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German Pages [220] Year 2017
Ursula Baatz
Spiritualität, Religion, Weltanschauung Landkarten für systemisches Arbeiten
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Ursula Baatz
Spiritualität, Religion, Weltanschauung Landkarten für systemisches Arbeiten
Mit Geleitworten von Matthias Varga von Kibéd und Saskia Wendel
Vandenhoeck & Ruprecht
»Wer könnte zweifeln zu leben, sich zu erinnern, zu verstehen, zu wollen, denken, wissen und urteilen? […] An allem kann man zweifeln, doch nicht daran. Denn sonst könnte man gar nicht zweifeln. Vivere se tamen et meminisse et intellegere et velle et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? […] Quisquis igitur alicunde dubitat de his omnibus dubitare non debet quae si non essent, de ulla re dubitare non posset.« Aurelius Augustinus (354–430), De Trinitate X, 10
Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40272-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: INTERFOTO / imageBROKER / Michael Szönyi © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd . . . . . . . . . . . . . . . 9 Geleitwort von Saskia Wendel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1 Orientierung und Desorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Orientierungslosigkeit als Wissensmangel . . . . . . . . . . . . . 22 Orientierungslosigkeit als Unsicherheit und Unklarheit über die eigene Intention . . . . . . . . . . . . . . 23 Orientierungslosigkeit aufgrund existenzieller Zweifel . . . 26 2 Achtsamkeit: Orientierung nach dem Ende der großen Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Achtsamkeit im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Achtsamkeit und Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3 Die neue religiöse Unübersichtlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . 42 Unter dem Vorzeichen der Säkularisierung . . . . . . . . . . . . 45 Religion ist kein Schicksal mehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Konfliktfall symbolische Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 4 Bruchlinien, inter- und intrakulturell . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Interkulturelle Bruchlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Intrakulturelle Bruchlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Legitimationsstrategien: religionsphilosophische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 5 Seele, verloren und wiedergefunden . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Antike Therapie und Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Seele, Subjekt und Pastoralmacht: Christentum . . . . . . . . . 69 Seele und Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Das denkende Ding und die ausgedehnten Dinge . . . . . . . 75 Die andere Seite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
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Inhalt
Das Reich des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 C. G. Jung: Individuation und kollektives Bewusstsein . . . 85 Ausblick: Adaptionen aus dem Buddhismus . . . . . . . . . . . 88 6 Wege im Wald der »großen Wörter« finden . . . . . . . . . . . 90 7 Statt Kultur: Themenvorräte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Kultur oder Kulturen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 »Themenvorrat« statt Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 8 Religion, dekonstruiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 »Faith« und kumulative Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 »Dichte Beschreibungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 9 Verkörperungen: Rituale und Stimmungen . . . . . . . . . . . 116 Rituale verkörpern Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Stimmungen und Atmosphären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 10 Transzendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Transzendenzen der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Transzendenz als Möglichkeitsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 11 Spiritualität: dekonstruiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Spirituelle Wanderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Spirituelle Weg-Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 12 Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Spiritualität und Bindungserfahrungen: Suche nach Überleben, Sicherheit, Lebenserhaltung und Schutz . . . . . 154 Spiritualität und Ganzheitlichkeit: Suche nach Wohlbefinden, Wertschätzung, Lebenssinn und Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Spiritualität und Verortung: Suche nach Zugehörigkeit, Heilung und Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Spiritualität und Konfliktfelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 13 Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz . . . . 166 Orientierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Ich-Selbst-Aufstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Inhalt7
Das Rad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Musterunterbrechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Nach der Ausnahme fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Die Wunderfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Transzendente Gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Negative Transzendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 14 Über Neutralität und Orientierung in der systemischen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 15 Ideengeschichtliche Genogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Esoterik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Weltbild und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd
Es ist eine Freude, einem Buch wie diesem ein Geleitwort zu geben; denn es bestehen wirklich viele gute Gründe, den Leserinnen und Lesern Ursula Baatz’ Buch anzuempfehlen. Es erwartet sie hier eine kundige Wegbegleitung in den Bereich zwischen der systemischen Arbeit einerseits und dem weiten Feld von Werten, Haltungen und Lebensformen, wie sie in Weltanschauungen, Religionen und schließlich der Spiritualität zu finden sind, andererseits. Ein solcher Grenzgang ist eine große Herausforderung, zumal Ursula Baatz sich nicht auf eine akademische Betrachtung allein beschränkt, sondern eine Vielzahl von praktischen Hinweisen und systematischen Zugängen zur Praxis – eben den angekündigten Landkarten für systemisches Arbeiten – liefert. Systemische Arbeit wird hier aufgefasst im Sinne verschiedener systemischer Ansätze in Therapie und Beratung und ausgeweitet auf die Frage ihrer Nutzbarkeit im Bereich der Religionspädagogik und Interkulturalität. Landkarten können hier verstanden werden im Sinne der allgemeinen Semantik von Korzybski, also als Orientierung gebende Modelle, die Zeitbindung ermöglichen: die Fortsetzung von Lernprozessen unter Überspringung von größeren Zeiträumen. Diese Art der Zeitbindung ist gerade von Interesse für Landkarten, die wie Religionen und kulturell geprägte Weltanschauungen große Zeiträume betreffen. In einer Zeit, in der spannungs- und konfliktreiche Begegnungen von Kulturen immer wesentlicher und herausfordernder werden und verschiedene Lebensformen sich begegnen, reiben und verbinden, ist eine theoretische und praktische Ausarbeitung entsprechender Landkarten in hohem Maße wünschenswert. Ursula Baatz betrachtet Religionen als symbolische Sinnwelten, die Sinndeutung ermöglichen und vermitteln. Bei einer systemischen Betrachtung von Erfahrung geht es ihr, wie sie in einer Modifika-
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Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd
tion von Batesons Informationsbegriff für die von ihr betrachtete Praxis umformuliert, »um die verstehende Wahrnehmung des Unterschieds, der einen Unterschied macht«. Das erlaubt, gerade wenn es um die Spiritualität geht, eine nicht auf die Dinge und Tatsachen beschränkte Sicht. Im Sinne des frühen Wittgenstein ist ja in der Welt alles wie es ist, und geschieht wie es geschieht, und gäbe es in ihr einen Wert, so hätte er keinen Wert. Aus dieser Betrachtung folgert Wittgenstein im »Tractatus«, dass der Wert allen Geschehens und So-Seins außerhalb der Welt liegen müsse, was verstanden werden kann als die herausfordernde These, dass alle Werte in Einstellungen zur Welt als Ganzes bestünden. Suchen wir also nach Werten ohne geeignete Landkarten, die uns einen anderen Blick auf die Welt als Ganzes vermitteln, so verhalten wir uns wie der Mullah Nasruddin in der berühmten Geschichte, wo er in der Abenddämmerung bei der Laterne vor seinem Hause unter Mithilfe vieler Nachbarn seinen verlorenen Hausschlüssel sucht, bis ihn schließlich jemand fragt, ob er denn sicher sei, den Schlüssel überhaupt vor dem Haus verloren zu haben, worauf er abwinkt und sagt: »Nein, da drüben am Waldrand«, und auf die Rückfrage, warum man dann nicht dort suche, erwidert: »Dort ist es doch dunkel«. Solchen Situationen wirken die Landkarten dieses Buchs entgegen. Spiritualität, Religion und Weltanschauungen liefern aus der Sicht von Ursula Baatz ein wesentliches Orientierungswissen, das systemisch auf die Situation des Einzelnen in dessen Kontexten und damit multiperspektivisch bezogen werden muss. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer ständigen Rekontextualisierung unter sich schnell wandelnden Bedingungen und damit eine zentrale Brücke zur systemischen Arbeit, die einen der wenigen Ansätze darstellt, der die Notwendigkeit, grundlegende Einsichten immer wieder neuen Situationen und Bedingungen anzupassen, erfassen kann. Diese Anpassungen haben mit Handlungs- und Haltungsänderungen zu tun und fordern von uns damit immer wieder neue Entscheidungen, also Entscheidungen höherer Ordnung, Entscheidungen auch über den Umgang mit den zugrunde liegenden kulturellen und weltanschaulichen Landkarten. Es geht also um einen Zugang zu Entscheidungen und Unterscheidungen höherer Ordnung.
Geleitwort von Matthias Varga von Kibéd11
Unter all dem, was an diesem höchst anregenden Buch hervorgehoben werden könnte, sei hier nur noch verwiesen auf interessante Bemerkungen zur Dekonstruktion üblicher Begriffsverständnisse im religionsphilosophischen Bereich, Bezüge auf die Rolle von Ritualen, die konsequente Klarheit, wie unterschiedliche Betrachtungen stets auf Kontexte und Motivationen verschiedener Perspektiven bezogen werden, und vor allem wie die Fähigkeit, Ambivalenz zu ertragen, für die Verständigung im interkulturellen Kontext nutzbar gemacht wird. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung und bin überzeugt, dass es seinen Lesern vielfältigen Gewinn bringen wird. Matthias Varga von Kibéd, Professor für Logik und Wissenschaftstheorie, Universität München
Geleitwort von Saskia Wendel
Religionsphilosophie wird praktisch, so könnte man das vorliegende Buch von Ursula Baatz beschreiben. Religionsphilosophische Bestimmungen von Religion, Spiritualität und Glaube werden mit systemischen Zugängen verbunden, sodass religionswissenschaftliche Reflexionen praktische Relevanz und lebenspraktisches Gewicht erhalten. Im Zentrum steht dabei ein Verständnis von Religion, das religiöse Überzeugungen, Praxen und Traditionen als Modelle der Sinndeutung und als Form von Orientierungswissen für die individuelle wie kollektive, gesellschaftliche Lebensführung bestimmt. Religionen sind, so Baatz, symbolische Sinnwelten, die eben jene Sinndeutung ermöglichen wie vermitteln, und dies immer gebunden an die Perspektive der ersten Person. Religiöse Sinndeutungen besitzen jedoch in pluralen Gesellschaften keineswegs einen Monopolanspruch, sondern stellen eine Form der Selbst- und Weltdeutung neben anderen dar, zu denen sie sich in Konkurrenz befinden, so etwa zu naturalistischen Deutungen. Sinndeutung ist somit alles andere als eine harmonische Veranstaltung, sowohl innerhalb konkreter religiöser Deutungssysteme als auch zwischen unterschiedlichen religiösen wie nichtreligiösen Sinndeutungen. Zudem ist Religion in modernen Gesellschaften aufgrund der Anerkennung und rechtlichen Garantie der Freiheit nicht mehr durch Konvention oder autoritative Durchsetzung bestimmt, sondern zum Gegenstand der Wahl geworden. Systemische Zugänge können hier hilfreich sein, wenn sie berücksichtigen, dass Religion nicht allein eine mentale Angelegenheit ist, nicht nur Einstellung und reflexiv gewonnene Überzeugung, sondern wesentlich Handeln, Praxis und insbesondere verkörpertes Handeln. Religionsphilosophie wird praktisch – ich wünsche diesem Unternehmen viele aufmerksame und engagierte Leserinnen und Leser. Saskia Wendel, Dr. phil., Universitäts-Professorin für Systematische Theologie, Universität zu Köln
Vorwort
Über Spiritualität, Religion und Weltanschauung zu schreiben ist wie einen Weg in einem zugewachsenen, verwirrenden Garten voller unterschiedlichster Pflanzen und Tiere zu suchen. Sind Spiritualität und Religion, Religion und Weltanschauung, Spiritualität und Weltanschauung dasselbe? Oder doch nicht? Sind Religionen in ihrem Kern alle ähnlich, gleich, oder sind alle verschieden? Ist es wirklich so, dass Spiritualität mit Wissen zu tun hat und Religion mit Glauben? Was heißt überhaupt Glauben und Erfahrung, was heißt Wissen? Die Versuchung, dogmatische Entscheidungen bei der Beantwortung solcher Fragen zu treffen, ist hoch. Dieses Buch schlägt einen anderen Weg ein. Es lässt Ambivalenzen zu, sucht und versucht, die Schwierigkeit, über Alles und Nichts reden zu müssen, zu einer Tugend zu machen. Eines der Schlagworte in Sachen Weltanschauung/Religion/ Spiritualität ist »Erfahrung«. Die Bücher und Publikationen zu den philosophischen, theologischen, ethnologischen und psychologischen Diskussionen zu diesem Thema würden mindestens einen oder zwei Container füllen, wollte man sie verschiffen. Betrachtet man Erfahrung systemisch, könnte man sagen: es geht um die verstehende Wahrnehmung des Unterschieds, der einen Unterschied macht. Dazu ein Beispiel: Karlfried Graf Dürckheim (1973) erzählt von einer Frau, die zu ihm in die Therapie kam auf der Suche nach dem Sinn im Leben. Er ließ sie erzählen; sie sprach dann irgendwann von einer Kirche – er unterbrach sie und fragte: was war da? Sie: gar nichts. Dürckheim fragte weiter, warum sie diesen Moment dann erwähne. Nach einigem Fragen sagte sie: da war ein Licht, das durch die Fenster fiel, das hatte etwas – da war so etwas wie Frieden. Aber das ist ja nichts, das war ja nur Licht, sagte sie. – Immer wieder machte Dürck-
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Vorwort
heim im Gespräch die Frau auf solche Momente aufmerksam, und es stellte sich heraus, dass sie immer wieder solche Augenblicke erfahren hatte. In der Straßenbahn oder auch bei ganz alltäglichen Verrichtungen waren diese Momente von »nichts« aufgetreten. Am Ende verstand sie, dass der Sinn, den sie suchte, sich in diesen Unterschieden, die einen Unterschied machen, zeigte – auch wenn sie sagen musste: »da ist ja nichts«, weil es außer dem Fassbaren, Alltäglichen nichts Greifbares gab.
Das Buch richtet sich an Menschen, die die Welt und ihre Klientinnen und Klienten einerseits vom Standpunkt systemischen Arbeitens wahrnehmen und andererseits nicht unbedingt bewandert sind in dem Bereich von Weltanschauung, Religion und Spiritualität. Wenn Psychotherapeuten oder Beraterinnen1 mit Klienten zu tun haben, die sich spirituell verstehen, aber selbst keinen Draht dazu haben, können gelegentlich Chancen zur Intervention ungenutzt bleiben, wie in der folgenden Geschichte:2 Frau Z. sucht wegen andauernder Ehestreitigkeiten eine systemische Beratung auf. Nach bisherigen Lösungsversuchen gefragt, erzählt Frau Z., dass sie seit einiger Zeit Taijiquan macht, um eine Lösung für ihr Eheproblem zu erreichen. Dies erzählte die Beraterin mir in einem Gespräch en passant und kommentierte: »Da bekommt sie dann nur noch mehr Energie …und lenkt sich ab.« Die Beraterin lehnt Taijiquan nicht ab, ist jedoch skeptisch über die Wirkung und wird andere Ressourcen und Lösungsmöglichkeiten vorschlagen.
»Dabei hätte sie sich zum Beispiel gemeinsam mit der Klientin über die Prinzipien des Taijiquan informieren und daraus Ressourcen gewinnen können. Vielleicht wären sie auf folgende Informationen gestoßen: Taijiquan (auch ›chinesisches Schattenboxen‹ genannt) ist eine Sonderform chinesischer Leibpraktiken, die circa 1 Um gendergerechte Sprache bemüht, spiele ich in loser Reihenfolge mit der weiblichen und männlichen Form. Es sind stets beide Geschlechter gemeint. 2 Die folgende Passage wurde bereits in Baatz (2016) abgedruckt.
Vorwort15
im 16. Jahrhundert als Kampfkunst entwickelt wurde, aber heute vor allem dem umfassenden Training dient. Die Bewegungen des Taijiquan im heute verbreiteten Yang-Stil sollen weich sein. Im Kampf werden keine Konterbewegungen ausgeführt, sondern der Körper soll natürlich auf Abbildung 1: den Gegner reagieren. Dahinter steht die Idee Yin und Yang des Taiji, des ›Großen Runden‹ der chinesischen Kosmovision, das eine Einheit komplementärer Polaritäten – Yin und Yang – darstellt. Yin bezeichnet ursprünglich die im Schatten liegende Seite eines Hügels, Yang die in der Sonne liegende. Polaritäten (z. B. links – rechts, oben – unten, kalt – heiß, Mann – Frau etc.) stehen nach dieser Vorstellung miteinander zwar in Spannung, zugleich bilden sie aber eine harmonische Einheit, wie das Symbol zeigt (s. Abbildung 1). Dabei ist zu beachten, dass die Polaritäten nicht linear und statisch gesehen werden, sondern – wie zum Beispiel links/rechts – etwa die rechte Hand ebenfalls eine linke und rechte Seite hat und diese wiederum ebenfalls eine linke und rechte Seite und immer so fort. Das Yin-und-Yang-Symbol steht für einen Prozess, keinen Zustand. Die 64 Zeichen des I Ging bzw. Yì Jīng (易經), des ›Buches der Wandlungen‹ (Wilhelm, 1902/2011), und ihre mehr als 4000 Permutationen versuchen diesem Prozess gerecht zu werden. Vielleicht fühlte sich Frau Z. von dieser Symbolik des Yin, das ein Yang enthält, und des Yang, das ein Yin enthält, angezogen und sah in diesem Bild eine Lösungsmöglichkeit für ihre Ehekonflikte. In diesem Fall wäre hier eine Fülle von Ressourcen zu finden. Zum Beispiel hätte die Therapeutin die Komplexität der daoistischen Kosmovision als Ressource nützen und nach einer Ausnahme fragen können: ›Wann haben Sie Ihre Ehe als harmonische Polarität erlebt?‹ Auch die aufrechte, harmonische, kräftige Haltung ohne Anspannung des Taijiquan könnte eine Ressource darstellen. ›Wie wäre es, wenn Sie jetzt diese Haltung einnehmen würden?‹, könnte die Therapeutin der Klientin vorschlagen. Dazu hätte die Therapeutin oder Beraterin aber einige praktische Kenntnisse dieser kulturell fremden Praxis haben müssen.
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Vorwort
Auch gibt es immer hermeneutische Hürden für das interkulturelle Verstehen, die einigen Einsatz erfordern. Für chinesische Leibpraktiken ist das ›Qi‹ (氣) grundlegend – ein kaum übersetzbarer Begriff, der oft mit ›Energie‹ wiedergegeben wird. Die gebräuchliche deutsche Übersetzung ist ›Lebenskraft‹. Doch mit ›Kraft‹ und ›Energie‹ verbindet man im Deutschen keineswegs die Anstrengungslosigkeit der Bewegung des Qi, sondern das Gegenteil. So ist nicht verwunderlich, dass die systemische Beraterin von Frau Z. darin keine Lösungswege sehen konnte, da ihre Sichtweise des Taijiquan durch ihren eigenen kulturellen Horizont begrenzt war« (Baatz, 2016). Was hätte der Therapeutin von Frau Z. in dieser Beratungssituation geholfen? Da es fast unmöglich scheint, für alle Varianten von Spiritualität, Religion und Weltanschauung, die gerade zugänglich sind, Informationen passend für konkrete Fälle zu liefern, verlegt sich das Buch im Folgenden darauf, Strukturen und Faktoren herauszuarbeiten, die im Zusammenhang mit ihnen immer wieder auftauchen. Der Zugang ist hierbei ein hermeneutischer, verstehender. Wenn Klienten über ihre Weltanschauung und Spiritualität sprechen, geht es um Persönliches, nicht um Beobachtungen aus einer wissenschaftlichen Perspektive. Das Buch ist auch kein akademisches Projekt, sondern soll für den praktischen Gebrauch hilfreich sein. Daher bezieht sich die Darstellung auf konstruktivistische, psychoanalytische und phänomenologische Theoreme, ohne dies eigens zu begründen. Über Weltanschauungen, Religionen und Spiritualitäten kann man nicht sprechen, ohne die eigene Position zu thematisieren. Es ist nicht möglich, keinen Standort in diesen Fragen zu haben. Aufgewachsen in einem Milieu, in dem katholisches Christentum, Psychoanalyse, Denker wie Pierre Teilhard de Chardin, die klassische griechische und römische Antike, Interesse an Biologie und Chemie, Impulse aus Lebensreformbewegung und Yoga offene Denkbewegungen anregten, und geprägt durch die 1968er Bewegung, habe ich noch während des Philosophiestudiums in der Zen-Praxis meinen Ort gefunden. Mittlerweile bin ich religiös-spirituell zweisprachig, sozialisiert im Buddhistischen und Christlichen. Philosophie hat sich in diesem Prozess zu einem inter- und transkulturellen, faszinierend vielsprachigen Raum erweitert. Als Wissenschaftsjournalistin bin
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ich Geistheilern, UFO-Gläubigen, vor allem aber auch spirituellen Lehrern aus den verschiedenen Richtungen des Buddhismus, aus dem Islam, dem Hinduismus und dem Christentum ebenso wie aus indigenen Traditionen begegnet. Aufenthalte in Asien und Lateinamerika haben mir erlaubt, an anderen Atmosphären und Lebensverhältnissen teilzuhaben als den mir vertrauten. Gregory Batesons »Ökologie des Geistes« (1983) war der Einstieg für mich ins systemische Denken (Baatz, 1987; Baatz u. Grössing, 1987). Meinen Lehrerinnen und Lehrern in Sachen systemischen Arbeitens – vor allem und besonders Guni Leila Baxa, Christine Blumenstein, Siegfried Essen – möchte ich danken, auch, weil sie meine kritischen Fragen immer mit Wohlwollen aufgenommen haben. Auch möchte ich den Freundinnen und Freunden danken, die das Entstehen des Manuskripts mit Unterstützung und kritischem Wohlwollen, aber auch Informationen begleitet haben, insbesondere Ursula Reisenberger, Anna Pissarek, Elisabeth Cella, Jan Brousek, Christine Fuchshuber, Klaudia Gehmacher, Elisabeth Huber, Johann Kneihs, Cornelia Mittendorfer, Helmut Renger, Ursula Richard, Karl-Heinz Steinmetz, Wolfgang Tomaschitz, Elmar Türk, Isolde Macho Wagner und Frank Zechner; für Hinweise auch Tatjana Marinell. Ein besonderer Dank gilt meiner Zen-Lehrerin Ana Maria Schlüter Rodés Kiun An. Danken möchte ich auch Sandra Englisch und Imke Heuer vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, die das Entstehen der »Landkarten« ermöglicht und begleitet haben. Auf eine Reise in vielleicht neue, fremde und wilde oder auch bekannte und vertraute Gegenden und Gärten der Weltanschauungen, Spiritualitäten und Religionen darf ich nun die Leserinnen und Leser einladen.
1 Orientierung und Desorientierung
Sechs Fische schwimmen im Großaquarium eines Restaurants. Wie jeden Tag begrüßen sie einander gelangweilt. Plötzlich ruft einer: »Seht mal, Howard wird gegessen!« (Pause.) »Das stimmt irgendwie nachdenklich.« – »Was ist der Sinn des Ganzen?« fragt der größte Fisch. (Schnitt.)
So beginnt der Monty-Python-Film »Der Sinn des Lebens« (1983), eine Aneinanderreihung von satirischen Szenen über den Sinn des Lebens und die »Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung«. Eine Satire übertreibt, spitzt zu, man lacht – und dann ist es doch bitterernst. Wenn die Fische im Aquarium plötzlich merken, dass ihr gemütliches Dasein ein Ende hat; dass sie dieses Ende nicht selbst bestimmen können; dass sie nur dazu da sind, von den Gästen des Restaurants verspeist zu werden – das trifft das Lebensgefühl, das einen selbst so manchmal beschleichen kann, ziemlich genau, satirisch, damit es nicht zu ernst und dramatisch wird. Monty Pythons kurze Trickfilmsequenz bringt eine Lebenssituation ins Bild, in der sich Menschen gar nicht so selten wiederfinden und sich dann auf die Suche nach Orientierung machen. Sie wissen nicht genau, was die Antwort auf die Frage ist. Und: Wie war doch genau die Frage? Wer in einem weltanschaulichen, religiösen und spirituellen Milieu aufgewachsen ist oder dort eine Heimat gefunden hat, hat eine Menge Antworten zur Hand, oft auf Fragen, die sich noch gar nicht gestellt haben. Die Frage nach dem Sinn tritt erst auf, wenn das alltägliche Tun und Leben aus irgendwelchen Gründen nicht mehr selbstverständlich ist: wenn die Sicherheit, mit der jeder Tag von Neuem begonnen werden kann und Entscheidungen ohne viel Nachdenken getroffen werden, ins Wanken kommt. Das kann leicht einsehbare Gründe haben, wie Trennungen, Verlust des Arbeitsplatzes, Todesfälle, Krankheiten, Katastrophen etc. Doch manchmal treten Orientierungsfragen ohne ersichtlichen äußeren Anlass auf. Dann
Orientierung und Desorientierung19
wird auf einmal alles fragwürdig, was je das Leben mit Sinn erfüllt hat. Eine grundlegende Sinnkrise ist von außen und manchmal auch von innen betrachtet einer Depression sehr ähnlich. Doch gibt es einen Sinn des Lebens? Philosophen und auch Theologen sind in diesem Punkt vorsichtig geworden und sprechen heute statt vom Sinn des Lebens lieber von »Orientierungswissen«3. Wer orientiert ist, kann sein Handeln auf die Zukunft bezogen gestalten. Orientierung ist vorausgesetzt, um – ethisch gesprochen – Verantwortung zu übernehmen; psychologisch gesprochen, um Selbstwirksamkeit zu erfahren. Um sich orientieren zu können, muss man wissen, wo man sich befindet und was fehlt, um sich orientieren zu können. Der erste Schritt ist, die Situation und Position des/der Fragenden zu klären, denn Orientierung gibt’s nur in der ersten Person – aber auch Desorientierung ist immer höchstpersönlich. Um Orientierungswissen, also Wissen um Orientierung zu haben, muss zunächst das eigene Vorwissen geklärt werden. Dann kann ein »Weiterwissen« entwickelt werden, aufgrund dessen wir uns in einer bestimmten Situation »richtig« verhalten, es »richtig« machen oder die »richtige« Richtung einschlagen (Stegmaier, 1992; Seibt, 2005). »Richtig« bedeutet hier weniger »konform mit Regeln« als »stimmig«. Wenn »es richtig« ist, dann ist das nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern auch eine körperliche Wahrnehmung: man erfährt sich in Resonanz mit der Situation (Rosa, 2015), es entsteht ein Gefühl von Kongruenz (Rogers, 1981), und ein »felt sense« (Eugene T. Gendlin) stellt sich ein. Orientierungswissen beansprucht zudem nicht, umfassende Erklärungen oder Theorien zu liefern, sondern ist handlungs- und personenbezogen. Am Bild des Wanderers lässt sich erklären, was mit Orientierungswissen gemeint ist. Wer wandert, braucht Orientierung und benützt dafür theoretisches, sozusagen »objektives« Wissen in Form von Karte und Kompass. Doch muss der Wanderer sich auch auf die Kunst des Kartenlesens verstehen, das heißt, er muss in der Lage 3 Den Begriff hat der Philosoph Jürgen Mittelstraß eingeführt als Gegensatz zu »Verfügungswissen«, das sich auf pragmatisches und technisches Wissen bezieht. Orientierungswissen bezieht sich auf ethische Perspektiven (1992, 30 ff.).
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Orientierung und Desorientierung
sein, die Karte und die Richtung des Kompasses auf den eigenen augenblicklichen Standpunkt zu beziehen. Im Weitergehen verändert sich vielleicht die Richtung des Weges, vielleicht gibt es auch eine Wegkreuzung, und der Wanderer muss den Prozess des Sich orientierens wiederholen. Dabei hilft ihm aber nur eine Karte, die genau die Informationen enthält, die er zum Weiterwandern braucht. Die Karte muss einen angemessenen Maßstab haben, der eher kleiner als größer ist, eher detailreich als nur einen Überblick liefernd. Zudem hilft dem Wanderer nur eine solche Karte, in der die physische Beschaffenheit der Gegend und die Wege eingezeichnet sind. Eine Wirtschafts- oder Klimakarte derselben Gegend oder eine Karte über geologische Formationen würde ihm nicht weiterhelfen. Der Wanderer muss überdies in der Lage sein, selbst die Informationen über die physische Beschaffenheit der Gegend aus der maßstäblichen Abbildung in die eigene Situation zu übersetzen. Orientierungswissen ist also perspektivisch, das heißt, man sieht immer von einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Standort auf eine bestimmte Situation oder eine bestimmte Gegend. Zudem ist es ein provisorisches Wissen: man kann eine Position nicht einfach nach festen Regeln auf eine neue, andere Situation übertragen, weil sich der Standpunkt und Horizont des Individuums durch Handeln verändert. Das Wissen muss immer wieder an die Situation angepasst werden, es ist ein transitorisches Wissen. Zudem ist Orientierungswissen pragmatisch und ökonomisch. Es bezieht sich nur auf das, was notwendig ist, um angemessen handeln zu können. Dazu müssen Entscheidungen getroffen werden, und deshalb ist Orientierungswissen mit klaren Wertungen verbunden, die erlauben, verschiedene Optionen für Handlungen zu wählen (Luckner, 2005, S. 175, Anm. 10; Stegmaier, 1992, 12 ff.). All dies kann nur von der Person geleistet werden, die sich orientieren will, denn Orientierung ist eine persönliche Angelegenheit. Orientierung kann nur aus der Perspektive der ersten Person geschehen und ist daher ein »subjektiver« Prozess, der aber »objektive« Hilfsmittel benützt und »objektive« Wirkungen, also Handlungsfolgen, hat.4 4 Umgangssprachlich wird »subjektiv« im Sinne von »persönlich«, aber auch »unsachlich« verwendet, »objektiv« als das Gegenteil davon. »Subjektiv« und
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Weltanschauliche, religiöse und spirituelle Fragen beziehen sich scheinbar und auf den ersten Blick auf Ziele – zum Beispiel »Erleuchtung erlangen«, »in den Himmel kommen«, »ein guter Mensch sein« etc. Doch sind dies keine Handlungsziele, von denen man wie in Management-Anleitungen eine Evaluierung als »SMART« – also als »spezifisch, messbar, akzeptabel, realistisch und terminiert« – erwarten kann. Gesucht sind vielmehr Kriterien, die Menschen erlauben, ihr Leben als gelungen zu betrachten. Als Antwort werden Rahmenannahmen gesucht, die Kriterien bieten, anhand deren wir unsere Wünsche und Entscheidungen beurteilen können. Gesucht sind Qualitäten, die dem Leben Sinn geben, und das heißt im weitesten Sinn spirituelle Qualitäten, die auf persönliche Entscheidungen zurückgehen. Diese Entscheidungen orientieren sich an Maßstäben, die von anderen – für das eigene Leben wichtigen – Menschen oder von der für einen selbst relevanten Gemeinschaft möglichst geteilt werden können. Diese Rahmen- oder auch Hintergrundannahmen, so der kanadische Philosoph Charles Taylor, machen den »expliziten oder impliziten Hintergrund unserer moralischen Urteile, unserer intuitiven Vorstellungen und unserer Reaktionen« aus (Taylor, 1996, S. 53). Wenn wir erklären, »was wir voraussetzen, wenn wir einer Lebensform wahren Wert zusprechen, unsere Würde von einer bestimmten Leistung oder einem bestimmten Rang abhängig machen oder unsere moralischen Pflichten in einer gewissen Weise definieren« (S. 53), dann artikulieren wir den Rahmen, in den wir unser Leben setzen. Der Orientierungsrahmen bestimmt auch die eigene Identität. Falls uns diese Identifikationen, die uns Standpunkt und damit Orientierung geben, abhandenkämen, »würden wir sozusagen ins Schwimmen geraten und wüssten im Hinblick auf einen wichtigen Bereich von Fragen nicht mehr, was uns die Dinge eigentlich bedeuten« (S. 56).
»objektiv« bezieht sich hier jedoch auf interne und externe Zustände von Systemen und ist nicht wertend zu verstehen.
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Orientierungslosigkeit als Wissensmangel Verlust von Orientierung tritt ein, wenn die Bezugsgrößen fehlen, unsicher oder fragwürdig werden. Dies kann verschiedene Ursachen haben (nach Luckner, 2005). Religionen und Philosophien bieten Deutungsschemata (zu vergleichen mit Landkarten) an, um das Leben bewältigen zu können und ihm eine Richtung zu geben. Fehlendes Wissen in existenziellen Fragen und Sinnfragen kann zu Desorientierung führen, wenn es etwa einen Konflikt zwischen Rahmenvorstellungen und persönlichen Intentionen gibt. Hier kann eine genauere Kenntnis der Inhalte und möglichen Varianten der jeweiligen Vorstellungen hilfreich sein. Ob diese Kenntnis vom Berater bzw. der Therapeutin gesucht und eingebracht wird oder von dem Klienten oder von beiden, wird von der Situation abhängen. Wenn zum Beispiel die wichtigen Bezugspersonen eines Klienten einer Gruppe angehören, die ein sehr enges Weltbild vertritt, das zudem Ängste bestärkt, kann die Feststellung des Therapeuten, dass religiöse Traditionen keine monolithischen Blöcke sind ebenso wie der Hinweis auf alternative Auffassungen innerhalb der betreffenden Tradition befreiend wirken. Eine offene Frage ist, welche Kenntnisse notwendig sind, um Rituale oder Meditationspraktiken aus der eigenen oder anderen Kulturen in ihrer Wirkung auf Klienten angemessen einschätzen zu können. Was können Therapeutinnen und Berater tun, wenn sie durch ihre Klienten mit für sie fremden Religionen, Weltanschauungen und Spiritualitäten konfrontiert sind? Können die Rahmenannahmen der betreffenden Tradition für den Klienten eine Ressource sein? Und wenn ja, wie? Und wenn nein, warum nicht? Diese Fragen stellen sich etwa, wenn Klientinnen aus anderen Kulturen in die Beratung kommen, viel häufiger aber, wenn sich Klientinnen oder Klienten für Traditionen begeistern, die ihnen nicht gut bekannt sind. Was bedeutet es beispielsweise, in einem tibetisch-buddhistischen Kontext eine Einweihung in eine bestimmte Praxis zu bekommen? Welche unausgesprochenen Vorannahmen von Seiten des »Gebers« der Einweihung bestehen? Welche umfangreichen und vom Anspruch her dauerhaften Verpflichtungen werden damit eingegangen? Was bedeutet es, wenn in einer christlichen Gruppe für
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den Klienten gebetet wird? Was für unausgesprochene Werte und Verpflichtungen schwingen dabei auf beiden Seiten mit? Es ist wichtig zu wissen, dass Personen, die spirituelle und religiöse Praktiken anleiten, damit immer auch Rahmenannahmen und Weltbilder mittransportieren, die mit den Annahmen des Klienten und/oder Therapeuten bzw. Beraterin kollidieren können. Fragen nach Voraussetzungen von Weltbildern zu beantworten, bedarf dann einiger hermeneutischer Anstrengungen.
Orientierungslosigkeit als Unsicherheit und Unklarheit über die eigene Intention Die klassische Situation: Die oder der Wandernde steht vor einer Weggabelung und muss sich zwischen den möglichen Wegen entscheiden. Gefordert ist eine Entscheidung über die Richtung, die man einschlagen möchte. Doch ist unklar, woran man sich bei der Entscheidung orientieren kann: »Das, woran wir uns orientieren, und was uns in anderen Fällen als Entscheidungskriterium bei einer Abwägung dienlich ist, steht selbst in Frage bzw. droht seinen Instanzcharakter zu verlieren« (Luckner, 2005, S. 231). Es ist die typische Situation des Gerade-nicht-weiter-Wissens. Wenn die Tochter oder der Sohn einen Partner oder eine Partnerin mitbringt, die nicht den Erwartungen der Eltern entspricht, weil zum Beispiel aus einer anderen Weltgegend kommend, kann dies zu einer Irritation und zum hoffentlich nur kurzfristigen Verlust der familiären Orientierungsinstanzen führen. Es ist dann eine De- und Rekonstruktion der Familienwirklichkeit gefordert, und das heißt eine Evaluierung der Prioritäten, die eine Wahlsituation bestimmen. In einer Legende aus dem alten Griechenland wird die Situation paradigmatisch vorgeführt. Der Grieche Prodikos von Keos, der im 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, ein gesuchter Lehrer und wahrscheinlich ein Freund des Philosophen Sokrates, soll seinen Hörern die folgende Geschichte erzählt haben. Herakles, ein Held der griechischen Mythologie, zieht sich in die Einsamkeit zurück. Dabei besuchen ihn zwei Frauen, die eine steht für die areté (Tugend), die andere für die kakía (Laster). Beide tragen ihm die Freundschaft an. Die beiden Frauen stehen für Orientierungsinstanzen und verkörpern
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jeweils Haltungen, Absichten und Zukunftsperspektiven, zwischen denen Herakles wählen muss: Herakles am Scheideweg. Hier die leicht gekürzte Version des Politikers, Feldherren und Schriftstellers Xenophon (ca. 430–355 v. Chr.): »Als Herakles im Begriffe stand, aus dem Knaben- in das Jünglingsalter überzutreten, in dem die Jünglinge bereits selbstständig werden und zeigen, ob sie den Weg der Tugend oder des Lasters zu ihrem Lebenswege machen wollen, sei er an einen einsamen Ort hinausgegangen, habe sich daselbst niedergesetzt, unschlüssig, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle. Da habe er zwei Frauen von hoher Gestalt auf sich zukommen sehen; die eine war schön anzusehen und edel […]. Die andere war wohlgenährt bis zur Fleischigkeit und Üppigkeit. […] Als sie aber näher an Herakles herangekommen seien, sei die zuerst genannte ruhig in ihrem Schritte weiter gegangen, die andere aber sei, um ihr zuvorzukommen, auf Herakles zugelaufen und habe zu ihm gesagt: Ich sehe, Herakles, daß du unschlüssig bist, welchen Lebensweg du einschlagen sollst; wenn du nun mich zur Freundin nimmst, dann werde ich dich den angenehmsten und bequemsten Weg führen, keine Lust soll dir verloren gehen und von Beschwerden sollst du verschont bleiben […], was andere sich erarbeiten, das sollst du genießen, sofern du nur nichts zurückweisest, woraus man Gewinn ziehen kann. Denn ich gebe meinen Freunden die Erlaubnis, aus allen Dingen Nutzen zu ziehen. Als Herakles dies hörte, fragte er: wie heißt du, Weib? Sie antwortete: Meine Freunde nennen mich Glückseligkeit [eudaimonía], meine Feinde dagegen Lasterhaftigkeit [kakía]. Inzwischen war auch die andere Frau herangekommen und sagte: Auch ich komme zu dir, Herakles, denn ich kenne deine Eltern und habe deine Anlagen bei deiner Erziehung kennen gelernt. Darum hoffe ich, wenn du den Weg zu mir einschlägst, so wirst du gewiß ein tüchtiger Vollbringer edler und erhabener Taten werden, und ich noch viel geachteter und reicher an Vorzügen erscheinen. Ich will dich aber nicht durch Vorgaukeln von Genüssen täuschen, sondern dir das Leben, wie es die Götter angeordnet haben, der Wahrheit gemäß schildern. Von dem Guten und wahrhaft Schönen geben die Götter den Menschen nichts ohne Mühe und Fleiß. Willst du, dass die Götter dir gnädig
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seien, so musst du sie ehren; willst du von deinen Freunden geliebt werden, so mußt du ihnen Gutes erweisen; willst du von irgend einem Staate geehrt werden, so musst du dem Staate nützlich werden;[…] möchtest du aber endlich auch körperlich kräftig sein, so musst du deinen Körper gewöhnen, dem Geiste zu gehorchen und unter Anstrengungen und Schweiß ihn abhärten. […] Meinen Freunden ferner ist der Genuss von Speisen und Getränken angenehm und von keinen Umständen abhängig, denn sie warten so lange, bis sie Appetit bekommen. Der Schlaf aber ist ihnen süßer als denen, welche nichts zu tun haben […]. Wenn aber das vom Schicksal bestimmte Ende kommt, dann liegen sie nicht in Vergessenheit ruhmlos da, sondern von Lobliedern gepriesen, leben sie fort in der Erinnerung aller Zeiten. Wenn du, Herakles, du Sohn würdiger Eltern, dich solchen Anstrengungen unterziehst, dann kannst du die göttlichste Glückseligkeit erreichen« (Xenophon, 5. Jh. v. Chr., Allegorie 21–33).
Herakles’ Geschichte zeigt: Es geht nicht um Sachentscheidungen, sondern um Kriterien für wiederholte Entscheidungssituationen. In Gestalt der beiden Frauen werden Herakles verschiedene Ordnungen von Wünschen vorgeführt, die er bewerten muss, und zwar nicht als einzelne Wünsche oder Handlungsoptionen, sondern in Hinblick auf die Qualität des Ergebnisses, sprich: die Qualität seines Lebens. Der Weg, den Herakles einschlägt, führt nicht zu einer bestimmten Tätigkeit oder einem bestimmten gesellschaftlichen Status. Als lohnendes Ziel des Weges der areté nennt Xenophon die »eudaimonía«, was in etwa mit »Glückseligkeit« oder »gutes Leben« übersetzt werden kann. Was für den mythologischen Helden Herakles eine überschaubare Situation war – es standen ihm genau zwei Optionen zur Verfügung – ist für Menschen heute deutlich schwieriger. Wert- und Güterabwägungen, die ein professioneller Berater vorschlagen würde, können hilfreich sein, um das Feld der Entscheidung zu klären oder auch, um bestehende Konflikte deutlich zu machen. Doch Wünsche und Optionen sind vielfache und die Kriterien oft nicht eindeutig. Der kanadische Philosoph Charles Taylor schlägt daher vor, bei der Bewertung eines Wunsches oder einer Absicht darauf zu achten, ob es um die Qualität des Ergebnisses (schwache Wertung) oder um die Qualität der Motivation (starke Wertung) gehen soll:
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»So könnte jemand zwei erwünschte Handlungen abwägen, um die günstigere zu ermitteln, um herauszufinden, wie unterschiedliche Wünsche miteinander verträglich zu machen sind (zum Beispiel könnte sich jemand entschließen, das Essen zurückzustellen, obgleich er hungrig ist, weil er später sowohl essen als auch schwimmen gehen könnte) oder wie er insgesamt die größte Befriedigung erzielen könnte. Oder er könnte darüber nachsinnen, welches von zwei gewünschten Objekten ihn am meisten anzieht, so wie man eine Konditoreiauslage studiert, um zu überlegen, ob man einen Eclair oder ein Blätterteigstückchen nehmen will. Was jedoch in den genannten Fällen fehlt, ist eine qualitative Bewertung meiner Wünsche, die beispielsweise dann vorliegt, wenn ich es unterlasse, aus einem gegebenen Motiv heraus zu handeln – etwa aus einem Groll heraus oder aus Neid –, weil ich dieses Motiv für niedrig und unwürdig erachte. In einem solchen Falle werden unsere Wünsche nach Kategorien eingeteilt wie höher oder niedriger, tugendhaft oder lasterhaft, mehr oder weniger befriedigend, mehr oder weniger verfeinert, tief oder oberflächlich, edel oder unwürdig. Sie werden als zu qualitativ verschiedenen Lebensweisen zugehörig eingestuft: fragmentiert oder integriert, entfremdet oder frei, heiligmäßig oder bloß menschlich, mutig oder kleinmütig usw. Der Unterschied könnte intuitiv wie folgt beschrieben werden. Im ersten Falle, den wir als schwache Wertung bezeichnen könnten, beschäftigen wir uns mit den Ergebnissen; im zweiten Falle einer starken Wertung befassen wir uns mit der Beschaffenheit unserer Motivation« (Taylor, 2006, S. 2).
Aus »starken Wertungen« können Ressourcen erwachsen, wie dies die Positive Psychologie vorschlägt.
Orientierungslosigkeit aufgrund existenzieller Zweifel Musils »Mann ohne Eigenschaften« bietet sich als Beispiel für existenziellen Zweifel an. In dem Roman wird Ulrich, ein 32-jähriger ehemaliger Offizier und angesehener und begabter Mathematiker, plötzlich durch eine Phrase im Sportteil der Zeitung – er liest von einem »genialen Rennpferd« – bewegt und nachdenklich. Die Phrase löst eine Welle von Irritationen seiner Identität aus. Auf ein-
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mal kommen ihm seine Kollegen, seine Peergroup von Staatsanwälten und Sicherheitschefs wie Gespenster vor. »›Bei allen Heiligen!‹ dachte er. ›Ich habe doch nie die Absicht gehabt, mein ganzes Leben lang Mathematiker zu sein?‹ Aber welche Absicht hatte er eigentlich gehabt?«(Musil, 1937/2013, S. 48). Ulrich gerät in eine Situation der Gleichgültigkeit gegenüber allem, was ihm bisher wichtig war. Es trifft für ihn zu, was Luckner beschreibt: »Die gewohnten Orientierungen sind daher auch nicht etwa mit anderen, neuen, in Konflikt geraten, sie haben lediglich ihre handlungs- und lebensorientierende Kraft verloren« (Luckner, 2005, S. 237). In dieser fundamentalen Desorientierung, die Ulrich befällt, geht es nicht darum, was er will, sondern darum, wer er ist. Es entsteht eine Distanz zum eigenen Tun, zur eigenen Identität, zu den bisher relevanten starken Wertungen. Diese Art der Desorientierung könnte man mit Nietzsche als eine Art »Entwertung aller und der höchsten Werte« bezeichnen (Nietzsche, 1886/2005). Es ist eine existenzielle Krise, eine Situation, die das griechische Wort krínein bezeichnet, »unterscheiden, entscheiden«. Ohne Krisen, also wiederholten Situationen der Unterund Entscheidung lässt sich der Sinn des Lebens nicht finden. Denn »[d]as Leben muss einem sinnlos erscheinen können, wenn es einen Sinn haben soll« (Luckner, 2005, S. 241). Der Sinn lässt sich zwar als Richtung angeben, in die der Weg führen soll oder kann, jedoch lassen sich keine direkten Ziele formulieren. »Die Grundorientierung des Handelns und Lebens überhaupt – oder auch: der Lebenssinn einer Person – ist nicht gleichbedeutend mit ihrer Ausrichtung auf ein (übergeordnetes) Ziel, sondern steht in enger Verbindung mit einer bestimmten, zu klärenden Wahl des Weges ihres Weltaufenthalts« (S. 241). Sinnkrisen erfordern eine Neuorientierung des Lebens, doch können Orientierungsprozesse nicht erzwungen werden. Der französische Autor Emmanuel Carrère befand sich in einer tiefen Lebensund Schaffenskrise, als er einen Psychiater fand, der seinen Zustand nicht als Depression einstufte. Um aus der tiefen Starre und Verzweiflung herauszukommen, begann Carrère auf Anregung seiner Tante, einer in Frankreich bekannten Intellektuellen und Schriftstellerin, sich in einen traditionellen Katholizismus zu vertiefen. Nach
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anfänglicher Begeisterung – er besuchte etwa jeden Tag die Messe – verlor diese Orientierung nach einigen Jahren ihre Anziehungskraft. Carrère versteht sich heute als Agnostiker mit Zuneigung zum Christentum und hat vor kurzem mit einer Paraphrase auf die Frühgeschichte des Christentums »Das Reich Gottes« (2016) einen Bestseller geschrieben. Manchmal entstehen Orientierungskrisen durch Erfahrungen, die sich nicht einordnen lassen. Ein charakteristisches Beispiel ist die Geschichte der Psychologin Michaela M. Özelsel (1949–2011). Geboren in Kiel, wuchs sie in der Türkei auf, wo der Vater als Ingenieur tätig war. Religion spielte in der Familie keine besondere Rolle. Nach dem Abitur an der Deutschen Schule in Istanbul studierte sie in den USA Psychologie und promovierte in Klinischer Psychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main über psychosomatische Erkrankungen türkischer Gastarbeiter. Während eines Türkeiurlaubs fuhr sie mit Freunden nach Konya im Süden der Türkei. In Konya befindet sich das Grab des islamischen Mystikers Djelalledin Rumi (1207–1273), ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Rumi war einer der bedeutendesten persischsprachigen Sufi-Dichter und ist Begründer des Mevlevi-Ordens (auch als »tanzende Derwische« bekannt). Die Gruppe besuchte den Ort, und plötzlich, im Anblick des mit grünen Tüchern bedeckten Grabes, strömten Tränen aus Michaela Özelsels Augen. Die Freunde versuchten, sie zu beruhigen, doch die Tränen strömten unaufhörlich. Etwas Unerklärliches hatte sie berührt, das sie mit Rumi und dem Islam verband. Sie begann, den Koran zu studieren, konvertierte zum Islam und schloss sich einer Sufi-Gruppe an. Ihr Buch »40 Tage. Erfahrungsbericht einer traditionellen Derwischklausur« (1993) ist ein bemerkenswertes Zeugnis interkultureller Spiritualität. Bis zu ihrem Tod arbeitete sie als Psychologin mit Schwerpunkt Interkulturalität. Eine sehr charakteristische zeitgenössische Orientierungskrise beschrieb der Filmstar Richard Gere in einem Interview (McLeod, 1999/2016). Als junger Mann, er lebte damals in San Francisco, fühlte er sich sehr unglücklich, und die Frage »Warum das Ganze?« peinigte ihn so, dass ihm manchmal Gedanken an Selbstmord kamen. Er hatte das Gefühl, an die Grenzen seiner geistigen Gesundheit zu gelangen und stöberte in Buchgeschäften nach Antworten. Dort fand
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er Bücher über Buddhismus, keine Seltenheit im San Francisco der 1960er Jahre. Und der Buddhismus, genauer dessen Übungspraxis, brachte ihm dann eine Antwort auf seine Frage. Die Richtung eines Lebensweges entsteht aus vielen einzelnen Entscheidungen, deren Kriterien »starke Wertungen« sind. Aus wiederholten Entscheidungen aufgrund starker Wertungen entsteht, so Taylor, die Identität einer Person, das, was sie als ihr Selbst betrachtet. Irgendwann jedoch können diese Entscheidungen alle in Zweifel stehen. Da sie die Identität und das Selbstverständnis der Person treffen, sind es existenzielle Zweifel. Bei Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, entstehen sie, weil er plötzlich seine Tätigkeit als Mathematiker nicht mehr als ausreichend für seine Identität erfährt. Ähnliche Einschränkungen und Verluste von Identität können auch Burn-outPatienten erfahren. Freudlosigkeit, Verlust des Interesses, Energielosigkeit, Schlaflosigkeit und Suizidgedanken gehören zu den Kennzeichen einer Depression. Die Grenzen zwischen Verlust der Orientierung aufgrund von existenziellen Zweifeln und einer Depression sind fließend. Auch Phasen existenziellen Zweifels können wie Depressionen lange andauern und immer wieder kommen. Die Frage »Warum das Ganze?« ist eine Frage, die sich Menschen immer wieder stellt. Es ist eine Menschheitsfrage, und wen sie erfasst, muss mit der Frage leben, auf die Religionen und Weltanschauungen eine Antwort geben wollen, die dann doch immer wieder für einzelne nicht ausreichend ist. Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann letzten Endes nicht nur kognitiv beantwortet werden, auch wenn sich Spiritualitäten, Religionen und Weltanschauungen darum bemühen, eine möglichst kohärente Antwort zu geben. Die Antwort muss überzeugen, sie muss aus einer Theorie »in der dritten Person« in eine »erstpersönliche« Position übersetzt werden. Sinn entsteht dort, wo etwas hilft, die eigene Biografie in eine kohärente Geschichte zu verwandeln. Das muss nicht immer für andere einsichtig oder nachvollziehbar sein. Das gilt vor allem für religiöse Konversionserlebnisse, und ganz besonders dann, wenn die religiöse Gruppe oder Lehre, der sich jemand zuwendet, wenig »soziales Kapital« (Bourdieu, 1983) inkludiert – zum Beispiel im Fall einer Konversion zum Islam oder zu den Zeugen Jehovas.
2 Achtsamkeit: Orientierung nach dem Ende der großen Erzählungen
Die großen Erzählungen der Vergangenheit tragen nicht mehr, postulierte der französische Philosoph Jean Francois Lyotard (1924–1998) in seinem einflussreichen Werk »Das postmoderne Wissen« (1979/1986). Was bislang die Gesellschaft zusammengehalten hat – das Christentum, die Wissenschaft mit ihrer Erzählung vom Fortschritt, der Marxismus – seien politisch-ideologische Konstruktionen, die sich überlebt haben. An ihre Stelle würde nun eine Diversität »kleiner Geschichten« und Sinnentwürfe treten, als ein Ausdruck der Freiheit des Einzelnen. Postmoderne bedeutet, dass man den »Über-Erzählungen« keinen Glauben mehr schenkt, schreibt Lyotard im Vorwort zu seinem Werk (S. 14). Damit hat Lyotard einer Entwicklung zum Durchbruch verholfen, deren Anfänge man zum Beispiel bei Nietzsche finden kann. Die Frage ist freilich: wenn es keine großen Sinnentwürfe mehr gibt, woran kann und soll man sich dann orientieren? Dieser Frage stellte sich bereits in den 1940er Jahren der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Albert Camus (1913–1960). Camus richtete sich gegen alle umfassenden Ansprüche totalitärer Sinndoktrinen seiner Zeit, nicht nur gegen den Faschismus, sondern auch gegen den Absolutheitsanspruch marxistischer Geschichtsphilosophie und den Stalinismus, und auch gegen das Christentum. Der Glaube an Gott war für Camus eine »Frage ohne Belang« (Camus, 1942/2013, S. 165). Trotzdem bleibt die Frage nach dem »Warum«, die sich auch in dem »langen bequemen Weg« der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts stellt: »Eines Tages steht aber das ›Warum‹ da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an. Dieser Überdruss ist das Ende des mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewusstseinsregung« (S. 24 f.). Doch gibt Camus keine Antwort auf die Sinnfrage. Da am Ende alles Leben dem Tod verfällt, bleibt kein
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rettender metaphysischer, ewiger Sinn, sondern nur die Möglichkeit, die Absurdität des Daseins zu akzeptieren. Im antiken griechischen Mythos von Sisyphos findet Camus seinen Helden. Sisyphos lehnt sich gegen die Götter auf, besiegt den Gott des Todes im Ringkampf und überlistet ihn dann auch noch, um der Unterwelt zu entkommen. Am Ende aber gewinnt der Tod doch, und Sisyphos muss nun in der Unterwelt eine unlösbare Aufgabe ausführen. Er muss einen schweren Stein auf einen Berg hinaufrollen. Knapp unter dem Gipfel verliert er jedoch immer wieder die Kontrolle, und der Stein rollt wieder hinunter, worauf Sisyphos von neuem beginnen muss. Camus sieht die Situation des Menschen ähnlich: angesichts des Todes ist kein Sinn des Lebens aufrechtzuhalten. Statt an Selbstmord zu denken, schlägt Camus vor, dieses Schicksal anzunehmen, und dem Absurden »ins Auge zu sehen« (S. 67). »Der Glaube an den Sinn des Lebens setzt immer eine Wertskala voraus, eine Wahl, unsere Vorlieben. Der Glaube an das Absurde lehrt nach unseren Definitionen das Gegenteil« (S. 73). Gesellschaftlich akzeptierte Sinnkonstrukte scheinen Wahlmöglichkeiten und Orientierungen vorzugeben, verlieren jedoch im Angesicht der Endlichkeit des Menschen ihren Sinn. Statt sich an metaphysischen Annahmen zu orientieren, plädierte Camus für einen klaren Blick auf das Hier und Jetzt. Die »Klarsicht«, mit der die Sinnlosigkeit des Lebens wahrgenommen werden kann, ist nicht Qual, sondern Sieg, schrieb Camus (S. 143). Sie erst mache frei zu handeln. »Die niederschmetternsten Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden«, so Camus, »[d]arin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache« (1942/2000, S. 100). Die Ablehnung aller Ideologien impliziert auch die Revolte gegen jede Unterdrückung. Doch gerade in der Solidarität mit Unterdrückten entsteht für den Augenblick Selbsttranszendenz und Sinn: »Wenn der Mensch rebelliert, identifiziert er sich mit anderen Menschen und geht so über sich hinaus. So gesehen ist menschliche Solidarität metaphysisch. Aber wir sprechen hier nur von jener Solidarität, die in Ketten geboren wird« (Camus, 1951/1997, S. 26). Camus’ »Klarsicht« verdankt sich einer Illusionslosigkeit und zugleich einer rückhaltlosen Bejahung des Hier und Jetzt mit all seinem Licht, aber
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auch allem Schatten. Indem Camus vorgefertigte Orientierungsmuster aufgab, fand er zu einer Haltung, die ihn am Ende sagen ließ: »Man darf sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen« (S. 101). Camus’ »Klarsicht« scheint in ihrer Ablehnung vorgegebener Orientierungsmuster und der Ausrichtung auf das Hier und Jetzt große Ähnlichkeit mit heute verbreiteten Achtsamkeitspraktiken zu haben. Achtsamkeit als Haltung beinhaltet, alle vorgegebenen Urteile und Meinungen zugunsten einer offenen Präsenz im Augenblick aufzugeben; zugleich aber bewirkt Achtsamkeit nach allen Definitionen eine Orientierung in der jeweiligen Gesamtsituation Der Verlust der Orientierung kann als Krise erlebt werden, wie die Philosophin Simone Weil (1909–1943) erzählt. Sie befand sich als Vierzehnjährige in einer höchst dramatischen psychischen Situation: »[I]ch wünschte ernstlich zu sterben, wegen der Mittelmäßigkeit meiner natürlichen Fähigkeiten«, schrieb Weil 1942 in einem Brief (Weil, 1998, S. 106). Sie erlebte sich abgeschnitten vom »Zugang zu jenem transzendenten Reich, […] zu dem einzig die echten großen Menschen Zutritt haben und in dem die Wahrheit wohnt. Ich wollte lieber sterben, als ohne sie zu leben. Nach Monaten innerer Verfinsterung empfing ich plötzlich und für immer die Gewissheit, dass jedes beliebige menschliche Wesen, selbst wenn es so gut wie gar keine natürlichen Fähigkeiten besitzt, in dieses dem Genie vorbehaltene Reich der Wahrheit eindringt, sobald es nur die Wahrheit begehrt und seine Aufmerksamkeit in unaufhörlicher Bemühung auf ihre Erreichung gerichtet hält« (Weil, 1998, S. 106). Aufmerksamkeit (attention) zu üben hieß für sie, eine große Offenheit des Geistes zu pflegen, die sich jedoch von allen Inhalten gelöst hat und verfügbar ist für das, was erscheint. Aufmerksamkeit besteht nach Weil darin, das Denken auszusetzen, den Geist verfügbar, leer und für das Erscheinende offen zu halten. Die verschiedenen, bereits erworbenen Kenntnisse, die man zu benutzen genötigt ist, sollen dem Geist zwar nahe und erreichbar, doch auf einer tieferen Stufe bleiben, ohne dass sie ihn berühren. Und vor allem sollte der Geist leer sein, wartend, nichts suchend, aber bereit, den Gegenstand, der in ihn eingehen wird, in seiner nackten Wahrheit aufzunehmen (Weil, 1998, S. 55 ff.).
