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German Pages [333] Year 2016
Whitehead Studien Whitehead Studies
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Aljoscha Berve
Spekulative Vernunft, symbolische Wahrnehmung, intuitive Urteile Höhere Formen der Erfahrung bei A. N. Whitehead
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808399
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VERLAG KARL ALBER
A
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Das Werk von Alfred North Whitehead ist einer der letzten großen Metaphysik-Entwürfe im 20. Jahrhundert. Dabei erfüllt das Konzept der Erfahrung eine doppelte, zentrale Funktion. Während die individuelle Erfahrung den methodischen Ausgangspunkt des Philosophierens bildet, wird zugleich der Erfahrungsbegriff zum ontologischen Grundkonzept universalisiert: Jeder Prozess in der Welt ist erfahrungshaft. Auf diese Weise bietet Whiteheads organistische Philosophie die Möglichkeit, das gesamte Universum unter dem Interpretationsmuster des Organismusparadigmas zu verstehen. Ein solches organistisches Verständnis der komplexeren Erfahrungsformen führt zugleich zu neuen Perspektiven für eine erfahrungsbasierte Metaphysik.
Der Autor: Aljoscha Berve, Jahrgang 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2012 ist er Geschäftsführer und stellvertretender Vorsitzender der European Society for Process Thought e. V.
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Aljoscha Berve Spekulative Vernunft, symbolische Wahrnehmung, intuitive Urteile
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Whitehead Studien Whitehead Studies
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Herausgegeben von Godehard Brüntrup (München) Christoph Kann (Düsseldorf) Franz Riffert (Salzburg)
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Aljoscha Berve
Spekulative Vernunft, symbolische Wahrnehmung, intuitive Urteile Höhere Formen der Erfahrung bei A. N. Whitehead
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Gefördert aus Projektmitteln des Strategischen Forschungsfonds der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48689-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80839-9
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Für Andrea
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Vorbemerkung
Das vorliegende Buch ist eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Sommersemester 2013 von der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf angenommenen Dissertationsschrift. Das Dissertationsvorhaben wurde von der Studienstiftung des Deutschen Volkes mit einem dreijährigen Promotionsstipendium unkompliziert und wissenschaftsnah gefördert, was für die Fertigstellung des Projekts eine unschätzbare Hilfe war. Der Strategische Forschungsfonds der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat die Drucklegung durch eine Projektmittelfinanzierung des Druckkostenzuschusses gefördert und so das Erscheinen dieses Buchs im Rahmen der Reihe Whitehead Studien des Verlags Karl Alber maßgeblich unterstützt. Dieses Buch gäbe es nicht ohne die mannigfaltige Unterstützung vieler Menschen, denen allen angemessen zu danken an dieser Stelle leider unmöglich ist. Einige besonders wichtige Personen seien hier, stellvertretend für viele, hervorgehoben. An erster Stelle möchte ich meinem Betreuer und Doktorvater Prof. Christoph Kann danken, der dem Projekt stets mit Rat und Tat zur Seite stand und mit seinen geduldigen Anregungen maßgeblichen Anteil an der Form der Arbeit genommen hat. Auch Prof. Michael Hampe, der das Zweitgutachten verfasst hat, gebührt mein Dank für seine Expertise und wertvolle Hinweise. Unter allen Anregungen, die für die endgültige Form dieses Buchs wichtig waren, haben mir besonders die Gespräche mit Prof. Friedrich Uehlein viel anfängliche Orientierung gegeben. Die Arbeit freundschaftlich begleitet hat Helmut Maaßen, mit Sachkenntnis und Ermunterung in mühsamen Phasen. Vorschläge und Ideen, aber auch konstruktive Kritik vieler weiterer Kollegen und Freunde sind in diese Arbeit eingeflossen. Lukas Trabert und Julia Pirschl vom Verlag Karl Alber haben in unkomplizierter Zusammenarbeit dafür gesorgt, dass daraus schließlich auch ein Buch wurde. Ihnen allen möchte ich danken. 9 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Vorbemerkung
Ganz besonders aber danke ich meiner Familie, die immer da war, wenn es nötig war. Für all den selbstverständlichen Beistand, der keinen Dank erwartet, bin ich am meisten dankbar. Düsseldorf, im November 2014
Aljoscha Berve
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Inhalt
Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0.1. Problembereich und Forschungsstand . . . . . . . . . . . 0.2. Zielsetzung und Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie . . . 1.1. Whiteheads spekulative Kosmologie . . . . . . . . . . . . 1.1.1. Philosophie als Approximation ans Ungefähre . . . 1.1.2. Die philosophische Methode der organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Metaphysische Grundkonzepte . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Der Organismusbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Kreativität und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3. Der Erfahrungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4. Wert und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.5. Die Konstitution des wirklichen Einzelwesens . . . 1.3. Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33 33 33
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung . . . . . . . . . . . 2.1. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Grundlagen des Whitehead’schen Vernunftbegriffs 2.1.2. Theoretische Vernunft und Aufgabenbereiche des Vernunftbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3. Stellenwert und Kritik des Vernunftbegriffs in Whiteheads Philosophie . . . . . . . . . . . . . 2.2. Symboltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Grundlagen des Symbolbegriffs . . . . . . . . . . 2.2.2. Whiteheads Symbolbegriff . . . . . . . . . . . .
97 97 97
. . .
37 48 48 54 60 65 78 87
. 105 . . . .
115 120 120 123 11
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Inhalt
2.2.3. Symbolisierung als ontologische Funktion . . . . . 2.2.3.1. Kausale Wirksamkeit . . . . . . . . . . . 2.2.3.2. Präsentative Unmittelbarkeit . . . . . . . . 2.2.3.3. Symbolischer Bezug der Wahrnehmungsmodi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung . . . 2.3.1. Die Struktur von Prozeß und Realität . . . . . . . 2.3.2. Die Anfänge von personaler Identität und Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1. Die Kategorie der begrifflichen Umkehrung . 2.3.2.2. Die Kategorie der Umwandlung . . . . . . 2.4. Propositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1. Der Propositionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2. Die ontologische Struktur des Propositionskonzepts . 2.4.2.1. Propositionen und propositionale Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.2. Binnendifferenzierung der Propositionsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2.3. Die emotionalen Muster propositionaler Empfindungen . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3. Die Stellung des Propositionsbegriffs in der organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.1. Anwendungsbereiche des Propositionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3.2. Der Propositionsbegriff im Kontext von Whiteheads metaphysischem Gesamtkonzept 2.5. Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1. Hinführung zum Bewusstseinsbegriff . . . . . . . 2.5.2. Einflüsse auf Whiteheads Bewusstseinsentwurf . . . 2.5.3. Der Bewusstseinsbegriff außerhalb von Prozeß und Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.4. Der Bewusstseinsbegriff in Prozeß und Realität . . 2.5.4.1. Die subjektive Form als Kontrast zwischen Affirmation und Negation . . . . . . . . . 2.5.4.2. Bewusste Wahrnehmungen . . . . . . . . 2.5.4.3. Intuitive Urteile . . . . . . . . . . . . . . 2.5.5. Form und Funktion des Bewusstseins in der organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . .
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135 135 142 151 165 165 167 167 178 185 185 188 188 193 198 215 215 222 227 227 229 231 233 233 239 244 255
Inhalt
2.6. Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1. Menschliche Erfahrung unterhalb der Schwelle des Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2. Menschliches Bewusstsein . . . . . . . . . . . . .
271 271 279
3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie . . . . 287 3.1. Zwischen Universaltheorie und anthropologischem Entwurf 287 3.2. Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person . . . . . . . . . 291 Fazit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sachregister
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Einleitung
0.1 Problembereich und Forschungsstand Bei philosophischen Fragestellungen wird mitunter wie selbstverständlich vorausgesetzt, der zu untersuchende Problembereich biete sich bereits klar und eindeutig dar. In der Spezifikation des eigenen Aufgabenbereichs kann es dann nur darum gehen, methodische Einschränkungen vorzunehmen und thematische Schwerpunkte zu setzen. Besonders bei einem Denker wie Alfred North Whitehead griffe ein solcher Ansatz jedoch zu kurz. Aus der Formulierung der Aufgabenstellung ergibt sich in einem Rückschluss auch die Textur, nach der man die massive Sammlung unserer Erfahrungen erst in klare Problembereiche einteilt; eine Welt, die in unserem Erfassen bereits nach eindeutigen, ohne Reflexionen und Interpretationshypothesen begreifbaren Fragestellungen strukturiert wäre, gibt es nicht. Besonders deutlich macht diese Erfahrung, wer versucht, das Bild der menschlichen Erfahrungswelt in Whiteheads Philosophie nachzuvollziehen. Auf den ersten Blick ist uns der Umfang einer solchen Untersuchung klar. Wer wir selber sind und was wir können, wissen wir aus unserer umfassenden, alltäglichen Selbsterfahrung. Diese Einsicht ist unmittelbar und vorphilosophisch. Was der philosophischen Interpretation noch zu tun bliebe, wäre, diese Erfahrungssammlung durch ein angemessenes Begriffsgerüst in treffende Kategorien zu sortieren und jeweils zu bestimmen, wie sich die einzelnen Phänomene unserer Selbsterfahrung mit Whiteheads abstraktem kosmologischen Grundkonzept der wirklichen Einzelwesen erklären lassen. Hier zeigt sich aber nun deutlich, dass sich ein arbeitsfähiges Bild des Problembereichs erst aus der Aufgabenstellung ergibt: An keiner Stelle in Whiteheads Werk wird eine konzise Vorstellung der menschlichen Erfahrungskapazitäten artikuliert. Mehr noch, selbst eine anthropologische Kernkompetenz, also genau dasjenige, was den Menschen als 15 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
Menschen definiert, bleibt unausgesprochen. Während etwa Aristoteles den Menschen als zoon politikón bestimmt, von der mittelalterlichen Scholastik bis zu René Descartes der Mensch als eine Verbindung von körperlicher und geistiger oder seelischer Substanz dargestellt wird und Immanuel Kant in der Nachfolge John Lockes den Personenbegriff in der Beschreibung des menschlichen Selbst zur philosophischen Vokabel macht, findet sich in der gesamten organistischen Philosophie Whiteheads keine vergleichbare paradigmatische Verdichtung des Menschen auf ein essentielles Funktions- oder Wesensmerkmal. Vielmehr wird der Ursprung fast aller Charakteristika unserer Selbsterfahrung, die in der organistischen Philosophie thematisiert werden, bereits auf fundamentaleren Ebenen organismischer Prozesse verortet, sodass es fast unmöglich wird, trennscharf zwischen den einfachen Formen der Erfahrung und der Erfahrung menschlicher Individuen zu differenzieren; statt kategorischer Unterscheidungen beschreibt Whitehead graduelle Übergänge von Erfahrungsphänomenen. Befragt man die organistische Philosophie auf exakte philosophische Menschenkonzepte und sucht in ihr nach Strukturen, welche die eigenen anthropologischen oder psychologischen Konzepte stützen können, so droht die Gefahr einer einseitigen Überinterpretation, in der letztlich nur diejenige Form bestätigt wird, die man mit den impliziten Vorannahmen seiner Untersuchung erst in Whiteheads Kosmologie hineingetragen hat. Auf diese Weise formt bereits die Aufgabenstellung den Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt, der bei Whitehead selber etwas amorph bleibt. Die Forschung ist mit diesem Umstand auf verschiedene Arten umgegangen, zumeist abhängig von dem Kontext, in dem sie die organistische Philosophie behandelt hat. Auf bestimmte Weise ist das Verhältnis vieler Interpreten zu Whiteheads Erklärung des Bereiches menschlicher Erfahrungsphänomene zwiespältig. Einerseits führt bei einer Philosophie, die sich um einen zum metaphysischen Grundkonzept erhobenen Erfahrungsbegriff herum aufbaut, kein Weg an einer Verbindung dieser ontologischen Ebene mit der Ebene unserer lebensweltlichen Erfahrung vorbei. Andererseits verleitet der Mangel einer bündigen ›menschlichen Natur‹ und die in verschiedene Konzepte zersplitterte Darstellung der komplexeren Formen des Erfahrungsprozesses in dieser Philosophie viele Interpreten zu einer unvollständigen oder selektiven Behandlung des Themenkomplexes, die pflichtschuldig einzelne Aspekte heranzieht, ohne aber nach einem kohärenten Gesamtzusammenhang zu 16 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Problembereich und Forschungsstand
fragen. Ein solcher Umgang mit dem bereits vage skizzierten Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt ist in der Forschungsliteratur zu häufig und zugleich thematisch zu heterogen und unergiebig, um hier ausführlich behandelt werden zu können. Insgesamt ist die Menge der sich mit diesem Themenkreis intensiver beschäftigenden Literatur übersichtlich und lässt sich anhand der verschiedenen Fragestellungen und Stoßrichtungen recht anschaulich in Themenkomplexe strukturieren. Eine Untersuchung von Whiteheads Beschreibung des Menschen kann durchaus innerhalb des Rahmens einer umfassenderen Fragestellung stattfinden. Das Konzept der Gesellschaften individueller Erfahrungsprozesse ist in der Forschung immer wieder als Interpretationsparadigma für menschliche Gesellschaften verwendet worden, wobei die Phänomene unserer Alltagserfahrung von den ontologischen Grundannahmen der elementaren Prozessdynamik hergeleitet werden müssen. Solche Untersuchungen stützen sich meist auf das Werk Abenteuer der Ideen, in dem Whitehead selber eine Anzahl zivilisatorischer Ideale darstellt, mit deren Hilfe die Entwicklung menschlicher Zivilisationen verständlich werden soll. Besonders David L. Hall hat in The Civilization of Experience – A Whiteheadian Theory of Culture den Versuch unternommen, aus der organistischen Philosophie eine Kulturtheorie zu entwickeln. Der Nachteil dieser Interpretationsrichtung für das Verständnis der menschlichen Erfahrungswelt liegt paradoxerweise in dem großen Umfang ihres Untersuchungsbereichs: Während unzweifelhaft der Mensch für Whitehead immer auch eine kulturelle Identität besitzt und durch die Teilhabe an spezifischen gesellschaftlich vermittelten Symbolkodizes eine unleugbare gesellschaftliche Prägung erwirbt, werden die diese Eigenschaften bedingenden Modi der menschlichen Erfahrung, die üblicherweise als kognitive Kapazitäten begriffen werden, meist nur summarisch abgehandelt. Wie genau also die von Whitehead an verstreuten Stellen eingeführten Konzepte von Wahrnehmung, Bewusstsein und Personalität, die zur Erklärung der Erfahrungswelt des Menschen integral sind, zusammenwirken, wird in diesen Arbeiten meist nicht geklärt. Das Bedürfnis, aus einem metaphysisch universellen Erfahrungsbegriff eine spezifisch menschliche Form der Wahrnehmung als Sonderfall des Gesamtkonzeptes herauszupräparieren und so der abstrakten Theorie mögliche Anwendungsbereiche zu erschließen, ist die Motivationsquelle einer weiteren Gruppe von Forschungsliteratur. 17 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
Eine frühe und zugleich ausführliche Arbeit zum Wahrnehmungsbegriff in der organistischen Philosophie stammt von Paul F. Schmidt: In Perception and Cosmology in Whitehead’s Philosophy untersucht er den Zusammenhang zwischen dem abstrakten Erfahrungsbegriff, der im ontologischen Grundkonzept der wirklichen Einzelwesen angewandt wird, und der menschlichen Wahrnehmung. Seine Lesart der organistischen Philosophie ist häufig innovativ. Das Buch stellt einen der ersten Versuche dar, Whiteheads Philosophie kreativ zu erweitern und ein umfassendes Verständnis des Wahrnehmungsbegriffes aus seiner Kosmologie zu extrahieren; der Autor erachtet die organistische Philosophie sichtlich eher als einen noch nicht vollendeten Diskurs der Gegenwartsphilosophie denn als abgeschlossenes Werk der Tradition. Seine Untersuchung ist gründlich, sie versucht nicht, Anschluss an andere philosophische Spielarten zu finden und so Elemente in Whiteheads Denken hineinzutragen, die mit der Intention seiner Philosophie nur schwer vereinbar sind. Neuere Untersuchungen zum Bereich des Kognitiven bei Whitehead konzentrieren sich zumeist nicht primär auf den Wahrnehmungs-, sondern eher auf den Bewusstseinsbegriff. Einer der wichtigsten Gründe für diese strategische Begriffsorientierung liegt in der Rolle, die dem Bewusstseinsbegriff in den modernen Kognitions- und Neurowissenschaften zukommt. Während David Ray Griffins ausführliche Behandlung des Bewusstseins in Whitehead’s Radically Different Postmodern Philosophy viele interdisziplinäre Diskurse einbezieht, bleibt sie dennoch im Wesentlichen eine Whiteheadexegese. Eine ganz andere Rezeption erfährt Whiteheads Bewusstseinsentwurf in der an die analytische Philosophie angelehnten Position, die Tobias Müller und Heinrich Watzka in ihrem Sammelband Ein Universum voller ›Geiststaub‹ ? Der Panpsychismus in der aktuellen Geist-Gehirn-Debatte entwickeln. Im Panpsychismus – mitunter auch als Panprotopsychismus oder Panexperientialismus bezeichnet – nimmt die organistische Philosophie zwar eine bedeutsame, aber keineswegs alternativlose Stellung ein. An der Schnittstelle zwischen Philosophie, Biologie, Physik und Neurowissenschaften versucht der Panpsychismus, Bewusstsein als höherstufige mentale Eigenschaft zu beschreiben und so diskursive Verbindungen zu anderen Fachbereichen zu knüpfen. Eine größere Nähe zu Whiteheads Werk bewahrt Ralph Preds äußerst gründliche und wohlgerundete Untersuchung in Onflow: Dynamics of Consciousness and Experience, in welcher er auf der Basis der Werke von Whitehead, William James und John Searle 18 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Problembereich und Forschungsstand
versucht, Verbindungslinien zu gegenwärtigen neurowissenschaftlichen Forschungsergebnissen aufzufinden. Die wahrscheinlich eigenständigste Fortentwicklung des Whitehead’schen Bewusstseinsbegriffs bietet Jason Brown an, der in Process and the Authentic Life: Toward a Psychology of Value eine eigene, an der Prozessphilosophie orientierte prozesspsychologische Konzeption entwirft, die ausführlich moderne hirnphysiologische Erkenntnisse berücksichtigt. In dieser Position überschneiden sich zwei Fragestellungsbereiche der Forschung. Neben den kognitiven Kapazitäten seines Erfahrungsbegriffs ist auch Whiteheads Organismusbegriff immer wieder auf seine Bedeutung für die Erklärung des Menschen untersucht worden. Mit dem Organismusparadigma beschreibt Whitehead nicht nur die Ebene des im klassischen Sinne Biologischen, sondern auch die Ebene der abstrakten Elementarprozesse und das Universum als Ganzes. Deshalb bietet sich die organistische Philosophie für eine Herleitung komplexer biologischer Organismen aus einfacheren, im üblichen Wortsinn anorganischen Strukturen ganz natürlicherweise an. Eng verwandt mit der Perspektive derjenigen Interpretationen kognitiver Erfahrungsbegriffsstrukturen, die moderne neurowissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigen, ist etwa Elmar Buschs in Viele Subjekte, eine Person – Das Gehirn im Blickwinkel der Ereignisphilosophie A. N. Whiteheads durchgeführter Versuch, mit Whiteheads Philosophie eine Hirntheorie zu entwickeln, die auch im medizinischen Bereich anwendbar ist. Eine gründliche Untersuchung von Whiteheads Theorie des lebendigen Körpers unternimmt Michael Hampe in Die Wahrnehmungen der Organismen, wobei er nicht versucht, die organistische Philosophie auf eine Anschlussfähigkeit an andere wissenschaftliche Disziplinen hin abzuklopfen, sondern die verschiedenen Bereiche der Whitehead’schen Philosophie angemessen darzustellen. Das Organismusparadigma und die Rolle des Menschen als Organismus in Whiteheads Philosophie wird von Reto Luzius Fetz in Whitehead: Prozeßdenken und Substanzmetaphysik ausführlich behandelt. Dabei macht vor allem Fetz’ Vergleich der organistischen Philosophie Whiteheads mit dem aristotelischen Substanzbegriff die Problembereiche eines den Menschen als Einheit verstehenden Konzepts distinkter Erfahrungsprozesse deutlich. Seine Hauptleistung ist der Nachweis, wie schwer sich die unserem lebensweltlichen Selbstverständnis zugrundeliegende unmittelbare Einheitserfahrung in Whiteheads Philosophie ausdrücken lässt. Derjenige Teil der Forschungsliteratur, der sich ausführlich mit 19 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
den von der organistischen Philosophie verwendeten Einheitskonzepten der menschlichen Erfahrungswelt beschäftigt, ist überschaubar. Für Maria-Sibylla Lotter in Die metaphysische Kritik des Subjekts und für Michael Hampe in seiner bereits angeführten Arbeit stellt der Personenbegriff so etwas wie den Kulminationspunkt der Komplexitätssteigerung dar, die den Weg des Erfahrungsbegriffs von den abstrakten Theoriegrundlagen bis zu den speziellen Formen der bewussten Erfahrung auszeichnet. Auch Elmar Busch besetzt in seiner auf eine Hirntheorie hin orientierte Untersuchung Whiteheads den Personenbegriff stark. Hampe und Busch sehen beide in der Person des Whitehead’schen Systems sowohl eine komplexe emotionale Einheitserfahrung als auch eine körperliche Identität; die Unmöglichkeit, in der organistischen Philosophie sinnvoll von einer bloß geistigen oder bloß körperlichen Einheit zu sprechen, verweist stets wieder auf den engen Zusammenhang mit dem Organismusparadigma. Insgesamt gibt es nur wenige Untersuchungen zum Personenbegriff in der organistischen Philosophie; ein kluger Aufsatz von John Bennett mit dem Titel Whitehead and Personal Identity ist zu erwähnen. Zwar gestaltet Whitehead selbst den Personenbegriff nicht zu einem praktisch anwendbaren Beschreibungsinstrument des menschlichen Individuums aus, doch lassen sich durchaus Interpretationslinien aus seiner eher technischen Begriffsdefinition gewinnen. Anders sieht es mit einer weiteren philosophischen Begrifflichkeit aus, mit der traditionellerweise das Phänomen der menschlichen Individualität beschrieben wird, nämlich dem Selbstbegriff. Auch wenn die Termini ›Selbst‹ und ›Person‹ einen ähnlichen Bezugsbereich haben, unterscheiden sich ihre Verwendungskontexte; kann der Personenbegriff noch eine juristische und ethische Bedeutungsebene besitzen, verweist der Selbstbegriff eher auf das Gebiet der Psychologie. Viele psychologische Termini wie Selbstbewusstsein, Selbstwert oder Selbstkonzept beruhen auf einem Selbstbegriff. Aus Whiteheads Philosophie lässt sich keine Psychodynamik herauslesen, einen eine reflexive geistige Aktivität beschreibenden Selbstbegriff verwendet er nicht explizit. Dennoch haben Ernest Wolf-Gazo in seinem Aufsatz Negation and Contrast: The Origins of Self-Consciousness in Hegel and Whitehead und Stascha Rohmer in Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität versucht, einen impliziten Selbstbegriff in der organistischen Philosophie plausibel zu machen; beide sehen Parallelen zwischen Hegel und Whitehead, weshalb die Suche nach einem Selbstbegriff in der organis20 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Problembereich und Forschungsstand
tischen Philosophie, der mit Hegels Selbstbegriff vergleichbar wäre, verständlich ist. Am weitesten vorgedrungen in dem Unterfangen, eine psychologisch anwendbare Interpretation zu Whiteheads Philosophie zu liefern, ist vielleicht Craig Eisendrath in seiner Monografie The Unifying Moment: The Psychological Philosophy of William James and Alfred North Whitehead, in der er die psychologisch fundierten Schriften von James mit dem metaphysischen Entwurf Whiteheads kontrastiert. Wie Eisendrath in seinem Vorwort anmerkt, dient eine solche Analyse dem besseren Verständnis beider Denker: Der Bezug auf William James gibt dem abstrakten System Whiteheads exemplarische Anwendungsbereiche, während Whiteheads kosmologische Überlegungen die philosophisch eher in der Luft hängenden Positionen James’ theoretisch unterfüttern. Damit implizit verbunden ist das Eingeständnis, aus Whiteheads Werk alleine keine spezifische Erklärung oder gar allgemeine Theorie für konkrete psychologische Phänomene gewinnen zu können. Betrachtet man die verschiedenen Zugangsweisen zum breiten Problembereich der menschlichen Erfahrungswelt in Whiteheads organistischer Philosophie, so fällt die Uneinheitlichkeit im Umgang mit diesem Themenkomplex auf. In der Forschungsliteratur hat keine Schulenbildung im engeren Sinne stattgefunden, die eine allgemein akzeptierte, praktisch anwendbare Forschungsmeinung ergäbe, und umfassende Arbeiten sind selten. Die Gründe hierfür sind offensichtlich. Whiteheads weitgehender – und in Prozeß und Realität nahezu vollkommener – Verzicht auf praktische Beispiele und Festlegungen, ebenso wie die Verstreuung seiner Darstellung über das Gesamtwerk erschweren ein umfassendes Verständnis und haben viele Interpreten davon abgehalten, auch nur eine vollständige Untersuchung seiner Kosmologie in Bezug auf diesen Problembereich zu wagen. Auch darf berechtigterweise bezweifelt werden, ob sich die eher an metaphysischen Fragestellungen interessierte Philosophie Whiteheads zu einer eindeutig auf den komplexen Bereich der menschlichen Erfahrungsebene anwendbaren psychologischen Konzeption verdichten lässt. Vielen an praktisch verwendbaren Ergebnissen interessierten Forschern scheint es gewinnbringender, die organistische Philosophie ganz pragmatisch auf eine von außen in sie hereingetragene Begriffskonstellation hin abzufragen und mit der Interpretation eines Teils von Whiteheads komplexer Darstellung zufrieden zu sein. So führt gerade die 21 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
Offenheit seines philosophischen Systems zu einem Mangel an ausführlichen Untersuchungen über den Bereich der menschlichen Erfahrungswelt.
