definierte, sprachlich transferierte Sinngebung vermittelt werden. Indem sich also emotive Valenzen zunehmend durch sprachliche Deutung und Reflexion brechen, werden sie zunehmend zu gedanklich erfassten Motiven und Gefühlslagen langfristig ausgerichteter Handlungsorientierung. Aus der Annahme fortschreitender sprachlicher und damit kultureller Durchdringung von Affekten folgt zugleich, dass Menschen mit dem Fortgang der Zivilisation nicht wirklich „affektneutraler“ werden. Vielmehr wandeln sich Wirkungen, Inhalte und Erscheinungsformen der Affekte, indem sie sich in gedanklich durchdrungene Gefühle und Interessen transformieren, die sich weniger impulsiv äußern. Dem widerspricht keineswegs, dass emotional-körperliche Regungen oder Interessen durch kulturelle Reglementierung unterdrückt, aufgeschoben und aus der Öffentlichkeit in den „privaten“ Innenraum des Hauses oder den seelischen „Innenraum“ des Individuums verbannt

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werden, wo sie infolge sprachlicher Tabuisierung auch den Charakter von „Unbewusstem“, sprachlich nicht oder nur verzerrt Deutbarem annehmen können. Im Gegenteil: für den Aufschub und die Bewältigung der Affekte in intersubjektiven häuslichen bzw. intrapsychischen gedanklichen Auseinandersetzungen, ja selbst für ihre Tabuisierung, stellt die Sprache überhaupt erst die Voraussetzung dar.

Zur zivilisatorischen Funktion der Frauen Mit der Verschiebung der Affektbewältigung in den häuslichen und psychischen „Innenraum“ bin ich bei der zivilisatorischen Bedeutung der Familie, respektive der mit Privatheit, Innerlichkeit und Gefühl konnotierten Frauen angelangt sowie bei der Spaltung von öffentlicher Ratio und Affekt, die sich ebenfalls aus der Reformulierung der Elias’schen Zivilisationstheorie erhellt. Wie gesagt, fokussiert Elias den Zivilisierungsprozess vom Manne her, vom Krieger, Höfling oder Bürger. Und obwohl er ständig die sozialen Beziehungen und die psychologische Beobachtung des Einzelnen „in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit [...], als ein Mensch in seinen Beziehungen zu anderen“ (Elias 1997 Bd. 2, 386, Hvh. im Orig.) betont, bleibt seine inhaltliche Beschreibung der sozialen Beziehungen abstrakt. Das gilt besonders für Geschlechtsbeziehungen, die er vorwiegend unter dem Gesichtspunkt männlicher Sexualität thematisiert. Selbst hinsichtlich des „primären Züchtigungsorgan[s]“, der bürgerlichen Familie, differenziert Elias (ebd. Bd. 1, 352 ) nicht zwischen der häuslichen, anwesenden Mutter und dem erwerbstätigen, abwesenden Vater, sondern spricht lapidar von „Reflexen“ (ebd. 353), die sich innerhalb familiärer Sozialisation „automatisch“ (ebd.) übermitteln. Unverkennbar ist hier die androzentrische Außenansicht familiärer Prozesse, die sowohl die Ebene der Reproduktion als auch die Frage des wirtschaftlichen Fortbestandes während der kriegerischen Abwesenheit der Männer ausgrenzt. An einer Stelle jedoch, wo es um die Verhöflichung der Krieger im 12. Jh., die Bildung großer Feudalhöfe und die Entfaltung des Minnesangs geht, schreibt er: „Gewiss war an diesen Höfen die Männerherrschaft keineswegs [...] gebrochen. Für den Herrn dieses Hofes stand noch immer seine Funktion als Ritter und Kriegsführer allen anderen voran; auch seine Ausbildung war [...] zentriert um das Waffenhandwerk. Gerade deswegen war die Frau ihm in der Sphäre der friedlichen Geselligkeit überlegen. Wie so oft in der Geschichte des Abendlandes war auch hier zunächst nicht der Mann, sondern die Frau einer höheren Schicht für geistige Bildung, für Lektüre freigesetzt; die Mittel der gro-

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ßen Höfe gaben der Frau die Möglichkeit, ihre Freizeit zu füllen und solchen Luxusbedürfnissen nachzugehen; sie konnten Dichter, Sänger, gelehrte Kleriker heranziehen; und so entstanden zuerst um die Frauen herum Zirkel friedlicherer, geistiger Regsamkeit.“ (Elias 1997 Bd. 2, 118)

Ob und in welcher Art die ausgeprägtere Bildung, das „Heranziehen“ von Dichtern und Klerikern den sozialen und wirtschaftlichen Aufgaben besagter Adelsfrauen zugute kam, die oft die Verantwortung für die Kinder der gesamten familia, die Überwachung der Abgabenerhebung bei den Bauern sowie die damals hoch aufwändige hausinterne Versorgung (Duby/Barthélemy 2000; Bennewitz 1996) zu bewältigen hatten, lässt Elias offen. Zur zivilisierenden Funktion jener Frauen konstatiert er lediglich: „Die Zwänge, die auf dem Triebleben der Frau lasten, sind von jeher in der abendländischen Geschichte [...] erheblich größer, als die des ebenbürtigen Mannes. Daß die Frau dieser Kriegergesellschaft in hohen Positionen und dementsprechend mit einem gewissen Maß von Freiheit immer weit eher und leichter zur Bewältigung, Verfeinerung, zur fruchtbaren Transformation der Affekte gelangt, als der gleichgestellte Mann, mag [...] auch ein Ausdruck dieser beständigen Gewöhnung und der frühzeitigen Konditionierung in dieser Richtung sein. Sie ist auch im Verhältnis zu dem nach außen gleichstehenden Mann ein abhängiges, ein sozial niedrigerstehendes Wesen.“ (Elias, ebd. Bd. 2, 119/120)

Mit diesen Worten interpretiert Elias also den zivilisatorischen Vorlauf der Frauen (vgl. dazu auch Marianne Weber 1907/1989 und Günther et al 1973) als Ergebnis konditionierender sozialer Unterlegenheit. Mit demselben Argument erklärt er zum Minnesang, dass „die Beziehung des sozial niedrigstehenden und abhängigen Mannes zu der sozial höherstehenden Frau jenen zu einem An-sich-Halten, zur Versagung, zur Bändigung der Triebe und damit zur Umformung [ge]nötigt“ habe (ebd. Bd. 2, 120). Auf die Idee, dass die frühere Zivilisierung der – im Gegensatz zu den mit Waffenhandwerk und Trinkgelagen befassten Männern (Marianne Weber 1907/1989) – häuslich anwesenden, gebildeteren Adelsfrauen Ausdruck vorausschauender, sprachlich durchdrungener Langsicht gewesen sein könnte, die sich nicht nur aus Abhängigkeit, sondern vor allem auch aus sozialer und wirtschaftlicher Verantwortung speiste, kommt Elias nicht. Auch nicht auf den bei Marianne Weber ausgedrückten Gedanken, Lesefähigkeit sowie das Heranziehen von Klerikern und

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Dichtern habe der sittlich-kulturellen Horizonterweiterung gegolten.2 Zugleich verschließt er sich der naheliegenden Folgerung, dass Minnelieder, die nach seiner Ansicht weder als Konvention noch als poetischer Ausdruck „hätten entstehen können, wenn echte Erfahrung und Empfindung dieser Art fehlten“ (Elias 1997 Bd. 2, 120), etwas über die emotional wirksamen sozialen Funktionen der besungenen Frauen ausgesagt haben könnten. Obwohl Elias Vaganten- und auch Marienlyrik, aus der man „Form- und Gefühlselemente“ nahm, um „daraus etwas Neues“ (ebd. Bd. 2, 121) zu bilden, als Vorläufer des Minnesangs anführt, vermag er nach eigenen Worten nicht, dessen zivilisierten Charakter im Kontext weiblich zentrierter „Zirkel friedlicherer, geistiger Regsamkeit“ einzuordnen. Bei Marianne Weber (1907/1989, 265) – derzufolge im Minnesang an „halb-sinnliche Verehrung der Madonna“ anknüpfende „religiöse Empfindungsformen“ mit der „Gedankenwelt der Askese“ zusammenflossen – klingt hingegen an, dass der Minnesang eine Mischung aus Projektion und lyrischer Spiegelung der Adelsfrauen gewesen sein mochte; eine Lyrik, die ein überliefertes Mutterbild auf neue Verhältnisse anwandte.3 Auch bei der Interpretation der frühen kulturellen Leistungen adeliger Frauen, die Elias lediglich als Konditionierungsergebnis patriarchalischer Machtgefüge zu deuten weiß, scheint mir das Hauptproblem die auf Freud zurückgehende undialektische Verhältnisbestimmung von Trieb und Ratio zu sein, mit der Elias der sprachlich überlieferten Spaltung von öffentlicher männlicher Ratio versus innerer weiblicher Emotion aufsitzt. Begreift man hingegen die kulturelle Wandlung des Psychischen nicht als Disparierung von Ratio und Affekt, sondern als sprachgeleitete interfunktionale Transformation kognitiver und emotionaler Antriebe, was ja die Möglichkeit von Affektaufschub und gedanklicher Bewältigung beinhaltet, rückt die zivilisatorische Funktion des „inneren 2

3

Zur Frauenbildung des 12. Jhs. schreibt Marianne Weber (1907/1989, 264): „Der ins Deutsche übersetzte Psalter war, wie auch der Sachsenspiegel erkennen lässt, die häufigste, hie und da bis in bäuerliche Kreise verbreitete, weibliche Lektüre. – Fürsten und Königstöchter studierten zuweilen die klassischen Sprachen, und als das Aufblühen der weltlichen Lyrik und Epik das literarische Interesse erweiterte, lernten vornehme Jungfrauen bei den fahrenden Spielleuten, welche die Poesie ihrer Zeit von Land zu Land trugen, auch die Sprachen der Nachbarvölker.“ Bedenkt man, dass feudale Macht im 11./12. Jh. über Generativität gesichert wurde und die Ehre des pater familias von der außerehelichen Keuschheit seiner Ehefrau abhing (Duby/Barthélemy 2000), lässt sich die Minnelyrik noch weitgehender deuten: Als diplomatische Einflussnahme, die ihren Weg über die friedlichere Hausherrin suchte, ohne die Fortpflanzungshoheit des Patriarchen anzutasten. „In der Mitte des Spinnennetzes der Macht“, schreiben Duby/Barthélemy (ebd. 79) „saß immer ein Paar“. 243

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Hauses“ in den Blick. In dessen Mittelpunkt standen – über alle historischen und standesspezifischen Unterschiede der Familienstrukturen hinweg – seit dem Hohen Mittelalter die Ehefrauen der adeligen Ritter, Handelskaufmänner, Handwerker und Bürger (Marianne Weber 1989; Wunder 1993a und b; Duby/Barthélemy 2000). Vierte Reformulierung: Vom „Inneren des Hauses“ zur individuellen Selbstregulierung: Die große zivilisatorische Bedeutung des um die Ehefrau zentrierten „inneren Hauses“ wird noch deutlicher, wenn man Elias’ und Wygotskis Theoriebildung unter der Annahme der sprachgeleiteten interfunktionalen Transformation von Ratio und Affekt zusammenführt: Verschränkt man nämlich • Elias’ sozialhistorischen Befund zur psychologischen Menschenbeobachtung, die den Einzelnen stets „in seiner gesellschaftlichen Verflochtenheit [...], als Mensch in seinen Beziehungen zu anderen“ (1997 Bd. 2, 386, Hvh. im Orig.) wahrgenommen hat, mit der sprachgenetischen These Wygotskis (2002), derzufolge die indi• viduelle wie die kulturelle Sprachentwicklung aus sympraktischem interpersonellem Sprechen und Handeln hervorgeht, treffen sich beide Zugänge in der Konzeptualisierung der individuellen menschlichen Psyche als einer aus dem Sozialen erwachsenen Entität. Weist der Historiker soziale Verflochtenheit als historische Vorstufe des individuellen Subjektes aus, gibt der Psycholinguist individuelles Denken als eine aus Intersubjektivität hervorgegangene intrapsychische Verwendung sozial generierter Bedeutung zu verstehen. Damit wird – zunächst als psychogenetisches Modell – plausibel, dass nicht nur bei der kindlichen Sozialisation das soziale „Innere“ des Hauses den psychologischen Vorläufer individueller Verhaltensregulierung bildet, sondern auch auf kultureller Ebene die intersubjektive häusliche Affektbewältigung der intrapsychischen Gefühlsreflexion vorausgeht. Mit anderen Worten: Für das Mittelalter und auch für die Frühneuzeit ist davon auszugehen, dass auch bei Erwachsenen das Beherrschen „des tierischen Inneren“, mit dem sich noch Kant abmühte, überwiegend auf zwischenmenschlich-familiären Bewältigungsformen beruhte, bei denen Frauen eine zentrale psychosoziale Funktion zukam. Nicht umsonst war es in der Renaissance, der Phase starker Zivilisierungsschübe und Neubewertung der Pädagogik, ein probates didaktisches Mittel humanistischer und klerikaler Gelehrter, in den dialogisch (!) gehaltenen

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Schulbüchern zur sittlichen Knabenunterweisung Mädchen und Frauen sprechen zu lassen.4 Erst mit zunehmender sozialer Vernetzung und Vereinheitlichung der Sprache sowie mit der schulischen Institutionalisierung von Erziehung dürfte aus der sozialen, innerfamiliären Affektbewältigung das öffentlich thematisierte Erziehungsziel „innerer“, individueller Triebregulierung geworden sein. Mithin wäre die fortschreitende Bewältigung von Affekten und körperlichen Funktionen „hinter verschlossene[n] Türen“ des Hauses (Elias 1997 Bd. 1, 354) ein Indikator für eine lange tradierte zivilisatorische Bedeutung der Frauen, respektive der Ehefrauen und Mütter, was als brisanter Untertext in den Geschlechtscharakteristiken des ausgehenden 18. und des 19. Jhs. mitschwingt. Dass diese Aufgabe weit mehr umfasste, als die viel erörterte Zügelung des männlichen Sexus, zeigten vor der spätaufklärerischen und klassischen Literatur bereits hochmittelalterliche und frühneuzeitliche Ehelehren, die schon damals den Frauen eine versittlichende Rolle zuschrieben (Bennewitz 1996; Müller 1993). Sollte es aber seit dem Hohen Mittelalter zur Ehefrauenrolle gehört haben, gedanklich vorausschauend und damit rational auf Leib, Seele und Verhalten ihrer Männer einzuwirken, deutet sich zugleich an, dass die abendländische Spaltung von männlicher Ratio versus weiblicher Gefühlsund Körperhaftigkeit einer sehr speziellen Begriffsbildungslogik gefolgt sein muss. Wenn nun, wie Elias (ebd. Bd. 2, 412 und 428) konstatiert, vor allem die mittelständische, durch Berufsarbeit und Handel bestimmte Zivilisierungslinie die Trennung von Öffentlichkeit und häuslicher Privatheit bzw. gesellschaftlichen Handlungsfeldern und psychosozialem „Innenraum“ forcierte, dürfte die These frauenzentrierter häuslicher Affektbewältigung besonders auf die durch gemeinsame Erwerbsarbeit geprägten Familienstrukturen zutreffen. Eine wichtige traditions- und moralbildende Rolle spielte in den erwerbstätigen Schichten, wie Elias (ebd. Bd. 2, 412 f.) ebenfalls anmerkt, die Reformation, die die familiäre Transformation der klösterlich präformierten Arbeits- und Sexualdisziplin vorantrieb, indem sie die moralische Aufwertung von Arbeit (Max Weber 1920/1965) mit entsprechenden Ehe- und Familienlehren verschränkte. Soziopsychisch ging dieser Prozess mit der Individualisierung und Evangelisierung religiöser Regularien einher, die mit Luthers Bibelübersetzung eingeleitet und von der Gegenreformation aufgenommen worden war (Ariès 2000; Lebrun

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Vgl. Elias (1997 Bd. 1, 330 f.) zur Didaktik der Knabenerziehungsschriften bei Erasmus von Rotterdam und Morisotus. 245

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2000).5 Neue religiöse Praktiken wie die muttersprachliche protestantische Predigt, das in beiden Konfessionen durchgesetzte individuelle Gebet oder die kathechetische Hausandacht förderten die Bildung des „inneren“ Gewissens und garantierten zugleich dessen gesellschaftliche Vereinheitlichung (ebd.). Dabei unterschieden reformatorische wie gegenreformatorische Familienlehren klar zwischen der für Hausökonomik, Kleinkinderziehung und Krankenpflege zuständigen Hausmutter und dem zum Erwerb berufenen Hausvater (ebd.), was ab der zweiten Hälfte des 16. Jhs. in geschlechtsgetrennten konfessionellen Bildungswegen institutionalisiert und durch die christliche Hausväterliteratur bis ins 18. Jh. transferiert wurde (Lebrun 2000; Conrad 1993; Dürr 1996). Dass sowohl bei den frühneuzeitlichen Zivilisierungsschüben als auch bei der späteren bürgerlichen Kultivierung das Buch, die Lektüre, wie Elias stets betont, entscheidend waren, bestätigt die zentrale Rolle der Sprache als Mittel der gedanklichen Vergegenständlichung, Kommunikation und Vereinheitlichung sozialer Bedeutungen und psychischer Orientierung.

Zusammenfassende Thesen: Für die nun anstehende Erörterung der Soziogenese geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe fasse ich die sprachtheoretisch basierten Reformulierungen von Elias’ Zivilisationstheorie in vier Thesen zusammen: 1. Unter Berücksichtigung der Sprache als Instrument der Kommunikation und gedanklichen Reflexion (Wygotski 2002) stellt sich die Zivilisierung des menschlichen Verhaltens weder als machtpolitischer Willkürakt noch als „blinde“ gesellschaftliche Eigendynamik dar, die sich „reflexartig“ übermittelt. Vielmehr ist Zivilisierung als komplizierter Prozess gesellschaftlicher Bedeutungsaushandlung anzusehen, der sich reziprok zur Entwicklung und Verflechtung menschlicher Praktiken und Kooperationsbeziehungen vollzieht. Folgt man Wygotskis These zur Interdependenz von praktischer Tätigkeit und reafferenter sprachlicher Bedeutungsentwicklung, dann dürfte die alltägliche Kommunikation der Arbeits- und Lebenspraktiken und al5

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Die im Zusammenhang schwindender klerikaler Glaubwürdigkeit zu sehende Evangelisierung des Glaubens, also das Betonen des neutestamentarischen Botschaftscharakters, spielte Lebrun (2000) zufolge eine zentrale Rolle bei der Verdiesseitigung und individuellen Überantwortung ethischreligiöser Regeln. Mit der Übersetzung der Bibel war Gottes Wort nicht länger Auslegungssache des Klerus, sondern wurde innere Gewissensangelegenheit der Laien und Maßstab verantwortungsvoller Lebensführung.

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so auch die sprachliche Reflexion der Passung von sittlichen Gebräuchen zu den komplexer werdenden gesellschaftlichen Beziehungen eine strukturierende Rolle bei der Kultivierung von gesellschaftlicher Praxis gespielt haben. Unter Mitdenken der Sprache werden somit menschliche Gestaltungspotenzen des gesellschaftlichen Prozesses sichtbar, die nicht nur auf der Ebene politischer Macht, sondern auch auf der Ebene der alltäglich handelnden Bevölkerung anzunehmen sind. Immerhin ist die Sprache die Voraussetzung für die Ausbildung langsichtiger Verhaltenssteuerung, die über die unmittelbare Situationswahrnehmung und Erfahrung hinausgeht. 2. Mit der Reformulierung des Zivilisierungsprozesses im Sinne einer reziprok zur gesellschaftlichen Praxis erfolgenden Bedeutungsaushandlung sind zugleich subjektive Deutungen und Interessen thematisiert, die in diesen Prozess eingehen. Wie in der sprachtheoretischen Auseinandersetzung hergeleitet, schließt die Annahme eines bedeutungskonstitutiven Zusammenhangs von sozialem Verkehr und sprachlicher Verallgemeinerung (Wygotski 2002) bezüglich hierarchisch-arbeitsteiliger Gesellschaften auch machtpolitische Einflüsse ein. Demnach ist die Frage, welche sozialen Sichtweisen und Interessen bei der Aushandlung kultureller Bedeutungen prominent werden, auch eine Frage der Teilhabe an politischer Macht und öffentlichen Diskursen. So gesehen dürfte sich das Wirken der humanistischen „Denker des Abendlandes“ kaum darauf beschränkt haben, die „Strukturwandlungen des gesellschaftlichen Gewebes“ zu „reinigen“ und mit einem „vorbildlichen Ausdruck“ zu versehen (Elias 1997 Bd. 2, 406/407). Verankert in den aufblühenden Universitäten, verbunden mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen und verbreitet durch den Buchdruck ist vielmehr anzunehmen, dass die akademisch Gelehrten sowohl hinsichtlich der juristischen und sittlichen Regulierung des sozialen Lebens als auch hinsichtlich der sprachlichen Ausdeutung psychosozialer Prozesse eine beträchtliche Definitionsmacht erlangten. 3. Elias (1997 Bd. 2, 401/402) beurteilt die „Rationalisierung“ des menschlichen Verhaltens unter Verdrängen der leib-seelischen Belange als fortschreitende „Entflechtung“ von Ratio und Affekt, infolge derer die langsichtigen „Bewußtseinsfunktionen“ immer „weniger triebdurchlässig“ geworden seien, während die „Triebautomatismen“ den Charakter des „Unbewußten“ angenommen hätten. Geht man jedoch mit Wygotski (1987; 2002) von der interfunktionalen Entwicklung psychischer Funktionen (Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Ge247

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dächtnis, Denken und Affekt) aus; und bedenkt man, dass sich die psychische Entwicklung mit dem Spracherwerb zugunsten bedeutungshafter, vorausschauender Orientierung reorganisiert, stellt sich die zivilisatorische Umformung der menschlichen Psyche nicht als „Entflechtung“, sondern als ganzheitliche, sprachlich vermittelte Transformation intellektueller und emotionaler Antriebe dar. Denn wenn mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität immer größere raum-zeitliche Distanzen des sozialen Austausches zu überbrücken waren, dürfte nicht nur die kommunikative Entwicklung und Vereinheitlichung sprachlicher Bedeutungen vorangetrieben worden sein. Es muss auch das kategoriale Denken eine immer wichtigere Rolle für das Erfassen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gespielt haben. Womit man nach Wygotski annehmen kann, dass sich unmittelbarere Formen von situationsverhafteter Wirklichkeitsdeutung immer mehr in vorausschauende, sprachlich reflektierte Langsicht gewandelt haben. Das heißt, dass sich nicht nur Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis zugunsten kategorialer Sinnerfassung transformierten. Auch impulsive Affekthandlungen dürften sich zu gedanklich und mithin sprachlich durchdrungenen Gefühlen und Motiven weiterentwickelt haben. Da sprachliche Bedeutungsgebung zuerst kommunikativ entwickelt wird, bevor sie dem individuellen Denken zur Verfügung steht, ist auch anzunehmen, dass die mit der Zivilisierung verbundene tief greifende psychosoziale Transformation zunächst auf intersubjektiver Ebene vonstatten ging, bevor sie zur individuellen Selbstregulation werden konnte. 4. Aus der Verschränkung von Elias’ sozialhistorischem Befund der Beobachtung von Menschen in ihren sozialen Beziehungen mit Wygotskis These der Entwicklung des Individuellen aus dem Sozialen leitet sich eine besondere Rolle der Frauen, respektive der im „inneren des Hauses“ wirkenden Ehefrauen und Mütter bei Zivilisierung des menschlichen Verhaltens her. Nämlich die Funktion der intersubjektiven, sprachlichen und handlungspraktischen Bewältigung der ins Private verlagerten leib-seelischen Bedürfnisse und Affekte, die nach Wygotski der intrasubjektiven gedanklichen Selbstregulierung sowohl ontogenetisch als auch kulturgeschichtlich vorausgeht.

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1 4 . 2 F a m i l i a r i s i e r u n g d e r Ar b e i t und die Genese des individuellen Subjekts mit seiner Ehefrau Kommen wir zur Rekonstruktion der frühneuzeitlichen Entwicklung geschlechtlicher Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe, die ich mit der Erörterung von Heide Wunders historischen Arbeiten über den Zusammenhang von familialer Arbeit, ehelicher Vergesellschaftung und geschlechtlicher Funktionsteilung beginnen will. Auch Wunders Forschungsergebnisse werde ich zuerst vorstellen und mit weiteren historischen Befunden komplettieren, um sie anschließend einer sprachtheoretischen Auseinandersetzung zu unterziehen.