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Weil stammte aus einem säkularen, freidenkerischen, jüdischen Haus, unterrichtete Philosophie am Gymnasium und engagierte sich bei den revolutionären Syndikalisten, einer freien Gewerkschaftsbewegung in Frankreich, die auf den Frühsozialisten PierreJoseph Proudhon (1809–1865) zurückgeht. Ihre Erfahrungen als Fließbandarbeiterin und im Spanischen Bürgerkrieg – beides unternahm sie aus Solidarität – prägten Weil. Sie schrieb, dass die Übung der Aufmerksamkeit sie während der Arbeit am Fließband gerettet habe. Sie floh 1942 vor den Deutschen nach Marseille und gelangte von dort über die USA nach England, wo sie sich der Gruppe »France Libre« um de Gaulle anschloss. 1943 starb sie an Tuberkulose und Unterernährung. Seit Mitte der 1930er Jahre waren Religion und Mystik aufgrund persönlicher Erfahrungen für die Agnostikerin immer wichtiger geworden. Zwar war ihr das Christentum nahe, doch sie blieb auf kritische Distanz zur kirchlichen Institution. In all diesen Jahren war attention, Aufmerksamkeit, eine wesentliche Grundlage ihres Lebens. Dass attention – was besser mit Achtsamkeit als Aufmerksamkeit zu übersetzen wäre – ein Medium der Orientierung ist, liegt daran, so Weil, dass zum Menschsein ein »Begehren nach Wahrheit« gehört, das die attention lenkt (Weil, 1998, S. 59). Die Schwerkraft der Welt wird durch die Aufmerksamkeit aufgehoben, die das in der Welt verborgene Licht sichtbar macht und ausbreitet. Camus und Weil, so unterschiedlich sie sind, verbindet die Kompromisslosigkeit ihres Suchens. Camus, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Reflexion von Simone Weils Erfahrungen in der Fabrik posthum herausgab, nannte sie »den einzigen großen Geist unserer Zeit« (Camus, 1965, S. 1699). Beide waren »freie Geister«, die sich nicht durch Institutionen oder Ideologien vereinnahmen ließen, sondern achtsam und offen einem tiefen Verständnis menschlicher Würde verpflichtet waren (Rosen, 1979, S. 306 f.). Achtsamkeit, Offenheit und Bezogenheit auf andere – Solidarität – steuerten den Prozess der Orientierung der beiden so unterschiedlichen Lebensentwürfe von Simone Weil und Albert Camus. Weder legten sich die beiden dogmatisch fest noch verorteten sie sich in weltanschaulichen Lagern. Camus stand den totalitären Tendenzen
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der französischen Linksintellektuellen ablehnend gegenüber und verweigerte die Parteilichkeit, Weil blieb außerhalb der römischkatholischen Kirche als Institution und ließ sich nicht taufen. Die Vektoren von beiden Orientierungsprozessen waren Achtsamkeit und Bezogenheit.
Achtsamkeit im Kontext Nun gilt seit etwa einem Jahrzehnt Achtsamkeit als effizientes Mittel gegen vielerlei Formen von Stress und verwandten Problemfeldern. Dabei reicht die Bandbreite dessen, was unter Achtsamkeit verstanden wird, von Achtsamkeit als einer Technik der Stressresilienz und verbesserten Leistungsfähigkeit bis Achtsamkeit als Grundlage und Weg spiritueller Praktiken. Achtsamkeit, ein bis Ende des 19. Jahrhunderts selten gebrauchtes Wort, wurde von Karl Eugen Neumann (1865–1915) in der ersten deutschen Übersetzung des Pali-Kanon, der ältesten buddhistischen Texte, unspezifisch zur Bezeichnung buddhistischer Meditationspraktiken eingeführt. Eine fixe Bedeutung und terminologische Verwendung bekam Achtsamkeit erst durch das 1952 erstmals auf Deutsch erschienene »Buddhistische Wörterbuch«. Sein Autor, der gebürtige Deutsche Nyanatiloka (1878–1957, eig. Anton Walter Florus Gueth), gehört zu den großen Gestalten des TheravadaBuddhismus – eine der drei großen buddhistischen Richtungen – in Sri Lanka und erhielt 1903 als einer der allerersten Europäer die Mönchsordination. Das Pali-Wort sati wurde von Nyanatiloka als »Achtsamkeit« übersetzt und terminologisch definiert als »Eingedenksein, Besinnung, Sich-ins-Gedächtnis-Zurückrufen, Erinnerung, Im-Gedächtnis-Bewahren, Gründlichkeit, Nichtvergesslichkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit als Fähigkeit, als Kraft, als rechte Besinnung« (Nyanatiloka, 1983, S. 203). Diese Definition bezieht sich auf den Pali-Kanon. Im Unterschied zu Aufmerksamkeit hat Achtsamkeit einen Referenzrahmen: Die negativen Tendenzen des Geistes sollen nicht gefördert und vielmehr die positiven Tendenzen gestützt werden. Mit Achtsamkeit ist buddhistisch gesehen ein Ensemble von starken Werten verbunden, man könnte auch sagen eine Haltung (vgl. Anãlayo, 2010).
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Zum Modewort wurde Achtsamkeit (»mindfulness«) vor allem durch den Mediziner Jon Kabat Zinn und die von ihm entwickelte Methode der »mindfullness based stress reduction (MBSR)«, also einer achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, die unter anderem auf Kabat Zinns Erfahrungen mit der Wirkung von Achtsamkeitspraxis (Vipassana und Zen-Praxis) basiert. Doch wird hier »Achtsamkeit« anders verwendet als bei Nyanatiloka und im Theravada-Buddhismus. Achtsamkeit ist nun »a process of regulating attention in order to bring a quality of nonelaborative awareness to current experience and a quality of relating to one’s experience within an orientation of curiosity, experiental openness and acceptance« (Bishop, 2004, S. 234). Achtsamkeit ist demnach gerichtete Aufmerksamkeit, die von elaborierten Denkprozessen Abstand nimmt und direkt auf die eigene persönliche Erfahrung – auf Körperempfindungen, Gefühle und damit verbundene Gedanken – fokussiert. Die dabei angestrebte Einstellung sollte wohlwollend und akzeptierend, unvoreingeommen und offen, weder urteilend noch wertend oder kategorisiend sein. Man sollte die Welt und sich selbst wie mit den Augen eines Kindes betrachten – mit »Anfängergeist«, wie es im Zen-Buddhismus heißt (soshin 初心), mit wachem, unvoreingenommenem »Herzen« (shin, 心). Ein Blick in die Lexika zeigt, dass das Wort »achtsam« im Deutschen bis ins 20. Jahrhundert selten und wenn dann eher in der negierten Form als »unachtsam«, das heißt als »nachlässig« oder auch »schlecht erzogen« verwendet wurde. Sein positives Gegenstück ist »aufmerksam« oder »sorgfältig«. So scheint das Konzept der Achtsamkeit auf den ersten Blick ein Asienimport zu sein (Ähnliches gilt für »mindful«). Doch lassen sich in der europäischen Vergangenheit verschiedentlich Spuren dieser Praxis finden. Da ist zunächst die christliche Praxis der meditatio und contemplatio. Beides sind bereits in der Frühzeit des Christentums bekannte Übungspraktiken, in denen Aufmerksamkeit bzw. Achtsamkeit eine zentrale Rolle spielt. Diese Praktiken wurden jedoch ab dem Beginn des 18. Jahrhunderts in den gesellschaftlichen und kirchlichen Untergrund gedrängt. Diesen Wandel kann man auch an der folgenden Wortgeschichte ablesen. Konsultiert man Johann Heinrich Zedlers »Speculum«, eine vielbändige Enzyklopädie des Wissens aus der ersten Hälfte des 18. Jahr-
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hunderts, findet man »Aufmerksamkeit« als »Aufmerckung« zur Übersetzung des Lateinischen »attentio«. Erstaunlicherweise wird im »Zedler« »Aufmerksamkeit« durch »Andacht« oder »etwas andächtig tun« bestimmt (Zedler, 1731–54, Band 2, Sp. 138). »Andacht« findet sich bereits im Mittelhochdeutschen und bedeutet »samlung der gedanken auf einen gegenstand, inniges andenken« (Grimm 1854–1961, Bd. 1, Sp. 303). Im »Zedler« ist »Andacht« definiert als die »Gemüthsbeschaffenheit beim Gebeth« und wird durch Aufmerksamkeit definiert: »Daß man alle Gedanken zusammennehmen und auf das Objectum unseres Gebeths, das ist Gott, richten muß, und dieses heist die Aufmerksamkeit« (Zedler, 1731–54, Band 2, Sp. 138). Unter dem Vorzeichen der Aufklärung änderte sich der Wortgebrauch. Bereits einige Jahrzehnte nach dem Erscheinen des »Zedler« zeigen die Wörterbücher einen »gemeinen Gebrauch« des Wortes »Andacht« als Aufmerksamkeit, den sie von dem »anständigeren« Gebrauch für »geistliche oder zum Gottesdienst gehörige Übungen« trennen; und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es das »Andächteln« – eine »überspannten Neigung zu Religion und religiösen Übungen«, berichtet der »Adelung« (1811, S. 275 f.). Das Wort »Andacht« hatte ein »Gerüchle« bekommen und wurde durch Aufmerksamkeit ersetzt; und mit dem Aufkommen der empirischen Psychologie wurde diese zu einem der intensiv untersuchten Felder der Bewusstseinspsychologie (Styles, 2006). In der europäischen Geistesgeschichte führt eine weitere Fährte zum »sensus communis« oder »Gemeinsinn«, der allen Menschen zukommt und den der »Ritter«, das historische Wörterbuch der Philosophie, »eine Quelle und ein Vermögen primärer Einsichten, welches ohne Hilfe expliziter Verstandesargumente und Vernunftschlüsse Wahrheit ermöglicht« nennt. Der sensus communis hat aber auch »eine gesellschaftlich ethische Funktion«; und im Übrigen gilt er als »allgemeines Wahrnehmungsvermögen« (Ritter, 1971–2007, Bd. 3, Sp. 243). Der »Gemeinsinn« bezieht sich auf das sinnenhafte und intellektuelle Gesamt des Erfassens einer Situation. Im 19. Jahrhundert wurden eine ganze Reihe weiterer Sinnesbereiche (Gleichgewichtssinn, Propriozeption = Eigenempfindung) entdeckt, und man sprach vom »Gemeingefühl« als Integrationsinstanz. »Das Gemeingefühl gibt uns den sinnlichen Eindruck, dass
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unser Körper unser Körper ist. Es schafft eine Selbstidentifikation mit mir selbst auf der Ebene gesamtkörperlicher Sinnesempfindungen wie zum Beispiel Schmerz, Hunger, Durst, Leichtigkeit, innere Wärme usw. Es handelt sich eben um meinen Schmerz und meinen Hunger« (Elberfeld, 2015, S. 205). Das »Gemeingefühl« verbindet zudem Sinneswahrnehmungen mit Gefühlen. Jedoch verschwand der Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Lexika. An seine Stelle scheint nun fast ein Jahrhundert später, unter Berufung auf Buddhismus und Neurowissenschaften, der Begriff »Achtsamkeit« zu treten – in aller begrifflichen Unschärfe. Willkürlich oder unwillkürlich fokussierte Aufmerksamkeit zielt auf ein Objekt ab bzw. auf die Ausführung einer Intention und sieht dabei von der Wahrnehmung des eigenen Lebensvollzugs in diesen Momenten ab. Achtsamkeit dagegen thematisiert genau diese Lebensprozesse, ohne dass der Handlungsvollzug bzw. das Objekt verloren gehen (Baatz, 2014). Achtsamkeit bezieht sich nicht auf einzelne Objekte der Wahrnehmung, sondern ist eine »Meta-Wahrnehmung« oder »meta-cognition« (Bishop et al., 2004). Achtsamkeit ermöglicht und bewirkt eine »Wahrnehmung zweiter Ordnung« und dadurch ein »reframing«. Statt sich vorrangig auf Objekte zu beziehen, bezieht sich achtsames Wahrnehmen auf den eigenen Körper, den eigenen Atem, auf das Wie des Objektbezugs und der Handlungsweisen, ohne den Eigen-Sinn des Außen, des Anderen zu übersehen. Achtsamkeit ist keine solipsistische Übung, sondern nur möglich als Bezogenheit (Praetorius et al., 2005). Achtsamkeit als Bezogenheit unterläuft die Trennung zwischen innen und außen, subjektiv und objektiv etc. Die Rahmenannahme der Alltagsepistemologie ist jedoch dualistisch und trennt Subjekt und Objekt, Mensch und Welt, Ich und Du usw. Wer Achtsamkeit praktiziert, dem kann allmählich das Beziehungsgeflecht, in dem sich das eigene Leben mit der Welt im Ganzen verknüpft, deutlich werden. Gelingt es, neben der Wahrnehmungen von Objekten auch den Prozess des Wahrnehmens zu erfahren, können eigene Lebensmuster und Vorstellungskomplexe ein Stück weit wie von außen gesehen und relativiert werden. Achtsamkeit kann helfen, sich schrittweise mit eigenen Routinen zu des-identifizieren und neue Einsichten und Spielräume zu gewinnen. Achtsam-
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keit kann die Entdeckung neuer Ressourcen oder auch die Neubewertungen altbekannter Situationen ermöglichen. Etwa wird durch Achtsamkeit chronischer Schmerz vermutlich nicht verschwinden, doch der Zwang, sich auf den Schmerz zu fixieren, kann sich auflösen, und das bringt neue Lebensqualität (vgl. dazu die Metastudie von Grossmann et al., 2004). Die Studien zur Wirksamkeit von Achtsamkeit suchen nach klinisch bedeutsamen Daten und beziehen sich auf MBSR und verwandte Methoden. Zu Praktiken aus der Tradition christlicher Spiritualität gibt es diesbezüglich keine empirischen Studien. Auch Fragestellungen zur europäischen Mentalitäts- und Philosophiegeschichte fehlen. Der Hinweis auf das »Gemeingefühl« und dessen intersubjektiven Charakter, den der Pädagoge August Fröbel (1782–1852) betont, entstammt einem Aufsatz aus dem Umkreis der interkulturellen Philosophie. So kann der Kognitionsforscher Daniel Siegel das »Gemeingefühl« im Sinne einer »interpersonalen Neurobiologie« ohne Bezug darauf als »mindsight« buchstabieren.
Achtsamkeit und Orientierung Für alle menschlichen Lebensäußerungen sind die Funktionen des Gehirns bzw. des Zentralnervensystems vorausgesetzt. Es gibt, so Siegel, eine Vielzahl »verkörperter Gehirne«, die miteinander kommunizieren. Die Beziehungen zwischen Menschen werden über den präfrontalen Cortex koordiniert und setzen eine interne Integration im Gehirn voraus, damit Interaktion gelingen kann. Umgekehrt ist die gelingende Interaktion die Voraussetzung für Integration des Gehirns; genauer gesagt für die Regulierung des Körpers über das Vegetative Nervensystem (Sympathicus-Parasympathicus). Körperliche Empfindungen, Sinneswahrnehmungen, Emotionen, das Zentralnervensystem stellen »Information« und »Energie« bereit. Ein aufeinander abgestimmtes Kommunikationsgeschehen setzt eine auf die eigene Innenwelt wie auf die des Anderen ausgerichtete Aufmerksamkeit voraus. Siegel nennt diese Fähigkeit der miteinander interagierenden Kommunikation »mindsight«, eine intuitive Verbindung zur Weisheit des Körpers (Siegel, 2012). Moralität, so Siegel, resultiert aus einer sicheren Bindung, die – aus neurophysiologischer
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Perspektive beschrieben – im Gehirn als einem Organ der elektrochemischen Energietransformation entsteht. Beziehung, vor allem gelingende Beziehung bedeute, via Spiegelneuronen die Intentionen des Anderen zu repräsentieren und vorhersagen zu können. Auf der Ebene des Gehirns kann dies anhand von bestimmten Energiemustern sichtbar gemacht werden. In der persönlichen Erfahrung entsteht, so Siegel, in solchen Situationen der gelingenden Beziehung der Eindruck der mentalen Kohärenz zwischen zwei oder mehreren Personen (Siegel, 2016). Siegel spricht von »Geist« und meint damit einen verkörperten Energiefluss, der nicht durch den Schädel und die Haut begrenzt ist. »Geist« ist demnach ein emergenter selbstorganisierender Prozess, der aus dem Energiefluss und der Information im Körper und in der Beziehung zwischen beiden entspringt. Achtsamkeit reguliert dabei den Informations- und Energiefluss. Achtsamkeit ist eine nichtbeurteilende Aktivität des Gehirns, so Siegel, die erlaubt, Veränderungen zu initiieren. Seiner Meinung nach geht es darum, Achtsamkeit durch Übung als Haltung zu festigen, und so ein großes Maß an Selbststeuerung zu ermöglichen. Die neuronalen Prozesse, die sich im Elektronenmikroskop sichtbar machen und modellhaft darstellen lassen (Siegel, 2016), sind das physiologische Fundament für alle mentale Tätigkeit. Siegel nennt seinen Ansatz »interpersonale Neurobiologie«. Wie sich jedoch neuronale Prozesse in symbolische Äußerungen, also innere Bilder, Begriffe, Symbole und sprachliche Zusammenhänge übersetzen, bleibt offen. Zwischen der neurophysiologischen Ebene und der symbolischen Dimension menschlichen Lebens und Verhaltens – wozu Spiritualität, Religion und Weltanschauung zählen – fehlt die Brücke. Doch kann das Projekt der interpersonalen Neurophysiologie Argumente dafür geben, wie aus interpersonellen Prozessen Orientierung entstehen kann. Dass Siegel frühen Bindungserfahrungen einen entscheidenden Stellenwert für die Entwicklung der Person einräumt, deckt sich mit vielen anderen Forschungen, unter anderem der Psychoanalyse. In frühen Bindungserfahrungen steckt das Potenzial späterer Orientierung, könnte man aus den Untersuchungen der argentinischen Psychoanalytikerin Ana Maria Rizzuto schließen. Sie führte in einer psychiatrischen Klinik Gespräche mit Patienten, um deren Gottes-
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bilder zu explorieren. Eines ihrer Ergebnisse war, dass Menschen aus frühen Bindungserfahrungen ihre persönlichen Vorstellungen von der »Welt im Ganzen« und dem eigenen Ort darin entwickeln. Ein kontinuierlicher Prozess des Sicherinnerns der Begegnungs- und Beziehungserfahrungen führt, so Rizzuto, zu einer Synthese des Selbst: »One of the processes of continous ego or self-synthesis is the summoning up of memories of encounters with objects, whether supportive and loving or disruptive and frightening. These processes serve the individual in the present, helping him to adapt and master his situation. The constant movement from present object and self-representation to past object and self-representation is one of the critical processes which […] make us, create a history of ourselves’ and contribute to our ›becoming a self‹« (Rizzuto, 1979, S. 57). Auch Rizzuto hält fest, dass dies keine bloß mentale Angelegenheit ist, sondern ein leiblicher Prozess, der Sinnliches, Motorisches und Körperlich-Emotionales umfasst. Dieser Prozess ist zudem weder objektiv noch subjektiv, sondern findet, so Rizzuto, in einem »Übergangsraum« statt (Winnicott, 1969). In diesem »transitional space« sind die Bezugspersonen psychoanalytrisch gesprochen ebenso »Objekte« wie der Teddybär, der dem Kind hilft, die Abwesenheit der Eltern zu ertragen. »It permits us to remember our objects where we felt them most, on our organs, skin, muscles, senses, metaphors or concepts. That is our side of the experience. The object side of the experience is our memories of their softness or sturdiness, their voices, sounds, words; their eyes and looks their hands their bodies, their gestures and postures, their appeal or repulsiveness, their orders, approval or criticism, their explicit and implicit messages, in short, all the modalities of obvious or unsconscious interaction with those who contributed to our development« (Rizzuto, 1979, S. 57). Der »Übergangsraum«, entstehend aus Innenwahrnehmung, Phantasien, Erfahrungen mit dem Außen, Wünschen etc., ist die Quelle von Weltanschauung, Religion und Spiritualität, aber auch von Wissenschaft, meint Rizzuto: »The type of illusion we select – science, religion or something else – reveals our personal history and the transitional space each of us has created between his objects and himself to find ›a resting place‹ to live in« (S. 209).
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Man kann daher mit Rizzuto den »transitional space« als Grundlage und Ausgangsort von Orientierungsprozessen durch Achtsamkeit sehen. Achtsamkeit bezieht sich auf Äußeres und Inneres gleichermaßen – auf eigene Wünsche und Vorstellungen genauso wie auf Körperempfindungen und Sinneswahrnehmungen, und Achtsamkeit ist weder objektiv noch subjektiv, sondern »dazwischen«. Man könnte in gewisser Weise sagen, dass der Raum der Achtsamkeit mit dem »transitional space« koextensiv ist. Achtsamkeit ermöglicht, das Ineinander und Spiel von Körperempfindungen, Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, Motivationen und Absichten Schritt für Schritt genauer wahrzunehmen. Schwache und starke Wertungen können im Prozess der Orientierung in Lebensfragen deutlicher unterschieden werden und zur Kultivierung bestimmter Haltungen und Handlungsweisen führen. Traditionell ist Selbstkultivierung in philosophischen, religiösen und spirituellen Kontexten an kulturelle Wertvorstellungen gebunden. In einer pluralen Gesellschaft wird es jedoch nötig sein, individuelle Praktiken und soziale und kulturelle Werthaltungen voneinander ein Stück weit zu entkoppeln und in einem transkulturellen Lernprozess offen zu gestalten (Elberfeld, 2013). Persönlich zu beantworten ist die Frage, was ein Mensch aus sich machen kann und soll und inwieweit jemand sich »von den Gegebenheiten einer Situation betreffen lässt und fähig ist, unter Einsatz seiner Person seinen moralischen Intuitionen zu folgen« (Böhme, 2004). Achtsamkeit als offenes Gewahrsein ist das Medium dieses Prozesses.
3 Die neue religiöse Unübersichtlichkeit
Noch Anfang der 1990er Jahre vermutete man, dass Fragen von Spiritualität, Religion und Weltanschauung höchstens einige AltHippies und konservative Gemüter interessieren. Religion, so die gängige Annahme damals, würde mit zunehmender gesellschaftlicher Aufklärung, zunehmendem wirtschaftlichen und naturwissenschaftlichen Fortschritt verschwinden. Dem ist aktuell keineswegs so. An die Stelle der Zugehörigkeit zu den beiden großen Konfessionen im deutschsprachigen Raum – Katholizismus und Protestantismus – ist vielmehr eine neue Unübersichtlichkeit in Sachen Religion getreten, die mehrere Wurzeln hat und sich nicht nur auf den deutschen Sprachraum erstreckt. Dabei lässt sich jedoch keine einheitliche Tendenz ausmachen, da die Entwicklung in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ist (Pollack, 2015). Ein Faktor dieser Entwicklung ist der Religionswandel in den Industriestaaten. Dass die Yoga- und Meditationszentren und auch die Esoterikläden seit den 1980er Jahren stetig zunahmen, wurde als zeitbedingte Marotte eingestuft. Heute ist ersichtlich, dass dieser Trend zur Spiritualität bereits ein deutliches Anzeichen eines Religionswandels war, dessen Ende und Ergebnis noch nicht absehbar ist. Ein weiterer Wandel betrifft die Mitgliedschaft bei den Großkirchen. Die sinkt seit Ende der 1960er Jahre stetig und liegt in manchen Gegenden, vor allem in Großstädten, bereits bei unter 50 Prozent. Doch besteht der Religionswandel nicht nur im Mitgliederschwund der Großkirchen, sondern in einem Strukturwandel von Religion, der nicht nur in Großstädten, sondern auch auf dem Land zu finden ist, und zwar sowohl außerhalb wie innerhalb der Großkirchen (Bochinger, Englbrecht u. Gebhardt, 2009). Die religiöse »Kultur des Gesangbuchs« – Gesangbücher charakterisierten durch Jahrhunderte die Konfessionszugehörigkeit – wird abgelöst von einer »Kultur der spirituellen Wanderer«, für die
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Kirchenzugehörigkeit nicht mehr entscheidend ist, wenngleich auch kein Hindernis (Bochinger et al., 2009). Es geht um spirituelle Antworten auf persönliche Fragen des Lebens und Sterbens, aber auch um neue spirituelle Rituale bei den großen Lebensereignissen wie Geburt, Hochzeit, Begräbnis. Wie als Gegenpol formieren sich Agnostiker und Atheisten und denken ihrerseits daran, für ihre Weltanschauung zum Beispiel in Deutschland und Österreich Kirchenstatus zu beanspruchen. Auch ist der Status der anerkannten Religionsgemeinschaft schon lange nicht mehr den christlichen Kirchen und dem Judentum vorbehalten. Zum Beispiel ist in Österreich der Islam seit 1912 eine gesetzlich anerkannte Religionsgemeinschaft und der Buddhismus seit 1983, Buddhisten sind auch in anderen europäischen Ländern staatlich anerkannt – etwa in Spanien oder in Polen. Ein weiterer Faktor für die neue Unübersichtlichkeit im Feld der Religionen sind die politischen Veränderungen seit 1989. Das Jahr war nicht nur politisch, sondern auch für die Ordnung der Weltanschauungen einschneidend. Der Eiserne Vorhang fiel, und mit dem sozialistischen Ostblock zerbrach auch ein weltanschauliches Großreich, das auf Atheismus als eine vom Staat geforderte Weltanschauung gesetzt hatte. In den folgenden Jahrzehnten erlebten die orthodoxen christlichen Nationalkirchen in den Staaten des ehemaligen Ostblocks eine enorme Renaissance, wobei die Kirche und die politische Führung neue Allianzen eingingen, am deutlichsten sichtbar in Russland, wo orthodoxe Kirche und russischer Staat eng kooperieren. 1989 war auch das Jahr, in dem das erste Mal der politische und weltanschauliche Streit ums Kopftuch ausbrach. Drei muslimische Mädchen im Pariser Vorort Creil weigerten sich, das Kopftuch abzulegen und wurden deswegen der Schule verwiesen. Der französische Laizismus, der Religion zur Privatsache macht, ist seit 1905 in der gesetzlichen Trennung von Staat und Kirche festgehalten. Allerdings wurden religiöse Symbole im öffentlichen Raum erst 2004 in Frankreich verboten, zum Beispiel das Tragen von Schleier, Kippa, Kreuz etc. in Schulen. Auf den Kontext dieser Entwicklung machen Politik- und Religionswissenschaftler aufmerksam: in Frankreich wurde in den 1980er Jahren die Debatte um die Frage der Migration und
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Integration aus einer sozialpolitischen in eine religionspolitische Frage umdeklariert (Fürlinger, 2013). Vor allem Arbeitsmigration hat viele Menschen aus der Türkei und dem Maghreb seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Mitteleuropa gebracht. Diese sogenannten Gastarbeiter wurden zunächst in Europa als Angehörige anderer Staaten oder Ethnien wahrgenommen, doch ab den 1990er Jahren vor allem als Muslime. Einen enormen Einfluss auf die Wahrnehmung von Religionen im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert hat bis heute Samuel Huntingtons Buch »Kampf der Kulturen« (1996), dessen Gedanken er bereits 1993 in einem Artikel formulierte (Huntington, 1993). Das Buch trug wesentlich zur US-amerikanischen Außenpolitik der Ära Bush I und II bei, als nach dem Zerfall der Sowjetunion die Agenda der amerikanischen Außenpolitik neu definiert wurde. Zeitgleich wurde in der amerikanischen Innenpolitik Religion ein Thema und ein »muskulöses Christentum« politisch relevant, also eine stark maskuline, betont patriotische und tendenziell fundamentalistische Haltung. 1996 erschienen, zeichnete Huntingtons Buch geopolitische Interessenssphären der USA anhand der geographischen Ausbreitung von Religionen und definierte in erster Linie den Islam, in zweiter Linie den Konfuzianismus als neue geopolitische Gegner der USA. Nach dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001, dem Einmarsch der USA in Afghanistan und in den Irak und durch den sogenannten Krieg gegen den Terrorismus begann sich die religiöse Landkarte enorm zu verändern. Durch den Einfluss Saudi-Arabiens, ein Verbündeter der USA, wurde ein international aktiver islamistischer Fundamentalismus gefördert. Zugleich aber entstand auch ein innerislamischer Kulturkampf, in dem sunnitische Extremisten Attentate auf schiitische Heiligtümer und Institutionen verüben, aber auch auf Moscheen und Zentren der sunnitischen Volksreligion. In den meisten Ländern mit islamischer Bevölkerung ist die Volksreligion durch den mystischen Islam der Sufis geprägt. Die islamische Mystik des Sufismus hat sowohl in Afrika als auch in Süd- und Südostasien bis in die Gegenwart das Selbst- und Weltverständnis der Musliminnen und Muslime bestimmt. Als Volks-
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religion ist der Sufismus wenig dogmatisch und legalistisch, jedoch an Heilung und Spiritualität orientiert. Dass Religionen evolutionäre Auslaufmodelle sind, scheint ein Irrtum zu sein. Zurzeit stehen sie wieder auf der Agenda der Politiker. Über Weltanschauungen wird privat und öffentlich diskutiert, Spiritualitäten versprechen Interessierten ein gutes Leben. Die Landschaften von Spiritualitäten, Religionen und Weltanschauungen sind jedoch so unübersichtlich wie verwirrend. Die Bruchlinien sind vielfältig und verlaufen zwischen Säkularismus und Tradition, Wertkonservativismus und militantem Fundamentalismus, Aufklärung und Mystik, zwischen Machtpolitik und sozialem Engagement, ökonomischen Problemen und Nationalismus, Materialismus und Spiritualismus, Neurowissenschaften und Manipulation etc. Religiöse Zugehörigkeiten sind schon lange nicht mehr aus der geografischen Herkunft des Einzelnen abzuleiten. Buddhisten leben heute in Thailand, aber auch in Brasilien genauso wie in Norwegen oder Uganda. Muslime gibt es in den globalen Megacities, aber auch jenseits des Polarkreises, afrikanische christliche Kirchen finden Anhänger in Großstädten des Nordens, westliche Anhänger des Hindu-Gottes Krishna führen eines der größten Hindu-Klöster nördlich von London, in das anlässlich der großen Feste tausende in England lebende Inder zur Verehrung ihres Gottes kommen etc. Um das Jahr 2000 wurden weltweit etwa zehntausend Religions gemeinschaften identifiziert, und vor allem außerhalb Europas gibt es eine enorme Fluktuation von Neugründungen (Lester, 2002).
Unter dem Vorzeichen der Säkularisierung Dass Fundamentalismen, traditionelle Religionen und neue spirituelle Bewegungen in all ihren verschiedenen Formen und neue religiöse Bewegungen von einander Kenntnis haben und einander gelegentlich auch beeinflussen, ist unter anderem eine Folge der Globalisierung. Das große Vorzeichen dieser vielfältigen Verwerfungen aber heißt Säkularisierung – ein schillernder Begriff, unter dem Verschiedenstes verstanden wird. Ursprünglich bezeichnete das Wort die Enteignung und Übernahme klösterlicher Güter durch weltliche Fürsten während der Reformationszeit. Inzwischen meint
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man damit unter anderem auch einen Rückgang des Staatskirchentums. Als Staatskirche bezeichnet man eine vom Staat mit »besonderen Vorrechten ausgestattete und ihm zugeordnete Kirchengemeinschaft, die allein zugelassen ist« (dtv-Lexikon, 1990, S. 201). Oft wird angenommen, Säkularisierung würde den »linearen Rückgang des Glaubens und der religiösen Praxis« bedeuten (Taylor, 2012, S. 887). Doch hängt diese Diagnose, die sich auf Statistiken berufen kann (Polak, 2002; Pollack u. Rosta, 2015), wesentlich davon ab, welche Definitionen von Glauben und religiöser Praxis verwendet werden, und daher auch, wie »säkular« bestimmt wird. Wie immer auch Säkularisierung interpretiert wird, eines geht aus allen Untersuchungen klar hervor: »[D]ass der Status der Unangreifbarkeit, den der Glauben in früheren Jahrhunderten genoss, verloren gegangen ist. Darin liegt das Hauptphänomen der Säkularisierung« (Taylor, 2012, S. 887). Eine der wesentlichsten Funktionen von Säkularität ist daher, der Diskussion über und mit unterschiedlichsten Spritualitäten, Religionen und Weltanschauungen Raum zu geben. Dieser Raum ist intellektuell wie physisch zu verstehen. In den Gesellschaften des nordatlantischen Raumes, also den industriellen und post-industriellen Gesellschaften ist sowohl der physische wie der intellektuelle Raum der Säkularität weitgehend offen. Doch auch in Saudi-Arabien oder im Iran, aber auch in der Volksrepublik China diskutieren Intellektuelle – wenngleich unter schwierigen und gefährlichen Verhältnissen – das Thema Religion. Die physische Gefährdung durch repressive Staatsorgane unterdrückt in diesen Staaten intellektuelle säkulare Bestrebungen, die deshalb oft im Privaten oder auch im Geheimen bleiben müssen. Ähnliche spirituelle Bedürfnisse entwickeln bei aller Unterschiedlichkeit die Mittelschichten in den globalen Großstädten, die in Bildung und Status einander ähnlich sind. Zum Beispiel gibt es Yoga-Studios in Teheran genauso wie in Rio de Janeiro, Berlin oder Moskau (Hauser, 2013). Die Religionsdynamik in postkommunistischen, postkolonialen oder staatskommunistischen Gesellschaften hat unterschiedliche Spezifika, aber überall werden Weltanschauungen oder Religionen nicht mehr einfach alltäglich und unhinterfragt als Wirklichkeit hingenommen, gerade auch dort, wo religiöser Zwang herrscht.
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Religion ist kein Schicksal mehr In Europa war die religiöse Zugehörigkeit durch Jahrhunderte staatlich verordnet. Und noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts beruhte sie in ländlichen Regionen und auch in der Stadt explizit oder implizit auf sozialem Zwang. Doch heute sind in Europa und im nordatlantischen Raum Religion und Weltanschauung eine Sache der Wahl. Selbst Menschen, die in ultraorthodoxen, sozialen Zwängen unterworfenen engmaschigen Gemeinschaften aufgewachsen sind, können diese Situation verlassen. Dass dies nicht von heute auf morgen geht, berichtet die Schriftstellerin Deborah Feldman in ihrer autobiographisch gefärbten Erzählung »Unorthodox« (2012). Der Imperativ, die Sinndeutung des eigenen Lebens wählen zu müssen, ist zwingend – man kann nicht nicht wählen. Der Religionssoziologe Peter L. Berger spricht von einem »häretischen Imperativ«: griechisch »haíresis« bedeutet Wahl (Berger, 1980). Der häretische Imperativ gilt für Anhänger traditioneller Religionen und Kirchen genauso wie für Anhänger neuer religiöser Bewegungen oder Mitglieder spiritueller Gruppen, aber auch für Atheisten, und sogar Indifferenz ist eine weltanschauliche Option. Die Wahl bleibt niemandem erspart. Selbst das Festhalten an orthodoxen Positionen oder die Hinwendung zu Fundamentalismen, die den Anspruch stellen, die einzig wahre Auslegung oder Religion zu sein, ist ein Akt der Wahl. Die Notwendigkeit zu wählen betrifft existenzielle Fragen, die auf die persönliche Geschichte und den persönlichen Lebensvollzug Einfluss haben: Gibt es Gott? Ein Leben nach dem Tod? Soll man anderen helfen? etc. Die Relevanz der gewählten Antworten geht über die Fragen persönlicher Existenz hinaus. Menschen sind vergesellschaftete Lebewesen, sie leben immer in Beziehungen, und daher sind existenzielle Haltungen und Entscheidungen erstens nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie getroffen werden und zweitens beeinflussen persönliche weltanschauliche Entscheidungen die Gesellschaft, was zum Beispiel deutlich wird, wenn sich ein junger Mann einer militanten Fundamentalistengruppe anschließt; aber genauso dann, wenn jemand beschließt,
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sich aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen beim Roten Kreuz zu engagieren. Weltanschauliche Entscheidungen betreffen die Werte, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft stärken oder stören können. Dies gilt nicht nur auf lokaler, sondern auch auf globaler Ebene. So hat beispielsweise der Handelsboykott gegen Südafrika, den der anglikanische Geistliche Trevor Huddleston (1913–1998) 1959 aus moralischen Gründen initiierte, wesentlich zur Schwächung des Apartheid-Regimes in Südafrika beigetragen. Das macht deutlich, wie sich mit den Fragen nach Spiritualität, Religion und Weltanschauung ethische und politische Fragen verbinden, die sowohl lokal als auch global von Bedeutung sind. Obwohl Religion meistens »substantialistisch« interpretiert wird – d. h. eine Religion wird als eine inhaltlich bestimmte, mehr oder minder klar umrissene Entität wahrgenommen – definiert die Mehrzahl der Religionswissenschaftler Religion funktional und fragt nach der Funktion, die eine bestimmte Religion oder Religionen im Allgemeinen für eine Gesellschaft und für Individuen haben. Religion ist – anders als oft behauptet – also nicht Privatsache, sondern hat Relevanz für die Öffentlichkeit, weil Spiritualitäten, Religionen und Weltanschauungen Lebensmodelle vorgeben, die in Gesellschaften funktional zu sehen sind. Daher plädierte Jürgen Habermas, bis dahin dem Thema Religion abgeneigt, in seiner Rede anlässlich der Verleihung des »Friedenspreises des deutschen Buchhandels« 2001 dafür, sich mit Vertretern religiöser Weltanschauungen aufs Gespräch einzulassen. Der Ausschluss von Religion aus dem öffentlichen Diskurs widerspreche den Grundsätzen einer pluralen Gesellschaft, betonte er. Statt Religion als Relikt einer vergangenen Gesellschaftsordnung zu sehen, das in einer säkularen Gesellschaft keinen Platz mehr habe, soll die Demokratie den eigenen Anspruch, eine plurale Gesellschaft zu sein, ernst nehmen und auch Religionen – sofern sie ihren Anspruch nicht mit Gewalt durchsetzen – als Teil der Gesellschaft betrachten. Die europäische Geistes- und Kulturgeschichte komme ohne Bezug auf die Religionsgeschichte nicht aus. Religionen würden »semantische Inhalte« bewahren und vermitteln, für die es keine säkularen Äquivalente gebe. Religionen würden, so Habermas’ These, als eine
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Art Depot fungieren für das Fehlende in einer von technisch-naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Perspektiven dominierten Gesellschaft und hielten mit ihrer Sprache »das Bewusstsein für das was fehlt« (so der Titel eines 2008 erschienenen Aufsatzes) wach. Religion, so Habermas, sei eine wichtige moralische und sinnstiftende Ressource für gesellschaftlich wichtige Debatten. Habermas bezieht sich dabei auf die Fragen der Verfügung über Lebendiges in Medizin und Biotechnologie. Doch müssten die Begriffe und Sprachspiele der Religionen so übersetzt werden, dass sie in einer säkularen Gesellschaft verständlich seien, forderte er (Habermas, 2009a). In einer demokratisch verfassten pluralen Gesellschaft sind religiöse Positionen mit umfassendem und ausschließlichem Anspruch auf Geltung und Verbindlichkeit nicht akzeptabel, weil sie die Grundlagen des pluralen Miteinanders zerstören. Eine demokratische Gesellschaft ist daher notwendigerweise säkular, und zwar nicht aufgrund von Argumenten gegen die Gültigkeit von Religionen, sondern aus dem Anspruch einer ausgleichenden Gerechtigkeit. Das verlangt nicht Ablehnung von Religion, sondern Äquidistanz, schreibt Charles Taylor: »Die Gerechtigkeit verlangt, dass eine moderne Demokratie zu verschiedenen Glaubenspositionen den gleichen Abstand hält […]. Unsere Kohäsion beruht auf einer politischen Ethik, auf der Demokratie und auf Menschenrechten, die sich im Wesentlichen auf die moderne moralische Ordnung stützen, die aus jeweils unterschiedlichen Gründen von verschiedenen religiösen und areligiösen Gemeinschaften anerkannt wird« (Taylor, 2012, S. 896). Die Vorstellungen von Gerechtigkeit und noch mehr ihre Begründungen divergieren zwar zwischen Nichtreligiösen und Religiösen, doch gibt es trotzdem ein gemeinsames Interesse, nämlich an einem guten Leben miteinander. Dafür braucht es einen Konsens über Gerechtigkeit. Dass dies kein einstimmiger Konsens sein kann, sondern ein vielstimmiger sein muss, ist naheliegend. Der Ethiker John Rawls (1921–2002) spricht in seiner »A Theory of Justice« von einem »overlapping consensus«, der erreicht werden könne, wenn trotz beachtlicher Differenzen in den Gerechtigkeitsvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger aus diesen verschiedenen Konzepten ähnliche politische Urteile erwachsen (Rawls, 1975).
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Die neue religiöse Unübersichtlichkeit
Für Therapie und Beratung bedeutet dies, dass trotz einer Pluralität von Weltanschauungen, Religionen und Spiritualitäten von dem Grundkonsens ausgegangen werden kann, dass es allen um das Wohl der Menschen geht. Die Vorstellungen davon, was dies bedeutet, sind jedoch sehr unterschiedlich.
Konfliktfall symbolische Macht Zu den Charakteristika systemischer Betrachtungsweisen gehört das Einbeziehen des Kontextes. Die Bewegung weg von »Religion« und Großkirchen hin zu »Spiritualität« ist für viele eine lebensrelevante Entscheidung. Spiritualität wird zumeist als etwas sehr Persönliches und Privates wahrgenommen. Doch ist der Kontext des Privaten auch öffentlich – dafür sorgen zum Beispiel die ökonomischen Interessen, die sich mit Spiritualität verbinden. Die Nischenmärkte rund um Spiritualität sind umsatzstark, dies zeigen etwa Esoterikläden und Geschäfte für Yogamatten und -bekleidung. Die Trennung zwischen »öffentlich« und »privat« ist nicht eindeutig, weil die Bedeutung der beiden Begriffe je nach Kontexten unterschiedlich ist: »Die Dichotomie öffentlich/privat bezeichnet keine besonderen festen Sphären, sondern einen Aspekt gesellschaftlicher Praxis, eine symbolische Ordnung, die den bürgerlichen Staat zum Grundstein und Bezugspunkt hat. Was öffentlich und privat ist, ist nichts Unveränderliches, sondern Gegenstand von Auseinandersetzungen, Ausdruck von Machtverhältnissen, von Hegemonie […]. Die Verwendungsweisen von ›öffentlich‹ (und des entsprechenden Gegensatzes ›privat‹) sind also vielfältig: staatsbezogen; für alle zugänglich; alle betreffend; das Gemeinwohl betreffend; für alle sichtbar etc.« (Weber, 2001, S. 25).
So haben Religion, Spiritualität und Weltanschauung Bezug zu Staats- und Gemeinwohl. Fragen von Spiritualität, Religion und Weltanschauung bewegen sich vielfach im Grenzbereich zwischen Öffentlichem und Privatem, und auch wenn dies nicht immer von unmittelbarer Relevanz ist, kann eine systemische Betrachtung nicht darauf verzichten, dies zu beachten. Denn die individuelle Haltung –
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ob es sich um Spiritualität, Religion oder Weltanschauung handelt, macht in diesem Fall keinen Unterschied – ist nicht verstehbar ohne Kontext, »ohne Bezug auf eine bestimmte historische und institutionalisierte Wirklichkeit mit ihren jeweils spezifischen Ritualen und Glaubensüberzeugungen« (Luckmann, 1991, S. 58). Bei den großen religiösen Traditionen – den sogenannten Schriftreligionen – ist dies leicht nachvollziehbar. Doch auch neuere Gruppierungen – seien es Druiden oder »Trekkies«, also Anhänger der »Star-Trek«-Religion – berufen sich auf kollektiv relevante Geschichten. Der Kontext ist auch für die Rolle der Beratenden und Therapeuten und ihre Position im Gesamtsystem der Gesellschaft zu berücksichtigen. Der Religionswandel betrifft nämlich nicht nur Inhalte und Selbstverständnis, sondern auch das religiöse Personal. Die klassischen religiösen Rollen wie Priester oder Pfarrer – oft, aber nicht immer von Männern besetzte Rollen – haben in der veränderten Gesellschaft und in den sich gewandelten religiösen Bedürfnissen und Orientierungen an Bedeutung und Einfluss verloren. Dafür übernehmen Beraterinnen und Berater, Therapeuten und Therapeutinnen Orientierungs- und heilende Funktionen, die früher von kirchlichem Personal ausgefüllt wurden. Doch gibt es auch neues Personal: Schamanen und Yogalehrerinnen, Astrologinnen und buddhistische Mönche besetzen beratende und heilende Positionen. Diese Vertreter neuer Gruppen mögen aus unterschiedlichsten Gründen umstritten sein, doch aus einer systemischen Position gesehen sind auch sie Teil des Feldes von Spiritualität, Religion und Weltanschauung, ebenso wie jene, die für atheistische Positionen argumentieren oder atheistische Sonntagsfeiern initiieren. Das traditionelle »religiöse Feld« hat sich aufgelöst, dies stellte Pierre Bourdieu bereits Anfang der 1990er Jahre fest (Bourdieu, 1992). Mit den Großkirchen wetteiferten neue Religionsgemeinschaften, aber auch das ganze Feld psychosozialer Berufe um Klienten. Bourdieu konstatierte, dass die Rollen des kirchlichen Personals nun von anderen übernommen werden, von Mitgliedern neuer Religionsgemeinschaften ebenso wie von »Psychoanalytikern, Psychologen, Medizinern, Sexologen, […] Sozialarbeitern. Alle sind Teil eines neuen Feldes von Auseinandersetzungen um die symbolische Manipulation des Verhaltens im Privatleben und die Orientierung
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der Weltsicht, und alle setzen sie in ihrer Praktik konkurrierende, antagonistische Definitionen der Gesundheit, der Heilung, der Kur von Leib und Seele um« (Bourdieu, 1992, S. 233). In den Auseinandersetzungen innerhalb dieses Feldes geht es nicht nur um physische oder psychische Gesundheit und Krankheit. Bourdieu betonte, dass diese neuen Gruppen sich in einer Auseinandersetzung um »symbolische Manipulationen« am privaten Verhalten und der Orientierung der Gesellschaft befinden. Manipulation bedeutet Einflussnahme, und diese kann explizit oder implizit, offen oder verdeckt erfolgen. Wer Einfluss nimmt auf das Verhalten, die Orientierung und das Wohlbefinden Einzelner oder ganzer Gruppen in einer Gesellschaft, hat – symbolische – Macht. So ist es kein Wunder, dass es im Spannungsfeld von Spiritualität, Religion, Weltanschauung einerseits und Psychotherapien bzw. beratenden Berufen andererseits zu Konflikten kommt. Kritisch wird die Situation, wenn es zu Rollenüberlagerungen kommt. Wenn die Psychotherapeutin als Schamanin agiert oder der Psychotherapeut als Guru, ist das für Klientinnen und Klienten nicht immer hilfreich. In Österreich zum Beispiel konstatieren die Beschwerde- und Ethikstellen des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP) seit einigen Jahren zunehmend Anfragen von Menschen, die sich von ihren Therapeuten »einem direkten, öfter aber auch subtilen Druck ausgesetzt fühlen, spirituellen oder esoterischen Glaubensinhalten zu folgen oder an solchen Ritualen in Zusammenhang mit einer Psychotherapie teilzunehmen, auch wenn sie dies innerlich nicht gutheißen«, wie es auf der Website des ÖBVP heißt. Eine Richtlinie des Österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit von 2014 stellt fest: »Von der Psychotherapie zu unterscheiden und strikt zu trennen sind alle Arten von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden, wie zum Beispiel Humanenergetik, Geistheilung, Schamanismus und viele andere«, Psychotherapie sei »wissenschaftlich fundierte Krankenbehandlung« (Bundesministerium für Gesundheit, 2014, S. 2). Daher dürften Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ihre Berufsbezeichnung »nicht im Rahmen von […] esoterischen Methoden oder religiösen Heilslehren verwenden« (S. 2). Die Frontstellung in dieser Richtlinie ist klar: »wissenschaftlich fundiert« gegen »esoterische Methoden« oder »religiöse Heilslehren«.
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Doch so einfach sind die Verhältnisse nicht. Gerade in den letzten Jahren sind selbst in Therapieformen, die sich als säkular und religionskritisch verstehen, Elemente aus spirituellen Traditionen eingefügt worden (Bucher, 2014, S. 187–189). Das betrifft vor allem Achtsamkeitspraktiken, die sich aus dem Buddhismus ableiten und in den letzten Jahren häufiger in psychotherapeutischen Kontexten eingesetzt werden. Die Kontroverse, was daran buddhistisch oder religiös ist, ist noch nicht beendet. Auch auf die Frage der wissenschaftlichen Fundierung von Psychotherapie gibt es keine abschließende Antwort. Das Verhältnis von Psychotherapie und Spiritualität bzw. Religion kann daher nicht durch einen Verweis auf die Wissenschaftlichkeit von Psychotherapie bestimmt werden. Zudem interessieren sich nicht nur Beratende oder Therapeuten für Spiritualität und Religion, sondern auch und gerade die Klienten sind Suchende in diesen Bereichen. Auch ist mittlerweile gut belegt, dass Religion und Spiritualität Ressourcen sein können – was jedoch von Klient und Therapeut oder Beraterin und ihrem Verhältnis zueinander abhängt (Bucher, 2014, S. 115–169). Doch Religion und Spiritualität sind kein Themen des öffentlichen Diskurses, und daher fehlt in der Bevölkerung genauso wie unter Fachleuten die Kenntnis und die angemessene Reflexion. Ein differenzierter Diskurs über Religion findet bisher meist nur im kirchlichen Kontext statt. Auch aus der Psychotherapie wurden religiöse und spirituelle Themen bisher weitgehend ausgegrenzt. Etwa schreibt Tilmann Moser, dass in Lehranalysen das Thema Religion zumeist ein blinder Fleck sei – dies gelte im Übrigen auch für NSZeit (zit. n. Utsch, 2005, S. 268). Über Religion, Spiritualität und Weltanschauung zu sprechen, erfordert Umsicht. Denn auf die Gegenstände, von denen und über die in diesen Diskursen gesprochen wird, lässt sich nicht zeigen. Sie sind Konstrukte, die »symbolischen Sinnwelten« (Luckmann, 1991) angehören. Doch besagt dies nichts über ihre Wirklichkeit im Sinne von Wirksamkeit: eine der wichtigen Einsichten systemischer Ansätze in Therapie und Beratung ist, dass das, was als »wirklich« gilt, konstruiert ist – aber nichts desto trotz wirksam ist. Wenn Überlegungen zu Weltanschauung, Religion und Spiritualität hilfreich sein sollen, müssen sie den Rahmen, die Perspektive
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und den Standpunkt, von dem aus sie sprechen, deutlich machen. Das gilt auch für die Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Berater. Systemische Ansätze in Beratung und Therapie verstehen sich als weltanschauungsneutral, weil sie auf den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit fokussieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass systemische Berater und Therapeutinnen selbst weltanschauungsneutral agieren, genauer gesagt, agieren können. Transparenz in Sachen eigenem Standort ist genauso nötig wie die Fähigkeit zum Dialog und wertschätzendes Eingehen auf eine andere Perspektive. Dabei sollten Beraterinnen und Therapeuten sich stets der symbolischen Macht bewusst sein, die sie aus ihrer Rolle beziehen.
4 Bruchlinien, inter- und intrakulturell
Vor einiger Zeit wurde ich von einer sozial engagierten, kritischen und der Aufklärung verpflichteten Gruppe eingeladen, einen Vortrag über kulturelle Tabus zu halten. Damit war, wie im Vorgespräch formuliert, vor allem die sogenannte Kopftuchfrage, aber auch andere Tabus wie Nahrungstabus gemeint. Ausdrücklich war von »kulturellen Tabus« die Rede, obwohl die meisten der Tabus, über die ich sprechen sollte, religiös motiviert sind. Allerdings sind die Grenzen zwischen Kultur und Religion schwerlich exakt zu ziehen und die Vieldeutigkeit und Ambivalenz der europäischen Begriffe »Kultur« und »Religion« beachtlich. Durch Zufall waren bei dem Vortrag einige Muslimas mit Kopftuch anwesend. Die nachfolgende Diskussion verlief sehr höflich und indirekt, obwohl offensichtlich war, dass die allermeisten Mitglieder der Gruppe, die eingeladen hatte, das Kopftuch der Muslimas als eine rückständige und fundamentalistische Angelegenheit sahen. Eine der Frauen, eine Medizinstudentin, klagte, dass man ihr, da durch ihr Kopftuch als gläubige Muslima markiert, sofort die Wissenschaftlichkeit abspreche. Nachher kommentierte dies mit deutlicher Empörung in der leisen Stimme eine aus der Gruppe der Engagierten: Die junge Frau mit Kopftuch und einem leichten Akzent in ihrem Deutsch sei wohl gegen Wissenschaft. Es war genau das Vorurteil, von dem die junge Frau – in der Hoffnung auf Verständnis – erzählt hatte: Die Einladende hatte nicht zugehört. Religion ist öffentlich präsent, doch gibt es wenig Wahrnehmung der Innenperspektive: Was bewegt Menschen, nach dieser oder jener Weltanschauung zu leben? Was ist daran Kultur, was Religion, was Nationalismus, was Fundamentalismus, was Spiritualität; was ist persönlich, was sozial oder politisch zu verorten? Welchen Einfluss haben Weltbilder, Religionen, Spiritualitäten auf das Leben? Wie mit Krisen, aber auch Entwicklungsperspektiven umgehen, die
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Bruchlinien, inter- und intrakulturell
sich aus weltanschaulichen, religiösen, spirituellen Bezügen ergeben? Saied Pirmoradi, systemischer Therapeut iranischer Herkunft konstatiert, dass diesen Themen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In klinischen Konzeptionen und psychotherapeutischer Praxis werden Fragen von Weltanschauung, Religion und Spiritualität kaum zum Thema gemacht und auch das »Zusammenspiel von religiös-spirituellen Einstellungen und familialem Leben zählt zu den generell vernachlässigten Themenbereichen der Familienforschung und -beratung« (Pirmoradi, 2012, S. 198). Dabei sind diese Themen nicht nur in der interkulturellen Familientherapie und -beratung relevant, sondern in vielen Bereichen der Gesellschaft gibt es Bruchlinien – in diesem Fall intrakulturell – entlang von Fragen von Religion und Weltanschauung.
Interkulturelle Bruchlinien Die real existierende religiöse und weltanschauliche Pluralität und Diversität in Europa scheint immer noch viele zu überraschen, obwohl es in den europäischen Großstädten schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr nur die bekannte Handvoll alteingesessener Religionen gibt. In Frankfurt am Main lebten zum Beispiel im Jahr 1999 Menschen aus 184 Nationen, die 108 verschiedene religiöse Gemeinden besuchten; diese Gemeinden gehörten zu 18 verschiedenen religiösen Gemeinschaften (Wolf-Almanasreh, 2000, S. 188). Das heißt nicht nur, dass es verschiedenste Glaubensvorstellungen gibt; es gibt etwa auch unterschiedliche Kalender und Zeitorientierungen, die für Menschen relevant sind: den koptischen, iranischen oder bengalischen Sonnenkalender, den chinesischen, jüdischen oder tibetischen Mondkalender; Hindus folgen einem Solar-Lunar-System; Muslime zählen die Jahre nach der Hedschra; westliche Christen folgen dem Gregorianischen und orthodoxe Christen meist dem Julianischen Kalender etc. (Wolf-Almanasreh, 2000, S. 188–190). Die unterschiedlichen Kalenderordnungen werden vor der dominierenden Zeitordnung der Banken und den staatlich anerkannten Feiertagen obsolet, und meist haben nur die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft an ihren Feiertagen frei.
Intrakulturelle Bruchlinien57
Die verschiedenen Zeitrechnungen – Religion oder Kultur? – ist nur ein Beispiel für die neue Diversität in Europa. Religion verbindet sich auch mit anderen Dimensionen der Identität: mit Sprache, Volk, Nation. Serbische Christen gehen in die serbisch-orthodoxe Kirche, rumänische Christen in die rumänisch-orthodoxe, lateinamerikanische Katholiken und Evangelikale haben ihre eigenen Gemeinden, türkische Muslime besuchen die türkischsprachige Moschee und Muslime aus Bangladesh eine Moschee, in der Bengalisch gesprochen wird etc. Die religiösen Vielfalt entspricht einer wachsenden Multikulturalität, die in den letzten Jahrzehnten zwar als politisches Projekt gelobt wurde, der aber wenig realer gesellschaftlicher interkultureller Kommunikation entspricht. Interkulturelle Kommunikation wird vorwiegend im Kontext der Wirtschaft untersucht und geübt (Bolten u. Ehrhardt, 2003), und es scheint, als ob Religion nur bei Konflikten ums Kopftuch oder einen Moscheebau sichtbar wird. Doch auch in Nachbarschafts- und Familienstreitigkeiten, bei Problemen in der Schule oder am Arbeitsplatz spielen divergierende weltanschauliche Annahmen der Konfliktpartner eine Rolle – etwa wenn es um das Gefühl von Sicherheit oder Handlungsfreiheit geht, um Identität und Zugehörigkeit oder um ein Sich-Wohlfühlen in der eigenen Haut. Starke Wertungen geben hier oft vermeintlichen Kleinigkeiten Gewicht. Bei einer Frage wie: gibt ein Mann einer Frau die Hand? geht es unter anderem um Männerund Frauenbilder, um ausgesprochene und unausgesprochene Tabus, aber auch um metaphysische Annahmen über das Leben. Es ist ein interkultureller Konflikt, in dem es zudem nicht nur um Religion oder Weltanschauung geht, sondern auch um Machtasymmetrien und verdeckte Rassismen (Weiß, 2001).