0.2 Zielsetzung und Vorgehensweise Der festgestellte Mangel soll in diesem Buch behoben werden, indem das philosophische Werk Whiteheads daraufhin untersucht wird, ob es eine kohärente Konzeption des Bereichs menschlicher Erfahrung beinhaltet. Die Rede von der ›menschlichen‹ Erfahrung ist möglichst unterminologisch zu verstehen: Keinesfalls sollen anthropologische, biologische oder psychologische Menschenkonzepte referiert oder begründet werden. Vielmehr ist die Wahl des Begriffs gewissermaßen eine Verlegenheitsentscheidung: Whitehead selbst redet häufig in lockerer Weise von ›unserer‹ Erfahrung. Damit lässt sich zwar eine generalisierende Betrachtung anstellen, die erste Rückfrage einer systematischen Untersuchung aber müsste lauten: Wer sind denn ›wir‹ ? Die Begriffe des Menschen und der menschlichen Erfahrungswelt sollen, unbelastet durch terminologische Verwendungen in anderen Wissenschaften und Kontexten, lediglich als eine etwas verbindlichere Formulierung von ›unserer‹ Erfahrung und Erfahrungswelt fungieren. Menschliche Erfahrung soll also im Kern, ganz naiv, heißen: eine Form der Erfahrung, die der Verfasser und der Leser dieses Buches teilen. Dieser Vorbemerkung eingedenk, lautet die leitende Fragestellung: Wie ist Whiteheads Umgang mit dem komplexen Themenbereich der menschlichen Erfahrungswelt philosophisch zu verstehen? Wie setzt er sich mit einzelnen Phänomenen unserer Selbsterfahrung auseinander und was möchte er mit seiner Darstellung eigentlich erklären können? Den Verfasser motiviert die Überzeugung, eine Interpretation finden zu können, die sowohl der Komplexität und Vielschichtigkeit der organistischen Philosophie Whiteheads gerecht wird als auch, so weit wie möglich, der Forderung nach einer Anwendbarkeit auf praktische Problemstellungen. Bei dieser Aufgabenstellung ist es besonders wichtig, eine angemessene inhaltliche und begriffliche Eingrenzung zu finden. Wie die thematische Vielfalt der Forschungsliteratur bereits anzeigt, ist eine genaue Definition des mit der menschlichen Erfahrungswelt beschäftigten Problembereichs schwierig. Deutlich wird dieser Umstand, so22 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zielsetzung und Vorgehensweise
bald man versucht, das weitreichende und unklar begrenzte Problemfeld überhaupt terminologisch adäquat fassen zu wollen. Suchte man etwa nach einer ›Konzeption des Menschen‹ in Whiteheads Philosophie, so klänge das wie der Versuch, eine ›menschliche Natur‹ nachweisen zu wollen. Während im Begriff des Menschen immer die Konnotation mit dem Organismus des menschlichen Körpers mitschwingt und dieser so auf einen biologischen oder medizinischen Kontext verweist, deuten Begriffe wie ›Person‹, ›Selbst‹ oder ›Ich‹ in Richtung der Psychologie. Generell sind Begriffe wie ›Körper‹ und ›Geist‹ für eine Whiteheadinterpretation nur eingeschränkt geeignet, da es eines der erklärten Ziele Whiteheads ist, die Dichotomie zwischen beiden zu unterbinden; die Erfahrungswelt des Menschen soll also weder auf einer im eigentlichen Sinne biologischen Ebene noch als ›Geistesaktivität‹ verstanden werden. Doch wieso sollte die Untersuchung der menschlichen Erfahrungswelt sich überhaupt auf den menschlichen Organismus oder dessen kognitiven Kapazitäten, auf die innere Psychodynamik eines menschlichen Individuums beschränken? Endet seine Lebenswelt hier? Prägen nicht auch seine Umgebung, also Gesellschaft und Kultur, den Menschen eminent? Dieses Vorhaben steht also vor dem Problem, den Gegenstandsbereich seiner Untersuchung klar abgrenzen und bereits in der Begriffswahl ihrer thematischen Festlegung die Konnotationen reflektieren zu müssen, die auf diese Weise in sie hineingetragen werden. Wer ›wir‹ sind, ist uns recht unmittelbar einsichtig; die Essenz dieses höchst vielseitigen Phänomenkomplexes in einem fachterminologischen Gerüst fassen zu wollen, ist weit komplizierter. In Whiteheads Philosophie werden Menschen nicht als individuelle Substanzen verstanden, sondern als komplexe, von ihrer Umwelt nicht trennscharf unterscheidbare Gesellschaften abstrakt kleiner Elementarprozesse. Deshalb ist, zusätzlich zu der dem Thema geschuldeten begrifflichen Uneindeutigkeit, die genaue Abgrenzung dessen, was einen Menschen ausmacht, vom Gesamtzusammenhang des Universums schon innerhalb der Darstellungsstrukturen der organistischen Philosophie schwierig. Um dem teilweise abstrakten Charakter von Whiteheads Denken gerecht zu werden, soll also in der Ausgangsfragestellung so wenig spezifische Terminologie wie möglich von außen in die Untersuchung hineingetragen werden. Deshalb wird das Untersuchungsfeld auf die Ebene der menschlichen Erfahrungswelt eingegrenzt. Dadurch bleibt die Möglichkeit gewahrt, Anknüpfungspunkte für etwaige Folgeuntersuchungen mit spe23 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
zifischen, konkreteren Fragestellungen zu bieten, ohne selbst aber durch aus anderen Disziplinen übernommene Fachterminologie inhaltliche oder begriffliche Ambivalenzen zu maskieren. Insoweit Whiteheads Philosophie begrifflich an andere philosophische Konzepte oder Traditionen anschließt, kann ein Vergleich angestellt werden; hauptsächlich jedoch soll versucht werden, dem Darstellungsweg Whiteheads zu folgen und die verstreuten Teildarstellungen ausführlich zusammenzufassen, um so sein Kernkonzept der menschlichen Erfahrung herauszuarbeiten. Es bietet sich an, zunächst aufzuführen, welche im weitesten Sinne zur Sphäre der menschlichen Erfahrungswelt gehörenden Themenbereiche in einem solchen Vorhaben nicht berücksichtigt werden sollen, um ein genaueres Bild davon zu gewinnen, wie die Rede von der menschlichen Erfahrungswelt verstanden werden soll. Wenngleich Whitehead seine eigene Philosophie als ›organistische Philosophie‹ bezeichnet und den Organismusbegriff als Paradigma seiner Metaphysik verwendet, soll der menschliche Organismus, also der biologische Körper des Menschen, kein zentraler Gegenstand der Untersuchung sein. Auch die Einflüsse von Kultur und Zivilisation auf den Menschen sollen nicht thematisiert werden; der Fokus der Arbeit wird nicht auf den sozialen Aspekten der menschlichen Erfahrungswelt liegen, sondern auf den Erfahrungskapazitäten des Menschen als Individuum, mithin keine anthropologischen oder sozialwissenschaftlichen Fragestellungen behandeln. Ja, sogar der Begriff des Menschen ist eigentlich bereits eine konkretisierende Auslegung der systematischen Darstellung Whiteheads, denn in der abstrakten Konzeption der höheren Erfahrungsphasen, die er in Prozeß und Realität vornimmt, wird der Mensch nicht klar als derjenige Organismus identifiziert, dem diese höheren Formen der Erfahrung exklusiv zukämen. Dennoch hat Whitehead, zumindest in seiner Bewusstseinskonzeption, eindeutig den Menschen als Bezugsobjekt vor Augen – wenngleich er offensichtlich im Grundsatz bereit wäre, die meisten Charakteristika komplexer Erfahrungsformen auch anderen Organismen zuzusprechen, so sich berechtigte Anzeichen für eine solche Forderung fänden. Wo jedoch die Grenzen zwischen den menschlichen Erfahrungskapazitäten und den Erfahrungskapazitäten bestimmter höherer Tiere verlaufen, lässt er offen. Auch von solchen biologischen Unterscheidungen wird diese Arbeit Abstand nehmen. Es scheint eher, als ob ihr Untersuchungsbereich sich der kognitionswissenschaftlichen Sphäre annäherte. Diese Vermutung der thematischen Nähe ist zulässig; die thematische Abgren24 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zielsetzung und Vorgehensweise
zung dieser Arbeit mit den Fragestellungen der Kognitionswissenschaften zu identifizieren, ist es nicht. Im Kern bleibt Whiteheads Philosophie ein umfangreicher metaphysischer Entwurf, den es unverhältnismäßig verböge, wenn man ihn auf Konzepte des kognitionswissenschaftlichen Diskurses, wie körperliche und mentale Zustände, hin untersuchte. Whitehead hat eben kein Interesse an einer erschöpfenden Theorie der kognitiven Kapazitäten des Menschen oder seiner Psychodynamik. Vielmehr möchte er in allen Teildarstellungen immer wieder Verbindungslinien zu anderen Aspekten seiner Kosmologie ziehen. Letztlich verweisen alle Untersuchungen der menschlichen Erfahrungswelt stets auf die metaphysische Grundkonstruktion, mit der sie jeweils auf verschiedene Weisen verknüpft sind. Dass Whitehead eine Vorstellung davon hat, wie die Erfahrungs- und Wahrnehmungskapazitäten eines menschlichen Individuums philosophisch beschreibbar sind, ist unzweifelhaft. Welche genauen Formen diese Vorstellung aber besitzt, muss sich in einer ausführlichen Untersuchung der von ihm selber verwendeten Begrifflichkeiten und Konzepte erweisen. Aus dieser Zielsetzung ergibt sich die Vorgehensweise dieses Buchs. Da sich die Darstellungen der verschiedenen Aspekte menschlicher Erfahrung über das philosophische Gesamtwerk Whiteheads aufteilen, wird die Textgrundlage aus beinahe dem gesamten Textkorpus der organistischen Philosophie bestehen. Die einzige methodische Einschränkung besteht in der Konzentration auf Whitehead als Philosophen. Seine Bedeutung als Mathematiker und alle Implikationen, die sich aus Vergleichen von Methode und Inhalt seiner beiden Rollen ergeben, bleiben unberücksichtigt. Zentral für die behandelte Fragestellung ist Whiteheads Hauptwerk Prozeß und Realität, doch finden sich erstaunlich viele Darstellungen konkreter Phänomene höherer Erfahrungsformen in kleineren Schriften. Deshalb werden Die Funktion der Vernunft für die Untersuchung des Vernunftbegriffs und Kulturelle Symbolisierung für eine Interpretation des Symbolbegriffs sowie des Wahrnehmungsbegriffs im Fokus stehen. In Abenteuer der Ideen und Denkweisen werden zwar keine für diese Arbeit relevanten eigenständigen Phänomendarstellungen verhandelt, doch zur Komplementierung und Illustrierung einzelner Teilkonzepte der organistischen Philosophie oder zur Kontrastierung bestimmter Begriffe in verschiedenen Darstellungskontexten bieten die beiden Werke viele wichtige Passagen. Weitere Schriften Whiteheads, etwa Die Ziele von Erziehung und Bildung, Wie entsteht 25 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
Religion? und Der Begriff der Natur, werden stichpunktartig Verwendung finden, ohne aber maßgeblichen Einfluss auf die Gesamtuntersuchung zu erlangen. Die Breite der Textgrundlage ist der Weise geschuldet, in der Whitehead den Bereich der Phänomene menschlicher Erfahrung in seinem Werk behandelt. Während die verschiedenen Darstellungen jeweils in sich geschlossen sind, fehlt ihnen ein verbindendes Element, das sie als Teile eines Gesamtkonstruktes auswiese und eine Struktur formulierte, die jedem Teilbereich eine eindeutige Position zuordnete. Die methodische Herausforderung besteht darin, die einzelnen, über das Gesamtwerk verstreuten Untersuchungen und Begriffsbestimmungen nachzuvollziehen und eine Interpretationsstruktur zu finden, die sowohl Whiteheads Intentionen gerecht wird und jederzeit den Rückbezug auf die metaphysische Grundstruktur seiner Philosophie leisten kann als auch ein handhabbares Gesamtverständnis seines Umgangs mit den menschlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen ermöglicht. Ob sich letztlich aus der über verschiedene Werke mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten verteilten universellen Kosmologie Whiteheads, die in vielen Fällen vage und anwendungsunspezifisch ist, eine praktisch verwendbare Theorie der menschlichen Erfahrungswelt herauspräparieren lässt, darf zumindest als unsicher gelten; bereits der Nachweis, wo die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen und Probleme der Whitehead’schen Konzeption liegen, wäre ein Erkenntnisgewinn. Deshalb sollen die einzelnen Darstellungen zunächst auf ihren philosophischen Eigenwert hin untersucht werden und erst im Fortgang in der Weise einer immer weitere Kreise ziehenden Synthese auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner gebracht werden, ohne dabei die Positionen Whiteheads zu entstellen oder zu einseitig und dogmatisch auszulegen. Die Struktur des Buchs versucht, diese methodische Vorgehensweise umzusetzen. Wenngleich der Themenbereich, so schwierig er auch inhaltlich präzise zu fassen ist, nur einen spezifischen Ausschnitt aus der gesamten Kosmologie Whiteheads umfasst, so ist es nötig, zunächst einmal knapp die metaphysische Grundstruktur der organistischen Philosophie zu erläutern. In einem ersten Kapitel wird eine Übersicht über die Methode der organistischen Philosophie gegeben. Anschließend können die inhaltlichen Besonderheiten des kosmologischen Entwurfs Whiteheads untersucht werden. Eine Metaphysik, die den unzweifelhaft aus der menschlichen Selbstbeschreibung entlehnten Erfahrungsbegriff zu einer ontologischen Prämisse, ja, zu einem 26 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zielsetzung und Vorgehensweise
philosophischen Paradigma universalisiert, erweckt den dringenden Verdacht, bereits ihrer fundamentalen Struktur nach einen anthropomorphen Charakter zu haben. Um die Grundlage für die spätere Untersuchung zu schaffen, wird im ersten Teil der Arbeit das System der organistischen Philosophie auf anthropomorphe Strukturen hin untersucht. Der Organismusbegriff, Kreativität, Ästhetik und Werthaftigkeit werden jeweils in einem Kapitel behandelt. Daraus ergibt sich ein ganzes Bündel an Eigenschaften des Erfahrungsbegriffs, die in der Konzeption des abstrakten wirklichen Einzelwesens zusammengeführt werden und bereits den Kern vieler Qualitäten enthalten, die sich erst in höheren Formen der Erfahrung entfalten und dort zu besonders prononcierter Bedeutung gelangen werden. Auf Grundlage dieser Charakterisierung des Erfahrungsbegriffs in Whiteheads kosmologischem Schema kann anschließend in einem Zwischenfazit dem Anthropomorphismusverdacht gegen die organistische Philosophie angemessen nachgegangen werden. Der zweite Teil des Buchs ist eine Untersuchung über die im Werk Whiteheads verteilten Darstellungen verschiedener Phänomene der menschlichen Erfahrungswelt. Jedes Kapitel widmet sich einem bestimmten Aspekt der höheren Erfahrungsformen. Dabei folgt die Auswahl der behandelten Aspekte dem Inhalt der Textvorlagen von Whitehead; ein vollständiges System, in dem jede der Einzeldarstellungen eine unverzichtbare, genau zugewiesene Aufgabe erfüllte und sich aus allen zusammen ein abgeschlossenes Gesamtkonzept ergäbe, wird auf diese Weise nicht entwickelt. Tatsächlich haben einige Texte Whiteheads die gleichen Hauptbegriffe, behandeln diese aber aus verschiedenen Perspektiven heraus, sodass in der Analyse auch mögliche Redundanzen und Inkompatibilitäten nachgewiesen werden müssen. Erschwert wird dieses Vorhaben durch den Umstand, dass etwa mit dem Vernunftbegriff und der Symboltheorie nicht bloß Kapazitäten höherer Erfahrungsformen bezeichnet werden sollen, sondern beide Konzepte darüber hinaus allgemeinere Anwendungsgebiete in der organistischen Philosophie abdecken sollen. Deshalb gilt es in den diese Konzepte behandelnden Kapiteln, den ihnen von Whitehead zugedachten Gesamtrahmen zu untersuchen und davon den spezifisch auf die menschliche Erfahrung bezogenen Bereich abzusetzen. Der Vernunftbegriff, unzweifelhaft der Sphäre menschlicher Geistesaktivität entlehnt, wird von Whitehead in Die Funktion der Vernunft zu einer bereits in den Grundlagen seines metaphysischen Ent27 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
wurfes verankerten Ordnungsdynamik universalisiert, die als Handlungen regulierende Lebensmethode den chaotischen Zerfallskräften im Universum entgegenarbeitet. In der Form der theoretischen – oder spekulativen – Vernunft tritt diese Ordnungsdynamik als gestalterisches Prinzip hinter theoretischem Denken hervor, mithin als eine Vernunft auf der Ebene höchst bewusster menschlicher Reflexion. Die zwei Vernunftformen unterscheidet Whitehead auch versinnbildlichend an zwei klassischen griechischen Figuren in die odysseische und die platonische Vernunft; in welcher Beziehung beide zueinander stehen und welche Rolle sie für den Menschen spielen, wird in dem entsprechenden Kapitel erörtert. Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit der hauptsächlich in Kulturelle Symbolisierung aufgestellten Symbolisierungstheorie Whiteheads. Symbolische Bezüge zwischen verschiedenen Erfahrungen bilden in der organistischen Philosophie eine wichtige Form der Erkenntnis, aber auch eine der Hauptquellen für Irrtümer. Sprache, Kunst und Kultur beruhen für Whitehead auf komplexen Symbolkodizes, aber bereits auf den fundamentalen Ebenen der Erfahrung lassen sich symbolische Bezüge feststellen. Für diese Arbeit ist die Symbolisierungstheorie in Kulturelle Symbolisierung interessant, weil eines ihrer Hauptanwendungsgebiete in der menschlichen Wahrnehmung liegt. Tatsächlich erläutert Whitehead hier den Wahrnehmungsbegriff ausführlicher als in seinem Hauptwerk Prozeß und Realität. Zwischen den beiden Wahrnehmungsmodi der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit wird durch symbolische Bezüge vermittelt, die menschliche Erfahrungswelt ist also in eminenter Weise auf symbolische Wahrnehmungen gegründet. Sowohl zu unserer unbewussten emotionalen Seite als auch zu unseren bewussten Sinneswahrnehmungen haben wir einen emotionalen Zugang. Ein gänzlich anderer Zugang zur menschlichen Erfahrungswelt wird im dritten Teil von Prozeß und Realität gewählt. Ohne auf uns lebensweltlich bekannte Phänomene zu rekurrieren, entwickelt Whitehead hier in einem technisch-formalen Darstellungsgang aus den einfachen, metaphysisch fundamentalen Grundkonzepten seiner Erfahrungsprozesse höhere Formen der Erfahrung, die schließlich in einer Theorie des Bewusstseins kulminieren. An diesem Punkt sollten sich Phänomene unserer bewussten Erfahrung durch die komplexe Konzeption höherer Phasen der Erfahrung auf die abstrakten Grundstrukturen der organistischen Philosophie zurückführen lassen. Der Nachvollzug 28 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zielsetzung und Vorgehensweise
des Weges von den einfachen Empfindungen bis hin zum Bewusstsein erstreckt sich über drei Kapitel. Das erste beschäftigt sich mit dem Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung. Damit sind vor allem die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung gemeint; beide sind inhaltlich recht abstrakt und dienen dazu, begrifflich erfasste Alternativen zum real Bestehenden und das Erfassen ganzer Nexūs beschreiben zu können. Hier werden bereits die Weichen für spätere, komplexere Formen der Erfahrung gestellt. Das nächste Kapitel befasst sich mit der auf dem bereits Erarbeiteten aufbauenden Ebene der Erfahrungsformen, dem Konzept der Propositionen. Dieses Konzept ist eine wichtige Gelenkstelle auf dem Weg zum Bewusstsein, denn hier verankert Whitehead sowohl die Grundlagen der wissenschaftlichen Theoriebildung als auch die von Wahrnehmung und Vorstellung sowie die Auftrennung der Welt in eine subjektive Innenperspektive und eine als Raum der Objekte verstandene Außenperspektive. Auch ein symbolischer Bezug ließe sich als eine propositionale Empfindung deuten. Beinahe alle Bereiche der menschlichen Lebenswelt fußen, insoweit Whitehead sie eingehender thematisiert hat, auf dem Konzept der Propositionen. Dieses ist allerdings komplex und wird von Whitehead nochmals in weitere Subformen unterschieden. Über die bloße Interpretation der technischen Struktur propositionaler Empfindungen hinaus versucht dieses Kapitel, den Propositionsbegriff innerhalb der Gesamttheorie Whiteheads zu kontextualisieren und Anwendungsgebiete der propositionalen Empfindungen zu erschließen. Ihren Abschluss findet die Darstellung des Weges zu höheren Formen der Erfahrung in der Theorie der bewussten Empfindungen, mit der sich das folgende Kapitel auseinandersetzt. Bewusste Empfindungen sind, ihrer formalen Struktur nach, Reintegrationen propositionaler Empfindungen, die Ebene des Bewusstseins ist für uns Menschen aber auch ein mit expliziten Selbsterfahrungskorrelaten verbundener Bereich. Der Anspruch der Bewusstseinsuntersuchung muss also sein, die Funktion der bewussten Empfindungen aus Whiteheads systematischer Darstellung in allen Verästelungen und Facetten nachzuvollziehen und die sich daraus ergebende Form hinsichtlich ihrer Kohärenz und Adäquatheit kritisch zu bewerten sowie in Verbindung mit den Erkenntnissen der anderen Kapitel des zweiten Teils zu setzen. Diese Untersuchung beginnt mit der Erklärung des Affirmations-NegationsKontrastes, der die formale Definition des Bewusstseins bildet. Was das 29 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