Familiale Vergesellschaftung Heide Wunder (1993a; 2001) beurteilt die Familiarisierung der Arbeit, die sukzessive zur Ablösung des herrschaftlichen Sozialverbandes familia durch die bürgerliche Kleinfamilie geführt hatte, als grundlegenden Prozess, der die Arbeitsweise, das Verhältnis von Arbeit und Leben sowie die sozialen und emotionalen Beziehungen tief greifend verändert hat. Das Entstehen der familiären Wirtschafts- und Reproduktionsweise war Wunder (1999 I) zufolge konstitutiv für die Entwicklung politischer Verwaltungsstrukturen in Städten und Gemeinden und bildete die sozialhistorische Basis für die Aufwertung herstellender Handarbeit zur Werte und Rechte begründenden Tätigkeit. Der Ehe misst sie dabei eine zentrale Bedeutung zu. Die ersten Familiarisierungsschübe hatten Wunder (1993a und b) zufolge bereits im 11./12. Jh. mit der Kommerzialisierung agrarischer und gewerblicher Waren eingesetzt, worauf die damalige Welle der Stadtgründungen und des Landesausbaus mit verdichteten dörflichen Siedlungen basierte. Sie beinhalteten die Verlagerung eines großen Teils der agrarischen und handwerklichen Produktion aus herrschaftlichen Großhaushalten in kleine Familienhaushalte. Im Unterschied zur Fronwirtschaft, wo Leben und Arbeit von abhängigen bäuerlichen Haushalten sowie einer großen Zahl lediger Männer und Frauen herrschaftlich geregelt war, arbeiteten die kleinen bürgerlichen und bäuerlichen Familienwirtschaften marktbezogen und organisierten ihre Versorgung selbst. Unter historischen Bedingungen, in denen noch kein Staat gebildet war, gelang dies nur auf Grundlage der gemeinsamen Arbeit von Hausvater und Hausmutter als einer in der Regel gleichartigen und gleichwertigen Arbeit (Wunder 1993b), wobei den Frauen neben der Erwerbsarbeit auch die Versorgung des Haushaltes und der Kinder oblag (ebd.). Die 249

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bäuerlichen, handwerklichen und kaufmännischen Arbeitsehepaare betrachtet Wunder (2001 und 1999 I) als soziale Basis der Neuorganisation des Wirtschaftens und den historischen Ursprung der Kleinfamilie, welche sich zunächst neben dem herrschaftlichen Sozialverband familia etablierte. Während des epochalen Umbruchs im 15./16. Jh., als mit der Entwicklung frühkapitalistischer Wirtschaftsstrukturen, der Bildung von Zentralstaaten und absolutistischen Fürstenhöfen ein wesentlicher Schritt von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft vollzogen wurde, erweiterte sich familiäre Arbeit um die Dimension der Lohnarbeit (Wunder 1993b): Mit der Ausweitung des Welthandels, dem Bedeutungszuwachs nationaler Märkte, der beginnenden Industrieproduktion und Neuentwicklung landwirtschaftlicher Verfahren waren neue Arbeitsfelder und neue Arbeitsteilungen unter den Städten, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Männern und Frauen entstanden (Wunder ebd.). Die Kommerzialisierung der Warenherstellung, von der im 11./12. Jh. besonders Handwerks- und Kaufmannsfamilien profitiert hatten, setzte sich im 15. Jh. in der Professionalisierung von Lohnarbeit fort. Lohnarbeit wurde zur dominanten Existenzform in Stadt und Land und setzte sich in Stadtregimenten und an Fürstenhöfen als akademische Lohnarbeit durch (Wunder 1993b; 1999 I). Den sozialen Rahmen dieser Entwicklung bildete eine weitere Familiarisierungswelle. Durch die Ausweitung kirchlicher Heiratsmöglichkeiten begünstigt,6 konnten sich auch Menschen aus unterbäuerlichen und unterbürgerlichen Schichten durch Heirat verselbstständigen und aus herrschaftlichen Großhaushalten lösen (Wunder 2001). Das bäuerliche und bürgerliche Arbeitsehepaar wurde nunmehr auch zum Vorbild für Ehepaare, deren wirtschaftliche Grundlage großenteils auf Lohnarbeit beruhte (Wunder 1993b; 1999 I). Zusammen mit der reformationsbedingten Auflösung vieler Klöster und Stifte minderte sich damit die Bedeutung des herrschaftlichen Wirt6

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Im Hohen Mittelalter hatte sich eine normative Struktur der Geschlechtsbeziehungen gebildet, die für die besitzenden Stände die Ehe, für Kleriker, Mönche und Nonnen aber das Zölibat als höherwertige Lebensform vorsah. Daneben standen große Gruppen zeitweilig eheloser Menschen, über deren Eheschließung Feudalherren zu bestimmen hatten (Gesinde) oder deren berufliche Qualifikation ausschlaggebend für eine Heirat war (Ritter, Gesellen). Für das Zusammenleben von Männern und Frauen niedrigeren Standes galt das Konkubinat als Rechtsform, das im Gegensatz zur Ehe keine versorgungs- und erbrechtlichen Ansprüche der Kinder und Frauen beinhaltete. Weit verbreitet und kirchlich sanktioniert war die Prostitution, die einesteils einen Schutz der bürgerlichen Töchter darstellte. Andernteils war sie eine Existenzsicherungsmöglichkeit unverheirateter Frauen aus den unteren Schichten. Für die unverheirateten Frauen der oberen Schichten waren das die Klöster (Wunder 2001).

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schafts- und Sozialverbandes familia erheblich (Wunder 1993b; 1999 I). Anstelle der auf herrschaftliche Bedürfnisse ausgerichteten Fronwirtschaft dominierte nunmehr marktbezogene familiale Arbeit, die durch arbeitsteilige Beziehungen zwischen den städtischen Handwerken, dem Handel und spezialisierter landwirtschaftlicher Arbeit geprägt war (ebd.). Den sozialen Kern dieser Wirtschaftsweise bildete das Arbeitsehepaar mit seinem Haushalt, das jetzt auch als Ordnungssystem die Nachfolge der familia antrat und gegenüber der Obrigkeit verantwortlich wurde (ebd.).

Die Ehe als erste Vergesellschaftungsinstanz Im Zusammenhang dieser Entwicklung transformierte sich die Ehe von einer an Vermögen und Besitz gebundenen Institution dynastischer Herrschaft zur Grundlage bürgerlicher Verselbstständigung (Wunder 1993a). Kirchlich gefördert war die familiäre Wirtschafts- und Reproduktionsweise durch Erheben der lebenslangen Einehe zum Sakrament im Jahre 1184 und die Einführung der Konsensehe, die Heirat ohne herrschaftliche oder elterliche Zustimmung erlaubte (Wunder 2001). Bis zum 16. Jh. entwickelte sich die Ehe zur vorherrschenden Lebensform und zum gesellschaftlichen Ordnungsprinzip, das als berufsqualifizierend galt (Wunder 1999 I). Im Unterschied zu Max Webers gefühlsakzentuierter Deutung betont Wunder (1999 I, 107, Hvh. I.A.) den „rational“ geplanten Charakter der Ehe und wertet sie als „erste Form der Vergesellschaftung“ mit weit reichenden sozialen und mentalen Konsequenzen: Die wirtschaftliche und soziale Verselbstständigung kleiner Familien bedeutete, dass diese erwerbend am Marktgeschehen teil hatten und Rechte am Arbeitsertrag einschließlich des Rechtes auf Vererbung erwirkten. Damit erweiterten sich die Planungs- und Denkhorizonte, die nicht mehr nur auf die unmittelbare Lebenserhaltung und Erfüllung herrschaftlich vorgegebener Aufgaben gerichtet waren, sondern zukunftsgerichtete Dimensionen der Arbeitsplanung, sozialen Reputation, politischen Interessensvertretung und des generativen Fortbestandes der Familie beinhalteten (Wunder 1999 III). Die für das Geschlechterverhältnis wesentliche Frage der Kindererziehung blieb kein privilegiertes Interesse des Adels und Patriziertums, sondern gewann in dem Maße allgemeine Bedeutung, wie die neue Form der Reproduktion – der selbstverantwortete Familienbetrieb – das Wachstum der Stadtwirtschaft und das Wirtschaften im bäuerlichen Ge-

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nerationenverband bestimmte (ebd.).7 In den Städten und Gemeinden des 15. Jhs. wurde die eheliche Einbindung von Geburt und Erziehung in zunehmendem Maße rechtlich geregelt (Wunder 1993b). In vielen Handwerkszünften galt eheliche Abkunft als Aufnahmebedingung von Lehrlingen und Gesellen (ebd.). Reformatorische und humanistische Ehe- und Familienlehren fanden durch den Buchdruck relativ starke Verbreitung (Bennewitz 1996; Müller 1993). Vorherrschende Eheform war bis zur Frühen Neuzeit die Subsidiaritätsehe (Wunder 1993b; Müller 1993). Gemäß der kirchenrechtlichen Auslegung Thomas von Aquins stellte in dieser der Ehemann das rechtliche Familienoberhaupt vor. Die Ehefrau hatte neben der dienenden Rolle die Funktion der Stellvertreterin bei dessen Abwesenheit, Krankheit oder Tod. Demzufolge konnten verheiratete Frauen nicht nur in die Männerrolle eintreten, sondern mussten dies tun, um im Zusammenhang zeitaufwändiger Geschäftsreisen, politischer oder kriegerischer Aktivitäten der Männer den Fortbestand der Betriebe zu sichern (Wunder 1993b; 1999 III). Für die erste Zeit des Städtewesens, als die politische Selbstverwaltung und die Stadtverteidigung noch nicht an Wahlämter delegiert waren und die betriebliche Abkömmlichkeit der Männer erforderten, nimmt Wunder (1999 III in Anlehnung an Erich Maschke) sogar an, dass die Arbeits- und Geschäftsfähigkeit der Ehefrauen eine konstitutive Voraussetzung der bürgerlichen Selbstverwaltung gewesen war. Ebenso wie die Einrichtung der Wahlämter betrachtet sie die Vergabe der Geschäftsführung an akademische Lohnarbeiter als Weiterentwicklung, die lange parallel zur ehefraulichen Geschäftsführung erfolgte (Wunder 1999 III). Dass Frauen bis ins 16. Jh. oft die kontinuierliche Führung familiärer Betriebe gewährleistet und neben Arbeitswissen auch politisch-rechtliche Kompetenzen entfaltet haben, ist für führende Kaufmannsfamilien wie die Fugger ebenso belegt wie für Handwerkerehefrauen und -witwen (Wunder 1999 III; Davis 1990). Seit dem 15. Jh. ist hinsichtlich der innerehelichen Arbeits- und Kompetenzverteilung innerhalb der sozialen Eliten eine sukzessive Marginalisierung der Subsidiaritätsehe zugunsten der Komplementärehe 7

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Indizien für den Bedeutungszuwachs der Erziehung sind die im 14./15. Jh. entstandenen städtischen Lese- und Rechtschreibschulen des Zunfthandwerks sowie die „Winkel“- und „Klippschulen“ der unterbürgerlichen Schichten (Günther et al 1973; Kammeier-Nebel 1996). Einen wichtigen mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund bildete die vom 11. bis zum 16. Jh. mit hohem politischen Potential ausgestattete antiklerikale und antifeudale Sektenbewegung, so die im 14. Jh. in Deutschland Fuß fassenden Waldenser oder die böhmischen Hussiten des 15. Jhs., die eine Verbindung von religiöser und arbeitsbezogener Kindererziehung praktizierten (Günther et al 1973).

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auszumachen, in der die Frau nicht mehr die Stellvertreterin, sondern das familiäre Pendant des erwerbstätigen Mannes war (Müller 1993; Wunder 1993b). Daneben blieb die Subsidiaritätsehe vor allem in kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten bis ins 18. Jh. erhalten (Wunder 1993a). Das komplementäre Eheideal, das gemeinhin der Reformation zugeschrieben wird, hatte sich bereits in deren Vorfeld in humanistischen und katholischen Ehelehren herauskristallisiert, die das Haus als einzig schicklichen Ort der Ehefrau propagiert hatten (Bennewitz 1996; Müller 1993; Niestroj 1985). Das in der Frühen Neuzeit noch uneinheitlich diskutierte Konzept der Komplementärehe entsprach den neuen reproduktiven Bedarfen und dem zu jener Zeit ansteigenden Zivilisierungsdruck (Elias 1997), der neben der Kindererziehung auch die eheliche Versittlichung der Ehemänner beinhaltete (Bennewitz 1996; Müller 1993; Niestroj 1985). Auf sozialgeschichtlicher Ebene rekonstruiert Wunder (1993a und b) unterschiedliche standesspezifische Entwicklungen der Ehe. Während sie in den materiellen Existenzbedingungen der breiten Masse der Lohnarbeitspaare und kleinen bäuerlichen Haushalte, die auf gemeinsamer, häufig gleichwertiger und gleichartiger Arbeit der Eheleute basierten, tendenziell geschlechtsegalitäre Verhältnisse angelegt sieht, konstatiert sie bezüglich der bürgerlichen Gruppen eine Richtungsänderung seit dem 15. Jh. In öffentlichen Debatten wie Fastnachtsreden wurde verstärkt die Aufgabe der Ehefrau als Haushälterin thematisiert. Handwerksfrauen verlagerten ihre Arbeit im Zusammenhang der Krise des traditionellen Handwerks zunehmend auf den Betrieb des Ehemannes, den Haushalt und Grundbesitz. In den Familien der Großkaufleute und Patrizier widmeten sich die Ehefrauen stärker der Beaufsichtigung häuslicher Arbeiten, wobei ihr Hauptaugenmerk der Kindererziehung und der Bequemlichkeit des Ehemannes galt. Eine besonders prägende Rolle bei der Normierung des neuzeitlichen Eheverständnisses wird der zahlenmäßig kleinen, aber einflussreichen Gruppe protestantischer Pfarrfamilien zuerkannt, die seit der zweiten Hälfte des 16. Jhs. ein populäres Vorbild der neuen Eheauffassung vorstellten (Wunder 1993a und b; Scharffenorth 1993; Schorn-Schütte 1993). Gemäß Luthers Familienlehre, die Kindererziehung zum Zweck des status oeconomicus erhoben hatte und der Mutter die Kleinkinderziehung, dem Vater die Ausbildung zuwies, waren diese Ehen von Anfang an komplementär angelegt (ebd.). Die Position der Pfarrfrau war durch die Lutherische Bestimmung zur Mitregentin aufgewertet. Ihre Rolle als wirtschaftende Hausmutter, Erzieherin und geistlich-soziale

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Fürsorgerin von Armen und Kranken ergänzte die professionelle theologische Arbeit des Mannes.8 Obwohl die bürgerlichen Gruppierungen nur einen kleinen Bevölkerungsteil ausmachten, prägten sie ein neues Frauenbild, welches die standesspezifischen Frauenbilder allmählich ablöste und den Unterschied zwischen Adliger, Bürgerin und Bäuerin einebnete. Es war, wie Wunder (1993b, 22, Hvh. im Orig.) betont, das Bild „der christlichen Haus- und Ehefrau, wie es tausendfach in Leichenpredigten verkündet wurde“ (vgl. auch Scharffenorth 1993). Seine Vorbildwirkung entfaltete dieses Modell seit dem späten 16. Jh., unterstützt durch den expandierenden Buch- und Flugblattmarkt sowie die zu jener Zeit entstehenden konfessionellen Mädchenbildungsschulen (Conrad 1993; Scharffenorth 1993; Schorn-Schütte 1993; Müller 1993).9 Vor dem Hintergrund der konstitutiv werdenden Bildungsunterschiede trennten sich in der Folgezeit die geschlechtlichen Arbeitssphären der sozialen Eliten mehr und mehr und verstärkten die (ideologische) Domestizierung der Frau (Wunder 1993b). Wunder (1993b, 24) spricht diesbezüglich von einem „psychische[n] Verschwinden der Ehefrau als Person hinter der des Ehemannes“, was diesen Prozess meines Erachtens jedoch nicht zutreffend charakterisiert.

Geschlechtliche Verteilung der Erwerbsarbeit Frühneuzeitliche Erwerbsarbeit charakterisiert Wunder (1993a, 31) als „Vielfalt historischer Arbeitswelten“, die noch nicht durch generalisierende Zuschreibungen geschlechtlicher Fähigkeiten geordnet waren, sondern ständisch und patriarchalisch. Geschlechtliche Dichotomie war also nicht biologisch gedeutet, sondern durch den rechtlichen und politi8

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Das Entstehen dieses Modells verortet Wunder (1993b) in der Frühphase der Reformation, wo protestantische Kleriker ihre oft wesentlich jüngeren, bildungsmäßig unterlegenen Haushälterinnen geheiratet hatten. Später bildeten Gelehrte und Pfarrer Heiratskreise, die sich teils mit denen des altständischen Bürgertums überschnitten (ebd.). Die Position jener Ehefrauen war, selbst wenn sie Patrizier- oder Handwerksfamilien entstammten, durchgehend als komplementäres Pendant zum alleinernährenden Ehemann angelegt (Wunder 1993a; Scharffenorth 1993). Die im Zuge von Reformation und Gegenreformation entstandenen konfessionellen Mädchenschulen hatten in Hinblick auf die spätere Rolle der Hausmutter zum Ziel, Mädchen zum Zwecke eines besseren Glaubensverständnisses Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Fertigkeiten der Hauhaltsführung beizubringen. Von der protestantischen Kirche wurden diese Schulen seit dem 16. Jh. betrieben und im 17. Jh. institutionalisiert (Schorn-Schütte 1993). Gleiches gilt für die von den Ursulinen und jesuitischen Frauenorden gegründeten katholischen Mädchenschulen (Conrad 1993).

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schen Vorrang der Männer geregelt, denen die Verfügung über die Lebensführung und den Arbeitsertrag der Ehefrauen zustand (Wunder 1993a; Beer 1990). Obwohl es in den städtischen Gewerben und der Landwirtschaft des 15./16. Jhs. geschlechtlich tradierte Arbeitsfelder gab, galt das noch nicht standesübergreifend. In den meisten Männerhandwerken arbeiteten bis zum 16. Jh. Töchter, Schwestern, Ehefrauen und Witwen der Meister (Wunder 1993a und b). Gewerbe, in denen Frauen einen unabhängigen handwerklichen Status innehatten, waren – wie Davis (1990 ) für Lyon und Wunder (1999 III) für den deutschen Raum zeigen – das Textil- und Bekleidungsgewerbe, der Nahrungsmittelbereich, Gaststätten und das Hebammenwesen. Viele Frauen waren als selbstständige Kleinhändlerinnen registriert (Wunder ebd.). Ein wesentlicher Teil der Frauenlohnarbeit bestand in häuslichen Arbeiten für bürgerliche Frauen oder allein stehende Männer (Wunder 1993b). Andere Frauen arbeiteten im Textil-, Bekleidungs-, Kleinmetallgewerbe, im Nahrungsmittelsektor oder auf dem Bau (Davis 1990; Wunder 1999 III). Lohnarbeitende Frauen verdienten in der Regel weniger und waren schlechter ausgebildet als in Lohnarbeit stehende Männer (Davis 1990; Wunder 1993b.). Selbst Handwerksfrauen verfügten vielfach nur über eine informelle Ausbildung, die Wertschätzung ihrer Arbeit bestimmte sich über ihren Status als verheiratete Hausmutter (Wunder 1993b). Arbeitsfelder mit gleichartigen Arbeiten von Männern und Frauen gab es in der familial organisierten Textil- oder Nadelindustrie, bei Druckern, Barbieren, Wundärzten und in der Gastronomie. Allerdings standen diese Arbeiten in der Regel unter der Leitung der häufig als Meister ausgebildeten Familienväter (ebd.). In vielen Manufakturen arbeiteten Männer und Frauen in aufeinander bezogenen Arbeitsgängen. Ähnliches gilt für die Landwirtschaft (ebd.). Hatte es im 14. Jh. im Zusammenhang von Versorgungsproblemen der gutsherrschaftlichen Wirtschaftsweise und der pestbedingten demographischen Krise die stärkste Ausprägung von Frauenerwerbsarbeit einschließlich reiner Frauenzünfte gegeben,10 mehrten sich im 16. Jh. die ideologisch begründeten Ausgrenzungen von Frauen aus den Gewerben, was durch die Wirtschafts- und Rechtspolitik der entstehenden Staaten begünstigt wurde (Davis 1990; Wunder 1993a und 1999 III; Wiesner10 Nach Wunder (1999 III) war marktförmige familiäre Arbeit stets mit höherer Professionalität der Männer verbunden, die immer wieder zur Verdrängung von Frauenerwerbsarbeit führte. Im 14. Jh. scheinen sich die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen vor dem Hintergrund der verheerenden Pestzüge seit 1349 sowie der Versorgungsprobleme der grundherrschaftlichen Wirtschaft so verbessert zu haben, dass sie in allen Arbeitsbereichen auftraten und sogar „reine“ Frauenzünfte entstanden. 255

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Hanks 1996).11 Zu den Hintergründen dieser Verdrängung gehörten auch Vermarktungsschwierigkeiten des traditionellen Handwerks und die gesteigerte Professionalisierung der Männer (Wunder 1993b).

14.3 Familiarisierung und die s p r a c h l i c h e Ab s o r p t i o n d e r E h e f r a u im Begriff des individuellen Subjekts Um aufzeigen zu können, von welch grundlegender Bedeutung die Familiarisierung von Arbeit und Leben für das Entstehen des bürgerlichen Menschenbildes und Geschlechtsverständnisses war, sei zunächst hervorgehoben, dass mit den Familiarisierungsschüben wirtschaftliche und soziale Individuationsprozesse eingeleitet waren, die im 11./12. Jh. mit der Herauslösung marktwirtschaftlich arbeitender Familienbetriebe aus den grundherrschaftlichen Wirtschaftshöfen begonnen hatten und im 15./16. Jh. um die Dimension der Lohnarbeit erweitert wurden. Im Zuge dieser Entwicklung waren berufliche, politische, reproduktive und mentale Strukturen entstanden, auf denen später die bürgerliche Gesellschaft aufbaute. Den notwendigen sozialen und ökonomischen Rahmen jener individuierten Arbeits- und Reproduktionsweise bildete die Ehe als erste Vergesellschaftungsinstanz (Wunder 1999 I). Sozialgeschichtlich bedeutet Familiarisierung von Arbeit also zunächst die Verselbstständigung kleiner Familien aus der herrschaftlich festgelegten Ordnung und noch keineswegs die Durchsetzung des individuellen Subjektes, das im 15. und 16. Jh. eher eine für die sozialen Eliten relevante Figur des Renaissance-Humanismus vorstellte (Blättner 1961; Niestroj 1985). Obwohl das Herauslösen marktförmiger Arbeit aus den grundherrschaftlichen Wirtschaftshöfen die Voraussetzung für die spätere Individualisierung männlicher Berufsarbeit bildete, basierte sie, wie Wunder (1993a und b; 1999 III) überzeugend herleitet, über Jahrhunderte auf der gemeinsamen Arbeit von Ehemann und Ehefrau als zusammengehöriger Sozialeinheit. Auf die Frage nun, wieso sich aus der historischen Verselbstständigung von Ehepaaren die sprachliche Individualisierung eines hervorbringenden männlichen Subjektes herausgeschält hat und Frauen trotz durch11 Beispielsweise setzten im deutschen Webereigewerbe Gesellen, die um ihre Lohnhöhe fürchteten, ein Verbot der Frauenlohnarbeit mit der Begründung der Ehrminderung ihrer Arbeit durch (Wunder 1993a). Im französischen Lyon betrieben Meister des Seidenmachergewerbes eine drastische Verringerung weiblicher Lehrlinge. Zugleich wurde hier per königlicher Verordnung die Einschränkung der Vertragsrechte von Handwerkerwitwen und -ehefrauen erwirkt (Davis 1990). 256

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gängiger produktiver Arbeit aus dem Begriff dieser Arbeit ausgegrenzt wurden, gibt Wunder (1993b) keine befriedigende Antwort: Den Umstand, dass sich aus den tendenziell egalitären Arbeitsverhältnissen der mittelalterlichen Handels- und Handwerksfamilien bzw. frühneuzeitlichen Lohnarbeitspaare keine entsprechenden rechtlichen und beruflichen Konsequenzen hergeleitet haben, erklärt sie unter Hinweis auf die geringe soziale Ausstrahlung der klein- und unterbürgerlichen Arbeitspaare. Als weiteres Argument führt sie das Altersgefälle der Ehepaare an, das durch das späte Heiratsalter bestimmter Männergruppen und durch Frauenübersterblichkeit gegeben war. Hohe Frauensterblichkeit im Kindbett und daraus resultierende Wiederverheiratungen der Männer habe männliche Erfahrungs- und Kompetenzvorteile nach sich gezogen, die egalitären Arbeitsverhältnissen entgegengelaufen seien. Gravierender noch beurteilt sie die durch Kindsbetttod und Pest bedingten demographischen Einbrüche, die die Aufmerksamkeit für Geburt und Mutterschaft erhöht und im 15. Jh. zur Anstellung städtischer Hebammen geführt haben. Wenngleich natürlich demographische Probleme den prominenten Stellenwert von Mutterschaft in den frühneuzeitlichen Sitten- und Ehelehren zumindest miterklären, reichen sie für mein Befinden kaum hin, die Ausgrenzung der Frauen aus dem Rechts- und Berufsstatus überzeugend herzuleiten. Dieses Argument übergeht nämlich, dass Frauenerwerbsarbeit, wie Wunder (1999 III) selbst an anderer Stelle ausführt, während der demographischen Krise des 14. Jhs. prosperierte. Zudem kann man den Unterschied zwischen alten Ehemännern und jungen Ehefrauen nicht nur, wie Wunder, in Richtung weiblicher Erfahrungsdefizite interpretieren, sondern auch in Richtung höherer jugendlicher Arbeitsenergie oder kontinuierlicherer Arbeitsleistung, was beispielsweise Marianne Weber (1907/1989) tut. Ein Problem bei Wunders Interpretation scheint mir deren Verhaftung auf der realhistorischen Ebene, die politische und ideengeschichtliche Entwicklungen wenig und sprachliche Dimensionen überhaupt nicht berücksichtigt.