Intrakulturelle Bruchlinien Religiöse und weltanschauliche Diversität entsteht in Europa auch durch Übertritte in andere Glaubensgemeinschaften. Konversionen zum Islam, zum Judentum oder zu indischen Religionen wie zum Beispiel der Hare-Krishna-Bewegung, häufiger noch zu einer der vielen verschiedenen buddhistischen Schulen, die sich in Europa etabliert haben, sind nicht ungewöhnlich, ebenso Engagement
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für eine atheistische und naturalistische Weltanschauung.5 Deren »Gegenstück« sind jene, die postmaterialistischen Weltanschauungen vertreten, zu denen auch holistische und esoterische Weltanschauungen zählen. Eine holistische Weltanschauung leitet alle Erscheinungen des Lebens aus einem ganzheitlichen Prinzip ab. Die Großkirchen unterhalten eigene Referate für Weltanschauungsfragen; ebenso gibt es beispielsweise in Österreich staatliche Stellen, die über weltanschauliche Gruppen Auskunft geben, speziell wenn es sich um Gruppen mit autoritärer Struktur handelt. Kritische Publikationen warnen vor Esoterik und Okkultismus als Brutstätte für nationalsozialistische Tendenzen (Goodrick-Clarke, 2009; Guggenberger, 2001) oder vor einer um sich greifenden Unvernunft (Doering-Manteuffel, 2009). Ob jemand sich vegetarisch oder vegan ernährt, wird nur selten medizinisch begründet, sondern ist meist eine Sache der Weltanschauung, Religion oder Spiritualität. Eine neue Diversität gibt es zum Beispiel in Fragen von Sterben und Tod und was dies fürs Leben bedeutet. Die Verbreitung neuer Begräbnisrituale – etwa Naturbestattungen – zeigt, dass sich hier Weltbilder ändern. Ein eigener Debattenstrang dreht sich um Fragen der Alternativ- und Komplementärmedizin. Die Liste ließe sich ergänzen. Trotz intrakulturell unterschiedlicher Weltbilder gibt es jedoch intrakulturell ähnliche Alltagserwartungen. Etwa erwartet man, dass Ämter Anliegen der Bürger ohne Bestechung erledigen, dass man einander bei der Begrüßung die Hand gibt, dass sich Frauen im öffentlichen Raum selbstverständlich und ungehindert bewegen können, dass man die Gabel links und das Messer rechts in die Hand nimmt etc. Auf demselben soziokulturellen Hintergrund europäischer säkularer Kultur existieren also sehr unterschiedliche Weltbilder und damit auch Wertungen und Handlungsweisen nebeneinander. Einer an wissenschaftlicher Objektivität orientierte Kultur, die ökonomische und technische Rationalität pflegt, steht eine Kultur gegenüber, die auf persönliche Wahrnehmungen und Gefühle, auf metaphysische Gedanken, mythische Geschichten und Rituale Wert legt. Selbst 5 Dass hier nicht von Konversion gesprochen wird, liegt daran, dass sich der Atheismus erst seit kurzem in kirchenähnlichen Formen organisiert.
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wenn Therapeut und Klient also »aus demselben soziokulturellen Hintergrund mit gemeinsamen Wertorientierungen und Handlungsschemata stammen«, ist nicht sicher, dass beide dasselbe oder ein ähnliches Weltbild teilen, daher ist »der Therapeut aufgefordert, eine offene und neugierige Haltung einzunehmen, um seinen Klienten zu verstehen, seiner Lebensgeschichte und damit seinen Erwartungen auf die Spur zu kommen« (Pirmoradi, 2012, S. 168).
Legitimationsstrategien: religionsphilosophische Perspektiven Antworten auf klassische philosophische und theologische Fragen scheinen heute die Erkenntnisse der Neurowissenschaften liefern und damit zur neuen Leitdisziplin für Kultur- und Sozialwissenschaften, Anthropologie und Philosophie werden zu können. Die sogenannte »Neurotheologie« versucht, theologische Fragen aus neurobiologischer Sicht zu erklären. (Schmidt u. Lechtenböhmer, 2008, S. 12). Eine neurowissenschaftlich orientierte empirische Erforschung von Religion und Spiritualität trifft jedoch auf mehrere methodische Probleme. Erstens sind weder Religion noch Spiritualität klar definierte Begriffe (Bucher, 2011, 2014), weswegen die Ergebnisse der Studien uneinheitlich sind und abhängig vom verwendeten Religionsbegriff. Zweitens werden diese und andere grundlegende theoretische Fragen nicht diskutiert: »Psychology as a discipline has shown a remarkable ability to ignore or marginalize the discussion of theoretical and philosophical issues« (Nelson u. Slife, 2012, S. 32). Drittens ist die Operationalisierung von Religion und Spiritualität problematisch. Um quantifizierte Ergebnisse zu erhalten, müssen Maßstab und Methode so gewählt werden, dass Wiederholbarkeit, Reliabilität und Validität gesichert sind. Spiritualität und Religiosität sind jedoch nicht direkt beobachtbar, also muss ein bestimmtes signifikantes Verhalten gefunden werden, das messbar ist und mit einem bestimmten spirituellen oder religiösen Begriff assoziiert werden kann. Doch »hugs and kisses are not love, and a score on a spiritual transcendence inventory is not spirituality« (S. 23). Die Differenz zwischen der Erfahrung in der Ersten-PersonPerspektive und der wissenschaftlichen Beobachtung in der Drit-
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ten-Person-Perspektive ist ein methodisches Problem, das nicht ignoriert werden sollte. Ein charakteristisches Beispiel ist hierfür Michael Persingers »Gottesexperiment«. Persinger hatte einen Helm entwickelt, der ausgestattet mit einigen Magnetspulen Gehirnareale des Trägers, nämlich die Schläfenlappen und deren Schnittpunkt mit dem Scheitellappen, stimulieren sollte. Persingers Probanden machten unterschiedlichste Erfahrungen – manche verspürten eine Präsenz, andere begegneten Gott oder Engeln oder erlebten sich als tibetische Mönche in Tempelanlagen (Schnabel, 2008, S. 181). Daraus schloss Persinger, dass religiöse oder auch mystische Erlebnisse auf neuronale Aktivitäten des Schläfenlappens zurückzuführen seien, die man mithilfe des »Gotteshelms« auch künstlich erzeugen könne. Die Experimente erregten großes mediales Interesse, aber auch viel Kritik, da es keine Doppelblind-Studie war. Als solche wiederholte Pehr Granqvist (Uppsala) 2005 das Experiment. Die eine Hälfte der 89 Probanden wurde magnetischen Signalen ausgesetzt, bei der anderen Hälfte wurde dies nur simuliert. Niemand der unmittelbar Beteiligten – sowohl der Experimentatoren als auch der Versuchspersonen – wusste, wer zu welcher Hälfte gehörte. Die Probanden saßen dreißig Minuten mit schwarzer Brille und Magnethelm im Dunkeln. Das Ergebnis: Nicht alle, die magnetische Impulse erhielten, hatten religiös interpretierbare Erfahrungen, einige von jenen, die keine Impulse erhalten hatten, berichteten von solchen Erfahrungen. Am Ende war die Prozentzahl, die eine »Erfahrung« gemacht hatte, in beiden Gruppen gleich hoch. Die Folgerung: es hing von der persönlichen Situation und den Weltbildern der Probanden ab, was sie erlebten, nicht von der magnetischen Stimulierung (Müller u. Walter, 2010, S. 685). Das grundlegende Problem bei der wissenschaftlichen Untersuchung von religiösen und spirituellen Erfahrungen ist der Sprung zwischen Subjektivität des Erlebens und Objektivität der Messung, zwischen der Perspektive der ersten Person und der Perspektive der dritten Person. Der Neurophilosoph Thomas Metzinger, einer der Vordenker der neurowissenschaftlichen Forschung, konstatiert entsprechend, dass die Frage der Subjektivität ein hervorragendes Beispiel für ein beharrliches Problem sei, das in vielen verschiedenen
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Gestalten auftrete und auf vielen verschiedenen Ebenen (vgl. Metzinger u. Windt, 2015, S. 16). Vielleicht, so meint er, gäbe es etwas im Zusammenhang mit dem bewussten Geist, das nicht reduktionistisch erklärt werden könne, selbst im Prinzip nicht (vgl. S. 16). Empirische Bewusstseinsforschung in der Religionspsychologie wurzelt in der Suche nach Bewusstseinserweiterung in der Hippie-Ära. Aber auch Vorurteils- und Fundamentalismus-Forschung haben heute verstärkt Interesse an religionspsychologischen Frage stellungen (Hood, 2012, S. 14). Ein anderer, weniger bekannter kulturwissenschaftlicher Forschungsbereich befasst sich mit den mythischen Geschichten und metaphysischen Traditionen, die sich im Feld Religion und Spiritualität finden. Vieles, was als Esoterik bezeichnet wird, führt Themen und Gedanken der europäischen Antike weiter. Die akademische Esoterik-Forschung (Hanegraaf, 2013; Faivre, 2001) zeigt, dass sich viele Konzepte der New-AgeBewegung bis ins 18. Jahrhundert und von dort bis in die Antike zurückverfolgen lassen. Andere Vorstellungswelten sind jünger, wie etwa die UFO-Bewegung. Vielfach finden sich auch »invented traditions« – erfundene Traditionen – (Hobsbawn u. Ranger, 1983), die sich zu ihrer Legitimation als Erben einer großen Vergangenheit neu erfinden. Ein Beispiel dafür sind die Druiden, die beanspruchen, mythische Traditionen der Kelten weiterzuführen. Die heutigen Druiden gehen jedoch tatsächlich auf eine naturreligiöse Bewegung im 18. Jahrhundert zurück. Eine andere Legitimationstrategie verbindet spirituelle Traditionen – meistens aus Asien – mit popularisierten naturwissenschaftlichen Hypothesen und Theorien, zum Beispiel der Quantenphysik, mit dem Anspruch, Spiritualität und Wissenschaft zu verbinden. Prominente Autoren wie Deepak Chopra (z. B. 2003, 2012) oder auch Fritjof Capra (z. B. 2012, 2015) verfolgen diese Strategie. Vertreter der »philosophia perennis«, der »ewigen Philosophie« betonen wiederum, dass es universale und ewige Wahrheiten gibt, die sich in allen Kulturen und Religionen und zu allen Zeiten finden. Diese Vorstellung, ein Erbe der europäischen Renaissance-Philosophie, wird von der Aufklärung als Universalreligion formuliert (Figl, 1993). Gegen die Herrschaftsansprüche der christlichen Konfessionen postulierten Denker der Aufklärung die eine, überzeitliche
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und vernunftmäßige Wahrheit, die allen Religionen zugrunde liegt. Dies begründete auch die Vorstellung einer Allverbundenheit mit dem Kosmos. Die Idee einer »philosophia perennis« wurde unter anderem von der 1875 in New York gegründeten Theosophischen Gesellschaft aufgenommen, die sich selbst als überzeitliche, universale Bewegung sah, als eine universale Brüderschaft, die den Gedanken der Allverbundenheit aller Wesen im Kosmos weitergibt. Vertreter der »philosophia perennis« sehen alle Religionen gleichermaßen in ihrer eigenen Position mit eingeschlossen, daher spricht man von Inklusivismus. Der Inklusivist geht immer von der eigenen Tradition oder Sichtweise aus, der alle anderen als ähnlich oder gleich ein- und untergeordnet werden. Der inklusivistische Anspruch der Theosophie prägt bis heute viele Debatten über Religion und Spiritualität. Inklusivismus ist eine Form der Nivellierung von Diversität, beinhaltet aber auch das Potenzial für die Verständigung mit anderen Anschauungen. Ein Problem europäischer Inklusivisten ist, dass gelebte lokale religiöse Formen oft ganz anders sind als die durch die inklusivistische Brille wahrgenommene Religion. Ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit: Im Westen wird der Buddhismus oft als »real existierende Idee« der einen universalreligiösen, toleranten Wahrheit angesehen. Wenn in den letzten Jahren in Sri Lanka und Myanmar buddhistische Mönche zur Verfolgung und Tötung von Hindus oder Moslems beitragen, passt das nicht ins inklusivistische Bild. Das Gegenstück des Inklusivismus ist der Exklusivismus, der erklärt, nur die eigene Religion sei im Besitz der Wahrheit, und alle anderen Religionen seien falsch. Diese Haltung findet sich heute bei traditionalistischen und fundamentalistischen Richtungen in allen Religionen, im Buddhismus und Hinduismus genauso wie im Islam. Die römisch-katholische Kirche vertritt seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) keinen exklusivistischen Wahrheitsanspruch mehr, sondern einen Inklusivismus.6 Evangelikale und christ6 »Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkünden Christus, der
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liche Freikirchen, die meisten orthodoxen christlichen Kirchen, aber auch traditionalistische Kreise in der römisch-katholischen Kirche verstehen sich jedoch exklusivistisch. Dem Buddhismus wird gewöhnlich ein inklusivistischer Standpunkt zugeschrieben. Dies liegt an dem Modernisierungsprozess, den die buddhistischen Schulen seit Ende des 19. Jahrhunderts durchlaufen haben. Wenn heute neurophysiologische Forschung zur Untermauerung der Effizienz buddhistischer Meditationspraktiken und Lehren herangezogen wird, ist dies ein Ergebnis dieses Modernisierungsprozesses. Diese Position ist verbreitet (z. B. Singer u. Ricard, 2008), doch erfährt der »Neurobuddhismus« und die Vorstellung eines »Scientific Buddha« zunehmend Kritik sowohl aus der akademischen Buddhismus-Forschung (z. B. Lopez, 2012; Faure, 2009; Sharf, 2015), als auch aus der gelebten buddhistischen Praxis (z. B. Heuman, 2012). Wenn im Umfeld von therapeutischen Methoden von Religion oder Spiritualität gesprochen wird, dann ist fast immer eine inklusivistische Haltung damit verbunden. Offen exklusivistische Positionen in der Psychotherapie treten etwa dort auf, wo Psychotherapie in einem traditionalistischen christlichen Kontext zum Beispiel zur »Heilung von Homosexualität« angeboten wird (Deker, 2014). Solche Positionen sind aber vermutlich eher die Ausnahme. Bei psychotherapeutischen Positionen, die thematische Schwerpunkte wie »Schuld« oder »Exorzimus« setzen (Utsch, Bonelli u. Pfeifer, 2014), kann man annehmen, dass die Autoren traditionalistische bzw. integralistische Positionen einnehmen, wobei es auch aus dieser Perspektive evidenzbasierte Forschung gibt, wie das Literaturverzeichnis der genannten Publikation zeigt. Inklusivistische und exklusivistische Standpunkte helfen beide im therapeutischen Kontext nicht weiter, weil sie reduktionistisch sind. Moderne Gesellschaften sind pluralistisch, und der Diversität, ist ›der Weg, die Wahrheit und das Leben‹ (Jo 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat« (Konzilsdokument Nostra Aetate, Nr. 2, 1965). Zugriff am 12.01.2017 http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/ vat-ii_decl_19651028_nostra-aetate_ge.html
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die aus diesem Pluralismus kommt, muss in angemessener Weise in Therapie und Beratung entsprochen werden. Dazu gehört unter anderem eine hohe Ambiguitätstoleranz, die es erträgt, wenn Kommunikationen oder Verhältnisse nicht eindeutig sind. Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, »Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können« (Dorsch, 2015, S. 31). Konzeptionelle Hilfestellungen zur Auflösung der Komplexität im Falle von Spiritualitäten, Religionen und Weltanschauungen kann die Religionswissenschaft anbieten, um mit Themen von Religion und Spiritualität in einer eher formalen und weniger inhaltsbezogenen Weise umzugehen. Dies entspricht auch dem systemischen Ansatz, der ja mehr auf Strukturen denn auf Inhalte achtet und mehr oder minder funktionalistisch verfährt. Ein systemischer Zugang zu Weltanschauung, Religion und Spiritualität kann sich mit unterschiedlichen religionswissenschaftlichen Konzepten verbinden und so eine gute Grundlage für Ambiguitätstoleranz bieten. Die Religionswissenschaft hat im 19. Jahrhundert mit evolutionären Konzepten begonnen und angenommen, dass aus den primitiven Religionen die Hochreligionen und unter ihnen besonders das Christentum hervorgegangen sind. Der Philosoph und Psychologie William James (1842–1910) sammelte in seiner 1902 veröffentlichten Studie »The varieties of religious experience« Beispiele für die Vielfalt religiöser Erfahrung in der US-amerikanischen und europäischen Gesellschaft und untersuchte außeralltägliche Erfahrungen und Konversionen. Der deutsche Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937) formulierte mit der Kategorie des »Heiligen« (1917) einen phänomenologischen Blick auf Religion, ein Ansatz, der nach gemeinsamen oder ähnlichen Phänomenen in den unterschiedlichen Religionen sucht und an religiöser Erfahrung orientiert ist. Nach Funktionen, die Religion für Individuen und Gesellschaft haben können – etwa die Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts –, fragen funktionalistische Ansätze. Ähnlich wollen strukturalistische Ansätze Strukturen aufzeigen, die den Handlungen der Menschen unbewusst zugrunde liegen. Religionen lassen sich auch als Zeichen- und Symbolsysteme auffassen, die von semiotischen oder interpretativen Ansätzen decodiert und übersetzt werden sollen. Zu Zeiten und unter dem Vorzeichen des Kolonialismus entstanden,
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untersucht die Religionswissenschaft heute mit Hilfe postkolonialer und poststrukturalistischer Theorien auch Macht- und Definitionsansprüche und Diskurse und erarbeitet neue Perspektiven. Alle diese theoretischen Zugriffe sind Perspektiven auf Religion aus der dritten Person, doch im Unterschied zu empirischen, evidenzbasierten, quantifizierenden Methoden bemühen sich diese Zugänge um Hermeneutik, also um ein »aufschließendes Verstehen« von Vorstellungswelten, ihren geschichtlichen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Bedeutungen. Aus der Vielfalt an möglichen Zugängen werden im Folgenden einige Vorschläge – »Landkarten« – ausgewählt, die für eine systemische Perspektive hilfreich sein können.
5 Seele, verloren und wiedergefunden
Zur Orientierung gehört in etwa ein Bild von der Welt, aber auch von sich selbst und »dem Wesen des Menschen« zu haben. Kants Fragen: »Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?« beziehen sich auf das Gesamt von Mensch und Welt, genauer »Mensch in der Welt«. Es sind interkulturelle Fragen, auch wenn Kant dies nicht so beabsichtigte, denn es gibt in jeder Kultur und Epoche Vorstellungen, wie die verschiedenen Aspekte des Menschseins mit der Umwelt und der Welt im Ganzen zusammenspielen. Dabei beziehen sich Medizin, Recht und Religion in vormodernen Traditionen auf ein jeweils gemeinsames Menschenbild. Das trifft für die Moderne nicht mehr zu, die Pluralisierung des Menschenbildes ist global gesehen eines ihrer Charakteristika und Europas Beitrag zur Moderne (Schelkshorn, 2009). Interkulturell unterschiedlich gelöst wird die Frage, wie die »anfassbaren« und die »nicht anfassbaren« Aspekte des Menschseins miteinander zusammenwirken. Was ist Innen? Was ist Außen? Wie kommt eine ideale Balance zwischen beiden zustande? Woher kommt die Welt und wohin geht sie? Diese Fragen können auch in systemischen Beratungs- und Therapiekontexten auftreten. Dabei schwingt meist unbemerkt die europäische Geistesgeschichte mit. Verwendet der Klient den Begriff »Seele« oder »Selbst«? Sieht die Therapeutin den Menschen eher als komplexe biologische oder physikalisch- chemische Entität oder als Einheit von Körper und Geist? Im großen Fundus der abendländischen Geschichte finden sich die unterschiedlichsten Positionen, von Platon bis Freud, aber auch Übernahmen aus dem Buddhismus spielen eine Rolle. Die kleine Orientierungsreise dieses Kapitels beginnt in der vorderorientalischen Randkultur der griechischen Antike und endet bei der heutigen Psychotherapieszene.
Antike Therapie und Meditation67
Antike Therapie und Meditation »Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus«. Mit dieser Zeile beginnt Homers »Ilias«, das Epos vom Kampf zwischen den Achaiern und Trojanern. Zorn ist ein Leitmotiv dieses mehr als zweieinhalbtausend Jahre alten Epos. Zorn und Ehre – darum geht es in dieser raubeinigen Männergesellschaft. Als nicht Aias, sondern Odysseus nach dem Tod Achills dessen Rüstung erhält, ist Aias so außer sich, dass er die Griechen töten will. Die Göttin Athene jedoch schlägt ihn mit Wahnsinn, sodass er eine Schafherde dezimiert statt der griechischen Mitstreiter. Als Aias wieder zu sich kommt, schämt er sich dafür so, dass er sich ins eigene Schwert stürzt und tötet. Für die Antike entspringen Emotionen wie Liebe und Zorn nicht dem Innenleben des Individuums, sondern sie sind »Widerfahrnisse der Seele«; pathê tês psychês, eigentlich Leiden der Seele, etwas, was die Seele »beeindruckt«: dazu gehören Begierde, Zorn, Furcht, Eifer, Neid, Freude, Wohlwollen, d. h. alles, was Lust und Schmerz zur Folge hat, so Aristoteles (384–322 v. Chr.), neben Platon Begründer der westlichen Philosophie, in seiner »Nikomachischen Ethik«. Platon (428–348 v. Chr.) verglich die Seele des Menschen mit einem Wagen: die beiden Rosse, nämlich das Begehrende (epithymetikón) und das muthafte, inspirierte Selbstgefühl (thymós) sollten den Wagen ziehen, doch müsse der nous oder das logistikón, also die Vernunft bzw. das Vermögen, logisch zu denken, das Gespann lenken. Damit das Ziel, das Reich der Ideen und vor allem der höchsten Idee des Guten erreicht werden kann, muss das Gespann trainiert werden. Dieses Training ist die Aufgabe des Philosophierens. Daher waren die Dialoge, die Sokrates mit seinen Schülern und Zuhörern führte, nicht bloße akademische Reflexion, sondern dienten der Übung der Selbsterkenntnis und der Formung des Individuums. »Erkenne dich selbst!« stand über dem Eingang des Tempels in Delphi, durch den Sokrates ging, um das Orakel zu befragen (Hadot, 1999, S. 50 ff.). Philosophie war in der Antike also nicht nur Reflexion, sondern Meditationspraxis und Lebensweise, deren Ziel die Beherrschung der Emotionen und innere Ruhe war. Die verschiedenen Schulen – Epikuräer und Stoiker – entwickelten verschiedene Formen des Umgangs mit Emotionen. Für die Einübung spielte der
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lebendige und schriftliche Dialog eine wichtige Rolle; man suchte sich einen Lehrer, schrieb Briefe, auch Tagebücher. Es ging darum, wachsam im Augenblick zu sein (prosoché) und die eigene Bedingtheit wahrzunehmen. »Was steht in unserer Macht und was nicht?« war die Standardfrage des Kaisers Mark Aurel (121–180 n. Chr.). Man sammelte Zitate und Lebensregeln, die zur Besonnenheit mahnten, und schrieb sie in ein Notizbüchlein, das man stets zur Hand haben konnte (prócheiron échein). Auch die Interpretation von Träumen wurde als hilfreich betrachtet, um die eigene Haltung zu prüfen. In der praemeditatio malorum, der gedanklichen Vorwegnahme von künftigen Leiden suchte man sich selbst klar zu machen, dass es sich um keine wirklichen Übel handelt, sondern das Üble daran die Bewertung ist. Die meditatio mortis, die gedankliche Vorwegnahme des Todes lehrte, jeden Tag so zu leben, als ob es der letzte sei. Ebenso waren Gewissensprüfungen der eigenen Handlungen und Motivationen Teil der stoischen Übungen. Auch die Kontrolle der Gedanken zählte zu den Zielen, die man erreichen wollte. Tauchte etwa ein unangenehmer Gedanke auf, so sollte man sagen: »Du bist nicht das, was du zu sein scheinst (etwas Reelles), sondern bloß ein Gedankending (eine Einbildung)« (Epictetus, ca. 100 n. Chr./1992, S. 1). Gesucht war Indifferenz dem eigenen Erfolg und Misserfolg gegenüber. Denn vor allem wollte man die Ruhe des Geistes finden, tranquilitas animi oder apátheia, einen Zustand, in dem man durch die pathê, die Leidenschaften, nicht mehr in Unruhe versetzt wurde. Das Bild dafür war galéne, die Meeresstille, wenn das Meer so ruhig ist, dass es bis in die Tiefen durchsichtig ist. Philosophieren galt als Therapie für die Seele, insofern sie von der Unruhe durch die pathê geheilt werden kann. So schrieb Epikur: »Leer ist jenes Philosophen Rede, durch die keine ungünstigen psychischen Prozesse (páthos) des Menschen geheilt werden. Denn wie die Heilkunde unnütz ist, wenn sie nicht die Krankheiten aus dem Körper vertreibt, so nützt auch die Philosophie nichts, wenn sie nicht die Leiden (páthos) der Seele vertreibt« (Epikur, 1980, S. 143). Die Übungen der Epikuräer und Stoiker sollten einen zum idealen Weisen werden lassen, zu einem, der sein Ich überschritten hat hin auf die Teilhabe am lógos, dem umfassenden Gesetz der Natur, das Mensch und Kosmos verbindet und für das alle Men-
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schen gleich sind. Philosophieren war eine Form der Selbstkultivierung, ein Veränderungsprozess, durch den man eine neue Weise des In-der-Welt-Seins erlernte. »Für den Stoiker bedeutet philosophieren also, zu ›leben‹ üben, das heißt bewusst und frei zu leben: bewusst, indem er die Grenzen der Individualität durchbricht, um sich als Teil des Kosmos zu erkennen, der von der Allvernunft belebt wird; frei, indem er darauf verzichtet, etwas zu begehren, was nicht in seiner Macht steht und ihm zu entgleiten droht, und indem er sich nur für das interessiert, was in seiner Macht steht, für das rechte Handeln also, das im Einklang mit der Vernunft ist« (Hadot, 1991a, S. 20). Den spätantiken Weisheitsschulen ging es einerseits um innerweltliches Wohlergehen, doch andererseits auch um das Einnehmen einer kosmischen und universalen Perspektive: »Die Verinnerlichung ist Selbstüberschreitung und Universalisierung« (Hadot, 1991b, S. 226). Wer die Verengungen und Beunruhigungen abgelegt hatte, konnte sich dem pneũma (wörtlich: Atem, Luft), dem Feuer des göttlichen Logos, der alles durchdringt, öffnen. Mark Aurel schrieb: »Du wirst dir Weiträumigkeit […] dadurch verschaffen, dass du die ganze Welt in deinem Geist umfaßt hältst und der unendlichen Ewigkeit nachsinnst« (zit. nach Hadot, 1991a, S. 35).
Seele, Subjekt und Pastoralmacht: Christentum Es mag überraschen, doch für die Menschen der Antike war das Christentum zunächst keine Religion, sondern eine Philosophie, also eine bestimmte Lebens- und Übungspraxis, und für manche antike Intellektuellen überzeugender als andere Philosophien. In den römischen Katakomben finden sich Bilder, die Christus als Lehrer in Toga und mit Schriftrolle im Kreise seiner Schüler zeigen und damit Darstellungen von Sokrates zitieren. Gegen Ende des 3. Jahrhunderts zogen sich immer wieder Gruppen von Christen in die ägyptische Wüste zurück – zunächst zum Schutz vor Verfolgung, und später, als das Christentum im 4. Jahrhundert römische Staatskirche geworden war, auf der Suche nach einem authentischen christlichen Lebensideal. Vorbild für die »Wüstenväter« und »Wüstenmütter« war Jesus, und die biblischen Schrif-
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ten waren maßgebend für ihre Lebensweise. Doch war die nahegelegene große Hafenstadt Alexandrien ein Umschlagplatz nicht nur für Güter, sondern auch für philosophische Ideen. Auf diesem Weg, schreibt Pierre Hadot, »haben gewisse philosophische geistige Übungen in die christliche und mönchische Spiritualität Eingang gefunden und man hat das christliche Ideal beschrieben, definiert und zum Teil praktiziert, indem man die Modelle sowie das zugehörige Vokabular der griechischen philosophischen Tradition entnahm. Diese geistige Strömung hat sich aufgrund ihrer literarischen und philosophischen Qualitäten durchgesetzt, und sie hat das Erbe der antiken geistigen Übungen der christlichen Spiritualität des Mittelalters und der Neuzeit vermacht« (Hadot, 1991a, S. 65). Die philosophische Übung der Achtsamkeit (prosoché) wurde zur grundlegenden Übungspraxis christlicher Mönche und Nonnen. Passagen der Bibel begründeten dies, etwa das Gleichnis von den klugen Jungfrauen (Mt 25,1–13). Bis heute ist in den orthodoxen Kirchen des Ostens die nüchterne Wachsamkeit (népsis) und die Achtsamkeit (prosoché) ein Kriterium für Heiligkeit. Das Ziel war die hesychía, die Ruhe, die aus der »Reinheit des Herzens« entspringt. Die äußere Ruhe der Mönche in ihrer Zurückgezogenheit führte jedoch nicht automatisch zur inneren Ruhe. Der große Theoretiker des monastischen Lebens, der syrische Mönch Evagrius Ponticus (345–399) beschrieb als erster ausführlich die pathê, die einen Mönch am »Aufstieg zur Erkenntnis Gottes« hinderten. Dazu gehörten die Störungen des begehrenden Teils der Seele, wie Völlerei, Unzucht, Geiz, die Störungen des thymós-Teils (der Lebenskraft, des Mutes), also Zorn oder Trauer, sowie die Störungen des geistigen Teils: Gleichgültigkeit (akédia, der »Mittagsdämon«), Ruhmsucht und Hochmut. Der »Aufstieg« bedeutete eine schrittweise Umwandlung des Menschen, bei der allmählich psychische und materielle Fesseln wegfielen. Das Mönchsleben sei ein Kampf wie die Vorbereitung auf die olympischen Spiele und bedürfe der Übung (áskesis), schrieb der lateinische Mönch Cassian, man müsse schrittweise die Zulassungsprüfungen bestehen. Die pathê galten als dämonische Angriffe auf die Integrität der Person. Die Listen der Leidenschaften dienten als Manual, um zu wissen, welche Angriffe zu erwarten seien und wie man damit umgehen könne. Auch der Gehorsam, den ein Mönch seinem Leh-
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rer schuldete, diente demselben Zweck, nämlich der »Reinigung des Herzens« (McGinn, 1994, S. 196–269, 315–329). Wichtige Maxime der spirituellen Lehrer in der Begleitung von Suchenden war der Grundsatz aus der Bergpredigt: »Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet« (Mt 7,1). Ohne diesen Grundsatz wurden die therapeutischen Praktiken der Selbsterkenntnis zu Mitteln disziplinarischer Gewalt, die Michel Foucault als »Pastoralmacht« bezeichnet (Foucault, 2005). Er untersuchte für die Geschichte der Pastoralmacht vor allem spätantike individuelle Bußrituale, in denen sich der Christ oder die Christin in dramatischer Form in »Sack und Asche« als zugleich gläubig und sündig zeigte, ein Ritual, das nur mit Erlaubnis des Bischofs vollzogen werden durfte. Auch in der Disziplin der westlichen Klöster, in der sich der einzelne Mönch dem Meister unterwarf, fand er eine wichtige Quelle der Pastoralmacht. Diese Praktiken stellten das Individuum und seine Wahrheit, die öffentlich bekannt werden muss, ins Zentrum. Bußpraktiken waren in den ersten Jahrhunderten des Christentums selbst in dieser seltenen dramatisierten Version immer auf die Gemeinschaft bezogen. Eine individualisierte Bußpraxis entstand erst durch den Einfluss der iroschottischen Wandermönche, die ab dem 6. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa als Missionare unterwegs waren. Irland war um das 4. Jahrhundert christlich geworden, und die irische Kirche hatte bis zur Eroberung Irlands durch die Normannen im 12./13. Jahrhundert eigenständige Institutionen und Liturgien. In Irland entstand die sogenannte keltische Buße: sie war nicht mehr öffentlich, sondern eine »Ohrenbeichte«, in der Bekenntnis und Lossprechung geheim gehalten wurden. Legten Christen bis dahin oft nur einmal im Leben die Beichte ab, wurde Beichten nun zu einer häufig wiederholten Praxis. Zudem führten die Iroschotten die Buße nach Tarifen ein. Es gab Listen, welche Verfehlungen mit welchen Bußen wieder gut gemacht werden konnten (satisfactio), wobei Kriterien wie soziale Stellung und Schwere der Tat mitberücksichtigt wurden, jedoch nicht die Motive für die Tat. Bis ins 12. Jahrhundert konnten Beichtgespräche auch mit Laien geführt werden; dann wurde die Beichte ein Sakrament und damit ans Priesteramt gebunden. Diese Entwicklung fand keineswegs allgemeinen Beifall, wie theologische Debatten zu Ende des ersten Jahrtausends
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zeigen. Doch konnte sich die Ohrenbeichte durchsetzen, und ab dem 13. Jahrhundert wurde die Bußpraxis verrechtlicht. Eine für jeden Christen verpflichtende Beichte einmal im Jahr zu Ostern, wie dies auf dem Vierten Laterankonzil (1215) beschlossen wurde, sollte die »Rechtgläubigkeit« garantieren. Dies war nicht nur im Interesse der kirchlichen Institutionen, sondern auch im Interesse der Staatsmacht, denn spirituelle Abweichler wurden von der Feudalmacht als gefährlich betrachtet. Foucaults Analyse (2005) sieht im Rückblick die Ergebnisse dieser Entwicklung der Beichte deutlich. Es wurde zweierlei erreicht: zum einen eine Subjektivierung, da es um das Finden der »inneren Wahrheit« einer Person ging, zum anderen musste diese Wahrheit aber vor einer Autorität ausgesprochen werden. Dies führte im Verlauf von mehr als tausend Jahren zu einer Kontrolle durch und Unterwerfung unter kirchliche und dann auch weltliche Machtstrategien und Vorgaben. Je mehr sich die römische Kirche als Machtzentrum konsolidierte, desto gefährlicher wurden theologische Abweichler, »Häretiker«. Bußpraktiken galten zwar immer noch als »Heilmittel«, standen jedoch zunehmend im Dienste der Machtsicherung und nicht der spirituellen Entwicklung. Parallel zum langsamen Ausbau der Pastoralmacht wanderten aber auch die aus der Antike tradierten und christlich adaptierten Meditationspraktiken aus den Klöstern in die Städte und in die Häuser der aufstrebenden Bürgerschaft. Die Bürger wollten das eigene Leben gut gestalten, nicht nur fürs Diesseits, sondern auch fürs Jenseits, und sahen in den Mönchspraktiken erprobte Hilfsmittel. Bibellektüre (lectio), Meditation (meditatio, »wiederkäuendes« Nachdenken über Bibelworte) und contemplatio (Übersteigen des Denkens zur »Schau Gottes«) ließen sich auch in einem tätigen Leben praktizieren.
Seele und Eigensinn Bürgerlicher Eigensinn und Selbstermächtigung auf der einen und obrigkeitliche Kontrolle auf der anderen Seite, aber auch Machtkämpfe zwischen kirchlichen Gruppen führten im Mittelalter immer wieder zu Konflikten, in denen es auch um Spiritualität ging. Ein Beispiel:
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Einige Frauen (Beginen) und Männer (Begarden) suchten ab dem 12. Jahrhundert ein eheloses spirituelles Leben in einer christlichen Gemeinschaft, organisiert wie Handwerkszünfte, aber außerhalb klösterlicher Institutionen. Diese beiden Umstände führten zu Anfeindungen und im 15. Jahrhundert zur zwangsweisen Eingliederung noch bestehender Beginengemeinschaften in die Laienorganisation (»dritter Orden«) der Franziskaner.
Der Dominikaner Meister Eckhart (1260–1328) wiederum war 1311/1314 unter anderem in Paris und Straßburg und vermutlich Seelsorger einer Beginengemeinschaft. Es scheint, dass er in dieser Zeit die Lehre der Begine und Mystikerin Margareta Porete (1250– 1310) kennengelernt hat, die 1310 in Paris als Ketzerin verbrannt wurde. Ihr Buch »Der Spiegel der einfachen Seelen« (ca. 1300/1987) fand eine breite Leserschaft und erschien anonym bzw. pseudonym in mehreren europäischen Sprachen. Eckhart selbst predigte vor Laien – Frauen wie Männer – in seiner Heimatstadt Köln auf Deutsch und schrieb für Theologen in Latein. Angezeigt bei der kirchlichen Behörde wurde er von zwei übelbeleumundeten Mitbrüdern und nicht von »oben«. Auch wurde Eckharts Lehre nicht insgesamt wegen Häresie verurteilt. Lediglich 26 seiner Sätze (und nur lokal für den Kölner Raum) wurden nach damaligem Kirchenrecht als häresieverdächtig verurteilt. Dies zeigte der Rechtshistoriker Winfried Trusen anhand der Quellen; daher konnten die Dominikaner auch keine Rehabilitierung von Eckhart erreichen, weil er nie rechtskräftig verurteilt worden war (Trusen, 1988; Haas, 2013). Seinen Ruf als Häretiker verdankt Eckhart unter anderem einigen Kirchenhistorikern des 17. und 19. Jahrhunderts. Aus dem Antagonismus und Konflikt von römischer Kontrollmacht und staatlichem Herrschaftsinteresse, bürgerlichem Aufstieg und Selbstermächtigung ist auch die protestantische Reformation nach 1517 zu verstehen. Im Zuge der Gegenreformation wurde die Disziplinarordnung der römisch-katholischen Kirche verschärft. So setzte das Konzil von Trient (1545–1563) die Beichte, zu der Katholiken unter Androhung der Todsünde verpflichtet waren, mit einer Gerichtsverhandlung gleich. Der Beichtstuhl in seiner heute bekannten Form wurde als Ort der Beichte vorgeschrieben, wobei
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das neue Möbel zentral und sichtbar in der Kirche aufzustellen war (Scheule, 2001, S. 17–38). Die Schere zwischen spirituellen Bedürfnissen der Menschen und der kirchlichen Kontrolle gingen in dieser Zeit immer mehr auseinander. Dies bekamen zum Beispiel die beiden großen Vertreter der spanischen Mystik zu spüren, Teresa von Ávila (1515–1582) und Johannes vom Kreuz (1542–1591), die beide mehrfach von der Inquisition belangt, nach ihrem Tod jedoch zu Kirchenlehrern ernannt wurden. Seit den Anfängen christlicher Spiritualität in der Antike hatten Theologen betont, dass über Gott entweder positiv lobpreisend oder in negativen Aussagen gesprochen werden kann, da sich Gott menschlicher Bestimmung und Aussage entzieht. So konnte noch Meister Eckhart sagen, »Gott ist nicht gut«, ohne dass dieser Satz beanstandet wurde. Dass die Erfahrung Gottes sich nur jenseits der Sprache ereignen kann und sich positiven sprachlichen Aussagen entzieht, wurde nun unter den Vorzeichen einer Verbindung von kirchlicher Pastoralmacht und absolutistischem Staat zum Problem. Zudem galt, dass sich katholische Rechtgläubigkeit an Taten – wie zum Beispiel der Teilnahme an kirchlichen Ritualen – ablesen ließ. Merkantilismus und früher Kapitalismus betonten ebenfalls das Tätigsein, da sie arbeitsame Bürger brauchten. Die Übung der Kontemplation, die zur Erfahrung Gottes führen kann, verlangt jedoch Ruhe. An diesen Problemkomplexen entspann sich Ende des 17. Jahrhunderts der »Quietismus-Streit«. Quietist hieß damals, wer nach dem Vorbild der frühen Mönche Seelenruhe und Gleichmut als erstrebenswertestes spirituelles Ziel betrachtete. Die Auseinandersetzung fand ihren Höhepunkt und ihr Ende am Hof Ludwig XIV. und fiel mit höfischen Intrigen zusammen. Beteiligte waren unter anderem Kardinal Fenelon, Berater des Sonnenkönigs, Bischof Bossuet, ebenfalls äußerst einflussreich bei Hofe und Jeanne Marie Guyon du Chesnoy (1648–1717), eine hochrangige Adelige, Mystikerin und gesuchte spirituelle Lehrerin. Dass sie »heilige Indifferenz« lehrte und über einen gewährenden Gott (laissez faire) sprach, machte sie ebenso verdächtig wie ihre Kontakte zum Hochadel. Bald überschnitten sich theologische Fragen mit politischen Intrigen, Lehrsätze von Madame Guyon wurden geahndet, und sie selbst mehrfach wie eine Staatsfeindin gefangen gesetzt. Der
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Papst verurteilte die Auffassung des sogenannten »Quietismus«, und damit wurde die Suche nach Seelenruhe innerhalb der römisch-katholischen Kirche in den Untergrund gedrängt. Zurück blieb die Kirche als Institution der Ordnungsmacht. Die Lehren der Madame Guyon fanden jedoch vor allem in den deutschen Kleinstaaten unter den protestantischen Mystikern, den Pietisten, großen Widerhall.
Das denkende Ding und die ausgedehnten Dinge Ganz andere Fragen stellten sich für René Descartes (1596–1650). Der bei Jesuiten erzogene Arzt und Philosoph suchte nach einem unerschütterlichen Fundament der Erkenntnis. Sinneswahrnehmungen sind nicht immer zuverlässig, auch Träume können täuschen. Doch nach einem Traum, in dem er noch im Traum dachte, dass es ein Traum sei, blieb ihm als unerschütterliches Fundament der Gewissheit: »Ich denke, also bin ich« (Descartes, 1641/2012). Darauf baute Descartes auf. Er setzte der »res cogitans«, der »denkenden Sache«, nicht die Welt in ihrer Diversität und Buntheit gegenüber, sondern die »res extensae«, die »ausgedehnten Sachen«. Das, was ist, wurde von ihm eingeengt auf geometrische Formen, Ausdehnung, auf alles, was zählbar ist, denn nur dies könne »klare und deutliche« Erkenntnis liefern und damit das Bedürfnis nach Sicherheit der Erkenntnis zufriedenstellen (Descartes, 1641/2012). Daraus entwickelte sich in der Folge ein dualistischer Rationalismus. Descartes bewegte sich mit diesen Überlegungen in den Spuren Galileis (1564–1642). Bereits dieser hatte festgehalten, dass Körper nur durch Begrenzung, Figur, Größe, Bewegung etc. zu bestimmen seien, während Farben, Töne, Gerüche usw. subjektiv seien, daher keine sichere Erkenntnis lieferten und als »sekundäre Sinnesqualitäten« gelten sollten. Nur die »primären Sinnesqualitäten«, also Gestalt, Größe und Bewegung könnten »klar und deutlich« erkannt werden, alle andere seien, so Descartes, »verworrene Sinneswahrnehmungen«, die keine Erkenntnis brächten (Descartes, 1641/2012, S. 100). Die vielen Facetten menschlichen Denkens, die man in der mittelalterlichen Philosophie unterschieden hatte, wie »mens« (Geist), »animus« (Seele), »intellectus« (Intellekt), »ratio« (Verstand) rechnete Descartes alle zur »denkenden Sache«: Die Seele gehört dieser Sphäre
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der res cogitans an, sie ist »denkende Substanz« und steht in Wechselwirkung mit dem Körper. Für Descartes zählte der menschliche Körper zur Sphäre der res extensae, unterlag mechanischen Gesetzen und wurde durch »Lebensgeister« (animi spiritus) belebt, wie er in seinem Werk »Les passions de l’âme«, »Passionen der Seele« ausführt (1649/2014). Die Zirbeldrüse, so meinte Descartes, stellt als »Seelenorgan« die Verbindung zwischen Körper und Seele her, wodurch die Seele von den sich in den Nerven bewegenden »Lebensgeistern« (esprits animaux) Empfindungen erfährt, die motorische Muskulatur in Bewegung setzen, aber auch Vorstellungen bilden kann. Affekte – die passiones animi, eine wörtliche Übersetzung der pathê tês psychês – basieren bei Descartes auf Vorstellungen, die für ihn durch die Bewegung der Lebensgeister ausgelöst werden. Über die Zirbeldrüse, so Descartes weiter, kann die Vernunft die Lebensgeister und die mit ihnen verbundenen Affekte disziplinieren (1649/2014, II, 51; 69). Descartes’ Versuch, eine mechanische Verbindung von Körper und Geist zu denken, wurde von Zeitgenossen heftig kritisiert. Das Alternativmodell zu Descartes war ein »psychophysischer Parallelismus«, demzufolge Geist und Materie unverbunden sind, jedoch parallel agieren. In seiner »Monadologie« (1714/1998) verglich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) dies mit zwei parallel gehenden Uhren, die nicht verbunden sind, jedoch dieselbe Zeit zeigen (§ 78). Dies löste das Problem der Verbindung von Leib und Seele jedoch auch nicht zufriedenstellend. Die im 17. und 18. Jahrhundert selbstverständliche Option war jedoch noch das platonische Modell, nach dem der Geist als »Wagenlenker« von Begierde und Gemüt die Regie führt, wobei die Philosophen im Gefolge von Descartes den Geist als rationales Vermögen interpretierte. Dass Lebewesen wie Maschinen funktionieren, sowohl Tiere als auch Menschen, war im 17. Jahrhundert eine avantgardistische These. Descartes’ strikter Dualismus ermöglichte jedoch, den Körper – und auch das Gehirn – zu erforschen, ohne dabei die Vorstellung der Seele infrage zu stellen, das heißt ohne mit dem herrschenden Weltbild in Konflikt zu geraten. Dies widerfuhr jedoch dem Arzt und Aufklärer Julien Offray de la Mettrie (1709–1751), der ein Jahrhundert später wegen seiner deterministischen, materialistischen Konzeption des Menschen als Maschine aus Frankreich flüchten musste.
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Für ihn war die Seele ein Ergebnis komplexer Körperfunktionen, und er vertrat eine explizit atheistische Position, was damals auch für aufgeklärte Geister wie Rousseau und selbst für Voltaire eine Tabugrenze überschritt. Wenige Jahrzehnte später fegte die Französischen Revolution das Ancién Régime hinweg, und auch wenn Napoleon 1801 mit dem Vatikan einen Staatsvertrag schloss, der die römisch-katholischen Institutionen in seinem Herrschaftsgebiet wieder einsetzte, die Einheit von Religion, Weltbild, Gesellschaft und Herrschaft, die sich über Jahrhunderte aufgebaut und an sich ändernde politische Verhältnisse angepasst hatte, war dahin. Schritt für Schritt wandelten sich nicht nur in Frankreich die Machtverhältnisse zugunsten der weltlichen Herrschaft und des Bürgertums. Die römisch-katholische Kirche verlor ihre über fast tausend Jahre aufgebaute Macht in Europa – nicht schlagartig, sondern in einem Prozess, der bis heute andauert. In vielerlei Hinsicht bedeutete dies einen schrittweisen und manchmal abrupten Perspektivenwechsel, nicht nur politisch, sondern auch sozial und kulturell. Die Frage nach dem Seelenheil wurde ersetzt durch die Frage, wie die Seele funktioniert. Bereits in der Antike hatte man den Sitz der Seele im Gehirn gesucht. In »Geniale Gehirne« (2004) zeichnet Michael Hagner die Geschichte der Hirnforschung nach, die folgenden Ausführungen beziehen sich auf ihn. Der Anatom Franz Joseph Gall (1758– 1828), der als erster die Bedeutung der Hirnrinde für Denkfunktionen erkannte, nahm die antike Lokalisationstheorie wieder auf. Er suchte Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und ethische Haltungen in bestimmten Regionen des Gehirns zu verorten. So meinte er, dass man aus der Ausbildung der Hirnrinde und der daraus resultierenden Schädelform auch mörderische Antriebe oder künstlerische Begabung erkennen könne (vgl. Hagner, 2004). Galls Determinismus und Materialismus fand heftigen Widerspruch, so Hagner, doch die medizinische Forschung schritt voran – etwa konnte in der Aphasieforschung nachgewiesen werden, dass unterschiedliche Läsionen des Gehirns zu motorischer bzw. sensorischer Aphasie führen. Der Neuroanatom Theodor Meynert (1833–1892) beschrieb als erster die unterschiedliche Morphologie und Funktion von Nervenfasern ebenso wie eine Architektonik des Gehirns (Hagner, 2004).
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Die Vorstellung, dass die Persönlichkeitsentwicklung von der Hirnentwicklung abhängt, beschäftigte unter anderem auch den jungen Arzt Sigmund Freud. Als dann 1870 von den Neurophysiologen Julius Eduard Hitzig und Eduard Fritsch nachgewiesen wurde, dass die elektrische Stimulierung bestimmter Hirnregionen bei Versuchstieren diese zu Bewegungen veranlasst, verhalf dies der These, dass physische und psychische Funktionen an die Funktion der Hirnrinde geknüpft sei, zum wissenschaftlichen Durchbruch. In einer Betrachtung des Lebens, die sich auf Chemie und Physik stützte, war die Seele eine überflüssige Hypothese. Daher brach über den Status der Seele ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine heftige weltanschauliche Kontroverse aus. Den einen Pol bildeten Deterministen und Materialisten, die den Menschen als eine natürliche »Reiz-Reaktions-Maschine« betrachteten, die durch Lust- und Schmerzempfindungen gesteuert wird. Die Theologie – die katholische kräftiger als die evangelische – betonte dagegen die »Übernatürlichkeit« der Seele und der biblischen Offenbarung und hielt an dem antiken Menschenbild fest, demzufolge das bestimmende Prinzip des Menschen seine Seele sei. In der katholischen Theologie entstand eine »ZweiStockwerk-Theologie« (Greshake, 1977); das untere Stockwerk bildete der Mensch mit seinen natürlichen Anlagen, im oberen Stockwerk war Gottes Gnade, die sich im unteren Stockwerk offenbaren konnte. In der evangelischen Theologie wandte man sich einerseits dem Humanismus der Renaissance zu und bezog sich andererseits zunehmend auf ein biblisches Menschenbild, wie es die historischkritische Exegese zu zeigen suchte.
Die andere Seite Das 19. Jahrhundert lässt sich durch Gegenbewegungen im Bereich Religion, Spiritualität und Weltanschauung kennzeichnen. Auf der einen Seite feierten die Naturwissenschaften eine Entdeckung nach der anderen, und das traditionelle Bild des Menschen verblasste immer mehr angesichts der neuen Hypothesen und Erklärungen, die sich auf Physik und Chemie, also auf quantitative Forschung, stützen konnten. Auf der anderen Seite, der »Unterseite«, blühten traditionelle esoterische Überlieferungen, die sich auf eine Tradition
Die andere Seite79
seit Antike und Renaissance berufen konnten, ebenso Spiritismus und Okkultismus. Aus einer am naturwissenschaftlichen Fortschritt orientierten Sicht kann man darin irrationale Relikte sehen, doch scheint es angemessener, von einer kreativen Umgestaltung des alten Weltbilds zu sprechen. »Gleichzeitig mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften bleibt jedoch das alte, ›verzauberte‹ Weltbild lebendig und passt sich an die Gegebenheiten an. Das ›modernistische Okkulte‹ ist durch komplexe und vielschichtige Versuche gekennzeichnet, die moderne Wissenschaft und die aufgeklärte Rationalität zu verarbeiten, und verband einen tief gefühlten Widerstand gegen die ›Entzauberung der Welt‹ mit einer ebenso starken Anziehung durch moderne wissenschaftliche Modelle. Als Europäer und Amerikaner ins 19. Jahrhundert eintraten, konnte niemand leugnen, dass sich die Gesellschaft mit beschleunigter Geschwindigkeit in neue Richtungen bewegte, und daher wurde die Frage relevant, ob ›Fortschritt‹ einen radikalen Bruch mit der Tradition bedeutete oder eher eine Transformation zur Folge hatte, die es erlaubte, alte Wahrheiten in neuem Licht zu sehen« (Hanegraaff, 2013, S. 37, Übers. UB).
Dies lässt sich an der intellektuellen Biografie des Physikers Gustav Theodor Fechner (1801–1887) ablesen. Er gilt als einer der Begründer der empirischen Psychologie. Der Physiologe Ernst Heinrich Weber hatte 1834 aufgrund von Versuchen das »Weber’sche Gesetz« formuliert, wonach die subjektive Stärke eines Sinneseindrucks proportional zum Logarithmus der Stärke eines physikalischen Reizes des Sinnesorgans ist (allerdings nicht bei Schmerz- und Temperaturempfindungen). Fechner, der an der Universität Leipzig die Professur für Physik innehatte, formulierte die »Unterschiedsschwelle«, also jene Veränderung, die gerade noch als Veränderung wahrgenommen wird, als physiologische Konstante. Das Weber-FechnerGesetz gehört bis heute zu den grundlegenden Theoremen der empirischen Psychologie. Fechners Ziel war, das Problem der Beziehung von Leib und Seele auf eine empirische Grundlage zu stellen, also das »Maß der psychischen Stärke« ausfindig zu machen, analog den Maßen für physische Stärke. Für die physikalische Seite konnte er sich unter anderem auf
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die Mathematiker Jakob Bernoulli (1655–1705) und Leonhard Euler (1707–1783) berufen. Ebenso wichtig war für Fechner der Philosoph und Pädagoge Johann Friedrich Herbart (1771–1841), Nachfolger Kants auf dem Lehrstuhl in Königsberg. Herbart hatte die Psychologie als eine »Mechanik des Geistes« (1816) aufgefasst, in der Vorstellungen sich anziehen und abstoßen. Die Vorstellungen waren für ihn aus einfachen Elementen zusammengesetzt, die unter die »Schwelle des Bewusstseins« sinken könnten. Herbarts Psychologie stand in der österreichisch-ungarischen Monarchie auf dem Gymnasiallehrplan, wodurch Freud sie kennenlernte, für den sie zu einer der Quellen der Psychoanalyse wurde. Fechner sah den Menschen als eine Art Dampfmaschine, in der der Maschinist allerdings nicht außen sitzt, sondern innen. Schneller Lauf etwa, bei dem man rascher atmet und das Blut schneller zirkuliert, sei vergleichbar mit dem Heizwerk einer Dampfmaschine, das man höher schaltet, schrieb Fechner (1860, S. 35). Der Reiz ist die physikalische (objektive), weil messbare Seite eines Geschehens, die Empfindung die subjektive, nur durch persönliche Äußerung zugängliche Seite. In seiner »Psychophysik« suchte Fechner nach gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zwischen subjektivem/mentalem/psychischem Erleben einerseits und dem, was objektiv d. h. quantitativ physikalisch messbar war andererseits. Die heutigen Neurowissenschaften folgen, enorm verfeinert, methodisch diesem Ansatz, in dem es ein Außen – den Reiz – und ein Innen – die mentale subjektive Reaktion gibt. Zudem kann mit den heutigen technischen Mitteln auch nach dem Verhältnis von neuronalen Prozessen, also innerkörperlichen physikalischen Prozessen, zu mentalen Prozessen gefragt werden. Die Kognitionswissenschaften untersuchen auf dieser Basis das Bewusstsein. Fechners Selbstexperimente, bei denen er die Nachbilder von optischen Erscheinungen auf der Netzhaut untersuchte, schädigten nicht nur seine Sehkraft, sondern brachten ihn in eine Lebenskrise. Wegen der Schädigung der Augen vertrug er kein Licht und musste drei Jahre in abgedunkelten Räumen verbringen; dazu kamen Probleme mit dem Verdauungsapparat und »eine Art Gedankenflucht« (vgl. Lück u. Guski-Leinwand, 2014, S. 9.). Die Werke, die er nach dieser Krise schrieb, zeigen seine andere Seite.
Die andere Seite81
Fechner war keineswegs nur ein rationaler Naturwissenschaftler, sondern wie vielen Wissenschaftlern jener Zeit waren ihm die Romantik und die Naturphilosophie Schellings vertraut, und damit die Überzeugung, dass Innen und Außen, die Welt und die Menschen miteinander ein geistiges Ganzes bilden. Der Physiker Fechner hatte für den romantischen Idealisten Fechner diese Verbundenheit quantitativ nachvollziehbar machen wollen. Etwa betonte Fechner in der »Psychophysik« mehrfach, dass der mathematische und physikalische Zugang keine Stellungnahme für oder gegen den Materialismus sei, auch keine Parteinahme in metaphysischen Fragen. Nach seiner schweren krisenhaften Erkrankung, die ihn fast die Sehkraft gekostet hatte, wandte sich Fechner der Reflexion der psychophysiologischen Forschungen zu. Er nannte sie die »Nachtansicht der Welt«, und stellte ihr die »Tagesansicht« gegenüber (Fechner, 1879): wie er im Garten sitzend, das Grün der Pflanzen, die Farben der Blumen, und Schmetterlinge und das Licht der Sonne genießt. Diese Beschreibung sei wissenschaftlich gesprochen eine Lüge, da die wissenschaftliche, objektive Welt keine Qualitäten hat. Diese Welt gleiche der Unterwelt, sie sei stumm, kalt und dunkel, denn selbst die Sonne sei nur hell, wenn sie wahrgenommen wird. Die »Tagesansicht« dagegen erfahre das Universum als einen beseelten Zusammenhang, so Fechner, weswegen er als Vertreter des Panpsychismus gilt. Fechner versuchte das Leib-Seele-Problem durch eine Parallelkonstruktion zu lösen. Als Naturwissenschaftler beschrieb und erklärte er die Welt aus der Perspektive der dritten Person, während das »Geistige« nur in der Perspektive der ersten Person zugänglich ist. Der Unterschied liegt in der grundsätzlichen Differenz zwischen quantitativer und qualitativer Wahrnehmung der Welt. Die Diskussion, ob die Qualitäten auf Quantitäten reduzierbar sind, ist bis heute relevant. Für die Naturwissenschaft um 1800 war diese Differenz jedoch keineswegs deutlich. Die neu entdeckten Energien – Magnetismus, Schwerkraft, Elektrizität – wurden ähnlich wie Licht und Wärme zunächst als Qualitäten wahrgenommen und erst in zweiter Linie quantitativ erfasst. So konnte die medizinische Dissertation des Franz Anton Mesmer 1766 nach dem Einfluss der Schwerkraft der Gestirne auf die Organismen fragen. Damit verband er die Vorstel-
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lung eines alles durchdringenden Fluidums, womit er an die neuplatonischen und hermetischen Denker der Renaissance anknüpfte. »Die höchste Form des All-Magnetismus strömt als Nervenfluidum in den als Röhren vorgestellten Nervenbahnen und belebt so die Körpermaschine« (Baier, 2012, Bd. 1, S. 187), wie Mesmer meinte. Krankheiten würden durch Störungen im Fluss dieses »animalischen Magnetismus« verursacht. Mesmer glaubte durch Handbewegungen, Berührungen etc., aber auch durch eine Gruppentherapie rund um einen mit »magnetisiertem Wasser« gefüllten Bottich – dem »Baquet« –, aus dem Eisenstangen ragten, mit denen die rundherum sitzenden Patienten durch Schnüre verbunden waren, diese »Störungen im Fluss« heilen zu können. Zu den Konzepten des Mesmerismus gehört die Vorstellung, dass »eine kosmische Energie, die auch den menschlichen Körper durchströmt und einen feinstofflichen bzw. energetischen Leib bildet«, existiere ebenso wie dass Krankheiten »auf Stauungen der feinstofflichen bzw. energetischen Ströme« zurückführen seien, die aufgelöst und harmonisiert werden (Baier, 2012, Bd. 1, S. 182). Mesmer betonte die Wichtigkeit des kathartischen Erlebnisses, was die Entwicklung von Psychotherapie und Körpertherapie ebenso wie Hypnose- und Autosuggestionsverfahren beeinflusste (Ellenberger, 1985; Gauld, 1992; Crabtree, 1993). Auch haben spätere Vertreter des Mesmerismus Berichte über yogische Praktiken ebenso wie die um 1800/1820 neu übersetzten »Upanishaden« – spekulativ-philosophische Texte aus der vedischen Überlieferung (ca. 800–200 v. Chr.) – mesmeristisch gedeutet (Baier, 2012, Bd. 1, S. 203–246). Etwa wurde das Sanskrit-Wort prāna (Lebensatem) gleichgesetzt mit dem »magnetischen Fluidum«. Durch Übersetzungen wurden mesmeristische Vorstellungen in der angloamerikanischen Welt bekannt und beeinflussten den amerikanischen Spiritismus ab 1840. Die Theosophische Gesellschaft, die 1875 gegründet, aus der spiritistischen Bewegung hervorging, übernahm die mesmeristische Yoga-Interpretation und brachte sie nach Indien. Von dort kam diese Interpretation über den hinduistischen Mönch und Gelehrten Vivekananda, der um 1890 in den USA Vorträge zum Yoga hielt, als indische Auffassung in den Westen (dazu Baier, 2012, Bd. 1, S. 291–426).