Subjekt fühlt, wenn es eine bewusste Empfindung hat, ist die Kontrastierung eines möglicherweise wahren propositionalen Empfindens mit demjenigen Ausschnitt der Realität, von dem die entsprechende Proposition ursprünglich ausgesagt wurde. Bewusste Empfindungen sind also Urteile über propositionale Empfindungen. Hier wird deutlich, dass bewusste Empfindungen Weiterentwicklungen propositionaler Empfindungen sind; in ihnen kommt zur vollen Entfaltung, was im Konzept der Propositionen bereits im Kern angelegt ist. Auch die in der Theorie der propositionalen Empfindungen begonnene Aufteilung des Empfindungsspektrums in Wahrnehmungen und Vorstellungen findet in der Bewusstseinstheorie ihren Abschluss. Interessant ist aber nicht diese Distinktion, sondern die nuancierte Binnendifferenzierung, die Whitehead innerhalb der bewussten Wahrnehmungen und bewussten Vorstellungen noch vornimmt. Auch der von Whitehead hier entwickelte Urteilsbegriff muss im Kontext dieser Bewusstseinsstruktur verständlich werden. Schließlich stellt sich die Frage, ob die detaillierte Entwicklung höherer Formen der Erfahrung, die Whitehead in Prozeß und Realität unternimmt, mit den Darstellungen in Die Funktion der Vernunft und Kulturelle Symbolisierung eine kohärente Gesamtkonzeption ergibt und unsere lebensweltliche Selbsterfahrung adäquat wiedergibt. Aus den Ergebnissen der Untersuchungen im zweiten Teil werden in einem Zwischenfazit die Formen menschlicher Erfahrung in Whiteheads Philosophie rekonstruiert. Dabei bietet es sich an, eine Aufteilung in unbewusste beziehungsweise vorbewusste Erfahrungen einerseits und bewusste Erfahrungen andererseits vorzunehmen. Auf der Ebene der unbewussten Erfahrungen kann in der organistischen Philosophie die Grundlage der menschlichen Emotionalität vermutet werden, wenngleich eine genauere Darstellung hierzu bei Whitehead nicht ausgeführt wird; über die eminente Bedeutung des unbewussten Erfahrungshintergrundes lässt er allerdings keinen Zweifel. Bewusste Empfindungen werden in der organistischen Philosophie mit einer weit expliziteren Sammlung an praktischen Anwendungen aus dem Bereich der menschlichen Erfahrung versehen. So finden Sinneswahrnehmungen für Whitehead im Bereich des Bewusstseins statt. Auch logischrationales Denken unter Anleitung der theoretischen Vernunft, das jeder wissenschaftlichen Theoriebildung zugrunde liegt, ist ein immer wieder erwähnter Anwendungsbereich bewusster Empfindungen. Der dritte Teil des Buchs umfasst zwei Kapitel, in denen der Frage 30 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zielsetzung und Vorgehensweise
nachgegangen wird, wie Whitehead den Menschen innerhalb seiner Kosmologie verortet. Dabei sind zwei Aspekte, die jeweils in einem Kapitel abgehandelt werden, zu unterscheiden: Erstens muss geklärt werden, welchen Status der Mensch innerhalb des Organismusgefüges der Welt einnimmt. Da Whitehead das Organismusparadigma universell auf alle Prozesswirklichkeiten, vom abstrakten wirklichen Einzelwesen bis zum Universum als Ganzem, anwendet und auch den Erfahrungsbegriff sowie dessen Charakteristika wie Vernunft und Wahrnehmung in einem viel weiteren Anwendungsgebiet als dem des Menschen nutzt, darf mit Berechtigung gefragt werden, was denn genau die Stellung des Menschen innerhalb dieses Entwurfs kennzeichnet. Zweitens existiert eine Vielzahl an philosophischen und alltagsgebräuchlichen Begriffen, mit denen das menschliche Individuum häufig charakterisiert wird. Auch wenn Whitehead in seiner Kosmologie häufig Neologismen oder abstrakte Terminologie verwendet, muss sich die organistische Philosophie der Frage stellen, in welcher Weise sie mit anderen, populären und wirkmächtigen Begriffskonzepten kompatibel ist. Tatsächlich nutzt Whitehead den Subjektbegriff an zentraler Stelle seines philosophischen Entwurfs, doch bezeichnet er damit nicht den Menschen, sondern ganz allgemein jedes wirklich Seiende. Wie er hingegen konkreter auf den Menschen bezogene Begriffe wie ›Person‹ und ›Ich‹ nutzt, um das Phänomen eines andauernden Subjekts erklären zu können und welche Relevanz diese Begriffe für seine Philosophie einnehmen, ist an dieser Stelle zu untersuchen. Aus den drei Teilen des Buchs sollte sich ein ausreichend klares Bild der Konzeption menschlicher Erfahrung ergeben, die in Whiteheads organistischer Philosophie angelegt ist. In einem abschließenden Fazit bleibt zu klären, welche Schlussfolgerungen sich aus diesem Bild ergeben. Kann ein Interpretationsmuster gefunden werden, das Whiteheads Umgang mit den verschiedenen behandelten Aspekten der höheren Erfahrungsformen als ein philosophisch konsequentes Vorgehen verständlich macht? Aus dieser Interpretation ergeben sich eine Einordnung und Bewertung der Weise, in der Whitehead die menschliche Erfahrungswelt behandelt, und ein Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf. Abschließend verdient der Umgang mit technischen und terminologischen Aspekten eine kurze Erwähnung. Um den Lesefluss einer auf Deutsch verfassten Arbeit nicht durch Sprachwechsel zu unterbrechen, wird das Werk Whiteheads, das mittlerweile fast vollständig in deut31 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Einleitung
scher Übersetzung vorliegt, soweit möglich auch auf Deutsch zitiert. In den Zitatangaben findet sich jeweils der Verweis auf die englische Originaltextstelle und wichtige Begriffe werden bei erstmaliger Erwähnung zusammen mit dem in Parenthesen nachgestellten Originalbegriff eingeführt. Nach Möglichkeit wird die jeweilige deutsche Standardübersetzung verwendet; in einigen Fällen nutzt Whitehead ein und denselben englischen Fachterminus in verschiedenen Werken, doch geben die entsprechenden deutschen Übersetzungen ihn uneinheitlich wieder; in diesen Fällen wird, soweit möglich, konsequent eine Übersetzung verwendet.
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
1.1 Whiteheads spekulative Kosmologie 1.1.1 Philosophie als Approximation ans Ungefähre Wer versucht, eine Interpretation zu Alfred North Whiteheads kosmologischem Entwurf zu finden, sollte sich zunächst mit der Frage auseinandersetzen, welche Erklärungskapazität er einer philosophischen Untersuchung überhaupt zubilligt, um nicht selbst von der organistischen Philosophie 1 zu fordern, was diese dem eigenen Selbstverständnis nach überhaupt nicht einzulösen vermag. Betrachtet man die Anlage der organistischen Philosophie, so werden einige Charakteristika deutlich. In ihrem sperrigen Gesamtmodell äußert sich ein Unwillen Whiteheads, streng in verschiedene Bereiche abgetrennte Untersuchungen zu führen. Stattdessen versucht er, die Welt in einem Gesamtzusammenhang zu verstehen. Dabei scheint eine philosophische Grundeinstellung auf, die nicht nach scharf umrissenen, zeitlosen Wahrheiten strebt, sondern um das kohärente Ganze bemüht ist und dabei auch das Ungefähre unserer Welterfahrungen berücksichtigt. Whitehead hat seine Auffassung der Welt einmal in einem Brief an Bertrand Russell wunderschön auf den Punkt gebracht: »You think the world is what it looks like in fine wheather at noon-day; I think it is what it seems like in the early morning when one first wakes from deep sleep.« 2 Überhaupt ist für Whitehead das Klare, Scharfe erst eine
1 Eine präzisere Übersetzung für philosophy of organism wäre, anstelle von ›organistische Philosophie‹, ›organismische Philosophie‹. In dieser Arbeit soll konsequent der von Holl in seiner Übersetzung von Process and Reality verwendete Begriff der ›organistischen Philosophie‹ übernommen werden, um Irritationen zu vermeiden. 2 Russell (1956), S. 41
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
eigentliche Leistung des menschlichen Erkenntnisvermögens, das Ungefähre und Vage aber der Normalzustand des Universums: Human knowledge is a process of approximation. In the focus of experience there is comparative clarity. But the discrimination of this clarity leads into the penumbral background. There are always questions left over. The problem is to discriminate exactly what we know vaguely. […] In our experience there is always the dim background from which we derive and to which we return. We are not enjoying a limited dolls’ house of clear and distinct things, secluded from all ambiguity. In the darkness beyond there ever looms the vague mass which is the universe begetting us. (ESP, 93)
Natürlich existiert für Whitehead das Distinkte, klar Erkennbare, aber in der Form eines Ideals. Wenn er der ›vagen Masse‹ des Universums so großes Gewicht zubilligt, dann deshalb, weil für ihn im praktischen Leben die deutliche Abtrennung der einzelnen Dinge voneinander nicht gegeben ist – der Mensch nähert sich approximativ den Idealen an, ohne sie jemals vollständig in einer Erfahrung realisiert zu sehen. Große Klarheit eines Gedankens resultiert stets aus einer großen Abstraktionsleistung. 3 Die Skepsis davor, klare Wahrheiten entdecken und endgültig, vom Bezug auf einen jeweiligen Wirklichkeitsbezug abgelöst, ausdrücken zu können, lässt sich auch an Whiteheads Auffassung von philosophischer Arbeit ablesen. Ganz zu Beginn von Prozeß und Realität erläutert er exemplarisch die Möglichkeiten, die philosophisches Denken seinem Verständnis nach hat, um Letztbegründungen zu artikulieren: Philosophen können niemals hoffen, diese metaphysischen Grundprinzipien endgültig zu formulieren. Schwäche der Einsicht und Unzulänglichkeiten der Sprache stehen unüberwindbar im Wege. Worte und Ausdrücke müssen für einen Allgemeinheitsgrad einstehen, der ihrer herkömmlichen Verwendung fremd ist; und wenn diese Sprachelemente auch als Fachtermini eine feste Bedeutung annehmen, so verbleiben sie doch Metaphern, die stumm auf ein Überspringen der Phantasie warten. Es gibt kein Grundprinzip, das an sich unerkennbar und nicht durch eine plötzliche Eingebung einzufangen wäre. Aber abgesehen von den sprachlichen Schwierigkeiten verbietet die Unzulänglichkeit unserer phantasievollen Einsicht jede andere Vorgehensweise, als die einer asymptotischen An-
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Zu diesem Gedankengang vgl. auch ESP, 80 ff.
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Whiteheads spekulative Kosmologie
näherung an ein Schema von Prinzipien, die nur vermittels des Ideals definierbar sind, dem sie genügen sollten. (PR, 4/33) 4
Wenn Sprache kein von der jeweiligen persönlichen Perspektive unabhängiges Ausdrucksmittel ist, kann eine sprachliche Verständigung niemals hoffen, allen Menschen exaktes, klar begrenztes Wissen zu vermitteln. Vielmehr verlangt der metaphorische Charakter der Sprache, den komplexen Erfahrungshintergrund jedes Menschen mit in den Verständnisprozess einzubeziehen: Gemeint sind die Assoziationen, die wir aus dem großen Halbdunkel des Unbewussten, Vagen heraus an unsere bewussten Gedanken knüpfen und das Rahmenwerk der vielen Annahmen, die wir pragmatisch voraussetzen, um einem bestimmten Bereich die besondere Aufmerksamkeit unseres bewussten Empfindens widmen zu können. 5 Um eine bestimme Situation vollkommen zu verstehen, müsste man alle Umstände der jeweiligen Perspektive in der Betrachtung berücksichtigen. Deshalb kann, in den Augen Whiteheads, kein Erkenntniswerkzeug wie Logik oder Sprache hoffen, als alleiniges Verständnismuster dienen zu können. Die Aufgabe der Philosophie muss vielmehr sein, auch den Hintergrund des vermeintlich Klaren in den Blick zu nehmen. 6 Ein Fundament des pragmatischen, gesunden Menschenverstands muss jeder logischen Überlegung zugrundeliegen, um jeweils entscheiden zu können, was in der bestimmten Situation wichtig oder unwichtig, was für die Untersuchung in diesem Kontext relevant ist und was nicht. 7 Eine sehr ähnliche Formulierung des Problems der Unzulänglichkeit von Sprache findet sich auch in ESP, 96. 5 Whiteheads Grundeinstellung zu der Exaktheit und Dauerhaftigkeit von Sprache ist von merkbarer Skepsis geprägt: »Words […] do not express our deepest intuitions. In the very act of being verbalized they escape us. The trouble is that we are in the habit of thinking of words as fixed things with specific meanings. Actually the meanings of language are in violent fluctuation and a large part of what we try to express in words lies outside the range of language.« Price (1954), S. 295 f. 6 Vgl. die Aussage Whiteheads zur Aufgabe der Philosophie in Abenteuer der Ideen: »Das Auftreten dieser Verwirrungen, die ihre Wurzeln in der trügerischen Geläufigkeit unserer Umgangssprache haben, ist, bei Licht besehen, sogar der Grund, aus dem es so etwas wie Philosophie gibt; es ist ihr eigentlicher Zweck, die Oberfläche der Scheinklarheiten unserer Umgangssprache zu durchdringen.« (AI, 222/394) 7 Vgl. ESP, 73: »We have to rely upon common sense.« Der pragmatische Zugang, den wir nach Whitehead notwendigerweise zur Welt haben sollen, wird in der Forderung nach dem gesunden Menschenverstand als Grundlage allen Wissensstrebens besonders deutlich. 4
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Whiteheads Umgang mit der Sprache hat in der Rezeptionsgeschichte häufig Kritik hervorgerufen. Der Vorwurf, seine Terminologie sei »unpräzise, redundant und fluktuierend« 8 , ist in der Forschungsliteratur immer wieder anzutreffen, ohne dabei aber durch Wiederholung richtiger zu werden. Da er Sprache als etwas Lebendiges, aus den wechselnden Umständen ihrer alltäglichen Verwendung Hervorgehendes versteht, dessen Essenz sich nicht formal-definitorisch beschreiben lässt, sondern eher explikativ, 9 verlangt jeder auf bestimmte Aspekte der Lebenspraxis abstellende Themenbereich eine terminologische Reflexion, die sich aller entsprechender Anbindungen, seien es historische, lebensweltliche oder systematische, bedient. Wichtig sind Whitehead letztlich nicht die einzelnen Begriffe, sondern der konzeptionelle Gesamtzusammenhang: 10 (P)eople compose either in words directly, the words satisfying their ideas of things, or they compose in concepts and then try to find words into which those concepts can be translated. I may add that my own method is the second. 11
Kann (2008), S. 78. Christoph Kann charakterisiert mit dieser Formulierung eine in der Forschungsliteratur weitverbreitete Position zu Whiteheads Terminologie, die er zu widerlegen trachtet. 9 Vgl. Kann (2008), S. 97 10 Zur terminologischen Geschlossenheit des kosmologischen Entwurfs Whiteheads ist zuerst auf die bekannte, ausführliche Untersuchung von Lewis Ford zu verweisen: Vgl. Ford (1984). In diesem detaillierten Rekonstruktionsversuch ihrer Entstehungsgeschichte tritt die Whitehead’sche Metaphysik bei der Unterscheidung in diverse Ebenen und Arbeitsphasen in ihrer Komplexität und subtilen Querverbundenheit hervor, auch, wenn Fords Bemühungen stellenweise wie eine Überkonstruktion wirken und seine detaillierte Ausführungen in die Detailverliebtheit abzugleiten drohen. Christoph Kann argumentiert in der neueren Forschung für eine terminologische Konsistenz der organistischen Philosophie (vgl. Kann (2008)). Die Sekundärliteratur zu der Frage, inwieweit die philosophische Entwicklung Whiteheads ein innerlich folgerichtiges Fortschreiten war und ob sich Neuansätze innerhalb des Gesamtwerks ausfindig machen lassen, ist umfangreich und hinsichtlich der Schlussfolgerungen gespalten, sodass ein endgültiger Konsens nicht absehbar ist. Eine wichtige, in diesem Zusammenhang zu nennende Untersuchung ist Lowe (1951), S. 15–124. Umfassend behandelt Lowe dieses Thema in seinem späteren Werk Alfred North Whitehead. The Man and His Work (vgl. Lowe (1990)). 11 Price (1954), S. 182. Bestätigend sagt Whitehead über seine eigene Arbeitsweise: »I do not think in words. I begin with concepts, then try to put them into words, which is often very difficult.« (Price (1954), S. 150). 8
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Whiteheads spekulative Kosmologie
Wenn seine Philosophie bereits in ihrer Anlage die scharfen Definitionen meidet und sich stattdessen um komplexe Approximationen an ein breites Untersuchungsfeld bemüht, zeigt sich darin erstens das Streben nach gesamtstrukturellen Erklärungen und zweitens bereits eine Grundüberzeugung von der Unangemessenheit unseres menschlichen Artikulations-, aber auch Erkenntnisvermögens. Der Stellenwert unseres Bewusstseins für den Umgang mit der Gesamtheit unserer menschlichen Erfahrungen ist nicht lediglich eine Anwendungsfrage, sondern spiegelt sich bereits in der Grundeinstellung Whiteheads wider. Man könnte also formulieren, in der organistischen Philosophie sei die wichtigere Eigenschaft der Philosophie nicht die Genauigkeit der einzelnen Untersuchung, sondern die Erkenntnis der Grenzen, innerhalb derer die einzelne Untersuchung mit Genauigkeit und Konsequenz geführt werden könne: I am impressed by the inadequacy of language to express our conscious thought, and by the inadequacy of our conscious thought to express our subconscious. The curse of philosophy has been the supposition that language is an exact medium. Philosophers verbalize and then suppose the idea is stated for all time. Even if it were stated, it would need to be restated for every century, perhaps every generation. 12
1.1.2 Die philosophische Methode der organistischen Philosophie Der Untertitel von Whiteheads philosophischem Hauptwerk Prozeß und Realität lautet Entwurf einer Kosmologie – im englischen Originaltext steht an dieser Stelle konnotationsreicher An Essay in CosmoPrice (1954), S. 368. Whitehead lässt, an anderer Stelle, keinen Zweifel an seiner Präferenz zwischen definitorisch geschlossener Exaktheit und Vagheit akzeptierender Flexibilität als methodische Verfahrensweisen der Philosophie: Er hält Aristoteles’ Ethik für »bewunderungwürdig bestimmt« im Kontrast zu Platons eher »vagen« Ideen zu diesem Thema, gibt aber der Vagheit Platons den Vorzug. Der Grund hierfür ist seine Überzeugung, Platon sei der einzige Mensch der Antike, der von der Entwicklung der Menschheit nicht überrascht wäre, denn seine Denkweise berücksichtige stets »das Unvorhersehbare und die grenzenlosen Möglichkeiten der Dinge« (Price (1954), S. 344, Übersetzung durch den Verfasser). Auch die griechischen Klassiker bewertet Whitehead also anhand des Maßstabs, wie gut sich ihre Entdeckungen in veränderte Zeitumstände einfügen und vor vollständig geänderten Erfahrungshintergründen lesen lassen. Eine ähnliche Unterscheidung zwischen Platon und Aristoteles anhand des Maßstabs definitorischer Genauigkeit findet sich in MT, 15/59.
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
logy. Die Formulierung ist eine auf verschiedenen Ebenen treffende Beschreibung seiner Metaphysik und sie ist nicht zufällig gewählt. Möchte man in einer Analyse die Darstellungsform der organistischen Philosophie von ihrer Methode trennen, so scheint der Begriff des Essayismus mehrere verschiedene Interpretationsebenen zuzulassen und damit als Gelenkstelle zwischen Darstellungsform und Methode zu vermitteln. Maria-Sibylla Lotter bezeichnet Whitehead in ihrer Beschreibung seines philosophischen Systems explizit als Essayisten. Damit bezieht sie sich auf die Präsentationsform, für die er sich bei der Darstellung der organistischen Philosophie entschieden hat: Whitehead hat den Untertitel seines Werks An Essay in Cosmology nicht zufällig gewählt, denn dieses verbindet die strenge Form einer systematischen Konstruktion von Kategorien mit der Lockeschen Tradition eines Essays, in dem auf eine relativ lockere Weise Gedanken formuliert werden, sobald sie dem Autor mitteilenswert und interessant erscheinen, auch wenn sie noch keine vollständige Deutlichkeit erlangt haben. 13
Die Verbindung mit dem Werk John Lockes liegt nahe, denn schließlich lautet der Titel eines seiner Hauptwerke in großer Nähe zu Whiteheads gewähltem Untertitel An Essay Concerning Human Understanding. Obwohl Whitehead aus diesem Grund bezüglich der Präsentationsform seiner Philosophie ein Essayist genannt werden kann, erschöpft sich darin nicht schon die Bedeutung des Untertitels von Prozeß und Realität. Neben der Weise, in der sich die organistische Philosophie dem Leser präsentiert, kann die Selbstbeschreibung als Essay auch als Schlüssel für die Weise, in der Whiteheads Metaphysik methodisch verfährt, verstanden werden. Die deutsche Übersetzung des Begriffs Essay mit ›Entwurf‹ ist nicht unpassend, klingt darin doch zugleich mit der Konnotation einer gewissen methodischen Stringenz noch der experimentelle Charakter eines literarischen Essays mit. In gewisser Hinsicht aber böte sich ›Versuch‹ als besserer Übersetzungsvorschlag an: Whitehead benennt die organistische Philosophie nach der von ihm verwendeten philosophischen Vorgehensweise, seiner eigenen organistischen Methode. Wenngleich der Wissensgewinn in der Philosophie nach einem methodischen, systematischen Vorgehen verlangt, können für ihn Fortschritte nur durch Annahme und Überprüfung organisti13
Lotter (1996), S. 20 f.