Geschlechtliche Strukturen der Familiarisierung Da historische Genderentwicklung nach meiner Literatursicht mal unter Fokussierung von Sozialgeschichte, mal unter Betonung von Ideengeschichte und politischer Formierung abgehandelt ist und mir – Hausens Aufsatz über die „Geschlechtscharaktere“ ausgenommen – kein Versuch begegnet ist, das Herausbilden geschlechtlicher Kategorien unter Zusammenführen dieser drei Dimensionen abzuhandeln, habe ich keine überzeugende Herleitung gefunden, die die androzentrische Individuali257

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

sierung des gegenständlichen Arbeitsbegriffes erklärt hätte. Eine solche Frage ist erst gar nicht aufgetaucht. Was in der Literatur jedoch auszumachen ist, sind wechselseitig verschränkte geschlechtliche Strukturierungslinien familialer Arbeit, die sich anhand Wunders Arbeiten bis ins Hohe Mittelalter zurückverfolgen und durch andere Quellen bestätigen lassen. Gemeint sind 1.) männliche Berufsvorteile, 2.) patriarchalische Rechtsstrukturen sowie 3.) weibliche Versorgungs- und Erziehungsaufgaben, die mit der Zentralisierung politischer und wirtschaftlicher Macht und der damit einhergehenden rechtlichen wie moralischen Regulierung der sozialen Beziehungen eine deutliche Dynamisierung erfahren haben. In Hinblick auf die Frage, weshalb und wie familiale Arbeit in einen individualisierten männlichen Arbeits- und Subjektbegriff überführt wurde, will ich nun das Ineinandergreifen dieser drei Strukturlinien unter Berücksichtigung sozialer, ideengeschichtlicher und politischer Entwicklungen ausleuchten. Wygotskis (2002) These über das bedeutungskonstitutive Zusammenwirken von sozialem Verkehr, Verallgemeinerung, Sprechen und Denken im Blick, werde ich insbesondere Prozesse der abstraktiven Hervorhebung und Verallgemeinerung sozialer Merkmale bei der Entwicklung von Kommunikations-, Kooperations- und Handelsbeziehungen fokussieren: 1.) Männliche Berufsvorteile Die wesentlich ausgeprägtere Beruflichkeit der Männer im Sinne einer stärkeren Institutionalisierung und Spezialisierung gewerblicher Arbeit, verbunden mit höherer Mobilität und Zeitflexibilität lässt sich bezüglich der Kaufleute und Handwerker bis in die Zeit der Neuentstehung des europäischen Städtewesens während des 11. bis 13. Jhs. (Wunder 1999 III; Marianne Weber 1907/1989) zurückverfolgen. Für die Frühe Neuzeit ist sie auch für städtische und ländliche Lohnarbeiter belegt (Wunder 1993b; Davis 1990). Mit der Mobilität und Zeitflexibilität der Männer, die weiträumige Ausbildungswanderschaft, Rohstoffbeschaffung und Produktvermarktung ermöglichte, korrespondierte eine stärkere Sesshaftigkeit der Frauen, die in der Regel mit der Haushaltsführung, Kindererziehung sowie der Übernahme von Geschäftsführungsaufgaben verbunden war (Wunder 1999 III; Davis 1990). Angesichts der Verdrängungsprozesse von Frauen- durch Männerarbeit, die schon für die Zeit um 1300 belegt sind (Wunder 1999 III), ist anzunehmen, dass Frauenerwerbsarbeit bereits im Hohen Mittelalter einen subsidiären, auf männliche Arbeit bezogenen Charakter hatte. Zwar scheinen sich im 14. Jh. die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen so verbessert zu haben, dass sie in allen

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Arbeitsbereichen auftraten und sogar „reine“ Frauenzünfte – parallel zu anderortigen Zugangsbeschränkungen – entstanden (Wunder 1999 III). Doch hatte sich der Arbeitsstatus der Frauenzünfte nie dem der Männer angeglichen. Selbst für die berühmten textilen Frauenzünfte in Köln weist Margret Wensky (1981, vgl. Wunder 1999 III) nach, dass der Status jener Frauen eher dem von Lohnarbeiterinnen als dem von selbstständigen Handwerkern glich.12 Mit der Krise des traditionellen Handwerkes, das im 15./16. Jh. unter den Anforderungsdruck des Handelskapitals und in Konkurrenz zu den entstehenden Verlagen und Großmanufakturen geraten war, verschlechterten sich die selbstständigen Arbeitsmöglichkeiten der Frauen erheblich (ebd.), bis sie im 16. Jh. weitgehend aus den Zünften ausgeschlossen wurden (Wiesner-Hanks 1996). Auch zur Entwicklung der Lohnarbeit im 15./16. Jh. zeigt Wunder (1993a) anhand verschiedener Studien,13 dass vornehmlich Männer von der Neuorganisation der Arbeit profitierten. Männliche Lohnarbeiter bewegten sich ähnlich den Handwerkern und Kaufmännern auf einem anderen Arbeitsmarkt und waren mobiler als die an Haushalte gebundenen Frauen. Wie zur Milchwirtschaft als traditionellem Frauenarbeitsbereich dokumentiert, konnten sich die mobileren männlichen Lohnarbeiter besser auf wenige Tätigkeiten spezialisieren und bei verschiedenen Arbeitgebern verdingen, bis sie schließlich selbst zum Exportartikel wurden bzw. als Facharbeiter in den neu entstandenen Molkereien tätig wurden (ebd.). Damit verbunden war jener Effekt, der auch zu den Zünften (Davis 1990) und zur späteren Industrieentwicklung (Gildemeister/Wetterer 1995; Zachmann 1993; Willms 1983b) beobachtet ist: Traditionelle Frauenarbeit wurde dort, wo sie Männer übernahmen, effektiver vermarktet (Wunder 1993a.). Allerdings war das in der Frühen Neuzeit noch ein widersprüchlicher Prozess. In der textilen Hausindustrie gab es bisweilen Frauenarbeit, die höher entlohnt war als Männerarbeit. Auch sind Einzelbeispiele recherchiert, wo Frauen und Männer für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhielten (Wunder 1993a).

12 Anders als Männerzünfte, die Vermarktung und Rohstoffbeschaffung selbst organisierten, waren die auf Garnherstellung und Goldwirkerei spezialisierten Kölner Frauenzünfte von Verlegern abhängig, die zwischen Produzentinnen und Markt vermittelten und häufig Rohstoffe beschafften (Wunder 1999 III). 13 Wunder stützt sich unter anderem auf Jon Matthieus (1992) Agrargeschichte der inneren Alpen von 1500-1800, den Forschungsüberblick zur frühneuzeitlichen Gutswirtschaft in Schleswig-Holstein von Michael North (1990) sowie Kerstin Weber-Kellermanns (1990) Arbeit zur Arbeitsmigration in der Wetterau. 259

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Aufschlussreiche Einsichten hinsichtlich der Identifikation von gewerblicher Berufsarbeit und Geschlecht vermittelt Natalie Zermon Davis’ (1990) Arbeit über das Lyoner Handwerk des 16. Jhs., die den Gesichtspunkt von Arbeitsidentität (work-identity) hervorhebt: Davis wertet Frauenerwerbsarbeit ebenfalls als unabdingbaren Bestandteil der frühneuzeitlichen Stadtwirtschaft, konturiert aber stärker deren subsidiären Charakter. Davis zufolge war den Lohnarbeiterinnen, selbstständigen Handwerkerinnen und Handwerkerehefrauen gemeinsam, dass sie ihre Arbeitskompetenzen überwiegend durch informelle familiäre Einweisung und Erfahrung erwarben, während die Ausbildung der vergleichbaren Männer eher auf zünftig geregelten Lehren beruhte (vgl. auch Wiesner-Hanks 1996). Damit korrespondierte eine geringe Einbindung der Frauen in die institutionellen Strukturen und politischen Aufgaben der Zünfte, wo sie auch als Meisterinnen niemals mit bedeutenden Funktionen betraut waren. Der Erwerbsschwerpunkt von Frauen lag in der Produktion und im Verkauf von Waren des stadtwirtschaftlichen Bedarfs bzw. im Hebammengewerbe. Ihre soziale Reputation erhielten sie über lokale Arbeits- und Nachbarschaftsbeziehungen. Anders als bei Männern, deren Arbeitsrolle, Qualifikation und Leistungsanerkennung weitgehend über die Handwerkszünfte institutionalisiert war, beurteilt Davis die work-identity von Frauen als schwach ausgebildet. Frauenlebensläufe waren abhängig vom Stand und Beruf des Vaters bzw. Ehemannes, was eine hohe lebenszyklische Variabilität der Arbeitsrollen unter starker Identifikation mit der jeweiligen Familienrolle als Tochter, Ehefrau, Mutter, Witwe oder zweite Ehefrau beinhaltete (vgl. auch Wiesner-Hanks 1996). Die besondere Verwertbarkeit von Frauenarbeit lag Davis zufolge bereits damals in der hohen Flexibilität und vertikalen Mobilität, was durch relativ informelle Ausbildung, schwache Verbindung mit den Organisationsstrukturen von Betrieb und Zunft sowie gering ausgeprägte Berufsidentität gegeben war. Während sich Männer mit ihrem Ausbildungsberuf identifizierten und eher einen Wohnsitz- als einen Berufswechsel in Kauf nahmen, „blieben Frauen seßhaft, improvisierten und nahmen alles, was sie an Arbeit finden konnten, um den Anforderungen ihrer Familie zu entsprechen. In ihrer Verfügbarkeit für vielfältige Zwecke stellten sie die Vorform des Gelegenheitsarbeiters in der industriellen Gesellschaft dar“ (Davis 1990, 72). 2.) Patriarchalische Rechtsstrukturen Die Subordination der Frauen unter die Rechts- und Geschäftsfähigkeit von Vätern und Ehemännern gewann im Zusammenspiel mit der ausgeprägteren Beruflichkeit der Männer eine immer entscheidendere Bedeu-

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tung für die Herausbildung geschlechtsdifferenter sozialer Identitätsmuster. Mochte der Rechtsvorrang der Männer in den kleinen Familienwirtschaften des Hohen Mittelalters angesichts gemeinsamer Daseinsvorsorge von untergeordneter Bedeutung gewesen sein (Ulbrich 1990) und war vielleicht die Arbeit von Bäuerinnen, Handwerks- oder Kaufmanns(ehe)frauen in überschaubaren Nachbarschaftsbeziehungen eine sozial anerkannte Leistung, so dürfte sich die Art der Thematisierung von Frauenarbeit mit zunehmender Ausdifferenzierung der Arbeitsteilung und dem Bedeutungszuwachs des Welthandels verändert haben. Die seit Anfang des 14. Jhs. beobachtete Verschriftlichung und Verrechtlichung der Wirtschaftsbeziehungen zeugt von wachsender Komplexität und Unüberschaubarkeit (Wunder 1999 III). Was beinhaltet, dass lokale Tauschgeschäfte, bei denen das Arbeitsprodukt und die Leistung der Arbeitspersonen noch als Zusammenhang einsehbar waren, mehr und mehr hinter rechtlich und schriftlich formalisierten Verkehrsformen zurücktraten. Dass damit der rechtliche Subjektstatus des männlichen Familienoberhauptes, dem die Veräußerung der familiären Arbeitsergebnisse oblag (Wunder ebd.), in der gesellschaftsöffentlichen Wahrnehmung und Kommunikation von Arbeit immer bedeutungsstiftender wurde, lässt sich auch an der im 14. Jh. forcierten Entstehung von Familiennamen ablesen, die überwiegend aus den Berufsbezeichnungen, Vornamen oder anderen Identifikationsmerkmalen der Familienväter abgeleitet wurden (Kunze 2000). Eine wichtige Rolle bei der juristischen Festschreibung männlicher Identitätsmerkmale dürfte die mit der Entwicklung des Fernhandels durchgesetzte Geldwirtschaft gespielt haben, die Arbeitsprodukte zu Waren auf dem Weltmarkt werden ließ und dort in Geld verwandelte. Mit dem Monetarsystem, dem Vorläufer des französischen und englischen Merkantilismus, entwickelte sich an den deutschen Fürstenhöfen seit dem ausgehenden 15. Jh. eine zentralisierte, auf Steuererhebung und Bevölkerungszuwachs ausgerichtete Finanzpolitik, die von besoldeten, juristisch und wirtschaftlich geschulten Kameralisten umgesetzt wurde (Klaus/Buhr 1975). Hinsichtlich der Entwicklung des Begriffs neuzeitlicher Arbeit ist davon auszugehen, dass mit der juristischen Verregelung der Austauschbeziehungen nicht nur die rechtliche, sondern auch die sprachlichbegriffliche Subsumtion familiär erbrachter Arbeit unter die namentliche Identität des männlichen Familienoberhauptes forciert wurde. Mit wachsendem Einfluss des weltweit agierenden Finanz- und Handelskapitals und dem damit zusammenhängenden Entstehen staatlich gesetzgeberischer Strukturen seit 1500 verfestigte sich die über die männliche Rechtsstellung definierte Eigentumspolitik (Davis 1990; Wunder 1999 261

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III). Damit verschwand zwar nicht die Frauenerwerbsarbeit. Diese wurde – zumindest bezüglich der unterbürgerlichen Schichten – im Merkantilismus des 17. Jhs. eher gefördert (Klaus/Buhr 1975) und blieb fester Bestandteil der Industriegesellschaft (Willms 1983a und b). Doch trat der Begriff von familialer Frauenerwerbsarbeit hinter der ökonomischjuristischen Positionierung des männlichen Rechts- und Erwerbssubjektes zurück. Zugleich verstärkte sich im pädagogischen und staatsphilosophischen Diskurs die mütterlich-ehefrauliche Definition von Frauen (Bennewitz 1996; Niestroj 1985). War Frauenerwerbsarbeit, wie Davis (1990) beschreibt, schon zur Blütezeit des Handwerks „diffus“ im Sinne von anforderungsorientiert und lebenszyklisch variabel in Erscheinung getreten und dürfte sie aufgrund schwacher beruflicher Einbindung kaum unter einen systematischen Begriff gebündelter Arbeitskompetenz gefallen sein, so wurde sie mit zunehmender finanzkapitalistischer und staatlicher Verrechtlichung auch als soziales Identifikationsmuster obsolet: In der seit dem 16. Jh. auflebenden antifeudalen Naturrechtsdebatte setzte sich – gleichwohl diese Debatte von unterschiedlichen sozialen Strömungen wie aufständischen Bauern, Bürgertum, religiösen Sekten und kirchlichen Reformbewegungen getragen war (Klaus/Buhr 1975; Hirschberger 1980) – die Idee des vernünftigen staatlichen Zusammenschlusses freier Menschen im Gesellschaftsvertrag unter immer stärkerer Pointierung von Privateigentum als männlich zugeordneter Rechts- und Wirtschaftskategorie durch. Im 17. Jh. erschien in den Naturrechtslehren von Hugo Grotius (1625) und Thomas Hobbes (1642) – beides Gelehrte aus den ökonomisch führenden Staaten Holland und England – Privateigentum als notwendige Errungenschaft des Kulturzustandes. Im wirtschaftsliberalen Gesellschaftsvertragsentwurf John Lockes von 1695 wurde schließlich Privateigentum zum kulturbegründenden zivilen Persönlichkeitsrecht, das Frauen bis ins beginnende 20. Jh. vorenthalten blieb. Die genannten Gesellschaftsvertragslehren wurden richtungsweisend für das Menschenbild der Aufklärung und den Menschenrechtskatalog von 1789 (Hirschberger 1980; Klaus/Buhr 1975; Séve 1999). Ihre Entstehung war aufs Engste mit der eingangs skizzierten wissenschaftlich-philosophischen Stilisierung des vernünftigen Erkenntnissubjekts als neuzeitlicher anthropologischer Kategorie verknüpft, die an den männlichen Rechts- und Arbeitsstatus geheftet war.

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HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

3.) Weibliche Versorgungs- und Erziehungsaufgaben Die von Frauen historisch durchgängig ausgeübte Kinderversorgung und Hauswirtschaft (Hausen 1993; Wunder 1993a) unterschied sich mit fortschreitender Kommerzialisierung der Arbeit immer mehr von professionellen Arbeitsweisen. War hauswirtschaftliche Dienstleistung in den mittelalterlichen Wirtschaftshöfen vor allem von Frauen verrichtet worden, wurde mit der Entwicklung der Stadtwirtschaften ein Teil der Versorgungsarbeit als vorzugsweise männliche Berufsarbeit von Bäckern, Metzgern, Webern, Schneidern und Schustern professionalisiert (Wunder 1999 III; Marianne Weber 1907/1989). Der andere Teil gelangte zusammen mit der Kinderversorgung in den Zuständigkeitsbereich der Hausmütter (Wunder 1999 III; Wiesner-Hanks 1996) und bildete den Hintergrund für deren Immobilität. Im Gegensatz zur Produkte herstellenden stadtöffentlichen Versorgungsarbeit der Zünfte blieb haushaltsbezogenes Wirtschaften und Kinderversorgen – ob nun von Ehefrauen zusammen mit Erwerbsarbeit verrichtet oder ob als Dienstbotenarbeit getan – unspezifisch ganzheitliches Arbeiten, das auf informell weitergegebenem Wissen beruhte und sich der nach außen hin sichtbaren Rationalität spezialisierter Arbeitstechnik und Zeitökonomie entzog. Es war, wie Wunder (1993a) anhand von Leichenpredigten aus der Frühen Neuzeit dokumentiert, derjenige Teil familialer Arbeit, der sich nicht sichtbar in Produkten verdinglichte, sondern im Bekochen der Haushaltsangehörigen, im Zusammenhalten des Familieneinkommens, dem Einspringen bei vielfältigsten ökonomischen, arbeitspraktischen und sozialen Bedarfslagen bestand und gutenteils der Kindererziehung diente (vgl. auch Wiesner-Hanks 1996). All diese Arbeiten waren unabdingbare Voraussetzungen marktwirtschaftlicher Familienarbeit und gereichten zumindest den verheirateten Hausmüttern zu hohem Ansehen (Wunder 1993a). Mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität, räumlicher Erweiterung der Märkte und dem Herausbilden staatlicher Strukturen waren hauswirtschaftliche Versorgung und Kindererziehung jedoch nicht nur Bedingungen des sich verstärkenden Professionalitätsgefälles zwischen Männern und Frauen. Sie stellten auch den sozialgeschichtlichen Praxis- und Erfahrungshintergrund für die Stilisierung der Mutterrolle (Marianne Weber 1989; Niestroj 1985) dar, die mit dem Bedeutungszuwachs von Erziehung ins Zentrum religions- und staatspolitischer Regulierung gelangte.

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Die Ehefrau als Substruktur des individualisierten Subjekts Begreift man Familiarisierung als sozialen Modus der Herausbildung marktförmiger warenproduzierender Arbeit und zieht man in Betracht, dass letztere zur kulturfundierenden Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft geworden ist, wird aus der Zusammenschau der drei Strukturmerkmale männlicher Professionalitätsvorteil, patriarchalisches Recht sowie weibliche Haus- und Erziehungsarbeit deutlich, wie grundlegend der so strukturierte Familiarisierungsprozess für die moderne Kategorisierung von Geschlecht gewesen sein muss. Hatten Wissen, Vernunft und Macht im mittelalterlichen Denken auch weibliche Herrscherinnen ausgezeichnet, so erwuchs aus der Verschränkung beruflich kultivierter Arbeit mit der patriarchalisch geprägten Vergesellschaftungsform Ehe ein neuer, auf Arbeit gegründeter anthropologischer Subjektbegriff, der nicht mehr geburtsständisch, sondern berufsständisch geordnet war und mit dem männlichen Rechtsstatus korrespondierte. Bezüglich der sprachlichen Verallgemeinerung sozialer Identitätsmuster, die mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität und räumlicher Ausweitung der arbeitsteiligen Beziehungen immer wichtiger für die wechselseitige Einschätzung von Personen wurden (Arier 2000), ist dabei anzunehmen, dass der institutionell verankerte Berufsstatus der Männer, die als mobile Handelskaufleute oder Handwerker öffentlich in Erscheinung traten und dabei einen beruflich verallgemeinerten Begriff von Arbeitskompetenz repräsentierten, auch in der Alltagssprache ein immer größeres Gewicht erhielt. In Verbindung damit dürfte besonders die juristisch formalisierte staatliche und finanzkapitalistische Inanspruchnahme des männlichen Berufs- und Rechtstitels dazu geführt haben, dass familial erbrachte Arbeitsleistung von Frauen sukzessive dem Begriff von Männerarbeit als einordenbarer, juristisch und ökonomisch funktionaler Nenneinheit einverleibt wurde, bis schließlich im nationalökonomischen Diskurs das erwerbstätige männliche Subjekt grundlegende Rechts- und Arbeitskategorie wurde. Mit der ökonomisch-juristischen Exponierung des männlichen Berufs- und Rechtstitels war demnach ein bedeutungsbildender Prozess vorangetrieben, in dessen Verlauf die sozialgeschichtliche Individuation von Ehepaaren in den Aufstieg des individuellen männlichen Subjekts umgemünzt wurde. Individualisiert wurden dabei jedoch weniger die leibhaftigen Männer als vielmehr der sie bezeichnende Subjektbegriff. Maßgeblich für die identitätspolitische Einordnung der so verstandenen „individuellen“ Subjekte dürften die über institutionalisierte Berufe herleitbaren Qualifikations- und Leistungsdispositionen (Holzkamp 1978) gewesen sein, die zwar real im überwiegend familial erarbeiteten Produkt vergegenständ264

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licht waren, jedoch im politisch-juristischen Diskurs der männlichen Identität zugeschlagen wurden. Die sprachliche und identitätspolitische Einverleibung ehefraulicher Arbeitsleistung korrespondierte mit der zunehmenden Verregelung der Ehe, die bezeichnenderweise seit dem 15./16. Jh. als berufsqualifizierend galt (Wunder 1999 I). So wurde, obwohl Frauen über Jahrhunderte hervorbringende marktförmige Arbeit geleistet und häufig die betriebliche Geschäftsführung aufrechterhalten haben, nicht Warenproduktion zum hervorgehobenen Merkmal ihrer sozialen Zuständigkeit, sondern die von beruflichen Arbeitsweisen unterschiedene Hausarbeit, die vermengt mit Kindererziehung und zuarbeitender Erwerbsarbeit den Background des männlichen Berufes bildeten. Aufgrund der lebenszyklischen Variabilität und familialen Einbindung von Frauenarbeit (Davis 1990) ist davon auszugehen, dass für die identitätspolitische Einordnung von Frauen, besonders von Ehefrauen, nicht deren tatsächliche Arbeit, sondern deren soziale Relation zum männlichen Berufssubjekt bedeutungsstiftend geworden ist. Denn gemäß der beruflichen Position des Hausvaters bestimmten sich Art und Umfang, und – was für soziale Identitätsbildung maßgeblich ist – die öffentliche Erwartbarkeit und Einordnung von Frauenarbeit. Wenn Holzkamp (1978) schreibt, mit wachsender gesellschaftlicher Komplexität würden Menschen immer mehr über den Begriff ihrer (Erwerbs-)Arbeit erfasst, so dürfte zumindest für familial organisierte Frauenerwerbsarbeit gelten, dass deren identitätsstiftende Bedeutung durch den Berufsbegriff der Ehemänner/Hausväter hindurch generiert worden ist. Das aber bedeutet, dass Frauen begrifflich und identitätspolitisch hinter ihren Ehemännern verschwunden sind und keineswegs „psychisch“, wie Wunder (1993b, 24) schreibt. Hinsichtlich psychischer Orientierungen kann man gemäß Davis’ (1990) Analyse der frühneuzeitlichen Stadtwirtschaft (vgl. auch Wiesner-Hanks 1996) annehmen, dass solcherart androzentrische Identitätsbildung durchaus mit den subjektiven Einstellungen der Menschen korrespondierte. Während sich Männer unmittelbar mit ihrer beruflich spezifizierten gesellschaftlichen Rolle identifizierten, dürften die überwiegend familial eingeordneten Frauen ihr persönliches Arbeitsverhalten an der Erwerbsposition sowie den damit verbundenen Orientierungs- und Reproduktionsanforderungen des männlichen Familienvorstandes ausgerichtet haben. Ebenso wie die Rolle der geschäftsführenden Ehefrau (als historische Vorläuferin des akademischen Lohnarbeiters) bei den großen Handelsfamilien impliziert die ehefrauliche Erwerbs- und Versorgungsarbeit im Handwerksbetrieb, dass Frauen für die Berufsrolle ihrer Männer mitgedacht haben, von deren Erfolg sie existentiell abhängig waren. Der Blick der Frauen auf öffentliche Strukturen und Tauschbeziehungen 265

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dürfte somit nicht nur durch die berufliche Rolle der Ehemänner vermittelt gewesen sein, sondern auch die Reflexion der männlichen Rolle und ihrer Passung zum gesellschaftlichen Umfeld beinhaltet haben. Psychisch stellten Frauen also wohl eher eine Erweiterung, sozusagen die intersubjektive Basis der männlichen Familienoberhäupter dar, und zwar in emotionaler wie kognitiver Hinsicht. So dürfte die These frauenzentrierter häuslicher Zivilisierung im besonderen Maße auf die durch Arbeit geprägten mittelständischen Familien zutreffen, wo Frauen ineinander greifende erzieherische, wirtschaftliche und betriebliche Aufgaben erfüllten und neben der soziökonomisch bedeutsamen Kindererziehung auch die soziale Reputation, das erfolgsträchtige Auftreten des rechtsfähigen Ehemannes im Blick haben mussten. Erforderte doch die mütterliche und ehefrauliche Funktion innerhalb der „ersten Vergesellschaftungsinstanz Ehe“ (Wunder 1999 I) eine eigene Art der Langsicht, nämlich die vorausschauende Auseinandersetzung mit der Person und sozialen Rolle von Mann und Kindern. Dass diese basale psychosoziale und sozioökonomische Bedeutung verheirateter Frauen aus der gängigen Geschichtsschreibung kaum mehr herauszulesen ist, mag eine der Konsequenzen ihrer sprachlichen Abstraktion aus dem abendländischen Arbeits- und Subjektbegriff sein. Zu den wenigen überlieferten Beispielen, die diese Funktion der Ehefrauen noch erkennen lassen, gehören Bäuerinnen, die während der Bauernkriege ihre Rechtlosigkeit nutzten, um sich schützend vor ihre Männer zu stellen (Ulbrich 1990). Auch sind in frühneuzeitlichen Eheromanen und -lehren Machtkämpfe thematisiert, die eine starke Stellung der Ehefrauen anzeigen (Müller 1993). Was indessen Ehefrauen selbst über ihre Vereinnahmung dachten, ist mangels überlieferter Zeugnisse kaum mehr zu rekonstruieren (Ulbrich 1990). Trotzdem scheint das Wissen um die psychosoziale und sozioökonomische Bedeutung der Ehefrauen nicht aus dem abendländischen Kulturraum verschwunden, sondern als mystifizierter Subtext des begrifflich individuierten Subjektes in die Sprache eingegangen zu sein. Bestes Beispiel sind Geschlechtscharakteristiken des spätaufklärerischen und klassischen Bildungsbürgertums, das, auf der mittelständischen Zivilisierungslinie aufbauend (Elias 1997), eine Geschlechtsdialektik vorlegte, derzufolge weibliche Schwäche männliche Stärke bedingt (Rousseau 1762/1983) und „Frauen das innre Dasein des Menschen tiefer empfinden, seine mannigfaltigen Verhältnisse feiner durchschauen“ (W. von Humboldt, 1792/1960, 80).