Das Reich des Unbewussten83
Das Reich des Unbewussten Eine ganz andere Geschichte verbindet den Mesmerismus mit der Freud’schen Psychoanalyse. Der schottische Arzt James Braid sah die »fixed attention« der Mesmer-Patienten als wirksames Element an und begründete darauf Hypnose als ärztliche Technik. In den 1880er Jahren wurde sie in Paris an der Klinik Hôpital de la Salpêtrière von Jean-Martin Charcot (1825–1893) zur Behandlung von Hysterie eingesetzt. In Paris wurde der junge Sigmund Freud mit der Hypnosetechnik bekannt und führte sie nach seiner Rückkehr in Wien in die ärztliche Welt ein. Wie Charcot verwendete auch Freud Hypnose zur Therapie von Hysterie, einer ausschließlich an Frauen diagnostizierten Erkrankung. Berühmt wurde der »Fall Anna O.«, dessen Namensgeberin von Freuds Freund Josef Breuer hypnotisch behandelt wurde. Freud lernte an diesem Fall, dass unbewusste schmerzhafte Erinnerungen sich im Körperlichen manifestieren. Gelänge es, das Unbewusste bewusst zu machen und den Affekt von der erinnerten Vorstellung zu trennen, könnte sich das Problem auflösen. Nicht alle Patienten ließen sich jedoch hypnotisieren, und so veränderte Freud die Methode und ließ seine Patienten frei assoziieren. In einem radikalen Selbstexperiment wandte Freud diese Methode bei sich selbst an. Dadurch und durch die Assoziationen seiner Patienten wurde ihm deutlich, dass das kindliche sexuelle Begehren und die aus der familiären Konstellation resultierenden Probleme damit – später sprach er von Ödipuskomplex – wesentlich für die Entwicklung der Persönlichkeit seien. Für sein Modell der Psyche orientierte sich Freud an den physiologischen und vor allem gehirnphysiologischen Erkenntnissen der Zeit und blieb in einem physikalischen Paradigma, auch wenn er »von der Seele her« arbeitete, wie er schrieb (Freud, 1890/2000, S. 156). Das Konzept des Unbewussten, das er in der Beobachtung hypnotischer Prozesse entwickelt hatte, sah er als das Verbindende zwischen Körper und Seele. Das Modell der Psyche, das Freud in der Traumdeutung (1900/1972) vorstellte, geht davon aus, »dass nur ein kleiner Teil des psychischen Geschehens bewusst, geordnet und zugänglich (ist); ein weit größerer, eben der unbewusste Teil, ist unzugänglich und unkontrollierbar. Beständig würden insbesondere alle Regungen, die Unlust
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verheißen, ins Unbewusste verdrängt, womit sie ebenfalls unzugänglich und unkontrollierbar würden, aber deshalb ihre psychische Wirksamkeit nicht verlieren« (List, 2009, S. 90). Um überleben zu können, müssten Menschen aber auf Lust verzichten, daher sei es notwendig, Triebimpulse zu kontrollieren sowie Phantasie und Realität auseinanderhalten zu können. Das Unbewusste jedoch könne nicht zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden, daher sei es wichtig, das Unbewusste bewusst zu machen. Freud differenzierte in der »Traumdeutung« zwischen Es, Ich und Über-Ich als den Bestandteilen des »psychischen Apparates«, die in ihren Leistungen sichtbar gemacht werden sollten (1900/1972). »So ist z. B. das ÜberIch zum Teil selbst unbewusste Instanz, die Triebwünsche, die aus dem Unbewussten kommen, zum Bewusstsein gelangen oder diese verwirft. Der Apparat besitzt auch die Fähigkeit, bestimmte psychische Energien zu übertragen oder umzuwandeln, seine wichtigste Aufgabe ist jedoch, das Energieniveau möglichst niedrig zu halten« (Hinterhuber, 2001, S. 142). Freuds Theorien, die offen über Sexualität und verdrängte Lust sprachen, waren im Österreich um 1900 skandalträchtig. In der feudalen Ordnung des Fin de siècle war die Macht der römisch-katholischen Kirche allgegenwärtig und vor allem Teil des monarchischen Herrschaftsapparates. Denn auch ein Jahrhundert nach der Französischen Revolution war von einem Ende der Allianz von Kirche und Staatsmacht in Österreich keine Rede. Religion war eine Form der Unterdrückung – und als solche analysierte sie Freud. Religion war für ihn ein Teil der Anstrengung der Psyche, sich mit den einengenden Bedingungen zu arrangieren und den Preis des Lustverzichts zu zahlen, den die Kultur verlangt. Die Gebote der Kultur zu verinnerlichen, sei eine der Aufgaben von Religion. Eine andere sei, den Menschen mit seiner Hilflosigkeit gegenüber der eigenen Endlichkeit, aber auch mit der Unterdrückung der Triebimpulse zu versöhnen. Beides seien illusionäre Projekte, die mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften auch zunehmend überflüssig würden, meinte Freud. Er schlug in »Die Zukunft einer Illusion« (1927) vor, Religion wie eine Neurose zu behandeln – und auf die »leise Stimme des Intellekts« in der Bewusstmachung zu vertrauen: »Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Ver-
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gleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet an sich nicht wenig« (Freud, 1927/1974, S. 186).
C. G. Jung: Individuation und kollektives Bewusstsein Unter Intellektuellen, vor allem aber in der medizinischen Fachwelt stießen Freuds Theorien auf Interesse. Der junge Schweizer Arzt Carl Gustav Jung (1875–1961) lernte Freuds Traumtheorie 1900 kennen und wurde zum begeisterten Freud-Leser. Das Konzept des Unbewussten und der Traumdeutung bot sich ihm an als Theorie, die Eigentätigkeit der Psyche in wissenschaftlichem Rahmen zu interpretieren. Jung war an Spiritismus und Okkultismus interessiert und sah in Freuds Theorien eine Möglichkeit, damit innerhalb seiner Tätigkeit als Psychiater umzugehen. In seinen wissenschaft lichen Publikationen vertrat Jung Freuds Thesen, was schließlich zu einem persönlichen Kontakt führte. Freud förderte den jüngeren Jung sehr, obwohl dieser den Freud’schen Libido-Begriff ablehnte, da er in der Betonung der Sexualität eine dogmatische Verengung sah. Freud wiederum hatte ein zwiespältiges Verhältnis zum Okkulten – er beteiligte sich an telepathischen Experimenten, doch sah er im Okkultismus eine »schwarze Schlammflut«, gegen die aufzutreten er Jung aufforderte (Jaffé, 1973/2015). Die Psychoanalyse wurde von Freud als »eine Art Jenseits der hellen, von unerbittlichen Gesetzen beherrschten Welt, die die Wissenschaft uns aufbaut« betrachtet (Jung, 1962, S. 155). In »Wandlungen und Symbole der Libido« (1912/2012) nahm Jung kritisch Abstand von Freuds sexuellem Libido-Konzept und interpretierte die Libido als »psychisches Streben«. Dies führte zum Bruch mit Freud. Jung sah wie Freud Träume als Königsweg zum Unbewussten, doch strukturierte er das Unbewusste anders und sah Träume nicht nur als Ausdruck sexueller Wünsche. Auch sollte bei ihm die Libido nicht wie bei Freud sublimiert und dann integriert werden. Sie lasse den Menschen vielmehr zu einer
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Integration der verschiedenen Aspekte der Seele zu einem Ganzen streben, so Jung. Diese »Individuation« inkludiert persönliche und nichtpersönlichen Schichten des Bewusstseins, die integriert werden sollten. Nicht von der persönlichen Geschichte eingefärbt ist nach Jung das »kollektive Bewusstein«, aus dem religiöse und kulturelle Symbole der Menschheitsgeschichte als archetypische Bilder des Individuationsprozesses aufsteigen. Das Ziel des Individuationsprozesses, in dem der persönliche Schatten, sowie »Anima« und »Animus« integriert werden, ist die Erfahrung des Selbst, die für Jung numinose Qualität hat »und durchschlagend persönlichkeitsverändernd« ist (von Franz, 1971, S. 29). Numinos erscheint das Selbst, weil es dabei um eine Erfahrung geht, die sowohl faszinierend als auch furchterregend ist. Dies ist eine Umschreibung des Heiligen, die von dem Religionswissenschaftler Rudolf Otto eingeführt und von Jung übernommen wurde. Das Selbst war für Jung die »Mitte der Persönlichkeit«, in der sich die Gegensätze vereinen. Es ist eine ungeschichtliche Dimension, für die Jung in allen Kulturen Symbole fand: Yin und Yang, Shiva und Shakti, Speer und Gral, Sonne und Mond, Hermaphrodit, »kosmischer Mensch«; aber auch Naturdinge wie Stein, Kugel, Tier, Baum (von Franz, 1971). Das Selbst sei ein Archetyp des Gottesbildes, so Jung, das sich im Besonderen in dem Symbol des Mandalas darstelle. »Unter diesem Begriff [des Mandalas; UB] fasst Jung eine Fülle von seelischen Bildern zusammen, welche alle dadurch ausgezeichnet sind, dass sie höchste Numinosität besitzen […]. Jung hat hierfür das aus der östlichen Philosophie entlehnte Wort ›Selbst‹ nur deshalb verwendet, um zu vermeiden, dass der Begriff mit historischen Assoziationen belastet wird« (S. 29 f.). Die Religion wanderte bei Jung vom Außen ins Innerpsychische, sodass für ihn die Psyche zu einer Bühne des Religiösen wurde. Dabei sah Jung im Unterschied zu Freud im analytischen Prozess mehr als die Bearbeitung von individuellen krankhaften oder krankmachenden Persönlichkeitsaspekten. Das Unbewusste war für Jung nicht nur der Ort verdrängter Lust- und Unlustimpulse, sondern auch ein Ort archetypischer Bilder, die den Menschen in Beschlag nehmen können, wovon der Individuationsprozess befreien soll: »Der Zweck der Individuation ist nun kein anderer, als das
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Selbst aus den falschen Hüllen der Persona einerseits und aus der Suggestivgewalt unbewußter Bilder andererseits zu befreien« (Jung, 1933/2014, S. 66). Das Ich war für Jung eine Funktion des Selbst: »Mit der Empfindung des Selbst als etwas Irrationalem, undefinierbar Seiendem, dem das Ich nicht entgegensteht und nicht unterworfen ist, sondern anhängt und um welches es gewissermaßen rotiert wie die Erde um die Sonne, ist das Ziel der Individuation erreicht […]. So ist das Selbst auch das Ziel des Lebens, denn es ist der völligste Ausdruck der Schicksalskombination, die man Individuum nennt, und nicht nur des einzelnen Menschen, sondern einer ganzen Gruppe, in der einer den anderen zum völligen Bilde ergänzt« (Jung, 1933/2014, S. 137). Jungs zeitweilige Nähe zum NS-Regime begründete sich wohl auch aus solchen Vorstellungen. Seine Analytische Psychologie ist eine psychologische Theorie, die sich der religiösen Bilder bedient, in denen Jung Symbole der Selbstwerdung erkannte. Damit setzte sich Jung ab von der medizinischen Orientierung Freuds. Jung steuerte einen »psychologischen Kommentar« zum »Bardo Thödol« bei, einem tibetischen Text aus dem 14. Jahrhundert, 1929 als »Tibetanisches Totenbuch« auf Deutsch erschienen (Rakow, 2008). Ebenso verfasste er ein Geleitwort für D. T. Suzukis Klassiker »Die große Befreiung«, der 1939 erstmals auf Deutsch herauskam. Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb er ein Vorwort zur englischen Übersetzung des chinesischen Orakelbuchs »Yi Ging« (Wilhelm, 1950, 1902/2011) und dem taoistischen Klassiker »Das Wahre Buch vom Goldenen Blütenland« (Zhuāngzˇı, 1912/2011). Damit trug er wesentlich dazu bei, dass nicht wenige Leute bis heute in Asien die Quellen alternativer Religiosität vermuteten. Mit den Eranos-Tagungen, die ab 1933 bis in die 1990er Jahre als Begegnung östlicher und westlicher Philosophie, Religion und Geistigkeit im schweizerischen Ascona stattfanden, bot sich ein Raum, in dem – ganz im Sinne C. G. Jungs – etwa der Islam wissenschaftler Henry Corbin, der Religionswissenschaftler Mircea Eliade oder der Judaist und Spezialist für jüdische Mystik Gershom Sholem, aber auch Naturwissenschaftler wie der Nobelpreisträger für Physik Wolfgang Pauli die »geistigen Kräften der Gegenwart« reflektieren konnten. Die gemeinsame Übereinkunft war: Religion
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ist nicht, was die Dogmatiker der verschiedenen Religionen sagen, sondern der persönliche spirituelle Weg zur religiösen Erfahrung. Man hat dies kritisch als religionsstiftend bezeichnet, als »Religion after Religion« (Wasserstrom, 1999). Die philosophische und psychologische Reflexion der klassischen spirituellen Wege auf den Eranos-Tagungen bot eine säkulare Grundlage für die Artikulation mystischer Erfahrung.
Ausblick: Adaptionen aus dem Buddhismus Der Einfluss der 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft auf die Entwicklungen der nachfolgenden Dekaden bis heute wird erst seit den letzten Jahrzehnten deutlicher wahrgenommen. Madame Blavatsky (eigentlich Helena Petrovna Blavatsky, 1831–1891) und Henry Steel Olcott (1832–1907) wollten auf diese Weise den Beginn einer universellen Bruderschaft der Menschheit begründen, in der die Unterschiede von Herkunft, Glaube, Geschlecht und Hautfarbe nicht relevant sein sollten. Sie suchten nach Verbindungen und Vergleichen zwischen Philosophie, Naturwissenschaften und Mystik; und sie unterstrichen die Wichtigkeit von Meditation und persönlicher spiritueller Erfahrung. Madame Blavatsky war eine Okkultistin und umstrittene Persönlichkeit. Ihre Schriften boten eine wilde Mischung aus eigenen Erfindungen und Bruchstücken religiöser Traditionen. Die Theosophen hatten nicht nur auf die künstlerische und intellektuelle Avantgarde der Moderne großen Einfluss. Sie unterstützten auch antikoloniale Bestrebungen in Asien. Das Selbstverständnis des Buddhismus als eine aufgeklärte Religion geht zum Gutteil auf die Schriften Olcotts zurück. Ebenso wichtig war der deutsch-amerikanische Freidenker und Publizist Paul Carus (1852–1919) und sein Einfluss auf D.T. Suzuki. Die Annahme, dass der Buddhismus eine Religion der Erfahrung, humanistisch und rational sei, ist Ergebnis dieses Transfers. Die humanistische und transpersonale Psychotherapie verdankt diesem modernisierten Buddhismus wesentliche Impulse, und auch die gegenwärtige neurophysiologische Erforschung von buddhistischer Meditationspraxis und ihre therapeutische Anwendung beruht auf dieser von den Theosophen angeregten Buddhismus-Rezeption.
Ausblick: Adaptionen aus dem Buddhismus89
In der gegenwärtigen Psychotherapielandschaft lassen sich in puncto Religion und Spiritualität mehrere Stränge unterscheiden: Zunächst gibt es einmal die klassische, religionskritische Sichtweise, die sich vor allem (aber nicht nur) gegen die etablierten Religions institutionen und deren tradierte Inhalte richtet und für die Seele kein Thema ist. Es gibt jedoch auch Psychotherapien, die mehr oder minder viele Anleihen aus meist modernisierten asiatischen Traditionen für ihre eigene selbständige Entwicklung genommen haben. Sie sehen das Verhältnis von Spiritualität und Psychotherapie zumeist unproblematisch oder in einem Naheverhältnis. Auch das Wort Seele ist kein Tabu, doch wird häufig auch von »Selbst«, »höheres Selbst«, »großem Selbst« usw. gesprochen. In verhaltenstherapeutischen Verfahren (ACT – Akzeptanz- und Commitmenttherapie, Compassion Focused Therapy) werden Methoden entwickelt, die den seit den 1960er Jahren verbreitete Meditationspraktiken vor allem des Buddhismus ähneln, auch wenn sie auf anderen Annahmen beruhen (Hayes, 2004). Der Fokus auf Achtsamkeit und Achtsamkeitsübungen, die aus dem Buddhismus übernommen wurden, spielt seit einigen Jahren in der Psychotherapie eine bedeutende Rolle, wobei der buddhistische Rahmen wenig bis keine Bedeutung mehr hat. Ob man dann noch von »Spiritualität« sprechen kann, oder doch besser von einer Säkularisierung von spirituellen Praktiken, ist nicht ausdiskutiert. Auch ist Spiritualität ein höchst vieldeutiger Begriff, der von »Begegnung mit höheren Mächten« (Hoffmann u. Heise, 2016) bis »Werte, die für mein Leben wichtig sind« (Taylor, 1996) ein breites Spektrum von Bedeutungen umfasst.
6 Wege im Wald der »großen Wörter« finden
Die Konfliktzonen zwischen »Glauben« und »Wissen«, zwischen »Sakralem« und »Profanem« gehören gewöhnlich nicht zum Terrain systemischen Beratens. Doch weltanschauliche Fragen und Konflikte um »große Wörter« (Lohfink, 1977) wie Glaube, Freiheit, Liebe usw. werden in den letzten Jahren immer öfter thematisiert. Religionssoziologen verweisen auf eine ganze Reihe von Faktoren der Veränderung, »auf die Ausprägung funktionaler Differenzierung in einer Gesellschaft, auf ihr Wohlstandsniveau und den Ausbau des sozialen Sicherungssystems, auf Prozesse der Individualisierung und des Wertewandels, auf den Grad weltanschaulich-religiöser Pluralität, die Gewährleistung existenzieller Sicherheit und materieller Gleichheit« (Pollack u. Rosta, 2015, S. 458), wodurch »große Wörter« wieder verstärkt in den Fokus rücken. Nicht zu vergessen ist der Einfluss der internationalen Politik, in der Religion seit den 1990er Jahren zum relevanten Faktor erklärt wurde. Global gesehen ist Religion als Thema nie verschwunden, denn in den meisten Gesellschaften außerhalb Europas spielt Religion im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle. Auch sei es vorschnell, von einem »Wiederaufleben« der Religion in Europa zu sprechen, merkt der Politikwissenschaftler José Casanova an (1996). Die Befreiung vom institutionellen Zwangscharakter der Religion heiße nicht, dass religiöse Praktiken überhaupt verschwänden. Doch die Emanzipation der europäischen Gesellschaften »von der Kontrolle durch religiöse Institutionen und Normen bleibt ein durchgängiger und für alle modernen Gesellschaften charakteristischer Trend« (Casanova, 1996, S. 184). Historisch hat sich mit der Ausdifferenzierung einer autonomen »weltlichen Sphäre« die Religion aus der Öffentlichkeit ins Private verlagert. Diese Trennung von Kirche und Staat ist eine entscheidende Errungenschaft der Moderne. Auch wenn die Religion ihre Rolle, durch ihre normative Funktion als Integrationsfaktor für die
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Gesellschaft zu dienen, ausgespielt hat, sind Religion und Spiritualität nicht passé als Ansprüche des Individuums auf Selbstverwirklichung und Partizipation. So werden an gesellschaftlichen Schnittstellen – in Schulen, Krankenhäusern, auf Friedhöfen oder auch vor Gericht – Fragen und Konflikte ausgehandelt, bei denen es um kulturelle und religiöse Werte und Vorstellungen geht, wobei Kultur und Religion selten trennscharf zu unterscheiden sind. Orte im öffentlichen Raum sind häufig Brennpunkte sozialer und existenzieller Krisen, und dies sind Situationen, in denen Weltanschauung, Religion und Spiritualität wichtig werden, da sie Halt und Identität geben; oft sind es Konflikte von Migranten mit in der Mehrheitsgesellschaft festgeschriebenen Verhältnissen. Ein Beispiel: In den Hindu-Traditionen ist es wichtig, den Verstorbenen rituell zu verbrennen, um so dessen Wohlergehen nach dem Tode zu sichern. Ein in Frankfurt lebender Hindu litt darunter, dass man seinem verstorbenen Kind eine Erdbestattung gegeben hatte – statt einer Feuerbestattung. Der Mann bekam psychische Probleme, da »die Seele des Kindes dem Vater keine Ruhe ließ«, wie er sagte (WolfAlmanasreh, 2000, S. 192). Die Probleme endeten erst, als das Kind exhumiert wurde und eine Feuerbestattung vollzogen werden konnte.
Nicht immer lassen sich Konflikte zwischen kulturellen, religiösen oder spirituellen Vorstellungswelten und den aus ihnen stammenden Bedürfnissen und Wünschen auf leichte Weise versöhnen. Wenn es um das Verhältnis der Geschlechter geht, sind Konflikte zwischen modernen europäischen Rechtsverhältnissen und den alten stammesrechtlichen und feudalen Vorstellungen, die sich in kulturelle und religiöse Traditionen eingeschrieben haben, vorprogrammiert. Das trifft zurzeit vor allem den Islam, doch gilt es auch für andere Religionen, die nicht im Fokus medialer Aufmerksamkeit stehen wie zum Beispiel Sikhs oder auch Hindus. Säkularität in Europa bedeutet, so der Philosoph Charles Taylor (2012), dass der Glaube nur eine Option unter mehreren ist. Das ist das Ergebnis eines Prozesses, der sich bis ins ausgehende Mittelalter zurückverfolgen lässt, »ein Wandel, der von einer Gesellschaft, in der es praktisch unmöglich war, nicht an Gott zu glauben, zu
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einer Gesellschaft führt, in der dieser Glaube auch für besonders religiöse Menschen nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist« (Taylor, 2012, S. 15). Religionen sind Lebensformen, die in einer demokratischen Gesellschaft ihren Platz haben müssen, da dies dem Anspruch aller Bürgerinnen und Bürger auf Gleichheit vor dem Recht entspricht, wie Jürgen Habermas, Philosoph einer aufgeklärten Moderne, in seiner Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 erklärte. In einer säkularen Gesellschaft seien auch Religionsgemeinschaften traditionellen Typs in den Diskurs mit einzubeziehen. Dies sei notwendig »für das Gelingen einer interkulturellen Verständigung über Grundsätze der politischen Gerechtigkeit für eine multikulturelle Weltgesellschaft« (Habermas, 2009b, S. 398). Doch setzt dies voraus, dass die Religionsgemeinschaften sich auf die »reflexive Verarbeitung von Grundtatsachen der Moderne« einlassen (S. 402) und ihre Begriffe so übersetzen, dass sie in einer säkularen Öffentlichkeit verständlich sind. Das ist manchmal schon intrasubjektiv nicht so einfach, wie das folgende Beispiel zeigt: Eine evangelische Pfarrerin sollte demnächst in Pension gehen. Einerseits freute sie sich auf die neue Freiheit, andererseits aber wusste sie nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Zwar hatte sie einen großen Familien- und Freundeskreis, wollte sich auch ehrenamtlich engagieren, doch konnte sie sich über die Aussicht auf einen weniger überfüllten Terminkalender nicht so recht freuen. Auf die Frage der Beraterin, was für sie ein gutes Ergebnis wäre, sagte sie: Gelassenheit im Körper und dass es für die »andere Stimme« auch stimmig ist, »denn ich habe ja einen Auftrag bekommen« – von Gott, wie sie auf Nachfrage sagte. Die Konstellation von Auftrag, ihr selbst und Ruhestand war eindeutig: sowohl ihr Stellvertreter als auch der »Ruhestand« blickten auf den »Auftrag«. Als sich der »Auftrag« neben »Ruhestand« und Fokus, also die Stellvertretung der Fragestellerin, stellte, war klar: die Qualität »Auftrag« geht nicht verloren. Der Vermittlungsprozess zwischen dem säkularen Aspekt »Ruhestand« und dem spirituellen Moment »Auftrag« war gelungen.7 7 Mündliche Mitteilung von Isolde Macho Wagner.
Wege im Wald der »großen Wörter« finden93
Wenn Weltanschauung, Religion und Spiritualität zum Thema systemischen Arbeitens gemacht werden, dann geschieht dies selbst dann, wenn es um familiäre oder andere private Kontexte geht, auf einem gesellschaftspolitischen Hintergrund. Manchmal mag dieser Hintergrund sogar Teil des Problems sein, doch immer gibt es gesellschaftspolitische und historisch gewachsene Rahmenbedingungen, unter denen über Fragen der Weltanschauung verhandelt wird. Das weltanschauliche Feld ist offen – familiäre Konstellationen, persönliche Erfahrungen und gesellschaftliche Voraussetzungen überschneiden und beeinflussen einander wechselseitig. Gottesbilder etwa sind, so die Psychoanalytikerin Ana Maria Rizutto (1979), nicht nur bestimmt durch offizielle Lehren, sondern viel mehr dadurch, wie die familiären Verhältnisse von der betreffenden Person verarbeitet werden konnten. Systemische Methoden haben den Vorzug, diese verschiedenen Ebenen mindestens potenziell miteinander in Verbindung bringen zu können. Dazu können verschiedene theoretische Unter- und Überbauten geliefert werden, da es zu systemischen Verfahren seit ihren Ursprüngen in der Familientherapie eine reiche Theoriebildung gibt. Vor allem ist das Prinzip der Viabilität hilfreich: »etwas wird als ›viabel‹ bezeichnet, solange es nicht mit etwaigen Beschränkungen oder Hindernissen in Konflikt gerät« (von Glasersfeld, 2015, S. 19). Ernst von Glasersfeld bringt als Beispiel einen blinden Wanderer, der zwischen den Baumstämmen hindurch seinen Weg zu einem Fluss jenseits des Waldes sucht. »Selbst wenn er tausendmal liefe und all die gewählten Wege in seinem Gedächtnis aufzeichnete, hätte er nicht ein Bild des Waldes, sondern ein Netz von Wegen, die zum gewünschten Ziel führen, eben weil sie die Bäume des Waldes erfolgreich vermeiden«(von Glasersfeld, 2015, S. 19). Geht es im beratenden oder therapeutischen Gespräch um die Welt im Ganzen, kann es ähnlich sein wie mit dem blinden Waldläufer: in vielen Bereichen »geht es«, nur an manchen Orten scheint es keine Wege zu geben. Systemisches Arbeiten ist lösungsorientiert, und sucht – um im Bild zu bleiben – nach Möglichkeiten, »den Weg« fortzusetzen und zum Ziel zu gelangen. Das Bild vom Weg und dem Ziel ist übrigens eine klassische religiöse bzw. spirituelle Metapher, die sich in allen Religionen findet.
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So passt es, die »Zehn Gebote des systemischen Denkens« (Simon, 2001, S. 113–116) hier zu zitieren: »1. Mache dir stets bewusst, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird! 2. Unterscheide stets das, was über ein Phänomen gesagt wird, von dem Phänomen, über das es gesagt wird! 3. Wenn du Informationen (be)schaffen willst, triff Unterscheidungen! 4. Trenne in deiner inneren Buchhaltung die Beschreibung beobachteter Phänomene von ihrer Erklärung und Bewertung! 5. Der Status quo bedarf immer der Erklärung! 6. Unterscheide Elemente, Systeme und Umwelten! 7. Betrachte soziale Systeme als Kommunikationssysteme, d. h., definiere ihre kleinsten Einheiten (Elemente) als Kommunikationen! 8. Denke daran, dass die Überlebenseinheit immer ein System mit seinen relevanten Umwelten ist! 9. Orientiere dein Handeln an repetitiven Mustern! 10. Betrachte Paradoxien und Ambivalenzen als normal und erwartet.«
Wenn es um Weltanschauungen, Religionen und Spiritualitäten geht, also um jene Metagebilde, an denen sich das Alltagshandeln orientiert und woraus es sich begründet, ist das Gebot, zwischen Phänomenen, Beschreibungen, Bewertungen zu trennen, von besonderer Brisanz. Ein charakteristischer Fall wäre das Kopftuch als vieldeutiges Zeichen, das religiöse Radikalisierung genauso wie Emanzipation signalisieren kann, und dessen Bewertung je nach Position unterschiedlich sein muss. Doch es sei daran erinnert, dass die radikale Relativierung der eigenen Position in religiösen Traditionen ihren festen Ort hat. Nach einer in allen Religionen verbreiteten Auffassung ist mit der Endlichkeit des Menschen auch die Grenze des Wissens und Sprechens über das Absolute gegeben, mit welchem Namen oder Begriff es auch immer benannt wird. Das ist nicht zuletzt der Logik geschuldet. Denn über den Begriff des Absoluten, jenen Begriff, unter den alles andere fällt, lässt sich nichts mehr aussagen, da jede Aussage selbst unter den Begriff fällt, über den sie etwas sagen will. Dies ist eine logische Interpretation der Position der Mystik
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oder einer – buddhistisch ausgedrückt – »überweltlichen Position« (lokutara). Als »Metawelten« oder »Weltbilder« entstehen Weltanschauungen, Religionen und Spiritualitäten aus Unterscheidungen. Nicht ohne Grund begegnet man in Schöpfungsgeschichten sehr häufig Prozessen des Unterscheidens, aus denen dann die Welt hervorgeht: hell – dunkel, Wasser – Land, Mann – Frau, Erde – Himmel, innen – außen etc. Unterscheidungen setzen Grenzziehungen voraus, die einen Raum abtrennen: »a universe comes into being when a space is severed or taken apart. The skin of a living organism cuts of an outside from an inside. So does the circumference of a circle in a plane« (Spencer-Brown, 1969, S. V). Unterschiede sind keine gegebenen Größen, sondern entstehen für einen Beobachter – und das heißt, dass Grenzziehungen eine Frage der Viabilität sind. Dies gilt zum Beispiel für die Grenze zwischen Geist und Körper, die in weltanschaulichen Diskussionen eine Rolle spielt. Gregory Bateson, einer der Väter der Systemtheorie, beschreibt dies an einem Beispiel: »Stellen Sie sich vor, ich bin blind, und ich benutze einen Stock. Ich mache tap, tap, tap. Wo fange ich an? Ist mein geistiges System an der Spitze des Stocks zu Ende? Ist es durch meine Haut begrenzt? Fängt es in der Mitte des Stocks an? Oder beginnt es an der Spitze des Stocks? Aber das sind alles unsinnige Fragen. Der Stock ist ein Weg, auf dem Umwandlungen von Unterschieden übertragen werden. Die richtige Weise, das System abzugrenzen, besteht darin, die Grenzlinie so zu ziehen, dass man keinen dieser Wege in einer Weise durchschneidet, die die Dinge unerklärbar macht« (Bateson, 1972, S. 590). Batesons Blinder mit Stock zeigt, dass es nicht möglich ist, das Innen vom Außen zu trennen. Zwischen der Wahrnehmung des Innen und des Außen gibt es nur einen intentionalen und sprachlichen Unterschied, der je nach Situation und Interesse gesetzt werden kann. Dabei, so Bateson, sollte man jedoch im Auge behalten, dass auch der Fokus der Wahrnehmung und des Interesses prozesshaft ist. »Wenn sich der Blinde aber hinsetzt, um zu essen, werden sein Stock und dessen Nachrichten nicht mehr relevant sein – sofern es das Essen ist, das man verstehen möchte« (S. 590). Die Innen-außenUnterscheidung ist nur in bestimmten Situationen relevant.
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Es ist also wesentlich eine Frage des Kontextes – des Rahmens – und der Motivation, welche Grenzziehungen (sprich: Unterscheidungen) relevant sind. Der Status quo ergibt sich aus Unterscheidungen, die selbstverständlich erscheinen, in dem sich bestimmte Fragen erst gar nicht stellen. Sie sind bereits entschieden und beantwortet »durch die Wahl des Rahmens, in den sie gestellt werden und durch die Wahl der Regeln, wie das, was wir ›die Frage‹ nennen, mit dem, was wir als ›Antwort‹ zulassen, verbunden wird« (von Foerster, 2015, S. 55). Der selbstverständliche Rahmen von Annahmen wird erst in Konfliktsituationen deutlich. Eine junge Israelin aus einer orthodoxen jüdischen Familie hatte immer geträumt, sie würde ein orthodoxes jüdisches Leben führen – mit Ehemann, Kindern und in Übereinstimmung mit den Regeln der Halacha für den Alltag. Doch als sie ihre wahre Liebe fand, war dies kein Mann, sondern eine Frau. Ihre Rahmenannahmen brachen zusammen, denn im orthodoxen Judentum ist Homosexualität verboten. Die staatliche Gesetzgebung in Israel diskriminiert Homosexualität jedoch nicht – und so geriet sie in einen Konflikt zwischen mehreren Grenzziehungen und Rahmenbedingungen: solche ihrer orthodoxen Herkunftsfamilie, der Gemeinde, der sie angehörte, auf der einen Seite; und solche des Staates, dessen Bürgerin sie war, auf der anderen Seite. Ihr persönlicher Weltanschauungskonflikt wurde plötzlich politisch (Rosner, 2016).
Immer, wenn es um »große Wörter« wie Freiheit, Leben, Gott, Liebe etc. geht, hat der private Konflikt auch eine politische, auf die Gesellschaft bezogene Seite. Diese Fragen sind nie durch Argumente oder logische Operationen zu entscheiden, daran sei an dieser Stelle noch einmal erinnert. Man könnte hier auch an den Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) denken, der als junger Mann 1931 nachweisen konnte, dass es in der Logik und Mathematik formal unentscheidbare Sätze gibt. Wenn selbst so starke Systeme wie die Arithmetik sich nicht selbst begründen können, wie Gödel zeigte, dann gilt dies auch für weltanschauliche Fragen – sie sind argumentativ unentscheidbar (von Foerster u. Pörksen, 1999, S. 159 f.). Entscheidbar
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allerdings ist, ob weltanschauliche Positionen Konflikte eskalieren lassen oder den Konflikt als Impuls für kreatives Wachstum nutzen, ob Kommunikation und Zusammenleben gelingen oder nicht. Ein Beispiel: Die engagierte Journalistin Sybille Hamann unterstützt eine syrische Flüchtlingsfamilie. Sie ist befreundet mit Fatima, die früher in Syrien Technikerin bei einer Telefonfirma war und ein eigenes großes Haus besaß. Fatima, die ganz selbstverständlich ein Kopftuch trägt, wird in Wien mit ihrer Familie in einem schwer sanierungsbedürftigen Haus in einer abgewohnten Wohnung untergebracht. Es ist Winter, immer wieder geht etwas kaputt, eine schwierige neue Situation nach der anderen, es ist Stress für alle. Sybille Hamann hat ein Tagebuch dieser Freundschaft aufgezeichnet. »Sie wünscht sich Folie, die sie auf die Fenster picken kann, damit sie in der Wohnung ihr Kopftuch abnehmen kann. Da reicht es. Nein, ich werde mich ganz sicher nicht dran beteiligen, Folien auf Fenster zu picken, um Frauen unsichtbar zu machen, sage ich. Ich zeige auf die Wintersonne, die durchs Fenster hereinscheint: Die ist für alle da, auch für uns, was soll das, sich vor der Welt zu verstecken? Schau mich an, verstecke ich mich? Und, bin ich etwa eine schlechte Frau? ›Sibila‹, sagt Fatima, als spreche sie zu einem begriffsstutzigen Kind, ›ich will zu Hause. Nur mit Familie.‹« Dann holt der Krieg in Syrien die Familie in Wien ein. Fatimas Bruder ist auf dem Marktplatz von Raqqa von der IS öffentlich hingerichtet worden. Die Fenster-Frage wird nicht mehr besprochen, die Freundschaft der beiden Frauen hält (Hamann, 2016).
Es geht um die Konvivenz, um das gute Zusammenleben. Die Bilanz der Religionen und Weltanschauungen in diesem Punkt ist durchaus gemischt, auch wenn alle Religionen die goldene Regel kennen. Gutes Zusammenleben ist auch kein Endergebnis, sondern ein Prozess des wechselseitigen Respektierens und Aushandelns zwischen verschiedenen Personen oder Gruppen.
7 Statt Kultur: Themenvorräte
Religion ist ein Teil von Kultur – und doch mehr. Die Trennlinien zwischen beiden Bereichen ist unscharf, und muss gerade deshalb mit Umsicht beachtet werden. Daher ist nicht nur, aber auch in den professionellen Kontexten von Therapie und Beratung ein Verständnis davon, dass »Kultur« ein Begriff mit einem breiten Bedeutungsspektrum ist, unerlässlich.
Kultur oder Kulturen? »Kultur« im Singular gebraucht steht für das, was als spezifisch menschlich gilt und Menschen miteinander verbindet. Erst im 19. Jahrhundert sprach man dann auch von »Kultur« im Plural, wobei Europa unter allen Kulturen als die höchstentwickelte Kultur galt. Zudem wurden innerhalb Europas auch nationale Kulturen unterschieden. Kulturen wurden bestimmt als von den Menschen selbst geschaffene Bedeutungswelten (Baecker, 2001, S. 90), die Menschen voneinander trennen. Kultur war nun alles, was dem Leben Sinn und Bedeutung gibt, nicht nur Sprache, sondern auch Kunst, Religion und Weltanschauung und im Weiteren auch alle Formen von Kommunikation. Gleichzeitig wurde Kultur aber auch eine relative Größe. Der deutsche Soziologe Max Weber (1864– 1920) bestimmte Kultur als »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber, 1968, S. 180). Ende des 20. Jahrhunderts wurde Kultur zum Kampfbegriff. Der »clash of civilizations«, der »Kampf der Kulturen«, den Samuel Huntington 1996 propagierte, stellte »unsere Kultur« – die westliche, amerikanische – gegen »die Kultur der Anderen«, damit meinte er in erster Linie Muslime, aber auch Konfuzianer und Buddhisten.
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Der Begriff »Kultur« fungiert stillschweigend oder auch explizit als »Dachbegriff« für Vergleiche (Luhmann, 1996, S. 295), mithilfe derer sich Menschen in der Komplexität der Welt orientieren. Vergleiche benötigen einen Referenz- oder Gesichtspunkt, von dem aus oder auf den hin man vergleicht. Diese Vergleichspunkte hängen von der Positionierung der Person ab, das heißt hier, von der Kultur, die diese Person für sich als relevant anerkennt. Niklas Luhmann (1927–1998) übernahm in diesem Zusammenhang das Konzept des »re-entry« von dem Logiker George Spencer Brown (1923–2016). Darunter wird der »Wiedereintritt eines Ausdrucks in den eigenen inneren Raum« verstanden (Schönwälder, Wille u. Hölscher, 2004, S. 176), wobei eine innere Differenzierung dieses Bereichs aufgrund einer Regel erfolgt. Aus Luhmanns Perspektive konstruiert in dieser rekursiven Operation das System den realen Unterschied zwischen sich und dem Außen virtuell in sich selbst. »Kultur« kann so gesehen nur in Bezug auf sich selbst differenziert werden: eine andere Kultur lässt sich nur im Unterschied zur eigenen Kultur bestimmen, aber es gibt keine Letztbegründung für »Kultur«. Wer Unterschiede einführt, bewegt sich in einem Hin und Her. Aus systemischer Sicht tritt der Prozess des Unterscheidens in den Vordergrund. Doch im alltäglichen Gebrauch von Kultur schwingt meist die Bewertung aus europäischer, »weißer« Sicht mit, wenn es um Religion, Kunst und Weltanschauung oder die Unterschiede zwischen fremden und vertrauten Formen der Kommunikation geht. Wer etwas als »Kultur« bestimmt, vergleicht, relativiert und beurteilt, stellte Luhmann fest (1995, S. 32, 41, 341). Dies habe »verheerende Folgen« (S. 341), denn das Vergleichen und Beurteilen des Anderen wirke wie ein Säurebad, ätzend. Luhmann entwickelte daher keinen systemischen Begriff von Kultur, stattdessen gab er der Kommunikation die tragende Rolle in sozialen Systemen. Unter Kommunikation verstand er nicht nur Sprache, sondern alle Formen auch non-verbaler Kommunikation.
»Themenvorrat« statt Kultur In einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft treten in der Kommunikation immer wieder ausgewählte Themen auf. Diese Alltagserfah-
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Statt Kultur: Themenvorräte
rung war Ausgangspunkt für Luhmanns Überlegung: »Die Themen werden nicht jeweils fallweise neu geschaffen, sind aber andererseits auch nicht durch die Sprache, etwa durch einen bestimmten Wortschatz, in ausreichender Prägnanz vorgegeben […]. Es wird demnach ein dazwischenliegendes, Interaktion und Sprache vermittelndes Erfordernis geben – eine Art Vorrat möglicher Themen, die für rasche und rasch verständliche Aufnahme in konkreten kommunikativen Prozessen bereitstehen« (Luhmann, 1987, 224 f.). Der Themenvorrat liefert die Semantik der Kommunikation, und damit wird, so Luhmann, »Kultur« fassbarer als »das, was uns die Begriffsund Ideengeschichte überliefert. Kultur ist kein notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion), die es ermöglicht, in themenbezogener Kommunikation passende und nichtpassende Beiträge oder auch korrekten oder inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden« (S. 224). Peter, der sich als Kavalier der alten Schule versteht, und Ines, die sich als emanzipierte, erfolgreiche Frau sieht, haben sich im Kaffeehaus getroffen. Nun brechen sie auf, und Peter fragt höflich: Darf ich Ihnen in den Mantel helfen? Und will nach dem Mantel greifen, den Ines jedoch schon vom Haken genommen hat.
Ob nun Peter Ines in den Mantel hilft oder Ines den Mantel allein anzieht – in der kurzen Szene wird nicht nur ihre Beziehung verhandelt, sondern auch ein gesellschaftlicher Wandel. Bis in die 1970er Jahre galt der Mann von Gesetzes wegen als Oberhaupt der Familie. Die Höflichkeit Frauen gegenüber war auch ein Ausdruck von Dominanz. Peters Angebot wäre unter dieser Voraussetzung ein passendes Kommunikationsangebot gewesen. In den 1970er Jahren änderte sich in den meisten Ländern Europas das Familienrecht und stellte Frauen und Männer gleich. In der kleinen Szene im Kaffeehaus ist nicht mehr klar, was eine passende und was eine nichtpassende Kommunikation ist. Die Frage der Modulierung der Beziehung von Peter und Ines gehört zu den Beobachtungen erster Ordnung. Zu den Beobachtungen zweiter Ordnung gehören das Thema »Geschlechterbeziehungen« ebenso wie der Prozess des gesellschaftlichen Wandels selbst (»Kulturwandel«), in dem nach der
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rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen Beziehungen neu aushandelt werden. Für Ines sind andere Themen passend und unpassend als für Peter, und so ist die Gestaltung der Beziehung Teil des gesellschaftlichen Kulturwandels. Ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft ist die Aufspaltung in unterschiedliche Segmente, in denen Personen unterschiedliche Funktionen haben und unterschiedliche Rollen spielen, die miteinander aber inhaltlich nicht verbunden sind. Es ist die körperliche Erscheinung der Person, die zum Beispiel die Rolle einer Mutter, einer Geschäftsfrau, des Mitglieds eines Gesangsvereins etc. verbindet. Die Themenvorräte fungieren als Knotenpunkte, die erlauben, dass Menschen miteinander in Kommunikation treten, ohne dass sie alle Segmente miteinander teilen. Peter und Ines arbeiten in demselben Büro, beide sind zuständig für die Lohnverrechnung. Wenn es um die Arbeitsabläufe geht, aber auch um die Bürokultur insgesamt, finden sie mühelos passende Themen, sodass ein Wort das andere gibt. Ines ist kinderlos und lebt mit ihrem langjährigen Freund zusammen, Peters Frau ist gestorben und seine Kinder sind bereits erwachsen. Das Subsystem familiäre Beziehungen bietet einige anschlussfähige Themenbereiche für beide, auch wenn Peter eine traditionelle Familienkultur pflegen möchte – die Familie kommt mindestens einmal im Monat zusammen; Ines sich dagegen um ihren Freundeskreis kümmert. Ines kommt aus einer kleinen Gemeinde auf dem Land, Peter aus der städtischen Mittelschicht. Manchmal ist Peter beim Mittagstisch irritiert über die Ungezwungenheit der Tischsitten von Ines, die ihrerseits Peter in dieser Situation als sehr steif empfindet. Einer stillschweigenden Übereinkunft folgend werden Umgangsformen von beiden nicht thematisiert. Nur selten – wie in der Eingangsszene im Kaffeehaus – ergeben sich Situationen, an denen unterschiedliche Kulturen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen miteinander interagieren. Kaum passende Themen und reibungsfreie Kommunikation gibt es zwischen beiden, wenn es um das Subsystem »Lebenssinn« geht. Ines ist engagiertes Mitglied in einer Kirchengemeinde, Peter dagegen ein begeisterter Fußballfan. Für Ines ist die Fußballkultur so fremd wie für Peter die Kultur einer Kirchengemeinde.
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Statt Kultur: Themenvorräte
Kultur oder die Themenvorräte, über die kommuniziert werden kann, bilden das Medium, das Menschen – »Bewusstseinssysteme« – und soziale Systeme verbindet. Weil Menschen aber gleichzeitig verschiedenen sozialen Systemen angehören, also Subsystemen der Gesellschaft (Familie, Büro, Religion, Sportverein etc.), gibt es verschiedene Themenvorräte, die miteinander in Resonanz treten (Rosa, 2016), die sich zueinander neutral verhalten oder aber miteinander in Konflikt geraten können. Das hat zur Folge, dass etwa eine Europäerin, die in einer Großstadt lebt, studiert hat und in einer großen Firma arbeitet, mit einer Inderin oder Afrikanerin, die ebenfalls in einer Großstadt lebt und studiert hat, mehr gemeinsame Themen hat als dieselbe Europäerin mit einer Bäuerin aus einer ländlichen Region ihres Heimatlandes. Auch können sich Themenvorräte zeitlich verändern: etwa werden in der Kriegs- und Nachkriegsgeneration Themen als passend in die Kommunikation eingebracht, die für die Generationen der nach 1960 Geborenen unpassend erscheinen. Themenvorräte sind keine ein für allemal festgeschriebenen Größen, sondern variabel. Trotzdem ist für die Teilnehmer einer Kommunikationssituation erkennbar, ob es eine passende oder unpassende Form der Kommunikation ist, wobei der Fokus von den Themenvorräten auf die Kommunikation verlagert wird. Wer dagegen Kultur als eine normative Größe bestimmt, sozusagen als »Wesen« oder »Essenz« einer bestimmten Personengruppe, negiert ihre zeitliche Veränderbarkeit und zugleich ihren kommunikativen Charakter. »Kultur stellt einen (zeitlich gesehen durchaus variablen) Themenvorrat dar, aus dem jeweils den Anforderungen und Eigenlogiken eines Subsystems entsprechend eine spezifische Auswahl vorgenommen wird, die Eigenheiten und Schnittmengen mit einem anderen Subsystem aufweist« (Willems, 2011, S. 51). Zu Kultur gehört nicht nur die Kommunikation über Themen, sondern auch der Niederschlag der Kommunikation in Form von Artefakten, zu denen Luhmann nicht nur Texte, sondern auch Gegenstände wie zum Beispiel einen Kochtopf zählte: »So sind Töpfe zunächst einmal Töpfe mit ihrer spezifischen Zweckdienlichkeit; dann aber auch Dokumente einer bestimmten Kultur und Anhaltspunkt für einen Kulturvergleich« (Luhmann, 1996, S. 300). Europäische Töpfe haben beispielsweise fast immer einen flachen Boden,
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angepasst an die flachen Kochplatten. Indische Kochtöpfe dagegen, die häufig über offenem Feuer stehen – auf Gaskochern oder kleinen Feuerstellen – haben oft einen gewölbten Boden. Unterschiedliche Kommunikationsformen entsprechen unterschiedlichen Formen der Artefakte, weshalb zum Beispiel die beim Kochen nötigen Handgriffe die Form des Gegenstands, z. B. des Topfes, bestimmen, auch wenn dessen Funktion dieselbe bleibt. »Einen Kochtopf fürs Essenkochen benützen« ist eine Beschreibung erster Ebene. Die spezielle Form wird hier nicht reflektiert, außer es tritt eine Störung ein. Wenn etwa jemand aus Indien einen Topf mit gewölbtem Boden mitgebracht hat, der auf dem Induktionsherd nicht funktioniert, dann wird ein Unterschied wahrgenommen, und ein Vergleich angestellt, der sich in diesem Fall – vermittelt auch durch die geographische Herkunft – als »kulturell« und Beschreibung zweiter Ebene bezeichnen lässt. Ein anderes Beispiel sind Begrüßungsformen. Auf einer Reise durch Tibet betritt Anna zusammen mit ihrem Freund auf einem Markt das Zelt eines Verkäufers. Wie der Reiseführer empfiehlt, grüßen sie mit »tashi delek«. Der Mann sitzt und liest, hebt den Kopf, als er die Eintretenden grüßen hört. Er lächelt, öffnet den Mund und streckt die Zunge so weit wie nur möglich heraus. Trotz einschlägiger Vorbereitung auf die Reise sind Anna und ihr Begleiter zunächst völlig sprachlos und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Daher verbeugen sie sich höflich tief, sodass über die Sprachgrenzen hinweg ein Austausch von Gesten zustande kommt.
In der europäischen Welt ist es strikt verpönt die Zunge heraus zustrecken, da dies als Ausdruck von Missachtung gilt. In Tibet dagegen ist es ein Ausdruck großer Hochachtung, jemanden durch Herausstrecken der Zunge zu begrüßen. Es wäre eine passende Form der Kommunikation gewesen, selbst die Zunge herauszustrecken. Da dies aber durch erlernte Höflichkeitsformen – auch diese sind Teil der Themenvorräte – als unpassende und zu Konflikten führende Kommunikation gilt, bringen Anna und ihr Freund es nicht fertig, ihrerseits die Zunge höflich herauszustrecken. Stattdessen nehmen
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Statt Kultur: Themenvorräte
sie Zuflucht zu einer ihnen angemessen scheinenden Form der Kommunikation, der Verbeugung. Dies wird von ihrem tibetischen Gegenüber verstanden als Versuch einer passenden Kommunikation. Zu sagen, dass es zur Kultur der Tibeter gehört, bei einer Begrüßung die Zunge herauszustrecken, friert die Situation in einer essentialischen Beschreibung ein. Das mag der Versuch einer Anerkennung sein, ist aber zugleich eine Distanzierung der angebotenen Kommunikation. Das Augenmerk stattdessen auf das Kommunikationgeschehen – hier die Begrüßung – zu richten, erlaubt, die Beziehung weiterzuführen und sich z. B. zu verbeugen. In dieser Situation müssen beide Seiten in der Lage sein, die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung einnehmen zu können, d. h., idealerweise können sie auf erster Ebene anerkennen, dass es ein beiderseitiger Versuch der Kommunikation ist, und auf einer zweiten Ebene die Unterschiede wahrnehmen und anerkennen. Im Kontext von Beratung und Therapie bedeutet dies, dass der Fokus nicht auf bestimmten kulturellen, religiösen oder spirituellen Formen und Inhalten liegen sollte – etwa dem Tragen eines religiösen Symbols wie ein Anhänger mit Kreuz, Davidsstern, dem Namen »Allah« in arabischer Schrift oder einem zoroastrischen Faravahar (wörtlich: einer der fliegt), usw. – sondern auf dem Kommunikationsgeschehen, in dem dieses Zeichen verortet ist. Menschen essentialistisch auf eine bestimmte kulturelle oder religiöse Zugehörigkeit festzulegen, zerstört Kommunikation durch das Säurebad der Bewertung.
8 Religion, dekonstruiert
Wenn es um Religion geht, stehen existenzielle Fragen im Mittelpunkt, auch gesellschaftliche Regelungen, Normen und Tabus. Dies sind Themenvorräte des Feldes »Religion«, aber auch der Felder »Weltanschauung« und »Spiritualität«, da alle diese Felder Orientierungswissen beinhalten. Religionen haben übergreifende Bedeutungssysteme für Gesellschaften geschaffen und sind zugleich in ihren Erscheinungsformen das Ergebnis dieser Bedeutungssysteme. Doch scheint es heute kein einheitliches, übergreifendes Bedeutungssystem in den europäischen Gesellschaften mehr zu geben, abgesehen von Vorgaben administrativer und ökonomischer Art. Strukturen einer »civil religion« ähnlich der Zivilreligion in den USA8 sind für Europa derzeit nicht erkennbar. Wenn daher hier die Rede von »Religion« und »Religionen« ist, dann in paradigmatischer Weise. Zudem gilt vieles, was über Religionen gesagt wird, auch für Spiritualitäten, die sich nur in konkreten symbolischen Sinnwelten der Religionen artikulieren können. Wie symbolische Sinnwelten entstehen, lässt sich mit einer Geschichte des indischen Jesuiten und spirituellen Lehrers Anthony de Mello (1931–1987) ironisch illustrieren. Es ist die Geschichte der Ashram-Katze. Ein Ashram entsteht als eine Art Kloster um einen spirituellen Lehrer, einen Guru. Und immer, wenn der Guru für seine Schüler einen Vortrag hielt, legte sich die Katze zu seinen Füßen und blieb dort bis zum Ende des Vortrags liegen. Als die Katze starb, wurde eine Nachfolgerin für sie 8 Der US-amerikanische Soziologe Robert N. Bellah prägte den Begriff der »Civil Religion« 1967 in seinem Aufsatz »Civil Religion in America«. Darunter versteht er minimale religiöse Einstellungen, die von allen Bürgern geteilt werden und durch nationale Symbole (wie z. B. die Fahne) ausgedrückt werden.
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Religion, dekonstruiert
gesucht, die es ebenso machte. Dann starb auch der Guru. Sein Nachfolger sorgte dafür, dass immer, wenn er einen Vortrag hielt, eine Katze zu seinen Füßen lag. Schließlich begannen aufgeweckte Köpfe unter seinen Anhängern eine Theorie zu basteln, die belegte, dass die Anwesenheit der Katze zwingend notwendig für den spirituellen Erfolg des Vortrags sei (de Mello,1984). Man kann sich die Geschichte weiter ausmalen: dass es dann auch bildliche Darstellungen der Katze geben könnte, selbstverständlich auch spezielle Rituale, um sie zum Vortrag zu bringen, was nur ganz besonders fortgeschrittene Schüler übernehmen könnten etc.
Dieses Beispiel soll vor allem zeigen, dass Religionen keine statischen Gebilde sind, sondern sich verändernde Systeme. Die Geschichte dieser Veränderungen bleibt dem System jedoch eingeschrieben, und vergangene Positionen können aktualisiert werden, wenn es die Situation erfordert. So können sich zum Beispiel christliche Traditionen auf die Praxis des frühen Christentums beziehen, um Neuerungen zu begründen, wie es in der Liturgiereform der römisch-katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) geschehen ist, die unter anderem auf Überlieferungen aus der Frühzeit des Christentums zurückgriff, sodass der Priester heute wieder mit dem Gesicht zur Gemeinde steht. Diese Reform wurde von Gruppen, die an den kirchenrechtlichen Festschreibungen des 16. Jahrhunderts festhalten wollten, kritisiert. Es kam zu Abspaltungen von der römisch-katholischen Kirche und bis heute gibt es Kritik und Ablehnung. Religionen sind »symbolische Sinnwelten«, in denen komplexe, oft über Generationen entwickelte Geschichten erzählt werden, die legitimieren, wie es in einer Gesellschaft zugeht oder auch zugehen sollte (Berger u. Luckmann, 1980, S. 112). Teil der symbolischen Sinnwelten sind unter anderem Mythen und Legenden, aber auch Sprichwörter; ebenso können philosophische Reflexion und Gedankengebäude Teil einer symbolischen Sinnwelt sein. In den sogenannten »Buchreligionen« bilden diese reflexiven Formen – als Theologie oder, im Falle des Buddhismus, auf die buddhistische Lehre bezogene Erkenntnistheorien und Ontologien – einen bedeutenden Teil symbolischer Sinnwelten. Es gehören aber auch Rechtstheorien in
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diesen Bereich, ebenso ästhetische Ausdrucksformen wie Rituale, Gesänge oder auch eigenständige Kunstwerke. Symbolische Sinnwelten sind keine kohärenten, widerspruchsfreien Systeme, sondern entstehen und verändern sich im Laufe der Zeit. Wenn sich die Verhältnisse in der Gesellschaft ändern, dann ändert sich auch die symbolische Sinnwelt. Dann braucht es oft zusätzliche stützende Annahmen, etwa neue Geschichten, damit die Legitimation des Status quo aufrecht gehalten werden kann. Manchmal führt das zu Unstimmigkeiten und Streit und zu neuen Gruppenbildungen, sprich: zu neuen Religionen. Dabei geht es nie ausschließlich um Fragen der symbolischen Sinnwelt. Es sind sehr komplexe Geschichten, in denen Politik und Wirtschaft eine entscheidende Rolle spielen. Ein gutes Beispiel dafür bieten die Ereignisse der Reformation. Dass aus Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel der Protestantismus wurde, lag nicht zuletzt daran, dass sich Reichsfürsten und Reichsstände damit gegen den katholischen Kaiser positionieren konnten.