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scher Arbeitshypothesen entstehen. Solche Hypothesen haben notwendigerweise einen Versuchscharakter und gestatten Whitehead nach dieser Auffassung des Essaybegriffs durchaus, mit dem Untertitel von Prozeß und Realität seinen gesamten metaphysischen Entwurf als philosophische Hypothese gemäß seiner eigenen Arbeitsmethode aufzufassen. Um den losen Zusammenhang zwischen Darstellungsform und Methode, der im Essayismus-Begriff hergestellt werden kann, zu verstehen, bedarf diese Methode einer genaueren Darstellung. Das Selbstverständnis der organistischen Philosophie ist nicht das eines metaphysischen Ansatzes, der mit einer vorgefassten Methode erarbeitet wurde. Vielmehr kennzeichnet die Whitehead’sche Kosmologie ein komplexes Wechselspiel zwischen der allgemeinen Erfahrung und dem systematischen Denken. Eingedenk der Annahme, Sprache sei ein generell unzulängliches Werkzeug, muss es ein Ziel der Philosophie sein, durch permanente Reflexion über die Beschränkung von Sprache den Bereich festgefügter Meinung und unzusammenhängender Partikularerfahrungen des Alltagslebens zu überwinden und zu elaborierten Theorien zu gelangen: Die Philosophie ist eine Geisteshaltung gegenüber Doktrinen, die auf ignorante Art und Weise aufrechterhalten werden. Mit dem Ausdruck ›ignorant aufrechterhalten‹ meine ich, daß die volle Bedeutung der Doktrin im Hinblick auf die Unbegrenztheit der Umstände, für die sie relevant ist, nicht verstanden wird. […] Der philosophische Versuch nimmt jedes Wort, jeden Satz, als verbalen Ausdruck des Denkens und fragt: Was bedeutet er? Es weigert sich, der konventionellen Voraussetzung Genüge zu leisten, wonach jede vernünftige Person die Antwort weiß. Sobald man sich mit primitiven Ideen und mit primitiven Annahmen zufriedengibt, hat man aufgehört, Philosoph zu sein. (MT, 171 f./199)
In diesem methodischen Hinterfragen des Scheinverständnisses der Alltagserfahrung wird die im Konzept der Philosophie Whiteheads liegenden Notwendigkeit deutlich, systematisch zu denken. Gleichzeitig betont Whitehead aber auch immer wieder die eminente Bedeutung eines Erfahrungshintergrundes, von dem aus jede Systematik erst ihren Ausgang nehmen kann: Jedes systematische Denken muss von Grundvoraussetzungen ausgehen. […] Die sprachliche Darstellung der erfahrbaren Einzelheiten muß im Prozeß der Systematisierung verfeinert, aufbereitet und geordnet werden. Jedem systematischen Denken haftet der Geruch von Pedanterie an. Oft verwirft man
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Ideen, Erfahrungen und Intuitionen mit der faulen Ausrede, daß wir an solche Dinge natürlich nicht denken. Ein System ist wichtig. Es ist für Handhabbarkeit, das Benutzen und die Kritik der Gedanken, die unsere Erfahrung durchdringen, unerläßlich. […] Philosophie kann nichts ausschließen. Sie sollte folglich niemals mit einer Systematisierung beginnen. Ihr anfänglicher Zustand kann nur ›Sammlung‹ genannt werden. (MT, 1 f./46 f.)
Was Whitehead hier mit Systematisierung bezeichnet, kann wohl auch als Kategorisierung verstanden werden – ein Prozess der Systematisierung, der in Verfeinerung, Aufbereitung und Ordnung der sprachlichen Darstellung besteht, wird zu einer Kategorisierung mittels sprachlicher Begriffe führen. So bezieht sich der »Geruch der Pedanterie« auf die Starrheit, die aus der Organisation der Erfahrung anhand von Verständniskategorien resultiert. Erfahrungen, die sich in das jeweilige Ordnungsprinzip nicht einordnen oder außerhalb des Geltungsbereichs des Deutungsschemas liegen, werden als irrelevant verworfen. Um also zu einem möglichst angemessenen systematischen Interpretationsmuster für eine philosophische Theorie zu gelangen, muss durch eine ›Sammlung‹ ein möglichst großes Fundament an Erfahrungen und Intuitionen geschaffen werden, auf dem ein System errichtet werden kann. Insofern dieses Vorgehen zunächst der Sammlung und erst daran anschließend der schrittweisen Systematisierung des Erfahrungshintergrunds als philosophische Methode verstanden wird, beginnt die Methode in der Philosophie bereits vor dem systematisierenden Denken. 14 Da der Prozess unserer Welterfahrung nie abgeschlossen ist und eine sich durch neue Erfahrungen verändernde Faktengrundlage immer möglich bleibt, können unsere Systematisierungen nie den Status endgültiger Wahrheiten beanspruchen. Vielmehr beruht philosophisches Denken auf einem steten Wechselspiel zwischen empirischen Erfahrungen und Theoriebildung: Während der Der Ausgangszustand philosophischen Denkens, den er hier mit ›Sammlung‹ bezeichnet, lässt gewisse Ähnlichkeiten zu einem Methodenmodell erkennen, das Whitehead in Die Ziele von Erziehung und Bildung in dem Kapitel Der Rhythmus von Erziehung und Bildung als generelles Modell des Lernens vorgestellt hat (AE, 15–29/56–72). Darin wird jeder menschliche Wissenserwerb als ein zyklischer Prozess verstanden, der in drei Phasen unterteilbar ist: ›Schwärmerei‹ (Romance), ›Präzision‹ (Precision) und ›Verallgemeinerung‹ (Generalisation). Im Stadium der ›Schwärmerei‹ bewegt den Lernenden die Lebendigkeit des Neuen in dem zu erlernenden Wissensgebiet, er nimmt Fakten unzusammenhängend und unsystematisch, aber interessiert auf. Die Parallele zu der ›Sammlung‹, die Whitehead als methodisch ersten Schritt im Prozess eines philosophischen Entwurfs ansieht, ist offenkundig.
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Erfahrungshintergrund bestimmt, welche Systematisierung am angemessensten die Realität in der Theorie abbildet, entscheidet die gewählte Theorie darüber, welche Fakten als für den behandelten Gegenstand relevant und welche als irrelevant betrachtet werden. Weder geht Theorie oder Methode der empirischen Sammlung voraus, noch kann eine Sammlung von Erfahrungen theoretisch betrachtet werden, ohne mit einer wie schwach auch immer ausgeprägten Systematik zu verfahren. Sollte sich im Laufe der Untersuchung die Unzulänglichkeit der ersten Systematisierung herausstellen, die Menge der verschiedenen Erfahrungen angemessen in einem Zusammenhang darzustellen, muss die Theorie modifiziert werden. Deshalb ist eine Theorie nicht endgültig, sondern hat immer den Status einer Arbeitshypothese, die sich mit dem Erkenntnisfortschritt verfeinern kann: In den Vorstadien der Erkenntnis muß man sich mit einem mehr oder weniger aufs Geratewohl herausgegriffenen Kriterium begnügen. Der Fortschritt ist dann dementsprechend langsam; und viel Mühe wird ergebnislos verschwendet. Aber selbst eine unzulängliche Arbeitshypothese ist besser als garkeine, wenn sie nur in einigen Punkten den Fakten entspricht, weil sie schon eine gewisse Koordinierung des Vorgehens mit sich bringt. (AI, 222/ 395)
Da eine Arbeitshypothese auf der empirischen Sammlung gründet, kann sie nicht den Status finaler Gewissheit beanspruchen. Im Gegensatz zu a priori gefassten, axiomatische Grundannahmen können Arbeitshypothesen lediglich die empirischen Erfahrungen, die ihnen zugrunde liegen, ein Stück weit erhellen und ordnen, aber nie beanspruchen, ein zeitlos gültiges Interpretationsschema zu liefern: Metaphysik ist nichts anderes als die Beschreibung der allgemeinen Prinzipien, die sich auf alle Einzelheiten der Praxis anwenden lassen. Kein metaphysisches System kann hoffen, diesen pragmatischen Anforderungen vollends zu genügen. Selbst in seiner besten Form wird ein solches System nur eine Annäherung an die erstrebten allgemeinen Wahrheiten bleiben. (PR, 13/ 48)
Der pragmatische Ansatz der organistischen Philosophie, auf axiomatische Grundannahmen zu verzichten, führt zu der Vorgehensweise, Theorie und Methode aus der Sammlung von Erfahrungen erst zu gewinnen und immer wieder einem Abgleich an der empirischen Erfahrung zu unterziehen. Dabei ist der Zweck einer Theorie im philosophischen Denken für Whitehead vor allem, verschiedene disparate Er41 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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fahrungsbereiche miteinander zu koordinieren. Welche Arbeitsmethode innerhalb der jeweiligen Untersuchung angewendet wird, um Ergebnisse zu erlangen, hängt von der Arbeitshypothese ab, mit der man an die Untersuchung herangegangen ist: Zur methodologischen Seite ist das Resultat meiner Überlegungen im wesentlichen folgendes: die Theorie diktiert die Methode; und jede bestimmte Methode ist nur auf Theorien einer ihr korrespondierenden Spezies anwendbar. Das gleiche gilt im Hinblick auf die Verwendbarkeit bestimmter Terminologien. Dieses enge Verhältnis zwischen Theorie und Methode ergibt sich zum Teil aus dem Umstand, daß die Relevanz des vorliegenden Beweismaterials selber immer von der Theorie abhängig ist, die gerade zur Diskussion steht. Dieser Umstand ist auch der Grund, warum man diese die Debatte beherrschenden Theorien ›Arbeitshypothesen‹ nennt. […] Eine Menge von Verwirrungen im philosophischen Denken geht darauf zurück, daß man diesen Umstand übersehen hat: Es ist immer die Theorie, die diktiert, welches Beweismaterial für sie relevant ist. Man kann eine Theorie nicht auf Beweismaterial stützen wollen, das von ihr selber schon als irrelevant verworfen worden ist. (AI, 220 f./391 ff.)
Whitehead lässt nicht immer klar erkennen, wie für ihn Arbeitshypothese und -methode voneinander abgegrenzt sind; so bezeichnet er seine Theorie der Arbeitshypothese als Methode der organistischen Philosophie, die selbst wieder Begründung für spezifischeres methodisches Vorgehen sein soll. 15 Tatsächlich muss für ihn die methodische Vorgehensweise seiner Kosmologie in erster Linie in der Lage sein, zwischen zwei gegensätzlichen und jeweils für ihn aus seinem philosophischen Grundansatz heraus nicht akzeptablen Positionen zu vermitteln: Wenn die metaphysischen Grundsätze eines Gedankengebäudes lediglich als Arbeitshypothesen betrachtet werden können, nicht aber als a priori zu fassende, unveränderbare Prinzipien, dann muss das Beharren auf der klaren, unmittelbaren Evidenz solcher Prinzipien ein unangebrachter Dogmatismus sein, dessen methodische Verfahrensweise auf der trügerischen Sicherheit der Deduktion, ausgehend von unumstößlichen Grundprinzipien, beruht. Im Gegenzug muss ein philosophischer Ansatz scheitern, der meint, auf methodisches Vorgehen völlig verzichten zu können, indem er, von der überwältigenden Realität der Vgl. AI, 222/395: »Die spekulative Philosophie macht also Gebrauch von der Methode der ›Arbeitshypothese‹. […] Eine solche Hypothese lenkt unsere Beobachtungen und wägt die Relevanz verschiedener Typen von Beweismaterial gegeneinander ab. Oder ganz kurz gesagt: sie schreibt uns unser methodisches Vorgehen vor.«
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einzelnen Tatsachen der Erfahrung ausgehend, induktiv auf mögliche größere Zusammenhänge schließt. In solch einem Fall würde die systematische Annahme unbeachtet gelassen, ohne eine irgendwie geartete Theorie als Arbeitshypothese könne keine Erfahrungsgesamtheit analysiert werden, da keine Aussage darüber möglich sei, was für das jeweilige Thema relevant sei und was nicht. Die organistische Philosophie soll also versuchen, einen Ausgleich zwischen diesen beiden Positionen zu finden und beiden Bewegungsrichtungen in ihrer Arbeitsmethode gerecht zu werden: Der Philosophie hat immer wieder der dogmatische Grundfehler zu schaffen gemacht, nämlich die Überzeugung, daß es sich bei ihren Arbeitshypothesen um klare, einleuchtende und unüberholbare Prinzipien handle. Und als Reaktion auf diesen ist sie dann oft in den extrem entgegengesetzten Grundfehler verfallen, das methodische Vorgehen überhaupt in den Wind zu schlagen. In diesem Falle pflegen sich die Philosophen dann zu rühmen, daß sie sich von keinem System gefangenhalten ließen, fallen aber gerade dadurch der trügerischen Klarheit isoliert betrachteter Sprechweisen zum Opfer, die zu überwinden doch gerade die Aufgabe der Philosophie ist. (AI, 223/396)
Der Mittelweg, den die organistische Philosophie gehen soll, schließt die reine Induktion wie auch die reine Deduktion als wissenschaftliche Methoden aus. Whitehead identifiziert in Die Funktion der Vernunft verschiedene Epochen in der Philosophiegeschichte, in denen entweder die Gewissheit der eigenen Prämissen zu einer eher deduktiven Methode oder aber die Betonung der individuellen Erfahrung zu einem eher induktiven Vorgehen geführt habe (vgl. FR, 67/68). In der vermeintlichen Klarheit darüber, eine der Methoden trennscharf zu einem Wissensgewinn anwenden zu können, sieht er den methodischen Hauptfehler: Ich dagegen meine, daß hier überhaupt nichts einfach ist, daß vielmehr jeder der erforderlichen Schritte äußerst schwierig ist. Solange es kein vollständiges metaphysisches Verstehen des Universums im ganzen gibt, ist es äußerst schwierig, irgendeinen Satz so klar und genau zu erfassen, daß man zu einer hinreichend vollständigen analytischen Zerlegung in seine Grundbestandteile kommen könnte. (FR, 54/56)
Das Ziel der philosophischen Methode muss also sein, zu einer dem vollständigen Erfahrungshintergrund möglichst adäquaten Theorie zu gelangen. Einerseits bedarf es einer Methode, um bloße Meinungen systematisch zu überprüfen, andererseits darf die methodische Logik 43 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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nie völlig von dem allgemeinen Erfahrungszusammenhang entkoppelt werden. Die Methode, die Whitehead in Die Funktion der Vernunft vorstellt, ist deutlich umfassender und nuancierter als methodische Induktion oder Deduktion. Ihre offensichtliche Unhandlichkeit und der stete Verweis auf die »anschauliche Erfahrung« (intuitive experience) sind in seinen Augen kein Manko, denn die Klarheit von Induktion und Deduktion sind für ihn Scheinklarheiten. Die vermeintliche Klarheit dieser methodischen Vorgehensweisen als Vorzug zu preisen, wäre für Whitehead ein »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit« (SMW, 51/66). Tatsächlich versteht er seine differenzierte Methode als Ergebnis eines langen evolutionären Entwicklungsprozesses der philosophischen Methode: Und diese – in jahrhundertelanger Erfahrung vervollkommnete – griechische Logik gibt uns eine Reihe von Kriterien an die Hand, die eine treffende Beurteilung unserer Meinungen und Überzeugungen ermöglichen. Sie fordern: 1. Übereinstimmung mit der anschaulichen Erfahrung; 2. Klarheit des gedanklichen Inhalts; 3. innere logische Konsistenz; 4. äußere logische Konsistenz; 5. die Einordnung in ein logisches Schema, das (a) weitgehend mit der Erfahrung übereinstimmt; (b) nirgendwo mit ihr in Konflikt gerät; (c) auf kohärenten Grundbegriffen bzw. Kategorien beruht, und (d) bestimmte methodologische Konsequenzen hat. (FR, 53 f./55)
Die Unhandlichkeit dieser Methode für die praktischen Anwendung ist offensichtlich. Einige Faktoren, wie beispielsweise »Übereinstimmung mit der anschaulichen Erfahrung« oder »Klarheit des gedanklichen Inhalts«, können nicht quantitativ oder formal-objektiv bestimmt werden, sondern erfordern ein pragmatisches Urteil des gesunden Menschenverstands, was die Ergebnisse immer mit dem allgemeinen Erfahrungshintergrund des jeweils Urteilenden verknüpft. Auch bleibt offen, wie die einzelnen Punkte untereinander gewichtet sein sollen. Die praktische Anwendung ist aber auch nicht das vorrangige Ziel Whiteheads bei seinem Modell. Tatsächlich kritisiert er an einfacheren, scheinbar schärferen Methoden gerade die Klarheit der Ergebnisse, die sich aus der Klarheit der Methode selbst ergibt: Die Absicht der Wissenschaft besteht in der Suche nach den einfachsten Erklärungen für komplexe Tatbestände. Wir neigen dazu, dem Denkfehler zu verfallen zu meinen, alle Tatbestände seien einfach, weil Einfachheit das Ziel
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unseres Unterfangens ist. Das Leitmotto im Leben eines jeden Naturphilosophen sollte heißen: Suche Einfachheit und mißtraue ihr. (CN, 163/123)
Aus der Komplexität seiner Methode können wir auf die Komplexität rückschließen, die Whitehead in der Gesamtheit aller Erfahrungen, die durch diese Methode erklärt werden können sollen, gesehen hat. Dazu passt, dass er jede Methode als notwendigerweise »geglückte Vereinfachung« (happy simplification) betrachtet und jede Vereinfachung zugleich schon als Über-Vereinfachung (vgl. AI, 221/393). Die Vorgehensweise, aus einer Sammlung von Erfahrungen und Intuitionen eine Arbeitshypothese zu entwickeln, die als angemessene, jedoch nicht notwendigerweise endgültige Theorie betrachtet werden kann, erinnert an das Konzept der Abduktion, das Charles Sanders Peirce in die moderne Wissenschaftsmethodik eingeführt hat. Peirce ist überzeugt, in einer logischen Untersuchung nicht mit induktivem oder deduktivem Vorgehen beginnen zu können. Grundlage jeder systematischen Analyse muss immer eine Hypothese sein, auf die selbst aber nicht mit Notwendigkeit geschlossen werden, sondern die lediglich an dem pragmatischen Maßstab gemessen werden kann, ob sie eine ausreichende und angemessene hypothetische Erklärung anbietet. Letzte Sicherheit darüber, ob die Wahl der Hypothese richtig oder falsch ist, kann es nicht geben; für Peirce ist die Suche nach einer Arbeitshypothese immer ein ›Raten‹ (guessing), 16 und die Kriterien, nach denen eine Hypothese ausgewählt werden sollte, sind pragmatisch: Die Hypothese sollte empirisch testbar sein, Voraussagen ermöglichen und gerade ausreichend »logischen Zement« (logical cement) beinhalten, um rational zu sein. 17 Einfache und natürliche Hypothesen sollten bevorzugt werden 18 – auch hieran erinnert Whiteheads Devise, Einfachheit zu suchen und ihr zu misstrauen. Über die Richtigkeit einer durch Abduktion gewonnenen Hypothese entscheidet bei Peirce ihre Anwendung, innerhalb derer sehr wohl induktive und deduktive Methoden genutzt werden:
Vgl. Peirce, 7.219: »[A]nd abduction is, after all, nothing but guessing.« Vgl. Peirce, 7.220. Für eine grundsätzliche Diskussion der Kriterien einer guten abduktiven Hypothese vgl. auch 5.197. 18 Vgl. Peirce, 6.477. In diesem Paragraphen artikuliert Peirce zudem explizit seine Überzeugung, Einfachheit der Hypothese impliziere nicht notwendigerweise logische Einfachheit, sondern bedeute, die Hypothese müsse natürlich sein und dem Betrachter instinktiv einleuchten. 16 17
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That which is to be done with the hypothesis is to trace out its consequences by deduction, to compare them with results of experiment by induction, and to discard the hypothesis, and try another, as soon as the first has been refuted; as it presumably will be. How long it will be before we light upon the hypothesis which shall resist all tests we cannot tell; but we hope we shall do so, at last. 19
Insbesondere der Gedanke, der Fortschritt einer Untersuchung liege in der Suche nach besseren Arbeitshypothesen, die sich mit unserem umfassenden Erfahrungshintergrund decken und anhand derer sich unsere Erfahrungen und Intuitionen verstehen lassen, verbindet die philosophischen Positionen von Peirce und Whitehead. In der organistischen Philosophie werden Induktion und Deduktion nur selten explizit benannt, sondern zumeist implizit mitbehandelt. Dennoch ist Whiteheads eigene Methode, die er zur generellen Methode, Metaphysik zu treiben, erhoben sehen möchte, auch als eine Korrektur von Methoden zu verstehen, die ausdrücklich induktiv oder deduktiv vorgehen. Eine Grundüberzeugung Whiteheads, die sich auch in seiner Methode widerspiegelt, ist die Annahme, jede logische Untersuchung benötige ein vom gesunden Menschenverstand ausgewähltes pragmatisches Fundament aus Erfahrungen, auf dem basierend logische Schlüsse erst getroffen werden können. Ähnlich wie Peirce steht Whitehead vor der Frage, wie man methodisch von den vielen distinkten empirischen Erfahrungen unseres Erlebens zu einer allgemeinen, kohärenten Hypothese kommen kann, die mit logischem Vorgehen und rationalem Urteil wiederum an Erfahrungen und neuen Beobachtungen erprobt werden kann. Seine Lösung ist die Methode der »phantasievollen Erkenntnis« (imaginative rationalization): 20 Peirce, 7.220 Die Methode der »phantasievollen Erkenntnis« wird in der Forschung häufig auf die »phantasievolle Verallgemeinerung« (imaginative generalization) reduziert, die allerdings nur den mittleren Schritt der Gesamtmethode darstellt. Bei dieser Betrachtungsweise bleiben die der Verallgemeinerung zugrundeliegenden partikularen Beobachtungen sowie die anschließende Überprüfung der Hypothese durch rationale Interpretation unbeachtet. Auch ist die Übersetzung von imaginative generalization mit »phantasievolle Verallgemeinerung« umstritten; in der Literatur gibt es z. B. die Übersetzungsvorschläge »imaginative Verallgemeinerung« und »deskriptive Verallgemeinerung«. Vgl. hierzu Lotter (1996), S. 25, sowie Müller (2008), S. 45. Die Übersetzung als »phantasievolle Verallgemeinerung« erscheint aber zumindest als sinnvoll, da Whitehead zu Beginn des gleichen Paragraphen (PR, 4/33) den Begriff der »phantasievollen Einsicht«
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Die wahre Forschungsmethode gleicht einer Flugbahn. Sie hebt ab von der Grundlage einzelner Beobachtungen, schwebt durch die dünne Luft phantasievoller Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen, die durch rationale Interpretation geschärft sind. (PR, 5/34)
Im Begriff der imaginative rationalization sind die beiden Bereiche angesprochen, die in dieser Methode vereint werden sollen, einerseits das freie Spiel der Phantasie in der Formulierung allgemeiner Hypothesen, andererseits der rationale Abgleich der aufgestellten Hypothese an den empirischen Beobachtungen vermittels des Tests auf Kohärenz und logische Konsequenz. Oder, um in Whiteheads Bild zu bleiben: Die dünne Luft des phantasievollen Schweifens allein trägt keine wissenschaftliche Theorie, doch ohne die Flugreise kommen wir auf dem sicheren Boden nicht vom Fleck. In dem Doppelspiel von Hypothesenbildung anhand des aus dem Hintergrund all unserer Erfahrung gewählten Anschauungsmaterials und konsequenter Überprüfung der aufgestellten Hypothesen an dem größeren Bereich neuerer Beobachtungen vollzieht sich der Fortschritt philosophischer Erkenntnis als steter Prozess, der empirische Sammlung, phantasievolle Verallgemeinerung und rationale Interpretation umfasst. Mit der Abduktionstheorie von Peirce verbindet die phantasievolle Erkenntnis nicht nur die offensichtlich ähnliche Vorgehensweise der Bildung und Überprüfung von Arbeitshypothesen, sondern auch die dezidierte Nähe beider Methoden zu den naturwissenschaftlichen Disziplinen. Die phantasievolle Erkenntnis soll gerade dazu dienen, philosophische Erkenntnisse durch Verallgemeinerungen zu gewinnen, die aus den Beobachtungen der Einzelwissenschaften abgeleitet sind, aber allgemeinere Anwendungsbereiche jenseits der Ausgangsdisziplin erschließen. So hebt die philosophische Methode partikularwissenschaftliche Erkenntnisse keineswegs auf, sondern stellt sie durch das Vorgehen der phantasievollen Erkenntnis einem möglichen Anwendungsbereich gegenüber, der durch verallgemeinernde Hypothesenbildung gewonnen wurde. Auf diese Weise bleiben die anfänglichen Erfahrungsbereiche erhalten, werden aber in einen allgemeineren metaphysischen Zusammenhang gestellt, der schließlich ein kohärentes Gesamtsystem ergeben soll: (imaginative penetration) wählt, um deutlich zu machen, auf welche Weise wir Sprache verstehen. Die Parallele zwischen beiden Originalbegriffen sollte auch in einer einheitlichen Übersetzung reflektiert werden.