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Doppelte Abstraktion der Frauenerwerbsarbeit Wendet man Wygotskis (2002) These der Entwicklung der Wortbedeutung im Zusammenhang von sozialem Verkehr, Verallgemeinerung, Sprechen und Denken an, ist das Verschwinden hervorbringender Frauenarbeit hinter dem männlichen Berufs- und Rechtsbegriff unschwer als juristisch und berufspolitisch vorangetriebener Abstraktionsprozess auszumachen, der sich mit zunehmender geldwirtschaftlicher und rechtlicher Vermitteltheit der Kooperations- und Austauschbeziehungen radikalisierte und Voraussetzung einer Verallgemeinerungslogik wurde, die gegenständlich hervorbringende Berufsarbeit zu einem männlich affizierten Leitmerkmal des individuellen Subjekts erhob. Eine weitere Art der Abstraktion ist die sprachliche Aussonderung von Hauswirtschaft und Kinderversorgung aus dem Gesamtumfang familialer Frauenarbeit. Anders als der männlich einverleibte erwerbsbezogene Arbeitsanteil lässt sich dieser Teil der Frauenarbeit als das in Sprache umgesetzte Besondere, das in Relation zur öffentlichen männlichen Gestalt Hervorgehobene der weiblichen Sozialkategorie interpretieren. In der familial organisierten Arbeits- und Lebensweise auf historisch und sozial unterschiedliche Bedarfe der gemeinsamen Erwerbswirtschaft bezogen, wurde diese Kategorie unter patriarchalischen Rechts- und Berufsstrukturen zu einer relationalen Bezugskategorie männlich identifizierter Arbeit. Sprachliches Sammelbecken für die Vielfalt subsidiär oder auch komplementär zum männlichen Rechts- und Berufstitel strukturierter familialer Frauenarbeit wurde die „Ehefrau“, ein historisch und sozial überaus anpassungsfähiger Begriff, der gemeinsame Funktionsmerkmale verheirateter Frauen über geschichtliche und soziale Differenzen hinweg synthetisiert und selbst noch die Gräben zwischen der adeligen Burgfrau und der modernen Proletarierin überbrückt. Die hohe Integrationsfähigkeit dieses Begriffes ergibt sich daraus, dass er unter Herauslösen der je spezifischen Arbeitsinhalte und -umfänge von Burgfrauen, Handwerksfrauen, Bäuerinnen oder Bürgerinnen generative, sittlich-erzieherische und hauswirtschaftliche Merkmale verallgemeinert. Als weiteres Verallgemeinerungsmerkmal tritt die subsidiäre Rolle der Ehefrauen hervor. Im Unterschied zum Begriff des Ehemannes und Familienernährers, der die Geschichte des männlichen Rechtsoberhauptes durchschritten hat und sich semantisch unmittelbar mit gesellschaftsöffentlicher beruflicher Positionierung zusammenschließt, abstrahiert der historische Ehefrauenbegriff von den Inhalten und Vollzugsformen der Frauenerwerbsarbeit und weist sie als Funktion aus, deren Konkretisierung sich in der Stellung ihres Mannes bricht. 267

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Im Zusammenhang dieser doppelten Abstraktion realer Frauenerwerbsarbeit – sowohl aus dem Begriff familialer Erwerbsarbeit als auch aus dem Begriff der subordinierten Ehefrau – erhellen sich zwei sprachgeschichtliche Phänomene: Einmal erweist sich die bis in die Moderne überdauernde mentale Tragfähigkeit des von Erwerbsarbeit abstrahierten mütterlich-ehefraulichen Weiblichkeitsklischees als Fortwirken eines altüberlieferten Denkmittels, das reproduktive Funktionen als historische Konstante hervorhebt und schließlich deren Naturalisierung und kontradiktorische Entgegensetzung zum Begriff produktiver Arbeit erlaubt. Sozialhistorischer Gegenstand dieses Begriffsbildungsprozederes war die historisch und ständisch überaus anpassungsfähige Funktion der Ehefrau, die als anschauliche Gestalt durch die neuzeitliche Wissenschafts- und Rechtsgeschichte getrieben wurde, ohne selbst an dieser Form diskursiver Verallgemeinerung maßgeblichen Anteil zu haben. Zugleich klärt sich die in der Literatur der Goethezeit aufgefundene Bedeutung der weiblichen „Summenfigur“, die Volker Hoffmann (1983, 88) als so „integrationsfähig“ bewertet, dass sie neben konfligierenden Frauenrollen auch „Neues und Fremdes, und hier vor allem Männliches absorbieren kann“. Sie nämlich erweist sich als Ausdruck der Bedeutungsgeschichte der „Ehefrau“ als intersubjektiver Hintergrundinstanz, deren vielfältig abrufbare Arbeits- und Orientierungspotentiale sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedarfslagen des Mannes realisieren. Qua logischem Aufbau ist der summarische Begriff „Ehefrau“ symptomatisch für eine Verallgemeinerungsstruktur, die weibliche Arbeitsmerkmale empirisch-anschaulich mit Haus, Kind und Ehemann verbindet. Die Vielfalt historischer Frauenarbeit, die in den verschiedensten Erwerbsbereichen und in ganz unterschiedlichen Haushalten zu tausenderlei Bedarfslagen erbracht wurde, ist dabei nicht etwa in logischhierarchischer Weise versprachlicht, sondern erscheint als kettenförmige Endlosreihung situativ aufscheinender Tätigkeiten. Eine nach Wygotskis Schema komplexe Verallgemeinerungsstruktur also, die anschauliche Merkmale mannigfaltigster Einzelphänomene aneinander- reiht und deren vordergründige Metaphorik verballogischen Denkbewegungen im Wege steht, die auf abstrakterer Ebene das Erfassen der zivilisatorischen und sozioökonomischen Bedeutung der (Ehe)-Frauen zulassen würden.

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1 4 . 4 Z u r R o l l e d e r U n i ve r s i t ä t e n Eine bedeutende Rolle bei der politischen Regulierung und Deutung familialer Arbeit kam den städtischen Universitäten und akademischen Professionen zu, die als Schrittmacher des epochalen Wandels vom Mittelalter zur Neuzeit gelten (Hirschberger 1980 Bd. 1; Blättner 1961). Mit ihrer Entwicklung erfolgte eine tief greifende soziale Strukturveränderung des Wissens, die eine Phase relativ hoch entwickelter weiblicher Bildung beendete (Lundt 1996; Opitz 1996). Analog dem Ausschluss aus dem Priesteramt blieb Frauen der Zutritt zu den städtischen Universitäten bis ins 19. Jh. verwehrt; schon ihre Errichtung im 12./13. Jh. war von misogynen Abgrenzungen begleitet (Lundt 1996). Die exklusiv männliche Entwicklung rationaler Wissenschaften korrespondierte mit der geschlechtlichen Strukturierung der familialen Wirtschafts- und Reproduktionsweise und wurde in doppelter Hinsicht wesentlich für die Entwicklung des neuzeitlichen Geschlechterverhältnisses: Zum einen entstand mit den universitär Gelehrten ein genuin männliches Professionsschema, das sich sukzessive mit dem des männlich institutionalisierten Handwerksberufes überlagerte. Zum anderen entfalteten jene Gelehrten in den höfischen und wirtschaftlichen Machtzentren eine politische, rechtliche und ökonomische Definitionsmacht, die bei der sprachlichen Umdeutung familialer Arbeit in einen individualisierten männlichen Arbeits- und Subjektbegriff maßgebend mitwirkte. Ich möchte drei Aspekte dieses Zusammenhangs thematisieren: • das Ineinandergreifen soziostruktureller und diskursiver Dimensionen bei der geschlechtlichen Diversifizierung rationaler und emotionaler Arbeits- und Persönlichkeitsattribute, • die kategoriale Verschränkung des rationalen Professionsschemas mit dem androzentrischen Begriff hervorbringender Handarbeit in der Figur des individuellen Subjekts, • die mütterlich-ehefrauliche Funktionalisierung der Frau.

Soziostruktureller Wandel des Wissens Die weltlichen Universitäten waren im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels – Verstädterung, neue Herrschaftsformen durch Familiarisierung der Arbeit und Konsolidierung der Monarchien, wirtschaftliche und kulturelle Erweiterung im Zuge des Fernhandels und der Kreuzzüge – seit dem 12. Jh. in den urbanen Knotenpunkten und an den Handelswegen entstanden und etablierten sich Ende des 14. Jhs. im deutsch-

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sprachigen Raum.14 Gefördert von Monarchen und Päpsten wurden die aus zunftähnlichen städtischen Schulverbänden hervorgegangenen Universitäten mit ihren theologischen, philosophischen, juristischen, medizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten zu Triebkräften des epochalen Wandels und veränderten auch die klerikale Kultur (Hirschberger 1980 Bd. 1; Lundt 1996). Es gründeten sich Bettelorden wie die Dominikaner und Franziskaner, die nicht mehr feudalaristokratisch, sondern stadtbürgerlich orientiert waren und am universitären Bildungswesen teilnahmen (Blättner 1961). Zu ihnen gehörten einflussreiche Gelehrte wie der Dominikaner Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), führender Scholastiker und Universitätsprofessor zu Paris. Aus dem gesellschaftlichen Strukturwandel erwuchsen tief greifende soziokulturelle Umbrüche, innerhalb derer die Attribute von Macht an neue Gestalten geheftet und die Bedeutung von Geist, Körper, Arbeit und Geschlecht mit neuen Inhalten gefüllt wurde. Die Universitäten erhöhten einerseits die Durchlässigkeit der statisch geburtsständischen Gesellschaft und bewirkten andererseits mit der Ausgrenzung von Frauen standesübergreifende Schließungen. Ihre Studenten rekrutierten sich anfangs überwiegend aus Patrizierfamilien und vom Abstieg bedrohten Adelsfamilien, aber auch aus mittellosen Stipendiaten (Lundt 1996). Neben den Geburtsadel trat der „Adel“ des Wissens. Der neue Typus des universitären Intellektuellen marginalisierte allmählich den durch Körperkraft ausgezeichneten Herrschaftstypen des adeligen Ritters und prägte ein neues, über geistige Tätigkeit definiertes Männlichkeitsideal (Lundt 1996). Waren im Frühen Mittelalter Geistesbildung und Schriftkultur ein Monopol der Klöster gewesen, an dem, der derzeitigen Forschung (zusfass. bei Lundt 1996; vgl. auch Marianne Weber 1907/1989) zufolge, auch Töchter aus Adelsfamilien partizipierten, änderte sich das, als Bildung zur verwertbaren Wissenschaft wurde und einen hohen Stellenwert für die gesellschaftliche Positionierung erlangte (Lundt 1996). Lesekunst als früheres weibliches Terrain wurde professionalisiert (Lundt

14 Die erste Rechtsfakultät entstand 1088 in Bologna. Der Archetyp der europäischen Professorenuniversität wurde 1170 in Paris gegründet, gefolgt von Oxford. Im 13. Jh. folgten Universitätsgründungen in Frankreich, Italien, Spanien und England. Die erste mitteleuropäische Universität entstand mit Förderung Karls des IV. in Prag (1348), gefolgt von Krakau und Wien. Im deutschen Reich entstanden Ende des 14. Jhs. Universitäten in Heidelberg, Köln, Erfurt, einen weiteren Gründungsschub gab es im 15. Jh. (Lundt 1996; Hirschberger 1980 Bd. 1). 270

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1996; Opitz 1996).15 In den neuen städtischen Dominikaner- und Franziskanerorden trat anstelle der „vita contemplativa“ das Prinzip der „vita activa“, das einem rationalen Wissensverständnis verpflichtet war und Bildungsunterschiede zwischen Männer- und Frauenklöstern einleitete (Opitz 1996). Die Verdrängung von Frauen aus Berufen, in denen sie, wie in der Medizin, traditionell anzutreffen waren, zog sich über Jahrhunderte. Der Ausschluss von Mädchen aus der öffentlichen Bildungslandschaft wurde etwa seit 1350 spürbar (Lundt 1996; BrokmannNooren 1994): Der kulturelle Einfluss der Universitäten realisierte sich nicht zuletzt über die professionelle Tätigkeit ihrer Absolventen, die schon im Hohen Mittelalter zu den Eliten ihres Landes gehörten und dort führende Stellungen einnahmen (Lundt 1996). In der Frühen Neuzeit fanden Akademiker verstärkt Beschäftigung bei Stadtverwaltungen und großen Handelsfamilien (Wunder 1993b). An den Höfen der absolutistischen Monarchien nahmen humanistisch gebildete Universitätsabsolventen als Berater, Publizisten, Sekretäre, Juristen, Ärzte, Lehrer oder Erzieher (Elias 1997; Günther et al 1973) erheblichen Einfluss auf soziale Gestaltungsprozesse einschließlich der sprachlichen Normierung familialer Arbeit. Entscheidend für die Neusystematisierung der abendländischen Weltanschauung war die mit den Universitätsgründungen forcierte Integration hellenistischer, orientalischer und jüdischer Denksysteme in die christliche Lehre. Dazu gehörte an vorderster Stelle die Rezeption der aus dem Arabischen übersetzten Werke Aristoteles’, die, im 13. Jh. vervollständigt, zum Topos rationaler Vernunft wurden (Hirschberger 1980 15 Zur Geschlechterbildung im 11./12. Jh. schreibt Marianne Weber (1907/ 1989, 263/264) unter Bezug auf den Sachsenspiegel: „Von planmäßiger ,Mädchenbildung’ treffen wir [...] nur ein sehr bescheidenes Maß und auch dieses nur in ritterlichen Kreisen an. [...] Die Mädchen wurden [...] in Handarbeiten, Anstandslehre und Musik unterrichtet. Daneben lernten sie entweder durch ,Privatstunden’ beim Geistlichen oder in den Klosterschulen Lesen, Schreiben, Katechismus und eine Anzahl kirchlicher Gesänge. [...] Fürsten- und Königstöchter studierten bisweilen die klassischen Sprachen, und als das Aufblühen der weltlichen Lyrik und Epik das literarische Interesse erweiterte, lernten vornehme Jungfrauen bei den fahrenden Spielleuten [...] die Sprachen der Nachbarvölker. [...] Wie bescheiden [...] das Maß intellektueller Kultur sein mochte, welche einer dünnen Schicht ständisch bevorrechtigter Frauen zu teil wurde, [...] so war es doch immerhin mehr als ihren Brüdern zufloß. Denn die ritterbürtigen Knaben wurden lediglich im Waffenhandwerk und in der ritterlichen Leibesübung unterwiesen, [...] Vergeblich befahl Karl der Große, jeder Laie solle seinen Söhne lesen und schreiben lehren: das frühe Mittelalter hindurch wurden diese Künste als ,weibisch und pfäffisch’ von der Mehrheit der Ritterschaft verachtet.“ 271

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Bd. 1; Blättner 1961; Lundt 1996). Hatte in der Frühscholastik (9.-12. Jh.) die Vereinbarung des christlichen Glaubens mit den muslimischen und jüdischen Denksystemen im Vordergrund gestanden, so war die Hochscholastik (13./14. Jh., Hauptvertreter Thomas von Aquin) geprägt von der aristotelischen Reformulierung der christlichen Lehre unter Integration der überlegenen orientalischen Naturwissenschaften (ebd.). Zusammen mit weltanschaulichen Wandlungsprozessen resultierten daraus weit reichende soziokulturelle und arbeitssystematische Veränderungen, die im Zusammenspiel mit dem Ausschluss von Frauen aus den öffentlichen Institutionen akademischer Wissens- und Moralentwicklung Weichen stellend wurden für die geschlechtliche Kategorienbildung: Mit der Integration aristotelischer Logik und naturwissenschaftlicher Methoden traten bereits im Hochmittelalter Rationalität und „objektives“ Denken (im Sinne eines der Sache gegenübertretenden logischen Diskurses und naturwissenschaftlichen Vermessens) als Attribute städtisch-akademischen Arbeitens hervor. Hirschberger (1980 Bd. 1, 399) spricht von einer neu entfalteten „Objektivität und logische[n] Schärfe“, mit der der „scholastische Denker“ nicht etwa „seine Subjektivität“ produzieren, sondern „der objektiven Wahrheit als solcher dienen“ wollte. Zwar sei die mit Auctoritas (Tradition) und Ratio arbeitende Scholastik „zu rezeptiv, zu unhistorisch, zu unkritisch“ gewesen (ebd. 399), doch habe sich die „Wissenschaft der Logik“, die im 13. Jh. an der Pariser Artistenfakultät (der philosophischen Akademie der Pariser Universität) betrieben worden sei, „für den Ausbau der übrigen Wissenschaften zu einer nachhaltig formenden Kraft“ (Hirschberger ebd. 443) entwickelt. Ähnlich traditionsbildend beurteilt der Autor (ebd.) die naturwissenschaftliche Universität in Oxford, wo man schon im 13. Jh. mit empirischen Methoden quantitativ-mathematischer Naturbetrachtung gearbeitet habe. Die Exposition des rationalen Verstandes führte zu einer bis dahin unbekannten Anerkennung von Individualität, die die Lebensweise wie auch die Arbeitskultur der städtischen Intellektuellen kennzeichnete (Hirschberger 1980 Bd. 1; Lundt 1996; Duby 2000). Im Unterschied zur traditionellen Klosterbildung, die, eingebunden in die soziale Lebensgemeinschaft, mit versorgender, manual herstellender und seelsorgerischer Arbeit am ländlichen Klostersitz verschränkt war, trat der weltliche Intellektuelle individuell und mobil auf und repräsentierte ,rein’ geistige Arbeit in der Stadt (Lundt 1996). Gleiches gilt für die weiträumig umherziehenden Bettelmönche, deren Studium sich zunehmend in die Universitäten verlagerte (Opitz 1996). Ähnlich wie von den traditionellen Mönchen unterschied sich der akademische Sozialtypus von Frauen, die, sofern sie höheren Schichten angehörten, geistige Betäti272

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gung mit sozialen und versorgenden Obliegenheiten der Ehefrau oder Nonne verbanden. Der soziokulturelle Wandel der Bildung korrespondierte mit einer veränderten Verhältnisbestimmung von Ratio und Gefühl. Hatten Liebe und Vernunft in der älteren christlichen Philosophie, etwa bei Augustinus oder Benedikt von Nursia, noch eine Einheit gebildet, wertete der führende Dominikaner und Scholastiker Thomas von Aquin den tätigen Verstand (intellectus agens) als höchste Seeleninstanz und deutete ihn erstmals individuell. Rationale Neigungen entsprachen bei Thomas den Gesetzen der Vernunft, die Sinnliches zu regulieren hatten (vgl. Hirschberger 1980 Bd. 1; Hügli/Lübke 2000).16 Hinsichtlich geschlechtlicher Kategorienentwicklung wird deutlich, dass die Attribute „Objektivität“, „Rationalität“, „Individualität“ und „Öffentlichkeit“, die den vorherrschenden modernen Arbeits- und Subjektbegriff auszeichnen, ein genuin männliches Sozialschema vorstellen, das sich als soziokulturelles Muster herausgebildet hat und soziale, methodische und politische Funktionen integrierte. Mit dem individualisierten Erscheinungsbild des akademischen Intellektuellen verschränkte sich eine rationale, objektivierende Arbeitsmethodik, die individuelle Leistung gegenständlich werden ließ und per Universitas-Prinzip für die Teilhabe am öffentlichen Diskurs zur Wissens-, Moral- und Politikentwicklung qualifizierte (Hirschberger 1980 Bd. 1; Duby 2000). Wie beim Handwerker gehörten Mobilität und Unbelastetheit von alltäglichen Reproduktionsfragen sowie die institutionelle Systematisierung von Wissen und Methodik zu den Voraussetzungen dieser Art männlicher Subjektwerdung. All das setzt eine soziale Substruktur voraus, die, wenn nicht das Kloster, so das „Innere des Hauses“ gewährleistete. Die Synthese von objektivierender Rationalität, Individualität und öffentlicher Definitionsmacht wurde mit der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaften zum schier unhintergehbaren Wahrheitskriterium. Indessen wäre hervorzuheben, dass jener scheinbar standpunktenthobenen Objektivität von Anfang an eine spezielle soziokulturelle und damit subjektive Perspektive inne gelegen haben muss: der Fokus der machtnahen städtischen Gelehrten, die als mobile Intellektuelle selbst von Versorgungs- und Erziehungsfragen separiert waren, aber mittels juristischer Regelwerke, Sittentraktate, Ehe- und Erziehungslehren regulierend und definierend auf die familialen Arbeits- und Lebensverhältnisse ein16 Für Thomas von Aquin manifestierte sich Vernunft in ewigen Gesetzen (lex aeterna) und dem natürlichen Gesetz (lex natura), das die Teilhabe des rationalen Wesens am ewigen Gesetz garantiert. Davon unterschied er in Gefühlen und Leidenschaften ausgedrückte sinnliche Neigungen, die sündhaft wurden, wenn sie sich der Herrschaft der Vernunft widersetzten (Hirschberger 1980 Bd. 1). 273

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wirkten. Angesichts des hohen diskursiven und politischen Einflusses akademischer Gelehrter auf das Prozedere sozialer Struktur- und Kategorienbildung ist sinnfällig, dass sich – wie am Beispiel der doppelten Abstraktion von Frauenerwerbsarbeit expliziert – deren Betrachtungsfokus in einer recht speziellen Verallgemeinerungslogik und mithin einer bestimmten Perspektivität von Geschlechtsbegriffen niedergeschlagen hat. Einer androzentrischen Perspektive, die, durch die Jahrhunderte perpetuiert, hernach selbst ein subjektreflexiv denkender Hegel nicht mehr aufzulösen vermochte. Die Struktur des Intellektuellenschemas, das rationale Arbeitsmethodik mit einem, nennen wir es „affektreduzierten“ Arbeitsethos sowie einer von leiblichen Versorgungsproblemen ungetrübten mobilen Lebensweise amalgamisierte, impliziert zugleich, dass dem akademischen Betrachtungsfokus, neben vielen anderen Interessen, eines ganz existentiell inne gelegen haben muss: Das Interesse an der Wahrung von Versorgungsstrukturen, die die Trennung von Ratio und Affekt, Geist und Körper überhaupt erst möglich machten. Hatte doch der rationale Intellektuelle, um der „objektiven Wahrheit“ (Hirscherger 1980 Bd. 1, 399) überhaupt dienen zu können, sehr wohl eine neue, affektgezügelte Form der Subjektivität zu produzieren, die diesem Arbeitsethos gerecht wurde. Es kommt also wieder die Verlagerung von Affekten und körperlichen Belangen hinter „verschlossene Türen des Hauses“ (Elias 1997 Bd. 1, 64) in den Blick und die mit männlicher Mobilität und weiblicher Sesshaftigkeit überschnittene Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, die von den „großen Denkern des Abendlandes“ (ebd. Bd. 2, 406) durchaus aktiv betrieben worden war.