»Faith« und kumulative Traditionen Der Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith schlug vor zu unterscheiden zwischen: ȤȤ Religion als persönliche Religiosität (»faith«: z. B. »er ist heute religiöser als vor zehn Jahren«), ȤȤ Religion als System von Glaubensinhalten, Praktiken und Werten einer bestimmten Gruppe, die sich als die geschichtliche Manifestation einer idealen Religion versteht (»das wahre Christentum«), ȤȤ Religion als System von Glaubensinhalten, Praktiken und Werten einer bestimmten Gemeinschaft, die als empirisches Phänomen auf ihre sozialen und historischen Bezüge betrachtet wird (»die christlichen Kirchen«), ȤȤ Religion als allgemeiner Ausdruck (Smith, 1962, S. 48–49). Religionen können auch als Anhäufungen von verschiedenen legitimierenden Geschichten gesehen werden, die nicht logisch miteinander verknüpft sind, sondern in einem assoziativen Verhältnis stehen. Smith nannte dies eine »kumulative Tradition«. Demnach
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Religion, dekonstruiert
gleichen Religionen eher großen Bricolagen, Sinnbasteleien, die sich den Veränderungen der Verhältnisse durch Hinzufügen und Weglassen anpassen. Eine solche historisierende Sichtweise steht in Widerspruch zu der unveränderlichen Wahrheit, die alle Religionen für sich beanspruchen. Deshalb gibt es in jeder religiösen Tradition argumentative Strategien, die den Widerspruch zwischen historischem Wandel und überzeitlichem Wahrheitsanspruch legitimieren sollen. Mit anderen Worten: Die Geschichten, die erzählt werden (nicht nur im religiösen Bereich), verändern sich nach den Erfordernissen der Zeit. Der Philosoph und Historiker Kurt Flasch hat in seiner Geschichte des Teufels (2015) gezeigt, wie dessen Gestalt in der europäischen Geschichte stets den Umständen angepasst wurde. Im Mittelalter war der Teufel ein Garant der gesellschaftlichen Ordnung, der nicht nur jene strafte, die sich gegen die hierarchischen Verhältnisse vergingen, sondern auch jene, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität außer Acht ließen. Der Teufel strafte also sowohl die Herrschenden wie die Beherrschten. Dann aber konnte der Teufel auch zur Legitimation der Sanktionierung von ganzen Gruppen dienen. So brauchten die zerstrittenen Theologen der Reformation und Gegenreformation den Teufel, um den jeweils Anderen – Katholiken oder Protestanten – zum »Gottesfeind« zu machen. In der Neuzeit und bis heute sind »die Teufel« vor allem die ausgeschlossenen »Anderen«: die besiegten Türken vor Wien, die Juden, die Kommunisten, die Nazis etc. (Flasch, 2015, S. 45 ff.). Nach W. C. Smith (1962) kann man die Geschichte des Teufels als ein Beispiel für Religion als empirisch erfassbare Geschichte einer bestimmten Gruppe lesen, hier der europäischen Christen. Diese empirischen sozialhistorischen und kulturgeschichtlichen Befunde wären allerdings für eine Gruppe junger Satanisten irgendwo in Mitteleuropa unerheblich. Für sie zählt, was sie selbst in ihrer Gruppe für richtig halten. Ihre Gemeinschaft wäre für sie wohl die Verwirklichung einer idealen Vorstellung – in diesem Fall des Teufels –, und aus der »kumulativen Tradition« über diese Gestalt können sie nehmen, was ihnen relevant erscheint. Vermutlich hielten sie die für ihre Gruppe wichtigen Vorstellungen für wahr. W. C. Smith sprach in diesem Fall von »belief«, einem Für-wahr-Halten von Vorstellungen. Davon zu unterscheiden ist nach W. C. Smith »faith«, Glaube im Sinn
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von Vertrauen, der sich in einer persönlichen religiösen Haltung zeigt (»sie ist heute mehr oder weniger religiös als vor zehn Jahren«). Wenn sich jemand bei einer Diskussion über das Kopftuch über »die Religion« erhitzt, und damit pauschal Judentum, Christentum, Islam etc. meint, dann ist keine dieser aufgeführten Bedeutungen von Religion gemeint. In einer solchen Diskussion über Religion im Allgemeinen könnte eine Diskussionsteilnehmerin darauf hinweisen, dass in Europa bis vor wenigen Jahren vor allem in ländlichen Gebieten Frauen beim Kirchgang, aber auch sonst Kopftücher und andere Kopfbedeckungen trugen und dazu durchs Brauchtum stillschweigend verpflichtet waren. Damit wäre die Diskussion im Themenvorrat »Frauen, Frauenrechte« verortet. Zudem wäre es ein Hinweis auf Religion als empirische soziale Größe. Jemand anders könnte darauf hinweisen, dass ja im Koran stehe, dass Frauen Kopfbedeckungen zu tragen haben, und jemand anderer könnte dagegen halten, dass der Koran nur verlange, dezent bekleidet zu sein, und die Verschleierung aus der vorislamischen persischen Hoftradition komme. Die eine Sprecherin würde auf Religion als »Verwirklichung eines Ideals« hinweisen, die andere auf die empirischen historischen Formen und Bedingungen religiöser Gruppen. Eine junge muslimische Akademikerin könnte der ganzen Diskussion einigermaßen erstaunt zuhören und feststellen, dass es ihr persönlicher Glaube (»faith«) sei, der sie veranlasse, ein Kopftuch zu tragen – oder auch nicht, was auf ihrer eigenen Erfahrung und Entscheidung beruht. Religion ist zudem einerseits eine persönliche und existenzielle Angelegenheit, andererseits aber auch eine soziale, ökonomische und politische Größe. So wird sowohl die Erfahrung der jungen muslimischen Akademikerin als auch ihre Entscheidung, ein Kopftuch zu tragen oder auch nicht von ihrer Situation abhängen – ob sie und ihre Familie zum Beispiel aus einem städtischen Milieu in Südafrika oder den USA kommt oder aus einem ländlichen, sehr traditionellen Umfeld in der Türkei oder Pakistan etc. Es ist hilfreich zu unterscheiden, in welchem Sinn von Religion gesprochen wird. Nur so kann in persönlichen und gesellschaftlichen Konflikten und Krisen auseinander gehalten werden, was normative Vorgaben mit Blick auf ein Ideal, was historische Fragen des Entstehens und was persönliche Haltungen und Erfahrungen sind.
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Religion, dekonstruiert
Da es in allen Religionen immer unterschiedliche Erzähl- und Interpretationstraditionen gibt, besteht auch immer die Möglichkeit, innerhalb einer Tradition eine neue religiöse Tradition zu begründen. Beispiele für solche Innovationen und Konversionsmöglichkeiten innerhalb einer Tradition gibt es viele. Ein institutionelles Beispiel sind die Quäker, eine christliche Gemeinschaft, die im 17. Jahrhundert aus einer damals breiten Oppositionsbewegung in England gegen die Verbindung von Kirche und Staat entstand und bis heute besteht. Der Begründer, George Fox, lehrte unter Berufung auf die Bibel, dass Gott nicht in Kirchen, Institutionen und Ritualen lebt, sondern in den Menschen oder auch der Natur. Man solle der »inneren Stimme« folgen statt einer Auslegung der Bibel durch Kleriker.
Man muss dem englischen Religionswissenschaftler Talal Asad rechtgeben, wenn er mahnt, darauf zu achten, in welcher Weise über die verschiedenen Formen religiöser Erfahrung, über Verhalten, Texte, Lieder, Bilder, Zeiten, Räume, Beziehungen, Kräfte usw. gesprochen wird: »Wenn man die Zentralität von ›Gott‹ betont, schließt man Buddhismus aus; betont man die Zentralität von ›Transzendenz‹, schließt man die Immanenz aus, betont man die Zentralität des ›Glaubens‹, schließt man Praktiken ohne Glauben aus. Und diese Definitionen sind keine rein abstrakten intellektuellen Übungen. Sie sind eingebettet in leidenschaftliche soziale Dispute, zu denen das Gesetz des Staates ein Urteil abgibt« (Asad, 2001, S. 220). Bei jeder Definition von Religion ist daher darauf zu achten, sagt Asad, was in die Definition ein- und was ausgeschlossen wird, wie, für wen, zu welchem Zweck und zu welcher Zeit solche Definitionen gemacht werden (S. 220).
»Dichte Beschreibungen« Ist das Tragen des Kopftuchs bereits Religion? Oder Kultur? Oder beides? Wer Religion als Teil von Kultur definiert, betont den sozialen, ökonomischen, politischen Aspekt von Religion. Oft wird dabei übersehen, dass es auch um persönliche Erfahrungen und Bezüge
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geht. Ein bemerkenswerter Versuch, Religion als Teil von Kultur zu fassen, ohne diese persönlichen Bereiche auszugrenzen, stammt von dem Ethnologen Clifford Geertz (1926–2006; 1987). Er wollte keine Definition von Religion geben, um den Anschein »objektiver Erkenntnis« der Lebenswelt anderer Menschen zu vermeiden. Die Strukturen und Vorstellungen, die einzelne Menschen und Menschengruppen in ihren Kontexten bestimmen, seien zu vielfältig und »ausgefranst«, zudem würden Beschreibungen immer von der Perspektive des Beobachters abhängen. Durch einen funktionalistischen Zugang durch »dichte Beschreibungen« dagegen können möglichst viele Facetten eines Phänomens erfasst werden, so Geertz, jedoch ohne abschließende Einordnung in das System des Beobachters (1987). Fürs Alltagswissen, den Common Sense, geht es, so Geertz, um die Realitäten des täglichen Lebens; die Wissenschaft stellt Hypothesen auf und sucht sie zu bewahrheiten, die Kunst erzeugt »eine Aura des Scheins und der Illusion« (Geertz, 1987, S. 77). Religion geht es schließlich um die »umfassenderen Realitäten« und deren Anerkennung als »wirklich wirklich« (S. 77). Im Unterschied zur Kunst löst sie sich nicht vom Faktischen und Alltäglichen, sondern es wird, schreibt Geertz, »das Interesse am Faktischen vertieft und eine Aura vollkommener Wirklichkeit zu schaffen versucht« (S. 77). Wenn der Kassierer eines indischen Supermarkts am Morgen, wenn er seinen Arbeitsplatz abgestaubt und die Bleistifte in Reih und Glied gelegt hat, ein Räucherstäbchen anbrennt und über der Kasse schwenkt, bevor er sich der ersten Kundschaft zuwendet, dann holt er den Segen der Gottheit in den unmittelbaren Alltag und die symbolische Handlung des kleinen Rituals verbindet den Arbeitsplatz mit den Kräften des Kosmos. Das traditionelle Tischgebet oder der kurze Seufzer »In Gottes Namen, gehen wirs an« sind ähnliche Formen, den Alltag direkt mit »umfassenderen Realitäten« zu verbinden.
Geertz verstand Religion als »(1) ein Symbolsystem, das darauf zielt (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen
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mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen« (Geertz, 1987, S. 48). In Ritualen verbinden sich diese verschiedenen Aspekte zu einem Vollzug, der seinerseits Wirklichkeit schafft. Geertz’ Definition beschreibt Religion als ein komplexes Geschehen, in dem Bedeutungen sich so überzeugend mit Emotionen und Stimmungen verbinden, dass Menschen motiviert sind, so zu handeln, wie dies die Verbindung von Gefühlen und Stimmungen nahelegt. Wenn der indische Kassierer das Räucherstäbchen über der Kasse schwenkt, ist er sich der Zuwendung der Gottheit sicher. Er tut es nicht hypothetisch, sondern für ihn wie für seine Eltern, Großeltern und Geschwister ist die Beziehung zur Gottheit real und wichtig, deren Geschichten ihm seit der Kindheit erzählt wurden. Sein soziales System sieht rituelle Handlungen als eine Form des Austauschs, um sich der Wirksamkeit der Gottheit zu versichern. Das kleine Ritual vollzieht er mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der jemand am Wochenende den Rasen mäht oder das Auto wäscht. Eine »dichte Beschreibung« nach Geertz ermöglicht zu zeigen, was geschieht, wenn sich durch Änderung des Kontexts einzelne Faktoren eines Systems »Religion« verändern. In diese Analyse sind politische Kontexte von Religion inkludiert; etwa könnte man an den Großen Liturgien der russisch-orthodoxen Staatskirche sehen, wie Religion und Nationalismus ein Amalgam bilden. Ein historisches Beispiel – die Geschichte der Herz-Jesu-Verehrung – soll deutlich machen, wie sich die verschiedenen Aspekte bedingen und verflechten. Das Motiv stammt aus dem Neuen Testament, aus dem Johannesevangelium, in dem erzählt wird, dass die Soldaten den gekreuzigten Jesus mit einer Lanze ins Herz stechen, um sicher zu sein, dass er tot ist. Das Bild eines geöffneten Herzens, aus dem Blut und Wasser strömt, wurde für die mittelalterlichen Mystikerinnen zum Bild der ausfließenden Liebe Gottes, ein Bild der Zuwendung und der Beziehung von Herz zu Herz. Fast vier Jahrhunderte später, unter dem Vorzeichen der Gegenreformation, wurde das »Herz Jesu« zum Gegenstand eigener Verehrung und Rituale. In Visionen wurde der Salesianerin Margareta Maria Alacoque (1647–1690) aufgetragen, das »Herz Jesu« besonders zu verehren. Die Verehrung hatte zunächst privat zu geschehen, da die kirchli-
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che Obrigkeit keine neuen Formen von Frömmigkeit zuließ. Doch noch zu Alacoques Lebzeiten führten Jesuiten, als Hauptakteure der Gegenreformation, Herz-Jesu-Andachten als neue Form der Volksfrömmigkeit ein. 1765 wurde das Herz-Jesu-Fest nach institutionellen Widerständen offiziell vom Papst bestätigt. Aus dem einfachen Emblem des Herzens, wie es die Salesianerinnen als Meditationsbild nutzten, wurde die Darstellung eines fleischigen Organs, das ganz unanatomisch in der Mitte des oberen Brustkorbs platziert wurde: das Herz als Sitz der Affekte und Zentrum der Person. Gleichzeitig gab es eine Veränderung der Stimmung: die mittelalterlichen deutschen Mystikerinnen ebenso wie die Salesianerin Margareta Maria Alacoque sprachen von einer intimen Herzensbeziehung zu Jesus. Im Kontext der Sündentheologie des 18. Jahrhunderts trat jedoch an die Stelle der innigen Beziehung eine Ökonomie der Buße – das »Herz Jesu« sollte als Kompensation für die Sünden der Menschen verehrt werden. Als 1796 die napoleonischen Truppen in Richtung Tirol marschierten, traf dies die Tiroler überrascht und unvorbereitet. In dieser Notsituation gelobten die geistlichen Führer der Tiroler, das Land Tirol dem Herzen Jesu zu weihen, um sich gegen die anrückenden Franzosen den Beistand Gottes zu sichern, denn sie glaubten, die Herz-JesuVerehrung könne sie vor dem Bösen und dem Übel schützen. Das Gelöbnis von damals wird bis heute alljährlich am dritten Sonntag nach Pfingsten erneuert. Zu dieser Zeit brennen in Tirol auf den Bergen Herz-Jesu-Feuer. Auf den Hemden und Hosenträgern der Schützenkompanien, die zu diesem Fest aufmarschieren, findet sich eingestickt »IHS«, das Jesussymbol. Das Fest ist heute eine Selbstdarstellung und ein Sich-Versichern von Tiroler Identität, aber auch eine touristische Attraktion, also ein Beitrag zur Ökonomie Tirols. Doch gleichzeitig ist die Herz-Jesu-Frömmigkeit auch lebendig.
Das Symbol des geöffneten Herzens spricht von der geistlichen Intimität der Mystikerinnen genauso wie von der Vorstellung, für die »Sünden der Menschheit« zu sühnen, aber auch von den Reinszenierungen des Kriegs gegen die Franzosen durch die Tiroler Schützenkompanien. Die Stimmungen wechseln und ebenso die Handlungs-
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motivationen, und das Herz Jesu bekommt immer neue Bedeutungen. Die Anbetung des Herzens Jesu wird jedoch nicht als historisch oder (religions-)politisch bedingt, sondern als zeitloser Akt der Frömmigkeit erlebt. Im Zusammenspiel von Stimmung und Motivation können politische Entwicklungen im persönlichen Leben Relevanz und Legitimation bekommen. Ein zeitgenössisches Beispiel: Zwei Mädchen in Wien, 16 und 17 Jahre alt, beide aus schwierigem sozialen Milieu, beide gehen in berufsbildende höhere Schulen und lernen einander beim Haschischrauchen in einem Park an der Peripherie Wiens kennen. Beide haben Depressionen; die eine geht dreimal in der Woche zur Psychotherapie, die andere war mehrmals stationär in der Psychiatrie. Beide konvertieren aus unterschiedlichen Anlässen zum Islam, die eine durch eine Mitschülerin, die sie in die Moschee mitnimmt, die andere durch einen Mitschüler, der die Bibel widerlegt. Die Konversion verändert ihr Leben. Sie nehmen keine Antidepressiva mehr, die Einhaltung des fünfmaligen Pflichtgebets und andere Regeln strukturieren ihren Alltag, die Beschimpfungen, weil sie Hijab tragen, sehen sie als Bestätigung für ihre neue Identität als Muslimas (Brnada, 2015). Soweit der kurze Bericht einer Journalistin.
Es scheint, dass die Motivation durch die Angehörigen der Peergroup, aber auch die Stimmung der gemeinsamen Praxis als Muslima ausschlaggebend sind für die positive Entwicklung der Mädchen. Nicht theologische Inhalte, sondern die Regelmäßigkeit der auf Arabisch zu sprechenden Gebete, aber auch die Gemeinschaft geben den beiden Halt und bringen sie aus der Depression. In diesen Ritualen verbinden sich Stimmungen (ich gehöre dazu, ich bin aufgehoben, bin geschützt) mit Motivationen (ich möchte eine gute Muslima sein, ich möchte meine religiösen Pflichten erfüllen). Beide kommen aus sozial schwachen Schichten; das starke Wir-Gefühl der muslimischen Gruppen, in der sich alle als Bruder oder Schwester ansprechen, trägt zu einem besseren Selbstwert und einer klareren Identitätsbildung bei, aber auch zum Wunsch, in einer idealen Gesellschaft nur unter Muslimen zu leben. Dieser Wunsch wird
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anhand der Faktoren, die Geertz nannte, verständlich: in einer rein muslimischen Gesellschaft wäre die »Aura der Faktizität« der Stimmungen und Vorstellungen, die für sie den Islam ausmachen, nicht durch andere gesellschaftliche Realitäten beeinträchtigt. Natürlich ließe sich die Geschichte der beiden jungen Frauen auch anders lesen. Doch scheint es, dass es für eine beratende oder therapeutische Begleitung hilfreich ist, ein heuristisches Hilfsmittel oder einen Leitfaden zu haben, anhand dessen Stimmungen, Motivationen und symbolischen Bedeutungen, die eine konkrete religiöse Praxis ausmachen, thematisiert werden können. Unter dem Blickpunkt einer »dichten Beschreibung« ist Religion ein multifaktorielles Gebilde, bei dem die verschiedenen Lehrsätze in engem Zusammenhang mit bestimmten Stimmungen und Motivationen gesehen werden können. Die religiöse Perspektive kann als Sichtweise eigenen Rechts bestehen bleiben, ohne dass es notwendig ist, ihren Anspruch auf Faktizität, auf ein »so ist es wirklich« zu übernehmen. Klienten müssen auch nicht hinterrücks zu Ideologiekritik veranlasst werden, stattdessen kann es möglich sein, durch die Bearbeitung der einzelnen Faktoren Veränderungen im Gesamtsystem zu erreichen. Stimmungen und Motivationen sind meistens an bedeutungsvolle biografische Ereignisse oder auch Beziehungen zu Personen gebunden. So kann es aufschlussreich sein, ob es bestimmte Gruppen innerhalb der eigenen religiösen – kumulativen – Tradition gibt, die von den Klienten wegen ihrer Bedeutungswelt/Stimmung/Motivation besonders abgelehnt oder besonders befürwortet werden. Dies erlaubt, die Position der Klientin einerseits deutlicher zu sehen, andererseits durch den Bezug zu den »Anderen« zu relativieren. Bei Suche nach Orientierung in Sachen Weltanschauung/Religion/Spiritualität können die Aspekte von Geertz’ »dichter Beschreibung« helfen, neue Perspektiven und Standpunkte zu finden.
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Rituale verkörpern Sinn Ausformulierte Sätze von Dogmen und Lehren dienen der Weitergabe von Information, aber sie »enthalten« Religion oder Spiritualität nur dann, wenn sie in irgendeiner Form in einer lebendigen Praxis umgesetzt werden. Man könnte sie mit Kochbüchern oder Partituren vergleichen – solange niemand nach dem Rezept kocht oder niemand nach der Partitur das Musikstück aufführt, wird man nicht satt von dem Rezept, auch die Musik bleibt unhörbar. Partituren lesen oder aus Rezepten den Geschmack der Speise erschließen kann nicht jede und jeder. Dies erfordert eine gewisse Ausbildung und Begabung, so wie auch das Betreiben von Theologie und Philosophie eine gewisse Begabung und Ausbildung voraussetzt, ebenso wie die Durchführung von Ritualen. Rituale – oder wie man in der neueren Ritualforschung sagt, »ritualisierte Handlungen« – sind eine eigene Kategorie von Handlungen. Rituale sind sehr vielgestaltig und vielschichtig, weswegen die neuere Ritualforschung eine trans- und multidisziplinäre Richtung ist. Die ältere Ritualforschung – Theoretiker wie Durckheim, Malinowski oder Freud – ging davon aus, dass die symbolischen Handlungen der Rituale auf etwas dahinterliegendes Nichtrituelles deuten, dass Rituale also Funktionen haben, bzw. einen Zweck, den ein außenstehender Beobachter aus dem Ritual herauslesen kann (Belliger u. Krieger, 2013, S. 7). Doch Rituale unterliegen keiner Zweckrationalität, sondern sind performative Handlungen. Die Handlung selbst verändert etwas oder bringt etwas hervor, das nicht in eine rationale Zwecksetzung übersetzt werden kann. Es verändert sich etwas im Verhältnis zu den anderen Menschen, aber auch zu sich selbst, zum eigenen Körper, zur eigenen Situation. Die Trennung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, zwischen Denken und Handeln trifft für Rituale
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nicht zu, denn das ritualisierte Handeln selbst ist sinnstiftend (S. 9 f.). Dieser Umschwung in der Wahrnehmung von Ritualen geht unter anderem auf die Veränderungen in der römisch-katholischen Kirche nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zurück, als liturgische Rituale wie Taufe, Eheschließung, aber auch der Sonntagsgottesdienst nach den eigenen symbolischen Bedürfnissen gestaltet werden konnten. Eine zweite Quelle des neuen Ritualverständnisses besteht aus der Erfahrung mit Ritualen anderer Religionen, der »allgemeine[n] Sensibilisierung breiterer Schichten der Bevölkerung für spirituelle Ideen und Praktiken aus dem Osten und den sogenannten ›primitiven Traditionen‹ (Schamanismus, Indianerbewegung, Rückkehr zu ethnischen Wurzeln etc.). […] Die spontane Aneignung dieser Formen ritueller Erfahrung und Handlung mündete oft in eine eigene innovative Anwendung auf neue Situationen« (S. 10). Dies betrifft vor allem den Bereich von Therapie und Seelsorge im weitesten Sinn. Das ist nicht friktionsfrei; so führt der Anspruch der naturwissenschaftlichen Medizin, »sich ausdrücklich von überkommenen ritualisierten Formen, die nicht vom naturwissenschaftlichen Weltbild abgeleitet sind, zu ›reinigen‹« dazu, dass sich Patienten und Praktiker alternativ-medizinischen Verfahren zuwenden (Widlok, 2009, S. 49). Wenn in systemischen Kontexten immer wieder rituelle Sequenzen eingeführt werden, um Lösungsdynamiken zu präsentieren oder zu festigen, bauen sie auf der Syntax ritueller Möglichkeiten auf. Eine systemische Sicht auf Rituale übernimmt zwar den älteren, funktionellen Ritualbegriff, doch zeigt sich bereits in der Aufzählung der Möglichkeiten die Vielschichtigkeit von ritualisierten Handlungen, wenn etwa explizit religiöse Rituale und Alltagsrituale nebeneinander genannt werden. So heißt es: »Rituale können wichtige Botschaften auf besonders intensive und anschauliche Weise bekräftigen. Sie können klären, wer zu einer Familie, einem Verein, einer Firma dazugehört, sie können neue Mitglieder begrüßen (z. B. Taufe), die gehenden verabschieden (z. B. Beerdigung) und der Vergewisserung dienen, welche Mitglieder noch leben (z. B. Leichenschmaus nach der Beerdigung). Heilende Rituale können wieder Ordnung in Dinge bringen, die in Unordnung geraten sind (z. B. Versöhnungsrituale). Sie können verdeutlichen, dass bestimmte Mitglieder ›nicht mehr dieselben‹ sind wie
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zuvor (Reifefeiern oder Hochzeiten). Rituale können sichere Prozeduren bieten (z. B. Familientherapien, Teamsupervisionen oder Tarifkommissionen), in denen Konflikte ausgetragen werden können, ohne dass das System davon gänzlich bedroht wird. Rituale können verdeutlichen, dass Wichtiges erreicht worden ist und dafür nun Lohn winkt (z. B. Erntedankfeste, silberne Hochzeiten oder die Vorstellung von Quartalsberichten börsennotierter Firmen)« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 330). Ob Alltagsritualisierungen wie Quartalsberichte oder Teamsupervisionen als Rituale im engeren Sinn gelten können, ist unter Ritualforschern strittig. Statt des funktionalen Ritualbegriffs, der in systemischen Zusammenhängen öfter anzutreffen ist, wäre es angemessener, mit der neueren Ritualforschung Rituale »als eine eigene Ebene des kommunikativen Handelns mit eigenen pragmatischen Bedingungen« zu betrachten (Belliger u. Krieger, 2013, S. 30): ȤȤ ritualisierte Handlungen »verkünden« die Wahrheit; ȤȤ die Wahrheit des Rituals wird »durch eine Art ›Einweihung‹, ›Bekehrung‹ oder ›Sozialisation‹ mimetisch internalisiert«; ȤȤ Rituale werden nicht hypothetisch und auf Distanz, sondern »durch Entscheidung und Handeln« ausgeführt, wobei in manchen Kontexten eine eigene »rituelle Einstellung« oder »rituelle Akzeptanz« beobachtet wird; ȤȤ rituelle Handlungen »zielen auf die Einrichtung paradigmatischer Erkenntnisgrenzen, sozialer Rollen, Identitäten und grundlegenden Unterscheidungen«; ȤȤ »im ritualisierten Diskurs werden Grenzen gezogen, die einschließen und ausschließen«; ȤȤ »persönliche, soziale und kulturelle Identität, d. h. die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einer Gesellschaft, wird durch Handeln in Form von Ritualen gleichzeitig ausgedrückt und hergestellt« (S. 30 f.). Dies bedeutet aber nicht, dass Rituale unveränderlich sind – im Gegenteil. Wer sich etwa mit der Geschichte der christlichen oder auch nur der römisch-katholischen Liturgie befasst, wird rasch entdecken, welche Wandlungen diese Liturgien im Laufe der Jahrtausende durchlaufen haben. Woher der Wahrheitsanspruch der Rituale kommt,
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der ja nicht diskursiv ist, gehört zu den offenen Fragen der Forschung, so Belliger und Krieger. Sie weisen darauf hin, dass die Wahrheit von Ritualen nie historisch, sondern immer präsentisch erfahren wird; dass aber gleichzeitig unter dem Eindruck der Differenzierung und Pluralisierung durch die Globalisierung Rituale in ihrem Wahrheitsanspruch als relativ erfahren werden. In Reaktion darauf könne es zu einer fundamentalistischen Verengung kommen (S. 32). In Ritualen verkörpert sich »Sinn«. Zwar kann Sinn in abstrakten Begriffen formuliert werden, doch gibt es Sinn nur verkörpert. Erst die Bezogenheit lebendiger menschlicher Körper, leiblich existierender Menschen, zu materiellen Gegenständen oder in sozialen Beziehungen lässt Sinn wirklich werden. Das kultivierte Sensorium menschlicher Körper und die Fähigkeiten, die Menschen entwickeln, ermöglichen ein verkörpertes In-Beziehung-Sein (Asad, 2001, S. 209). Erst so wird Sinnerfahrung für Menschen möglich (S. 209). Kirchen, Tempel, Synagogen, Statuen, heilige Bücher, Gottesdienste etc. dienen rituellen Praktiken. Akteure und Träger von Religion, Spiritualität und säkularer Weltanschauung sind jedoch nicht nur Experten, sondern vor allem lebendige Menschen. Der menschliche Körper, der Leib und die Sinne sind die unerlässlichen Bedingungen und Voraussetzungen für rituelle Praktiken, seien sie öffentlich oder geheim. Ob der tantrische Yogi in einer verborgenen Höhle ein rituelles Feuer entzündet oder die Pastorin mit der Gemeinde den Sonntagsgottesdienst feiert, immer ist es eine Verkörperung von Religion bzw. Spiritualität. Wenn zum »Christopher Street Day« oder zur »Regenbogenparade« Tausende in fantasievollen Kostümen oder Körperbemalung zu Musik durch die Straßen ziehen, ist dies ebenfalls eine rituelle leibhafte Praktik. Es ist ein säkulares Ritual, das die Realisierung des Menschenrechts auf Gleichheit, Freiheit und Nichtdiskriminierung präsentiert. Worte, körperliche Gesten, Kunstwerke, Schmuck, Gerüche, Musik usw. sind Teil ritueller Handlungsabläufe. Damit entstehen Stimmungen und Atmosphären, die zu Erfahrungen beitragen, die dann als sinnhaft und bedeutungsvoll erlebt werden können. Rituale erzeugen eine sinnhafte, sinnenfällige Wirklichkeit, indem sich Körperliches und Sinnliches mit Bedeutungen verbindet, wobei die Teilnahme daran für Handlungen danach, im Alltag motiviert.
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Verkörperungen: Rituale und Stimmungen
Stimmungen und Atmosphären Die Dimension von Stimmung und Atmosphäre und ihre Bedeutung für die persönliche Sicht der Welt und deren Sinn werden oft unterschätzt. Das mag an einer Orientierung am Messbaren liegen oder auch an dem Verdacht, dass die sekundären Sinnesqualitäten (Hören, Schmecken, Riechen, Tasten) im Unterschied zum Sehen für klare, deutliche Erkenntnis belanglos seien. Der Philosoph Hermann Schmitz, Begründer der Neuen Phänomenologie, kritisierte diese Einschätzung, da Vielfalt und Diversität dadurch auf jene Merkmale reduziert werden, die für quantitative naturwissenschaftliche Verfahren brauchbar sind (1989). Alles andere wird, so Schmitz, als nicht messbar in eine »Innenwelt« verfrachtet und als »subjektiv« abgestempelt. Diese abgeschlossene, »subjektive« Innenwelt ist dann auch der Ort, an dem eine Person sich und die Welt als »Seele« erlebt. Die Neue Phänomenologie dagegen geht ähnlich wie Gregory Bateson, einer der Begründer des systemischen Denkens, davon aus, dass eine scharfe Grenzziehung zwischen Körper und Welt die Wege des Verstehens verstellt. Darauf macht Bateson am Beispiel des Blinden, dessen Stock den Straßenrand berührt, aufmerksam. Wo verläuft die Grenze zwischen dem Blinden und der Umgebung – dort, wo der Blinde den Stock hält? Oder wo der Stock den Randstein berührt? Zudem nimmt der Blinde ja nicht nur durch den Stock, sondern auch durch die »sekundären Sinne« (Hören, Tasten, Riechen, Schmecken) seine Umgebung als Ganzes wahr. Er nimmt den Raum als Hörraum, Tastraum und olfaktorischen Raum wahr, und sich selbst propriozeptiv leibhaftig im Raum. Da jedoch hierzulande kulturell der Sehsinn dominant ist, laufen die anderen leiblichen Erfahrungen scheinbar eher nebenher. Erst der Verlust des Gehörs oder auch des Geruchs- und Geschmacksinns macht deutlich, dass diese Sinne keineswegs sekundär sind, sondern der Geschmack der Welt buchstäblich aus ihnen bezogen wird. Lässt man diese Einsicht zu, dann löst sich die strikte Trennung von außen und innen auf, und es treten Erfahrungen auf, die nicht so einfach »dem Körper« oder »der Seele« zurechenbar sind. Schmitz spricht in einem Interview vom »spürbaren Leib«, der nicht identisch ist mit dem anatomisch sezierbaren Körper: »Der Menschen-
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körper ist ein Ding mit steter Dauer und festem Umriss und nach Lagen und Abständen überall bestimmt durch relative Orte. Der spürbare Leib ist dagegen alles das, was man in den Grenzen des eigenen Körpers von sich selbst als zu sich selbst gehörig spürt und zwar ohne sich der Sinne zu bedienen. Das ist diese Vorstellung von Spüren, die in meinem Ansatz wichtig ist. Dazu gehören erstens alle leiblichen Regungen wie Angst, Schmerz, Wollust, Ekel oder Müdigkeit, zweitens alles spontane Ergriffensein von Gefühlen und drittens das spürbare Eingreifen und das Laufen, soweit es am eigenen Leibe spürbar ist« (Schmitz, 2009). Im Leib kommt alles an, was den Menschen betroffen macht – vom Wetter über die Erfahrung des Schönen bis zur Angst, aber auch religiöse Erfahrungen. Alle diese Erfahrungen zeichnen sich durch Qualitäten der Enge oder der Weite, der Spannung oder Schwellung aus. Dies beginnt beim Atem, der ein rhythmisches Wechselgeschehen von Enge und Weite ist. Schmitz’ Leib-Konzept löst ähnlich wie die neueren Analysen des Rituals die scharfe Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt auf, indem alles, was Menschen erfahren, nur möglich ist als leibliches Erlebnis, das sich in der Gegenwart entfaltet; als Dasein, das sich als Identität und Subjekt im Hier und Jetzt erfährt. Für Schmitz besteht die Welt nicht aus Äquivalenten von Aussagesätzen, sondern aus Situationen, die komplexe Mannigfaltigkeiten sind. Denn, so Schmitz, wenn man einen Eindruck von einer Situation hat, dann geht es sowohl um eine leibliche Wahrnehmung, als auch um einen »Sachverhalt« – also etwas, das sich in sprachlicher Form als Wunsch, Befehl, Frage oder gelegentlich einfach als Aussage fassen lässt und einen ganzen Zusammenhang, ein Programm, ein Problem usw. implizieren kann. Der Eindruck einer Situation tritt in einer gewissen Geschlossenheit auf, aber gleichzeitig umfasst er eine Vielzahl von verschiedenen Aspekten, die zusammen ein »hochgradig geordnetes chaotisches Mannigfaltiges« ergeben, analysiert Schmitz (1989, S. 60). Situationen sind in Atmosphären getaucht, »etwa die fade und leicht melancholische Feierlichkeit eines Sonntags, die gläsern kühle Bangigkeit einer Abenddämmerung, die alberne Lustigkeit eines vulgären Festes, die kribbelige Aufgeregtheit vor einem Gewit-
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ter oder eine Schlacht usw., die getragene oder dumpfe Schwermut in einem Kreis von ernsten oder gedrückten Menschen« (Schmitz, 1989, S. 68 f.). Atmosphären sind nicht genau abzugrenzen, aber doch deutlich wahrnehmbar. Wenn man etwa in einen Raum tritt, in dem Menschen sich gerade gestritten haben, bedarf es meist keiner eigenen Mitteilung, dass hier »dicke Luft« herrscht. Atmosphären »scheinen gewissermaßen nebelhaft den Raum mit einem Gefühlston zu erfüllen« (Böhme, 2013, S. 22). Man kann sie nicht an einem einzelnen Gegenstand festmachen, und sie sind auch nicht nur subjektiv. Die Veränderung der Stimmung – etwa wenn man vom Arbeitsplatz kommend ein Kaffeehaus betritt, ein Fitnessstudio oder die eigene Wohnung – hängt deutlich auch vom Ort ab. Ich als leibhaftige Person habe den Ort gewechselt und die Umgebung, und damit erschließt sich eine dieser Relation entsprechende Stimmung, die am eigenen Leib gespürt wird. »Sich leiblich spüren heißt zugleich spüren, wie ich mich in einer Umgebung befinde, wie mir hier zumute ist« (S. 31). Im Kontext von religiösen oder spirituellen Ritualen können Stimmungen überzeugen oder überwältigen, auch ohne dass man den Inhalt und die Bedeutung der Rituale versteht – oder auch im Gegenteil erschrecken und zu ablehnenden Reaktionen führen. So kann zum Beispiel eine Teilnahme an schamanischen Ritualen hilfreich oder verstörend erfahren werden. Dies gilt aber auch für buddhistische, hinduistische, christliche etc. Rituale. Die Sprache dient hier nur teilweise als Mittel der Kommunikation, der Großteil der Kommunikation findet über andere Wahrnehmungsmodi als das Hören und Verstehen von Wortbedeutungen statt. In der Arbeit mit Fragen aus dem Bereich Religion, Spiritualität und Weltanschauungen sind es die Stimmungen, die am intensivsten in die Zonen führen, in denen Schwierigkeiten, Inkongruenzen und Konflikte, aber auch Ressourcen zu finden sind. Sie sind es, die vom Gegenwärtigen ins Vergangene zurückführen – in »jene Stimmung damals …«. Das kann man sehr gut am Streit um die Form der katholischen Messe, der Eucharistiefeier, sehen. Bis 1965 gab es die Messe nur in lateinischer Sprache nach einem Ritual, das im 16. Jahrhundert vom Konzil von Trient festgelegt worden war. Die Stimmung dieser Messen war durch liturgische und kirchenrechtliche Vorgaben bestimmt.
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Der Priester stand in reicher liturgischer Kleidung mit dem Rücken zu den Gläubigen vor dem Altar. Er murmelte die lateinischen Formeln leise und unhörbar für die Mehrzahl der Gläubigen. Oft wurde Weihrauch verwendet – eine Stimmung, die für viele, die das als Kind erlebt haben, prägend war. Dann kam Mitte der 1960er Jahre die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Der Priester stand nun mit dem Gesicht zu den Gläubigen gewandt hinter dem Altar, die reiche liturgische Kleidung wurde auf wenige für die Liturgie wichtige Teile beschränkt, der Priester sprach in der jeweiligen Landessprache laut und für alle verstehbar, Weihrauch gab es nur mehr selten, und die Stimmung im Gottesdienst wandelte sich von Grund auf. Diese Veränderung war jedoch keine Frage der Ästhetik, sondern resultierte aus einer grundlegenden Änderung des Verständisses der Messe, also der kognitiven Ebene. Einer der wesentlichen Aspekte war, dass Gläubige und Priester nun nicht mehr ein hierarchisch nahezu unüberbrückbarer Graben trennte, sondern dass sie ebenbürtige und komplementäre Rollen zugeschrieben bekamen. Bis heute ist die Liturgiereform ein Zankapfel und Ärgernis – aber nicht nur für sehr konservative oder fundamentalistische Kreise, sondern auch für Atheisten und Agnostiker, die gerne die Ästhetik und Stimmung der alten Liturgie genossen, auch wenn sie die damit verbundenen Inhalte grundsätzlich ablehnten. Die sinnesästhetische Dimension verbindet sich mit eigenen Gefühlen und Gedanken, und diese Stimmungen bleiben anders in Erinnerung als dogmatische Sätze. Ein zum Atheismus tendierender Agnostiker etwa erzählte, dass er gelegentlich in katholische Messen gehe, aber nur, wenn es Weihrauch und Orgelmusik gäbe; er bedauerte, dass der Pfarrer nicht mehr auf der Kanzel zum Predigen steht und man ihn während der Messe von vorn sieht. Es sind gute Stimmungen seiner Kindheit, die er wieder erleben möchte, aber ohne die Bedeutungen, die mit der Messe verbunden sind, intellektuell oder existentiell zu bejahen. Andere haben keine Erinnerung an gute Gefühle, sondern denken an eine sonntägliche Stunde der Langeweile und Kälte, bei der man brav sein musste. Ein ganz anderes Beispiel bietet die Rezitation des Korans, die zu den klassischen Frömmigkeitspraktiken im Islam gehört. Die Rezitation erfolgt nach genauen Regeln, die spätestens im 9. Jahr-
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hundert festgelegt wurden, und die Aussprache, Intonation, Körperhaltung und Intention des Rezitators betreffen. Die ästhetische Qualität der Rezitation hat eine spirituelle Intention, die bereits im Koran selbst in Sure 39:23 beschrieben wird. Der Koran, so heißt es darin, ist »ein Buch mit gleichartigen, sich wiederholenden (Versen), vor dem die Haut derjenigen, die ihren Herrn fürchten, erschauert. Hierauf werden ihre Haut und ihr Herz weich (und neigen sich) zu Allahs Gedenken hin. Das ist Allahs Rechtleitung« (Der edle Qurān, 1425/2004). Navid Kermani erläutert dies in seinem Buch »Gott ist schön« (1999). Die Rezitation des Koran »verursacht zunächst eine Gänsehaut (genau diesen Vorgang bezeichnet das Verb taqs´a´irru), bevor sie die Hörer an Körper und Seele besänftigt und damit zum Gedenken Gottes reif macht« (S. 25). Bei einem Wettbewerb von Koran-Rezitatoren in einer großen Mehrzweckhalle in Wien vor einigen Jahren erhob sich bei besonders bewegenden Passagen der Rezitation ein hingerissenes Raunen und Stöhnen unter den tausenden Zuhörerinnen und Zuhörern. Der Betonbau des Vienna International Centers war plötzlich erfüllt von einer ungewohnt intimen sakralen Atmosphäre, die sich auch mir – vermutlich die fast einzige Nichtmuslima und des Arabischen unkundig – mitteilte. Dass Stimmungen wesentliche Momente für die Sphäre der Religion sind, hat sich schon an der Religionsdefinition von Clifford Geertz gezeigt. Aus der Sicht des Ethnologen umfasst Religion symbolische Bedeutungen, Stimmungen und Handlungsmotivationen in Bezug auf Gruppen und Gesellschaften. Was bei einer ethnologischen Analyse fehlt, ist die Verankerung dieser gesellschaftlichen Dimensionen im Lebensvollzug des Einzelnen. Hier kann das SIBAM-Modell des Traumaforschers und -therapeuten Peter Levine für systemische Zugänge hilfreich sein. Es erlaubt, einzelne Aspekte zu betrachten, und zu untersuchen, wie Situationen – Stimmungen, Atmosphären – von Menschen erfasst und verarbeitet werden können. Levine (2011) geht von einem Zusammenspiel von Sinneswahrnehmungen, inneren Bildern, Emotionen und Bedeutungen aus und kürzt diese Dimensionen mit SIBAM ab: Körperempfindungen (sensation), Bild (image), Verhalten (behaviour), Affekt (affect), Bedeutung (meaning). Levine entwickelte diese Kategorien für die Bearbeitung von Traumata, doch scheinen die Dimensionen von SIBAM
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geeignet, einen Zugang zu persönlichen Erfahrungen mit Religion und Spiritualität zu geben. Indem Klienten der Spur von Empfindung, Bild, Gefühl und Bedeutung folgen (Levine, 2011, S. 172–198), und der Therapeut das unmittelbare Verhalten beobachten kann, können die verschiedenen Schichten und Strukturen der Gesamterfahrung einer Situation über das leibliche Spüren deutlich, eingeordnet und gegebenenfalls verändert werden. Da sind zunächst die physischen Empfindungen, die im Körper entstehen, die Bilder oder vielleicht besser Impressionen – Sinnes eindrücke des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens –, die von außerhalb in den Körper kommen oder aus der Erinnerung, und die im Körper Reaktionen auslösen, angenehme oder unangenehme. Dazu kommen die Emotionen, die zu den innerlichen Komponenten einer Erfahrung gehören. Sie können alle Schattierungen zwischen Furcht, Ärger, Traurigkeit, Freude und Ekel annehmen und können Sinneswahrnehmungen affizieren. »Diese Gefühlsschattierungen leiten uns durch den Tag und geben uns Orientierung und Richtung im Leben« (S. 193). Empfindungen und Emotionen können nicht direkt beobachtet werden, das Verhalten eines Menschen jedoch ist für andere sichtbar. »Die wortlose Sprache« der Aktivitäten oder auch der körperlichen Spannung korrespondiert mit dem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung. Die Gesten, die Atmung, die Hautfärbung und die Bewegungen des Magen-Darm-Trakts (das viszerale Verhalten) können von jemand anderem wahrgenommen werden. Physische Empfindungen, Emotionen und Verhalten machen zusammen mit der Bedeutung, die diesem Ganzen gegeben wird, »Erfahrung« aus. Bedeutungen fungieren als »Etiketten, mit denen wir die Gesamterfahrung versehen – das heißt, der Kombination aus Empfindung, Bild, Verhalten und Gefühl, die eine Erfahrung darstellt« (S. 193). Diese Bedeutungen dienen der Markierung von komplexen inneren Erfahrungen mit all ihren Schattierungen. Das Ergebnis dieser Markierungen sind oft Glaubenssätze, die sich auf die Welt im Ganzen beziehen. Diese Glaubenssätze sind nur zum Teil individuell, schon deswegen, weil Stimmungen neben dem innerpsychischen auch einen sozialen Aspekt haben. Etwa spielen Stimmungen in sozialen Medien eine große Rolle, speziell wenn es um negative Stimmungen geht (Stichwort: »Shitstorm«). Stimmungen vermitteln und steuern Ver-
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Verkörperungen: Rituale und Stimmungen
halten oder anders gesagt, Stimmungen tragen wesentlich zum Entstehen von Verhaltensweisen bei (von Uexküll, 1963, S. 173 ff.), da sie im Unterschied zu Emotionen und Affekten länger andauern. Die Antwort auf die bekannte Frage, ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht, hängt von der Weltsicht, genauer von der Gestimmtheit des Befragten ab. Aus der Perspektive von Gregory Batesons kybernetischer Lerntheorie gesprochen stellen Stimmungen einen entscheidenden Kontext für Lernprozesse dar. Auf einer ersten Stufe werden nach Batesons Lerntheorie einfache Probleme gelöst – etwa lernt eine Ratte einen Hebel zu drücken, um Futter zu erhalten. Auf einer zweiten Ebene (»Deutero-Lernen«) wird bei der Wiederholungen von einfachen Schritten auch der Kontext mitgelernt, also die Spielregeln. Man lernt, so Bateson, »apperzeptive Gewohnheiten«, das heißt also gewohnheitsmäßige Wahrnehmungen. In der Kommunikation mit andern Menschen fungieren Stimmungen als ein Signal, das mitgelernt wird. Diese Muster der Wahrnehmung werden, so Bateson, nicht nur von Personen, sondern auch durch soziale bzw. kulturelle Kontexte vermittelt. »Ganz offenkundig werden solche Gewohnheiten in der menschlichen Erziehung auf vielerlei Weise erworben. Wir haben es nicht mit einem hypothetischen isolierten Individuum im Kontakt mit einem unpersönlichen Strom von Ereignissen zu tun, sondern vielmehr mit realen Individuen, die komplexe emotionale Beziehungsmuster zu anderen Individuen haben. In solch realer Welt wird das Individuum durch die sehr komplexen Phänomene von persönlichem Verhalten, Ton der Stimme, Feindseligkeit, Liebe usw. zur Annahme oder Zurückweisung apperzeptiver Gewohnheiten gebracht« (Bateson, 1983, S. 232). Stimmungen haben einen kognitiv ausdrückbaren Gehalt, zugleich sind sie aber nicht intentional, also nicht mit einer Absicht verbunden. Wenn man etwa schlechter Stimmung ist, sieht die Welt matt und eintönig aus; ist man froh gestimmt, ist sie farbig und vielgestaltig. Stimmungen sind im leiblichen Fühlen verankert, aber auch in der Gesamtatmosphäre einer Situation. Vor allem schaffen sie Handlungs- und Verhaltensdispositionen: »Sie induzieren eine bestimmte Wahrnehmung und Bewertung einer Situation, ja häufig auch eine ganze Weltsicht; sie begünstigen
Stimmungen und Atmosphären127
stimmungskongruente Gefühle, Erinnerungen und Gedanken; sie legen eine bestimmte leibliche Haltung nahe (z. B. gedrückte Haltung in der Niedergeschlagenheit, stolze Aufrichtung in der Euphorie); sie regen zu einem gewissen Spektrum des Verhaltens an, während sie inkongruentes Denken oder Verhalten eher verhindern. Stimmungen erschließen also bestimmte Möglichkeitsräume und verschließen andere« (Fuchs, 2013, S. 9). Ein wesentliches Charakteristikum von Stimmungen ist, dass sie sich einer Zuordnung von »Innen« und »Außen« entziehen. Im folgenden Bericht von einem sonntäglichen Kirchgang zu Ende des 19. Jahrhunderts ist zwar von Gefühlen die Rede, doch geht es um eine spezielle Gestimmtheit, die als »religiös« oder »mystisch« beschrieben werden kann. Es war Sonntag, und X. begleitete zunächst seine Frau zur Kirche, beschloss dann aber, spazieren zu gehen. »Ungefähr eine Stunde wanderte ich die Straße entlang […] und kehrte dann um. Auf dem Weg zurück hatte ich plötzlich, ohne Vorwarnung, das Gefühl, dass ich im Himmel sei – ein Zustand innerer Friedlichkeit und Freude und Gewissheit von unbeschreiblicher Intensität, begleitet mit dem Gefühl, in einer warmen Glut von Licht gebadet zu werden […], ein Gefühl, die Grenzen des Körpers verlassen zu haben, obwohl die Szene, die mich umgab, klare Konturen hatte und mir aufgrund des hellen Lichts, in dem ich zu stehen schien, näher zu sein schien als vorher. Diese tiefe Emotion dauerte an, obschon mit abnehmender Stärke, bis ich mein Haus erreichte und einige Zeit danach, nur mählich schwindend« (James, 1997, S. 395).
Hier verbindet sich die Stimmung mit dem kognitiven Aspekt der Gewissheit – aber ohne Inhalt – und eindeutigen leiblichen Wahrnehmungen. Es ist eine als nicht alltäglich charakterisierte Situation – auch durch den sonntäglichen Kirchgang –, von der der Betreffende nicht bestreiten kann, dass sie zu dieser Zeit eine Tatsache ist, oder besser ein Phänomen, ein »Erscheinendes« (Schmitz, 2009).
10 Transzendenzen
»Wenn ich über die Felder streife, werde ich ab und zu von einem ganz eigenen Gefühl überwältigt, dass alles, was ich sehe, eine Bedeutung hat, wenn ich sie nur verstehen könnte. Und dieses Gefühl, von Wahrheiten umgeben zu sein, die ich nicht fassen kann, steigert sich manchmal zu unbeschreiblicher Ehrfurcht […]. Hast du nicht gespürt, dass deine wirkliche Seele für dein geistiges Auge nicht wahrnehmbar war, außer in wenigen heiligen Momenten?« (Charles Kingsley, zit. n. James, 1997, S. 388). Das Stichwort ist Erfahrung von Transzendenz. Ob es diese geben kann, ist nicht nur umstritten, ihre schiere Möglichkeit ist in manchen Kontexten eine Art von Tabu – etwas, dessen Möglichkeit am besten gar nicht erst erwähnt werden sollte. Trotzdem sprechen Klientinnen und Klienten davon – vorausgesetzt es besteht ein Vertrauensverhältnis zum Gegenüber. Über etwas zu sprechen, das zwar erfahren wird, aber nicht fassbar und aussprechbar ist, war für Charles Kingsley (1819–1875), den Autor dieses kleinen Berichts, weder anrüchig noch schwierig. Er lebte im viktorianischen England, war ein höchst angesehener anglikanischer Geistlicher, schrieb Fantasy-Romane für Kinder und erfolgreiche historische Romane für Erwachsene, war Briefpartner von Charles Darwin, vertrat sozialreformerische Ansichten und war Professor für Geschichtswissenschaft in Oxford. Er schrieb nicht über religiöse Erfahrungen, sondern über das, was er wahrnahm und ihm widerfuhr. Von religiösen Erfahrungen spricht man auch im Zusammenhang mit Charles Kingsley erst seit jenem Werk, in dem sich das obige Zitat des englischen Geistlichen findet. Es fungiert als eines vieler Beispiele »religiöser Erfahrung« 1902 in dem epochemachenden Werk »The Varieties of Religious Experience« des Psychologen und Philosophen William James. Sein Buch war eine Studie über Religion und religiöse Erfahrung, die sich weder für dogmatische Erörterungen noch
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gemeinschaftliche Rituale interessierte, sondern für die persönlichen, individuellen Erfahrungen, die James typisierte. James betrachtete religiöse Erfahrung als wesentlich emotional, doch meinte er, dass es sich dabei um keine eigenständige Erfahrungsweise handele. Das Gefühl religiöser Liebe oder Furcht sei dasselbe Gefühl von Liebe oder Furcht, das Menschen sonst auch bewege: »James verwirft explizit die Annahme eines eigenständigen religiösen Sentiments, er verneint die Existenz einer spezifischen religiösen Emotion […]. Es ist eine mehr allgemeine Form von Verhalten, der man auch im religiösen Verhalten begegnet« (van Belzen, 2004, S. 47 f.). Das Religiöse an der religiösen Erfahrung komme durch die Ausrichtung auf einen »religiösen Gegenstand«, so James. Dies könne ein physisches Objekt genauso sein wie ein mentales Objekt, also ein Begriff oder eine Vorstellung, oder auch der Handlungsablauf eines Rituals etc. (James, 1997, S. 60). Eine konträre These vertrat der Theologe Rudolf Otto in seinem ebenfalls höchst einflussreichen Werk »Das Heilige« (1917). Für Otto existieren unterschiedliche religiöse Gefühle wie zum Beispiel Erschüttert-Werden oder Grauen, Fasziniert-Sein oder Überschwänglichkeit. Diese widersprüchlichen Gefühle seien strukturelle Elemente des »Sinns für das Numinose«, das sich als »mysterium fascinosum et tremendum« zeige, als »faszinierendes und erschreckendes Geheimnis«, wie Ottos vielzitierte Darstellung lautet (2008). Ottos Annahme, dass der »Sinn für das Numinose« eine anthropologische Konstante sei und überall auftrete, wurde durch die Ethnologie widerlegt. Trotzdem ist seine Theorie des Numinosen, die unter anderem C. G. Jung aufgegriffen hat, bis heute vielzitiert und einflussreich. In systemischen Kontexten gelten Transzendenzerfahrungen wie alle anderen Erfahrungen als Konstruktionen. Konstruktivisten gehen davon aus, dass alles, was wir von der Welt und den Menschen wissen, eine Konstruktion ist. Für den Konstruktivismus besteht zwischen dem persönlichen Erleben und Wahrnehmen und dem, was wahrgenommen und erlebt wird, weder ein Verhältnis der Übereinstimmung oder der Korrespondenz, noch handelt es sich für ihn um eine Abbildung des Außen. Konstruktivistisch betrachtet entsteht das Wahrgenommene durchs Wahrnehmen, das heißt durch das Zusammenspiel der Aktivität von Sinnesorganen und Nervensystem
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Transzendenzen
und der begrifflichen Kategorisierungen. Ernst von Glasersfeld, einer der Begründer des Radikalen Konstruktivismus, beschreibt das Entstehen von Wirklichkeit als einen Prozess der schrittweisen Konsolidierung von sensorischen Empfindungen: »Wiederholung ist der grundlegende Baustein der erlebten Wirklichkeit. Je nachdem, was da als wiederholt erlebt wird, bilden sich Stufen der Wirklichkeit. Ein Farbfleck, der nur als momentaner Eindruck in meinem Blickfeld erscheint und sich nicht mehr sehen lässt, wird zumeist als visuelle Fehlleistung oder Illusion verworfen und nicht als ›wirklich‹ registriert. Lässt er sich jedoch wiederholen, so gewinnt er Realität, und wenn der visuelle Eindruck sich gar mit einem Eindruck anderer Art, z. B. des Tastsinns oder des Gehörs, koordinieren und koordiniert wiederholen lässt, dann werde ich dieses kombinierte Erlebnis wohl oder übel als Wirklichkeit verbuchen. Je verlässlicher die Wiederholung so eines Erlebnisses ist, umso solider wird der Eindruck seiner Wirklichkeit« (von Glasersfeld, 1997, S. 33).
Wird dies auch von anderen bestätigt, gebe es eine »intersubjektive Wiederholung von Erlebnissen«, und durch intersubjektive Kommunikationsprozesse entsteht, so die These, im Laufe der Zeit das, was man gewöhnlich die »objektive Wirklichkeit« nennt (S. 31). Die Möglichkeit von Transzendenz-Erfahrungen wird von Glasersfeld weder bestritten noch bestätigt, sondern offen gelassen. Paul Watzlawick erweiterte von Glasersfelds Konzept um die Unterscheidung zwischen »erster« und »zweiter Wirklichkeit«. Unter »erster Wirklichkeit« versteht er die Welt mit ihren naturwissenschaftlich beschreibbaren Eigenschaften; zum Beispiel gehören die Eigenschaften von Gold zur »ersten« Wirklichkeit. Zur »zweiten Wirklichkeit« zählt er beispielsweise den Wert, der dem Gold ideell wie finanziell zugemessen wird, ein Ergebnis menschlicher Kommunikation.9 Mit von Glasersfeld meint Watzlawick, dass die »›wirkliche‹ 9 Dabei muss beachtet werden, dass die naturwissenschaftliche Bestimmung von Eigenschaften ein Akt der Festlegung durch intersubjektive Kommunikation ist, der auf Alltagserfahrungen aufbaut. Ein Messgerät, das die Wellenlänge von »Rot« bestimmt, setzt die Wahrnehmung der Farbe »Rot« voraus.