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Das erste Erfordernis besteht also darin, anhand der Verallgemeinerungsmethode so vorzugehen, daß immer eine Anwendung gesichert ist; und ein Erfolgskriterium liegt in der Anwendbarkeit über den Ausgangspunkt hinaus. Man ist – mit anderen Worten – zu einer synoptischen Anschauungsweise gelangt. (PR, 5/35)
Die Methode der phantasievollen Erkenntnis ist die grundsätzliche Vorgehensweise Whiteheads in der Formulierung seines kosmologischen Entwurfs. Zwar soll die phantasievolle Erkenntnis auch ermöglichen, die Bereiche von Einzelwissenschaften in einen größeren Gesamtentwurf einzubeziehen, doch versteht Whitehead sie als die eigentliche Methode menschlicher Erkenntnis überhaupt. Damit sollten alle Untersuchungsbereiche seiner Kosmologie sich nach diesem methodischen Muster strukturieren und jeder Arbeitsschritt in die verschiedenen Phasen der phantasievollen Erkenntnis analysieren lassen.
1.2 Metaphysische Grundkonzepte 1.2.1 Der Organismusbegriff Die Selbstbezeichnung der Metaphysik Whiteheads als ›spekulative Philosophie‹ verweist auf die Methode, die der gesamte kosmologische Entwurf verwendet. Insofern die methodische Vorgehensweise angesprochen ist, verweist der Terminus der spekulativen Philosophie auf ein Paradigma. Allerdings nutzt Whitehead diese Selbstbezeichnung lediglich im ersten Kapitel des ersten Teils von Prozeß und Realität. Im gesamten folgenden Text bezeichnet er seine Kosmologie als ›organistische Philosophie‹. Man sollte den Begriffswechsel ernst nehmen – auch diese Selbstbezeichnung hat eine für den Gesamtentwurf paradigmatische Bedeutung. Um in die Whitehead’sche Metaphysik einzusteigen, bietet sich also an, nachzuvollziehen, nach welchen Grundbegriffen Whitehead sein philosophisches Schema ausgerichtet sehen möchte. Der Begriffswechsel von der ›spekulativen Philosophie‹ zur ›organistischen Philosophie‹ geschieht, ohne dass genauer definiert wird, was der neue Terminus auszusagen hätte. Interessanterweise soll sich dem Leser die Wertbedeutung der organistischen Philosophie aus dem Kontext erschließen. Offensichtlich bezeichnen für Whitehead beide 48 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Metaphysische Grundkonzepte
Begriffe den gleichen Gegenstand, nämlich sein metaphysisches Konzept – die spekulative Philosophie referiert auf die methodische, die organistische Philosophie auf die ontologische Ebene der Theorie. Mit dem Begriff des ›Organismus‹ (organism) erhebt er ein hauptsächlich mit der Biologie konnotiertes Konzept zum ontologischen Paradigma seiner Kosmologie. Es kann nicht verwundern, wenn viele Philosophen aus der Zeit Whiteheads, die den Organismusbegriff paradigmatisch verwenden, ihren denkerischen Ursprung in der Biologie haben. 21 Wie Reto Luzius Fetz ausführt, ist der Begriff des Organismus als Leitidee der Whitehead’schen Kosmologie nicht das Resultat der Kategorien von Whiteheads Denken, sondern vielmehr der Fluchtpunkt, auf den hin die verschiedenen Kategorien des metaphysischen Entwurfs konvergieren. 22 Dabei übernimmt die organistische Philosophie einen Begriff, der innerhalb der Biologie zur Beschreibung eines individuel-
Zur Bedeutung des Organismusbegriffs in der Philosophie zu Beginn des 20. Jhds. vgl. Hans Driesch, einen prominenten und einflussreichen Vertreter der OrganismusPhilosophie, dessen im Deutschen erstmals 1909 erschienenes Werk Philosophie des Organischen aus seinen Gifford-Lectures 1907/08 an der Universität Aberdeen hervorgegangen ist. Das Buch ist ebenso ein Werk der Biologie wie der Philosophie und wird der Strömung des Vitalismus oder Neo-Vitalismus zugerechnet, deren mit bedeutendster Vertreter Driesch war – eine philosophische Strömung, die Whitehead explizit als nicht konsequent genug ablehnt (vgl. SMW, 79/97). Zwar geht Driesch in seinem Bestreben, das Konzept des Organismus zu verstehen, explizit nicht so weit, den Organismusbegriff zum Paradigma der Ontologie zu erheben, doch aus der Aufgabenstellung seines zunächst auf Deutsch erschienenen und anschließend ins Englische übersetzten Buchs Wirklichkeitslehre kann man durchaus die Beschäftigung mit dem Organismusparadigma als einem ontologischen Monismus herauslesen: »[Die Ordnungslehre] fragt, ob sich eine Setzung finden lasse, welche Natur in ihrem Als-ob von Selbständigkeit als ein Ganzes meint, und aus welcher sich alle einzelnen Naturwirkliches meinenden Setzungen ihrem Inhalte nach mitsetzen lassen. Gelänge es, die eine Setzung, nach der hier gefragt wird, aufzufinden, so wäre alles Stückhafte, alles Unabhängige im Rahmen der Natur beseitigt; Erfahrung wäre vollendet. […] Gesetze würden als Letztheiten verschwinden in dem einen einzigen Gesetz der Ganzheit und würden nur noch tatsächlich oft wiederkehrende oder vielmehr bisher wiedergekehrte Züge der einzelnen Bestandteile des Einen bedeuten, Züge, deren ›Gültigkeit‹ für die Zukunft ganz und gar nicht verbürgt ist, da ja das Eine wird im Sinne der Entwicklung echter Art, der Entwicklung eines lebenden Einzelwesens vergleichbar« (Driesch (1917), S. 164). H. D. Oakley hielt 1921 einen On Professor Driesch’s Attempt to Combine a Philosophy of Life and a Philosophy of Knowledge betitelten Vortrag in der Aristotelian Society über Drieschs philosophischen Entwurf, dem Whitehead sehr wohl beigewohnt haben könnte (vgl. Oakley (1921)). 22 Vgl. Fetz (1981), S. 75. 21
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len Lebewesens dient, und verwendet ihn in einer dem biologischen Ursprungsverständnis nach höchst uneigentlichen Weise. In dem Sinn, in dem der Organismusbegriff hauptsächlich gebraucht wird, bezeichnet er ein Lebewesen, dessen Teile nicht einfach parallel nebeneinander her existieren, sondern wechselseitig miteinander interagieren – ein Organismus ist eine lebendige, ›selbstorganisierende‹ Einheit, deren Teile nicht jeweils einzeln zu verstehen sind in Abstraktion von dem ganzen Organismus. Auch bei John Dewey, mit dem Whitehead sich auseinandergesetzt hat, wird an vielen Stellen im Gesamtwerk der Organismusbegriff nach diesem Verständnis benutzt. Whitehead führt zwar das Organismusparadigma in seine Kosmologie ein, verwendet den Organismusbegriff aber in einer stark erweiterten Bedeutung: Die Beschreibung ontologischer Wirklichkeit soll sich gerade an der Leitidee des Organismus orientieren, der wirkliche Organismus ist das wirklich Seiende. Das Organismusparadigma beschreibt den Zusammenhang des Universums mit dem einzelnen Elementarereignis, das den Werdensprozess der Welt voranbringt. Die kleinste, aktual werdende, Einheit des Wirklichen und die Gesamtheit alles Wirklichen sind die beiden Facetten des Organismusbegriffs: In der organistischen Philosophie wird daran festgehalten, daß der Begriff ›Organismus‹ zwei Bedeutungen hat, die zwar verbunden, aber intellektuell voneinander zu trennen sind, nämlich die mikroskopische und die makroskopische Bedeutung. Die mikroskopische betrifft die formale Beschaffenheit eines wirklichen Ereignisses, betrachtet man dieses als einen Prozeß der Realisierung einer individuellen Einheit der Erfahrung. Die makroskopische Bedeutung bezieht sich auf das Gegebensein der wirklichen Welt, sieht man diese als die eigensinnige Tatsache an, die die Gelegenheit für das wirkliche Ereignis zugleich begrenzt und schafft. (PR, 128/246)
Mit diesem Doppelverständnis des Organismusbegriffs als mikroskopisch im einzelnen Elementarereignis und makroskopisch im Universum erfüllt Whitehead seine Forderung nach der Solidarität des Universums, denn alle einzelnen Dinge der Welt sind Teile einer organischen Einheit und in dieser Einheit organisiert. Wird das Universum als Organismus verstanden, so verliert der strenge Begriff des Anorganischen seinen Geltungsbereich, denn alles wirklich Seiende ist Teil des universalen, zumindest prinzipiell lebendigen Organismus. Für Dewey ist dieser Aspekt der organischen Phi50 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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losophie der eigentliche Fortschritt des Whitehead’schen Denkmodells, er erkennt in der verallgemeinernden Anwendung des Organismusbegriffs auf die ontologische Grundbestimmung des Universums die Überwindung des Mechanismusparadigmas durch das Organismusparadigma. 23 Damit besteht ein großer Vorzug der organistischen Philosophie in der Möglichkeit, Biologie nicht als Verlängerung der Physik zu betreiben, wie Whitehead kritisiert (vgl. SMW, 41/55) 24 , sondern Lebendigkeit und Organizität als Grundeigenschaften der Welt zu begreifen und so die in Grenzbereichen manchmal absurd scheinende Trennung zwischen passiver, physikalisch berechenbarer Materie einerseits und lebendigen, selbstorganisierenden Körpern andererseits aufzuheben. Das Organismusparadigma sieht Whitehead dabei nicht als Widerspruch zu den Axiomen der Naturwissenschaften, ganz im Gegenteil erwartet er von der Wissenschaft des noch ausstehenden Teils des 20. Jahrhunderts ein Selbstverständnis, das auf dem Organismusbegriff gründet: Die Wissenschaft ist dabei, eine neue Sichtweise anzunehmen, die weder rein physikalisch noch rein biologisch ist: Sie wird zur Untersuchung von Organismen. (SMW, 103/125)
Die Verallgemeinerung des Organismuskonzepts auf die mikroskopische und makroskopische Ebene, also auf die Elementarereignisse und die Gesamtwelt, nimmt aber auch der klassischen Anwendungsebene des Begriffs der Organismen, der mesoskopischen Ebene, ihre Besonderheit. Während Kleinstprozesse und das Universum als Gesamtheit jeweils Aspekte des Organismus verkörpern, können die ursprünglich als Organismen verstandenen Lebewesen, wie z. B. Pflanzen, Tiere oder Menschen, nur noch als große Gruppen von Elementarprozessen verstanden werden, deren Einheit, verglichen mit der Einheit der einzelnen Prozesse, die sie konstituieren, ontologisch weniger real ist. Dennoch leitet Whitehead die allgemeine Beschreibung der Erfahrungsinhalte dieser Prozesse von der menschlichen Erfahrung ab: Bei der Beschreibung der realisierten oder unrealisierten Kapazitäten eines wirklichen Ereignisses haben wir – mit Locke – stillschweigend die menschVgl. Dewey (1984), S. 223. In dieser Passage beschreibt Whitehead explizit die Erklärung der Begriffe ›Leben‹ und ›Organismus‹ als Problem einer Biologie, die sich auf einen physikalischen Materialismus berufen möchte.
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liche Erfahrung als ein Beispiel genommen, auf welches die der Metaphysik unabdingbare verallgemeinerte Beschreibung gestützt werden kann. Wenn wir uns aber den niederen Organismen zuwenden, müssen wir zunächst bestimmen, welche dieser Kapazitäten von der Realisierung in Irrelevanz übergehen; das bedeutet natürlich, durch Vergleich mit der menschlichen Erfahrung, die unser Standard ist. (PR, 112/217 f.)
Tatsächlich beschreibt der Organismusbegriff in Wissenschaft und moderne Welt noch nicht spezifisch die mikro- bzw. makroskopische Ebene, auf die er in Prozeß und Realität systematisch bezogen wird. In der Annahme, die Naturwissenschaften, die sich auf das Verständnis verschiedener Komplexitätsebenen der Naturvorgänge richten, würden allesamt künftig auf einem Organismusparadigma gründen, kann Whitehead konsequent davon sprechen, es müsse auch »Organismen von Organismen« (SMW, 110/133) geben, die aufeinander aufbauen. So kann etwa die Biologie getrost den Organismusbegriff in seiner angestammten Weise verwenden, sollte sich bloß darüber im Klaren sein, dass ihr Verständnis des Organismus nicht die ontologisch grundlegende Definition des Organismusbegriffs bezeichnet. An dieser Stelle zeigt sich deutlich die Verfahrensweise der organistischen Philosophie. Um, ausgehend von der menschlichen Erfahrung, ein kosmologisches System zu entwickeln, wird der dem menschlichen Lebensverständnis auf biologischer Ebene vertraute Begriff des Organismus zu einem metaphysisch grundlegenden Terminus verallgemeinert. Dabei geht aber, folgt man der metaphysischen Definition (vgl. PR, 128 f./246) im strengen Sinne, die Möglichkeit der Binnendifferenzierung, nach der wir im Alltag von Organismen und anorganischen Dingen sprechen, verloren. Whitehead ist sich dieses Problems allzu bewusst, wie anhand der Mühe deutlich wird, die er darauf verwendet, unser lebensweltliches Verständnis des Organismusbegriffs aus seinem verallgemeinerten metaphysischen Grundbegriff heraus zu entwickeln. Wie Michael Hampe zu Recht anmerkt, 25 wäre es, wenngleich es auch naheliegend scheinen mag, töricht, den Stellenwert des Organischen und des Lebendigen bei Whitehead zu übertreiben und das Whitehead’sche Universum als schlechterdings völlig organisch und lebendig zu verstehen. Vielmehr wird die organistische Philosophie dort interessant, wo sie versucht, auf der Grundlage des Organismusparadigmas subtile Unterscheidungen einzuführen, die 25
Vgl. Hampe (1990), S. 171 ff.
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Metaphysische Grundkonzepte
uns helfen sollen, im Einzelfall pragmatisch zu entscheiden, welches Ereignis lebendig oder unlebendig, organisch oder anorganisch ist. Wie aus seiner fachterminologisch geprägten, systematischen Definition von ›Lebendigkeit‹ und dem ›Anorganischen‹ in Prozeß und Realität deutlich wird, sind die Trennlinien zwischen den einzelnen Bereichen unscharf; das komplexe Zusammenspiel vieler Faktoren ergibt ein Gesamtbild, das sich, in einer zusammenfassenden Betrachtung, eher dem einen Bereich als dem anderen zuneigen mag. 26 Dabei steht Whiteheads Entwurf vor dem Problem, wie in einer allgemeinen Definition von Gesellschaften wirklicher Ereignisse auf mikroskopischer, ontologisch grundlegender Ebene zwischen möglichst hoher, aber auf eine bestimmte Umgebung spezialisierter Intensität der Erfahrung einerseits und dem unspezialisierten Überleben andererseits vermittelt werden kann: Es gibt zwei Weisen, in denen strukturierte Gesellschaften dieses Problem gelöst haben. Beide beruhen auf der Verstärkung des geistigen Pols, die ein Faktor in der Intensität der Erfahrung ist. Die eine besteht darin, eine feste durchschnittliche Objektivierung des Nexus herauszuholen, während die einzelnen Unterschiede zwischen den verschiedenen Elementen des Nexus unberücksichtigt bleiben. […] Die zweite Weise, das Problem zu lösen, beruht auf einer Initiative im begrifflichen Erfassen, d. h. im Streben. Der Zweck dieser Initiative ist es, die neuen Elemente der Umgebung in eindeutige Empfindungen aufzunehmen, deren subjektive Formen dafür sorgen, daß diese mit den komplexen Erfahrungen, die den Elementen der strukturierten Gesellschaft eigen sind, in Einklang gebracht werden. […] Strukturierte Gesellschaften, in denen die zweite Lösungsweise Bedeutung hat, werden ›lebend‹ genannt. Es ist offensichtlich, daß eine strukturierte Gesellschaft mehr oder weniger ›Leben‹ haben kann, und daß es keinen absoluten Bruch zwischen ›lebenden‹ und ›nicht lebenden‹ Gesellschaften gibt. Für gewisse Zwecke kann es von Bedeutung sein, wieviel ›Leben‹ überhaupt in einer Gesellschaft ist; und für andere ist es ohne Belang. Eine Strukturierte Gesellschaft, in der die zweite Lösungsweise unwichtig, die erste aber wichtig ist, wird als ›anorganisch‹ bezeichnet. (PR, 101 f./ 197 ff.)
Augenfällig ist die Abstraktheit der Lebendigkeitsdefinition. Will man konstruktive Aussagen über Organismen der mesoskopischen Ebene Für eine ausführlichere Übersicht über Primärtextstellen zum Begriff der ›Lebendigkeit‹ bei Whitehead vgl. auch Plamondon (1979), S. 44 f.
26
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für pragmatische Anwendungen vornehmen, bietet Whiteheads Schema keine trennscharfe Begriffsschematik an. Diese Vagheit ist jedoch zugleich der große Vorteil der Theorie, erlaubt sie doch, jeden Organismus als Bestandteil einer von vielen subtilen Wechselwirkungen bestimmten Welt zu begreifen. Für das Verständnis des Menschen in der organistischen Philosophie sind nicht so sehr die kühnen Bögen des Gesamtentwurfs interessant, als weit eher die ›Zwischentöne‹, die vielen verschiedenen Feinabstufungen und Interdependenzen, die Whitehead als pragmatische Unterscheidungsmerkmale innerhalb seines Schemas anführt.