Vergeschlechtlichung von Ratio und Emotion Das Heraustreten der individuellen akademischen Ratio aus der familialen bzw. klösterlichen Wirtschafts- und Reproduktionsweise verstärkte die christlich-jüdische Trennung des Verstandes von den leiblich-emotionalen Anteilen und verband sich mit einem antiken Körper-GeistSchema, das dem Geist Priorität zuerkennt und die Unterdrückung körperlicher Bedürfnisse vorsieht (Bennewitz 1996; Lundt 1996). Bestandteil dieser Entwicklung war das Verdrängen bzw. Fernhalten weiblicher Intellektualität aus der sich herausbildenden Öffentlichkeit. Beispielsweise forderte Thomas von Aquin 1270 in Summa Theologica, obwohl er Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes durchaus Weisheit von göttlicher Gnade zuerkannte, deren Festlegung auf den „privaten Gebrauch“; keinesfalls sollten Frauen von ihrer Weisheit „öffentlich“ Mitteilung machen (zit. nach Opitz 1996, 74). 274

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Auch die zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit angesiedelte weltliche Ehedidaxe des 13./14. Jhs., die ein Medium zur erstmaligen Formulierung wissenschaftlicher und theologischer Inhalte und Mittel der Ausbildung ,richtigen’ Verhaltens bei Hofe war, schwor Frauen auf geistige Zurückhaltung in der höfischen Öffentlichkeit ein (Bennewitz 1996). – Ganz im Widerspruch übrigens zur Wirklichkeitsdeutung des höfischen Romans, wo als Protagonistinnen selbstständige, ihren Partnern intellektuell mindestens ebenbürtige Frauen dominierten (ebd.). Wie Ingrid Bennewitz (1996) in einer dokumentenreichen Analyse vorwiegend deutschsprachiger Ehedidaxen des 13. und 14. Jhs. darlegt, paarte sich hier die Empfehlung weiblicher Geistesbescheidenheit mit harscher Kritik an öffentlich gezeigter Tanzfreude und Erotik, die bis zur Einschränkung der Wahrnehmungs- und Bewegungsfreiheit reichte. Zugleich aber billigten Schulmeister, Kleriker und andere Ehedidaktiker den Frauen durchaus höhere Tugend und Schamhaftigkeit mit erzieherischer Wirkung für ihre Ehemänner zu (ebd.).17 Insgesamt attestiert Bennewitz (1996, 25, Hvh. im Orig.) jener frühen Eheliteratur ein „bewußtes ,gendering’“, insofern die überwiegende Mehrzahl dieser Werke geschlechtliche Lebensentwürfe des höfischen Edelmannes und seiner Gattin vorstellte und dabei „im wesentlichen nur ein Geschlecht“ gekannt habe, das weibliche. „Die Norm, das Männliche, wird offensichtlich nicht als sexuell bestimmt empfunden. Als Adressat gilt implizit das rechts- und wehrfähige Subjekt, das [...] dem kontextuellen Verständnis zufolge männlich ist, ohne daß die Kategorie des Geschlechts zum Thema erhoben würde“ (Bennewitz ebd.). Ein anderer, ebenfalls zum „gendering“ zu rechnender Aspekt, ist die weitgehende „Absenz“ des „weiblichen Alltags“ aus dieser Literatur (Bennewitz 1996, 39). Um ein Beispiel für diese Art früher Ehedidaxe zu geben, greife ich aus Bennewitz’ (1996) Sammlung den Ritter von Thurn heraus. Eine fiktionale Erzählung, die die vollständige körperliche und intellektuelle Unterwerfung der Frau unter den Ehemann forderte und Frauen für alle sexuellen Anfechtungen einschließlich ihrer Vergewaltigung verantwortlich machte. Sollten Frauen aktiv werden, dann nur im Einsatz für den Sohn oder Ehemann. 1372 in französischer Sprache verfasst, von einem schwäbischen Feudaladeligen ins Deutsche übersetzt und 1538 von einem protestantischen Kleriker bearbeitet, wurde diese Schrift zwischen 1493 und 1593 zehnmal aufgelegt, gefolgt von weiteren Auflagen in den Jahren 1680, 1682 und 1850 (Bennewitz 1996). 17 Bennewitz (1996) führt dazu Freidanks Bescheidenheit (entstanden zwischen 1215 und 1230), Der Renner des Bamberger Schulmeisters Hugo von Trimmberg (13. Jh.), Der Wälsche Gast des italienischen Klerikers Thomasin (13. Jh.) sowie den Bettelmönch Berthold von Regensburg an. 275

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Die in der frühen Eheliteratur aufzufindende einseitige Vergeschlechtlichung der Frau bei gleichzeitiger Domestizierung ihrer intellektuellen und erotischen Qualitäten stand in der Tradition der christlichen Scholastik und korrespondierte mit der vorherrschenden Auslegung der Schöpfungsgeschichte, derzufolge alleine der Mann als vernünftiges Wesen galt (Bennewitz 1996; Blazek 2001).18 Entgegen Evas Erkenntnisdrang war die Frau schon aufgrund ihrer Gebärfähigkeit mit dem Körperprinzip analogisiert und sexueller Verführung gleichgesetzt (Scharffenorth 1993; Bennewitz 1996; Blazek 2001). Als Deutungskontext drängt sich die alttradierte christliche Dichotomie von Vernunft und Sinnlichkeit auf, die Ende des 11. Jhs. mit der dreigliedrigen Kanalisierung der Sexualität in Zölibat, Prostitution und sakramentaler Festlegung der Einehe (Wunder 1993b; Blazek 2001) manifestiert worden war und nun – mit der universitären Entwicklung – neue soziale und theoretische Impulse erhielt. Selbst bei vorsichtiger Auslegung deutet sich hier eine projektive sprachliche Übertragung des zu transformierenden Affektes auf die Frau an, die, wenn auch nicht widerspruchsfrei, mit dem sozialen Strukturwandel des Wissens unter Herauslösung emotional-leiblicher Aspekte aus einem männlich verallgemeinerten Vernunftsbegriff vorangetrieben worden war. Schaut man auf den bei Bennewitz referierten didaktischen Begriff weiblicher Geschlechtlichkeit, offenbart sich ein Denken, das der Frau den auslösenden Reiz und zugleich die Regulierung männlicher Sexualität projektiv überträgt, indem es sie Verführerin und Erzieherin in Einem sein lässt. Ein typisches Beispiel ist der Ritter von Thurn, wo der ausbrechende männliche Sexus mit dessen affektivem Ziel, der Frau, identifiziert ist und ihrem Verhalten die Verantwortung bis hin zur Vergewaltigung zugeschrieben wird. Aus Sicht der heutigen Entwicklungspsychologie würde man von einer kindlichen Denkweise sprechen, die Andere aus dem eigenen Empfinden heraus als Urheberin von Affekt und Bewältigung begreift, weil die begriffsbildende Person den eigenen Impuls noch nicht vom Verhalten anderer zu unterscheiden weiß. 18 Helmut Blazek (2001) zufolge geht die Misogynie des scholastischen Frauenbildes auf Anselm von Canterbury (1033-119), den Begründer der Scholastik, und Bernhard Clairvaux (1090-1153) zurück; beide mächtige, heilig gesprochene Kirchenmänner. Die ältere Tradition christlicher Misogynie reicht zurück bis Paulus, der nach Jesus Tod das jüdische Geschlechtsverständnis wieder aufnahm und Frauen als Symbol von sexuellem Begehren und Verführung aus dem Priesteramt ausschloss (vgl. 1. Thimotheus 2, 12-15). Der historische Jesus soll – entgegen dem jüdischpatriarchalischen Wertesystem – Männer und Frauen gleich behandelt haben. Maria Magdalena soll sogar als Apostel der Apostel gegolten haben, in deren Anwesenheit selbst Paulus zu schweigen hatte (ebd.). 276

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Man findet also einen aus männlicher Sicht gewonnenen, naiven Begriff von Interaktion, der die andere Person mit dem eigenen Erleben und Handeln vermengt und als Erweiterung seiner selbst betrachtet. Im Gegensatz zum modernen Interaktionsbegriff entbehrt dieser mittelalterliche Begriff nicht nur der Selbstreflexion des Betrachters. Genau genommen macht er Frauen nicht einmal zum Objekt. Denn er nimmt noch nicht die in den neuzeitlichen Naturwissenschaften vorgenommene Distinktion des Betrachtungssubjektes vom Erkenntnisobjekt vor, die der objektivierenden Gegenstandsausleuchtung historisch vorausgesetzt ist und auch die logische Grundlage individueller Selbstreflexion bildet. So lässt sich auch die Schizophrenie des christlichen Frauenbildes – das seit der „Urmutter Eva Sinnbild der Verführung und des Verderbens“ war, den Frauen aber „in Hinblick auf die Domestizierung ihrer Sinnlichkeit und damit zugleich als Erzieherinnen ihrer Ehemänner durchaus größeres Vertrauen entgegen [brachte] als diesen“ (Bennewitz 1996, 30) – als Deutungsmuster interpretieren, das Frauen in naiver Weise als psychische Instanz des vernünftigen Subjektes repräsentierte. Ein anschaulicher Begriff also, der die Mann-Frau-Beziehung noch nicht als intersubjektives Regulierungsverhältnis auszuleuchten vermochte, sondern den im doppelten Wortsinne zu verheimlichenden 19 Affekt in der Gestalt der Verführerin und Erzieherin personifizierte. Womit eine sprachliche Metaphorik vorlegt war, die die Trennung der öffentlich auftretenden Ratio von Leib und Affekt zu einer Frage der Domestizierung der Frauen werden ließ. Müßig zu erwähnen, dass sich der Frauenbegriff der weltlichen Ehedidaxe analog der christlichen Genesisauslegung20 mit einem anschaulichen Begriff weiblicher Generativität und den damit verbundenen Kindererziehungsaufgaben der adeligen Frauen jener Zeit (vgl. dazu Duby/Barthélemy 2000) deckte. Nach Wygotskis Kriterien wäre eine solche, anschaulichen Gestalten und Orten verhaftete Metaphorik wiederum dem komplexen Denken zuzuordnen, das obendrein noch dem Stadium der arbeitsteiligen menschlichen Psyche entspricht. Womit zugleich die These im Raum steht, dass die abendländische Spaltung von männlicher Ratio und weiblichem Gefühl auf recht einfache, aus männlicher Sicht wahrgenommene Evidenzen zurückgeht. 19 Vgl. Kluge (1999): heimlich (< 11. Jh.) Ausgangsbedeutung „zum Haus gehörig, einheimisch“, von Anfang an auch, „wer sich ins Haus zurückzieht, verbirgt sich vor anderen“. 20 Vgl. Paulus: „Und Adam ward nicht verführt; das Weib aber ward verführt und ist der Übertretung verfallen. Sie aber wird selig werden dadurch, daß sie Kinder zur Welt bringt, wenn sie bleibt im Glauben und der Liebe und in der Heiligung samt der Zunft“ (1. Thimotheus 2, 12-15). 277

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Dass diese, für das (sprachlich) individualisierte neuzeitliche Subjekt hoch voraussetzungsreiche Metaphorik mit der Entwicklung der Universitäten nicht etwa aufgelöst, sondern erweitert und generalisiert wurde, legt eine Betrachtung von Claudia Opitz (1996) zur Frauenklosterentwicklung nahe: Obgleich für das Hohe Mittelalter die Existenz geistig sehr aktiver Frauenorden wie der Zisterzienserinnen belegt ist (Opitz 1996), vermerkt die Frauenklosterforschung (zusfass. bei Opitz 1996) überwiegend einen Rückgang des klösterlichen Frauenbildungsniveaus seit dem 13. Jh. Gerade für die einflussreichen städtischen Bettelorden, die das intellektuelle Klima der Frauenklöster prägten, belegten briefliche und hagiographische Überlieferungen systematisch betriebene geschlechtskonträre Entwicklungen seit Etablierung der Universitäten (Opitz 1996). Während sich das auf öffentliche Predigt gerichtete Studium der Dominikaner- und Franziskanermönche in die Universitäten verlagert habe, sei die Nonnenbildung thematisch aufs Klosterinnere verengt worden (ebd.). Als Beispiel führt Opitz (ebd.) die als Männer- und Frauenorden gegliederten Franziskaner und Klarissen an, wo sich das Studium in der Nachfolge Franz von Assisis zur Hauptbeschäftigung der Franziskanerbrüder entwickelt habe, für die Klarissen aber nur mehr eine elementare innerklösterliche Unterrichtung gewährleistet worden sei, die sich 1263 auf Gesang und Liturgie reduzierte. Opitz (1996, 76) spricht von einer bewussten sachlich-methodischen Unterscheidung, die auf eine „interne ,Arbeitsteilung’ zielte, in welcher Nonnen hinter den Mauern ihrer Klöster für die durch die Welt ziehenden und predigenden Mönche“ beten und so „der gemeinsamen Sache nützen sollten“. Begreift man Gebet und Liturgie als zeitgenössische Art, Seelenheil herzustellen, und zieht man die große Bedeutung der Klöster für die Frauenbildung in Betracht, erschließt sich der gemeinsame Sinn zwischen den innerklösterlichen Ritualen der Nonnen und den häuslichen Aufgaben der Ehefrauen als psychosoziale Leistung am öffentlich auftretenden männlichen Subjekt. Doch zurück zur Logik des frühen Frauenbegriffs: Weder will ich dem „scholastischen Denker“, obwohl er laut Hirschberger (1980, Bd. 1, 399) der „objektiven Wahrheit“ zu dienen glaubte, ohne seine Subjektivität zu produzieren, noch seinen Ehe lehrenden klerikalen und schulmeisterlichen Abkömmlingen überwiegend anschaulich-komplexes Denken unterstellen. Vielmehr bieten sich für das Fortbestehen der anschaulichen weiblichen Geschlechtsmetaphorik neben dem Ausbau rationaler, objektivierender Naturbetrachtung folgende Interpretationen an:

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Einmal lässt sich die Koexistenz von anschaulicher Geschlechtsmetaphorik und rationaler Naturwissenschaft als Indiz für Ungleichzeitigkeiten der historischen Begriffsentwicklung interpretieren, die man auf den speziellen soziokulturellen Interessensfokus der akademischen Gelehrten und daraus resultierende Qualitätsunterschiede der Gegenstandsausleuchtung zurückführen kann. Ein zweiter Gesichtspunkt wäre, dass die mangelnde Selbstreflexivität des mit dem Begriff der „erziehenden Verführerin“ interagierenden rationalen Subjektbegriffes ein frühes historisches Entwicklungsstadium dieses Begriffes anzeigt. Was insoweit nicht verwundert, als sich das rationale Subjekt mit dem Entstehen der Universitäten gerade erst konstituierte und in der Vergegenständlichung der Sache konturierte. Die Reflexion arbeitsteilig intersubjektiver Verhaltensregulierung hingegen, die damals noch der vorherrschende Modus psychischer Steuerung gewesen sein dürfte, hätte ein entwickelteres Reflexionsvermögen vorausgesetzt, das Wygotski (2002) zufolge erst am Ende eines langen Entwicklungsweges steht.

So ist der bei Bennewitz (1996) dargelegte, aus der Perspektive des männlichen Rechtssubjekts gezeichnete weibliche Geschlechtsbegriff – der Frauenkultur hinsichtlich ihres Gebrauchswertes für die generativen, ökonomischen, sittlichen und seelischen Interessen des Mannes wahrnimmt, ohne die damit verbundenen Tätigkeiten der Frauen darzustellen – wohl dem Umstand geschuldet, dass die mittelalterlichen Ehedidaxen fast ausschließlich von männlichen Autoren geschrieben sind (ebd.), die Psychisches noch anhand anschaulicher sozialer Gestalten versprachlichten. Indessen hielte ich es für verfehlt, aus der Exklusivität männlicher Ehelehren auf eine überwiegend männlich konstruierte Frauenpraxis zu schließen.21 Männlich erscheint mir vielmehr die wunschhaft21 Hier sei auf eine Interpretationsfalle hingewiesen, die sich aus der weitgehenden Absenz weiblicher Autorinnen aus den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ehelehren ergibt: Obwohl Frauen in den mittelalterlichen Adelshaushalten erheblichen Anteil an der sakralen und profanen Kunst hatten, indem sie u.a. den textilen Schmuck der Säle und Kapellen herstellten, ist ihre Sicht der Lebensverhältnisse heute kaum mehr nachzuvollziehen, weil diese Zeugnisse buchstäblich zerfetzt sind (Wunder 1999; Duby/Barthélemy 2000). Über das Leben mittelalterlicher Frauen ist nur das bekannt, was Männer darüber geschrieben haben (ebd.). So geben die Ehedidaxen zwar den Blick auf männliche Logiken über Frauen frei; die gestaltende Rolle der Frauen bleibt jedoch im Dunkeln. Es evoziert also schon die Quellenlage die Interpretation einer männlich konstruierten Ehefrauenrolle, die ich in Annahme der Interdependenz von sozialer Praxis und Ideengeschichte jedoch ausschließe. Zumal die Schriften Christine de Pizans anderes bezeugen. 279

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projektive Perspektive der überlieferten mittelalterlichen Ehedidaxe, die den gestaltenden Anteil der Frauen für die Nachwelt verdeckt. Ein anderes Zeugnis legen nämlich zeitgenössische höfische Romane ab, in welchen „selbständige, intellektuell den männlichen Partnern zumindest gleichrangige Protagonistinnen dominierten“ (Bennewitz 1996, 39). Dass einigermaßen gebildete Frauen zwischen dem 14. zum 15. Jh. in der Lage waren, eigenständige Lebensvorstellungen zu entwickeln, selbst unter Akzeptanz der christlichen Wertevorstellungen, zeigen die französischsprachigen Schriften von Christine de Pizan (1365-1430), – der wahrscheinlich einzigen Autorin der damaligen Frauenerziehungsliteratur, deren Schriften jedoch zu ihrer Entstehungszeit nicht ins Deutsche übersetzt wurden (Bennewitz 1996). Im Buch von der Stadt der Frauen oder dem Buch der drei Tugenden (jeweils von 1405) gibt de Pizan unterschiedlichen Frauengruppen (jung verheirateten oder verwitweten Adeligen, bürgerlichen Ehefrauen, fürstlichen Alleinerzieherinnen, Bediensteten und Prostituierten) Empfehlungen zur eigenverantwortlichen Bewältigung ihrer Lebenssituationen. Sie reichten thematisch von der vernünftigen Organisation des Hauswesens über Fragen der Finanzverwaltung und Führung der Landwirtschaft bis hin zum Waffenhandwerk und sparten dabei Mode und vor allem den klugen diplomatischen Umgang mit männlichen Beratern nicht aus (vgl. Bennewitz 1996; Zimmermann 1996). Auch die Ehe- und Sittenlehren der Frühneuzeit gingen – korrespondierend mit dem Ausschluss der Frauen aus den Universitäten – überwiegend auf männliche Autoren zurück (Müller 1993; Niestroj 1985). Womit sich an der Dominanz einer äußerlich bleibenden androzentrischen Diskursperspektive auf die Frauen letztlich wenig änderte. Wohl war mit der Familiarisierung des Lebens und der europaweiten Verbreitung des Renaissance-Humanismus seit Mitte des 15. Jhs. ein Paradigmenwechsel eingeleitet, der anstelle der gottgewollten Ordnung die schöpferische Potenz und umfassende Erziehbarkeit des Menschen hervorkehrte, was durchaus auch für Frauen galt. Jedoch ging – wie ich später anhand der Erziehungslehren erörtere – mit der humanistischen Pointierung des erziehbaren individuellen Subjektes eine mütterliche Vereinnahmung der Frauen einher, die die Trennung von männlicher Öffentlichkeit und weiblicher Innerlichkeit weiter verfestigte. Nicht unwesentlich dürfte dabei die Verschränkung neuer Ideen mit traditionellem, auf sprachlicher und praktischer Überlieferung basierendem Denken gewesen sein, was sich aus heutiger Sicht als widersprüchlicher Prozess darstellt. So konfligierten geschlechtsegalitäre humanistische Bildungsauffassungen, die am konsequentesten wohl in Thomas Morus’ Utopia von 1516, aber auch in Erasmus von Rotterdams Dialog 280

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Der Abt und die gelehrte Frau von 1526 niedergelegt sind, mit der hierarchischen Auffassung des vom Scholastiker zum Humanisten konvertierten Spaniers Juan Luis Vives, der demselben Kreis angehörte wie Morus und Erasmus (vgl. Fietze 1996a; Günther et al 1973). Die hochgebildeten Töchter Thomas Morus’ vor Augen und im Widerspruch zur humanistischen Überzeugung der vollkommenen Bildbarkeit aller Menschen (vgl. Müller 1993) formulierte Vives 1523 in seiner Schrift zur Unterweisung der christlichen Frau De institutione feminae Christianae ein häusliches, auf Keuschheit, Fleiß und Unterordnung gerichtetes Frauenbildungskonzept, welches vor Anfechtungen männlicher Sexualität bewahren und der „anrichtung vnd besserung der sytten“ nutzen sollte (Vives, zit. nach Fietze 1996a, 131). Andernorts die Konkurrenzfähigkeit der Frauen in Kunst und Wissenschaft verteidigend (vgl. Müller 1993), schrieb er hier: „Ein weib soll verborgen / und nit vielen bekannt sein“, soll „nur für sich allein lernen / oder zum höchsten für jhre kinder.“ (Vives 1523, zit. nach Müller 1993, 61)

Maria E. Müller (1993, 64) interpretiert Vives’ frühneuzeitliche Konzeption des weiblichen Lebensraums als „unentbehrliche Gegenwelt“ einer gefahrvollen Öffentlichkeit. Die Parallelität zur Refugiumsfunktion der Familie in den rund 300 Jahre späteren bildungsbürgerlichen Geschlechtscharakteristiken drängt sich auf. Vives’ hochauflagige, ins Spanische, Französische, Englische und Deutsche übersetzte Schriften wurden symptomatisch für das abendländische Geschlechtsverständnis (Fietze 1996a; Müller 1993). Schon seiner Eheempfehlung, „ain frŭme fraw herrscht vber jren mann / Weňs jm gantz willig ghorsam erzaigen kann“ (Vives, zit. nach Müller 1993, 63) lag die probate, im 18./19. Jh. physiologisierte Stärke-Schwäche-Dialektik inne, die der rechtlich und nun auch zunehmend bildungsmäßig unterlegenen Frau erzieherische Macht über ihren Ehemann zusprach.22

22 Zur mentalen Nachhaltigkeit dieses Schemas sei Das häusliche Glück von 1882, ein Haushaltsratgeber für proletarische Frauen angeführt, wo es heißt: „Du sollst ja recht viel, Alles bei ihm [dem Ehemann] vermögen, um ihn zu bessern und zu veredeln, um die Gottesfurcht und den häuslichen Sinn beständig in ihm zu wecken. Mit Bescheidenheit gelingt dir das leicht, mit Anmaßung nimmermehr“ (Das häusliche Glück 1882/1975, 12/13, Hg. Commission des Verbandes „Arbeiterwohl“). 281

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Bekanntermaßen überbrückte auch Martin Luther diesen Widerspruch nicht, obwohl er der misogynen Leibfeindlichkeit des scholastischen Frauenbildes insoweit abgeschworen hatte, als seine Ehelehre unter ausdrücklicher Anerkennung ehelicher Sexualität der Auffassung gleichwertiger Gottesebenbildlichkeit von Mann und Frau nach Genesis 1, 2 folgte (vgl. Fietze 1996a; Scharffenorth 1993). Bei Luther, der sich gleich anderen Reformatoren für die Frauenbildung im Interesse christlicher Familienunterweisung eingesetzt hatte, blieb die Frau „Gehilfin in allen Dingen, im besonderen, Kinder zu bringen“ (Luther 1519, zit. nach Fietze 1996a, 128) und erhielt eine Schlüsselrolle bei der Erfüllung des obersten Ehezweckes, der christlichen Erziehung der Nachkommen (vgl. Fietze ebd.). Luthers 1530 erhobene Forderung einer allgemeinen Schulpflicht, die ausdrücklich Mädchen einbezog, fußte auf einem Geschlechtskonzept, das Mädchen auf Haushaltsführung und Gemeinschaft, Ehe und Kindererziehung festlegte und die geistige oder berufliche Bildung den Knaben zudachte (vgl. Westphal 1996).

Abspaltungen und Inkonsistenzen der Begriffsentwicklung Insgesamt widerspiegeln scheinbar widersprüchliche Dynamiken, dass der mit den Universitätsgründungen eingeleitete Geschlechtswandel der Bildung konflikthaft war und die Rationalisierung der Weltsicht nicht ohne Abspaltungs- und Projektionssprozesse verlief. Parallel zur akademischen Rationalisierung des männlichen Geistes scheint es Phasen der Belebung des Marienkultes gegeben zu haben (Blazek 2001; Zotz 2003), in welchen Maria zur Trösterin und Heilerin ganzer Städte und Gemeinden stilisiert worden war. Deren Gegenbewegung bildeten die seit dem 12./13. Jh. verstärkten Dämonisierungen von Frauenkultur, die ihren Höhepunkt in den Hexenprozessen des 15. und 16. Jhs. erreichten (Wunder 1999 II; Ahrendt-Schulte 1993). Beide Phänomene gingen auf die Wiederbelebung frühmittelalterlicher bzw. heidnischer Traditionen zurück (ebd.) und schrieben Frauen rational schwer zu fassende Kräfte zu. Beide lassen sich als Abspaltungen und Projektionen sexueller und anderer leiblich-affektiver Bedürfnisse (Blazek 2001) interpretieren, die mit der Rationalisierung der abendländischen Kultur einhergegangen waren. Dazu gehört auch die Entwicklung von Mystik bzw. Mystifizierung, die, wie die Regnum-Christi-Doktrin der katholischen Kirche, als Abwehr des physikalischen Weltbildes gesehen oder eben, wie der Marienkult, als Reaktionsbildung auf die Rationalisierung der Kultur gedeutet werden kann. An dieser Entwicklung hatten die von der universitären Entwicklung abgeschnittenen Frauen sowohl aktiv in Form mystischer bzw. mystifizierter Religionspraktiken als auch 282

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passiv im Sinne der Mystifizierung von Frauenalltag besonderen Anteil (Opitz 1996).23 Hinsichtlich des weiblichen Arbeitsbegriffs ist interessant, dass sich der Vorwurf magischen Schadenszaubers, der sich seit dem 15. Jh. besonders an Frauen richtete, vorzugsweise an weiblichen Arbeitsbereichen fest machte (Wunder 1999 II; Ahrendt-Schulte 1993). Neben Geburtshilfe, Ernährung und Heilkunde betraf er Bereiche der Nahrungsproduktion wie Bierbrauen, Viehpflege, Milchverarbeitung und ließ auch männliche Trunksucht und Impotenz nicht aus (Ahrendt-Schulte 1993), die ja den Ehelehren gemäß ebenfalls in den Verantwortungsbereich der Frauen gehörten. Ohne diese (teils wenig erforschten) Phänomene genauer abhandeln zu können, möchte ich damit auf Ungleichzeitigkeiten und Widersprüche der abendländischen Kultur- und Denkentwicklung hinweisen, die im geschlechtlichen Begriffsgefüge niedergelegt sind. Sie indizieren, dass überlieferte Wissens- und Bewältigungsformen, die sich traditionell mit der Arbeits- und Lebensweise von Frauen verbanden, nicht einfach den Prinzipien akademischer Logik untergeordnet, sondern teils von diesen abgespalten und mystifiziert, teils auch rational unausgeleuchtet weiterpraktiziert wurden und den lebenspraktischen Background des individuellen Subjektes abgaben. Dabei dürfte die jahrhundertelange Exklusivität der männlichen Akademikerkultur maßgeblich dazu beigetragen haben, dass geschlechtliche Arbeits- und Persönlichkeitsbegriffe nicht nur differentielle Bedeutungsmerkmale verallgemeinern, sondern sich auch hinsichtlich ihrer logischen Beschaffenheit erheblich unterscheiden.