Transzendenzen131
Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Struktur verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen können« (Watzlawick, 1997, S. 37). Erwartungen können eintreten – aber unter Umständen kann es auch ganz anders kommen. Man stößt an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten, wenn sich Dinge und Verhältnisse verselbständigen oder wenn uns Irrtümer und Gewohnheiten einholen. Derartige Grenzerfahrungen nennt der Soziologe Thomas Luckmann Erfahrungen von Transzendenzen (im Plural), die unsere Annahmen und Konstruktionen der Wirklichkeit deutlich werden lassen: »Vieles, was wir hoffnungsvoll bewirkt haben, schwindet dahin; andererseits hinterlassen unsere Taten auch gegen unseren Willen Spuren, auf die wir stoßen, nachdem wir unsere Taten selbst längst vergessen haben. Jeder Mensch merkt, dass er auf der Welt nicht allein ist. Er begegnet anderen, seinesgleichen. Er sieht, dass seinesgleichen älter werden und sterben. Er weiß, dass er selbst einmal geboren wurde, und er folgert, dass andere ihn überleben werden. Wir gewöhnen uns daran, täglich immer wieder aufzuwachen und nachts wieder einzuschlafen. Wir gewöhnen uns an bestimmte Verrichtungen, wir übernehmen längst geschaffene Ordnungen. Der Alltag nimmt seinen gewohnten Gang; seine Grenzen erschrecken uns nicht allzu sehr. Aber was, wenn uns alte Gewohnheiten verlassen und wenn uns die Möglichkeit des Nichtaufwachens bestürzt?« (Luckmann, 1991, S. 167).
Nicht mehr aufzuwachen, hieße tot zu sein. Diese Vorstellung ist bestürzend, da sie den Konstruktionscharakter der Wirklichkeit enthüllt. Doch bereits in den vorangehenden Erfahrungen des Scheiterns erscheint die Erfahrung der Grenze zwischen der eigenen Konstruktion und dem, was sich der Konstruktion entzieht, in Watzlawicks Worten die »wahre Welt«. Doch selbst diese Erfahrung entzieht sich, da über sie zu sprechen nur als bestimmte Form von Konstruktion möglich ist. Die »wahre Welt« ist nur in der Verneinung und im Entzug zugänglich. Diese Einsicht findet sich auch in
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Transzendenzen
traditionellen Denkformen wie der negativen Theologie, den Mystikern aller Traditionen oder auch bei dem buddhistischen Philosophen Nagarjuna (ca. 150–ca. 250; 2002). Aus der Sicht konstruktivistischer Ansätze usw. bestimmen vergangene Erfahrungen, wie der Einzelne die Gegenwart wahrnimmt und was er für die Zukunft erwartet. Es sind gerade Erfahrungen des Scheiterns, also Grenzerfahrungen, die die Basis bilden für neue Problemlösungswege oder auch dafür, dass das Problem selbst verschwindet.
Übergänge Grenzerfahrungen sind unterschiedlich in Kontext und Intensität, doch immer geht es um einen Übergang, und das heißt um einen »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Bateson). Grenzen sind Momente/Orte des Übergangs, die zwei unterschiedliche Bereiche – oder besser Systeme – trennen, sodass es ein Diesseits und ein Jenseits der Grenze gibt. Die Suche nach dem Unterschied, der aus der Perspektive des Klienten einen Unterschied zwischen zwei Zuständen eines Systems (also einer Person, einer Familie, oder Firma) ausmacht, bedient sich dieser Struktur der Grenze. Der »Unterschied, der einen Unterschied macht«, erlaubt, die eigene Situation zu überschreiten, zu transzendieren, und eine neue Beschreibung der eigenen Situation zu finden. Niklas Luhmann hat diese Bewegung der Grenzerfahrungen als Situationen des »re-entry« formuliert,10 eine Operation, bei der die (unbekannte) Außenseite des Systems an der Innenseite des Systems virtuell konstruiert wird (Clarke, 2008, S. 71). Das heißt, das System konstruiert den realen Unterschied zwischen sich und dem Außen virtuell in sich selbst. In der alltäglichen Lebenswelt entspricht dies zum Beispiel den Annahmen, die ein »System« – eine Person, eine Gruppe – über Andere und Anderes hat. Auf der einen Seite der Grenze ist das Beobachtbare, auf der anderen Seite das Unbeobachtbare. Luhmann spricht von einem markierten und unmarkierten Zustand, die einander bedingen. Wenn man etwa sagt, dass etwas »unbeob10 Luhmann bezieht sich hier auf Spencer-Browns »Laws of Form« (1969/2008).
Übergänge133
achtbar« ist, denn sagt man damit, dass es beobachtet wird, aber sich der Beobachtung entzieht. Man kann über das »Unmarkierte« nur reden, indem man es »markiert«. Luhmann setzt das »Unmarkierte«, das was jenseits der Grenze ist, mit »Transzendenz« gleich, und das Markierte, Bestimmbare mit »Immanenz« (2000). Luhmann nennt das Immanente anschlussfähig für »psychische und kommunikative Operationen«, die sich in immanenten, festgelegten Bahnen bewegen. Zum Beispiel erscheinen Feiertage wie Geburtstag oder Weihnachten Kindern und auch Erwachsenen als Fixpunkte im Jahreslauf. Der Geburtstag hat seine Verortung in den Koordinaten des Kalendersystems, und egal ob man sich in vorrückendem Alter über die Zunahme an Geburtstagen freut oder nicht, der Geburtstag ist im raumzeitlichen Rahmen der Gesellschaft durch den Kalender fixiert und für amtliche Dokumente wie zum Beispiel den Reisepass relevant. Der gregorianische Kalender, nach dem der Geburtstag gezählt wird, ist weitestgehend mit dem Kalender der Banken identisch. Als unhinterfragte Konstante der gesellschaftlichen Wirklichkeit und mentale Vorrichtung der Zeitzählung hat der Kalender keine Perspektive der Transzendenz. Mit Weihnachten verhält es sich anders. Dem Kind mag das Fest als notwendiges, nahezu kosmisches Geschehen und Ausnahme im Alltag erscheinen. Dies ist verbunden mit Geschichten und Stimmungen, die mit dem Fest einhergehen. Als Kind bekommt man zu Weihnachten Geschenke, die aus einem »Unbekannten«, »Unmarkierten« kommen, das ein menschliches Antlitz trägt, nämlich als Christkind, Heiliger Nikolaus, Drei Heilige Könige oder Weihnachtsmann (mit oder ohne Rudolf dem Rentier) – sie alle kann man nicht beobachten. Wenn diese Geschichten im Laufe des Erwachsenwerdens keine Deutungsmuster für das eigene Leben bieten, verliert das Fest den Bezug zum »Unmarkierten« und erscheint nur noch durch den sozialen Kontext, etwa die Urlaubstage als Ausnahme. Weihnachten ist dann kein religiöses Fest mehr. Luhmann schreibt: »Sinnformen werden als religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür eine Form findet« (2000, S. 35). Religionen beschreiben, so Luhmann, Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz. Doch diese Beschreibung selbst sei nicht transzendent, sondern »im Inneren der Religion« situiert (2000).
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Transzendenzen
Geschichten und Mythen, aber auch rituelle Praktiken können dem Einzelnen helfen, »Eigenzustände über Fremdreferenz«, durch den Bezug zu Transzendenz zu bestimmen (S. 113). »Man kann auch sagen, dass eine Kommunikation immer dann religiös ist, wenn sie Immanentes unter dem Gesichtspunkt der Transzendenz betrachtet […]. Erst von der Transzendenz der Welt aus gesehen erhält das Geschehen in dieser Welt einen religiösen Sinn« (Luhmann, 2000, S. 77). Die immanente Perspektive wird als »sachbezogen« und »empirisch« erfahren. Wer aus einer transzendenten Perspektive spricht, bezieht sich auf empirische Themen, doch der »Bezug auf die Sache« hat einen Hintergrund, der unbestimmt bleibt. Empirisch lässt sich über einen Todesfall sagen, dass dieser Mensch nun gestorben ist, weil er alt war, einen Unfall hatte oder eine unheilbare Krankheit. Diese Feststellung ist nicht besonders tröstlich. Aus einer transzendenten Perspektive dagegen kann dieselbe Feststellung in einen größeren, wenngleich unbestimmten Horizont gestellt werden. »Es war Gottes Wille«, »das ist Karma« etc. klingt unter Umständen tröstlicher. Es gibt für viele Lebensumstände keine hinreichenden sachlichen Gründe: ob jemand den Arbeitsplatz bekommt oder nicht, ob man einen Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin findet oder verliert, ob man einen Unfall hat oder eine unheilbare Krankheit, all dies sind persönliche, singuläre und nur das Individuum betreffende Ereignisse. Argumente aus den Naturwissenschaften dagegen, die zur Begründung herangezogen werden, sind statistische Allgemeinheiten. Eine von zehntausend Personen bekommt ALS, aber warum ist das gerade mein Freund? Warum habe gerade ich Brustkrebs als eine von x-tausend Frauen bekommen? Die Statistik, die mit Wahrscheinlichkeiten und großen Zahlen arbeitet, ignoriert mich als Individuum. Gott, Karma oder das Schicksal sind nichts Statistisches, sondern eine Beziehungsinstanz und insofern transzendent.
Transzendenzen der Lebenswelt Dass etwas Sinn hat, kann erst im Nachhinein gesagt werden. Zu diesem Schluss kam der Soziologe Alfred Schütz (1899–1959) bei seiner Analyse der »Lebenswelt« (1975). Der Terminus stammt von Edmund Husserl, den Begründer der philosophischen Phänomenologie.
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Ein wichtiges Charakteristikum der phänomenologischen Methode ist, zu beschreiben, was vom Bewusstsein wahrgenommen wird, und sich dabei jeder Form von Urteil über das Wahrgenommene zu enthalten (»epoché«). Die Phänomenologie geht vom menschlichen Bewusstsein aus, das immer auf einen Gegenstand gerichtet ist (Intention). »Gegenstand« bedeutet in der Phänomenologie alles, worüber man sprechen kann, also auch Gefühle, Wünsche, Absichten usw., ebenso wie Wahrnehmungen von physischen Gegenständen, Tönen etc. Bewusstsein ist einerseits immer konkret und persönlich, doch andererseits lassen sich auch Strukturen finden, die in allen konkreten Subjekten zu finden sind und daher einem »allgemeinen Subjekt« zugeschrieben werden können. Die Absicht von Schütz war, mit Hilfe dieser phänomenologischen Methode eine Grundlage für die Soziologie zu finden, die sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft umfasst. Dazu ging Schütz von der Lebenswelt aus, also dem, was Menschen alltäglich leben und erleben, denn eine phänomenologische Analyse beginnt mit den Phänomenen, die am nächsten liegen: mit dem Hier und Jetzt der Person, des »Ich« (Endreß, 2006, S. 70 ff.). Ich bin ein belebter Leib, sehend, hörend, riechend, schmeckend, fühlend, denkend und erfahre, was ich sinnlich wahrnehmen kann. Auch wenn mein Verstehen der Welt nur von mir ausgehen kann, bin ich doch immer in sozialen Beziehungen, in Kommunikation mit anderen, wobei diese Kommunikation sowohl nichtsprachlich als auch sprachlich verläuft. Ich teile mit anderen einen sozialen Raum, der einerseits ein physischer Raum ist – ein bestimmter Ort wie zum Beispiel ein Zimmer, ein Haus, usw., andererseits aber auch zeitlich organisiert ist. Die gesellschaftliche Zeit bestimmt meine Erwartungen an andere, wenn es etwa um Pünktlichkeit geht. Die eigene »innere Zeit« verläuft jedoch in einer Dauer, die sich in einer Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft erstreckt, und ist nicht identisch mit der gesellschaftlichen Zeit. Die Erfahrungen der Vergangenheit bestimmen die Gegenwart und auch die Zukunft, die ich in der Gegenwart auf der Grundlage vergangener Erfahrungen entwerfe. So hat jede Person einen aus ihren Erfahrungen resultierenden Standort, der nur virtuell mit allen anderen vertauscht werden kann. Verständigung beruht wesentlich darauf, dass Menschen zwar unterschiedliche
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Transzendenzen
Standorte haben, und darum auch wissen; zugleich aber gleiche oder ähnliche Themen, Fragen und Bereiche relevant finden. Dabei wird in der alltäglichen Lebenswelt weder über den virtuell vertauschbaren Standort noch über die geteilte Relevanz reflektiert. Diese vorreflexiven Strukturen ermöglichen, so Schütz, Kommunikation bzw. symbolisches Handeln in der alltäglichen Lebenswelt. Hier ist der Ort, an dem Sinn entsteht – als Deutung im Nachhinein: »Im praktischen Umgang mit Objekten und in der Interaktion mit Mitmenschen eröffnet sich dem Menschen der Zugang zum Verstehen der Welt. Der Sinn, den Menschen der Wirklichkeit, der sozialen Welt und ihrem eigenen Handeln zuschreiben, entsteht prinzipiell aus ihrem Handeln selbst und verändert sich entsprechend durch dieses Handeln. Diese Einsicht […] erschließt sich jedoch erst im Zuge der nachträglichen Deutung vollzogenen Handelns« (Endreß, 2006, S. 66 f.). Zudem ist die alltägliche Lebenswelt nur eine von vielen möglichen Wirklichkeiten. Das zeigt sich schon dadurch, dass die alltägliche Lebenswelt nicht dort endet, wo meine Wahrnehmung aufhört. Dies ist selbstverständliches Alltagswissen – weswegen es leicht übersehen wird. Erst wenn man die selbstverständliche Annahme, »dass es so weiter geht« suspendiert, wird deutlich, wieviel Unbekanntes erscheint, das die selbstverständliche Alltagswirklichkeit überschreitet. Transzendenzen, Überschreitungen beginnen ganz alltäglich bei dem Umstand, dass man beispielsweise die Unterseite des Tisches, an dem man sitzt, nicht sehen kann – und vielleicht überrascht ist, wenn man unter den Tisch kriecht, um zu schauen, wie sie aussieht. Auch kann ich aus meiner Perspektive nicht sehen, wie und auch was mein Gegenüber aus seiner Perspektive sieht. Das Kinderspiel »Ich sehe was, was du nicht siehst« kann man als eine Einübung in die »kleinen Transzendenzen«, die unseren Alltag ausmachen, verstehen. Erinnerungen zählen zu den »mittleren Transzendenzen«, denn diese sind nicht nur zeitweilig, sondern immer der gegenwärtigen Wahrnehmung entzogen und lassen sich zum Beispiel nur durch Erzählungen oder Fotos in das Hier und Jetzt bringen, also vermittelt durch Medien wie Sprache oder Bild. Auch soziale Beziehungen sind nach Schütz »mittlere Transzendenzen«. Ich kann nicht wissen, was in dem Menschen mir gegenüber vorgeht, ich kann es höchstens durch Anzeichen vermuten oder durch das, was diese Person sagt. Ebenso
Transzendenzen der Lebenswelt137
entzieht sich die Welt der Ahnen einem direkten Zugang und gehört wie die Welt der Nachfahren zu den »mittleren Transzendenzen«. Als drittes nennt Schütz »außeralltägliche Transzendenzen« – manchmal ist auch von »großen Transzendenzen« die Rede. Dazu gehört – was vielleicht zunächst überraschend ist – die Vorstellung einer »Wir-Beziehung«, in der jemand steht. Auch Vorstellungen wie Volk, Nation oder Religion rechnet Schütz zu den großen intersubjektiven Transzendenzen. Auf der persönlichen Seite gehören zu »außeralltäglichen Transzendenzen« alle Formen von »überwältigenden Erfahrungen«, in denen man aus der alltäglichen Wirklichkeit austritt (Endreß, 2006, S. 87). Unerwartet und plötzlich kommen bedrohliche Ereignisse wie Naturkatastrophen, Lebenskrisen, Unfälle, ein Dem-Tod-nahe-Sein. Aber Außeralltägliches kann auch geplant sein: etwa ein Theaterbesuch, aber auch ein Spielrunde oder die Teilnahme an einem religiösen Ritual wie zum Beispiel der Besuch der Weihnachtsmette oder die Teilnahme an einem Meditationsretreat. Hier wird der Eintritt in eine außeralltägliche Transzendenz angeleitet durch das gesamte Setting oder auch durch Angaben, wie man sich verhalten oder üben soll. Ähnlich gilt dies für Entspannungsübungen, auch sie gehören aus phänomenologischer Perspektive zu außeralltäglichen Transzendenzen. Da eine wissenschaftliche Perspektive ebenfalls die Alltagswirklichkeit übersteigt, zählt Schütz auch das Betreiben von wissenschaftlicher Forschung zu den außeralltäglichen Transzendenzen. Für Schütz ist ein Kennzeichen von Transzendenzen, dass sie unbeobachtbar, aber durch Zeichen präsent sind. Eine mit Eselsohr versehene Buchseite deutet als Merkzeichen auf eine Textpassage und die damit verbundenen Gedanken hin. Ein Anzeichen, Symptom, verweist ebenfalls auf etwas Präsentes, aber nicht direkt und dinghaft Wahrnehmbares: Rauch ist zum Beispiel ein Anzeichen für Feuer; eine tiefe, ruhige Atmung im Wachzustand ein Anzeichen für einen Ruhezustand. Symbole repräsentieren entweder in sprachlicher Form als Worte und Begriffe oder als Bildzeichen etwas, das die gegenwärtige Raum-Zeit-Konstellation überschreitet.
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Transzendenzen
Transzendenz als Möglichkeitsraum Systemische Methoden arbeiten mit funktionalen Transzendenzen. Im Sinne von Schütz’ und Luckmanns Definition sind dies Anzeichen und Merkzeichen (»Woran würdest du merken, dass …?«) oder auch Symbole (z. B. für externalisierte Aspekte oder auch in Aufstellungen). Das Unbestimmte – das »Es-kann-auch-anders-Sein« – ist Charakteristikum systemischer Perspektiven. Luhmanns Bestimmung von Transzendenz ist formal und öffnet den Blick darauf, dass das Bestimmte aus sich heraus nur auf anderes Bestimmtes verweisen kann. Eine letzte Begründung kann es damit nicht geben, jedoch Offenheit für Unbestimmtes. Transzendenz soll im Folgenden funktional als Topos, d. h. eine Redefigur, von der aus jeder Sinn kontingent ist, verstanden werden (Luhmann, 2000, S. 118). Das bedeutet, dass man von allem sagen kann, »es könnte auch anders sein«. Statt von einem »Möglichkeitssinn« (Musil) ist im systemischen Zusammenhang besser von einer funktionalen Transzendenz zu sprechen, wenn dieses Es-könnteauch-anders-sein methodisch genützt wird. Hypothesenbildung und hypothetische Fragen wie »Angenommen dass …«, »Gesetzt den Fall, dass …«, »Was wäre, wenn …« etc. können die Grenzen der bisherigen Welterfahrung lockern und relativieren. Das, was jenseits der Grenze lag, kann spielerisch benannt, mit Bedeutungen belegt und als vielleicht gangbarer Weg gesehen werden. Der Entwurf einer »Als-ob-Realität«, »die niemanden festlegt« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 155) lebt von der Möglichkeit, eine gegebene Situation zu transzendieren und probeweise andere Haltungen und Handlungen zu wagen. Unbestimmtes – das, was jenseits des bisher Bekannten lag – wird versuchsweise in Bestimmbares überführt. Dabei verläuft die Kommunikation zwischen Klientin und Berater »eben nicht im Horizont eindeutiger Antworten« (Nassehi, 2009, S. 448). Wenn Transzendenz nicht spekulativ, sondern als Funktion in systemischen Kontexten verstanden wird, könnte der Spielraum systemischen Arbeitens größer werden, und traditionelle religiöse Metaphern mit einbezogen werden. Von der funktionalen Transzendenz der systemischen Beratung ist das Verständnis von Transzendenz in religiösen und spirituellen
Transzendenz als Möglichkeitsraum139
Kontexten zu unterscheiden. Das ontologische Argument für Transzendenz argumentiert zunächst ähnlich wie Luhmann. Gott, so der Theologe und Philosoph Anselm von Canterbury (ca. 1033–1109) vor neunhundert Jahren, ist größer als alles, was von Menschen gedacht werden kann. »Größer« bezieht sich dabei auf den Umfang des Begriffs. Gott kann zwar wie alle Dinge auf der Welt vom Menschen gedacht werden, doch weil Gott kein Etwas in der Welt ist, können Menschen Gott nicht begrifflich denken in derselben Weise, wie man über eine physische Erscheinung, einen Begriff oder auch eine mathematische Gleichung etc. denken kann. Der ontologische Gottesbeweis setzt Gott als Grenzbegriff; als Begriff, über den man nur immanent, in menschlicher Perspektive sprechen kann. Über Transzendentes kann nur immanent gesprochen werden, daher ist alles, was Menschen positiv oder negativ über Gott sagen, unzulänglich. Im Unterschied zum systemischen Transzendenzbegriff Luhmanns und anderer nimmt der ontologische Gottesbeweis an, dass dieses Nichtweltliche existiert. In diesem Punkt sind sich t heistische und nicht-theistische Traditionen im übrigen einig: im Buddhismus etwa heißt es im Pali-Kanon, der Sammlung von Lehrreden des Buddha Siddhartha Gautama über Nirvana: »Wenn es das Ungeborene, Ungewordene, Ungeschaffene, Ungestaltete nicht gebe, dann wäre kein Ausweg aus dem Gewordenen, Geborenen, Geschaffenen, Gestalteten zu erkennen« (Udana VIII, 1; Bodhi, 2008, S. 343). Ähnlich heißt es im Daodejing: Das Dao, über das man sprechen kann, ist kein Dao (Kap. 1, Simon, 2009).
11 Spiritualität: dekonstruiert
Ein Engel stürzt auf die Erde, und dann noch einer und noch einer – und alle werden angezogen von einem jungen Burschen, der gerade sein Moped repariert. Sie stehen um ihn herum, hocherotische weibliche Geschöpfe, und dann nimmt die erste den Heiligenschein vom Kopf und zerschmettert ihn am Boden, dann noch eine und noch eine.
Die Handlung des Werbeclips aus dem Sommer 2011 bricht an dieser Stelle ab, und eine samtige Männerstimme empfiehlt ein MännerDeodorant, das »selbst Engel in Versuchung führt«. In anderen Clips spielt John Malkovich Gottvater, der auf Kaffeekapseln scharf ist – »Heaven can’t wait«. Googelt man »Religion und Werbung«, findet man sehr viele Bilder, die meisten mit christlichen Motiven. Sucht man jedoch nach Bildern zu »Spiritualität und Werbung«, erscheinen einige Bilder mit Buddha-Statuen, aber sonst kaum religiös konnotierte Sujets, ausgenommen einige Videos auf einem konservativ katholischen Youtube-Kanal, in denen ein Psychiater Reue empfiehlt. Auf den Websites zu »Spiritualität« finden sich nur wenige eindeutige Produktwerbungen, jedoch auratisch überhöhte Abbildungen von Muscheln, Steinen, dem Himmel, einem Liebespaar. Religion, so scheint es, wird mit konkreten Geschichten assoziiert, Spiritualität dagegen verbunden mit Natur, mit Beziehung, mit Stille und Selbstfindung. Das passt zu den empirischen Daten. Religion und Spiritualität sind ambivalente und komplexe Größen. Diese Ambivalenz sah Karl Marx deutlich, als er 1844 schrieb, die Religion sei »der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt« und »das Opium des Volkes« (1843–44/1976, S. 378), das mit dem Ende der Ausbeutung ausgedient haben würde. Inzwischen sind mehr als hundertfünfzig Jahre vergangen, und der Optimismus, der mit Marx auf ein rasches Ende der Herzlosigkeit
Spiritualität: dekonstruiert141
und Ausbeutung hoffte, wurde enttäuscht. Für die Religionen hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts der gesellschaftliche Ort verändert, aber sie sind immer noch wesentliche Kräfte in der Gesellschaft, auch wenn heute eine scheinbar frei flottierende Spiritualität dominiert. Eine aktuelle Studie fragte nach der Semantik von Spiritualität und verglich dazu Daten aus Deutschland und den USA (Keller, Klein, Swhajor-Biesemann u. Streib, 2016, S. 53). Eine überwiegende Mehrheit bezeichnet sich demzufolge als »eher spirituell als religiös« (USA 50,9 %, Deutschland 48,8 %); als »sowohl religiös als auch spirituell« kategorisiert sich etwa ein Viertel in den USA (27,3 %) und etwa ein Fünftel in Deutschland (18,9 %); »weder religiös noch spirituell zu sein« geben in Deutschland 22,1 Prozent und in den USA 15,4 Prozent an. »Eher religiös« bezeichnen sich in Deutschland 10,4 Prozent und in den USA 6,4 Prozent – dies sind zumeist Angehörige traditionalistischer Gruppen. Doch die empirischen Befunde sind widersprüchlich. Etwa kommt der Bertelsmann Religionsmonitor 2016 zu dem Schluss, dass in Deutschland »nur jeder Fünfte von sich selbst (sagt), dass er ›ziemlich‹ bzw. ›sehr‹ religiös ist; die Zahl derjenigen dagegen, die sich als ›wenig‹ bzw. ›gar nicht‹ religiös einschätzen, ist mit 35 % fast doppelt so hoch. Im Osten verschiebt sich das Verhältnis noch deutlicher zugunsten der ›wenig‹ bzw. ›gar nicht‹ Religiösen (12 % zu 72 %)« (Pollack, Müller, Rosta u. Dieler, 2016, S. 11). Wird nach Spiritualität gefragt, schätzen sich 2016 in Deutschlands Westen 13 % (2008: 12 %) als »ziemlich« oder »sehr« spirituell ein und im Osten 6 % (2008: 4 %). Dagegen halten sich 59 % (2008: 62 %) im Westen und 77 % (2008: 81 %) im Osten für »wenig« bzw. »gar nicht« spirituell (S. 12). Da es für solche quantitative Studien bislang kein von allen akzeptiertes Messinstrument gibt, liefern empirische Untersuchungen inkongruente Resultate. Die Ursache liegt in der Vieldeutigkeit von »Spiritualität« und »Religion«, meint der Religionspsychologe Anton Bucher. Die Ergebnisse entsprechen den jeweiligen Konzepten sowie dem Wortlaut und dem Setting der Befragung. Zudem müsste jeweils erklärt und begründet werden, welche Skalierung und warum diese oder jene Skala zur Untersuchung von Spiritualität verwendet, diese oder jene Population befragt wird (Bucher, 2014, S. 61).
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Spiritualität: dekonstruiert
Trotz der Inkonsistenzen zeigen die Daten jedoch deutlich, dass es eher Interesse an »Spiritualität« gibt als an »Religion«. So ist etwa vieles, was früher als »religiös« bezeichnet wurde, nun »spirituell« (Knoblauch, 1991, S. 108). Das gilt selbst für so klassische religiöse Formen wie das persönliche Gebet. Dazu kommt, dass Religion im Alltag zunehmend weniger eine Rolle spielt, und daher Kenntnis und Verständnis religiöser Inhalte und Traditionen zurückgehen. Doch sind die Strukturen des Staatskirchentums der Vergangenheit immer noch präsent, und die Kirchen, evangelisch wie römischkatholisch, werden noch immer als Autorität wahrgenommen. In Bezug auf diesen Kontext wird »Spiritualität« verwendet, um sich von kirchlichen Institutionen und Gebräuchen abzugrenzen (Heller u. Heller, 2014, S. 56). Die Religionswissenschaftlerin Birgit Heller resümiert: »Die moderne Spiritualität repräsentiert einen Typ von Religiosität, der antidogmatisch, antiinstitutionell, erfahrungsorientiert, plural, subjektiv und teilweise, aber nicht zwangsläufig privat ist« (S. 57). Dabei ist offen, ob es einen empirisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Religionskritik und Spiritualität gibt. Der Religionssoziologe Detlef Pollack vermutete Ende der 1990er Jahre, dass auch die individuelle Spiritualität sinken würde, je mehr die Distanz zu kirchlichen Institutionen zunehme (Pollack, 1998, S. 79, 614). Mittlerweile untersucht Pollack mit einer multifaktoriellen Analyse die Veränderung der religiösen Landschaft, wobei Spiritualität kein Argument mehr darstellt (Pollack, 2015). Wenn man heute von Spiritualität spricht, meint man entweder einen soziokulturellen Bereich der Gesellschaft, oder Praktiken religiöser Weg-Kulturen (z. B. Schamanismus, Yoga-Praktiken, Sufismus, buddhistische Übungswege oder christliche Kontemplation) oder sieht Spiritualität als eine menschliche Grundmöglichkeit (Baier, 2012, S. 24). Auf der soziokulturellen Ebene machen Religionswissenschaftler ein »holistisches« oder »ganzheitliches« Milieu aus. Als »ganzheitlich« werden zunächst vor allem medizinische Traditionen, Heilverfahren und körperliche Praktiken angesehen, die mit religiösen Traditionen verbunden sind. Dazu zählen zum Beispiel Ayurveda oder traditionelle chinesische Medizin und andere alternative Heilverfahren. Das Kendal-Projekt, eine großangelegte zweijährige Stu-
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die (2000–2002) von Peter Heelas und Linda Woodhead in der englischen Kleinstadt Kendal und Umgebung (ca. 37 000 Einwohner zu dieser Zeit), zeigte eine stetige Abnahme des Kirchenbesuchs und eine Zunahme des »holistischen Milieus«, dem rund zwei Prozent der Einwohner angehörten.11 Dies wurde wesentlich durch die Teilnahme an alternativen Heilpraktiken bestimmt, wie der Fragebogen der Studie zeigt. Von insgesamt 54 Positionen betrafen mehr als die Hälfte Körper- und Heilpraktiken unterschiedlichster Art, die restlichen Positionen unterschiedlichste Formen von rituellen Praktiken oder Meditationen, wobei die Grenzen nicht immer klar zu ziehen sind. Dem »holistischen Milieu« wurde ein Interesse an »self-spiritualization« (Heelas u. Woodhead, 2005) oder »sacralization of the self« (Houtman u. Aupers, 2008) attestiert, worunter eine möglichst umfassende Entfaltung des persönlichen Potenzials verstanden wurde. Höllinger und Tripold, die im Anschluss an diese Studien das holistische Milieu in Österreich untersuchten, definierten Spiritualität mit Blick auf das holistische Milieu als »1. Eine innengeleitete, die Autonomie des Subjekts betonende Suche nach Sinn bzw. nach Antworten auf die zentralen Lebensfragen; 2. Die Überzeugung, dass neben oder über der Alltagsrealität noch eine höhere Realität existiert; diese wird meist mit Begriffen aus östlichen oder mystisch-religiösen Traditionen bzw. deren modernen Entsprechungen (Lebenskraft, universelle Lebensenergie) beschrieben; 3. Praktiken, die darauf abzielen, die Alltagswelt zu transzendieren und eine Verbindung zur höheren Realität herzustellen; 4. das Bemühen, die Potentiale der eigenen Persönlichkeit zu entfalten« (Höllinger u. Tripold, 2012, S. 35 f.).
Spirituelle Wanderer Die Definition von Höllinger und Tripold passt in vielen Zügen zu dem empirisch erhobenen Typus des »spirituellen Wanderers«. Dieser Begriff stammt von dem Bamberger Religionswissenschaftler Christoph Bochinger. Um den Religionswandel in Deutschland 11 http://www.lancaster.ac.uk/fss/projects/ieppp/kendal/methods.htm
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Spiritualität: dekonstruiert
empirisch belegen zu können, unternahm das Team um Christoph Bochinger eine umfangreiche Feldforschung in Nordbayern, um die religiöse Orientierung in der Gegenwartskultur zu erheben. Aus Interviews mit »spirituellen Avantgardisten« wurden Fragebogen für Einzelinterviews entwickelt, deren Resultate in Gruppendiskussionen einflossen. Das höchst umfangreiche Material wurde mit Hilfe einer Software aufgearbeitet, die erlaubte, aus den Transkrip ten zentrale Deutungselemente und Argumentationsmuster festzustellen. Daraus wurde eine Merkmalliste erarbeitet, die dann zu einem Idealtypus verdichtet wurde. Dieser Idealtypus half, in der Vielzahl gefundener Einzelerkenntnisse Zusammenhänge zu sehen, die erlauben, mit entsprechend geschultem Blick diese auch in der Wirklichkeit wiederzufinden, wie es im Vorwort mit Hinweis auf Max Weber heißt. Das Ergebnis war der Idealtypus des »spirituellen Wanderers« als »Prototyp spätmoderner Religiosität« (Bochinger, 2002). Die Idealtypen »traditionaler« christlicher Religiosität, wie der »gesetzesfromme Gewohnheitschrist« oder der Typ einer »lebenszyklisch-orientierten christlichen Kasualfrömmigkeit« seien im Rückzug begriffen (Bochinger et al., 2009, S. 34). Als möglichen Religiositätstypus der Spätmoderne nennt Bochinger noch den »nicht-pluralen Traditionalisten«. Er bezieht diesen Typus nur auf das Christentum, doch lassen die Untersuchungen über das Religionsverständnis von in Deutschland lebenden türkischstämmigen Personen vermuten, dass sich dieser Typus spätmoderner Religiosität auch unter zeitgenössischen Muslimen findet (Pollack et al., 2016). Der dominante Typus hierzulande ist jedoch der »spirituelle Wanderer«, so Bochinger. Dieser zeichnet sich vor allem durch »Vertrauen in die eigene religiöse Urteilskraft« aus (Bochinger, 2002, S. 36). Nicht eine von außen bestimmte Orthodoxie, sondern die eigene Subjektivität ist der Kompass für ihren »Weg«, wie die zentrale Metapher der Wanderer lautet. Als erstes wird etwas ausprobiert, ob es gut tut; dann setzt erst als zweites ein Reflexionsprozess ein. Für spirituelle Wanderer sind Traditionen, so das Ergebnis der Forschung, nicht beliebig und sie werden in Beziehung zum eigenen Weg gesetzt. Dies gilt sowohl für Menschen, die sich dem alternativreligiösen Spektrum zurechnen als auch für evangelikal- charismatisch Bewegte. Auch wenn sich beide Richtungen ideolo-
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gisch stark unterscheiden, sind für beide Erfahrung und Authentizität zentrale Werte, ebenso wie Vertrauen in den jeweiligen Anbieter von Kursen oder Veranstaltungen. Spirituelle Wanderer suchen Weite und lehnen Enge ab; sie sind bereit, sich intensiv einzulassen, wollen aber nicht zum Bleiben gezwungen werden (S. 65). Wesentlich ist für sie die körperliche Dimension: es geht darum, das Göttliche »am eigenen Leib« zu erfahren, also um eine Verbindung von intellektuellen, emotionalen und körperlichen Impulsen, so das Ergebnis der Studie. Pilgern, Massage, Meditation, Yoga oder Tanz werden als mögliche Zugänge zur »höheren Allgemeinheit« erfahren. Gesucht wird Entspannung und die Stärkung des Körpers. Ruhe und Erholung werden vom spirituellen Wanderer jedoch nicht als Selbstzweck angestrebt, sondern als Vorbereitung und Ermöglichung von Erfahrungen »höherer Allgemeinheit«. Ein wichtiger Fokus liegt auf Heilung und Gesundheit: Körper, Seele und Geist werden als ein Ganzes erfahren und sollen als ein Ganzes behandelt werden. Daher spielen alternative Heilmethoden auf dem Weg der Wanderer eine große Rolle. Der »Weg« bedeutet für die spirituellen Wanderer, dass sie sich in einem spirituellen Prozess – der Arbeit mit Körper und Psyche – »mit dem Göttlichen in einen Prozess des Wachstums und der Reifung« verbinden (S. 65). Gesucht wird ein innerer Zugang zu dem »pfadlosen Land der Wahrheit« (S. 68). Meditation und Selbstreflexion sind für den spirituellen Wanderer wichtig, um inneren Raum zu schaffen. »Was ist es, das mich jetzt beschäftigt?« ist, so die Studie, die Ausgangsfrage für die Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation und der Arbeit an sich selbst. Dies wird nicht als individualistisches Unterfangen gesehen, sondern schließt Kommunikation und Austausch über das Erfahrene ein. Kirchliche Institutionen und kirchliche Sozialisation, speziell wenn sie vermitteln, Menschen seien »von Grund auf schlecht« oder Druck ausüben, werden vom spirituellen Wanderer abgelehnt. Es geht ihm oder ihr darum, freier zu werden. Achtsame Wahrnehmung und von Tabus und Druck befreite Kommunikation werden als unterstützend erlebt. Ein Theologe nannte dies »Exodus-Haltung« (S. 62), nach dem Bild des Auszugs des Volkes Israel aus der ägyptischen Sklaverei. Die Verantwortung für ein Bleiben oder Gehen ist demnach Sache des Einzelnen. Das Stichwort ist Selbstermächti-
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Spiritualität: dekonstruiert
gung. Oberflächlichkeit und passive Konsumentenhaltung werden vom spirituellen Wanderer dem Esoterikkommerz zugeordnet und abgelehnt: »Spirituelles Wissen – egal wo es herkommt – muss in der je eigenen (spirituellen wie Alltags-)Praxis aktiv ›ausprobiert‹ und gelebt werden. Wer sich dieser Herausforderung nicht stellt, riskiert, (in Richtung Kirchen gesprochen) ›unmündig‹ oder (in Richtung Esoterik gesprochen) ›passiver Konsument‹ zu bleiben. Allein das ›Ausprobieren‹ führt zu ›authentischer Erfahrung‹, die ihrerseits die Grundlage bietet, um religiösen Autoritäten auf Augenhöhe gegenübertreten und beurteilen zu können, ob jene selbst ›authentisch‹ sprechen (also ebenfalls auf der Basis eines persönlich ›ausprobierten Wissens‹) oder ob sie ›totes Theoriewissen‹ referieren und gar diesem gegenüber Glauben einfordern« (S. 80). Die Orientierung der Wanderer beruht auf der Idee der Konvergenz von Mensch und »höherer Allgemeinheit« (ein Ausdruck, der von befragten »spirituellen Avantgardisten« eingebracht wurde). Energie, Liebe und Freude werden als Dimensionen oder auch Kriterien der Annäherung an die »höhere Allgemeinheit« wahrgenommen. Diese Dimension wird sowohl personal als auch apersonal verstanden. Wahrnehmungen von Stimmungen und Energien werden jedoch gelegentlich als »Wesenheiten« angesehen, aber zugleich auch der »höheren Allgemeinheit« zugeordnet. Man wünscht sich und den Anderen einen friedlichen Tod, sieht den Tod aber nicht als Ende des Weges. Reinkarnation bedeutet: viele Chancen, viele Leben, viele Wege (S. 77). Spirituelle Wanderer sind, wie die Untersuchung von Höllinger und Tripold (2012) und auch der Augenschein in einschlägigen Seminaren und Buchhandlungen zeigen, vielfach in therapeutischen und beratenden Kontexten verortet – sei es als Klienten oder Therapeutinnen bzw. Berater. In sozialen, pflegenden, heilenden und ganz allgemein dienstleistenden Berufen sind Praktiken des holistischen Milieus sehr präsent – von ganzheitlich arbeitenden Medizinern über Physiotherapeuten bis zu Ernährungsberatern oder Freizeitpädagogen, gelegentlich auch im landwirtschaftlichen Bereich oder seltener in der Baubranche.
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Spirituelle Weg-Praktiken Eine wesentliche Rolle kommt in diesem Setting den »spirituellen Wegen« zu, Praktiken der (Selbst-)Kultivierung wie die verschiedenen traditionellen Yoga-Wege, Schamanismus, buddhistische Übungsformen wie Theravada- oder Zen-Buddhismus, der Weg der Sufis (der islamischen Mystiker) oder der christlichen Kontemplation etc. Allen diesen »Weg-Praktiken« ist gemeinsam, dass sie in vormodernen Weltbildern eingebettet sind und diese vormodernen Traditionen für sich legitimierend in Anspruch nehmen, obwohl sie selbst in der einen oder anderen Form Ergebnis von Modernisierungsprozessen sind. Die allermeisten Traditionen kommen aus einer agrarischen, seltener nomadischen Kultur, in der zumeist feudale oder tribale und patriarchale Formen das Zusammenleben der Menschen bestimmt haben und oft noch heute bestimmen. Hierfür einige Beispiele: 1. Schamanische Praktiken sind meist mit tribalen Kulturen verbunden, die Nomaden oder auch Ackerbauer sind. Der Neoschamanismus – ein wichtiger Vertreter ist Michael Harner (z. B. 1986, 2016) – verpflanzt die Praktiken in den Kontext von Großstädten und industrialisierten Lebensformen. 2. In den Hindu-Traditionen verbindet sich Yoga mit den verschiedensten religiösen Ausrichtungen, wobei Hatha-Yoga kaum von Bedeutung ist. Die heute in industrialisierten Großstädten sowohl in Europa, Amerika oder auch Indien verbreiteten Varianten von Hatha-Yoga verdanken sich europäischen Einflüssen während der britischen Kolonialzeit (Singleton, 2010). 3. Qigong und Tai-Chi sind erst nach der chinesischen Kulturrevolution (1966–1976) in China populäre Übungsformen geworden und haben einen Modernisierungsprozess durchlaufen, in dem ihr religiöser und kultureller Bezugsrahmen durch Verwissenschaftlichung neutralisiert, der Schwerpunkt auf Gesundheit gelegt und die Übungen von universitären Gremien standardisiert wurden (Heise, 1999). 4. Die verschiedenen buddhistischen Praktiken werden im Westen in einem Kontext gelehrt, der selbst das Ergebnis eines vielschichtigen Modernisierungsprozesses innerhalb des asiatischen Buddhismus ist (McMahan, 2008). 5. Auch christliche Kontemplationsübungen sind durch verschiedene Modernisierungsprozesse gegangen, wobei unter anderem zen-buddhistische Übungsformen übernommen wur-
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Spiritualität: dekonstruiert
den (Baatz, 2009). In all diesen Fällen werden zwar Authentizität und Ursprünglichkeit der Tradition beschworen, doch handelt es sich aus kulturwissenschaftlicher Sicht um »erfundene Tradition« (Hobsbawm u. Ranger, 1983) oder historische Fiktion. Damit sind Verhaltensweisen und Wertvorstellungen gemeint, die auf den gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart antworten, indem sie Strukturen vorgeben, die für die Bewältigung der neuen Situation hilfreich sein sollen und dabei die Vergangenheit zu ihrer Legitimation einsetzen. Kulturwissenschaftlich gesehen sind »erfundene Traditionen« ein häufiges Phänomen der Bewältigung von Gegenwartsproblemen. Trotzdem darf man sich wundern, wenn etwa ein Therapeut TantraAbende bewirbt, indem er oder sie darauf hinweist, dass diese Übungen fünftausend Jahre alt seien. Tantra ist nach übereinstimmender Ansicht der Indologen erst nach dem 5. oder 6. Jahrhundert n. Chr. in Indien entstanden, und zudem werden tantrische Übungen weder in Hindu-Traditionen noch im Buddhismus in allgemein zugänglichen Settings vermittelt. Übungen, die in westlichen Tantra-Workshops gezeigt werden, sind meist weder alt noch authentisch, doch ihre ehrwürdige Aura lädt Suchende unterschiedlicher Art ein. So lernte eine junge Frau in einem Tantra-Kurs, sich das erste Mal als Frau anzunehmen und zu lieben, was zu einer Rückbildung ihrer Endometriose führte und dann auch zu einer ungewollten Schwangerschaft.
Auch wenn heute »Spiritualität« scheinbar religionsfrei flottiert, ist Spiritualität »chemisch rein« nicht zu finden. Spirituelle Diskurse bedienen sich traditioneller Bilder, Konzepte und Begriffe, von denen manche aus religiösen Überlieferungen, andere aus aufklärerischen und wieder andere aus naturwissenschaftlichen Quellen stammen. So ist etwa die Bedeutung, die man »Erfahrung« im Bereich Spiritualität gibt, dem aufklärerischen und naturwissenschaftlichen Denken geschuldet, allerdings mit einem Umweg über Indien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts interpretierten indische Gelehrte und Reformer die Hindu- Traditionen im Unterschied zum Christentum als »Religion der Erfahrung« – dies mit Blick auf die Bedeutung der Naturwissenschaft und die Religionskritik der Aufklärung. In den komplexen transnationalen Austauschprozessen zwischen südostasiatischen und westlichen Eliten
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ab Mitte des 19. Jahrhunderts spielte »Erfahrung« als Dimension von Spiritualität eine immer wichtigere Rolle (Halbfass, 1988, S. 378–402). Auch heute viel verwendete Begriffe wie »karma« oder »chakra« haben in diesem komplexen Prozess eine Um- und Neudeutung erfahren. Die indische Auffassung von Karma umreißt nur die unverfügbaren Umstände, unter denen ein Mensch geboren wird. Karmisch bedingt sind nach klassischer indischer Auffassung der Ort und die Zeit der Geburt, die soziale Stellung und das psychophysische Temperament (Halbfass, 2000). Heute in Europa populäre Karma-Konzepte verknüpfen naturwissenschaftliche Kausalitätskonzepte, antike Philosophie und christliche Prädestinationslehren mit indischen Konzepten, die dann nach Asien reimportiert wurden (Zander, 1999). »Chakra« bedeutet »Rad« und taucht erst um das 10./11. Jahrhundert im Kontext tantrischer Übungen auf. Eine Vereinheitlichung zu einem »Chakren«-System ist das Ergebnis eines komplexen Austauschprozesses zwischen Theosophen und indischen Eliten (Baier, 2016).
Dies ist ein gutes Beispiel für den sogenannten »Pizza-Effekt« (Bharati, 1970), also wechselseitige Kultur- und Austauschprozesse.12 Heute spricht man in der Kulturwissenschaft in diesem Zusammenhang von einer »geteilten Geschichte« (Randeria, 1999). Ein großes Feld von Verwerfungen und Missverständnisse betrifft die verschiedenen Meditationspraktiken, zumeist aus asiatischen Traditionen. Lange wurde hier im kulturwissenschaftlichen Kontext von »Trance« gesprochen, wenn man über buddhistische oder hinduistische Versenkungspraktiken sprach. Erst ab den 1960er Jahren, als zunehmend asiatische Meditationslehrer nach Europa und in die USA kamen, wurde allmählich deutlich, dass Versenkungsübungen 12 Die Pizza war ursprünglich ein in Sizilien verbreitetes Armenessen: ein Fladenbrot, das nur mit Tomatenscheiben und Oregano zubereitet wurde. Sizilianische Auswanderer in New York belegten als erste die Pizza mit verschiedensten Zutaten und reimportierten diese Variante nach Italien, von wo aus sich die Pizza weltweit verbreitete und immer wieder neu interpretiert wurde (z. B. als Pizza Hawaii).
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Spiritualität: dekonstruiert
und Trancepraktiken weder in der Form der Übung noch in den Wirkungen dasselbe sind. Dies ließ sich auch neurophysiologisch nachweisen. In der schamanischen Trance zeigt das EEG im Gehirn eine »entspannte Hochspannung« (paradoxical arousing; Guttmann, 1990), die sich deutlich von EEGs von zum Beispiel Zen-Praktizierenden unterscheidet. In der Meditationsforschung (zusammenfassend Ott, 2010, S. 139–190) fehlen bisher Untersuchungen zu den unterschiedlichen Formen von Trance bzw. Versenkung.13 Ein weiteres weit verbreitetes Missverständnis besagt, dass man beim Meditieren nicht denken soll. Diese Ansicht geht auf den indischen Mönch Vivekananda (1863–1902) und den japanischen ZenGelehrten Daisetz T. Suzuki (1870–1966) zurück. V ivekanandas Übersetzung von Patanjalis Yogasutra – einer authoritativen Übungsanleitung des Yogaweges, verfasst zwischen 200 v. Chr. und 200 n. Chr. – empfiehlt, Gedanken und Gefühle zu unterdrücken. Der originale Text empfiehlt jedoch nirodha, ein »Zur-Ruhe-Kommen« des Geistes. Vivekanandas Übersetzung war bis in die 1970er Jahre maßgeblich für interessierte Kreise und übte mit ihrer irrigen Interpretation von nirodha entsprechenden Einfluss aus. Ähnliches gilt für die Schriften von D. T. Suzuki (z. B. 1932, 1939/2003). In allen Übungstraditionen (christlich, buddhistisch, hinduistisch etc.) wird empfohlen, während der Übung nicht Gedanken und Emotionen nachzuhängen, sondern auf die Übung fokussiert zu bleiben. Doch die Verwechslung des Procedere der Praxis mit einer allgemeinen Lebenshaltung führt dazu, dass in Meditationszirkeln oft Denken, besonders kritisches, kreatives und ethisches Nachdenken diskreditiert wird. Es ist für Therapeuten und Beraterinnen vermutlich nicht möglich, die Verwerfungen in transkulturellen Vermittlungsprozessen der letzten Jahrhunderte zu studieren. Im Folgenden soll an einigen heiklen Bereichen spiritueller Praxis gezeigt werden, dass Schwierigkeiten von Klienten auch hier vor allem mit Grundmustern allgemein menschlichen Verhaltens zu tun haben können.
13 Dank an Helmut Renger (Landeskrankenhaus Süd-West, Graz) für die Information.
12 Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten
Nach einer Umfrage von »News« glauben rund zwei Drittel der Deutschen an Gott, die überwiegende Mehrheit davon an einen gütigen Gott, nur vier Prozent an einen strafenden und sieben Prozent an einen distanzierten Gott. Nach der 16. Shell-Jugendstudie von 2010 glauben 26 Prozent an einen persönlichen Gott, 21 Prozent an eine überirdische Macht, 21 Prozent wissen nicht, was sie glauben sollen, und 26 Prozent glauben weder an Gott noch an eine überirdische Macht. An Schutzengel glauben rund 60 Prozent aller Deutschen, jeder fünfte Deutsche glaubt an Geister, mehr als jeder vierte an eine Wiedergeburt (Allbus-Studie 2008). In jeder europäischen Großstadt und oft auch in Kleinstädten gibt es Geschäfte, in denen man Heilkristalle, Gongs, Buddhafiguren, Glückssteine, Tarotkarten und dazugehörige Literatur kaufen kann. Unter den Personen, die zu systemischer Beratung kommen, haben die meisten mit alternativen Heilmethoden, Astrologie oder anderen unter »Esoterik« subsumierten Praktiken Kontakt gehabt (Höllinger u. Tripold, 2012). Das soziokulturelle Feld der Spiritualität ist vielfältig und keineswegs auf einen Nenner zu bringen. Zwar legen die Umfragen nahe, dass es mit »Selbsttranszendenz und Verbundenheit« (Bucher, 2016) einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt, doch ist das »holistische Milieu« sehr divers und diese Vielfalt wird auch in psychotherapeu tischen Settings oder in die Beratung hineinspielen. Im Umgang damit kann man verschiedenen Modellen und Motivlagen folgen. Man kann für Ganzheitlichkeit, Sinnfindung, Selbstverwirklichung und soziale Interdependenz optieren; oder aber man kann den Anspruch der religiöser Institutionen, autoritative Lehrinstanzen darzustellen, betonen (Utsch, Bonelli u. Pfeifer, 2014, S. 52). Manche beziehen sogenannte »außeralltägliche Bewusstseinsformen« in die Arbeit mit Klienten ein und zeigen Meditationspraktiken oder schlagen schamanische Reisen vor. In allen diesen Fällen werden jeweils
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Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten
Maßstäbe für eine als angemessen geltende Entwicklung vorgeschlagen – sei es aus religiös-dogmatischer Sicht, aus einer humanistischen oder transpersonalen Perspektive. Am deutlichsten wird dies bei Ken Wilber (2007), der – im Versuch, eine Welttheorie zu formulieren – psychologische und kulturtheoretische Theorien miteinander verknüpft und in ein Fortschrittschema einpasst, das sowohl individuelle wie gesellschaftliche Entwicklungen bewertet. So werden zum Beispiel verschiedene Gottesbilder nach ihrem »evolutionären« Status kategorisiert, wobei das abstrakteste als das höchstentwickelte gilt (Küstenmacher, Haberer u. Küstenmacher, 2010). Im Folgenden soll der umgekehrte Weg gegangen werden. Statt einen Maßstab der erwünschten Entwicklung anzulegen, soll überlegt werden, aus welchen Bedürfnissen Menschen diese oder jene religiöse oder spirituelle Praxis aufnehmen. In hierarchischen Bedürfnistheorien wird Spiritualität meist hoch oben in der Hierarchie angesiedelt, und »materielle« Bedürfnisse wie Nahrung etc. am Fuß der Pyramide. Dies wird den soziokulturell vielfältigen Anlässen für ein spirituelles Interesse oder Engagement nicht gerecht. Besser geeignet sind nichthierarchische Bedürfnistheorien, die physische, psychologische, soziale und kulturelle Bedürfnisse gleichwertig behandeln. Eine nichthierarchische Bedürfnistheorie entwickelte etwa der Friedensforscher Johan Galtung. Neben strukturellen Konfliktursachen – wie zum Beispiel Gesetze, Verwaltungsvorgaben, soziale Ungleichgewichte, Entfremdung etc. – fand Galtung, dass auch unerfüllte individuelle oder kollektive Bedürfnisse Auslöser für Konflikte sein können. In einer empirischen, interkulturellen Untersuchung, allerdings mit einem schwachen Sample, fand Galtung vier kulturübergreifende Grundbedürfnisse: Überleben bzw. Sicherheit, Wohlbefinden, Identität und Freiheit (Galtung, 1998). Idealerweise sollten alle vier Grundbedürfnisse befriedigt sein, doch müsse fast immer situationsabhängig gewichtet oder ein »Vorzugsurteil« gefällt werden. Dies gelte für die politische Makroebene und die gesellschaftliche Mesoebene genauso wie im Mikrobereich des Individuums. Manchen ist in Diktaturen zum Beispiel Überleben und Wohlergehen wichtiger als Identität und Freiheit, sodass sie Einschränkung und sogar Unterdrückung in Kauf nehmen, um das Überleben von sich selbst und ihrer Familie zu sichern. Andere wieder sind willens, ihr
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Wohlergehen für Identität oder Freiheit zu opfern und setzen dabei womöglich ihr Überleben aufs Spiel. Flüchtlinge müssen oft ihre Identität und ihr Wohlergehen für Überleben und Freiheit aufgeben, für Menschen unterhalb der Armutsgrenze dominiert Überleben meist das Bedürfnis nach Identität oder Freiheit etc. Galtungs Liste ist nur eine von mehreren nichthierarchischen Listen von Bedürfnissen. Auf Basis von Galtung und Erfahrungen in der Friedensarbeit in Sri Lanka entwarfen Wilfried Graf und Gudrun Kramer eine umfangreichere und kontextneutralere Liste von Grundbedürfnissen (Graf, 2014, 256 ff.; Brousek, 2008; Schönbauer-Brousek, 2012). Die Einteilungskriterien »physisch«, »psychologisch«, »sozial« und »kulturell« verstehen sich dort als Vorschlag einer mentalen Landkarte zur Orientierung, nicht als Kategorisierung. Ähnliche Dimensionen finden sich auch in Konzepten von Palliative Care. Schmerz wird nach Cicely Saunder als »total pain« verstanden. Schmerz ist nicht ein rein organisches Phänomen, sondern eine mehrdimensionale Erfahrung, »ein Erlebnis, bei dem Bewusstsein, Gefühl, Sinn und sozialer Kontext eine gleichermaßen bedeutende Rolle spielen« (Morris, 1996, S. 371). Dies könne man sich wie die Blätter einer Blume vorstellen, auf denen »physisch, psychisch, sozial, spirituell-kulturell« stehe, miteinander das ganze Phänomen Schmerz ausmachen und sich am besten narrativ erschließen (Heller u. Heller, 2014, S. 190). Andreas Heller zitiert die Schmerzgeschichte von Frau Z., die an einem metastasierenden Zervix-Karzinom litt und trotz hoher Morphiumdosen (600 mg/Tag) immer noch Schmerzen hatte. Sie lebte im Pflegeheim und wünschte sich, ihren Mann, mit dem sie seit langem standesamtlich verheiratet war, auch kirchlich zu heiraten. Während der Hochzeitsvorbereitungen waren die Schmerzen kein Thema mehr, jedoch traten sie danach wieder auf. Das betreuende Team realisierte, dass Frau Z. nun kein Ziel mehr hatte, außer auf den Tod zu warten. Auf der Suche nach einem neuen Ziel wünschte sich Frau Z., wieder bei ihren Katzen zu sein. Die Lieblingskatze durfte bei ihr einziehen. Bereits in den Tagen danach konnte die Schmerzmedikation reduziert werden. »Die Katze blieb bei ihr, bis sie gestorben ist, ohne dass die Schmerzen nochmals zum unlösbaren Problem geworden sind« (S. 190; Wilkening u. Kunz, 2003, S. 90 ff.).
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Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten
Die Geschichte verdeutlicht, dass Bedürfnisse immer gleichermaßen physiologisch, psychisch, sozial und kulturell sind (z. B. Obrecht, 2005). Daher scheint es hilfreich, Spiritualität nicht nur als eine Bedürfnisdimension zu sehen, sondern umgekehrt zu fragen, welchen Bedürfnissen Spiritualität im Kontext der westlichen Industriekultur entspricht.