1.2.2 Kreativität und Prozess Der methodische Ansatzpunkt Whiteheads besteht darin, nicht von einer Systematisierung auszugehen, sondern von der ›Sammlung‹ von Erfahrungen, um von da aus Arbeitshypothesen zu entwickeln. Wichtig ist an dieser Stelle, festzustellen, was unter einer ›Sammlung‹ von Erfahrungen in der organistischen Philosophie eigentlich gemeint ist. Lediglich zu sagen, Whitehead gehe davon aus, uns stünde außer unseren Erfahrungen nichts zur Verfügung, um Aussagen über die Welt zu treffen, wäre ebenso richtig und selbstverständlich wie ungenügend. Die Pointe des Ansatzes liegt gerade in der Konsequenz, mit der die menschliche Erfahrung in der Theoriebildung behandelt wird: Es wäre ja denkbar, von der Sammlung unserer Erfahrung direkt zum Inhalt dieser Erfahrung überzugehen und die erwähnte Beschränkung auf unsere Erfahrung rein empirisch zu verstehen, also so, als könnten wir lediglich Theorien aufstellen anhand von Beobachtungen, die wir getätigt haben – eine Auseinandersetzung mit der Ethik z. B. setze die wiederholte Erfahrung des Menschen als ethisch oder unethisch handelndem Subjekt voraus, sonst gäbe es überhaupt keine Veranlassung, sich mit der Ethik zu beschäftigen. Sicherlich ist die Beschränkung unserer Erfahrung auf einen empirischen, subjektiven Ausschnitt eines universellen Ganzen richtig – wir wissen nur das, was wir auch erfahren haben. Die organistische Philosophie erachtet aber eine noch fundamentalere Beschränkung für wichtig, die mit dem methodischen Ansatz an einer ›Sammlung‹ unserer Erfahrung entsteht: Die Tatsache, dass wir überhaupt nichts außer unserer Erfahrung haben. Was uns zur Verfügung steht, um ein phi54 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Metaphysische Grundkonzepte
losophisches Schema zu entwerfen, ist das, was wir unmittelbar qualitativ an der Struktur unserer menschlichen Erfahrung erkennen und allgemein anwenden können. Soll daraus eine allgemeine metaphysische Qualität konstruiert werden, so muss der Begriff der Erfahrung eine universale Bedeutung erlangen, in der die menschliche Erfahrung als spezieller Sonderfall ausgewiesen wird. Erklärter Anspruch der organistischen Philosophie ist, ein kosmologisches Gesamterklärungsmodell zu sein. Will Whitehead also, ausgehend von der menschlichen Erfahrung, auch augenscheinlich evidente Phänomene wie unbelebte Materie und physikalische Wechselwirkungen erklären, so steht er vor einer Wahl: entweder einen Dualismus anzunehmen, der die unbelebte Natur von der menschlichen Erfahrung unterscheidet, oder aber ein Gemeinsames zu finden, das immanent sowohl unsere unmittelbare Erfahrung als Qualität auszeichnet, als auch als Qualität von – im umgangssprachlichen Sinn – unbelebten Naturvorgängen fungiert. Für welche Option Whitehead sich entscheidet, ist unzweifelhaft: Erlebensvorgänge, die menschliches Bewußtsein involvieren, bilden das eine Extrem einer Skala, auf der sich alle Vorgänge überhaupt anordnen lassen, die insgesamt die Natur konstituieren. Wir haben in unserer Diskussion bisher nur dieses eine Extrem betrachtet. Aber wenn man das menschliche Erleben nicht völlig außerhalb der Natur stellen will, kann man nicht umhin, in der Beschreibung des menschlichen Erlebens nach denjenigen Faktoren zu suchen, die auch in der Beschreibung weniger spezialisierter Naturvorgänge auftreten. Wenn sich derartige Faktoren nicht finden lassen, ist die Auffassung, dass es sich beim menschlichen Erleben um ein Faktum innerhalb der Natur handelt, nichts weiter als ein Bluff, der auf vagen Phrasen beruht, für die nichts spricht, außer ihrer bequemen Geläufigkeit. Entweder muß man sich zu einem – zumindest provisorischen – Dualismus bekennen, oder aber die Elemente aufzeigen, die dem menschlichen Erleben und der Physik gemeinsam sind. (AI, 185/339)
Im direkten Anschluss an diese Passage beschreibt Whitehead die moderne Physik unter der Perspektive des ›Energieflusses‹ (flux of energy). An diesem Energiefluss erkennt er eine Struktur, die er als eine äußerste Kraft in jedem Bestandteil des Universums erkennt – sowohl in physikalischen Vorgängen wie auch in menschlichen Erfahrungsprozessen:
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Der Begriff der physikalischen Energie, der die Grundlage der Physik bildet, wäre dann als eine Abstraktion aus dem Gesamtkomplex der emotionalen und zweckvollen Energie zu verstehen, der der Schlußsynthese, in der sich jeder Vorgang vervollständigt, inhärent ist. Diese letztere Form der Energie ist gleichsam die Gesamtkraft jeder Erlebensaktivität. (AI, 186/341) 27
Die Absicht der organistischen Philosophie ist es, ein universelles Konzept von Energie als Grundkraft eines dynamischen Universums zu entwickeln, dergestalt, dass speziellere Fachtermini für Energie in den Partikularwissenschaften und Kraftbegriffe aus der Alltagserfahrung auf das Gesamtkonzept verweisen und aus ihm heraus verständlich werden. Wie Michael Hampe überzeugend darlegt, sieht Whitehead beispielsweise in seiner verallgemeinernden Verwendung des eigentlich aus der Mathematik entlehnten Vektorbegriffs als Beschreibungsform für die Gerichtetheit sowohl physikalischer Energie wie auch der inneren Dynamik der Erfahrung generell eine weitere Nähe zwischen dem Konzept der Kräfte im naturwissenschaftlichen Diskurs und der lebendigen Kraft von Erfahrungsprozessen. 28 Die Gesamtkraft, von der die physikalische Energie lediglich eine Abstraktion darstellen soll, ist zugleich die Gesamtkraft, von der aus die charakteristischen Eigenschaften unserer menschlichen Erfahrung als Extremfall von Erlebensaktivitäten erklärbar werden sollen. Diese Kraft, die bei den Extremausprägungen der menschlichen Erfahrung und der physikalischen Prozesse wirksam sein muss, ist das Elementare, das alle Weltprozesse antreibt. Ihr Grundmuster ist noch nicht das expliziter, menschlich verstandener ›Lebendigkeit‹, sondern eine allgemeine Dynamik, ein Impuls zur gerichteten Selbstbewegung, der in jedem Naturvorgang wirkt – im Falle ausdrücklich lebendiger Vorgänge wird dieses Grundmuster des Strebens, des Aufbruchs ins Neue besonders intensiv ausgeprägt, im Falle primitiver physikalischer Prozesse, wie etwa den Molekülverbindungen, die einen Feldstein konstituieren, wird es trivialisiert. Dennoch ist genau diese Gesamtkraft dasjenige, was allen Vorgängen in der Welt als Antriebskraft zugrunde liegt und sich in jedem Weltprozess zeigt. Whitehead nennt diese Kraft die ›Kreativität‹ (creativity). Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle unglücklich. Genauer am Originaltext wäre »komplexe Energie, die emotional und zweckhaft ist«. Darin käme deutlicher zum Ausdruck, dass die Kreativität nicht nur ein »Gesamtkomplex« ist, sondern eben maßgeblich eine dynamische Kraft, die zu komplexen Energiemustern führt. 28 Vgl. Hampe (1990), S. 254 ff. 27
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Metaphysische Grundkonzepte
Die Kreativität prinzipiiert jeden Vorgang in der Welt. Sie ist bloß als Antriebskraft an einzelnen Prozessen erkennbar, hat aber für sich allein, abstrahiert von Vorgängen in der Welt, keine Wirklichkeit. In jeder unserer Erfahrungen, die wir von der Welt machen, lässt sich als konstitutives Element das Wirken eines Moments der Kreativität entdecken. Deshalb ist die Kreativität auch als »Erfahrungstatsache« bezeichnet worden – als etwas, das wir als unhintergehbar unmittelbar evident in jedem Erfahrungsakt als Wirkmoment erfahren. 29 So wie die Kreativität zur Verwirklichung ihres kreativen Impulses das Werden eines Vorganges in der Welt braucht, benötigt auch das Werden eines Vorganges den Impuls der Kreativität, um überhaupt in Gang zu kommen: Die wechselseitige Bedingtheit von Kreativität als allgemeiner Voraussetzung für wirkliches Werden und Werden als individuelle Verwirklichung des kreativen Impulses konstituiert erst den Prozess. Kreativität, betrachtet in Abstraktion von den Naturvorgängen, an denen sie sich exemplifiziert, ähnelt für Whitehead dem aristotelischen Konzept der Materie: ›Kreativität‹ ist eine andere Darstellung der aristotelischen ›Materie‹ und des modernen ›neutralen Stoffs‹. Aus ihr wird aber die Vorstellung von passiver Rezeptivität, sei es der ›Form‹ oder der äußeren Relationen, getilgt; sie enthält nur die Vorstellung von der Aktivität, die auf der objektiven Unsterblichkeit der wirklichen Welt beruht […]. Kreativität hat in genau demselben Sinne keine selbständigen Eigenschaften wie die aristotelische ›Materie‹. Sie ist der elementare Begriff von höchster Allgemeinheit, auf dem die Wirklichkeit basiert. Sie kann nicht charakterisiert werden, da alle Eigenschaften spezieller sind als sie. (PR, 31/79 f.)
Die Analogie zwischen Whiteheads Kreativitätskonzeption und Aristoteles’ Materiekonzeption sollte nicht zu stark belastet werden. Während die aristotelische Materie am besten als passiv beschrieben werden kann und als bloß aktivitätsloses Aufnehmendes für Formen gedacht ist, soll die Kreativität gerade der Impulsgeber jeder Aktivität sein. Gemein ist den beiden Konzepten der Status ihrer Erkennbarkeit: Die Kreativität und die Materie sind in allem bestimmten Seienden als seins- oder werdensnotwendig vorausgesetzt und können deshalb nur indirekt als an jedem Seienden wirkende Konzepte erkannt werden. Betrachtet als ›elementarer Begriff von höchster Allgemeinheit‹, ist die Kreativität Teil des allgemeinen Prinzips, das der Prozesshaftigkeit 29
Vgl. Klose (2002), S. 75
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der Welt zugrundeliegt. Dieses ›allgemeine Prinzip‹ (general principle) ist das Äußerste im Schema der organistischen Philosophie, das grundlegende Konzept, das selbst nicht mehr rational begründet werden kann. Dorothy Emmet spricht von der ›elementaren Irrationalität‹ dieses Prinzips, da es nicht erklärt, sondern lediglich als gegeben akzeptiert werden könne. 30 Whitehead nennt das äußerste Prinzip die ›Kategorie des Elementaren‹ (Category of the Ultimate), und stellt es den weiteren Kategorien seines Kategorienschemas voraus. Da es die Absicht des Kategorienschemas ist, die Grundbegriffe der organistischen Philosophie in eine schematische Darstellung zu bringen (vgl. PR, 18/ 57), gründet die metaphysische Konzeption Whiteheads auf der Kategorie des Elementaren, die einen Kerngedanken des Whitehead’schen Entwurfs beschreibt: Das äußerste Prinzip ist das Prinzip des Prozesses. Der Prozessgedanke ist in gewisser Weise die Grundintuition der organistischen Philosophie. An allem wirklich Seienden muss das allgemeine Prinzip des Prozesses beobachtet werden können. Ein Prozess beschreibt das Werden von etwas Wirklichem; deshalb besagt das Prinzip des Prozesses, jedem Sein von etwas Wirklichem liege immer dessen Werden zugrunde. 31 Das Seiende der organistischen Philosophie ist die allgemeine Erlebnisaktivität, die sich in die Extremfälle der physikalischen Prozesse und der menschlichen Erfahrung ausbuchstabieren lässt. Dementsprechend ist der Prozess das Werden von Erlebnisakten; und die Kreativität ist das Bewegungselement, das die innere Dynamik der Erfahrung beschreibt. Die allgemeinste Beschreibung dieses Prozessprinzips in der Kategorie des Elementaren beruht auf dem Zusammenspiel von drei Begriffen: neben der ›Kreativität‹ die Termini ›viele‹ (many) und ›eins‹ (one). Die Interaktion dieser Begriffe bildet den Prozess, der an allem Werden von Wirklichem erkennbar ist. Die Kreativität bildet in der Begriffstrias der Kategorie des Elementaren die Kraft, die alles neue Werden anregt. Jeder Naturvorgang ist eine Verkörperung – und damit eine Verwirklichung – dieser Gesamtkraft. Aber um zu erklären, was eigentlich in einem Prozess geschieht, bedarf es zudem der Begriffe des ›vielen‹ und des ›eins‹ : Prozessuales Werden ist für Whitehead immer die Synthese der vielen bereits in der Vergangenheit gewordenen Vorgänge der Welt, die nur Vgl. Emmet (1966), S. 71 f. In der ix. Kategorie der Erklärung (vgl. PR, 23/66) spricht Whitehead explizit vom »Prinzip des Prozesses«.
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noch als disjunkte Objekte für neues Werden zur Verfügung stehen, in dem Werden eines neuen Subjekts, das alle disjunkten Vorgänge, aus denen das Universum besteht, als Objekte der Vorwelt auffasst und unter einer neuen, subjektiven Perspektive in einer synthetischen Einheit verbindet. Der kreative Impuls, der den Prozess einer Synthese der vielen bereits vollendeten Vorgänge des Universums in einem neuen Werden anregt, gelangt im Abschluss des Prozesses an sein Ziel: Der Prozess einer Synthese von ›vielen‹ zu ›einem‹ ist das Werden einer abschließenden Einheit aus einer disparaten Vielheit, und das Erreichen der abschließenden Einheit ist zugleich die Vollendung dieses Werdensprozesses. In der neuen, gewordenen Einheit ist das, was die Kreativität als mögliche Werdensdynamik angestoßen hat, verwirklicht worden und hat so den kreativen Impuls dieses Prozesses erfüllt. Mit der Vollendung der neuen Einheit ist der Prozess erschöpft und die erreichte Einheit wird nun zu einem ›Gewordenen‹, das seinerseits als ein Objekt unter vielen, als Teil der Vorwelt, für das Werden eines neuen Subjekts zur Verfügung steht und weiterwirkt, indem es als Bedingung und als Einschränkung der Möglichkeiten des neuen Werdensprozesses fungiert. Der Prozess besteht also aus zwei zusammengehörigen Teilen, die erst in ihrer gegenseitigen Ergänzung einen Werdensprozess konstituieren und das ganze Universum als eine dynamische Abfolge einzelner Elementarprozesse erklären. Die Synthese der vielen bereits bestehenden Objekte der Vorwelt zu einer neuen Einheit mit einer eigenen subjektiven Perspektive ist der Teil, den Whitehead ›Konkretisierung‹ (concrescence) 32 nennt. Der Übergang der Einheit in der abschließenden ›Erfüllung‹ (satisfaction) ihres Werdens vom aktiven Subjekt zum Objekt, das seinen Selbstwerdungsprozess vollendet hat und nun als ein Objekt unter vielen für weitere Werdensprozesse neuer Subjekte mit eigenem kreativem Impuls zur Verfügung steht, ist die ›Objekti32 Das englische Wort concrescence ist nicht ohne Bedeutungsverlust ins Deutsche übersetzbar. Im Englischen kann es sowohl für eine Vermehrung stehen – also für die Erweiterung der vielen bereits gewordenen Prozesse um einen neuen – als auch für den Vorgang des Zusammenwachsens: Diese Wortbedeutung passt auf den Prozess der Synthese der disparaten ›vielen‹ in ein neues ›eins‹. Die gewählte Übersetzung ist aus der deutschen Standardübersetzung von Prozeß und Realität übernommen und spielt auf den Aspekt an, dass ein Prozess ein Vorgang von Realisierung ist. Angestoßen durch einen kreativen Impuls, vollendet das werdende Subjekt sein Potential für Verwirklichung erst in seiner abschließenden Erfüllung.
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vierung‹ (objectification), die auch als ›Übergang‹ (transition) bezeichnet wird. Der Prozess ist der ewige Wechsel von Werden und Vergehen, der Wechsel des ›viele‹ zu ›eins‹ in der Konkretisierung und des ›eins‹ zu ›viele‹ im Übergang. Um die Doppelfunktion des Subjekts als einerseits aktiv selbst Werdendes und andererseits als durch die objektive Vorwelt bereits im ›Übergang‹ gewordener Prozesse Bedingtes deutlich zu machen, wird der aktive subjektive Elementarprozess während der ›Konkretisierung‹ als ›Subjekt‹ (subject) bezeichnet, was auf den eigenständigen, gestaltenden Charakter dieser Phase hinweist, und als ›Superjekt‹ (superject), wenn die aus der Vergangenheit heraus bestimmte Bedingtheit des aktiven Prozesses betont werden soll. Das Konzept des Prozesses, wie es die Kategorie des Elementaren ausbuchstabiert, ist zugleich die Exemplifikation des Organismusbegriffs in seiner Doppelbedeutung von makroskopischer und mikroskopischer Ebene. Die mesoskopische Ebene, aus welcher der Organismusbegriff ursprünglich entlehnt ist, hat für die metaphysische Prozesskonzeption keine Bedeutung mehr, sondern nur die kleinstund die größtmögliche Ebene. Das ganze Universum als Voraussetzung jedes Werdens, also die ›vielen‹ objektivierten und abgeschlossenen Vorgänge, ist die makroskopische Ebene, die ›eine‹ werdende Subjekteinheit mit eigenem kreativem Impuls ist die mikroskopische Ebene des Prozesses. So, wie Konkretisierung und Übergang als Werden und Vergehen den untrennbaren Doppelaspekt des Prozesses ausmachen, bilden die makroskopische und die mikroskopische Ebene des Organismus zusammen den umfassenden Organismusbegriff.
1.2.3 Der Erfahrungsbegriff Da der Prozess die Verwirklichung eines kreativen Impulses in einem Erfahrungsakt sein soll, ist eine Übersicht über den Erfahrungsbegriff notwendig, um das Konzept des Prozesses in der organistischen Philosophie umfassend zu beschreiben. Der Umgang mit der ›Erfahrung‹ (experience) ist für den gesamten metaphysischen Entwurf Whiteheads von zentraler Bedeutung. Nicht nur ist die ›Sammlung‹ unserer Erfahrungen für Whitehead der methodische Ausgangspunkt, von dem aus philosophische Konzepte zu beginnen haben, sondern sie ist zugleich auch das Ausgangsfaktum, also die grundlegende zur metaphysischen Interpretation verfügbare »Tatsache«: 60 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Metaphysische Grundkonzepte
Aber diese Lehre [die organistische Philosophie – d. Verf.] akzeptiert uneingeschränkt Descartes’ Entdeckung, wonach das subjektive Erfahren die primäre metaphysische Situation ist, die sich der Metaphysik für die Analyse darbietet. (PR, 160/299 f.)
Der kosmologische Ansatz Whiteheads bringt ihn dazu, unsere Erfahrung als Ausgangsfaktum durch Verallgemeinerung zum metaphysischen Grundelement alles Wirklichen zu erheben. Hier wird Erfahrung nicht verstanden als bloß epistemologisch interessante Eigenschaft eines Subjekts, sondern als Grundlage der Theorie, als das, was wir wirklich »haben«. Jeder Prozess im Universum hat also etwas seine innere Konstitution bestimmendes ›Erfahrungshaftiges‹ an sich. Von der Sammlung der menschlichen Erfahrung nimmt jede Theoriebildung ihren Ausgang, und aus dem allgemeinen metaphysischen Erfahrungsbegriff will Whitehead ein Interpretationsschema entwickeln, das die menschliche Erfahrung als speziellen Fall eines allgemeinen Erfahrungsbegriffs ausweisen kann, wie in der Aufgabenstellung der organistischen Philosophie direkt im Eingangskapitel von Prozeß und Realität programmatisch verkündet wird: Spekulative Philosophie ist das Bemühen, ein kohärentes, logisches und notwendiges System allgemeiner Ideen zu entwerfen, auf dessen Grundlage jedes Element unserer Erfahrung interpretiert werden kann. (PR, 3/31)
Der Erfahrungsbegriff steht solcherart sowohl, als Ausgangsfaktum, am Anfang wie auch, als das nun Erklärbare, am Ende der Theorie und muss als Kernbegriff des ganzen Systems genau kontextualisiert werden. Da Whitehead die Entwicklung der Philosophie selbst als evolutionären Prozess auffasst, bietet sich für das Verständnis seines Denkens an, einen historischen Zugang zu den Konzepten der philosophischen Tradition in für Whitehead relevanten Konturen zu suchen und festzustellen, an welche Interpretation dieses in der Philosophiegeschichte so vielseitig ausgelegten Begriffs er anschließt. Spätestens seit dem epochalen Umbruch der Philosophie durch Descartes’ Subjektivitätsansatz ist der Erfahrungsbegriff ein notwendiges Element jedes metaphysischen Entwurfs – und in verschiedenen philosophischen Entwürfe zumeist auch sehr unterschiedlich besetzt. Eine Textstelle, die den Streit verschiedener philosophischer Denkrichtungen um den Erkenntnisbegriff brennglasartig auf den Punkt bringt, findet sich bei Johann Gottlieb Fichte in der ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre: 61 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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Das endliche Vernunftwesen hat nichts außer der Erfahrung; diese ist es, die den ganzen Stoff seines Denkens enthält. […] In der Erfahrung ist das Ding, dasjenige, welches unabhängig von unserer Freiheit bestimmt sein, und wonach unsere Erkenntnis sich richten soll, und die Intelligenz, welche erkennen soll, unzertrennlich verbunden. Der Philosoph kann von einem von beiden abstrahieren, und er hat dann von der Erfahrung abstrahiert, und über dieselbe sich erhoben. Abstrahiert er von dem ersten, so behält er eine Intelligenz an sich, das heißt, abstrahiert von ihrem Verhältnis zur Erfahrung; abstrahiert er von dem letzteren, so behält er ein Ding an sich, das heißt, abstrahiert davon, daß es in der Erfahrung vorkommt, als Erklärungsgrund der Erfahrung übrig. Das erste Verfahren heißt Idealismus, das zweite Dogmatismus. 33
In diesem Textabschnitt teilt Fichte die Philosophie in zwei Lager auf, zwischen denen er trennscharf unterscheidet. Er selbst sieht sich als Vertreter des Idealismus, den er dem Dogmatismus entgegensetzt in der Frage danach, was die Seinsgrundlage der Welt sei. Entlang der hier von Fichte skizzierten Trennlinie verläuft die Auseinandersetzung zwischen dem Deutschen Idealismus und dem Materialismus, der in der Strömung des Physikalismus in der Gegenwartsphilosophie aktuelle Relevanz hat. Von besonderer Bedeutung für Whiteheads Denken ist Fichte nicht. Stattdessen wird er hier stellvertretend angeführt für eine Tradition der philosophischen Debatte um den Erfahrungsbegriff, welcher sich Whitehead gerade entziehen möchte. In der Einleitung zu Prozeß und Realität gibt Whitehead deutlich an, auf welchen Denkern seine Untersuchung menschlicher Erfahrung gründen soll: »Diese Vorlesungen gehen im wesentlichen von der Phase philosophischen Denkens aus, die mit Descartes begann und mit Hume endete. […] [D]ie organistische Philosophie [ist] im großen und ganzen ein Rückgriff auf vorkantsche Denkweisen«. (PR, xi/21 f.) In Wissenschaft und moderne Welt ist ein Kapitel überschrieben mit »Das Jahrhundert der Genialität« (vgl. SMW, 39–55/53–72). Darin gibt Whitehead eine Interpretation zur Entwicklung von Naturwissenschaften und Philosophie im 17. Jahrhundert, das ihm als eminent wichtige Zeitspanne in der Formierung des europäischen Wissenschaftsbetriebs erscheint. Gerade Denkern im Spannungsfeld zwischen
33 Fichte (1954), S. 12. Die philosophische Position, die Fichte mit Dogmatismus bezeichnet, wird üblicherweise als Rationalismus verstanden.