1 4 . 5 B e g r i f f l i c h e S ynt h e s e v o n i n t e l l e k t u e l l e r u n d h a n dw e r k l i c h e r Ar b e i t Die historische Genese des rationalen, individuellen Subjektes wäre unvollständig skizziert ohne die sozialhistorische Dimension, mit der die Entwicklung der Städte und städtischen Universitäten aufs Engste verschränkt war: Gemeint ist handwerkliche Arbeit, die gestaltgebend auf den Begriff des hervorbringenden rationalen Subjektes wirkte und mit der technisch-zwecksetzenden Geisteskultur zunehmend synchronisiert wurde. 23 Die Frauenklosterforschung (zusf. bei Opitz 1996, 70 f.) berichtet von mystischen Frauenklosterpraktiken, die noch wenig erforscht und nach heutigen Maßstäben kaum zu qualifizieren sind. Weshalb auch schwer zu beurteilen ist, inwieweit diese Praktiken mystisch waren oder aus rationalistischer Sicht mystifiziert worden sind. 283

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Obgleich sich zu Anfang die deskriptiven, auf diskursiver Logik beruhenden scholastischen Wissenschaften noch stark von den artes mechanicae, den handwerklichen Künsten, unterschieden (Lundt 1996), begann die begriffliche Überlagerung von akademischer und handwerklicher Arbeit schon im Hohen Mittelalter. Wiederum ist Thomas von Aquin, der Hauptvertreter der Hochscholastik, anzuführen, der Mitte des 13. Jhs. den christlichen Schöpfungsgedanken im Bild des zu jener Zeit verstärkt auftretenden Handwerkers oder Künstlers reformulierte (Hirschberger 1980 Bd. 1; Russel 1999). In Auseinandersetzung mit Platon, Aristoteles und der Stoa erkannte Thomas im intentionalen Zweck die Ursache aller Ursachen (ebd.). Der Zweck, der eigentlich dem aristotelischen Téchnē-Denken entspringt, verleiht demnach dem Werk Gottes Sein, Werden, Ordnung und Form. Angesichts der Orientiertheit dieses Denkens am anschaulichen sozialen Vorbild spricht Hirschberger (1980 Bd. 1, 499) von einer „apriorischen Ideologie, die Gestalten und Gestaltzusammenhänge, Ziele und Tendenzen zunächst im Planen und Schaffen des homo faber [...] unmittelbar schaut und dann in Übertragung dieser technischen Denkform auf das Weltganze, auch dort zu schauen glaubt“. Mit dem homo faber wurde das ältere, neuplatonische Bild der Emanation, das die Schöpfungsgeschichte als Ausströmung Gottes begriff, allmählich zugunsten eines subjekthaften Gottesbildes verdrängt bzw. bei Cusanus und später Kopernikus geometrisch-mathematisch rationalisiert (Hügli/Lübcke 2000; Hirschberger 1980 Bd. 1). War auch der technische Zweck bei Thomas von Aquin noch an Gottes Werk gebunden, signalisiert seine Verwendung ein neues Paradigma: Indem ein planendes Subjekt einer zielgerecht zu verändernden Materie gegenübergestellt wurde, gerierte Poieses allmählich zum Welterklärungsmuster. Damit verband sich ein diesseits gerichteter Realismus, der den einzelnen Menschen via vernünftigem Intellekt an Gottes Schöpfertum partizipieren und Wirklichkeit gestalten ließ. Als der Humanismus im 14./15. Jh. die Scholastik als vorherrschende Denkweise verdrängte, verstärkten sich vor dem Hintergrund familialer Verselbstständigung und gesteigerter Professionalisierung (Wunder 1993b) neuzeittypische Tendenzen. Dazu gehörten die Wertschätzung von Individualität sowie die Synchronisation von akademischer und handwerklicher Arbeit im Begriff des hervorbringenden Subjektes. Letzteres will ich anhand der Pädagogik nachvollziehen, der seit der Renaissance eine zentrale Rolle bei der Neuformulierung des Menschenbildes zukam: Anstelle der scholastischen Interpretation überlieferter Worte rückte der Humanismus hervorbringende Tätigkeit in den Vordergrund und erklärte den Menschen zum schöpferischen Zentrum der verdiesseitigten 284

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Welt (Hügli/Lübcke 2000; Blättner 1961; Günther et al 1973; Hirschberger 1980 Bd. 2). Im Hervorheben der Sache und der Erfahrung konturierte sich das individuelle Subjektverständnis mit der für den Humanismus charakteristischen Betonung von Wahrnehmung, Eigenart, Würde und Erziehung (ebd.). Empirische Beobachtung und zweckgerichtete Technik wurde zu einem Mittel von Politik, Kunst und Literatur (Günther et al 1973; Hirschberger 1980 Bd. 2). In der entstehenden Pädagogik, der Wissenschaft von der Gestaltung des Menschen selbst, erfolgte eine sukzessive Hinwendung zu den „Realien“ des Lebens (Blättner 1961; Günther et al 1973). Dieser, in Montaignes Essays (1580-1588) erstmals formulierte, zeittypische Begriff repräsentierte neben der Hinwendung zum muttersprachlichen Unterricht die Vorbereitung adeliger und großbürgerlicher Zöglinge auf den zweckgerichteten Umgang mit Handwerkern und Bauern (ebd.). Später, bei Comenius (1592-1670), stand der Begriff dann generalisierend für die Integration handwerklicher Künste in das Erziehungsideal des neuen Menschen (vgl. Blättner 1961). Mit dem Bedeutungszuwachs von Technik und Empirie avancierte hervorbringende Handarbeit immer mehr zur Grundlage rationaler Geistesbildung. War bereits in den humanistischen und reformatorischen Erziehungslehren der Nützlichkeitscharakter von Wissenschaft betont, wurde er in der Folgezeit zunehmend mit handwerklichem Hervorbringen synchronisiert, wobei allerdings die Dichotomie von Hand- und Kopfarbeit gewahrt blieb. Schon bei Thomas Morus (1480-1535) hatte handwerkliche Arbeitserziehung als Unterpfand geistiger und naturwissenschaftlicher Bildung gegolten (vgl. Blättner 1961; Günther et al 1973). In der späteren, von Bacons naturwissenschaftlicher Methode inspirierten mechanischen Erziehungstheorie Comenius’, die richtungsweisend wurde für die moderne Pädagogik, bildeten im Kleinkindalter geförderte handwerkliche Betätigung und beobachtende Sinneserfahrung die Grundbedingung individueller Geistes- und Sittlichkeitsentwicklung (vgl. ebd.). Dass die Synthese von technischem Handwerk und rationalem Geist mehr und mehr geschlechtlich fixiert wurde und sich mithin ein relativ einheitlicher Begriff von Männlichkeit entwickelte, den Hoffmann (1983) in der goethezeitlichen Literatur konstatiert, spiegelt sich ebenfalls in den Bildungstheorien. Im Renaissance-Humanismus konfligierte noch die geschlechtsegalitäre Bildungstheorie eines Thomas Morus’, dessen Utopia handwerkliche Grundbildung gleichermaßen für Männer und Frauen vorsah (vgl. Günther et al 1973), mit dem häuslichen Frauenbildungsmodell Juan Luis Vives’, wobei sich nicht Morus durchsetzte, sondern Vives, dessen Erziehungsschriften europaweit nachgefragt waren (vgl. Fietze 1996a; Niestroj 1985). Auch Luthers geschichtsträchti285

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ger Schulentwurf sah handwerkliches Können nur für Jungen vor (vgl. Westphal 1996). Rund 100 Jahre später endete bei Comenius, der wegen seiner stufenförmigen Didaktik als Schrittmacher der neuzeitlichen Pädagogik und Förderer der Mädchenbildung gewürdigt wird (vgl. Knoop/ Schwab 1994), die geschlechtsübergreifende Bildung der Muttersprachschule im zwölften Lebensjahr. Comenius’ weiterführende Lateinschule und seine wissenschaftliche Akademie gehörten den Jungen (ebd.). John Locke (1632-1704), einer der „bedeutendsten pädagogischen Theoretiker des aufstrebenden Bürgertums“ (Günther et al 1973, 137) und Vordenker Rousseaus, parallelisierte bekanntermaßen Pädagogik mit einer ökonomisch pointierten Gesellschaftsvertragstheorie. Den Söhnen der Oberschicht dachte Locke (1692/1980) eine „Gentlemen“-Erziehung zu, die neben der Muttersprache, Geschichte, Jurisprudenz und Mathematik mindestens ein Handwerk umfasste (vgl. Günther et al 1973). Für die Töchter empfahl er eine zu Zurückgezogenheit und Schamhaftigkeit anhaltende Variante, aus der sittliche Klugheit resultieren sollte (vgl. Brokmann-Nooren 1994). Auch Pädagogen wie August Hermann Francke (1663-1727) oder Johann Julius Hecker (1707-1786), die sich im Interesse der Ausbildung der niederen Stände um die Realschule verdient gemacht hatten (vgl. Günther et al 1973; Blättner 1961), konzentrierten ihre berufsvorbereitenden Angebote auf die männliche Jugend (vgl. Brokmann-Nooren 1994). Mitte des 18. Jhs. war die Synthese von handwerklichem und wissenschaftlichem Hervorbringen im männlichen Erziehungsideal kulturell so tief verankert, dass Rousseau (1762/1983) handwerklich-bäuerliches Arbeiten als natürliche, dem Geistig-Rationalen vorausgesetzte Entwicklungspotenz des männlichen Kindes auffassen konnte. Für Frauen blieb neben der Klosterbildung, die nach der Reformation weitgehend von geschlechtsspezifischen Konfessionsschulen abgelöst wurde (Conrad 1993), die von Theologen, humanistischen und aufklärerischen Pädagogen empfohlene Frauenbildung im und für den häuslichen Aktionsbereich bis ins 19. Jh. die gebräuchliche Unterrichtungsform. Wohl mögen der akademische Hauslehrerunterricht und der relative Entwicklungsfreiraum einiger frühneuzeitlicher Frauenklöster (vgl. Conrad 1993; Fietze 1996b) dazu beigetragen haben, dass hoch gebildete Frauen nie ganz aus der Geschichte verschwanden und vereinzelt als Monarchin, exponierte Humanistin oder Ordensfrau auch öffentlich Einfluss ausübten. Ein auf Gruppen von Frauen verallgemeinertes Sozialschema der Neuzeit entstand daraus nicht. Vielmehr wurden mit der Fortentwicklung öffentlicher Bildungs- und Berufsinstitutionen die sozialen und methodischen Attribute männlicher Geistes- und Handwerkskultur zu hervorgehobenen Identitätsmerkmalen des neuzeitlichen Sub286

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jekts. Dessen begrifflich abstrahiertes psychosoziales Unterpfand bildete die häusliche Ehefrau und Mutter, die im theologisch, juristisch und pädagogisch unterlegten öffentlichen Diskurs zum Inbegriff des ,Weiblichen’ wurde. So ist die Herauskristallisierung des rationalen männlichen Subjektes nicht als logische Kopfgeburt zu verstehen. Sondern als Produkt einer zum soziokulturellen Typus verdichteten Arbeits- und Sozialpraxis intellektueller Akteure und ihres selbstreferentiellen Diskurses, in den schon früh die Reflexion handwerklicher Arbeit als gestaltgebender Dimension eingegangen war. Zu den Voraussetzungen und Ergebnissen dieser Reflexionstätigkeit gehörte die ideologische, rechtliche und bildungspolitische Domestizierung der Frau. Dass nicht die ,pure’ Ratio – die ohnehin eine Fiktion ist – , sondern deren soziokulturelle Strukturierung in der Gestalt des aus der häuslichen Sozialgemeinschaft herausgetretenen Intellektuellen zu der differentiellen Definition neuzeitlicher Geschlechtsbegriffe beigetragen hat, erschließt sich auch daraus, dass rationale Logik besonders in historischen Umbruchphasen durchaus geschlechtsegalitären Motiven und Folgerungen dienlich war.

14.6 Mutter-Kind-Beziehung als erzieherische Basis des rationalen Subjekts Die Kehrseite der akademischen und handwerklichen Herauskristallisierung eines sprachlich individuierten männlichen Subjekts aus familial strukturierten Lebensverhältnissen war die Inanspruchnahme der Frauen für dessen Erziehung, die sich, offensichtlicher noch als in der Ehefrauenrolle, in der Mutterrolle niederschlug. Auch daran hatten die universitär gebildeten „großen Denker des Abendlandes“ (Elias 1997 Bd. 2, 406) mit ihren beobachtenden Methoden erheblichen Anteil: Im Zuge der Familiarisierung des Lebens und der Subjektivierung des christlichen Weltbildes war die familiäre Erziehung des Individuums in den Vordergrund der Aufmerksamkeit gerückt und mit ihr die Beziehung von Mutter und Kind (Niestroj 1985; Fietze 1996a). Im humanistischen Erziehungsgedanken wurde das Gestaltungsparadigma auf Mensch und Gesellschaft (Blättner 1961; Günther et al 1973) übertragen. Der Mensch, nunmehr gedeutet als „animal educandum“, wurde „nicht geboren, sondern gebildet“ (Erasmus von Rotterdam 1529, zit. nach Niestroj 1985, 47). Auch die mit der Reformation eingeleitete Evangelisierung des Glaubens ging mit der Neubewertung elterlicher Erziehungsverantwortung einher (Scharffenorth 1993). Bei aller Unterschiedlichkeit der Theorieausprägung war der italienischen Renaissance, 287

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der nordischen Reformation und dem deutsch-niederländischen Humanismus die Betonung der Erziehung gerade auch der kleinen Kinder und der Bedeutung der Mutter für diese Aufgabe gemeinsam (Fietze 1996a; Niestroj 1985). Ende des 16. Jhs. war die frühe Mutter-Kind-Beziehung in nahezu allen Schriften über Kindererziehung thematisiert. Die frühneuzeitliche Mutter-Kind-Debatte war von einem außerordentlich hohen philosophischen Interesse begleitet, wie es danach wieder im ausgehenden 18. Jh. mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft aufkam (Niestroj 1985). Neu an dieser Entwicklung war weniger die Aufwertung der Kindererziehung als vielmehr die Fokussierung des Kleinkindes und die Signifikanz der Mutter für dessen spätere geistige und moralische Entwicklung (Niestroj 1985). Hatte sich im Mittelalter in den adeligen Haushalten, Bürger- und Handwerksfamilien ein verbreitetes Ammenwesen etabliert (ebd.), und wurde seit der italienischen Renaissance verstärkt Wert auf die Auswahl der Ammen gelegt (De la Roncière 2000), mehrten sich im 15. und 16. Jh. die theologischen, naturwissenschaftlichen und pädagogischen Argumente für eine ausschließliche erste Erziehung seitens der biologischen Mutter (Niestroj 1985). Wie alle Humanisten stellte Erasmus von Rotterdam, der führende Erziehungstheoretiker seiner Zeit, die ausschließliche Mutter-Kind-Beziehung als Voraussetzung kultureller Bildbarkeit in den Mittelpunkt seiner Gedanken über Erziehung (vgl. Niestroj 1985). Anfang des 17. Jhs. schloss Comenius’ (1636/ 1987) stufenförmiges Schulkonzept die dringende Empfehlung an die Mütter ein, ihre Kinder selbst zu stillen. – Was Frauen dazu dachten, ist weder für das 16. noch das 17. Jh. bekannt (Niestroj 1985). Popularität erlangte das Selbststillen spätestens seit 1750 (ebd.). In den anthropologischen Programmen der Aufklärung und Klassik eingefordert, wurde schließlich die frühe Muttererziehung die psychosoziale Basis bürgerlicher Subjektwerdung. Gleichwohl sich die Mutter-Kind-Dyade erst mit der modernen bürgerlichen Familie wirklich durchsetzte, hatte seit der Frühneuzeit die mutterzentrierte erste Erziehung ältere Gepflogenheiten kollektiver Kleinkinderziehung (durch Familienmitglieder oder Gesinde) sukzessive verdrängt (Niestroj 1985). Eingebettet in Strukturen männlicher Wissens- und Berufsentwicklung und weiblicher Sesshaftigkeit wurde der mit dieser Entwicklung verwachsene abendländische Begriff der „Mutterliebe“ (ebd.) zu einem aus der Vielfalt historischer Frauentätigkeiten herausgefilterten Leitmerkmal von Frauenarbeit. An der Wende des 18. zum 19. Jh. im Konzept des „natürlichen Berufes der Frau“ bildungsprogrammatisch niedergelegt (Mayer 1999), wurde jene Qualität zu Beginn des 20. Jhs. unter dem Leitbild „Geistige Mütterlichkeit“ auf die Ebene der sozialen Frauenberufe transferiert (Sachße 2003). 288

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Doch zurück zur soziokulturellen Genese und Bedeutung des abendländischen Mutterbegriffs: Brigitte Niestroj (1985) erörtert das humanistische Konzept einer ausschließlichen Mutter-Kind-Beziehung im Zusammenhang der zivilisatorischen Disziplinierung des 16. Jhs., das auch Elias (1997) als Phase der verstärkten Rationalisierung und beobachtenden Psychologisierung des Verhaltens wertet. Ähnlich wie Elias geht Niestroj (1985, 47) davon aus, dass die pädagogische Konzeptualisierung der isolierten Mutter-Kind-Beziehung auf der „Beobachtung und Erfahrung“ von Säuglingspflege- und Erziehungsgepflogenheiten beruhte und bereits „auf eine[r] Mutter-Kind-Praxis aufbaute“, die die Ausformung „eines weiteren Aspektes der Mutter-Kind-Beziehung erlaubte“, nämlich die „Bildsamkeit und [...] Imitationsfähigkeit des kleinen Kindes, die für die spätere Bildung nutzbar gemacht werden“ sollte. Dem Gedanken der rationalen Planbarkeit individueller Entwicklung verpflichtet, sei schon die humanistische Mutter-Kind-Konzeption der Logik der Vernunft und nicht der Logik der Bedürfnisse gefolgt. Weil kindliche Imitationsfähigkeit unter dieser Prämisse Konstanz und zielgerichtete Kontrolliertheit von Erziehungspersonen voraussetzt, erklärt sich Niestroj die (noch wenig erforschte) humanistische Forderung nach einer ausschließlich mütterlichen Kleinkinderziehung im Zusammenhang des in der neuzeitlichen Pädagogik vordringlichen Interesses an einer regulierenden, zwischen Liebe und Disziplin changierenden Erziehung, die am besten durch eine Bezugsperson konstant zu halten ist. So machte bei Erasmus von Rotterdam nicht ungelenkt spontanes Lieben die besondere Qualität der Muttererziehung aus, sondern die reflektiert dosierte Liebe (vgl. Niestroj 1985). Erasmus wollte die Kontrolle der Gefühle, keine „Küsse“ und „Hätscheleien“. „Es kann nicht genug betont werden, von welch überragender Bedeutung diese ersten Lebensjahre für das gesamte spätere Leben sind und wie hart und unempfänglich für die Einflüsse der Pädagogen jene weichliche und lockere Erziehung macht, die man als Nachsicht bezeichnet, die in Wirklichkeit jedoch eher Verführung ist. Solche Mütter sollte man wegen Mißhandlung anklagen.“ (Erasmus von Rotterdam, zit. nach Niestroj 1985, 47)

Ähnlich forderte Vives, Mütter sollten „ihre Liebe nicht allzu offen zur Schau tragen, damit die Kinder daraus nicht die Freiheit ableiten, nach ihrem Gutdünken und ihren Launen zu handeln.“ (Juan Luis Vives, zit. nach Niestroj 1985, 47)

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Eine wichtige Facette humanistischer Erziehung war die Körperbeherrschung. Erasmus lehnte körperliche Strafen ab und setzte auf körperliche Erziehung im Interesse kontrollierten Verhaltens (vgl. Günther et al 1973). Im 17. Jh. propagierte John Locke (1693/1980) das Errichten individueller Selbstregulierungskräfte durch Körperkontrolle. Statt körperlicher Strafen forderte er das Entwickeln kindlicher Scham mittels bewusstseinswirksamer Einschränkungen (ebd.). Durch erzwungenes Sitzen erreichter Stuhlgang sowie vom Verlangen unabhängiges Ernähren sollten Locke zufolge das Denkvermögen schulen und den Körper disziplinieren (vgl. Niestroj 1985). Als Hindernis sah auch er die „Torheit [...] der Dienstboten“, die diese „Absichten des Vaters und der Mutter durchkreuzen. Kinder, die wegen eines Fehlers zurückgewiesen wurden, finden gewöhnlich [...] Trost in den Liebkosungen jener törichten Schmeichler“ (Locke 1693, zit. nach Niestroj 1985, 19). Die reflektierte Erziehung auf Basis der frühen mütterlichen Enkulturation etablierte sich, wie Niestroj (ebd.) weiter darlegt, als überaus anpassungsfähiges Modell. Im späten 18. Jh. verband sich der Drang „zurück zur Natur“ mit Abhärtungsforderungen, die Widerstandskräfte bilden und Erfahrungsräume der Vernunftentwicklung eröffnen sollten. Rousseau (1762/1983, 20) schrieb von „grausamen Mütter[n]“, die „ihre Kinder in die Verweichlichung“ tauchen und ihnen „künftiges Leid“ bereiten. Campe (1785?/1985, 113) warnte die Mütter davor, „durch übertriebene Sorgfalt und Verzärtelung [...] das Wachsthum und die Ausbildung der Seelenfähigkeiten“ der Kinder zu behindern. Kant wetterte gegen „allzu große mütterliche Zärtlichkeit“ der gemeinen Leute, die Kinder davon abhalte, „sich den Vorschriften der Vernunft zu unterwerfen“ (Kant, zit. nach Niestroj 1985, 21). Waren für Rousseau, Campe oder Kant durch mütterliche Abhärtung gelenkte Umweltauseinandersetzung die Grundlage individueller Vernunftentwicklung, bewertete später Freud (1972) den körperlichen Bedürfnisaufschub als Bedingung von Ich-Bildung und Introspektion. Auch für die Kognitionspsychologie beginnt die sensumotorische Vorbereitung der Denkentwicklung (Piaget 1969; 1983) an der Mutterbrust. Wygotski (1987) legt die erste bedeutungshafte Geste in die Interaktion von Mutter und Kind. In all diesen Theorien beginnt die kulturelle Regulierung von Sinnlichkeit und Affekt in der frühen Mutter-Kind-Beziehung. Die ausschließliche Mutter-Kind-Beziehung wurde, wie Niestroj (1985, 11) in Auseinandersetzung mit deren fast 600-jähriger Geschichte schreibt, richtungsweisend für die moderne Psychologie und blieb bis in die Gegenwart theoretischer „Kristallisationspunkt für inter- und intrapsychische und kulturell-geschichtliche psychosoziale Charakteristika“. Die „diskriminierende Liebe, die alle anderen Bezugspersonen von der 290

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Mutter und ihrer Einmaligkeit unterscheidbar werden lässt, und die nach Freud zum Vorbild nicht nur für die Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern für jegliche Beziehung wird“ (Niestroj 1985, 46), verdichtete sich zum Topos der basalen Strukturierung individuierter Persönlichkeiten, das den unterschiedlichsten modernen Theorien, vom Behaviorismus Watsons über die Psychoanalyse bis hin zur Kognitionspsychologie, inneliegt. Korrespondierend mit der geschlechtlichen Diversifizierung öffentlicher und privater Sphären ist die frühe Mutter-Kind-Beziehung zur primären Phase eines zweigeteilten menschlichen Entwicklungsschemas geworden, dessen sekundäre Phase die väterlich konnotierte Geistesund Berufsentwicklung vorstellt. In den konfessionellen Bildungseinrichtungen des ausgehenden 16. Jhs. erstmals institutionalisiert (Conrad 1996), wurde aus familialer Arbeitsteilung unter den Bedingungen weiblicher Sesshaftigkeit und männlicher Beruflichkeit ein kulturelles Entwicklungsprinzip. Zweifelsohne hat dieses Schema im spätaufklärerischen und klassischen Diskurs über die „Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1976) seine bis heute nachwirkende anthropologische Essentialisierung erfahren. Doch war es keine Erfindung der Moderne. Vor dem Erfahrungshintergrund lange tradierter Gepflogenheiten weiblicher Säuglings- und Kleinkinderziehung in Kemenaten, Bürgerhaushalten und Bauernstuben hatte schon Erasmus von Rotterdam in seiner 1529 erschienenen Schrift Über die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Charakter- und Geistesbildung die Mütter aufgefordert, ihre Kinder von Geburt an zu erziehen und die Väter in die Pflicht gerufen, für die spätere Ausbildung zu sorgen (vgl. Niestroj 1985). Im 18. und 19. Jh. sziensifiziert und philosophisch integriert, wurde dieses Erziehungsschema Inbegriff eines Menschenbildes, in dem körperliche Bedürfnisse, Gefühle und rationale Vernunft als scheinbar separate, sprachlich kaum vereinbare hierarchische Schichten auftreten. Eine der prominentesten Auflagen dieses Schichtmodells ist die Psychoanalyse, der zufolge die Mutter als primäres soziales „Objekt“ eine über Identifikation und Bedürfnisaufschub erlangte Ich-Bildung evoziert, die das affektive Es kontrolliert und so die Hereinnahme des väterlichen ÜberIch als Statthalter kultureller Vernunft ermöglicht (vgl. dazu RohdeDachser 1992). Ende des 18. Jhs. analog Campes Konzept eines „natürlichen Frauenberufes“ (vgl. Mayer 1999) soziostrukturell verfestigt und im Industriezeitalter unter der Metapher „geistiger Mütterlichkeit“ verberuflicht (Sachße 2003), wirkt dieses Schichtmodell bis heute in der sprachlichen Kontradiktion sozialer und technischer Berufs- und Persönlichkeitsprofile fort.

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15 L O G I S C H E D I F F E R E N Z E N DER BEGRIFFSENTWICKLUNG

Hinsichtlich der sprachlichen Generalisierung von weiblicher Empathie und männlicher Ratio gibt dieser kurze Aufriss der Pädagogikgeschichte zu erkennen, dass die akademische Konzeptualisierung der MutterKind-Beziehung niemals von der rationalen kulturellen Langsicht der Mütter absah. Im Gegenteil, man bediente sich der affekt- und körperregulierenden Funktion der Mutter, ihrer Zukünftiges reflektierenden Liebe als einer unverzichtbaren Voraussetzung individueller Kulturfähigkeit, ohne allerdings diese rationalen Aspekte mütterlicher Erziehung explizit zu verbalisieren. Nicht nur die frauenfreundliche Position des Erasmus von Rotterdam, auch die historisch folgenträchtigere, restriktive Erziehungslehre Juan Luis Vives’ setzte implizit auf Steuerungspotentiale der Mütter, die man heute im Kontext personenbezogener Berufe notdürftig als Qualitäten ,prozesshaften’ Arbeitens bezeichnet. Auf einen differenzierteren Begriff gebracht bedeuten diese Potentiale permanentes Abwägen von empathischer Bedürfniserkennung, körperlicher Zuwendung und vorausschauender kulturreflexiver Steuerung sowohl des kindlichen als auch des eigenen Verhaltens. Intersubjektive Handlungsqualitäten also, die nicht nur die Affektation und soziale Entwicklungsperspektive des Kindes aufeinander abstimmen, sondern zugleich auch das eigene Interaktionsverhalten hinsichtlich kultureller Anforderung rational reflektieren. Nach Holzkamp (1978) wäre diese Erziehungsarbeit als langsichtige, in reafferenten Abstimmungsbewegungen zwischen Erziehungszielen und alltäglichen Praktiken erfolgende Tätigkeit zu definieren, die Alltagsaufgaben, entwicklungspsychologische

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Einsichten, kulturelle Entwicklungsziele, individuelle Äußerungsformen und Befindlichkeiten des Kindes reflektierend umschließt. Dass trotzdem noch immer von männlicher Ratio und weiblicher Empathie die Rede ist, hängt meines Erachtens entscheidend mit der differentiellen Entwicklung der logischen Qualitäten geschlechtlich assoziierter Tätigkeitsbegriffe zusammen. Im Kontext zünftiger und akademischer Institutionen stellte die Bedeutung des rationalen Berufssubjektes schon früh ein handwerklich und naturwissenschaftlich ausgeleuchtetes sowie ökonomisch, juristisch und philosophisch systematisiertes Verallgemeinerungsschema vor, in dessen Begriff arbeits- und wissenschaftspraktisch kultivierte Methoden aus der Innenperspektive der herstellenden Subjekte eingegangen sind. Hingegen blieben die Bedeutung der liebenden Mutter und ihrer beruflichen Derivate seit ihrer humanistischen Hofierung einer anschaulich-komplexen Sprache verhaftet, die, aus äußerer Beobachtung und anschaulicher Erfahrung gewonnen, keine bewusste Methodik thematisiert.