Spiritualität und Bindungserfahrungen: Suche nach Überleben, Sicherheit, Lebenserhaltung und Schutz Bindungen zu anderen Menschen sind grundlegend für menschliches Leben. Ein wesentlicher Faktor für Sicherheit in der frühkindlichen Entwicklung und auch des Überlebens ist die nahe und emotionale Beziehung zum Anderen, zu der betreuenden Person. Ein Kind könnte ohne Zuwendung nicht überleben; und auch im Leben der Erwachsenen sind Bindungen wesentlich und grundlegend. Die frühkindliche Erfahrung ist prägend für das weitere Bindungsgeschehen, doch kann nach einer schwierigen Kindheit durch gelungene Beziehungserfahrungen im späteren Leben – etwa zum Partner oder der Partnerin bzw. einem Therapeuten – die Bindungsfähigkeit entwickelt und vertieft werden. Den frühen Bindungserfahrungen verdanken sich auch Vorstellungen von der »Welt im Ganzen« und dem eigenen Ort darin, wie die Psychoanalytikerin Ana Maria Rizzuto schreibt (1979). Die Erinnerung an vergangene Begegnungen mit Personen (psychoanalytisch: »Objekten«), egal ob sie liebevoll und unterstützend oder nicht waren, helfen dem Individuum, sich an gegenwärtige Situationen anzupassen bzw. sie zu meistern (S. 57). Aufgrund von Interviews kommt Rizzuto zu dem Schluss, dass wir durch ein konstantes Hin und Her zwischen der erinnerten Vergangenheit und der gerade erlebten Gegenwart eine Geschichte unseres Selbst erschaffen. In diesem Prozess des Hin und Her werden Sinnliches, Motorisches, Emotionales und KörperlichEmotionales zu einem »Selbst« integriert (S. 57). Spirituelle Erfahrungen werden von der Mehrzahl als Erfahrungen mit »dem Anderen« erlebt. Bilder des »Gegenüber« entstehen aus Interaktionsprozessen, stellte die Psychoanalytikerin Rizzuto anhand von Interviews mit Patienten einer psychiatrischen Klinik fest. Nach Winnicotts psycho-
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dynamisch-systemischer Sicht machen sich Babys anhand von körperlichen Empfindungen wie dem lebenswichtigen Augenkontakt mit der Mutter, auch von gefühlten Stimmungen, dem Tonfall der Stimmen und der grundsätzlichen emotionalen Haltung der Eltern gegenüber ihm – ist es erwünscht, so wie es ist? – ein Bild von den Bezugspersonen, das verallgemeinert und mit Phantasien und Wünschen des Kindes vermischt wird. Aus dieser »Matrix von Fakten und Phantasien, Wünschen, Hoffnungen und Befürchtungen« und im Austausch mit diesen »incredible beings called parents« (S. 7) entstehen in dem imaginierten Raum der Beziehungen auch innere Bilder von Gott, die dann mit den familiär, kirchlich oder gesellschaftlich tradierten Konzepten und Bildern von Gott zusammentreffen. Gottesbilder, so die These von Rizzuto, sind »Übergangsobjekte«, die sich in dem Zwischenraum (transitional space) von Spiel und Illusion entwickeln. Theologen betonen, dass alle Gottesvorstellungen und Gottesbilder eben Bilder von Gott, aber nicht Gott seien, da Gott strikt theologisch gesprochen kein Gegenstand der Welt sei, weswegen man sich von Gott kein Bild machen könne. Daher gibt es in der hebräischen Bibel ein Bilderverbot und zugleich eine ganze Fülle von Gottesbildern (Zenger, 1993). Diese Feststellung ist für einen entspannten Umgang mit Gott-Repräsentanzen wichtig. Sie erlaubt kritische Unterscheidungen aus dem Inneren von Traditionen. Der Übergangsraum prägt zudem nicht nur Gottrepräsentanzen, sondern weltanschauliche Vorstellungen aller Art. Auch abgelehnte oder fehlende Gottesbilder von Atheisten oder Agnostikern entstammten diesem Übergangsraum, so Rizzutto, ebenso alle Formen von Weltrepräsentanz. Kunst genauso wie wissenschaftliche Theorien sind »Repräsentanzen von verdichteten Erfahrungen und Wünschen […], was eine reine Objektivität ausschließt. Oder umgekehrt: Auch die Idee reiner Objektivität entstammt verdichteten Erfahrungen und Wünschen« (Heine, 2005, S. 220). Immer ist es die persönliche Geschichte und der Übergangsraum, der im Verlaufe dieser Geschichte entstanden ist, in dem man sich verortet und dem man vertraut (Rizzutto, 1979, S. 209). Insofern glauben auch jene, die nicht glauben. In der zeitgenössischen spirituellen Szene spielen Gottesbilder (Walsh, 2009) ebenso eine Rolle wie Karma-Konzepte oder
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Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten
Reinkarnationsvorstellungen: Auch eine umfassende Weltrepräsentanz wie »Karma« als Weltgesetz entsteht aus dem transitional space, wobei hier die Rezeptionsgeschichte eine wichtige Rolle spielt. Für eine systemische Perspektive liegt es nahe, zu berücksichtigen, dass diese Vorstellungen einem Übergangsraum im Sinne Winnicotts entspringen, einem Zwischenbereich zwischen innerer und äußerer Welt. Die Klage über schmerzhafte »karmische Verbindungen« oder innere Bilder, die in der leichten Trance von sogenannten Rückführungen entstehen, können als bildhafte Umsetzungen bestehender persönlicher Problemlagen gedeutet werden. Wenn in systemischen Aufstellungen Ahnen oder überindividuelle Kräfte als Hilfe oder Hindernis auftreten, so kann man dies so verstehen, dass der Raum des Übergangs neu strukturiert wird. Die Aufstellungen bieten einen Raum des »Als-ob«, in dem neue innere Bilder und Vorstellungen erprobt werden können.
Spiritualität und Ganzheitlichkeit: Suche nach Wohlbefinden, Wertschätzung, Lebenssinn und Kreativität Spiritualität hat sich am umfassendsten im Dienstleistungsbereich und hier vor allem in den Bereichen Wellness und Gesundheit etabliert. Dies hat den Religionssoziologen Hubert Knoblauch dazu veranlasst, Wellness ins Zentrum einer neuen »populären Religion« zu rücken: »Da klingt die New-Age-Musik beim Sole-Baden, an der Wand hängen Bilder aus dem Jenseits, im Eingang der WellnessBereichs eines sonst mundanen postsozialistischen Hotels steht ein Buddha von einem Meter Größe, und die Zimmer sind, wie der Prospekt verkündet, nach den Prinzipien des Feng-Shui gestaltet. Gesunde Nahrung, gesunde Kosmetik, organische Produkte aller Art, alternative Medizin und Ferien für die Seele sind zum Teil des Alltags vieler geworden. Spiritualität ist hier wenigstens als Ganzheit angelegt, die den ganzen Menschen ansprechen soll« (2009, S. 191). Die Vielfalt der angebotenen Möglichkeiten der kritisch »Konsumspiritualität« genannten ökonomischen Nische orientiert sich an Bedürfnissen der Zeitgenossen. Ein großer Wunsch nach einer Auszeit, nach Entspannung und Erholung wird durch die Buddha-Statue
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symbolisiert. Buddhismus ist hier nicht so sehr Weltanschauung oder Religion oder Praxis, sondern Lifestyle, ein »weiches Kissen im harten Gehäuse des Kapitalismus« (Baatz, 2003b, S. 91). Dazu passt Musik, in der sphärische, langgezogene elektronische Klänge ohne drängende Rhythmen dominieren. Musik zum »Chillen« also, die Elektronik, Ethnosound und Naturgeräusche mischt. Die WellnessDimension bedient sekundäre Sinnesqualitäten wie das Hören, das Tasten und das Riechen. So werden in Saunalandschaften oft eigene Geruchsräume angeboten. Sekundäre Sinnesqualitäten prägen auch den Naturbezug der spirituellen Wanderer. Dies spielt beispielsweise beim Essen eine Rolle, das natürlich sein soll, also »bio« und ohne synthetische Zusätze. Ganzheitlichkeit ist ein Merkmal von Spiritualität, das in vielen Umfragen genannt wird. Dazu gehört auch, dass der Körper und körperliche Praktiken wie Hatha Yoga oder Taijiquan etc. im Zusammenhang mit Spiritualität als Wohlbefinden eine wichtige Rolle spielen. Der Religionswissenschaftler Hubert Knoblauch spricht in diesem Zusammenhang von »high emotions religions« und »embodied spirituality« (Knoblauch, 2009, S. 139 f.). Mit Feng Shui und alternativer Medizin kommen philosophische Menschen- und Weltbilder ins Spiel, die als »ganzheitlich« gelten. Ganzheitlichkeit wird daher im medizinischen Kontext im Gegensatz zur Biomedizin verstanden, die methodisch analytisch, quantitativ und statistisch vorgeht (z. B. Gross, Löffler u. Wichmann, 1997). Dabei ist die Einbeziehung sekundärer Sinnesqualitäten ebenso wie psychischer und sozialer Aspekte in Diagnose und Therapie für »ganzheitliche« Verfahren charakteristisch. »Ganzheitliche« traditionelle medizinische Anthropologien betten den Menschen in seine Umwelt ein, die neben biologischen und psychologischen Aspekten auch geographische und kosmologische Dimensionen umfasst. In der traditionellen indischen Medizin des Ayurveda, in der traditionellen chinesischen und tibetischen Medizin ebenso wie in der antiken Medizin und davon abgeleitet der arabischen und europäischen traditionellen Medizin wird ein komplexes Diagnoseverfahren verwendet, das auf sensorischer Wahrnehmung beruht (Puls diagnose, Gesichtsdiagnose usw., wobei sehr genaue Manuale für die verschiedenen am Patienten wahrnehmbaren Qualitäten existie-
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Spiritualität als Feld von Bedürfnissen und Konflikten
ren), aber auch den Charakter und das Temperament des Patienten mit einbezieht. In der modernen Medizin werden heute die letzten Reste alten Medizinwissens wie das »Auskultieren« – bei dem der Arzt aufmerksam auf die Töne und Resonanz des Körpers lauscht – von maschinellen Analyseverfahren ersetzt. Während die richtige Ernährung aktuell zunehmend als Ergänzung zur Therapie in den Fokus rückt, war in den traditionellen Heilkunden das Wissen um die große Bedeutung der Ernährung selbstverständliche Grundlage. Das chinesische Arzneibuch umfasst zum Beispiel viele Seiten der Qualifizierung von Nahrungsmitteln, Pflanzen und Tierbestandteilen nach sensorischen und thermischen Qualitäten. Ganzheitlichkeit bedeutet einerseits die Einbeziehung aller Sinnes qualitäten ebenso wie psychischer, sozialer und Bezüge auf Umwelt, Natur und Kosmos. Damit kann sich die Suche nach Ganzheitlichkeit auf die europäische Philosophie der Antike und der Renaissance beziehen (Gloy, 1996). Andererseits hat Ganzheitlichkeit einen wenig beachteten ordnungspolitischen Aspekt. Das Wort »Holismus« wurde von dem südafrikanischen Politiker Jan Christiaan Smuts (1870–1950) geprägt (Smuts, 1926), der für seine Gesetze zur Rassentrennung berüchtigt war. Der dem Austrofaschismus nahestehende Nationalökonom Othmar Spann (1878–1950) ebenso wie nationalsozialistische Ideologen stellten den Anspruch auf Ganzheitlichkeit in den Dienst des Totalitarismus.
Spiritualität und Verortung: Suche nach Zugehörigkeit, Heilung und Befreiung Ein wichtiges Bedürfnis ist die Integration der Lebensumstände in die eigene Biografie. Die Geschichte des eigenen Lebens zu erzählen ist heilsam, wenn es gelingt, Ereignissen Bedeutung zu verleihen und selbst schmerzhafte oder als sinnlos erfahrene Episoden in einen größeren Kontext einzuordnen. Auch kann die De- und folgende Rekontextualisierung der Erzählung dem Ereignis oder Problem eine neue Interpretation geben und damit einen anderen Ort und eine neue Bedeutung in der eigenen Lebensgeschichte. Spiritualität als soziokulturelles Phänomen hält ein reichhaltiges Reservoir von Geschichten bereit, in denen das eigene Leben
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verortet werden kann. Zum Beispiel bieten astrologische Beratungen eine Verortung der eigenen Geschichte in einem symbolischen himmlischen Geschehen an, wobei die Geschichte dieser Symbolik bis in die Antike zurückreicht bzw. auch in andere kulturell-religiöse Traditionen wie die tibetische, indische, chinesische etc. Astrologie. Astrologische Beratung lässt sich als ein Prozess der Analogiebildung verstehen zwischen persönlicher Lebensgeschichte und einem Sternenhimmel, der geozentrisch orientiert ist. Geschichten, in denen sich das eigene Leben neu erzählen lässt, finden Menschen bei Workshops mit Indianerschamanen, auf Traum- und Trancereisen, bei Rückführungen in »frühere Leben« etc. In diesen Geschichten kann sich das eigene Leben spiegeln, Geschichten können biografische Brüche integrieren oder erklären. Das können schamanische Ursprungsmythen, Fantasy-Geschichten genauso wie »Alpha-Kurse« sein, die christliche Inhalte als Mythen vermitteln, wobei sich die Teilnehmenden zunächst zum gemeinsamen Essen treffen und Fragen aus ihrer persönlichen Biografie stellen können. Anschließend wird eine Nacherzählung biblischer Geschichten als Vorlage der Reflexion auf das eigene Leben geboten. Kritische Fragen oder historisch-kritische Bibelexegese werden ausgeblendet. Die biblischen Geschichten erfüllen hier die Funktion eines Mythos, in den sich die eigene Lebensgeschichte einpassen lässt. Traditionelle Weltbilder bieten für die persönlichen, einzigartigen Lebensumstände einen guten Ort. Die Berufung auf Gott als personale Instanz, die in der Geschichte agiert, erlaubt in Krisen Sinn zu finden und sich in einer Welt zurechtzufinden, in der man hoffen kann, dass am Ende alles gut wird. Eine ähnliche Funktion erfüllt »Karma« als unpersönliche Instanz, denn es ermöglicht, sich die jeweiligen Lebenssituation als »mein Karma« zu erklären. Kritisch wird es, wenn »Gott« oder »Karma« destruktiven Charakter erhält. Werden etwa prekäre Lebensumstände als Strafe für frühere Leben interpretiert oder eine Krebserkrankung als Mangel an Liebe oder als »Normopathie« erklärt, dann ist es geboten, genauer nachzufragen und die zugrundeliegenden Lebenskonzepte anzusehen. Als alternative Erklärungsangebote können hier für Berater und Therapeutinnen unter Umständen Konzepte aus der traditionellen chinesischen Medizin oder Ayurveda hilfreich sein, wonach zum Beispiel
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Tumore durch innere Ursachen – wie zum Beispiel eine angeborene Immunschwäche, psychische Belastungen oder genetische Defekte – oder durch äußere Ursachen – wie pathologische Umwelteinflüsse, eine ungesunde Lebensführung oder erworbene Immunschwäche – entstehen können. Auf diese Weise kann ein Reframing stattfinden, das eine Erklärung anbieten, zugleich aber auch die Handlungsfähigkeit des Klienten stärken kann. Traditionelle oder auch neu erfundene Geschichten und Mythen vermitteln die Vorstellung einer größeren Ordnung oder auch einer heilen Welt, aus der Menschen Zugehörigkeit und Zuversicht schöpfen können. Die Sehnsucht, einen guten Platz nicht nur in sozialen Bezügen, sondern auch im Universum zu finden, kann in den verschiedenen Mythen eine Antwort finden. Der Idealtyp des spirituellen Wanderers sucht, so das Ergebnis der Untersuchungen von Bochinger und Kollegen (2009), nach Heilung und Befreiung oder auch Befreiung und Heilung. Das eine ist vom anderen nicht so leicht zu trennen. Der Wunsch nach Heilung betrifft das Individuum eingebettet in seine Geschichte und sozialen Bezüge. Der Wunsch nach »Ganz-Werden« kann darüber hinausführen und mit Geschichten, die Sinndeutungen für das eigene Leben anbieten, nicht zu befriedigen sein. Die Suche nach Befreiung kann sich als Wunsch nach Veränderung und Entwicklung mit einer Ausrichtung auf Transzendenz äußern. Traditionell bieten dies die religiösen Weg-Kulturen an, wie sie im Kontext von Mythen und Geschichten zu finden sind.
Spiritualität und Konfliktfelder Spiritualität wird gern als eine Art ideale heile Situation imaginiert. Doch entsteht Spiritualität dort, wo Menschen, die sich selbst als spirituell verstehen, dies in der einen oder anderen Weise leben. Unter dem Vorzeichen von Spiritualität lebt man auch nie allein, sondern immer im Kontext mit anderen Menschen und anderen Lebewesen, in einer Kette von immer neuen Situationen und Anforderungen. Spiritualität – was immer genau darunter verstanden wird, kann im Moment offen bleiben – ist ein Feld der Konflikte wie jede andere Situation, in der Menschen nach Befriedigung ihrer Bedürfnisse,
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Wünsche und Träume suchen. Konflikte entstehen, wenn es keine oder unzureichende Kommunikation über Bedürfnisse und Ansprüche gibt, und daraus ein Ungleichgewicht entsteht, das sich in wichtigen Lebensbereichen manifestiert. Der Konflikt- und Friedensforscher Johan Galtung nennt eine Reihe von »Trennlinien«, an denen sich Ungleichgewichte und folgend Konflikte entwickeln können.14 Zu beachten ist, dass Spiritualität, so wie sie heute im europäischen Kontext verstanden wird, viele und verschiedene Impulse aus asiatischen und indigenen Traditionen aufgenommen hat. Konflikte, die sich aus interkulturelle Interferenzen und Übernahmen ergeben, sind zahlreich und lassen sich anhand Galtungs Checkliste mit berücksichtigen. ȤȤ Trennlinie Natur – Mensch/Körper – Geist: Von den meisten spirituellen Richtungen wird heute beansprucht, unter dem Vorzeichen der Ganzheitlichkeit die Trennung zwischen Natur und Mensch aufzuheben. Was dies konkret in der persönlichen Praxis und innerhalb der Gruppe heißt, muss nachgefragt werden. Dabei geht es erst an zweiter Stelle um Ökologie und Naturbezug. Im spirituellen Kontext geht es vorrangig um die Frage, wie die Trennung zwischen Geist und Körper bzw. Materie, zwischen der Mannigfaltigkeit und Diversität der Lebenswelt und dem »Absoluten«, wie immer es benannt wird, gezogen wird. Daraus ergibt sich dann auch das Verhältnis Natur-Mensch. Diese Trennlinien finden sich in allen religiösen und philosophischen Traditionen, und sie werden sehr unterschiedlich gezogen. Schwierigkeiten entstehen, wenn sich verschiedene Welt- und Menschenbilder unreflektiert überlagern. 14 Galtung unterscheidet insgesamt acht tiefenstrukturelle Trennlinien: Environment: Human vs. Nature (speciesism), Gender: Male vs. Female (sexism), Generation: Old vs. Middle-Aged vs. Young (ageism), Race: Light vs. Dark (racism), Class: Powerful vs. Powerless (classism), Political Power, who decides over/repress whom, Military Power, who forces/kills whom, Economic Power, who exploits whom, Cultural Power, who penetrates/conditions/ alienates whom, Normal vs. Deviant (stigmatism, as sick criminal/dumb), Nation/Culture: Dominant vs. Dominated (nationalism), Geography: Center vs. Periphery (centralism). Im spirituellen Kontext scheinen nicht alle relevant zu sein.
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–– Eine Psychologin, die seit langem in einer in Indien beheimateten Yoga-Gemeinschaft Meditation übt, meint, das Ziel ihrer geistigen Übungspraxis erreicht zu haben und fragt sich, welche Bedeutung für sie jetzt die Dimension des Körperlichen noch haben kann (sie hat eine Tendenz zur Magersucht). Viele asiatische Traditionen messen dem Körper keine besondere Bedeutung zu, was für sie eine Rechtfertigung ihrer Magersucht sein könnte. –– Einem jungen Studenten wird von seinem (westlichen) ZenLehrer nahegelegt, im »Hier und Jetzt« zu leben und sich keine Gedanken um seine berufliche Zukunft zu machen. In einer klösterlichen Gemeinschaft wäre dies ein berechtigter Rat, da für alles gesorgt ist. Für jemanden aus der Generation Prekariat wäre wohl wichtiger, einen besonnenen Umgang mit beruflicher Unsicherheit zu finden. Hier wird Zeit als »Uhr-Zeit« und linearer Ablauf verstanden, sodass »präsent sein« als »anwesend im jeweiligen Raum-Zeit-Punkt« missverstanden wird.
ȤȤ Besonders gravierend werden Missverständnisse und Konflikte, wenn es um das Thema »Erleuchtung« geht. Dazu ist festzuhalten, dass es sich um eine Metapher handelt, die aus der europäischen Geistesgeschichte kommt, wobei »Licht« als Bild für religiöse Tiefenerfahrungen in vielen Kulturen zu finden ist (Renger, 2016). Die asiatischen Religionen haben diese Metapher nach 1890 aus westlichen Darstellungen übernommen (S. 150). Dem Narzissmus kommt die Vorstellung, »erleuchtet und eins mit dem Absoluten« zu sein entgegen. Das Gegenstück dazu ist die Phantasie des »Ich-Verlustes durch Erleuchtung«. Viele dieser Vorstellungen entstammen dem höchst einflussreichen Werk Ken Wilbers (z. B. 2007), das jedoch von psychiatrischer (Huppertz, 2013) wie religionswissenschaftlicher (Baier, 2016) Seite kritisiert wird. Für Wilber geht, wie Baier ausführlich anhand von Wilbers Texten zeigen kann, das Erleben von »Erleuchtung« mit instabilen emotionalen Zuständen und einer Auflehnung gegen die »Beleidigung des Samsara« einher (zit. n. Baier, 2016, S. 230). Man kann sagen, dass dies nach den Kriterien aller spirituellen Traditionen als unreif gilt. Im Buddhismus ist zum Beispiel
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zudem gar nicht von »Erleuchtung«, sondern von »Erwachen« die Rede, wobei das »Verlöschen von Gier, Hass und Ego-Verblendung« als Kriterium gilt. ȤȤ Trennlinie Gender (eine konfliktfördernde Unterscheidung zwischen Mann und Frau; heterosexuell und LGBT – Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender): Der Bereich »Gender« gehört zu den häufigsten Konfliktbereichen im spirituellen Milieu. Die meisten spirituellen Lehrer sind Männer, die Mehrzahl der Lernenden sind Frauen, die gar nicht seltenen Fälle von Missbrauch werden meist vertuscht oder totgeschwiegen (vgl. Peljor, 2016). Frauen werden häufig auf ihre traditionellen Rollen verwiesen, das heißt, sie erledigen in vielen Fällen die praktische Arbeit, während Männer lehrend auftreten. Frauen haben selten Zeit für spirituelle Praxis, wenn es Kinder in der Familie gibt, während Männer weiterhin die Zeit aufbringen können, um zu Retreats etc. zu gehen. Sehr häufig reproduzieren spirituelle Gruppierungen traditionelle patriarchale Rollenbilder. Zudem stammen alle religiösen Traditionen aus patriarchalen Kontexten (zur Rekontextualsierung Caplow u. Moon, 2016). ȤȤ Homosexualität und Transsexualität sind in spirituellen Gruppen oft Tabuthemen bzw. werden vielfach durch die jeweilige Tradition als unmoralisch oder minderwertig etc. verurteilt. ȤȤ Trennlinie Macht – Ohnmacht: Machtverhältnisse sind ein weiteres sehr häufiges Konfliktfeld in spirituellen Gruppen. Das betrifft zunächst die Institution des »spirituellen Lehrers«, dessen Macht nicht nur aus persönlicher Authentizität, sondern oft mehr noch aus institutioneller Legitimation durch seine oder ihre Herkunftsinstitution kommt. Der spirituelle Lehrer ist ein »relevanter Anderer«, und die Beziehung zu ihm oder ihr einerseits intim, andererseits aber unpersönlich. Dieses Beziehungsmodell ist in europäischen Gesellschaften nicht verbreitet. Auch wird dem »spirituellen Lehrer« vonseiten der Lehrer wie Schüler oft mehr Macht zugeschrieben, als ihm oder ihr zukommt und dadurch entstehen Abhängigkeiten. Eigenverantwortung und Hören auf den »inneren Meister« (Schlüter Rodés, 2008, S. 190, Wild, 2001) werden oft nicht gefördert (Baatz, 1996).
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ȤȤ Unterdrückung und Zwang, verschleiert und legitimiert durch die Berufung auf Spiritualität, sind ebenfalls in spirituellen Gruppen zu finden. Gruppeninterne Regeln, wie beispielsweise Kleideroder Ernährungsvorschriften, aber auch bestimmte Verhaltensweisen oder Körperhaltungen, die für die jeweilige Übungspraxis hilfreich sind, können auch als Mittel der Unterdrückung fungieren. ȤȤ Wie in allen Institutionen existieren auch in spirituellen Gruppen dynamische Prozesse zwischen den Mitgliedern, bei denen es um den Status in der Gruppe geht. Hierarchien orientieren sich oft an den Herkunftskulturen und -traditionen von spirituellen Praktiken. So gibt es zum Beispiel im buddhistischen Kontext eine Hierarchie, die aus dem Zeitpunkt der Ordinierung als Mönch oder dem Beitritt zur Gruppe abgeleitet wird. ȤȤ Trennlinie Hautfarbe und Herkunft: In den meisten spirituellen Gruppen sind Weiße unter sich und Asiaten nur als Lehrende präsent (vgl. etwa Cheah, 2011). Dies setzt orientalistische Idealisierungen bei den Schülern in Bewegung, aber auch subtile Rassismen und Ausgrenzungen. Afrikanische oder arabischstämmige Menschen sind als Gruppenmitglieder und noch mehr als Lehrende absolute Ausnahmen, anders ist es u. U. in Sufi-Gruppen. ȤȤ Trennlinie normal – abweichend: Spirituelle Gruppen grenzen sich meistens sehr deutlich entlang bestimmter Glaubenssätze, Praktiken bzw. Verhaltensregeln ab und unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von Religionsgemeinschaften. Dies kann innerhalb der spirituellen Gruppe zu Spannungen führen, besonders aber dort, wo sie auf die Außenwelt trifft. Es ist das alltägliche berufliche oder familiäre Umfeld, das auf spirituelle Interessen und damit verbundene Lebensstil- und Verhaltensänderungen manchmal irritiert und mit Unverständnis oder Ablehnung reagiert. Zu Konflikten kann es auch innerpsychisch kommen, da meditative, kontemplative und schamanische Praktiken zu Veränderungen der Wahrnehmung führen (»veränderte Bewusstseinszustände«), die mit dem »Normalbewusstsein« zunächst nicht kompatibel erscheinen können (Hofmann u. Heise, 2016). Hier ist eine gute und kompetente Begleitung gefragt, die möglichst selbst Erfahrung mit der Integration solcher Praktiken hat.
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Selbstverständlich überschneiden sich diese Konfliktlinien, wie das folgende Beispiel zeigt. Eine Frau, die unter der Dominanz ihres Mannes steht und in die familiäre Reproduktionsarbeit – sprich: Haushalt – eingespannt ist, verschafft sich durch spirituelle Interessen einen gewissen Freiraum, mindestens mental, da sie neue Konzepte von starken Bewertungen kennenlernt. Sie nutzt Praktiken wie Feng Shui, um das Wohnklima zu verbessern, und unterstützt so das Bedürfnis nach Wohlergehen in der Familie.
Was passiert nun in der Familie? Die neuen Kompetenzen könnten der Frau größere Autorität in der Familie geben. Doch könnten sie auch zu einem Konflikt mit dem Ehemann führen, der von »solchen Dingen« nichts hält. Es geschieht letzteres: Der Ehemann optiert für traditionelle Rollenbilder und die Dominanz des Mannes, obwohl diese Rollenbilder heute in Europa nicht mehr normativ sind. Die Ehefrau steht mit ihrer Suche nach Freiheit und vermutlich auch eigener Identität in einem Trend der Meso- und Makroebene, der Gleichheit bzw. Gleichberechtigung befördert. Es kommt in der Ehe zum Konflikt im Feld »Gender« und dazu kommt ein weiterer Konflikt: sekundäre Sinnesqualitäten werden in den herrschenden Konzepten von Alltagsrationalität vernachlässigt; eine Sichtweise, für die der Mann optiert, so dass er der Frau möglicherweise Irrationalität vorhält (»sie spinnt«). In Galtungs Perspektive geht es hier um kulturelle Macht, da der Mann die Definitionsmacht behalten will. Auch geht es um die Frage, was »normal« und was »abweichend« ist. Wenn die Frau vielleicht zudem Wert auf Bio-Kost und vegetarisches Essen legt, der Mann aber nicht, geht es in der Beziehung auch um das unterschiedliche Verhältnis zur Natur. Dies könnte dann durch entsprechende weltanschauliche Konstrukte gerechtfertigt werden. Hier überschneiden sich mehrere Konfliktfelder, die in der Beratung oder Therapie beachtet werden sollten.
13 Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz
Im systemischen Kontext liegt es nahe, die Ambivalenzen zu berücksichtigen, die daraus entstehen, dass Bilder und Vorstellungen aus religiösen und spirituellen Traditionen sowohl befreiend und stärkend als auch destruktiv und unterdrückend wirken können. Hier bekommt der Auftrag, den der Klient an die Therapeutin formuliert hat (von Schlippe u. Schweitzer, 2013, S. 238 ff.), noch einmal mehr Gewicht. Denn neben der Geschichte des Klienten bestimmt der Auftrag die Bedeutung, die ein Ritual oder Bild für den Klienten bekommen kann. Auch eine einfache Handlung wie das Anzünden einer Kerze hat einen biografischen Kontext, der die Bedeutung bestimmt. Steht das Licht der Kerze für Geborgenheit? Oder für eine religiöse Sozialisation, die verletzt hat? Usw. Dies gilt noch mehr, wenn Bilder, Geschichten oder Gestalten aus religiösen Traditionen als unterstützend herangezogen werden sollen. Diese können auch irritierend, abstoßend oder angsteinflößend erlebt werden. Auch für Spiritualität gilt, was insgesamt gilt: Therapeuten und Berater können Vorschläge machen – was hilft, entscheidet der Klient. Geklärt sein sollte auch, ob die Klientin selbst einer regelmäßigen spirituellen Praxis folgt oder ob eine spirituelle Perspektive für sie optional ist, und Ähnliches gilt auch für den Therapeuten. Dass jemand regelmäßig einer spirituellen Praxis folgt, kann unterschiedliche Motive haben, die ebenfalls zu berücksichtigen sind. Unterschieden15 werden kann zum Beispiel: ȤȤ eine pragmatische Orientierung: Hier geht es vor allem um Hilfe und Schutz in schwierigen Situationen; dazu zählen beispielsweise Strategien der Lebensbewältigung. 15 In Anlehnung an eine Kategorisierung verschiedener Niveaus buddhistischer Praktiken (Samuel, 1993)
Orientierungen167
ȤȤ eine Orientierung an Handlungsfolgen: Hier geht es um die ethische Qualität von Handlungen, die in Bezug auf das Leben nach dem Tod gesetzt werden, sei es, dass es um Karma geht oder um gute Taten, Gesetzesbefolgung, Sünde oder ähnliche Konzepte. ȤȤ eine Orientierung an Transzendenz als Lebensziel: Hier geht es um die Erfahrung des Absoluten, die Erfahrung Gottes, um Nirvana bzw. Erwachen etc. Achtsamkeitspraktiken können beispielsweise eine Strategie der Lebensbewältigung sein, wie dies etwa in MBSR geübt wird; Achtsamkeit kann aber auch in Hinblick auf die Vertiefung der ethischen Qualität des Handelns geübt werden; oder aber als Praxis, die auf »Erwachen«, also auf Transzendenzerfahrung zielt. Ähnliches lässt sich für Gebetspraktiken sagen: sie können Bitte um Hilfe und Schutz sein; Gebete können aber auch eine Weise der Selbstreflexion oder – als Kontemplation – ein »reines Gebet« sein, in dem es »kein Gebet mehr, keine Erregung, keine Träne, weder Bindung noch Freiheit, kein inbrünstiges Flehen noch Wünsche und ungestüme Hoffnungen für diese oder jene Welt« gibt (Isaak von Ninive, gest. 700 n. Chr., zit. n. Dietz, 2006, S. 84). Es gibt viele Möglichkeiten, Spiritualität und Transzendenz in einem funktionalen Sinn in die systemische Arbeit einzubeziehen. Funktional können Transzendenz und Spiritualität wirken, wenn sie den Klienten erlauben, eine umfassendere Orientierung in ihrem Leben zu finden und Ressourcen einzubeziehen, die neben der gegenwärtigen Alltagskultur auch das kulturelle Gedächtnis mit einbeziehen.
Orientierungen In manchen Lebensbereichen geht es um die Erarbeitung eines Zieles. Doch wer ein Ziel erreichen möchte, muss sich zunächst über die eigene Situation klar werden. Dies »dient vor allem unserer Entwicklung, Reflexion und Vertiefung unseres Lebens« (Baxa, 2017), was einem weitgefassten Begriff von Spiritualität entspricht. Qualitative Studien zeigen, dass es einen gewissen Konsens darüber gibt, Spiritualität durch »Verbundenheit« (connectedness) und »Selbsttranszendenz« zu bestimmen. »In dem Maße, in dem Personen von
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Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz
sich absehen können (Selbsttranszendenz) und sich mit anderen und anderem verbinden können, erweitern sie auch ihr Selbst und verwirklichen dieses« (Bucher, 2014, S. 40). Die beiden folgenden Formate aus der systemischen Arbeit beziehen sich auf diese beiden Aspekte in besonderer Weise.
Ich-Selbst-Aufstellung Selbsttranszendenz braucht das individuelle Ich als den einen Pol genauso wie Verbundenheit mit Allem als den anderen Pol. Siegfried Essen hat mit der Ich-Selbst-Aufstellung (2011) ein Modell geschaffen, um diese Relation bezogen auf die eigene Existenz erfahrbar zu machen. Das »Selbst« ist für Essen der in der Welt im Ganzen verwurzelte Aspekt der Person, während das »Ich« die Kontexte differenziert, unter- und entscheidet. Am Beispiel des Blinden lässt sich der Unterschied verdeutlichen, den Essen aufzeigen will. Das Selbst unterscheidet nicht und lässt die Kette der Transformationen zwischen Blindem, Stock, Gehsteig und der weiteren Umgebung als offenes Ereignis zu. Das Ich dagegen setzt einen Schnitt, zum Beispiel zwischen Blindem und Stock oder Stock und Gehsteig und bestimmt sich als Identität gegen das Übrige. Essens Übungs anweisungen fordern auf, die beiden Aspekte der Person räumlich zu differenzieren: An einem guten Platz im Raum steht das Selbst, an einem anderen guten Platz steht das Ich. Die Person wechselt zwischen beiden Positionen hin und her und blickt in jeder Position auf den anderen Aspekt, überprüft Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken. Das Selbst ist in dieser Übung jene Instanz, in der die »Wirklichkeit der Bezogenheit und des Zusammenhangs« bewusst und erfahren werden kann, »das Göttliche und Lebendige in uns« (S. 51), das immer zugewandt und wohlwollend ist. Das Ich dagegen ist der Aspekt »unserer Einzigartigkeit, Getrenntheit, Unterscheidungsfähigkeit und Entscheidungskraft« (S. 63). Die Übung der leiblichen Differenzierung von Ich und Selbst erlaubt auch, Schritt für Schritt klarer zu sehen, was die Qualität des Selbst in der Entfaltung behindert. Diese Schleier des Selbst sind biografisch bedingt. Wenn auch für sie ein passender Ort im Raum gefunden ist, dann ist das Selbst wieder klar, so Essen. In diesen Externalisierungs
Musterunterbrechungen169
übungen können auch Antriebe und Motive deutlich werden, die Offenheit für Transzendenz und persönliche Entwicklung verhindern. Essen macht darauf aufmerksam, dass es sich um einen Prozess der metánoia, der Änderung der Sichtweise, handelt. Dabei erweisen sich sowohl das Selbst als auch das Ich als Prozesse, die immer neue Schritte der Veränderung und Entwicklung möglich machen. Die Übung der Ich-Selbst-Aufstellung lässt einen das Unbestimmte der Transzendenz in bestimmter Form erfahren, nämlich in der eigenen, persönlichen Existenz.
Das Rad Das Rad ist ein von Daan van Kampenhout (2000) entwickeltes Format, das Orientierung im physischen Raum mit der Orientierung im Lebensraum und dem Transzendenten – im Sinne der Grenze von Bestimmt/Unbestimmt – verbindet. Die Konstellation eines Kreises, durch dessen Mittelpunkt vier Achsen laufen, die den Kreis kreuzförmig teilen, findet sich in allen Kulturen als ein Symbol, das in irgendeiner Form die Verbindung von Mensch und Kosmos zeigt. Die Arbeit mit dem Rad nach van Kampenhout erlaubt, sich mit dem »Außerhalb« der eigenen Biografie zu verbinden und sich dadurch zugleich über die eigenen Wertigkeiten und Perspektiven zu orientieren. Das Rad kann helfen, die Organisation der eigenen Erinnerungen, Wünsche und Ausrichtungen zu klären, aber auch den Bezug zur eigenen Familie oder den Ahnen. Nach systemischer Auffassung beeinflussen die vorausgegangenen sieben Generationen die eigene Biografie, das sind bei einer Mutter-Vater-Kind-Familie 350 Personen. Dieses umfangreiche familiäre Bezugssystem kann dann nur noch symbolisch geklärt werden, was van Kampenhout mit einer Verbindung von systemischer Aufstellungsarbeit mit schamanischen Zugängen unternimmt.
Musterunterbrechungen Soll Raum für eine neue Entwicklung entstehen, muss der gewohnte Ablauf unterbrochen werden. Musterunterbrechungen sollen eine Phase der Instabilität erzeugen und damit Impulse der Kreativität und Raum für Neues ermöglichen (von Schlippe u. Schweitzer, 2016,
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Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz
S. 326 ff.). Um eine solche Zäsur zu setzen, werden in systemischen Kontexten häufig und seit langem Rituale eingesetzt. Der Vollzug von oder die Teilnahme an Ritualen inkludiert eine ganze Reihe von Unterscheidungen: zwischen dem Vorher und Nachher, dem Gewöhnlichen und dem Besonderen, dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Selbst und dem Anderen etc. Diese Unterscheidungen kann man als Interpunktionen von Abläufen im individuellen oder kollektiven Leben sehen. Rituale müssen nicht elaboriert sein, sondern können aus einfachen Handlungen bestehen: eine Kerze entzünden, einen Gegenstand an einem bestimmten Ort platzieren etc. Entscheidend ist die Bedeutung, die sich in der Handlung präsentiert. Im systemischen Kontext wird diese Bedeutung durch den Klienten generiert, aber sie ist trotzdem nicht subjektiv oder willkürlich, sondern verweist auf das Umfeld der Person. Die Möglichkeiten für den Einsatz von Ritualen, die die Routine unterbrechen, sind nahezu unbegrenzt. Alltagsrituale (Stutz, 2011) können helfen, Muster bzw. Routinen zu unterbrechen und neue Strukturen zu finden. Die grundlegendste alltagsrituelle Musterunterbrechung ist Achtsamkeit auf den Atem. Statt sofort einem Handlungsimpuls zu folgen, gilt es, einige Atemzüge lang des eigenen Atems gewahr zu werden. Um diesen Fokus auch außerhalb von Beratung oder Therapie aktivieren zu können, sollte dieses »Zurück zum Atem« immer wieder eingeübt werden. Es empfiehlt sich, dass die Therapeutin oder der Berater dabei aus der Beobachterrolle herausgeht und gemeinsam mit dem Klienten Achtsamkeit auf den Atem übt.
Nach der Ausnahme fragen Die Ausnahme zu suchen ist eine Form der funktionalen Transzendenz und veranlasst den Klienten, die gewohnte Routine zu überschreiten, dadurch die Problemtrance – ein automatisiertes Handlungs- und Denkmuster – zu unterbrechen und die Wahrnehmung auf vielleicht schon vorhandene Lösungen zu lenken. In religiösen Kontexten findet sich die Wahrnehmung von »Ausnahmen« als Suche nach Momenten des Heils im Unheil. Dabei zeigt sich, dass Musterunterbrechung und Ausnahme strukturell eng verwandt sind.
Die Wunderfrage171
Dem entspricht zum Beispiel die Denkfigur des »Messianischen« im Judentum. Wenn der Messias am Ende der Zeiten kommt, wird alles heil und gut werden, heißt es. Doch gibt es schon vor dem »Ende der Zeiten« immer wieder »innerzeitliche messianische Zeitbrüche« (Benjamin,1965), in denen sich Unheil plötzlich in Heil wandelt. Eine ritualisierte wöchentliche Praxis der Ausnahme und Musterunterbrechung ist im Judentum der Shabbat: an diesem Tag wird nicht gearbeitet, stattdessen sollen Freude und Gemeinschaft gepflegt werden. Auch der Sonntag, der theologisch als ein wöchentliches Fest der Auferstehung verstanden wird, kann als ein »Tag der Ausnahme« gesehen werden. Der Sonntag als allgemein verbindlicher Feiertag wurde von Kaiser Konstantin 321 eingeführt, und zwar für Christen wie auch für Anhänger des Sonnengottes Mithras. Auch das fünfmalige Gebet der Muslime lässt sich als Musterunterbrechung und Ausnahme verstehen, ebenso die buddhistische »Glocke der Achtsamkeit«, da beides sowohl als Unterbrechung als auch als Ressource erlebt werden kann.
Die Wunderfrage Eine andere Form der funktionalen Transzendenz ist die »Wunderfrage«, die einer Struktur folgt, die sich unter anderem in den Paradiesvorstellungen tradierter Religionen findet. Erzählungen vom Paradies gibt es in allen weitverbreiteten Religionen – im Judentum, Christentum, Islam, aber auch in verschiedenen Richtungen des Buddhismus (die »reinen Länder« des Buddha Amida), in den Hindu-Traditionen, etwa bei bestimmten Richtungen der Vishnuiten, und natürlich in Mythen von Primärvölkern. Erzählungen vom Paradies sind bildhaft und mythologisch und sprechen nur scheinbar von einem konkreten jenseitigen Ort. Sie sind eine Einladung, das Gegenwärtige zu transzendieren. Erzählungen von einem anderen, guten Zustand – von einem »sicheren Ort«, wie es in der Traumaarbeit von Luise Reddemann heißt – vermitteln keine Informationen, sie sind poetische Bilder. Poesie will nicht sachlich über etwas informieren, vielmehr evoziert sie Bilder, Stimmungen und Gefühle zum Beispiel als Ressourcen, und verwendet dafür Metaphern, die durch ihre bildhafte Sprache beschreiben
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Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz
können, was sonst vielleicht unbeschreibbar bliebe. Es ist eine Art des Sprechens und Erzählens, das wirkt und transformieren kann (Latour, 2011, S. 70 ff.). Die »Wunderfrage« von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg setzt dies auf der individuellen Ebene um und fragt nach der in der Vorstellung vorweggenommenen Lösung des Problems: »Wenn das Problem durch ein Wunder über Nacht weg wäre: Woran könnte man erkennen, dass es passiert ist?« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 267). Die Lösung hat unbemerkt stattgefunden. Nun stehen die Merkmale einer vorweggenommenen heilen Situation im Zentrum der Aufmerksamkeit: »Wer würde es als Erstes erkennen? Was würden Sie anders machen? Was würden die Menschen um Sie herum anders machen?«. Bei der Wunderfrage geht es um individuelle Vorstellungen, im Unterschied zu den allgemeinen mythischen Bildern und Geschichten der Religionen über »Paradies«, »Erlösung«, »Befreiung« etc. Doch werden Metaphern wie »Himmel«, »Paradies« oder auch »Erwachen«, »Befreiung« oder »Erneuerung«, »Reinigung«, »Vereinigung von Himmel und Erde« oft innerhalb eines dualistischen Konzepts verstanden, sodass es jeweils ein Gegenteil dazu gibt, das das wirksame Bild des »Wunders« oder »heilen Zustands« unter Umständen beeinträchtigen kann. Auch der umfassende Deutungsanspruch, mit dem traditionelle religiöse Metaphern und Bilder arbeiten, kann sich sowohl als störend (weil vereinnahmend) wie auch als hilfreich (weil z. B. in Grenzsituationen des Lebens tragfähig) erweisen.
Transzendente Gestalten In systemischen Zusammenhängen, sowohl in Einzelgesprächen als auch in systemischen Aufstellungen, werden gelegentlich individualisierte Varianten transzendenter Gestalten herangezogen. Diese können aus konkreten religiösen Traditionen stammen oder abstrakte »Kräfte« bzw. abstrakte Begriffe wie Liebe oder Hoffnung etc. sein, die aus dem kulturellen Gedächtnis stammen oder auch explizit aus religiösen Systemen abstrahiert werden (z. B. Varga von Kibéd u. Sparrer, 2009). In systemischen Familienaufstellungen treten häufig männliche oder weibliche Ahnen auf, die gelegentlich als Störenfriede und
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Belastung, aber mitunter auch als hilfreich und unterstützend er scheinen. Dahinter steht die systemische Überzeugung, dass nicht nur die Ursprungsfamilie, sondern auch die Generationen davor relevant für die Fragensteller in der Gegenwart sind. Zudem entspricht dies archaischen und indigenen Vorstellungen, wie zum Beispiel, dass das Reich der Toten von dem Reich der Lebenden zwar getrennt, aber für die Lebenden relevant ist oder dass die Toten für den sozialen Zusammenhalt im Gegenwärtigen sorgen. Transzendente Gestalten entziehen sich dem im Alltagsbewusstsein zugänglichen Raum- und Zeitbereich per definitionem, da sie »transzendent«, also das Alltagsbewusstsein überschreitend sind. In der zeitgenössischen Spiritualität spielen sie eine wichtige Rolle und können daher auch in der systemischen Therapie »auftreten«. Die heute im nordatlantischen Raum vermutlich verbreitetsten personifizierten transzendenten »Hilfsgestalten« sind Engel. Sie sind Instanzen aus der jüdisch-christlich-islamischen Traditionslinie, und ihr »Stammbaum« führt nach Mesopotamien, zu den Assyrern und Babyloniern. Die Engel (von griechisch: ángelos, Bote) werden meist als Boten zwischen Göttlichem und Irdischem angesehen. Im Islam gelten sie als Wesen aus Licht. Hilfreiche transzendente Gestalten in der zeitgenössischen westlichen Imagination kommen aus allen Religionen. Die chinesische Guanyin (japanisch: Kannon) ist eine transzendente Bodhisattva- Gestalt, die ein offenes Ohr für alle Hilfesuchenden hat. Die Gestalt ist männlich, wird im chinesischen Kontext aber weiblich gesehen. Oft wird sie mit hunderten Armen dargestellt, die alle Werkzeuge tragen, um zu helfen; manchmal auch mit elf Köpfen, da dem Bodhisattva der Kopf platzte, als er (oder sie) die unzähligen Hilfe rufe hörte. In feministisch inspirierten Kreisen wird manchmal Inanna angesprochen, die eine mütterliche und zugleich kriegerische Figur und eine der großen sumerischen Göttinnen ist. Eine andere populäre weibliche – christliche – Gestalt ist die Gottesmutter Maria, die unter ihrem Mantel Menschen versteckt und schützt oder sich der sozial Unterdrückten annimmt wie beispielsweise die gotische »Dienstbotenmadonna« im Wiener Stephansdom. Maria wird auch in Liedern der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen als Helferin im langen Kampf für Gerechtigkeit angerufen (Santa
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Lösungsbilder: Formen funktionaler Transzendenz
María del Camino). Indische Gottheiten wie Hanuman, der tapfere und treue Affengott, oder Ganesha, der Elefantenköpfige, der vor Reisen und anderen Unternehmungen angerufen wird, sind ebenfalls hilfreiche transzendente Wesen, die ihren Ort in der westlichen Vorstellungswelt gefunden haben. Die hebräische Bibel bietet nicht nur die bekannten Bilder von Gott als Vater, sondern eine ganze Fülle von hilfreichen Bildern. JHWH, wie Gott in der hebräischen Bibel genannt wird, erscheint als »treuer Helfer«, von dem es heißt »mit meinem Gott überspringe ich Mauern« (Ps 18,30). Gott wird aber z. B. auch als Bärenmutter (Hos 103,8), die ihre Jungen schützt oder als Adlermutter, als Stillende und Nährende (Ps 22,10–11) oder als Weisheit angesprochen (Mollenkott, 1990). Dies sind nur einige Beispiele für die transzendenten Gestalten, die den »transitional space« bevölkern, und die hilfreich und unterstützend, aber auch ambivalent erscheinen können, und zwar sowohl in ihrer Herkunftstradition als auch im therapeutischen Kontext. Nach dem Schema von Schütz und Luckmann (1991) handelt es sich um »mittlere« oder auch »große Transzendenzen«. Ihnen wird in systemischen Zusammenhängen – anders als in traditionellen Weltbildern – keine Existenz zugeschrieben, sondern sie erscheinen im Modus des »Als-ob«. Klienten können durch funktionale Transzendenzen Schlüsse auf ihre Lebenszusammenhänge ziehen und ihre Denk- und Handlungsweisen verändern, es sollte aber am »Als-ob«Charakter dieser Konstellationen festgehalten werden.
Negative Transzendenzen Transzendenz kann auch als negativ erfahren werden. Ein Beispiel: Als Kind wuchs der Psychoanalytiker Tilmann Moser in einem mehrheitlich katholischen Dorf als Mitglied der protestantischen Minorität auf. Die Minderheitensituation erzeugte einen enormen Druck; dazu kam die pietistische Frömmigkeit der Eltern, die in Sprachlosigkeit resultierte, sodass die Eltern nebeneinander im Bett liegend mit Gott über ihre Probleme sprachen, aber nicht miteinander. Gott war für den jungen Tilmann Moser ein Monster, das über allem argwöhnisch wachte, und dem vor allem der von Gott besonders auserwählte kleine Junge gefallen musste. Doch war dies
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unmöglich, da er die Normen nie erfüllen konnte und daher immer der Gnade Gottes ausgeliefert war (Moser, 1976). Als Psychoanaly tiker lernte Moser später, dass es in den frühesten Lebenszeiten eines Kindes Momente der Andacht und Innigkeit gibt, aus denen eine tragfähige Religiosität oder Spiritualität entstehen kann. Werden diese Momente aber durch Eltern oder andere Instanzen missbraucht und mit Schrecken und Gewalt verbunden, dann entsteht so etwas wie Gottesvergiftung – wie auch der Titel von Mosers Buch (1976) lautet. Negative Transzendenz verbindet Machtansprüche mit Erfahrungen des Grauens und Schreckens und speist sich aus allem, »was mit der Herrschaft von Angst, Schrecken, Panik und Terror zusammenhängt, hinter denen dämonische Gewalten vermutet oder phantasiert werden« (Moser, 2003, S. 27). Negative Transzendenz ist »die Kehrseite von allem, was wir als Geborgenheit ansprechen könnten« (S. 25). Dieses Kriterium ist der Prüfstein für spirituelle Praktiken und Bilder aller Art, und dies nicht nur in therapeutischen Kontexten. Menschen können oft aufgrund ihrer Biografie nicht leicht zwischen Geborgenheit oder Bedrohung unterscheiden. Spirituelle Bilder und Vorstellungen sind daher mit großer Vorsicht zu behandeln. Ein traditionalistischer christlicher Zugang kann genauso zu einer »Transzendenzvergiftung« führen wie eine Spiritualität, die Anleihen bei Weltbildern nimmt, in denen Geister eine mächtige Rolle spielen. Exorzismen und ähnliche Praktiken stellen – ob sie jetzt christlich motiviert werden (Utsch, Bonelli u. Pfeifer, 2014, S. 42 ff.) oder ethnotherapeutisch (z. B. Andritzky, 1999) – keine Ressourcen für systemische Arbeit dar. Auch die Einbeziehung von negativen Transzendenzen für die Hypothesenbildung ist als unzureichend abzulehnen. Eine aus Bosnien stammende Frau kam zu einer Beratungsstelle, da sie Stimmen hörte. Die zuständige Beraterin hatte gerade einige schamanische Kurse absolviert, und erklärte ohne weitere Umstände, die Frau sei von Dämonen besessen. Die naheliegende Möglichkeit, dass eine nach dem Jugoslawienkrieg aus Bosnien nach Österreich zugewanderte Frau schwer traumatisiert sein könnte, kam der Beraterin nicht in den Sinn.
14 Über Neutralität und Orientierung in der systemischen Arbeit
In einer Beratungs- oder Therapiesituation gibt es zwei Kommunikationspartner: den Berater bzw. Therapeuten und den Klienten. In jeder, auch nichttherapeutischen Kommunikation manifestiert sich gegenseitige Abhängigkeit: die Kommunikationspartner bilden zusammen ein offenes, nichttriviales System, was nur heißt, dass das Ergebnis der Interaktion nicht vorhersehbar ist. Man spricht daher von einer Kybernetik zweiter Ordnung, in der der Beobachter selbst auch Teil des Systems ist. Dies entspricht Humberto Maturanas erster Regel: »Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt«, und der Folgeregel: »Alles Gesagte wird zu einem Beobachter gesagt« (Maturana, 1985, S. 34; von Foerster, 1993, S. 85). Oder auch noch einmal anders: »Eigenschaften, die man an Gegenständen beobachtet, sind die des Beobachters« (von Foerster, 2011, S. 125). Der Berater/Therapeut fungiert als Beobachter des Klienten und bildet auf Basis des Gesprächs mit dem Klienten Hypothesen über ihn, seine Situation und das Symptom. Dabei wird nie davon ausgegangen, dass es nur eine einzige Ursache gibt. Situationen und auch Symptome sind als Teil eines Kreislaufs von Wechselwirkungen zu sehen, weshalb der Kontext von Klient und Symptom zu berücksichtigen ist (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 76). Weil aber nicht nur die Beraterin bzw. Therapeutin Beobachterin ist (Regel 1), sondern auch die Klientin Beobachterin ist (Folgeregel 1) ist auch der Kontext der Beraterin bzw. Therapeutin zu berücksichtigen, denn im Sinne einer Kybernetik zweiter Ordnung ist auch der Berater bzw. Therapeut Teil des Systems. Für das System des Klienten stellt die Therapeutin eine bedeutsame Randbedingung für eine mögliche Veränderung dar – da ja nicht die Therapeutin, sondern nur der Klient die Lösung finden kann. Dazu ist es notwendig, dass die Therapeutin neutral bleibt, das heißt:
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ȤȤ Parteinahmen vermeidet (soziale Neutralität); ȤȤ sich gegenüber der Kultur des Klienten neutral verhält, also zu dessen Werten, Lebensentwürfen und Weltbildern (Konstruktneutralität); ȤȤ veränderungsneutral in Bezug auf das präsentierte Problem bzw. Symptom ist. Dabei ist, wie Retzer festhält, »Neutralität kein Merkmal eines inneren Zustands des Therapeuten (seines Erlebens), sondern ein Merkmal seines konkreten Verhaltens« (Retzer, 2006, S. 162). In welcher Form eine Beraterin oder ein Therapeut auf die Klientin oder den Klienten mit einer Intervention eingeht, hängt jedoch davon ab, wie gut sie oder er die eigene Position im Verhältnis zum Klienten und innerhalb der Gesellschaft, aber auch in Sachen Weltanschauung und Weltbild wahrnimmt. Denn Berater und Therapeuten können wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft nicht ohne Weltbilder auskommen. Sie bringen einen Rahmen handlungsleitender Vorstellungen und Annahmen mit. Diese Annahmen können etwa förderlich in die Hypothesenbildung eingehen, aber auch den Aufbau einer vertrauensvollen Gesprächsbasis verhindern. Das geschieht dann, wenn Berater und Therapeutinnen als Teil des Systems »Beratung« oder »Therapie« von Vorannahmen ausgehen, die sich aus ihrer eigenen Biografie, ihrem Weltbild und ihrer Stellung in der Gesellschaft ergeben. Zwei Beispiele: Ein Berater erklärt dem arbeitslosen Herrn Y., dass es ihm als Arbeitslosen freisteht, zu einer Schulung zu kommen. Er würde wissen, dass er bei Nichterscheinen die Arbeitslosenunterstützung verliert. Es sei seine Entscheidung, zu kommen oder nicht.
Hier wird der Kontext, in den jemand durch anhaltende Erwerbslosigkeit gerät, nicht thematisiert. Die eigene »Entscheidung« erfolgt innerhalb eines Systems, das mit Zwang und Strafe operiert. Dass der Berater dies nicht zur Sprache bringt, kann daran liegen, dass er entweder den Zwangscharakter begrüßt, oder aus seiner eigenen Stellung als Berater den Zwangscharakter der Situation von Langzeitarbeitslosen nicht (mehr) wahrnimmt. Das zweite Beispiel:
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Über Neutralität und Orientierung in der systemischen Arbeit
In der Beratung von muslimischen Frauen, die wegen mangelnder Schulbildung und weil sie ein Kopftuch tragen, Langzeitarbeitslose sind, liegt es nahe, vorzuschlagen, dass sie das Kopftuch ablegen, um leichter Arbeit zu finden.