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Mathematik, Philosophie und der entstehenden Physik, etwa Descartes, Locke, Leibniz und Newton, widmet er große Aufmerksamkeit (vgl. SMW, 40/54). Wenn er den Hauptbezugspunkt seiner eigenen organistischen Philosophie in der Periode zwischen Descartes und Hume sieht, meint er damit einen guten Teil der Denker, die er dem »Jahrhundert des Genies« zurechnet. In einem Kontrast dazu versteht Whitehead die Entwicklung der nachfolgenden Philosophie, vor allem im 19. Jahrhundert, als von dem vermeintlichen Fortschritt wissenschaftlich-genauer, abstrakter Erkenntnis entstellt: Der gewaltige Erfolg der wissenschaftlichen Abstraktionen, die einerseits der Materie mit ihrer einfachen Lokalisierung in Raum und Zeit, andererseits dem wahrnehmenden, leidenden, denkenden, aber nicht eingreifenden Geist Rechnung tragen, hat der Philosophie die Aufgabe zugeschoben, sie als die konkreteste Darstellung des Tatsächlichen anzuerkennen. Das war der Ruin der modernen Philosophie. Sie hat auf komplexe Art zwischen drei Extremen geschwankt. Da sind die Dualisten, die Materie und Geist als gleichbegründet anerkennen, und die beiden Spielarten von Monisten: Jene, die den Geist in die Materie stecken, und jene, die die Materie in den Geist verlegen. (SMW, 55/71)
Der Fehler der modernen Philosophie liegt für Whitehead nicht darin, in der Frage nach dem ontologischen Bedingungsverhältnis zwischen Geist und Materie den falschen Weg gewählt zu haben, sondern bereits in der Annahme von Geist und Materie als klar trennbaren, einander gegenübergesetzten Prämissen für philosophisches Denken. Beide Begriffe sind für ihn bereits selbst Ergebnisse hochgradiger Abstraktion und stellen in ihrer klaren Trennbarkeit einen Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit dar. Der Ausgangspunkt der organistischen Philosophie soll unmittelbarer sein als die abstrakten Begriffe von Geist und Materie, er soll das Unmittelbarste sein, über das wir verfügen: unsere Erfahrung. Mit diesem Schritt knüpft Whitehead nicht bloß hauptsächlich an ›vorkantische Denkweisen‹ an, sondern auch an eine Strömung der ihm zeitgenössischen Philosophie. Er erwähnt explizit William James und John Dewey als Einflüsse für seine Kosmologie (vgl. PR, xii/23), zwei der wichtigsten Vertreter des Pragmatismus. James war, einige Jahre vor Whitehead, ebenfalls Professor für Philosophie an der Universität Harvard. In einer bewussten Absetzbewegung von dem traditionellen Verständnis des Erfahrungsbegriffs definiert Dewey Erfahrung als Konstituens der Welt, nicht als bloß mentales Phänomen einer auch 63 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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ohne Erfahrungsakte existierenden Welt. 34 Die Erfahrung ist kein lediglich zwischen Subjekt und Objekt vermittelndes Element, sondern die grundlegende Realität, die subjektive und objektive Gehalte umfasst. Dewey kann sich hier auf James beziehen, der Erfahrung als etwas den Erfahrenden und das Erfahrene Umfassendes begreift. Sowohl Dewey wie auch Whitehead berufen sich in ihren Schriften auf das erste Kapitel von James’ Essays in Radical Empiricism, in dem die Erfahrung mit solch umfassender Begriffsbedeutung für den amerikanischen Pragmatismus gültig bestimmt wird: Experience, I believe, has no such inner duplicity; and the separation of it into consciousness and content comes, not by way of subtraction, but by way of addition – the addition, to a given concrete piece of it, of other sets of experiences, in connection with which severally its use or function may be of two different kinds. […] In a word, in one group it figures as a thought, in another group as a thing. And, since it can figure in both groups simultaneously we have every right to speak of it as subjective and objective both at once. The dualism connoted by such double-barrelled terms as ›experience‹, ›phenomenon‹, ›datum‹, ›Vorfindung‹ – terms which, in philosophy at any rate, tend more and more to replace the single-barrelled terms of ›thought‹ and ›thing‹ – that dualism, I say, is still preserved in this account, but reinterpreted, so that, instead of being mysterious and elusive it becomes verifiable and concrete. It is an affair of relations, it falls outside, not inside, the single experience considered, and can always be particularized and defined. 35
Die von ihm kritisierte Position charakterisiert Dewey wie folgt: »Experience, they say, is important for those beings who have it, but is too casual and sporadic in its occurrence to carry with it any important implications regarding the nature of Nature. Nature, on the other hand, is said to be complete apart from experience. Indeed, according to some thinkers the case is even worse plight: Experience to them is not only something extraneous which is occasionally superimposed upon nature, but it forms a veil or screen which shuts us off from nature, unless in some way it can be ›transcended‹. So something non-natural by way of reason or intuition is introduced, something supraempirical.« Diesem Verständnis von Erfahrung setzt er eine universale ontologische Verknüpfung von Erfahrung und Welt entgegen: »These commonplaces prove that experience is of as well as in nature. It is not experience which is experienced, but nature – stones, plants, animals, diseases, health, temperature, electricity, and so on. Things interacting in certain ways are experience; they are what is experienced. Linked in certain other ways with another natural object – the human organism – they are how things are experienced as well. Experience thus reaches down into nature; it has depth.« (Dewey (1925), S. 1, 4) 35 James (1976), S. 6 f. 34
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Metaphysische Grundkonzepte
Whitehead schließt mit seinem Verständnis des Erfahrungsbegriffs an die Entwürfe von James und Dewey an. Zum Datum seiner organistischen Philosophie wird unsere Erfahrung, und das Ziel der organistischen Philosophie ist die angemessene Interpretation dieser Erfahrung. Wird Erfahrung zur ontologischen Grundlage des Weltprozesses, so müssen sich Geist und Materie, Subjekt und Objekt aus dem Akt der Erfahrung heraus begründen lassen. Das werdende Subjekt als das ›eins‹, in dem die vielen bereits gewordenen Prozesse der Vorwelt synthetisiert werden, ist im Grunde die Synthese vieler Erfahrungsakte in einer Einheit unter einer subjektiven Perspektive. Die in den Erfahrungsakten empfundenen Prozesseinheiten der Vorwelt stellen die ›objektiven Daten‹ (objective data) dieser Erfahrungsakte dar, sie geben also vor, welche Form unter der subjektiven Perspektive des aktiven Subjekts empfunden wird. In dieser objektiven Funktion stehen sie aber nicht außerhalb des Erfahrungsaktes, als irgendwie geartete Objekte, die lediglich erfahren werden. Der Erfahrungsakt, der das ontologisch grundlegend Wirkliche ist, umfasst sie als objektiven Part, jenseits dessen sie keine unabhängige Existenz haben. Alles wirklich Seiende ist das, was in jedem Prozess Inhalt der Erfahrungsakte des Subjekts ist. Damit könnte man gewissermaßen formulieren, jeder einzelne subjektive Werdensprozess sei das gesamte Universum in einer neuen Synthese, in dem alle gewordenen Subjekte der Vorwelt ihre Funktion als objektive Daten des Prozesses ausüben. Genau diese radikale Position ist es, die im Organismusparadigma mit der Verschränkung von mikroskopischer und makroskopischer Ebene ausgedrückt wird: Das ganze Universum wird in der Synthese der Erfahrungsakte des Subjekts als objektives Datum empfunden, und mit dem Werden jedes neuen Subjekts wird das Universum reicher um ein neues objektives Datum für neues Werden.
1.2.4 Wert und Ästhetik Die Synthese der vielen objektiven Daten verschiedener Erfahrungen in eine umfassende neue Einheit darf nicht als ein Vorgang verstanden werden, der nach Kausalitätsprinzipien geordnet ist und mechanistisch abläuft. Vielmehr soll die fortschreitende Synthese der vielen Erfahrungen in eine abschließende Empfindung ein Prozess der lebendigen Selbstorganisation sein und so dem Charakter unserer Erfahrung, die 65 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Whitehead systematisch als Ausgangspunkt der philosophischen Methode dient, gerecht zu werden. Auf diesen Aspekt bezieht sich die Aussage der Überwindung des Mechanismusparadigmas durch das Organismusparadigma in Deweys erwähntem Zitat. 36 Mechanistische Kausalzusammenhänge sollen durch die Aktivität eines teleologisch auf ein eigenes Ziel gerichteten Subjekts ersetzt werden. Wenn die Synthese des gesamten Universums als teleologisch auf die Erfüllung eines eigenen Ziels gerichteter Erfahrungsakt verstanden wird, ergibt sich die Frage, auf welche Weise die einzelnen in der Erfahrung synthetisierten Erfahrungsfaktoren eine Bedeutung für den Gesamterfahrungsakt erhalten können. Da die einzelnen Faktoren keinen in irgendeiner Weise quantifizierbaren kausalen Einfluss auf den Erfahrungsakt nehmen, muss Whitehead eine elementare Eigenschaft des organischen Erfahrungsbegriffs ausweisen, die jedem in die Synthese eingehenden Faktor der Erfahrung eine subjektive Bedeutung zuweist, einen Wert für den Erfahrungsakt. Die Schlüsselstelle, in der Whitehead die Lebendigkeitsqualität seines Erfahrungsbegriffs aus der Überwindung eines mechanistischen Weltbildes gewinnt, ist das Die romantische Reaktion überschriebene Kapitel in Wissenschaft und moderne Welt (SMW, 75–94/93–115). In diesem Kapitel wird untersucht, in welchen Beschreibungsformen sich die Einsichten derjenigen Autoren, die zu dem Gegensatz zwischen einem mechanistischen Erklärungskonzept und einem Erklärungskonzept von organischer Erfahrungseinheit tiefere Einsichten formuliert haben, finden lassen: In dieser Vorlesung möchte ich zunächst darauf eingehen, wie das konkrete gebildete Denken der Menschen diesen Gegensatz von Mechanismus und Organismus aufgenommen hat. Das konkrete Weltbild der Menschheit kommt immer in der Literatur zum Ausdruck. Also müssen wir uns an die Literatur – und besonders an ihre konkreteren Formen, nämlich Lyrik und Drama – halten, wenn wir die nach innen gerichteten Gedanken einer Generation erforschen wollen. (SMW, 75 f./93)
Man wird die zunächst überraschende Aussage ernst nehmen müssen, die Literatur formuliere tiefe Einsichten, die zur Sammlung für die Formulierung eines philosophischen Systems relevanter Ausgangsdaten beitragen können. An anderer Stelle betont Whitehead explizit 36
Vgl. Dewey (1984), S. 223
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den in seiner zu Erkenntnis führenden Vorgehensweise der Philosophie verwandten Charakter der Literatur: Philosophie ist der Poesie verwandt, und beide drängen darauf, jenen letzten guten Sinn zum Ausdruck zu bringen, den wir Zivilisation nennen. (MT, 174/ 202)
In der Folge des Kapitels Die romantische Reaktion versucht Whitehead, dem Wesen der organischen Erfahrung näherzukommen, indem er Gedichte englischer Poeten zitiert, in deren dichterischer Aktivität er die ›romantische Reaktion‹ auf übertrieben mechanistische Wissenschaftsvorstellungen erkennt. Um eine unmittelbare Einsicht in das Wesen der Erfahrung zu artikulieren, hält Whitehead offenbar die Poesie für geeigneter als die Philosophie, da poetische Werke »tiefe Intuitionen des Menschlichen ausdrücken, die zu dem vordringen, was an der konkreten Tatsache universell ist.« (SMW, 87/107). Warum verlässt Whitehead sich auf die tieferen Einsichten der Poesie, um eine adäquate Beschreibungsform der Erfahrung zu finden? Leonard Wessell spricht in diesem Zusammenhang von der »Radikalität« Whiteheads bezüglich des Erfahrungsbegriffs, der »jede Art Tatsache oder jeden Erfahrungsgehalt berücksichtigen« müsse. 37 Die poetische Einsicht sei für seine Ausgangssammlung von Erfahrungen »eine neue Tatsachenquelle« 38 , die über die Diskussion innerhalb des Rahmens wissenschaftlicher Methode hinausreiche. Whitehead versucht, eine philosophisch relevante Gemeinsamkeit aus den vielen Formen der Erfahrung zu gewinnen und darin das besondere, über den Rahmen des Mechanistischen hinausweisende Konzept zu entdecken, das Faktoren der Erfahrung nicht als kausale Wirkungen versteht, sondern als Teile der lebendigen Gesamterfahrung des Subjekts, deren Einfluss auf die abschließende Synthese von der Bedeutung stammt, die sie für das Erfahrungssubjekt haben. In der poetischen Annäherung an die Erfahrung sieht Whitehead die beste Möglichkeit, eine Einsicht in das zu gewinnen, was als Lebendigkeitsmerkmal unsere Erfahrung im Innersten auszeichnet: Wenn wir uns an die poetische Wiedergabe unserer konkreten Erfahrung erinnern, dann sehen wir, daß das Element des Werts, des Wertvollseins, des Werthabens, des Selbstzwecks und der Eigenständigkeit bei keiner Erklärung 37 38
Wessell (1990), S. 40 Wessell (1990), S. 70
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
eines Geschehnisses als das konkreteste wirkliche Etwas vergessen werden darf. ›Wert‹ ist das Wort, das ich für die innere Realität eines Geschehnisses verwende. Wert ist ein Element, das die poetische Sicht der Natur ganz und gar durchdringt. Wir müssen nur jenen Wert, den wir im Rahmen des menschlichen Lebens so leicht erkennen, auch auf die Textur der Realisierung an sich übertragen. (SMW 93/114)
Augenfällig an dieser Auslegung des Wertbegriffs ist die Eindeutigkeit, mit der ein für die Verwendung in der Metaphysik intendierter Terminus aus der menschlichen Erfahrung hergeleitet wird. Nathaniel Lawrence hat deshalb zu Recht den Wertbegriff bei Whitehead als Anthropomorphismus bezeichnet. 39 Der Wertbegriff ist der zentrale Terminus in der Axiologie, die nach Robert Spaemann etwas augenzwinkernd »zur herrschenden Philosophie der westlichen Welt geworden« 40 sei. Whiteheads Wertbegriff unterscheidet sich aufgrund seines radikalen Erfahrungsbegriffs deutlich von der axiologischen Theorie der Güterethik, aber in gewissen Punkten auch von axiologischen Theorien, die sich explizit in der Absetzung von der Güterethik entwickelt haben. Max Scheler etwa versucht Werte als materiale Qualitäten auszugeben, die als Korrelate des Fühlens fungieren. Der Zuschnitt von Schelers Philosophie ist nicht metaphysisch, sondern anthropologisch, aber als allegorische Illustration für Whiteheads Position ist sie verwendbar: Werte können das Fundament einer Beziehung ausmachen, aber sie sind so wenig Beziehungen, wie rot und blau Beziehungen sind. Eben darum sind sie Werterlebnisse, d. h. ist Erleben von Wert kein Beziehungserlebnis. […] Wenn man also Werte überhaupt unter eine Kategorie subsumieren will, so muß man sie als Qualitäten bezeichnen, nicht aber als Beziehungen. 41
Scheler teilt mit Whitehead die Auffassung, Werte könnten nur im Zusammenhang mit einer Aktivität des Fühlens verstanden werden. Er unterscheidet das »Fühlen von etwas« von »Gefühlszuständen«. 42 Nicht der rein auf das fühlende Subjekt beschränkte Gefühlszustand, sondern nur das objektiv gerichtete Fühlen, das intentionale Fühlen, sei das Fühlen von Werten. Anders formuliert sind Werte zwar keine Beziehungen zwischen einem fühlenden Subjekt und einem Objekt, sie setzen aber eine Subjekt-Objekt-Struktur voraus. An dem Umstand, 39 40 41 42
Vgl. Lawrence (1961), S. 156 Spaemann (2000), S. 29 Scheler (1966), S. 248 f. Vgl. Scheler (1966), S. 261.
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dass Whitehead diese Trennung nicht mitvollzieht, wird die Besonderheit seines Wertbegriffs deutlich. Die Erfahrung in der organistischen Philosophie ist fundamental als ontologische Grundstruktur konzipiert, die zwar ein erfahrendes Subjekt als dasjenige kennt, in dem der Erfahrungsakt stattfindet, aber kein außerhalb der Erfahrung liegendes Objekt, auf das sich eine Werterfahrung richten könnte. Auch die objektivierte Vorwelt ist nichts dem lateinischen obiectum gemäß dem Erfahrungssubjekt Entgegenstehendes, sondern die bloße Voraussetzung und Bedingung der subjektiven Erfahrung. Dergestalt verweist ein Wert bei Whitehead nicht auf einen vom Subjekt verschiedenen Wertträger, zu dem sich relational in Beziehung zu setzen die Aufgabe wäre, die des Werts bedürfte. Der Wert ist vielmehr die unmittelbare emotionale Intensität, die ein bestimmter Erfahrungsfaktor im Werdeprozess des Subjekts einnimmt. Die Aktivität des Subjekts innerhalb des eigenen Werdensvollzugs und damit seine nicht-mechanistische, organistische Lebendigkeitsqualität ist die unmittelbare Wertung von Erfahrungsfaktoren. Auch Scheler versteht Werte nicht als feststehende Signifikate, sondern immer im Zusammenhang einer Fühlensaktivität als Ergebnis eines »emotionalen Akterlebnisses« – Werte bedürfen der Wertung als der elementaren Lebensaktivität des Subjekts, die Bedeutung des Wertbegriffs für die philosophische Theorie erschließt sich erst von der Aktivität der Wertung her. Die Aktivität der Wertung drücken Whitehead und Scheler ähnlich aus, Whitehead in einer jedem Empfindensakt essentiellen Auf- oder Abwertung (valuation up or down) (vgl. PR, 241/441) und Scheler in dem Akt des »Vorziehens« oder »Nachsetzens« 43 . In beiden Fällen stellt der Wertungsakt eine Bedeutsamkeitszuschreibung durch das wertende Subjekt dar. Für Whitehead wie Scheler ist Erfahrung kein »neutrales Gegebensein von Gegenständen« 44 , sondern das lebendige Empfinden von etwas, das für das Subjekt ein gewisses Interesse hat. Vgl. Scheler (1966), S. 265. Um die Diskussion an dieser Stelle nicht ungebührlich in die Länge zu ziehen, soll hier lediglich angemerkt werden, dass Scheler alternativ zum Akt des Vorziehens oder Nachsetzens noch das explizite Wählen zwischen verschiedenen Werten als ein zweckinhaltlich strebendes Handeln kennt; um einen Vergleich dieser Aufteilung des Wertungsakts mit Whiteheads Theorie anstellen zu können, müsste man in der organistischen Philosophie zunächst eine Handlungstheorie ausweisen, die innere, bloß mentale Präferenzsetzungen von expliziten Handlungen des Subjekts unterscheiden könnte. 44 Lotter (1996), S. 132 43
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Damit wird bei Whitehead subjektives Interesse zum ontologischen Ausgangspunkt des Erfahrungsbegriffs. Die Werthaftigkeit der Erfahrung bezieht sich nicht primär auf eine ethische Ebene, sondern bezeichnet die elementare Form der Orientierung, die einem Prozesssubjekt zur Verfügung steht, das sich selbst verwirklichen will. Da die abschließende Synthese aller Empfindungen nicht kausal nach einem Ursache-Wirkungs-Schema, sondern teleologisch als die Erfüllung eines Selbstbildes organisiert ist, ist die Wertung von Empfindungen die Möglichkeit für das werdende Subjekt, einzelne Erfahrungsfaktoren in einer Wichtigkeitshierarchie zu verorten, die zu einer subjektiven Erfüllung des eigenen Werdeziels führt: die Erfüllung des subjektiven Ziels (subjective aim) eines Werdenssubjekts. Die Wertungen eines Subjekts sind das eigentlich Subjektive des Prozesses, sie empfinden die objektiven Daten der Vorwelt von dem jeweiligen subjektiven Standpunkt des Prozesses aus. Dabei ist die Bedeutung, die einzelne Erfahrungsfaktoren für das subjektive Ziel haben, der Maßstab, an dem der Wert der einzelnen Faktoren sich bemisst, Werte werden nicht anhand objektiver äußerer Bewertungsmaßstäbe bestimmt, sondern anhand des subjektiven Selbstwerdens jedes Prozesses. Das subjektive Ziel ist die vom werdenden Subjekt selbst gewählte Selbstverwirklichungsmöglichkeit mit der höchsten emotionalen Intensität – also in gewisser Weise die abschließende Synthese mit dem aus der Perspektive des werdenden Subjekts größtmöglichen Wert. Auf diese Weise findet sich im ontologischen Konstrukt des subjektiven Zieles eine strukturelle Analogie zu dem Wertbegriff, den Whitehead aus der Feststellung der Werthaftigkeit menschlicher Erfahrung gewonnen hat. Der Terminus des Werts als allgemeine Beschreibungsform für den Lebendigkeitsaspekt von Erfahrung ist erstaunlich neutral, insofern menschliche Erfahrung in all ihren Facetten durch diesen Begriff erfasst werden soll. Das hat Nathaniel Lawrence dazu veranlasst, in Whiteheads Begriffswahl eine Tendenz zu erkennen, den ursprünglich aus der Sphäre der menschlichen Erfahrung entlehnten Wertbegriff als allgemeinen ontologischen Grundbegriff zu verwenden: Whitehead’s effort, lest reductionalism play endlessly with the hopeless task of conjuring up values out of valueless facts, is to generalize the admittedly anthropomorphic term ›value‹ in such a way as to show human value as a restricted and complicated case of the value. 45 45
Lawrence (1961), S. 155
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Wegen der von Whitehead betonten Nähe von Philosophie und Poesie und seiner Verwendung von Begriffen, die aus dem Rahmen menschlicher Erfahrung entlehnt sind, aber durch die Generalisierung zu metaphysischen Grundbegriffen eine bewusst intendierte theoretische Distanz zu empirischen Erfahrungsinstanzen erhalten, hat Reiner Wiehl die organistische Philosophie eine ›Begriffsdichtung‹ 46 genannt – die Grundbegriffe der organistischen Philosophie, insofern sie die ontologisch grundlegenden, allgemeinen Eigenschaften der Erfahrung beschreiben, stehen in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch metaphysischer Elementargeltung und der Überprüfbarkeit anhand menschlicher Erfahrungen, das lediglich mit einem systematisch entwickelten Instrumentarium von Analogien überbrückt werden kann. 47 Neben dem Wertbegriff betrifft diese systematische Anforderung der organistischen Philosophie noch einen weiteren Begriff, der von Whitehead als qualitative Charakterisierung des Erfahrungsbegriffs verwendet wird, den Begriff der Ästhetik. Nicht viele Begriffe aus Whiteheads philosophischer Terminologie sind so uneinheitlich interpretiert worden wie sein Ästhetikbegriff. Vielleicht liegt der Grund hierfür auch an der Art und Weise, in der Whitehead den Ästhetikbegriff behandelt, nämlich in einer Verwendung en passant. So wundert es nicht, wenn Eva Schaper zu Whiteheads »scattered remarks on aesthetic topics« bemerkt: Whitehead’s thought on aesthetics manages to be both profound and vague at the same time. He conveys to his readers the feeling of great urgency and importance attached to the asking of aesthetic questions, and he often disappoints by the sweeping suggestiveness of his answers. 48
Schaper steht für eine Interpretationsrichtung des Ästhetikbegriffs in der organistischen Philosophie, in der die Funktion des Ästhetischen als die Fundierung einer Kunst- und Schönheitstheorie verstanden wird. 49 Eine in die entgegengesetzte Richtung zielende Interpretation Vgl. Wiehl (1984), S. 320 Vgl. Wiehl (1984), S. 321 48 Schaper (1961), S. 263 49 Das erste Beispiel dieser Interpretationsweise liefert Bertram Morris: »There is some warrant for distinguishing between the process as art, conceived fundamentally as an activity, and the end as beauty, the satisfactions aimed at. The two together constitute what we may call the aesthetic situation. Analysis of the situation, by which the process of art issues into beauty, is the task of aesthetics, to which Whitehead greatly contributed.« (Morris (1951), S. 465). Morris untersucht Ästhetik bei Whitehead, zumindest der 46 47
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wird etwa von Reiner Wiehl vertreten, der vehement dafür eintritt, den Ästhetikbegriff als ontologischen Grundbegriff der organistischen Philosophie zu aufzufassen, dessen Verhältnis zu einem theoretisch fundierten Kunstbegriff aufgrund des von Whitehead beabsichtigten theoretischen Abstands zwischen ontologischen Grundbegriffen und empirischen Instantiierungen »offen und unbestimmt« bleiben müsse. 50 Was sich über den Stellenwert des Ästhetikbegriffs bei Whitehead textinterpretativ feststellen lässt, bezieht sich zumeist auf einzelne Aussagen an verstreuten Stellen seines Werks. 51 In einem 1936 gehaltenen und in Essays in Science and Philosophy veröffentlichten Vortrag versteht er die Erfahrung des Phänomens der Ästhetik als den Ausgangspunkt seiner philosophischen Theorie, aus der heraus sich bereits brennglasartig die Struktur seiner Metaphysik abzeichnet: Philosophic thought has to start from some limited section of our experience – from epistemology, or from natural science, or from theology, or from mathematics. Also the investigation always retains the taint of its starting
verwendeten Terminologie nach, in Hisicht auf ihre Relevanz für eine Kunsttheorie, aber er bezieht sich auf Ästhetik als einen ontologischen Grundbegriff. Schaper geht in ihrer Analyse einen Schritt weiter und versteht den Ästhetikbegriff bei Whitehead explizit als auf höhere mentale Operationen beschränkt: »If we hold with Whitehead that feeling is basic experience, feeling of actualities by actualities, and if we further bear in mind that the primary phase of felt contact is as such unconscious, we see the importance of regarding the aesthetic as a complex, high-grade mode.« (Schaper (1961), S. 280). Das bekannteste Beispiel für die Interpretation des Ästhetischen bei Whitehead ist das Buch A Whiteheadian Aesthetics: Some Implications of Whitehead’s Metaphysical Speculations von Donald W. Sherburne. Darin versucht Sherburne, einen eigenen Entwurf zu finden für den bei Whitehead nicht explizit ausbuchstabierten Ästhetikbegriff, statt den impliziten Ästhetikbegriff der organistischen Philosophie systematisch zu analysieren: »If Whitehead had written the book on aesthetics which is implicit in the books that he did write, what would this book be?« (Sherburne (1961), S. xviii. Vorwort verfasst von Filmer Northrop). 50 Wiehl (1984), S. 334. Die Position von Wiehl wird emphatisch von Wessell aufgegriffen, ausführlich dargestellt und das Verhältnis von naturwissenschaftlicher quantitativer Methode zu dem Lebendigkeitsanspruch in der Philosophie Whiteheads noch weiter zugespitzt, wobei diese Untersuchung die wahrscheinlich bislang gründlichste Textanalyse zu Whiteheads Ästhetikbegriff in der Sekundärliteratur bietet. 51 Aufgrund der fragmentierten Verwendung des Ästhetikbegriffs bei Whitehead ist eine Übersich über die Stellen seines Vorkommens, wie Wessell sie durchgeführt hat, hilfreich; über die Bedeutung des Begriffs im jeweiligen Kontext gibt die rein quantitative Aufschlüsselung jedoch wenig Aufschluss. (Vgl. Wessell (1990), S. 23–25)
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point. Every starting point has its merits, and its selection must depend upon the individual philosopher. My own belief is that at present the most fruitful, because the most neglected, starting point is that section of value-theory which we term æsthetics. […] Now there are two sides to æsthetic experience. In the first place, it involves a subjective sense of individuality. It is my enjoyment. I may forget myself; but all the same the enjoyment is mine, the pleasure is mine, and the pain is mine. Æsthetic enjoyment demands an individualized universe. In the second place, there is the æsthetic object which is identified in experience as the source of subjective feeling. In so far as such abstraction can be made, so that there is a definite object correlated to a definite subjective reaction, there is a singular exclusive unity in this æsthetic object. There is a peculiar unity in a good pattern. (ESP, 98 f.)