15.1 Geschlechtsdifferentielle Begriffslogiken Ziehen wir als erstes Beispiel Erasmus von Rotterdams Begründung der ausschließlichen Muttererziehung im Lehrdialog Die glückliche Mutter aus den Vertrauten Gesprächen (um 1526) heran. In diesem Dialog belehrt ein Mann, der Maler Eutrapelus, die junge Mutter Fabula über die Notwendigkeit des Selbststillens. Erasmus gibt also eine äußere, beobachtende Sicht auf Kinderversorgungspraktiken vor und stellt aus dieser Perspektive einen Kausalzusammenhang zwischen kindlicher Imitationsfähigkeit, Körpersäften, angeborener Liebe und kultureller Moralentwicklung her. „Nehmen wir an, es sei gleichgültig, was für eine Milch ein zartes Kind trinkt, was für einen Speichel es mit der vorgekauten Speise in sich aufnimmt, [...] glaubst du denn, daß es eine Amme geben wird, die alle Unannehmlichkeiten der Säuglingspflege hinabwürgen kann wie eine Mutter, daß sie bei den vollen Windeln, dem Abhalten, dem Geplärre, den Krankheiten die unerlässliche Sorgfalt aufbringen wird? Nur wenn sie die Liebe einer Mutter hat, wird sie wie eine Mutter um all das besorgt sein. Dann wird es aber dahinkommen, daß dein Kind dich selber weniger liebt: seine natürliche Liebe wird zwischen zwei Müttern geteilt sein, und auch Du wirst du dich nicht mehr mit der gleichen Liebe zu deinem Kind hingezogen fühlen, wenn es beim Heranwachsen deinen Geboten weniger gehorcht, du wirst vielleicht in der Sorge für dein Kind abgekühlt werden, wenn du mitansehen mußt, daß es seiner Amme nachgerät. Die erste Bedingung für alles Lernen ist die wechselseitige Liebe zwischen 294

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

Lehrer und Schüler. Demgemäß wirst du deinem Kind die Gebote eines rechtschaffenen Lebens leichter beibringen können, wenn jener angeborenen zärtlichen Zuneigung nichts entzogen ist. Denn gerade auf die Erziehung hat die Mutter keinen geringen Einfluss, weil sie es mit einem überaus prägsamen und bildsamen Stoff zu tun hat.“ (Erasmus von Rotterdam 1526/1941, 290)

Obwohl Erasmus’ Menschenbild eines „animal educandum“ die gebildete Mutter ausdrücklich einbezog, verbalisierte er mit keinem Wort deren Subjektqualitäten in Form bewusster methodischer Interaktion, wie sie als Lenkung der Aufmerksamkeit, sprachliche Wiederholung, Ansprache, Belohnung oder Bestrafung praktiziert worden sein könnte. Vielmehr präsentierte er eine anschauliche Gemengelage von Stoffwechsel und natürlicher Liebe. Die kulturellen Entwicklungspotentiale jener „angeborenen Zuneigung“ verortet er einseitig beim Kind. Die als „Sorgfalt“ bezeichnete erzieherische Langsicht setzt er mit dem Begriff „Mutter“ einfach voraus. Wohl streift Erasmus sprachliche Kommunikation. Letztendlich sind es jedoch Erfahrungen aus dem Ackerbau, die er auf die erzieherische Wirkung der Mutter überträgt: „Und wenn dein Kind zu lallen anfängt und dich mit süßem Gestammel Mutter nennt, mit welcher Stirn willst du das von ihm anhören, wenn du ihm die Mutterbrust verweigerst und es mit einer gemieteten Brust abspeisest. [...]. Ich wenigstens bin der Ansicht, dass bei Kindern durch die Beschaffenheit der Milch die angeborenen Charaktereigenschaften nachteilig beeinflusst werden können, ebenso verwandelt ja auch bei den Früchten und Pflanzen der Saft der Erde die Natur dessen, was sie ernährt.“ (Erasmus von Rotterdam 1526/1941, 289)

Sowohl in der Begründung als auch in der männlichen Perspektivität ähnlich liest sich der rund 100 Jahre spätere Selbststillaufruf, den der als Comenius bekannte Begründer des modernen Klassenunterrichtes, Jan Amos Komenský, im Informatorium der Mutterschul (1636/1987) an Schwangere und junge Mütter richtete.1 Von der protestantischen Glaubensgemeinschaft der „Böhmischen Brüder“ kommend, übertrug Comenius (Komenský) Elemente der urchristlich verstandenen Lebenspraxis 1

Comenius’ Mutterschul reichte vom Mutterleib bis zum sechsten Lebensjahr und war die erste Stufe eines vierstufig entworfenen Schulsystems. Die nachfolgenden, jeweils sechs Jahre dauernden Schulen waren die Muttersprachschule, das Gymnasium und die Universität. Die „Mutterschul“ hatte Blättner (1961, 58) zufolge „diesen Namen“ erhalten, „weil in den ersten 6 Lebensjahren, während derer das Kind an der Hand der Mutter aufwächst, der Grund für alle spätere Erziehung gelegt wird.“ Kinder sollten hier die sinnlichen Grundlagen von Wissen, Ethik und Sitte erfahren (vgl. Blättner 1961; Knoob/Schwaab 1994). 295

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

der antifeudalen Sektenbewegung auf die weltliche Familie (Knoob/ Schwaab 1994), die er als erste Stufe eines insgesamt vierstufigen Schulsystems ansah. Mit Blick auf den Willen Gottes sowie die Gesundheit der Kinder und Mütter, leitete er ähnlich Erasmus die leib- und charakterbildende Wirkung des Stillens ebenfalls aus anschaulichen Metaphern her. Anstelle des Ackerbaus griff er auf narrativ übermittelte Beispiele aus Viehzucht und Menschengeschichte zurück: „Es bezeuget der berühmte Philosoph Favorinus, daß gleich wie der Same eine verborgene Kraft den Leib und Gemüt auf die Art seines Ursprungs zu formieren in sich hat, also nicht weniger die Milch, welches er im Exempel der Lämmlein und Böcklein bekräftigt. Denn gleich wie die Lämmlein, welche von den Ziegen gesäuget werden, viel gröbere Wolle haben denn die, welche von ihren eigenen Müttern erzogen werden. Und hergegen die Böcklein, wenn sie von den Schafen gespeiset werden, kleinere und weichere Haare bekommen, die der Schäfer nit ungleich sind. Wer sieht daher nit, daß die Kinder, mit fremder Milch erzogen, nicht der Eltern, sondern fremder Leute Art an sich nehmen?“ (Komenský 1636/1987, 55, Satzbau im Orig.)

Eine Reihe von historischen Beispielen zur charakterformenden Wirkung des Stillens, deren Deutung stark an Schadenszauberfantasien über weibliche Arbeitsbereiche (vgl. Ahrend-Schulte 1993) erinnert, gipfelt schließlich in folgendem Schluss: „Kaiser Caligula war ein ruchloser Mensch und grausamer Tyrann, dessen Schuld man weder seinem Vater noch seiner Mutter gegeben, sondern der Säugammen [...], welche über das, daß sie selbst boshaft, blutig und tyrannisch war, noch dazu die Wärzlein ihrer Brüste mit Blut bestriche und also das Kind daran saugen ließe. [...] Siehe da, so viel liegt an einer Säugamm, nicht allein den Leib, sondern auch die Sitten des Kindes zu formen.“ (Komenský 1636/1987, 57)

Bedenkt man, dass Comenius im Jahre 1636, als Galilei das Naturexperiment im konstant gehaltenen technischen Setting (Böhme 1998) noch erprobte und Bacon die Regeln naturwissenschaftlicher Methodik gerade erst formuliert hatte,2 wundert es nicht, dass Comenius für praktisch tradierte Methoden der Kleinkinderziehung keine analytischen Worte hatte, sondern sie aus der Position des äußeren Betrachters wie ein anschauliches Naturphänomen beschrieb. Leuchtet doch ein, dass der Begriff des methodisch arbeitenden rationalen Subjektes, der sich seit der Renaissance in den dinglichen Objekten künstlerischer und handwerklicher 2 296

Galileis Discorsi ist 1638 erschienen, Bacons Novum organum 1620.

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Arbeit konturierte und seit Anfang des 17. Jhs. naturwissenschaftlich vergegenständlicht wurde, nicht ohne weiteres auf intersubjektive Tätigkeiten übertragbar war. Besonders nicht auf solche, bei denen sich die Kausalität von Tun und Effekt der Wahrnehmung des wissenschaftlichen Betrachters entzog. Mag bei der klassenförmigen und daher verhältnismäßig invariant gestaltbaren Beschulung älterer Kinder die Vermittlung eines Fächerkanons, der zum Beispiel in Comenius’ Muttersprachschule Lesen, Schreiben, Rechnen, handwerkliche Fächer, Geographie und Geschichte umfasste, als beobachtbarer Erfolg des methodisch vorgehenden Lehrers auszumachen gewesen sein. Bei der ungeregelteren häuslichen Erziehung – und allemal bei der gerade ans Licht des wissenschaftlichen Interesses gezogenen weiblichen Säuglings- und Kleinkinderziehung – dürfte sich das anders dargestellt haben: Nach Wygotskis Befund einer sich aufbauenden Entwicklung auch des verballogischen Begriffes ist es geradezu sinnfällig, dass die sprachliche Repräsentation rationalen Handelns, die sich ja Mitte des 17. Jhs. in der objektgerichteten Methode und ihrer öffentlich wahrgenommenen Vergegenständlichung im dinglichen Produkt brach, aus mindestens zwei Gründen noch nicht auf weiblich tradierte häusliche Erziehungspraktiken anwendbar war: • Zum einen dürften die methodischen Merkmale des Rationalitätsbegriffes zu jener Zeit noch so stark mit dem soziokulturellen Habitus des männlichen Rechts- und Berufssubjektes verbunden gewesen sein, dass sie von diesem schwerlich zu lösen und auf andere Personenschemata zu übertragen waren. • Zum anderen setzen systematische Methoden der dinglichen Vergegenständlichung, die die gedankliche Trennung von Herstellungssubjekt und -objekt ermöglichen, Invarianzen von Arbeitsmitteln und Arbeitsobjekten voraus, die auf hoher diskursiver und empirischer Verallgemeinerung beruhen und sich nicht ohne weiteres auf intersubjektive Prozesse anwenden lassen. Nun hatte mit Comenius’ Konzeption des Klassenunterrichtes sowie dessen aus Naturbeobachtung und Bacons Methodenlehre hergeleiteter Didaktik die Objektivierung von Erziehung in Form einer der technischen Subjekt-Objekt-Trennung vergleichbaren Gegenüberstellung des Lehrsubjektes und seines Gegenstandes, des verallgemeinerten Schulkindes, gerade erst begonnen. In Anlehnung an Bacon hatte er den Schulunterricht mechanisch ausgelegt und mit einer „didaktischen Maschine“ verglichen, in der ein lehrender „Menschengärtner“ einer Schulklasse gegenübertritt (zit. nach Günther et al 1973, 126). Mit dem Klassenunterricht aber eröffnete sich erst die bis dahin noch nicht gegebene 297

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Möglichkeit einer altersförmigen Standardisierung von Entwicklungsetappen, die die Vergleichbarkeit von Kindern und damit die Verallgemeinerung erziehungswissenschaftlicher Invarianzen erlaubte. Auch waren mit Comenius’ Didaktik erstmals relativ konstante Lehrbedingungen geschaffen, die im Zusammenhang der Objektivierung von Schulkindern ermöglichten, die Leistung des Lehrenden aus dem interaktiven Geschehen zu extrapolieren und als hervorbringende Subjekteigenschaft zu qualifizieren. 3 Hinzu kommt, dass sich jedwede Art vernunftgeleiteten methodischen Handelns – ob nun in der poietischen Bedeutung technischer Vergegenständlichung oder in der allgemeineren Auffassung von bewusster Anwendung kulturell tradierter Verfahren – am differenziertesten aus der Perspektive der Handelnden selbst abbildet, was mangels öffentlicher Diskursbeteiligung der erziehenden Frauen nicht gegeben war. So gelang es Comenius mit der mechanisch gedeuteten klassenförmigen Gestaltung des Schulunterrichtes zwar, das subjektkonturierende Herstellungsparadigma der Naturwissenschaften auf den Lehrer zu übertragen und ihn als „Menschengärtner“ zu bezeichnen, der Gott dem „Weltingenieur“ nacheifert (Comenius in Didactica Magna, zit. nach Blättner 1961, 57). Hinsichtlich der häuslichen Kleinkinderziehung jedoch deduzierte er anschaulich von Ziegen und Böcklein und bediente sich einer subjektneutralen Säftelehre, die er mangels diskursiver Ausleuchtung weiblich tradierter intersubjektiver Verfahren mit magischer Machtausstattung verband. Auch wenn bei Comenius sowohl der „Menschengärtner“ als auch die aus narrativen Viehzuchtgeschichten hergeleitete selbststillende Mutter einem anschaulichen Analogiedenken ver-

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In der Didactica Magna (1633-1638) hatte Comenius eine für alle sozialen Schichten geltende, aus der Naturbeobachtung hergeleitete mechanische Unterrichtsmethode dargelegt. In der Natur sah er die Allvernunft Gottes, des „Weltingenieurs“ offenbart, die der Künstler (der Maschinenbauer, Müller, Buckdrucker) und eben auch der Lehrer nachzuahmen hatten. Vom natürlichen Beispiel, etwa dem Ei, in dem sich organisch, zweckmäßig und in guter Ordnung ein Vogel bildet, schloss er auf verallgemeinerbare menschliche Entwicklungs- und Lehrprinzipien (vgl. Blättner 1961; Knoop/Schwab 1994). Gleich der Sonne, die sich „einem mühevollen und nahezu unbegrenzten Geschäft unterzieht [...] [und] allem Licht, Wärme, Leben und Kraft“ verleiht, sollte immer nur „ein Lehrer einer Klasse vorstehen, nur ein Schriftsteller bei einem Gegenstand benutzt werden, ein und dieselbe Arbeit vorgenommen und eine Methode angewandt werden“ (Comenius, zit. nach Blätter 1961, 55, Hvh. im Orig.). Auf diesem „etwas krausen Wege des Analogiedenkens“ glückte Comenius, wie Blättner (ebd. 51) schreibt, die „große methodische Erfindung [...] des Klassenunterrichtes“. Hatten sich Lehrer bis dahin nur mit einzelnen Kindern befasst (ebd.), waren mit dem Klassenunterricht die ersten Grundlagen für relativ invariante Erziehungsbedingungen geschaffen.

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

haftet waren (vgl. Blättner 1961), lassen sich doch deutliche Qualitätsunterschiede der Tätigkeitsausleuchtung ausmachen: Während sich der dem Ingenieur bzw. Handwerker nachgebaute „mechanische Lehrer“ im Lichte eines naturwissenschaftlich unterlegten neuzeitlichen Rationalitätsbegriffes spiegelt, der die Tätigkeit des handelnden Subjektes in Hinblick auf seine technisch und mithin bewusst induzierte Objektwirkung repräsentiert, schaut die dem Tierreich verglichene Mutter nicht selbst auf weichhaarige Böcklein und gutherzige Kinder, sondern wird von einem vernünftigen Beobachter erst über die charakterbildende Wirkung ihrer Körpersäfte aufgeklärt. Der im Begriff des mechanischen Lehrers aus der Perspektive des Tätigen referierte Zusammenhang von vorausschauendem Denken und methodischem Tun liegt also nicht auch dem Bedeutungsschema der zum Selbststillen aufgeforderten Mutter inne, sondern vermittelt sich hier erst über den wissenschaftlichen Beobachter. Wenn Comenius im Informatorium der Mutterschul vorausschauendes weibliches Handeln thematisierte, dann in magischen Ammengeschichten, wie der zitierten, wo er des Kaisers Caligula Despotismus auf den „boshaft, blutig und tyrannisch[en]“ Charakter der Säugamm zurückführte, deren Tätigkeit lediglich darin bestand, „die Wärzlein ihrer Brüste mit Blut“ zu bestreichen (Komenský 1636/1987, 57). Die Diskrepanz zwischen Comenius’ wissenschaftlichem Begriff des männlichen Lehrsubjektes und dem anschaulichen Begriff der säugenden Mutter bzw. Amme korrespondiert mit einer ungleichen sprachlichen Ausleuchtung von Tätigkeiten, die sich folgenschwer in der nachfolgenden Generalisierung geschlechtlicher Arbeit niederschlagen sollte: Die Herauskristallisierung rational hervorbringender Subjekteigenschaften, die sich seit der italienischen Renaissance in der technisch vermittelten Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung präsentierten und mit der Entwicklung induktiver naturwissenschaftlicher Verfahren vorherrschendes Bedeutungsmerkmal neuzeitlicher Arbeit wurden (Böhme 1998; Hochgerner 1986), manifestierte sich, wie schon erwähnt, seit dem 16./17. Jh. in neu gebildeten Tätigkeitsbegriffen. Seither hält die deutsche Sprache eine Reihe konstruktiver Wortbedeutungen vor, die Merkmale von rationaler Methodik, mathematischer Quantifizierung und Poiesis synthetisieren und damit Arbeitsverfahren aus der tätigen Perspektive der Herstellungssubjekte repräsentieren. Dazu gehören aus dem Lateinischen abgeleitete Begriffe wie „exakt“, „konstruieren“, „experimentieren“, „operieren“ (Duden 2001; Kluge 1999), die auf methodisch unterlegtes wissenschaftliches und handwerkliches Hervorbringen, aber auch auf objektivierende personengerichtete Berufe wie den männlich tradierten Lehrer oder Arzt anwendbar sind. Semantisch 299

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

mit der ebenfalls im 16. Jh. neu versprachlichten „Ratio“4 verschränkt, abstrahieren diese Begriffe emotionale Momente und schließen sowohl häusliche als auch intersubjektive Aktivitäten aus, die sich nicht über systematische Gegenstände oder Verfahren wie Lehrstoffe, Didaktik, Diagnostik vermitteln. Für intersubjektive häusliche Tätigkeiten hingehen wurden aus dem Althochdeutschen (8. Jh. bis etwa 1100) und Mittelhochdeutschen (etwa 1100 bis 1350) überlieferte Worte wie „kümmern“, „sorgen“, „nähren“ weiter gebraucht bzw. in ihrer Anwendungsbreite erweitert, die gefühlsmäßige und handlungspraktische Aspekte hervorheben.5 Aus dem gemeingermanischen Wort „Sorge“ etwa, entwickelten sich im 16./17. Jh. Präfixbildungen wie „Fürsorge“ (16. Jh.) und „Vorsorge“ (17. Jh.) im Sinne von „tätige Bemühung um jemanden“ (Duden 2001). Comenius bewegte sich also ganz auf dem Sprachniveau seiner Zeit. Die theoriegeschichtliche Bedeutung Comenius’ besteht fraglos in seiner didaktischen Leistung sowie der Entwicklung eines aus der Naturbeobachtung deduzierten, pantheistisch verstandenen Strukturplanes der Erkenntnis (Knoob/Schwaab 1994), den er in einem vierstufigen Schulsystem umsetzte. Seine Forderung, es sollten „zuerst die Sinne [...] dann das Gedächtnis [...] später das Erkenntnisvermögen [...] und zuletzt die Urteilskraft“ (zit. nach Knoob/Schwaab 1994, 35) gebildet werden, war jedoch nicht nur ein Meilenstein für die Entwicklung der modernen Pädagogik (Knoob/Schwaab 1994), sondern auch für die geschlechtliche Schichtung der neuzeitlichen Erziehung. Umgesetzt in einem vierstufigen Schulsystem,6 dessen erste sinnliche Stufe die Mutterschul war, wurde diese Forderung außerdem bedeutungsstiftend für die sprachliche Repräsentation der Erziehungspersonen, die mit diesem Stufenmodell analogisiert waren. 4 5

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Ratio (16. Jh.) für ,Vernunft, Denk- und Urteilsvermögen’, aus lat. ratio, Rechnung, Berechnung, Erwägung, Überlegung; Vernunft (Kluge 1999; Duden 2001). Vgl. zur Wortgeschichte Kluge 1999 und Duden 2001: kümmern, von mhd. kumber, Schutt, Belastung, Mühsal, Not, Gram, im 12. Jh. Kummer in der Doppelbedeutung von ,sich kümmern um’ und ,dahinvegetieren’ – Sorge, sorgen (8. Jh.) aus gemeingerm. surgō; ahd. Sorge, sorgen mit der Doppelbedeutung von ,Kummer’ und ,Bemühen um Abhilfe’. Die Rückbildung von Sorgfalt (17. Jh.) aus mhd. ,sorgfältig’ (achtsam, genau) bedeutete wohl ursprünglich ,mit Sorgenfalten – nähren überliefert aus dem Altgermanischen, ahd. nerien mit der Ausgangsbedeutung: ,heimkommen, überstehen, am Leben erhalten’. In Comenius’ Schulsystem oblag der Mutterschul die Ausbildung der Sinne und das Angewöhnen sittlicher Tugenden. In der Muttersprachschule wurden Einbildungskraft und Gedächtnis geübt, im Gymnasium Verstand und Urteil ausgebildet und schließlich in der Universität Theologie, Philosophie, Medizin und Jurisprudenz gelehrt (vgl. Blättner 1961, 59).

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1 5 . 2 P a r a l l e l e n f rü h n e u z e i t l i c h e r und moderner Begriffe Wenngleich die frühneuzeitliche Auffassung von Sinnlichkeit und Erkenntnis durch den empirischen Sensualismus John Lockes oder Leibnitz’ Monadenlehre (Hirschberger 1980 Bd. 2) weiterentwickelt worden war und Ende des 18. Jhs. mit der Aufwertung des Körpers zu einer sinnstiftenden Organisation (Honegger 1991) neue Bedeutungskomponenten erhalten hatte, gibt es markante inhaltliche und logische Parallelen zwischen den frühneuzeitlichen Mutterrepräsentationen und der weiblichen Geschlechtscharakteristik der Spätaufklärung und Klassik. Neben der sinnlichen Festlegung und physiologischen Analogisierung der Mütter betreffen sie auch die vermeintliche Sprachlosigkeit und Entsubjektivierung der Frauen. Ich begnüge mich damit, das anhand von Rousseaus Erziehungsroman Emile (1762/1983) und Campes Erziehungsschrift Über die früheste Bildung junger Kinderseelen (1785?/ 1985) zu erläutern: Sowohl Rousseau (1762/1983) als auch Campe (1785?/1985) siedelten die Mütter auf der kindlichen Stufe der sinnlichen Wahrnehmungsentwicklung im Zwischenreich von Körper und Kultur an und verorteten die vernünftigen erzieherischen Handlungsimpulse in der „Natur“ (Rousseau ebd. 21) bzw. den „Absichten des [...] Schöpfers“ (Campe ebd. 107). Das Erkennen jener „natürlichen“ Vernunft war bei beiden Autoren keine Bedeutungskomponente der Mütter, sondern wurde einer externen „beobachtenden und nachdenkenden Vernunft“ (Campe ebd. 108) bzw. den „Erziehungsleitsätzen“ des naturbeobachtenden Erziehers (Rousseau ebd. 25) zugeschrieben, die die Autoren für sich, respektive für die wissenschaftliche Pädagogik, beanspruchten. Wie alle Pädagogen ihrer Zeit fochten Rousseau und Campe für das Selbststillen, das Rousseau (ebd. 19) ähnlich wie ehemals Erasmus mit „Kindeszuneigung“ in die erste Beziehung begründete. Campe (ebd. 168) führte dazu den kindlichen „Instinkt der Nachahmung und des Mitgefühls“ an. Ähnlich wie Comenius bekräftigte Campe diese Annahme durch eine sozial differenzierende Säftelehre, die die „erste heilige Mutterpflicht, das Säugen“ über die Amme erhob, welche „mit ihrer feilen Milch zugleich das Gift einer schändlichen, durch Ausschweifungen erzeugten Krankheit aus ihren Brüsten saugen lässt“ (Campe 1785?/1985, 129). Beide Autoren, Rousseau und Campe, entsprachen dem zeitgenössischen Analogiedenken und leiteten mütterliche Sensitivität körperlich her. Beide deduzierten die besondere „Moral“ (Rousseau 1762/1983, 386) der Frauen bzw. das den Müttern eigene „lebendige Mitgefühl 301

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fremder Leiden und Freuden“ (Campe 1785?/1985, 77) aus dem Körperbild. 7 Weil es in besagten Schriften um die erste Charakterbildung und Kultivierung des Kleinkindes ging, wirkt zunächst selbstverständlich, dass die kindliche Entwicklung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Bemerkenswert ist jedoch, dass die körperlichen wie auch geistig-moralischen Entwicklungspotenzen, sieht man von den mütterlichen Säften ab, ausschließlich der Naturausstattung des Kindes zugeschrieben werden. In beiden Texten korrespondiert die bereits bei Erasmus aufgefallene Verortung der kulturellen Entwicklungspotenzen in der Person des Kindes mit der sprachlichen Absenz handlungsleitenden mütterlichen Denkens sowie eines aussagekräftigen Begriffes ihres Tuns. Für Campe (ebd. 181) vermochte „der Naturtrieb des Kindes das Meiste, was geschehen muss, schon von selbst thun.“ Bei Rousseau klafft ein sprachliches Loch zwischen der „nährenden“ Mutter und ihrer kulturstiftenden Wirkung. Es fehlt ein Begriff ihrer Tätigkeit, der sie vom Nähren des Tieres unterscheidet und vom puren Stoffwechsel abhebt. „Wenn sich jedoch die Mütter dazu verstünden, ihre Kinder selbst zu nähren, so werden sich die Sitten von selbst erneuern und die natürlichen Regungen erwachen. Der Staat wird sich wieder bevölkern. Dieser erste Punkt allein genügt, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“ (Rousseau 1762/1983, 19)

Campe, der sich durch subtile Beobachtungen der Kindesentwicklung hervortat, bezeichnete die Erziehungsarbeit der Mütter schnöde als „Wartung solcher zarten Wesen“ (ebd. 77) und empfahl ihnen, „mit Sorgfalt“ (ebd. 172) die wissensträchtige Aufgabe anzugehen, die „natürlichen Bedürfnisse“ des Kindes „von den eingebildeten“ zu unterscheiden. „Es bedarf, ihr Mütter, eben keines ausnehmend scharfen Verstandes und keines tiefsinnigen Nachdenkens“, die tätige Seele des Kindes zu erforschen. Die ganze „Vorsorge“, brauche „nur darauf eingeschränkt zu sein“, der „jungen selbstthätigen Seele kein Hindernis in den Weg“ zu legen (Campe 1785?/1985, 174). Die eigene Ausdrucksarmut 7

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Wie bei Comenius war auch bei Campe die erste „Schule“ der Mutterleib. Befinden und Verhalten der Schwangeren sah er durch die „Mischung der mütterlichen Säfte“ auf das kindliche Empfinden übertragen, das sich in den Organen des Kindes, den „Werkzeugen“ seiner Seele, festlegte. Über ungesunde oder zu leidenschaftliche Lebensweisen von Schwangeren schreibt er: „Und dies, verbunden mit der drauffolgenden frühzeitigen Verwöhnung, giebt uns zugleich einen deutlichen und wahren Begriff von dem, was man Erbsünde nennt; ein Wort, welches unverständige Mütter in einem ihnen bequemen Sinne zu nehmen [...] pflegen, ohne zu bedenken, daß es [...] bei ihnen stand, die Frucht ihres Leibes von dieser unseligen Erbschaft auszuschließen“ (Campe 1785?/1985, 87/88).