Dabei wird der Kontext von Arbeitsmigrantinnen, die aus vornehm lich agrarischen Gebieten wie zum Beispiel Anatolien kommen, nicht wahrgenommen. Die traditionell bäuerliche und patriarchale Gesellschaftsstruktur, in der sie auch als Arbeitsmigrantinnen leben, bindet sie, gibt ihnen zugleich aber auch Halt. Das gesellschaftliche Misstrauen dem Islam gegenüber ist auch diesen Frauen nicht unbekannt, die Beraterin stellt sich mit dem Vorschlag also auf die Seite der gesellschaftlichen Gegner. Zudem findet die Beratung im Zwangskontext Arbeitsamt statt. Eine Motivation, die mangelnde Schulbildung aufzuholen, wird mangels Vertrauen zwischen Klientin und Beraterin kaum entstehen. Der Aufbau von Vertrauen zwischen Berater und Klient bzw. Klientensystem (»Pacing« oder »Joining«) aus Sicht und von Seiten des Beraters ist ein vieldimensionales Geschehen und vollzieht sich nicht nur verbal, sondern auch para- und nonverbal. Die Beraterin oder der Therapeut »geht hinter dem Klienten her«, gleichzeitig muss er oder sie aber auch »führen«, damit das Anliegen des Klienten geklärt und bearbeitet werden kann (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 225). Dieser Prozess von Angleichung und Veränderung wird schwierig sein, wenn der Therapeut voreingenommen ist gegenüber der sozialen Situation und Position des Klienten, oder auch gegenüber dessen Weltanschauung oder Religion. Hier ist die Selbstorientierung der Beratenden über die eigene Position und das eigene Weltbild gefragt. Berater und Therapeuten sollten von und für sich selbst wissen, welche »starken Wertungen« sie setzen, welche Präferenzen sie in verschiedenen Lebenssituationen haben und wo diese Präferenzen vermutlich mit denen der Klientin divergieren. In das Bild, das man sich von anderen macht, gehen die »kleinen Unterschiede« (Bourdieu), also soziale und gesellschaftliche Annahmen und Vorurteile mit ein. Die eigenen emotionalen Reaktionen auf die Differenz – fühle ich mich irritiert? Abgestoßen? Angezogen? Hilflos? Skeptisch? Etc. – wahrzu-
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nehmen, liefert wichtige Informationen (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 227). Neutralität des Verhaltens bedeutet nicht, die eigene Position zu verheimlichen. Sie ohne behauptende Kraft ins Spiel zu bringen, ist unter Umständen ein wichtiger Teil des Joinings, vor allem dann, wenn – wie in dem Beispiel der Beratung von arbeitslosen Muslimas – die Positionen ohnedies offensichtlich sind. Methodische Neugier statt Neutralität (S. 207) ist möglicherweise in Situationen, in denen weltanschauliche Fragen eine Rolle spielen, angebracht. Auch wenn sich ein Klient als Angehöriger einer bestimmten Religionsgemeinschaft deklariert, ist offen, wie sich der Klient positioniert, d. h. was von dem Weltbild, der Weltanschauung, den religiösen oder spirituellen Praktiken ihm als besonders wichtig erscheint und welchen Ort dies in seinem Leben einnimmt. Danach ist zu fragen, denn »[s]ystemische Neugier interessiert sich für die jedem System immanente Eigenlogik, die als weder gut noch schlecht, sondern als wirksam angesehen wird, weil sie sich für dieses System evolutionär offensichtlich bewährt hat« (von Schlippe u. Schweitzer, 2016, S. 207). Klarheit über die eigene Position zu haben, zusammen mit der Übung eines methodischen »Nichtwissens«, kann den Therapeuten vor vorschnellen Hypothesen und Sicherheiten bewahren und der Klientin helfen, Verantwortung für die Situation zu übernehmen und Lösungs strategien zu entwickeln. Wenn es um den Weltanschauungsrahmen eines Klienten geht, ist dieses »Nichtwissen« besonders angebracht. Religiöse oder nichtreligiöse Weltanschauungen sind keine individuellen Phänomene, denn immer verbindet sich mit einer Auffassung auch eine Überlieferung. Die Überlieferungen, »Musterbildungen«, die für lokale, regionale oder überregionale Großgruppen verbindlich sind, unterscheiden sich zum Teil enorm. Die verschiedenen Formen des Christentums reichen von orthodoxen Staatskirchen bis zu befreiungstheologisch orientierten Basisgemeinden; den Islam gibt es in vielen Varianten, von der Ahmadiyya – einer »neureligiösen« Gruppe, die im 19. Jahrhundert in Indien entstand – bis zu staatstragenden Sufi-Gruppen in Afrika oder salafistischen Gruppen in Mitteleuropa. Zahlreiche Ausprägungen gibt es auch im
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Über Neutralität und Orientierung in der systemischen Arbeit
Buddhismus, dessen Schulen kulturell zwischen Indien und China und neuerdings auch zwischen Südafrika und Norwegen beheimatet sind und sich in ihrer Lehre und Praxis, aber auch in ihrer politischen Positionierung deutlich unterscheiden. Im Judentum existiert eine Vielzahl von Strömungen zwischen ultraorthodox und liberal; und fast alle religiösen und theologischen Positionen, die es gibt, von Atheismus über Monismus bis personalem Nondualismus finden sich in Hindu-Traditionen. Auch die verschiedenen esoterischen Richtungen von Channeling bis zu den Rosenkreuzern liefern je eigene Weltanschauungen. Religion ist heute ein gesellschaftlicher Diskursort, an dem weltanschauliche und auch politische Gegensätze ausgetragen werden. Man könnte die gängigen Positionen in einer Art Skala darstellen, wenn man sie ungebührlich vereinfachen wollte. Auf der einen Seite würden sich Atheisten und Agnostiker befinden, auf der anderen Seite Fundamentalisten der verschiedenen Traditionen. Um die Mitte würden sich spirituelle und religiöse Positionen gruppieren, die sich als aufgeklärt verstehen wie zum Beispiel Gruppen, die Buddhismus praktizieren, auch katholische und evangelische Christen; Yoga, Achtsamkeitspraktiken und Schamanismus würde hier vielleicht nicht von allen eingereiht werden. Die Frage nach einer Orientierung in Sachen Weltanschauung, Religion und Spiritualität stellt sich unter den Bedingungen einer Entwicklung, in der das Ensemble von Kapitalismus, Naturwissenschaft, Technik und Informationstechnologien die gesellschaftlich relevanten Parameter für Wertvorstellungen vorgibt. Es gibt nur noch eine Handvoll Menschen, die nicht mit der »modernen Welt« in Berührung gekommen sind. Diese »uncontacted tribes«, die sehr alte traditionelle menschliche Lebensorientierungen bewahren, sterben zurzeit aus oder werden vernichtet. Indigene und andere vormoderne Traditionen erscheinen im stillschweigend voraus gesetzten Paradigma der Moderne als irrelevant und stellen höchstens einen Sehnsuchtsort für Menschen dar, die das Leben unter großstädtischen, hocharbeitsteiligen Verhältnissen erschöpft. Auch wenn sich innerhalb der nordatlantischen Gesellschaften eine große Diversität von religiösen und spirituellen Weltbildern findet, gibt es doch dominante und marginale Positionen. So trifft das, was in der
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Familientherapie gilt, auch für die Gesellschaft und gesellschaftliche Großphänomene wie Weltanschauung, Religion und Spiritualität zu: »Die herrschende Tradition bestimmt, welche Aspekte der Wirklichkeit wir auswählen und wie wir sie interpretieren« (Boeckhorst, 1993, S. 9). Im Diskurs von Weltanschauung, Religion und Spiritualität geht es um die symbolische Ordnung der Gesellschaft und ihre mögliche Veränderung. Das macht diese Fragen besonders heikel, weil hier einerseits persönliche Identitäten und andererseits gesellschaftliche Konstrukte aufeinander treffen. Die Vorstellung, dass es weltanschauliche Neutralität geben könnte, geht mit gewisser Selbstverständlichkeit davon aus, dass es einen neutralen Ort gibt – sozusagen einen Nullpunkt in einem Koordinatensystem. Eine solche Nullstelle kann es jedoch nur fiktiv geben, nämlich als den künstlich gewählten Ort, von dem aus ein Koordinatensystem konstruiert wird. In der Geometrie dient ein Koordinatensystem zur eindeutigen Bezeichnung der Position von Punkten und Linien im geometrischen Raum. Ganz praktisch wird ein Koordinatensystem dadurch erzeugt, dass auf dem weißen Blatt ein Nullpunkt angenommen wird, von dem aus die Koordinaten gezogen werden. Ähnlich werden die Koordinaten von Landkarten von einem Nullpunkt aus konstruiert, wobei die Landkarte abbildet, was von Interesse ist (z. B. die Wirtschaft, das Klima oder die Bahnverbindungen). Eine Skala zwischen Fundamentalismus und Atheismus ist – ähnlich wie eine Landkarte – ein Konstrukt, das seinen Platz in einer konkreten historischen Situation hat. Erst seit rund zweihundert Jahren ist es in der europäischen Gesellschaft eine mögliche Option, nicht zu glauben. Was zunächst nur Sache einer Elite war, ist nun unter dem Vorzeichen der Religionsfreiheit selbstverständlich geworden. Das hat das »religiöse Feld« der Gesellschaft verändert – mit umfassenden Folgen. Das Orientierungssystem »religiöses Weltbild« umfasste ja nicht nur religiöse Anschauungen über das Leben und den Tod, sondern enthielt auch Orientierungen über Medizin und Psychologie, ebenso über rechtliche Fragen. Die integrierende Figur war in diesem Orientierungssystem der Priester oder allgemeiner: das religiöse Personal. Doch mit Auf-
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klärung und Französischer Revolution begann eine schleichende Auflösung dieses »Feldes«, ein Prozess, der gegen Ende des 20. Jahrhunderts deutlich sichtbar wurde. Auch wenn man die Rolle des Beraters oder Therapeuten nicht analog der eines Priesters sehen möchte (Bourdieu, 1992, S. 233), so ist doch viel von der kirchlichen Deutungsmacht auf die Therapeuten und Berater übergegangen. Beide sind aktive Akteure in diesem Feld von »symbolischer Manipulation des Verhaltens im Privatleben und die Orientierung der Weltsicht« (S. 233).
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In der systemischen Arbeit werden mit den Klienten zu Beginn oft Genogramme erstellt: wer gehört zur (mehrgenerationalen) Familie, biografische Daten werden erhoben soweit bekannt, nach Informationen zu Eigenschaften, die Personen zugeschrieben werden, ebenso wird nach der allgemeinen Familienatmosphäre gefragt, nach Konflikten, aber auch nach Informationsbrüchen und Tabus. Auf diese Weise können intergenerationale Prozesse und wiederkehrende Konstellationen in der Familie der Klienten dargestellt werden. Obwohl in der beratenden und therapeutischen Praxis Fragen von Weltbild, Werten und Spiritualität zunehmend eine Rolle spielen, gibt es über sie wenig theoretisches Wissen. Zwar bringen Klienten ihre eigenen Vorstellungen zu den Themen mit, die ihnen wichtig sind – doch weil Begriffe wie Spiritualität usw. vielschichtig und vieldeutig sind, kann eine genauere Kenntnis der Begriffsgeschichte auch neue Perspektiven öffnen. Nicht nur für Familien, auch für Begriffe lassen sich Genogramme erstellen; genauer gesagt zu den mit ihnen verbundenen Vorstellungen, die vermittelt durch das kulturelle Gedächtnis eine Wirkungsgeschichte haben. Es sind »über Generationen, in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärtete Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen« (Assmann, 2006, S. 70). Das kulturelle Gedächtnis »erweitert und ergänzt die Alltagswelt um die andere Dimension der Negationen und Potentialitäten und heilt auf diese Weise die Verkürzungen, die dem Dasein durch den Alltag widerfahren« (Assmann, 1999, S. 57). Den Transfer dieser Begriffe leisten einerseits Spezialisten – Philosophen, Theologen, Historiker – andererseits aber spielen auch Familiensysteme eine wichtige Rolle, denn sie sind ein wichtiger Teil des Feldes, in dem das kulturelle Gedächtnis – etwa bei Festen oder auch in der Erziehung – tradiert wird.
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Ideengeschichtliche Genogramme
Manche der Begriffe um das Thema »Weltanschauung, Religion und Spiritualität« gehen auf die griechische und römische Antike zurück; andere Begriffe sind erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durch Aufklärung und Französische Revolution relevant geworden oder haben in dieser Zeit ihre Bedeutung geändert. Sich den Wandel in Begriffsgeschichten bewusst zu machen, stärkt Klienten und Beratende gleichermaßen, sich den eigenen Weg durch das Feld von Spiritualität, Religion und Weltanschauung zu bahnen und für das Erkennen von Wechselwirkungen zwischen Diskursen offen zu sein. Ideengeschichtliche Genogramme der Begriffe Esoterik, Kultur, Orientierung, Religion, Spiritualität, Transzendenz, Weltbild und Weltanschauung können neue Perspektiven in Beratung und Therapie vermitteln und auch Hilfestellung geben, um den eigenen Standort zu bestimmen.
Esoterik Das Wort »Esoterik« stammt aus dem Griechischen, ἐσωτερικός esōterikós, und meint so viel wie »innerlich«, »dem inneren Bereich zugehörig«. Das Wort ist äußerst vieldeutig. In der antiken Philosophie bezog sich »esoterisch« auf Lehren, die zwar nicht geheim, aber dem engen Schülerkreis vorbehalten waren. Lehren, die keine philosophische Vorbildung brauchten, waren »exoterisch«. In den zahlreichen Mysterienschulen der Antike gab es esoterische Lehren, die geheim und nur Eingeweihten zugänglich waren. Beispielsweise gab es in der Philosophenschule der Pythagoräer im 5. Jahrhundert v. Chr. einen Schülerkreis, der esoterische Lehren empfing – so schrieb der spätantike griechische Philosoph I amblichos von Chalkis (ca. 240/245–320/325) fast tausend Jahren später. Seither gilt Pythagoras nicht nur als Entdecker des nach ihm benannten geometrischen Lehrsatzes, sondern auch als esoterischer Lehrer. Die Pythagoräer nahmen an, dass der Kosmos nach mathematischen Proportionen in einem harmonischen Ganzen aufgebaut sei, und daher die Gesetze der Musik (Töne stehen in mathematischen Proportionen zueinander) und die des Kosmos gleich seien, weshalb es eine unhörbare Harmonie der Sphären gebe. Esoterisch kann auch eine Form der Erkenntnis genannt werden. Vermutlich ist sie aus der Begegnung von biblischen (jüdischen und
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christlichen) Gottesvorstellungen, griechischer Philosophie und den antiken, nichtchristlichen Weisheitslehren entstanden (Hanegraaf, 2013, S. 369). Die Gnosis, eine Bewegung der Spätantike, suchte nach einer Erkenntnis (gnoˉˆsis), die den menschlichen Geist aus seiner Verhaftung an die Materie befreien und mit dem göttlichen Absoluten vereinigen soll. Sie ist dem Neoplatonismus nahe, eine zweite einflussreiche Bewegung, die sich auf die Philosophie Platons beruft, die Welt als eine Emanation des »Einen« sieht und nach der befreienden Erkenntnis dieses »Einen« sucht. Unter den Vertretern des Neo platonismus fanden sich heidnische, jüdische, christliche und islamische Denker. Ebenso wie die Gnosis war der Neuplatonismus als Denkmodell in der Antike allgemein verbreitet. Eine wichtige Strömung war auch der Hermetismus, dessen Name auf eine Sammlung von Schriften, das »Corpus Hermeticum« zurückgeht, das dem Hermes Trismegistos zugeschrieben wurde, der angeblich zur Zeit Moses’ in Ägypten gelebt haben soll. Tatsächlich ist die Sammlung von griechischen Traktaten über den Kosmos und die göttliche Weisheit zwischen 100 und 300 n. Chr. entstanden, wurde in Italien um die Mitte des 15. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt und beeinflusste Renaissancephilosophen und Alchemisten. Esoterisches Denken verbindet Metaphysik und Kosmologie und nutzt nicht nur Begriffe und logische Argumente als Mittel der Erkenntnis, sondern auch Analogien und Bildern. Ein Beispiel dafür ist die Astrologie, die im Mittelalter auch unter Theologen als Wissenschaft galt. Bis zum Entstehen der modernen Naturwissenschaften war diese Art der Erkenntnis weder ungewöhnlich noch geheim. Newton etwa sah in der Schwerkraft eine hermetische Kraft, die das Universum zusammenhält. Neu war, dass er sie als mechanisch und quantitativ bestimmbar formulierte. Zu den verbreiteten Bildern und Motiven der traditionellen westlichen Esoterik gehören unter anderem »der androgyne Mensch, der Sündenfall, der Stein der Weisen, der ätherische Körper, die verlorene Sprache, die Weltseele, die Geographie der Heiligen Stätten, die unterirdische Höhle, die Linien des Mandala oder das Labyrinth, Gestalten wie Hermes und Orpheus« (Faivre, 2001, S. 23). Unter dem Eindruck der Naturwissenschaften wurde der esoterische Zugang zur Welt allmählich in den Hintergrund gedrängt, doch
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Ideengeschichtliche Genogramme
reicht die Tradition von der Spätantike über das westliche Christentum bis zur Aufklärung, und auch danach lässt sich eine Entwicklungslinie bis heute ziehen (Hanegraaf, 2013, S. 17). Esoterik ist ein charakteristisch europäisches Phänomen, auch wenn heute vielfach asiatische Traditionen als Esoterik bezeichnet werden. Denn die New-Age-Bewegung kann als ein säkularisiertes Wiederaufleben der traditionellen Esoterik verstanden werden, unter Aneignung asiatischer Traditionen. Im heutigen Sprachgebrauch werden allerdings die meisten dieser esoterischen Lehrsysteme als spirituell charakterisiert.
Kultur Kultur kommt vom lateinischen cultura, Ackerbau. Lange Zeit wurde »Kultur« immer »mit Bezug auf etwas«, auf eine Tätigkeit oder einen Gegenstand, verwendet: Kultur des Geistes, Kultur der Künste etc. Erst im 18. Jahrhundert wurde eine scharfe Grenze zwischen Natur und Kultur gezogen. Natur gilt seitdem als ein Zustand ohne menschliche Bearbeitung und Kultur als ein von Menschen eines bestimmten Volkes, einer bestimmten Gesellschaft oder Gruppe geformter Zustand. Diese Überlegungen waren eine Konsequenz des Zeitalters der Eroberungen: Nach 1492 lernte man in Europa durch die Berichte der Abenteurer, Kaufleute, Soldaten und Missionare eine Vielzahl ganz anderer menschlicher Lebensformen kennen. Der spanische Theologe Francisco Suárez (1548–1617) legte damals die Grundlagen für das Völkerrecht. Ein Jahrhundert später dachte der italienische Philosoph Giambattista Vico (1668–1744) über die Unterschiede und Geschicke von Völkern und Kulturen nach, um Schlüsse über den Lauf der Geschichte ziehen zu können. Vico unterschied zwischen der Natur, die ein Werk Gottes ist, und der Kultur, die ein Werk des Menschen ist, wobei jedes Volk seine eigene Kultur hat, und diese Kultur wiederum ihre eigene Geschichte. Dies kam Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland gut an, wo hundert Jahre nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges Denker wie Johann Gottfried Herder (1744–1803) herauszufinden versuchten, was das Gemeinsame der etwa 300 deutschen Kleinstaaten war. Kultur war der Begriff, der ihm dafür geeignet schien: Kultur ließ sich mit der gemeinsamen
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Sprache in Verbindung bringen, deutete auf ein vereinheitlichendes Prinzip und unterschied so die Deutschen zum Beispiel von den Italienern und Franzosen. »Jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, so wie eine Kugel ihren Schwerpunkt«, schrieb Herder (1774/1967, S. 509). Als im 19. Jahrhundert die Idee der nationalen Selbstbestimmung und der Nationalstaaten aufkam, war dies an die Auffassung von nationalen Kulturen geknüpft. »Kultur« wurde jetzt als »Nationalkulturen« in den Plural gesetzt und bezeichnete nicht mehr das Verbindende zwischen Menschen, sondern das Trennende. Kulturen wurden zum Motiv der Ausschließung der »Anderen« und ein Topos der nationalen Identität. So stellte man etwa Deutsche und Franzosen als einander ausschließende Gegensätze dar. Das 19. Jahrhundert war auch das Zeitalter des Imperialismus und Kolonialismus. Unter diesen Vorzeichen erhielt der Kulturbegriff nochmals eine neue Bedeutung. Kultur wurde nun synonym für Fortschritt, und Fortschritt war synonym mit der europäischen Kultur. Europas Kultur galt als Maßstab, an dem sich alle anderen Kulturen messen lassen mussten. So entwickelte sich eine Skala, an deren unterem Ende die sogenannten »Primitiven« standen, am oberen Ende die »Hochkulturen«. Man unterschied Natur- von Kulturvölkern oder orientierte sich für eine Einteilung der Kulturen an der Evolutionstheorie. Nach diesen Modellen galt Europa als höchstentwickelt, andere Kulturen als unterentwickelt. Fremde Menschen wurden nicht als »kulturlos« begriffen, sondern als »kulturarm«, es war ihnen also möglich, sich »weiterzuentwickeln«: »Nach der Ideologie der Zivilisierung war es allen Kulturen auf dieser Skala möglich, den Status der europäischen Kultur zu erreichen, wenn sie nur den Vorgaben der Zivilisierung folgten« (Flatz, 1999, S. 66). In einem weiteren Schritt wurde Kultur zu Ende des 19. Jahrhunderts als »eine von den Menschen selbst geschaffene Bedeutungswelt bestimmt« (Baecker, 2001, S. 90). Der deutsche Soziologe Max Weber definierte Kultur als »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber, 1968, S. 180). Die Naturwissenschaften beschrieben die Welt quantitativ, doch aus den Messungen ließ sich kein Sinn ableiten – dies war Sache
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Ideengeschichtliche Genogramme
der »Kultur«, die ein Sinnreservoir angesichts von Sinnlosigkeit bot. Dieses Sinnreservoir generierte seinerseits Unterschiede aller Art, nämlich »Kulturen« als Vielzahl möglicher Sinndeutungen. Zu Kultur wurde nun alles, was dem Leben Sinn und Bedeutung gibt, nicht nur Sprache, sondern auch Kunst, Religion, Weltanschauung und im Weiteren auch alle Formen von Kommunikation. Die Kulturkreistheorie, die Ende des 19. Jahrhunderts populär wurde, suchte räumliche Zusammenhänge mit vorherrschenden Weltanschauungen und Normen zu verbinden – etwa das »christliche Abendland« oder den »islamische Orient«. Die Kulturkreistheorie arbeitete mit Stereotypen, also Eigenschaften, die als charakteristisch ausgegeben werden. Die wiederum entstammten vielfach den nationalen Konflikten, wenn Deutsche die Franzosen beispielsweise als verspielt und sich selbst als sachlich wahrnahmen. Wesentliche, oft bis heute wirkende Stereotype kamen aus dem Kolonialismus – wie etwa, dass Orientalen »nicht männlich« oder »faul« seien oder »nicht logisch denken« könnten. Einer der wichtigsten Vertreter der Kulturkreistheorie war Oswald Spengler (1880–1936), der Kultur als einen Ablauf von Phasen verstand und den »Untergang des Abendlandes« (1922–23/1963) durch die »Fellachen« prophezeite. Diese »entwicklungsunfähigen Volksmassen« würden mit ihrer »Zivilisation« – als Gegenbegriff zu »Kultur« – das Ende der Kultur einläuten und in der letzten Phase das ehemalige »Kulturgebiet« bewohnen. Problematisch ist schon der Begriff Abendland: denn eine historische Betrachtung zeigt rasch, dass es keineswegs klar ist, wo das Abendland beginnt oder endet. Die europäische Kultur ist in vielem zum Beispiel durch das Römische Reich bestimmt. Dieses umfasste aber den gesamten Mittelmeerraum, also auch die Türkei und Nordafrika und reichte bis in das Gebiet des heutigen Syrien und Irak. Das sogenannte Abendland lässt sich daher nicht einfach auf die heutigen politischen Grenzen Europas beschränken Ende des 20. Jahrhunderts wurde Kultur (im Plural) zum Kampfbegriff. Der »clash of civilizations«, der »Kampf der Kulturen«, den Samuel Huntington 1993 propagierte, stellte »unsere Kultur« – die westliche, amerikanische – gegen »die Kultur der Anderen«, das sind in erster Linie Muslime, aber auch Konfuzianer und Buddhisten. Huntington zog – so wie vor ihm die Kulturkreistheoretiker –
Orientierung189
willkürliche Trennlinien, die sachlich vielfach falsch sind. Huntingtons Artikel erschien 1993 zuerst in »Foreign Affairs«, in dem außenpolitischen Magazin der USA, muss also im Kontext der außenpolitischen Ambitionen der USA nach dem Ende des Sowjetblocks gesehen werden. Alle diese Bedeutungsschichten schwingen mit, wenn man heute über Kultur spricht: die Bewertung aus europäischer, »weißer« Sicht (in der auch ein rassistischer Unterton mitklingt, selbst wenn das nicht gewollt ist), der Blick auf Religion, auf Kunst und Weltanschauung, auf den Unterschied zwischen fremden oder vertrauten Formen der Kommunikation. Wer heute etwas als »Kultur« bestimmt, vergleicht, relativiert und beurteilt, stellte Niklas Luhmann fest (1995, S. 32, 41, 341). Das Wort »Kultur« dient heute häufig zur Distanzierung und Stigmatisierung von Menschen, die »anders« als der jeweilige Sprecher sind, von anderswo herkommen oder Anderes glauben.
Orientierung Lebewesen müssen sich orientieren, denn Orientierung ist überlebenswichtig. Pflanzen orientieren sich am Licht, aber auch an chemischen Stoffen; Tiere können sich selbst in unbekanntem Terrain zurechtfinden, sie orientieren sich am Stand der Sonne, des Mondes oder der Sterne, am Magnetfeld der Erde, an optischen Zeichen oder auch Geruchsmarkierungen. So können sie Futter finden, Partner, aber auch ihr Nest oder weit entfernte Brutplätze. Dass Pflanzen die Welt wahrnehmen, kann man nur im übertragenen Sinn sagen, weil sie keine Nerven besitzen. Es ist jedoch mittlerweile erwiesen, dass Pflanzen sich sehr gut orientieren können und es Kommunikation sowohl zwischen Pflanzenteilen als auch mit anderen Pflanzen gibt (Chamovitz, 2013). Tiere besitzen Sinnesorgane, doch sind die anders organisiert als beim Menschen – Katzen und Hunde etwa sehen am besten in der Dämmerung. Katzen sehen die Welt vermutlich blaugrün oder grüngelb, sie sind Weitwinkelseher, ihr Gesichtskreis beträgt rund 200 Grad. Aber dies sind alles Aussagen aus menschlicher Perspektive; Katzen (und andere Tiere) haben natürlich keine Maßeinheiten und vermutlich auch keine Farbbegriffe.
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Ideengeschichtliche Genogramme
Menschen orientieren sich ähnlich wie Pflanzen und Tiere am Licht, den Gestirnen, an akustischen und optischen Zeichen oder auch an Gerüchen. Der menschliche Alltag ist durch Orientierung gekennzeichnet – von der Suche nach der richtigen Autobahnausfahrt über den Waldspaziergang bis zur Orientierung im Paragraphendschungel. Menschen verfügen auch über eine abstrakte, symbolisch und sprachlich organisierte Ebene der Orientierung, die meist als Kultur bezeichnet wird. Ob Weltanschauung, Religion und Spiritualität Teil von Kultur sind oder eigenständige Größen, gehört zu den viel diskutierten Fragen in den Geisteswissenschaften wie in der Politik. Menschen in den nördlichen Industriestaaten orientieren sich heute meistens mit dem »Global Positioning System« (GPS), Sonne und Mond sind für sie Orte im Weltraum, die naturwissenschaftlich erforschbar und vielleicht auch wirtschaftlich nutzbar sind. In vormodernen Kulturen war der Himmel dagegen entweder selbst eine Gottheit oder der Wohnort von Gottheiten, und vor allem die Instanz der Orientierung. Das chinesische Schriftzeichen für Orientierung 方向 ist zusammengesetzt aus einem Zeichen, das »viereckig« oder »Himmelsrichtungen« bedeutet und einem zweiten, das »Richtung«, »Führung« oder »Steuerung« bezeichnet. Auch das Wort »Orientierung« hat einen Bezug zum Himmel: es kommt vom französischen Wort orienter, das Ausrichtung am Ort des Sonnenaufgangs bedeutet. Ein philosophischer Terminus ist Orientierung erst zu Ende des 18. Jahrhunderts geworden, als der Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) den Begriff in einer Debatte zwischen Aufklärern und Pietisten, also Vertretern einer besonderen Form evangelischer Frömmigkeit, einführte. Die Debatte war das Ergebnis eines veränderten Verhältnisses der europäischen Intellektuellen zur Welt. Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich unter dem Eindruck von Newtons Entdeckungen ein Wechsel in der Weltsicht vollzogen. Seine Gravitationslehre legte nahe, die Bewegungen der Gestirne nach mechanischen Gesetzen aufzufassen. Der Himmel war nicht mehr der Ort Gottes, doch sahen die Menschen nun in der Ordnung des Himmels und der Natur im Ganzen das Wirken Gottes. Der Deismus der Aufklärer bejahte die Annahme Gottes aus Vernunftgründen und nicht aufgrund der Offenbarung. Deisten gingen davon aus, dass die Ordnung der Welt
Orientierung191
von der menschlichen Vernunft erkannt werden könne, und dass Menschen annehmen könnten, dass die Natur nach Gottes Plan zum Wohl der Menschen angelegt sei, »[s]ofern die Absichten, die Gott mit uns verfolgt, nichts weiter beinhalten als unser eigenes Wohl, das sich seinerseits aus dem Plan unserer Natur ablesen lässt, kann sich hier kein übriges Geheimnis mehr verbergen« (Taylor, 2012, S. 383). Für den Deismus wurde Gott zu einer unpersönlichen Größe. Die deistischen Denker brauchten die Offenbarung der Bibel nicht mehr, um Gott zu erkennen, da die eigene menschliche Vernunft dafür ausreichte. Diese Position, dass Gott in der unpersönlichen Ordnung der Welt zu finden sei und durch diese Ordnung mit den Menschen in Verbindung stehe, forderte jedoch den Widerspruch der Pietisten heraus. Sie erklärten, dass man Gott nur durch die Offenbarung der Bibel erkennen könne. Dagegen legte der Aufklärer Mendelssohn nahe, sich am »allgemeinen Menschenverstand« zu orientieren. Dem großen Philosophen der Aufklärung Immanuel Kant (1724– 1804) war der »allgemeine Menschenverstand« aber eine zu unsichere Instanz, da man zu leicht in Dogmatismus oder Schwärmerei verfallen könnte und daher analysierte er »Was heißt: Sich im Denken orientieren?« (1786/1977). Weder geniale Schwärmerei noch Aberglaube könne die Menschheit weiterbringen, sondern nur selbst zu denken. Statt dem »gefühlten Bedürfnis der Vernunft« (S. 274) nachzugeben, ist es notwendig, sich an den Regeln der Vernunft zu orientieren. Die Freiheit selbst zu denken ermöglicht, sich von den Fesseln der Unterdrückung zu befreien. Dazu braucht es Mut und die Überwindung der Bequemlichkeit, schrieb Kant: »Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen« (Kant, 1784, S. 482). Orientierung in weltanschaulichen Fragen war erst seit der Aufklärung ein Thema. Wer sich selbst orientieren will, braucht Mut und eigenes Denken: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist
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das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung« (Kant, 1784, S. 516). Die Begriffsgeschichte des Wortes »Orientierung« zeigt den Übergang von einer Orientierung im physischen Raum zu einer Orientierung im »meta-physischen« Raum der Weltbilder. Damit ist diese Begriffsgeschichte gewissermaßen paradigmatisch für das Geschehen in Therapie und Beratung, wo es um (Re-)Orientierung im persönlichen und im Weltbild-Raum geht.
Religion Die meisten Menschen im nordatlantischen Raum verbinden Religion vor allem mit Institutionen und Mitgliedschaft, bestimmten Regeln und Dogmen, also mit dem, was sie selbst als Kinder in Schule und Familie erlebt haben. Doch »Religion« ist ein vieldeutiger und diffuser Begriff, und so ist es kein Wunder, dass auch das Verhältnis von Kultur, Religion und Spiritualität diffus ist und einer klärenden Annäherung bedarf. Das Wort »Religion« kommt aus dem Sprachgebrauch der römischen Republik und wird erstmals 186 v. Chr. erwähnt. Es bezeichnete »eine korrekte Ausübung kultischer Praktiken gegenüber den Göttern«, also den »richtigen«, staatlich anerkannten Kult (Kippenberg u. von Stuckrad, 2003, S. 103 f.). Im 4. Jahrhundert leitete dann der christliche Kirchenvater Lactantius (eingedeutscht Laktanz) »religio« von »religare«, »zurückbinden« ab, um damit die existenzielle Beziehung des Menschen zu Gott zu bezeichnen. Bis heute ist Religion in Europa eine rechtliche und eine existenzielle Größe. In anderen religiösen bzw. kulturellen Traditionen gibt es kein Äquivalent für den Begriff »Religion«. Die wissenschaftliche – also nichttheologische, nicht konfessionell gebundene – Erforschung von Religion begann im 19. Jahrhundert. Bereits 1912 gab es mehr als 50 verschiedene Definitionen des
Religion193
Begriffs (Kippenberg u. von Stuckrad, 2003, S. 38), und die Zahl hat sich inzwischen erhöht. Man kann dabei unterscheiden zwischen ȤȤ einem substanzialistischen Begriff von Religion, der nach einem »überzeitlichen Wesen« oder einer »überzeitlichen Substanz« von Religion fragt. Die jeweiligen Definitionen orientieren sich an Beispielen aus konkreten Religionen. So kann man etwa sagen, der Buddhismus sei keine Religion, wenn man »Religion« an einem Begriff von Gott bindet. ȤȤ einem phänomenologischen Zugang zu Religion. Hier wird versucht, für Erfahrungen und Phänomene, die als religiös bezeichnet werden – wie zum Beispiel »das Heilige«, (Otto, 1917) – Religionstypologien aufzustellen wie »prophetische« vs. »mystische« Religion, »Buchreligionen«, »Universalreligionen« etc. ȤȤ einem funktionalistischen Religionsbegriff, der nach der Funktion von Religion für das Individuum und die Gesellschaft fragt: Was leistet, tut, bewirkt das, was Religion genannt wird? Funktionalistische Religionsbegriffe können nur kontextuell gesehen werden. Da es sehr viele, sehr unterschiedliche kulturelle und gesellschaftliche Kontexte gibt, wechselt der Inhalt des Begriffs »Religion« je nach Kontext und Funktion, was zu einer gewissen Unübersichtlichkeit führt. In den Wissenschaften, in denen Religion thematisiert wird, überwiegen formale oder funktionale Definitionen, ebenso in den Medien als Forum öffentlicher Kommunikation. Das Stichwort »Religion« erscheint in den Medien, wenn es um Fragen wie Abtreibung, Ökologie oder auch um Fundamentalismus geht. Aber auch »James Bond is Religion«, titelte die englische Zeitung »The Guardian« (Winder, 2015). Ob und warum Fußball Religion sei, darüber gibt es eine ganze Reihe von soziologischen Arbeiten. Der mythische Leinwandheld, der stets das Böse besiegt, oder die fahnenschwenkende, ekstatische Gemeinschaft im Stadion, die auf das nächste Fußballwunder wartet und ihre besten Spieler zu Göttern erhebt, sollten auch in der Erforschung von Religion berücksichtigt werden. Dies meinte einer der Pioniere einer säkularen Religionswissenschaft, Ninian Smart (1927–2001). Nach Smart (2002) lassen sich an einer Religion folgende sieben Dimensionen feststellen:
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Ideengeschichtliche Genogramme
Rituale und religiöse Praktiken, Geschichten und Erzählungen, Erfahrungen und Emotionen, die Dimension der Institutionen, Ethik und Recht, Dogmen, Lehren, Philosophie, die materielle Dimension – Sakralbauten genauso wie religiöse Kunst.
James Bond ist der Held einer mythischen Erzählung, die über das Kino als Institution und Gebäude transportiert wird, bei Menschen Emotionen hervorruft, doch von »Dogmen« der Bond-Filme lässt sich nur in übertragenem Sinn sprechen. Auch wenn sich manche an einer Philosophie des Fußballs oder an einer Reflexion von Bond-Filmen versuchen, kann man in diesen Zusammenhängen doch nicht von einer Weltanschauung sprechen. In beiden Fällen fehlt auch eine eigene Ethik, es sei denn, man setzt die Spielregeln des Fußballs und das Gut-Böse-Klischee der Bond-Filme mit Ethik gleich. Dass das zu kurz gedacht ist, merkt man an der fehlenden intersubjektiven bzw. gesellschaftlichen Relevanz dieser Beispiele, die aber für Ethiken im Allgemeinen und religiöse Ethiken im Besonderen charakteristisch ist. Auch der Vegetarismus und der Veganismus werden oft als Religion bezeichnet. Beide haben eine starke Ethik, die auf einigen dogmatischen Grundsätzen basiert, und es sind meist starke Emotionen und persönliche Erfahrungen mit diesen Haltungen verbunden. Auch gibt es philosophische Argumente für Vegetarismus und Veganismus. Was fehlt, sind Institutionen und eine materiell-ästhetische Dimension. Auch hier kann man von Religion nur im übertragenen Sinn sprechen. Für den Buddhismus dagegen, dem häufig nachgesagt wird, keine Religion zu sein, treffen alle sieben von Smarts Merkmalen zu: es gibt eine Unmenge von Ritualen und Praktiken (Meditationsübungen), die sich in den verschiedenen Schulen des Buddhismus entwickelt haben; es gibt eine Fülle von Geschichten und Erzählungen über den Buddha, aber auch über andere buddhistische Gestalten; Menschen verbinden mit der buddhistischen Lehre und ihrem Stifter tiefe Emotionen, wie man in Asien leicht wahrnehmen kann, und die
Spiritualität195
persönliche Erfahrung der Befreiung, des Erwachens ist eine heilsrelevante Angelegenheit. Der Buddhismus besitzt im Sangha, der Gemeinschaft der buddhistischen Mönche und Nonnen und damit in den zahlreichen Klöstern starke Institutionen, die durch extensive Rechtsvorschriften (vinaya) geregelt sind. Das buddhistische Lehrgebäude ist umfassend und wird je nach Tradition und Schule unterschiedlich artikuliert. Die überaus zahlreichen heiligen Texte des Buddhismus bilden die Basis für eine ausgeprägte und umfangreiche philosophische Interpretation in den verschiedenen Kulturen; ebenso die buddhistische Kunst. Für einen praxisorientierten Zugang ist eine weitere, von W. C. Smith eingeführte Unterscheidung wichtig: Religion als persönliche Haltung (faith) und Religion als die verschiedenen Glaubenssysteme, die innerhalb einer Glaubensgemeinschaft vertreten werden (belief), die auch eine historische Dimension haben. Sich der Vielfalt der Religionsbegriffe bewusst zu werden, hilft den eigenen Standpunkt, aber auch die Position der Klienten in diesen Fragen zu klären und ermöglicht dadurch eine genaueren Blick auf die Situation der Klienten ebenso wie das Auffinden von Richtungen für mögliche Lösungswege.
Spiritualität Folgt man der Geschichte des Begriffs »Spiritualität«, muss man nicht weit zurückgehen. Im Deutschen ist »Spiritualität« als Hauptwort relativ neu. Im Wörterbuch der Brüder Grimm (1838/1984) findet man es nicht, hier steht nur »Spiritus«, was in der Alchemistensprache des 16. Jahrhunderts ein »Destillationsproduct von Wein« bezeichnete. Das lateinische Maskulinum »spiritus«, auf das sich »Spiritus« bezieht, bedeutet dagegen nichts materiell Greifbares: »Luft, Hauch, Atem, Lebenshauch, Seele, Geist, Begeisterung, Mut, Übermut, Stolz, dichterisches Schaffen« (Stowasser u. Petschenig, 1965) und ist weitgehend bedeutungsgleich mit dem griechischen »pneuma«. In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Tora, der fünf Bücher Mose, die ab 250 v. Chr. in Alexandrien entstand, dient das Neutrum »pneuma« als Übersetzung für das hebräische »ruach«, ein Wort, das meist weiblich, gelegentlich auch männ-
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Ideengeschichtliche Genogramme
lich gebraucht wird. »Ruach« (hebr. )רוּח ַ bedeutet Wind, Geist, vom Geist Bewirktes – also Begabung, Gemüt, Charakter, Wille – und bezeichnet die »Geistin Gottes«, die Aktivität Gottes in der Welt. Das Adjektiv »spiritualis« ist eine lateinische Neuschöpfung zur Übersetzung des griechischen »pneumatikós«, mit dem Apostel Paulus in seinen Briefen (vgl. 1 Kor 2,14–3,3) den an Gottes Geist orientierte Lebensstil der Christen meint. Das Substantiv »spiritualitas«, das ab dem 5. oder 6. Jahrhundert in Gebrauch kam, wurde entweder in einem religiösen Sinn verwendet – der Gegenbegriff wäre »carnalitas« (Fleischlichkeit) oder »animalitas« (»Tierartigkeit«) – oder in einem philosophischen Sinn als Weise des Seins oder Weise des Erkennens – der Gegenbegriff wäre »corporalitas« (»Körperlichkeit« in physisch-physiologischem Sinn). In einem juridischen Sinn bezeichnete »spiritualitas« ab dem Ende des 12. Jahrhunderts geistliche Funktionen und Aufgaben wie Verkündigung, Liturgie und Sakramentenspendung (daher ist ein »Priester« bis heute ein »Geistlicher«). Gegenbegriff wäre »temporalitas«, »Zeitlichkeit«, aber auch »weltliche Rechtsgüter« (Weismayer, 2008). Im Französischen erfuhr das Hauptwort »spiritualité« ab dem 17. Jahrhundert eine Bedeutungsverschiebung in Richtung Mystik, ebenso im Englischen. Nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde »Spiritualität« (spirituality) einerseits von angelsächsischen, neu religiösen Bewegungen verwendet, wie zum Beispiel von C hristian Science (»Kirche Christi Wissenschaftler«, gegründet 1879 in Boston) oder der Theosophischen Gesellschaft (gegründet 1875 in New York). Unter dem Eindruck der Theosophie nahmen in Indien neohinduistische Reformer »Spiritualität« für die Hindu- Traditionen in Anspruch, ebenso später singhalesische und japanische Buddhisten. Dabei durchliefen die buddhistischen und hinduistischen Traditionen zugleich einen Modernisierungsprozess. Unter den Vorzeichen des antikolonialen Kampfes wurde betont, dass die Hindu-Traditionen bzw. die buddhistischen Schulen den westlichen Religionen überlegen seien. Aus dieser antikolonialistischen Debatte stammt auch der Topos vom »spirituellen Indien« oder »spirituellen Asien« im Gegensatz zum »materialistischen Westen«. Im katholischen und auch protestantischen Kontext wurde Spiritualität zunächst mit dem traditionellen Begriffspaar »Askese und
Transzendenz197
Mystik« assoziiert. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962– 1965) wurde »Spiritualität« zu einem weit verbreiteten Begriff. Spiritualität bedeutete nun, dass die persönliche religiöse Erfahrung zählt und es um eine an Werten orientierte Lebensweise geht. Dieser Wortgebrauch findet sich in christlichen Konfessionen genauso wie in nichtchristliche Religionen oder in den New-Age- und EsoterikBewegungen. »Spiritualität« wurde zu einem Wort, das durch ein Adjektiv charakterisiert wird: so gibt es »buddhistische Spiritualität«, »pfingstlerische Spiritualität«, aber auch »feministische Spiritualität«, »atheistische Spiritualität« oder »skeptische Spiritualität« (Solomon, 2002). Spiritualität wird heute als etwas anderes als Religion gesehen, als eine Art von anthropologischer Konstante (Baier, 2006, 2009), als Lebensweise oder Lebensstil, der sich auf Erfahrung von Ganzheit und Sinn berufen kann oder auf die Ermöglichung solcher »endlicher Erfahrungen des Unendlichen« (Comte-Sponville, 2009, S. 240) ausgerichtet ist. Im Unterschied zu Religion gilt Spiritualität als eher undogmatisch, nicht institutionell und lebensnah, so dass sich heute viele Menschen eher als spirituell und nicht als religiös beschreiben würden (Bucher, 2014, S. 15 ff.). Gleichzeitig zeigen aber neuere Forschungen zu Spiritualität, dass Spiritualitäten abhängig von der jeweiligen Religion und der jeweiligen Alltagskultur sind (Hense u. Maas, 2011, S. 13). Die Vorstellung, dass Spiritualität (oder auch Mystik, wie manchmal gesagt wird) sozusagen die chemisch reine Essenz aller Religionen und ihr gemeinsamer Nenner sei, ist eine Fiktion, die sich im Wesentlichen der Aufklärung verdankt. Spiritualität gibt es nur konkret und unter den Bedingungen des kulturellen Gedächtnisses, und das heißt in Ausdrucksformen, die sich aus dem kulturellen Gedächtnis (besser: Gedächtnissen) speisen. Dies im Beratungs- oder Therapiegespräch zu beleuchten, kann einen klärenden Prozess auslösen, der zu einem tieferen Selbstverständnis führen kann.
Transzendenz Ein Genogramm des Begriffs »Transzendenz« beginnt beim lateinischen »transcendere«, überschreiten. Das Wort markiert eine Grenze und ist für das Selbstverständnis von Religionen charakteristisch. Viele Religionsdefinitionen beziehen sich auf Transzendenz, auch
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Ideengeschichtliche Genogramme
wenn der Begriff sehr abstrakt ist und einen Bedeutungswandel durchlaufen hat. Am einfachsten lässt sich die klassische Auffassung von Transzendenz an Platons Höhlengleichnis erklären (ca. 400 v. Chr./2004): In einer Höhle sitzen Menschen, die seit Kindheit so gefesselt sind, dass sie mit dem Rücken zum Höhlenausgang sitzen und nur bewegte Schatten auf der Höhlenwand sehen. Sie sehen jedoch nicht das Feuer, das hinter ihnen und zugleich vor einer Art halbhohen Zwischenwand brennt, und auch nicht die Leute, die Statuen und Gegenstände zwischen Feuer und Zwischenwand vorbeitragen, sodass diese auf die Höhlenwand Schatten werfen. Die Schatten sind das einzig Sichtbare für die Gefesselten. Untereinander eifern sie um die Wette, wer die Schatten genauer erkennt und vorhersagen kann, was als nächstes kommt. Angenommen, sagt Platon, einer der Gefangenen käme frei, dann wäre er zunächst sehr verwirrt und müsste sich erst allmählich an die neue Situation gewöhnen. Würde man ihn zudem ans Tageslicht bringen, würde er zunächst überhaupt nichts sehen, und erst allmählich lernen, das Sonnen- vom Mondlicht zu unterscheiden sowie die Dinge im Licht wahrzunehmen. Wenn er dann zurück in die Höhle käme, um den Gefährten von seinen Erfahrungen zu erzählen, würden sie sagen, dass seine Augen verdorben wären und ihm nicht glauben. Er aber würde lieber als Tagelöhner auf einem Feld arbeiten, als in die Höhle zurückzukehren.
Platon erzählt dieses Gleichnis, um den Aufstieg der Seele zur Erkenntnis des Guten zu erläutern. Für ihn war klar, dass es nicht nur das Sichtbare gibt, sondern auch das Unsichtbare – das Reich der Ideen, und die höchste Idee des Guten, die mit »ungeübtem Auge« nicht erkennbar, also transzendent ist. So wurde in der Folge Transzendenz von den spätantiken und mittelalterlichen Philosophen ganz wörtlich als »Überschreiten« verstanden (Ritter, 1971–2007, Bd. 10, Sp. 1443). Das Ziel des menschlichen Erkennens ist der Aufstieg zum Göttlichen, das ohne Voraussetzungen, das Unbedingte und der Ursprung des Ganzen ist, so die klassische philosophische und theologische Sicht. Das Göttliche ist »unbedingt« und kann durch nichts bedingt oder eingeschränkt werden. Auch durch das Denken kann das Göttli-
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che nicht bestimmt werden, daher ist es unbestimmbar. Der Mensch kann das Göttliche erreichen, doch dazu muss der Mensch sich selbst überschreiten. Dies war der gemeinsame Grundgedanke von antiker und christlicher Philosophie und Theologie. Als der Letzte, der diese Sicht vertrat, gilt Nikolaus Cusanus (auch: Nikolaus von Kues, 1401– 1464). Er war nicht nur Philosoph, Theologe, Mathematiker und Mystiker, sondern auch kirchlicher Würdenträger, nämlich Kardinal und Fürstbischof von Brixen (Ritter, 1921–2007, Bd. 10, Sp. 1447). Unter Transzendenz verstand man in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie die grundlegenden Bestimmungen des »Seienden«. Als Transzendentalien werden »das Eine, »das Wahre« und »das Gute«, aber auch »das Schöne«, »das Wesen« und »die Andersheit« genannt. Diese transzendenten Kategorien können von allem ausgesagt werden, das ist bzw. existiert, und zwar auch dann, wenn diese Eigenschaften fehlen. Das Böse ist aus dieser Perspektive nicht eine eigenständige Größe, sondern ein Mangel des Guten. Von Gott können diese Eigenschaften jedoch nur analog ausgesagt werden, also in ähnlicher Weise. Von einem Menschen kann man sagen: »er ist gut«; von Gott kann dies nur analog gesagt werden, weswegen der Mystiker Meister Eckhart in Übereinstimmung mit dem großen Theologen Thomas von Aquin (1225–1274) formulieren konnte: »Gott ist nicht gut«. Im 19. Jahrhundert wandelt sich die Bedeutung. Nun wurde Transzendenz als Gegensatz zum Immanenten verstanden. Damit war gemeint: alles, dass »unter der allgemeinen Bedingung«, »Tatsache meines Bewusstseins« zu sein steht (Rickert, 1904, S. 19). Aus der Sicht der Naturwissenschaften war Transzendenz als ein Bereich, der beansprucht, sich dem Zugriff von Messgeräten zu entziehen, wissenschaftlich nicht relevant. Für die kritischen Denker des Positivismus und Neopositivismus sind Fragen der Transzendenz »Begriffsdichtung«. Heute wird Transzendenz etwa als »Unverfügbarkeit« interpretiert, wenn es um Menschenwürde und Menschenrechte geht (Vorländer, 2013, S. 13 ff.). Auch wenn Transzendenz heute nicht mehr als normativer Begriff gilt, spielt Transzendenz doch für das Selbstverständnis religiöser oder spiritueller Menschen eine große Rolle, und taucht deshalb im Beratungs- und Therapiekontext verstärkt auf.
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Weltbild und Weltanschauung Ein letztes ideengeschichtliches Genogramm: Das Wort »Weltanschauung« ist eine deutsche Prägung des 19. Jahrhunderts; das Wort wird auch im Englischen und Französischen als Fremdwort verwendet. Weltanschauung hat einen Bezug zu »Weltbild«, ein Ausdruck, der auf eine Enzyklopädie der Spätantike zurückgeht. Diese erste Enzyklopädie, zusammengestellt von dem Nordafrikaner Martianus Capella (gest. um 420), blieb bis ins 12. Jahrhundert in Europa eine wichtigen Quelle des Wissens und zudem ein Modell der umfassenden Bildung. Die Enzyklopädie sollte die »Form und Idee der Welt« (forma ideaque mundi) darstellen, also ein platonisches Ideal der Welt. Um dieses abstrakte Ideal anschaulich zu machen, erfand Capella die Geschichte von einem plastischen Modell der »Welt im Ganzen«, das dem Gott Jupiter präsentiert wird. In der Übersetzung von Capellas Enzyklopädie um das Jahr 1000 durch den gelehrten Mönch Notker an der berühmten Klosterschule der Benediktiner von St. Gallen wurde aus dem »forma ideaque mundi« ein neues Wort: »uuérlt-pílde«, althochdeutsch für »Weltbild«. Das »Weltbild« gibt es zu diesem Zeitpunkt nur in der Einzahl: mit Weltbild ist ein allgemeiner und umfassend gültiger idealer Zusammenhang gemeint (Ritter 1921–2007, Bd. 12, Sp. 460–463). Erst Anfang des 19. Jahrhunderts kam das Wort durch den Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in den allgemeinen Gebrauch. Für die Antike und das Mittelalter stand das Weltbild nicht zur persönlichen Disposition, doch der Philosoph des Deutschen Idealismus drehte das Verhältnis um. Es sei der Mensch – ein »Subjekt« – das sich ein »Weltbild« von der Welt im Ganzen als »Objekt« mache: Das »Ich« schaue in der »Weltanschauung« das »Weltbild« an (Fichte, 1813/1999, S. 518 ff.). Allerdings verstand Fichte, wenn er von »Subjekt« sprach, darunter ein »transzendentales Ich«, also nicht das konkrete, empirische Ich einer Person, sondern das Ich als eine abstrakte Größe. Doch in den weiteren Debatten der Intellektuellen um die Fragen des Weltbildes wurde aus der abstrakten Größe »Ich« dann doch ein empirisches, subjektives, persönliches Ich, dessen persönliche und subjektive »Weltanschauung« aus seinen Lebenserfahrungen, aber auch seiner sozialen Situation resultiert.
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Parallel zu dieser Entwicklung zerfiel die Plausibilität des alten, von der Antike übernommenen Weltbildes langsam, aber sicher. Noch bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Jahre gelegentlich nach dem »Anfang der Welt« gerechnet, der aufgrund der Zeitangaben, die man in der Bibel fand, vor sechstausend Jahren angenommen wurde. Doch je mehr Fossilien und Gesteinsschichten von Bergleuten und Geologen entdeckte wurden, desto klarer wurde: die Erde ist älter als 6000 Jahre. Durch Charles Darwins (1809–1882) Deszendenz- oder Abstammungslehre wurde dann klar: die Lebensformen haben sich über sehr lange Zeiträume aus Urformen entwickelt, durch Anpassung, Selektion und Mutation. Darwin, selbst Deist und Agnostiker, fand mit seiner Entdeckung großen Widerhall bei den Intellektuellen der Zeit. Kritik an den Widersprüchen der Bibel und dem Herrschaftsanspruch der Kirche und damit auch am Staat, der diesen Anspruch zur eigenen Sicherung unterstützte, hatte es unter Intellektuellen schon seit langem gegeben. Mit der Französischen Revolution 1789 zerbrach die wechselseitige Allianz von »Thron und Altar«, und damit wurde Religionskritik und die Suche nach neuen Weltanschauungen gesellschaftspolitisch relevant. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war »Weltanschauung« zu einem Schlüsselbegriff in den Debatten deutschsprachiger Intellektuellen geworden, wobei versucht wurde, eigene Lebenserfahrungen, politische Ansichten und ethische Forderungen mit Erkenntnissen der neuen empirischen Naturwissenschaften zu untermauern. Die Weltanschauungsliteratur wurde ein eigenes Genre mit hohen Auflagen und großer Resonanz bei der gebildeten Leserschaft und übernahm die Aufgabe der Sinnproduktion (Ritter, 1921–2007, Bd. 12, Sp. 456/7). Weltanschauungen lieferten aber nicht nur »Sinn«, sondern auch politische Position. Die Autoren der »Gartenlaube« – das deutsche Massenblatt im 19. Jahrhundert mit einer Auflage zwischen 100 000 und 300 000 gilt als Vorläufer der heutigen Illustrierten – und der Biologe und Erfolgsautor Ernst Haeckel (1834–1919), der eine monistische »Kirche der Wissenschaft« gründen wollte, vertraten eine sozialdarwinistische, materialistische und atheistische Weltanschauung und unterstützten dabei demokratische und sozialistische Ideen. Die Vertreter der Lebensphilosophie
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dagegen – darunter Henri Bergson, Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey, Oswald Spengler, Ludwig Klages – lehnten eine dominante Orientierung an Rationalität, Naturwissenschaft und Aufklärung ab, und betonten Triebe, Empfindungen und Emotionen. Nach dem Ersten Weltkrieg formulierte der »Wiener Kreis« um Rudolf Carnap (1891–1970) eine »wissenschaftliche Weltauffassung«, die mit der politischen Ausrichtung des »Roten Wien« – so wurde die österreichische Hauptstadt zwischen 1918 und 1934 genannt, weil sie in dieser Zeit kommunalpolitisch sozialdemokratisch dominiert war – zusammenging und sich gegen die »Lebensphilosophie« positionierte, die als irrational und politisch konservativ betrachtet wurde (Mormann, 2013). Der Nationalsozialismus okkupierte den Begriff »Weltanschauung« für seine Ideologie, die sozialdarwinistische, antisemitische, antiparlamentarische und antimarxistische Vorstellungen umfasste. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Wort »Weltanschauung« daher weitgehend durch das ältere »Weltbild« ersetzt. In der Auseinandersetzung mit den Weltanschauungen entstand in der evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert die »liberale Theologie« (so die Selbstbezeichnung), die sich auf Humanismus und Geisteswissenschaften stützte. Die römisch-katholische Hierarchie jedoch bekämpfte den »Modernismus«. Ein »Antimodernisteneid« war für alle römisch-katholischen Theologen verpflichtend, bis Papst Paul VI. 1967 nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil den Eid abschaffte. Trotzdem konnte in der römisch-katholischen Kirche vor allem der Theologe Romano Guardini (1885–1968) eine reflektierte »katholische Weltanschauung« vertreten. Guardini lehrte von 1923 bis 1939 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und von 1948 bis 1964 an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Weltbild und Weltanschauung werden heute als subjektiv, aber kultur- und gesellschaftsbedingt angesehen und sind Ausdruck eines Pluralismus der Positionen. Nicht selten werden sie zur Umschreibung oder Vermeidung des Begriffs »Kultur« eingesetzt.
Abschließende Bemerkungen
Im Archäologischen Museum in Madrid ist neben anderen bemerkenswerten Artefakten aus der frühen Geschichte der iberischen Halbinsel auch ein einfacher, aus Zweigen geflochtener Korb ausgestellt. Würde nicht der Kontext den Korb als etwas Besonderes ausweisen, würde man ihn vermutlich für Gerümpel halten. Beim zweiten Blick staunt man über die unglaublich dichte, feine und feste Flechtarbeit aus dem Paläolitikum. Vergleichbar subtile und zugleich gebrauchsfähige Körbe habe ich sonst nur noch bei Indigenen in den philippinischen Kordilleren gesehen. Ähnlich wie diese Flechtarbeiten verweisen auch die religiösen und spirituellen Traditionen auf Bereiche des Menschseins, auf denen die gegenwärtige globale Entwicklung zwar aufbaut, die sie aber nicht besonders pflegt. Wie ein Reflex auf Habermas’ Hinweis auf die Religionen als »Depot« für das, was fehlt (2009a) wirken die gegenwärtigen Suchbewegungen nach Orientierung in Sachen Spiritualität, Religion und Weltanschauung. Gerade systemische Ansätze können hier hilfreich sein, um Irritationen, Verwirrungen und Desorientierung in diesen existenziellen Fragen zu lösen und die persönliche Integrität zu wahren. Dazu müssen jedoch Fragen und Antworten in Sachen Spiritualität, Religion und Weltanschauung mit einer Haltung von Offenheit, Neugier und wohlwollender Zuwendung wahrgenommen und behandelt werden, wie dies die Übung der »Achtsamkeit« nahelegt. Um sich zu orientieren, ist es nötig, sich vorurteilslos einzulassen und zugleich die Kraft der Reflexion zu wahren. Kategorien und Hinweise für dieses Projekt zu geben, ist die Absicht dieses Buchs.
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