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hinsichtlich der mütterlichen Aufgabe vielleicht erspürend, schrieb er an anderer Stelle: „Damit ist aber nicht gesagt, daß ihr [...] zur Ausbildung der jungen Seele eures Kindes gar nichts thun könnt. O ihr könnt sehr viel dafür thun [...], wenn ihr dem eigenen Streben derselben nach Entwicklung nur freien Lauf lasset, [...]. Denn schon früh erwacht in der Seele des Kindes ein überaus wohltätiger Trieb, der bei der Ausbildung desselben bei weitem das meiste thut; und ihr habt es in eurer Gewalt, diesem Triebe diejenige Nahrung zu verschaffen, die ihm die angemessenste ist. Dies ist der Trieb zum Mitgefühl und zur Nachahmung. O eine treffliche Einrichtung unserer geistigen Natur, die das erste Erziehungsgeschäft für wirklich gute Eltern so leicht, so simpel macht!“ (Campe 1785?/1985, 101)

Aus Erasmus’ kindlicher Entwicklungspotenz der „angeborenen Zuneigung“ war bei Campe also der kindliche „Trieb zum Mitgefühl und zur Nachahmung“ geworden, womit die Mütter ein als „Nahrung“ „Sorgfalt“ und „Wartung“ daherkommendes „simples“ Geschäft verrichteten, dessen vorausschauende Leistung allenfalls das Wort „Vorsorge“ andeutete. Noch der moderne Säuglingsforscher Daniel Stern sollte 1979 von einem biologisch präformierten „Programm zwischen Mutter und Kind“ (ebd. 107) sprechen und den Müttern „vom Kleinkind ausgelöste soziale Verhaltensweisen“ als das „wichtigste Instrumentarium [...] für die Regulierung ihres Teils der Interaktion mit dem Kleinkind“ attestieren (Stern 1979, 43). Was aufstößt, ist weniger die Annahme einer naturgeschichtlichen Prädisposition des Kleinkindes oder meinetwegen auch des elterlichen Verhaltens. Denkwürdig ist vielmehr die den Müttern (von Stern auch den Vätern) unterlegte Begriffs- und Gedankenlosigkeit, die im Zusammenhang der Kleinkinderziehung regelmäßig auftaucht und es syntaktisch geradezu erzwingt, dass die handlungsleitenden Impulse dem überwiegend naturgesteuert verstandenen Kind zugesprochen werden. Dadurch erscheint das Kind als die treibende Kraft, als das eigentliche Subjekt, während die (traditionell) mütterliche Kleinkinderziehung auch in der modernen wissenschaftlichen Literatur noch immer so vertextet wird, als sei sie nicht sprachlich und gedanklich durchdrungen, nicht kulturell bedeutungshaft transformiert.8 Gerade so, als erzögen Mütter von Kleinkindern immerfort „instinktiv“. 8

Vgl. dazu feministische Kritiken zum Mutterkonzept in entwicklungspsychologischen und therapeutischen Theorien, z.B. in Aufbruch in den Dunklen Kontinent von Christa Rohde-Dachser (1992) oder Das mißdeutete Geschlecht (1991) von Harriet Goldhor Lerner. 303

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Abgesehen davon, dass die wahrnehmungs- und handlungsleitende Wirkung der Sprache, die eben auch bei der Kleinkinderziehung gegeben ist, unterschätzt wird, kommt hier am Beispiel Daniel Sterns ein verbreitetes Grundproblem der pädagogischen und psychologischen Theoriebildung zum Ausdruck: nämlich der Rekurs auf einen anschaulich-komplexen Mutterbegriff. 9 Schaut man sich dazu Rousseaus und Campes Begriff der Mutter an und vergleicht man ihn mit den frühneuzeitlichen Konzepten von Erasmus von Rotterdam und Comenius, findet man als gemeinsame Bedeutungsebene genau diese unterstellte sprach-, denk- und methodenenthobene Instinkthaftigkeit. Sie ergibt sich aus einer der Beobachtung anschaulicher Vorgänge verhafteten Begriffsperspektive, die nur die Wirkung der primär körperlich wahrgenommenen Mutter im Kinde zu thematisieren vermag, nicht aber ihr bewusstes Denken und Handeln als Bedeutungsmerkmal heraushebt. In Folge wird die Mutter analog ihrer alltäglich wahrgenommenen Beschäftigung auf der Stufe körperlichsinnlicher Rezeption platziert. Als weitere Gemeinsamkeit ist zu konstatieren, dass sich die Logik dieser Bedeutungsgebung in anschaulichen, auf das Frühe Mittelalter zurückgehenden Wortbedeutungen („nähren“, „warten“, „sorgen“) ausdrückt, die traditionsbildend wurden für den weiblich konnotierten sozialen Arbeitsbegriff. So änderte sich an dieser anschaulichen Logik des mütterlichen Frauenbegriffs wenig, als den Müttern im Zusammenhang der deutschen Industrialisierung Ende des 19./Anfang des 20. Jhs. die Lösung der sozialen Frage angetragen und der Mutterbegriff als „geistige Mütterlichkeit“ auf die berufliche Ebene transponiert wurde. Auch der Gründer des Kindergartens, Friedrich Fröbel (1782-1852), der sich um die Methodik der Vorschulerziehung verdient gemacht hatte und als einer der Ersten für die berufliche Ausbildung von Erzieherinnen eingetreten war, sah mütterliches Erziehen als ein instinktives Vermögen

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Meines Erachtens unterliegt Daniel Stern (1979), der seine filmgestützten Beobachtungen von Mutter-Kind-Interaktionen einem ausgeklügelten Zeitmaß unterworfen hatte und angesichts der zeitlichen Dichte der Interaktionssequenzen zu obigem Schluss gelangt war, einem Kurzschluss. Denn er bezieht nicht ein, dass Sprachfähigkeit die situative Wahrnehmung und den Affekt kategorial transformiert. So übersieht er, dass sich selbst impulsive Elternreaktionen auf kindliche Signale in kulturellen Begriffen brechen, die sowohl die Bedeutung des Kindes und seines Verhaltens als auch die Bedeutung der eigenen Elternrolle umschließen. Das heißt, auch spontane elterliche Zuwendung impliziert kulturelle Steuerung, was nicht zuletzt die erwähnten Untersuchungen zur geschlechtsspezifischen Eltern-Kind-Interaktion (vgl. Keller 1979; Trautner 1997) bestätigen.

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an, das der pädagogischen Unterweisung bedarf. In den 1850 veröffentlichten „Erziehungs-Grundsätzen“ forderte er „Daß deshalb vor allem, in der Mutter und dem ganzen weiblichen Geschlechte, das vom höheren Lebenstriebe bestimmte, menschlich instinktive, erziehende Handeln derselben zum klaren Bewußtsein erhoben werde.“ (Fröbel 1850/1965, 84)

Der wahrscheinlich einzige Pädagoge, der Frauen nicht nur beobachtete und belehrte, sondern versuchte, weiblich tradierte Erziehungsformen auch methodologisch aufzuarbeiten, war Joachim Heinrich Pestalozzi (1746-1827). Unter Zuhilfenahme der Leibnitz’schen Monadenlehre unterschied er zwischen drei Lebenskreisen (Vaterhaus, Beruf und Staat) sowie zwischen Selbstsucht und „tierisch eingelenkter“, natürlicher Liebe (zit. nach Blättner 1961). Als Mittlerin zwischen dem natürlichen und sittlichen Zustand sah er die Mutterliebe an, die durch drei Entwicklungsstufen – Allseitige Besorgung und Weckung des Vertrauens, sittliches Handeln und Selbstzucht sowie Reflexion und Besinnung – führt (vgl. Knoob/Schwaab 1994). Die in dieser Weise explizit als innere Stütze und Voraussetzung individueller Moral gewertete Mutterliebe stellte er ins Zentrum seines pädagogischen Konzeptes. Es [...] „führen mich die ewigen Gesetze der Natur selbst wieder an deine Hand, Mutter! Mutter! – Ich kann meine Unschuld, meine Liebe, meinen Gehorsam, ich kann die Vorzüge meiner edlen Natur beim neuen Eindrucke der Welt alle, alle nur an deiner Seite erhalten [...] Mutter! Mutter! Heilige du mir den Übergang von deinem Herzen zu dieser Welt durch die Erhaltung deines Herzens!“ (Pestalozzi 1801/1961, 194, Hvh. im Orig.)

Schon mit der Wortwahl deutet sich an, dass auch Pestalozzi die Divergenz zwischen dem anschaulichen mütterlichen Begriff und dem rationalen Lehrbegriff nicht aufheben konnte. So geriet seine zum Thema Zahl, Form und Sprache verfasste methodische Hauptschrift Wie Gertrud ihre Kinder lehrt, aus der das obige Zitat stammt, mystisch verschlungen (vgl. Blättner 1961). Der dazugehörige didaktische Schulentwurf blieb Plan (ebd.). Pestalozzis als „Wohnstubenpädagogik“ (Thiersch/Rauschenbach 1987, 991) charakterisierter Dorfroman Lienhardt und Gertrud allerdings wurde beispielhaft für die moderne Heimerziehung (ebd.). Als in der zweiten Dekade des 20. Jhs. Alice Salomon, führende Vertreterin der bürgerlichen Frauenbewegung und Begründerin der Sozialarbeit, die aus Fröbels Kindergartenpädagogik hergeleitete Leitidee „Geistige Mütterlichkeit“ in das curriculare Konzept einer bewusst au305

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

ßeruniversitär gehaltenen Fachhochschule für Sozialarbeit integrieren wollte, hatte sie ebenfalls Schwierigkeiten, systematische Wissenschaften mit der anschaulichen Bedeutung des mütterlichen Begriffes zu vereinbaren (vgl. Sachße 2003). Ihr Plan, wissenschaftliche Fächer (Gesundheitslehre, Psychologie, Wirtschafts- und Rechtslehre) mit einem persönlichkeitsbildenden ethischen Fächerkanon zur Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege zu verbinden, misslang. „Beide Elemente“, schreibt Christoph Sachße (2003, 232), „folgten einer unterschiedlichen Logik und drohten daher permanent in Widerspruch zu geraten. ,Fachlichkeit’ zielte auf eine auf nachprüfbaren Kenntnissen und Fähigkeiten beruhende, rationale Sachautorität, die den Experten vom Laien unterscheidet [...]. Die ,charismatische’ Sozialarbeit dagegen, [...] basierte auf einer Werthaltung, [...], deren Wurzeln in der spezifischen gesellschaftlichen Rolle liegen, die die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland der Frau des bürgerlichen Mittelstandes generell zugeschrieben hatte.“ Dass der logische Unterschied von rationaler Professionalität und „geistiger Mütterlichkeit“ nicht zu überbrücken war, dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass hier zwei unterschiedliche Begriffssysteme aufeinander prallten, die qua Verallgemeinerungslogik kaum zu vereinbaren sind. Die laut Sachße (2003, 233) „zwischen wolkigem Pathos und Trivialität“ schwankende Ausformulierung der mütterlich aufgeladenen sozialen Berufsethik korrespondierte mit der Herausbildung einer entsprechenden Berufsterminologie. Für die Sozialarbeit und andere ,helfende’ Frauenberufe wurden Worte wie „Familienfürsorge“ oder „Krankenpflege“ programmatisch, die mit technisch-instrumentellen Vokabeln bis heute kaum zu vereinbaren sind und die, wie ich zu aktuellen Berufsbildern zeige, ein ganz anderes Arbeits- und Subjektprofil repräsentieren.

1 5 . 3 D i s k u r s i ve V e r a l l g e m e i n e r u n g und Begriffslogik Nun sind Worte als kleinste sprachliche Bedeutungseinheiten noch kein Begriff, sondern verdichten sich im syntagmatischen Zusammenhang des sprachlichen Systems erst zu einem solchen. Auch stehen hinter Worten, wie zur Begriffsentwicklung gezeigt, je nach Fortgeschrittenheit des ontogenetischen Sprachvermögens qualitativ unterschiedliche gedankliche Operationen, die zu unterschiedlichen Begriffsqualitäten führen (Wygotski 2002; Lurija 1982). Während kleinere Kinder Worte noch als Gegenstandssurrogate verwenden, mit denen sie anschauliche Sinnzusammenhänge gemäß ihrem Erfahrungshorizont organisieren, 306

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

vermögen schulisch einigermaßen gebildete Jugendliche und Erwachsene mit Worten hierarchisch aufgebaute verballogische Begriffe zu verbinden und mit historisch generierten Logiken zu operieren. Der Wortbedeutung mit ihren inne liegenden Abstraktions-, Verallgemeinerungsund Synthetisierungsleistungen kommt dabei eine wichtige psychologische Funktion zu. Als „Mittel“ der Begriffbildung (Wygotski 2002, 181) führt die Wortbedeutung in abstraktiv verallgemeinerte kulturelle Bedeutungen ein, die auf jahrtausendealter Tätigkeitserfahrung und diskursiver Aushandlung beruhen. Allerdings betrifft die Frage, welche gedanklichen Operationen und Sinnverbindungen Worte prädisponieren, nicht nur das individuelle Begriffsvermögen, sondern auch die historische Entwickeltheit der Wortbedeutung und ihrer Eingebundenheit in kategoriale Systeme (Wygotski 2002; Lurija 1982). Wie gesagt, verwenden auch gebildete Erwachsene wissenschaftlich ausgeleuchtete, abstrakt-hierarchische Begriffe neben anschaulichen Bedeutungen, die der Alltagserfahrung verhaftet sind. Entscheidend dafür, ob Worte eher anschaulich-komplexe oder verballogische Begriffsoperationen unterstützen, ist die Verallgemeinerungsstruktur der Wortbedeutung, die wiederum mit einer bestimmten Allgemeinheitsrelation korrespondierender Begriffe korreliert. Wie Wygotski (ebd.) zum Vergleich wissenschaftlicher und spontaner Begriffe zeigt, ist der wissenschaftlich ausgeleuchtete Begriff in ein komplexes System abstrakt-hierarchisch aufgebauter kategorialer Ordnungs-, Unterordnungs- und Nebenbeziehungen eingebunden, das zu einer gewissen Eindeutigkeit und logischen Folgerichtigkeit der wortinduzierten Gedankenführung führt. Hingegen bleibt der (genetisch frühere) Alltagsausdruck bei pragmatischen Gegenstandsverbindungen stehen und bewegt sich auf der Ebene einer eher einreihenden Allgemeinheitsrelation; seine Bedeutung verändert sich im Kontext unterschiedlicher Ereignisse und wird erst durch die Situation präzisiert. Während also abstrakt-hierarchische Kategoriensysteme historisch verdichtete „überempirische“ logische Operationen ermöglichen, dominiert auf der Ebene alltäglicher Begriffsbildung noch die „Logik der Handlung“ (Wygotski 2002, 373). Da sprachgenetisch gesehen eine dialektische Beziehung zwischen der Entwicklung der Wortbedeutung und der Entwicklung des Begriffes besteht, insofern das Wort ein Mittel abstraktiv verallgemeinernder Begriffsbildung ist und der historisch entwickelte Begriff qua Kommunikation wiederum auf die Verallgemeinerungsstruktur der Wortbedeutung zurückwirkt (Wygotski 2002), ist der Allgemeinheitsgrad von Worten – zumal, wenn es sich um einen ganzen Fundus von kontextgebräuchlichen Worten handelt – ein Indiz für den historischen Ausleuchtungsgrad des dahinter stehenden Begriffs. 307

SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Beim Vergleich der Verallgemeinerungsgrade von Wortgruppen wie „sorgen, warten, nähren“ und „konstruieren, produzieren, experimentieren“, stellt man erhebliche logische Unterschiede fest, die sich vor dem hergeleiteten historischen Hintergrund soziokultureller Geschlechtsdeutung erklären. Sie betreffen die Art der Tätigkeitsausleuchtung und hier besonders die Form der Abstraktion und Verallgemeinerung, die mit einer bestimmten Perspektivität der Wortbedeutung einhergeht. Um das im Folgenden besser verdeutlichen zu können, rufe ich noch einmal die Aussagen zur sprachlichen Bedeutungskonstitution in Erinnerung: Im sprachtheoretischen Teil hatte ich nach Wygotski (1992; 2002) hergeleitet, dass die historische Genese und Weiterentwicklung sprachlicher Bedeutungen nicht parallel, sondern reziprok zur Entwicklung kooperativer praktischer Tätigkeiten erfolgt. Sprachliche Bedeutungskonstitution ist demnach ein tätiger und kommunikativer intersubjektiver Prozess. Im Wege der praktisch-kommunikativen Thematisierung von Gegenständen werden intentionale, sachlich-gegenständliche und soziale Sinnkomponenten hevorgehoben, die als wesentlich erachtete Merkmale in die gnostische Bedeutung des sprachlichen Symbols eingehen. Wie anhand der egozentrischen Sprache gezeigt, wird der so verfasste Begriff ein Mittel der willkürlichen Strukturierung von Aufmerksamkeit und Handlung. Zugleich präzisiert bzw. entwickelt sich die sprachliche Bedeutung im Vollzug der Tätigkeit. Demzufolge ist von einer ineinander greifenden, sich wechselseitig vorantreibenden historischen Entwicklungsdynamik kooperativer menschlicher Praxis und sprachlicher Bedeutungsentwicklung auszugehen, die im Wege des sozialen Verkehrs vom ursprünglich sympraktischen Begriff zu immer abstrakteren logischen Bedeutungsstrukturen führt.

Zur Logik technisch-instrumenteller Begriffe Betrachten wir dazu zunächst die Verallgemeinerungsstruktur neuzeitlich gebildeter Worte wie „exakt, konstruieren, produzieren“, die rationale Methodik und produktive Vergegenständlichung hervorheben und die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt implizieren. Sie führen in einen technisch-instrumentellen Arbeitsbegriff ein, der historisch aus männlich institutionalisierter Beruflichkeit und Professionalität hervorgegangen ist und dessen Bedeutungsumfang den beruflich oder akademisch gebildeten Handwerker, Wissenschaftler und Künstler umschließt. Die Soziogenese dieses Begriffs beruht auf der Herauslösung handwerklicher Berufsarbeit und akademischer Professionen aus familialen Arbeits- und Lebenskontexten, was sich unter Überantwortung leiblicher Versorgungs- und soziopsychischer Regulierungsaufgaben an die Ehe308

HISTORISCHE VERGESCHLECHTLICHUNG VON ARBEITS- UND SUBJEKTBEGRIFFEN

frauen sowie unter Delegation vielfältigster erwerbswirtschaftlicher Zuarbeiten an dieselben vollzog. Mit dieser genderförmigen Strukturierung der Arbeit waren die soziostrukturellen Voraussetzungen akademischer und handwerklicher Professionalisierung in Form spezialisierter, von alltäglichen Versorgungsfragen „bereinigter“ Poiesis gegeben, die in der Renaissance im männlichen Subjektschema synthetisiert wurde. Die arbeitspraktisch-diskursive Ausleuchtung dieses Arbeitsbegriffes beruht im Wesentlichen auf zwei bedeutungsgeschichtlich ineinander greifenden Professionalisierungslinien: • auf zünftig organisierter handwerklicher Arbeit, die im 19. Jh. auch die Vorlage industrieller Arbeit und Ausbildung wurde (Beck/Brater/ Daheim 1980; Voß 2002) • sowie auf der Entwicklung rationaler Naturwissenschaften, die seit Galileis physikalisch-technischen Naturexperimenten zum Prototypen neuzeitlicher Erkenntnis geworden waren (Böhme 1998; Riedel 1973; Hochgerner 1986). Auf der Grundlage epistemischer und sprachlicher Überlieferungen wurde dieser Arbeitsbegriff seit dem Hohen Mittelalter im Zusammenspiel mit Markt und Handel, Politik und Recht arbeits- und wissenschaftspraktisch, alltagssprachlich, philosophisch und juristisch ausgehandelt und in der Praxistauglichkeit marktförmiger Produkte validiert. In Wechselwirkung mit der Entwicklung naturwissenschaftlicher, ökonomischer, juristischer und moralischer Kategorien ging in seine Bedeutung das in Zünften und Universitäten diskursiv systematisierte Erfahrungswissen von Arbeitspersonen ein. Seit dem 16./17. Jh. in einem technischen Lexikon niedergelegt, widerspiegelt dieser Begriff instrumentell vermittelte Arbeit also überwiegend aus der Innenperspektive der Tuenden. Dabei setzt das hohe Verallgemeinerungsniveau von Worten wie „exakt“ oder „produzieren“, das unterschiedlichste Arten hervorbringenden Arbeitens integriert, eine ganze Reihe von Abstraktionsund Synthetisierungsleistungen voraus: Neben der Abstraktion von affektiven und leiblichen Momenten gehört dazu auch das Absehen von stofflichen und sozialen Spezifika, die beispielsweise die Arbeit des Schmiedes, des Baumeisters oder Naturwissenschaftlers unterscheiden. Übrig bleibt die auf der obersten Verallgemeinerungsebene synthetisierte ,reine’ methodische Herstellung, das instrumentell vermittelte Verfahren als hervorgehobenes Wesensmerkmal des (dank seines familiären Hintergrundes) von leiblich-affektiven Nöten weitgehend unangefochtenen rationalen Subjektes und seiner zweckgerichteten sachlichen Arbeit.

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SPRACHE, ARBEIT UND GESCHLECHTLICHE IDENTITÄT

Zur Logik sozialer Tätigkeitsbegriffe Vergleicht man den hierarchischen Aufbau des technischen Begriffs mit dem des sozialen Arbeitsbegriffes, wie er sich im Diskurs der beobachtenden Pädagogen über die familiären Praktiken der Frauen darstellt, stößt man auf eine andere Verallgemeinerungslogik, die nicht logischhierarchisch, sondern empirisch-komplex strukturiert ist. Hier herrschen vorneuzeitliche Wortbedeutungen wie „sorgen, nähren oder warten“ und deren neuzeitliche Derivate in Form von „Sorgfalt“, „Für- und Vorsorge“ vor, die die Aufklärungspädagogen zur Charakterisierung mütterlicher oder auch ehefraulicher Tätigkeit verwendeten und als Inbegriff des Weiblichen generalisierten. In diesen Wortbedeutungen ist die Tätigkeit keineswegs von emotiv-leiblichen Empfindungen abgelöst, sondern mit ihnen gleichgesetzt. Hier vermittelt keine kulturelle Methode zwischen Widerfahrnis und abhelfender Tätigkeit, Subjekt und Objekt des Tuns, sondern alles fällt zu einem Prozess zusammen. Die altüberlieferte „Sorge“ in der nach wie vor gültigen Bedeutung von „Kummer und Bemühen um Abhilfe“ (Duden 2001) signalisiert ähnlich dem ursprünglich „überstehen, am Leben erhalten“ bedeutenden leibnahen „Nähren“ (ebd.) eher zu behebende Nöte denn vorausschauendes, zielgerichtetes Handeln. Ebenso verhält sich das Wort „warten“ in der doppelten Bedeutung von „Ausschau halten“ und „pflegen“.10 In der Anwendungsbreite hinsichtlich der Art von Widerfahrnissen und Handlungsmöglichkeiten offen, binden diese Worte menschliches Tun an eine unendliche Vielfalt konkreter Ereignisse und beleuchtet es als ein der jeweiligen Situationswahrnehmung geschuldetes handlungspraktisches Re-Agieren. Nicht die auf wissensförmigen Invarianzen aufbauende hervorbringende Tat eines die Natur objektivierenden Subjektes, sondern ein in tausenderlei situative Anforderungen zerfallendes Ringen steht im Licht dieser Worte, die sich genauso gut wie auf mütterliche Erziehung auch auf landwirtschaftliches Hegen oder tierische Brutpflege anwenden lassen. Von dieser perzeptiv-reaktiven Bedeutung hergeleitet, amalgamisiert auch die neuzeitlich vorausschauende Bedeutung von „Vor- und Fürsorge“ menschliches Handeln mit einer unendlichen Vielfalt praktischer, in die Zukunft projizierter Erfahrungen und betont somit auch hinsichtlich vorausschauender Aktivitäten Situationsabhängigkeit. Der logische Unterschied zwischen dem Begriff technisch-instrumenteller Arbeit und dem, nennen wir ihn „perzeptiv-handlungspraktischen“ Begriff, der sich mit „sorgen“ und „warten“, im modernen Sprachgebrauch 10 Warten, altgerm. Verb, bedeutete eigentlich ,Ausschau halten’. Im Mhd. auch als ,auf etwas Acht haben, pflegen’ entwickelt. Ableitungen sind Wärter und Wartung (