Ästhetik wird explizit als Teil der Werttheorie aufgefasst. Die Subjektivität der Welt bereits in ihren ontologischen Grundbestandteilen, die besondere Qualität des Erfahrungsaktes in seiner unmittelbaren Emotionalität werden als ›ästhetischer Genuss‹ (æsthetic enjoyment) verstanden. In diesen Eigenheiten scheint eine direkte Parallele zwischen dem Ästhetikbegriff und dem Wertbegriff zu bestehen. Da der Wertbegriff eine ontologisch fundamentale Funktion in der organistischen Philosophie einnimmt, liegt es nahe, auch die Funktion des Ästhetikbegriffs auf einer grundlegenden Ebene der Gesamttheorie zu suchen. Damit müsste sich der ganze Bezugsrahmen, in dem der Begriff verortet wird, und damit auch seine Funktion von der klassischen Funktionszuweisung des Ästhetischen als eines auf die sinnlichen Wahrnehmungen des Menschen gerichteten Begriffs unterscheiden, wie beispielsweie Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft formuliert: »Eine Wissenschaft von allen Prinzipien der Sinnlichkeit a priori nenne ich die transzendentale Ästhetik.« 52 Whiteheads Diskussion der Ästhetik, insofern sich einmal eine Stelle findet, an welcher der Begriff überhaupt erläutert wird, bezieht Kant (1998), B 35. Wessell sieht eine Übereinstimmung zwischen Whitehead und Kant in der Fragestellung, die der Diskussion des Ästhetischen zugrunde liegt, aber keine inhaltliche oder methodische Ähnlichkeit. Er interpretiert die Stoßrichtungen der beiden Ästhetikbegriffe als in diametral entgegengesetzte Richtungen strebenden Interessen verpflichtet: »Wo Kant seine transzendentale Aesthetik entwarf, um die Anwendung der Mathematik auf die Natur zu erklären und zu rechtfertigen, entwarf Whitehead seine Aestehtik des ›organism‹, seine ›critique of pure feeling‹, um die Anwendung des Poetisch-Aesthetischen auf die Natur, auf das Psychische, zu erklären und zu rechtfertigen.« (Wessell (1990), S. 116)
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sich auf gänzlich andere Problemfelder. Der Kontrast der aisthesis im klassischen Verständnis als sinnliche Wahrnehmung und der noesis, dem Denken, ist kein für die organistische Philosophie relevanter Gegensatz. Tatsächlich beschäftigt sich die einzige Stelle, an der ein Ästhetikbegriff bei Whitehead systematisch erörtert wird, in Denkweisen mit dem Kontrast von Ästhetik und Logik. Dieser Gegensatz nun ist kein Kontrast von geistiger und sinnlicher Aktivität, sondern ein Kontrast zweier Weisen, in denen das Erfahrungssubjekt das in seinen Erfahrungsakten empfundene Verhältnis des Einen und der Vielen zu einer Gesamterfahrung synthetisiert. Der Ästhetikbegriff wird also auf der Ebene der metaphysischen Grundlagendiskussion eingeführt und seine Funktion offensichtlich auf der ontologischen Ebene verankert: Ich vertrete den Standpunkt, daß die Analogie von Logik und Ästhetik eines der am wenigsten erschlossenen Gebiete der Philosophie ist. In erster Linie geht es beiden um das Gefallen, das eine Komposition erregt, die aus der wechselseitigen Verbundenheit ihrer Faktoren hervorgeht. Es gibt ein Ganzes, das aus dem Zusammenspiel vieler Details entsteht. Die Bedeutung rührt von einem lebhaften Begreifen der gegenseitigen Abhängigkeiten des Einen und der Vielen her. Wenn eine der beiden Seiten dieser Antithese in den Hintergrund rückt, wird Erfahrung – logisch und ästhetisch – trivial. Die Unterscheidung von Logik und Ästhetik liegt im Grad der Abstraktion. Die Logik richtet ihre Aufmerksamkeit auf hohe Abstraktion, Ästhetik hingegen bleibt so nah am Konkreten, wie es die Erfordernisse des endlichen Verstehens erlauben. So sind Logik und Ästhetik die beiden Extrempole des Dilemmas des endlichen Denkens bei seinem schrittweisen Versuch, das Unendliche zu durchdringen. (MT, 60 f./100 f.)
Man muss Whitehead, dem Autor der Principia Mathematica und versierten Logiker, im Bereich der Logik umfassendes fachliches Hintergrundwissen und Interesse unterstellen. Wenn er hier den Logikbegriff anführt, so sollte in erster Linie dessen lockere Verwendung wundern. Whitehead qualifiziert an dieser Stelle nicht weiter, was er unter dem Begriff der Logik versteht. Weder soll damit ein Rationalitätsbegriff konnotiert werden, noch ein explizit mathematischer Logikbegriff oder eine eigene innovative Logik. Der Logikbegriff bleibt offen, da der Fokus der organistischen Philosophie in dieser Passage auf der Erklärung des Ästhetikbegriffs und dessen Funktionalität liegt. Die Funktionsweisen von Ästhetik und Logik unterscheiden sich grundlegend. Ästhetik und Logik sind nicht die extremsten Ausprägungen eines kon74 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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tinuierlichen Maßstabs, sondern zwei distinkt arbeitende Modi der Erfahrung: Die typisch logische Haltung in bezug auf das Verstehen besteht darin, bei den Details anzufangen und dann zu der Konstruktion überzugehen, die erreicht wurde. Logischer Genuß geht von Vielem auf Eines über. Die Charakteristika der Vielen werden verstanden, insoweit sie die Einheit der Konstruktion zulassen. Die Logik benutzt Symbole, aber nur als Symbole. […] Das Verstehen von Logik besteht in einem Genuß von abstrakten Details, sofern sie eine abstrakte Einheit zulassen. […] Die Bewegung ästhetischen Genusses geht in die entgegengesetzte Richtung. Wir sind von der Schönheit eines Gebäudes, von der Anmut, die von einem Bild ausgeht, der ausgefeilten Ausgewogenheit eines Satzes überwältigt. Das Ganze geht den Details voraus. (MT, 60 f./100 f.)
Die scharfe Trennung zwischen Logik und Ästhetik besteht auf der grundlegenden funktionalen Ebene. In hochkomplexen Erfahrungsbereichen wie der menschlichen Erfahrung wird man sich durchaus einen Erfahrungsakt vorstellen können, der Anteile beider in ein Gesamtmuster einbezieht. Obwohl man es aus der spiegelbildlichen Entgegensetzung ihrer Funktionsweise vermuten könnte, ist das Verhältnis von Ästhetik und Logik nicht gleichberechtigt. Die Logik ist ein sich völlig auf symbolische Referenz verlassender Modus abstrakter Erfahrung, Ästhetik hingegen ist ein Erfahrungsmodus des unmittelbaren Genusses der Realität in der durch die eigene subjektive Perspektive bedingten Wertung der Erfahrung. Die ästhetische Vorgehensweise, zuerst die Erfahrungsgesamtheit zu realisieren und von dort ausgehend sein Augenmerk auf einzelne Details zu richten, korrespondiert der Grundintuition des Pragmatismus, an dem Whiteheads Entwurf sich mit seinem Erfahrungsbegriff explizit orientiert. Die Logik hingegen scheint Whitehead in dieser Entgegensetzung als einen ontologisch derivativen Erfahrungsmodus zu konzipieren. Wie schon in der Untersuchung seiner philosophischen Methode angemerkt, hat Whitehead die Logik stets als ein hervorragendes Werkzeug erachtet, aber nur vor dem Hintergrund eines umrahmenden und perspektivierenden gesunden Menschenverstandes (vgl. ESP, 73). In dieser Einschränkung wird der hierarchisch geordnete Stellenwert der beiden Erfahrungsmodi noch einmal deutlich. Dennoch ist interessant, in welchem Rahmen die Logik behandelt wird: Sie ist nicht nur eine abstrakte Methode, die mathematische oder gar allgemeinwissenschaftliche Relevanz besitzt, son75 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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dern sie ist eine Weise, mit Erfahrung durch abstrakte Symbolisierung umzugehen und als Modus der Deästhetisierung von Erfahrung eine hochstufige mentale Operation des Prozesssubjekts. Whitehead ist sogar überzeugt, in der – in ihrer Entwicklung noch ausstehenden – richtigen Form der Logik die ultimative Interpretationsform für unsere ästhetische Erfahrung zu finden, also die beste Möglichkeit, mit einem abstrakt und in Symboliken denkenden menschlichen Geist die unmittelbare Erfahrungsrealität zu verstehen: We must end with my first love – Symbolic Logic. When in the distant future the subject has expanded, so as to examine patterns depending on connections other than those of space, number, and quantity – when this expansion has occurred, I suggest that Symbolic Logic, that is to say, the symbolic examination of pattern with the use of real variables, will become the foundation of æesthetics. (ESP, 99).
Die Entwicklung einer symbolischen Logik als Möglichkeit, ästhetische Erfahrung zu interpretieren, betont nochmals den elementaren Charakter der Ästhetik im Kontrast des Gegensatzpaares Ästhetik und Logik. Jeder Erfahrungsakt ist in grundlegender Weise ästhetisch und kann in späteren Phasen des Werdensprozesses um eine logische Betrachtungsweise ergänzt werden. Die Erkenntnis der Ästhetik als die Erkenntnis des Fundamentalen ist zudem das ultimative Ziel der Diskussion des Erfahrungsbegriffs: Aufgrund der größeren Exaktheit ästhetischer Erfahrung haben wir hier ein größeres Gebiet vor uns als dies bei der logischen Erfahrung der Fall ist. Wenn das Gebiet der Ästhetik einmal ausreichend erkundet worden ist, dann ist in der Tat zweifelhaft, ob es noch irgend etwas zu diskutieren gibt. (MT, 62/102) 53 Die Übersetzung von Rohmer ist an dieser Stelle grob irreführend. Tatsächlich übersetzt er ›concreteness‹ mit ›Exaktheit‹, was den Sachverhalt entstellt. Die ›concreteness‹ der Ästhetik im englischen Originaltext drückt ihre Tatsächlichkeit aus, ihre Gegenständlichkeit und reale, unmittelbare Gewissheit im Kontrast zu der Abstraktheit der Logik. Exaktheit ist gerade keines ihrer bezeichnenden Merkmale. An der Suggestivität und der Prophezeihung des englischsprachigen Originalzitats konstatiert Schaper eine ›extravagance‹ Whiteheads, selbst unter der Annahme, dieser habe die Aussage im Fortgang relativiert (vgl. Schaper (1963), S. 263). Insofern ästhetische Erfahrung als die elementare Grundform von Erfahrung verstanden wird, anstatt Schapers Interpretation des Whitehead’schen Ästhetikbegriffs als in einer impliziten, von Whitehead nicht ausbuchstabierten Kunst- und Schönheitstheorie lediglich auf höhere, reflektiertere Formen der Wahrnehmung verweisend zu folgen, löst sich die unterstellte Extravaganz zu
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Den ontologisch grundlegenden Charakter des Ästhetischen stellt Whitehead explizit heraus: Diese beiden Prinzipien sind von der Lehre abgeleitet, daß eine wirkliche Tatsache eine Tatsache der ästhetischen Erfahrung ist. Alle ästhetische Erfahrung ist Empfinden, das aus der Realisierung eines Kontrasts unter der Bedingung der Identität hervorgeht. (RM, 115/87)
Noch weniger systematische Äußerungen als zum Ästhetikbegriff finden sich bei Whitehead zu dem Zusammenhang zwischen dem Wertbegriff und dem Ästhetikbegriff. Zwar soll der Ästhetikbegriff ein Teil der Werttheorie sein, doch die genauen Zusammenhänge bleiben ungeklärt. Obwohl sich ihre Anwendungsfelder teilweise überschneiden, nutzt Whitehead beide Begriffe in unterschiedlicher Weise. Während der Wertbegriff, vor allem als die Aktivitätsform der ›Wertung‹ (valuation), bei der systematischen Entwicklung seines metaphysischen Konzepts in Prozess und Realität in einer wichtigen funktionalen Bedeutung verwendet wird, wird der Ästhetikbegriff niemals funktional aufgeladen oder erklärt, sondern charakterisiert stets die elementare Eigenschaft von Erfahrung, Erfahrungsakten oder der Erfahrungseinheit als phänomenologische Beschreibung. 54 Die poetische Einsicht, die Whitehead in dem Kapitel Die romantische Reaktion als philosophisch relevant definiert, tritt auch in anderen seiner Werke auf, häufig in einem literarischen Zitat von einem oder wenigen Zeilen, mit dem Whitehead an das elementare Empfinden des Lesers appelliert, wenn die systematische philosophische Untersuchung an die Grenzen ihrer Erklärungsmöglichkeiten gelangt zu sein scheint; die Qualität einer solcherart geförderten unmittelbaren, als ästhetische Einheit erfahrenen Einsicht scheint dasjenige zu sein, was sein Ästhetikbegriff umfassen können soll. 55 einer systematisch nachvollziehbaren Grundforderung auf, die lediglich besagt: Die angemessene Interpretation von Erfahrung ist das ultimative Ziel jedes Welterklärungsversuchs, und diese Erklärung muss das Phänomen des Ästhetischen fassen können. 54 Whitehead gibt sogar zu, den Ästhetikbegriff als phänomenologische Beschreibung aus der Analyse verschiedener Künste gewonnen zu haben (vgl. PR, 279/508), will aber darin keineswegs dessen Anwendung auf hochstufige spezielle menschliche Erfahrungen und eine Kunsttheorie beschränken, sondern die »kategorialen Bedingungen« dieser phänomenologischen Betrachtungen »verallgemeinern«, um sie als ontologisch grundlegenden Begriff verwenden zu können. 55 Als ein Beispiel des Appells an die unmittelbare ästhetische Einsicht innerhalb einer systematischen philosophischen Erörterung soll Whiteheads Verwendung des christli-
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Die Verwendung des Ästhetikbegriffs als ontologischen Grundbegriff vermeidet eine Ästhetiktheorie, die als Kunst- oder Schönheitstheorie auftritt. Zugleich muss ein Ästhetikbegriff, der das menschliche Ästhetikempfinden nur als Sonderfall kennt, in seiner allgemeinen Bedeutung abstrakt bleiben; Reiner Wiehl hat diesbezüglich von einer »formalen Ästhetik« Whiteheads gesprochen, die hinsichtlich ihres Verhältnisses »zu einer möglichen Philosophie der Kunst offen und unbestimmt« sei. 56 Wenn Whitehead einmal explizit von der Ästhetik der Kunst spricht, so tut er dies als Diskussion eines Sonderfalls fundamentaler ontologischer Qualitäten. Die Wurzeln einer menschlichen Kunst- und Ästhetiktheorie liegen für ihn in seiner Symbolisierungstheorie begründet, mit der er unter anderem die Steuerung der menschlichen Emotionen erklären möchte: Diese ganze Angelegenheit des Transfers von Emotionen berührt die Grundlagen jeder Theorie der künstlerischen Ästhetik. (S, 85/143 f.)
In Hinsicht auf den Erfahrungsbegriff ist die Ästhetik gewissermaßen das Äußerste der Whitehead’schen Metaphysik. Sie ist diejenige Qualität der Erfahrung, die den subjektiven Charakter des Weltprozesses bedingt, und die Selbstverwirklichung jedes Prozesssubjekts als eine Aktivität der subjektiven Wertung ist ihre systematische Ausformulierung.
1.2.5 Die Konstitution des wirklichen Einzelwesens Alle bisher untersuchten Grundkonzepte seiner metaphysischen Überlegungen führt Whitehead in der terminologisch präzisen Ausformuchen Chorals Abide with me; Fast falls the Eventide (Bleibe bei uns; denn es will Abend werden; die deutsche Übersetzung von Bubser folgt elegant der Lutherübersetzung eines Bibelzitats (Lukas 24,29), das dem englischen Choral ganz offensichtlich zugrunde liegt) in PR, 209/386 dienen, mit dem Whitehead den Werdens- und Vergänglichkeitscharakter des Prozesses erklären möchte. Wie er einführend anmerkt, sei die Missachtung unmittelbarer, allumfassender Erfahrung, wie etwa der religiösen Erfahrung, ein Grund für die Oberflächlichkeit moderner Metaphysiken. Die Kritik richtet sich gegen die Sektion des Erfahrungsbegriffs durch zu viele abstrakte Grundannahmen, Whitehead möchte mit seinen Zitaten auf die grundlegende ästhetische Einheit hinweisen, in der wir ein bestimmtes Phänomen erleben, bevor wir es durch logisches Analysieren abstrahieren. 56 Vgl. Wiehl (1984), S. 334
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Metaphysische Grundkonzepte
lierung seines Entwurfs eines Erfahrungssubjekts zusammen. Das Erfahrungssubjekt ist die systematische Ausgestaltung seiner Metaphysik, die res vera seiner Philosophie. 57 Für diese res vera verwendet er unterschiedliche Bezeichnungen in verschiedenen Werken, was gewiss mit der Anpassung der Terminologie auf das jeweils behandelte Thema zusammenhängt, aber auch, wie Ford argumentiert, 58 durch eine Entwicklung des Konzepts der res vera innerhalb des Zeitraums von Whiteheads philosophischer Publikationstätigkeit hinweg bedingt sein könnte: Als Beschreibung seiner res vera verwendet Whitehead unter anderem die Begriffe ›primäre Einheit‹ (primary unit), ›epochales Ereignis‹ (epochal occasion), ›wirkliche Tatsache‹ (actual fact) oder ›Ereignis‹ (event), die allesamt das gleiche philosophische Konstrukt bezeichnen, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Da im Fortgang die systematische Untersuchung in Prozeß und Realität wichtig sein wird, soll der dort verwendete Begriff des ›wirklichen Einzelwesens‹ (actual entity) hier für den systematischen Gebrauch übernommen werden. 59 Ein wirkliches Einzelwesen ist die subjektive Einheit der Erfahrung, die durch den steten Gestaltungsdrang der Kreativität entsteht und durch die fortschreitende Synthese der Erfahrungsfaktoren zu einer abschließenden Einheit gekennzeichnet ist. Das Wechselspiel zwischen wirklichen Einzelwesen und der Kreativität ist eines beiderseitiger Abhängigkeit; ohne wirkliche Einzelwesen gäbe es keine Realisierung von Neuem, auf die jeder kreative Impuls hinstrebt. Ohne Kreativität gäbe es keinen Werdensanreiz, keinen Grund für einen Whitehead entlehnt diesen Begriff explizit bei Descartes (PR, xiii/25 sowie PR, 75/ 152) und nutzt ihn als Bezeichnungsform des Wirklichsten. Zur Verwendung des Begriffs der res vera bei Whitehead vgl. auch Lotter (1996), S. 217 ff. 58 Vgl. Ford (1984), S. 51–64 59 Nicht nur verwendet Whitehead unterschiedliche Begriffe für ein bestimmtes Konstrukt seiner Metaphysik, auch ist die deutsche Übersetzung des für Whitehead so zentralen Begriffs der actual entity alles andere als eindeutig, was durch die Unmöglichkeit, in einer Übersetzung alle Facetten des Originalausdrucks – selbst ein Neologismus Whiteheads – einzufangen, bedingt ist. So übersetzt Müller den Begriff als ›Aktuale Entität‹ (Müller (2008), passim), Fetz als ›aktuale Wesenheit‹ (Fetz (1981), passim), Lotter spricht zurückhaltend einfach von dem ›Elementarereignis‹ (Lotter (1996), passim). Nicht, weil es notwendigerweise die beste Übersetzung wäre, sondern weil es eine mit der Übersetzung von Prozess und Realität durch Hans-Günter Holl kohärente Terminologie gewährleistet, wird im Fortgang dessen Übersetzung der actual entity als ›wirkliches Einzelwesen‹ übernommen. 57
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Selbstwerdungsprozess eines wirklichen Einzelwesens, der nicht-kausal, sondern durch das Streben nach Wertverwirklichung in einer ästhetischen Einheit motiviert ist. Der Prozess der Selbstwerdung eines wirklichen Einzelwesens ist die Realisierung des kreativen Impulses durch die Synthese der vielen Objekte der Vorwelt zu einem neuen Subjekt. In dem Wechselspiel zwischen kreativem Impuls und Realisierung des Impulses durch die subjektive Synthese werthafter Erfahrung erkennt Whitehead die eigentliche Dynamik des universellen Prozesses: Wert, von irgendeinem besonderen Superjekt abstrahiert, ist die abstrakte Materie – die hyle –, die allen wirklichen Ereignissen gemeinsam ist; und die synthetische Aktivität, die eine wertfreie Möglichkeit in den auf das Superjekt bezogenen formierten Wert hinein erfaßt, ist die substantielle Aktivität. Diese substantielle Aktivität ist genau das, was bei jeder Analyse der statischen Faktoren in der metaphysischen Situation vergessen wird. Die analysierten Elemente der Situation sind die Attribute der substantiellen Aktivität. (SMW, 165/193) 60
Der von Whitehead in der organistischen Philosophie verwendete Substanzbegriff dient als Beschreibungsform für die elementare Kreativitätsdynamik, nicht für das real wirklichste Existierende 61 – der Substanzbegriff hat bei Whitehead keine ontologische Relevanz, was beispielsweise Maria-Sibylla Lotter dazu gebracht hat, bei Whitehead von einer Sozialontologie im Kontrast zum klassischen Konstrukt der Substanzontologie zu sprechen. 62 Das wirkliche Einzelwesen zeichnet sich durch die Überwindung des Substanzparadigmas aus. Besonders deutlich kritisiert Whitehead das Konzept des cartesischen Substanzdualismus, dem er vorwirft, durch die Trennung der Natur in eine körperliche und eine geistige Substanz eine artifizielle Trennung in die Konzeption der Wirklichkeit einzuführen, die ungerechtfertigt ist und zu einer inkohärenten Abbildung der Wirklichkeit führt (vgl. PR, 6/37). Die Auseinandersetzung mit der cartesischen Position ist eines der, in verschiedenen Kontexten, immer wiederkehrenden Grundthemen in Prozeß und Realität. Deshalb vereinigt das wirkliche EinzelWhitehead verwendet im Originaltext, von Holl in der deutschen Übersetzung übernommen, griechische Termini im griechischen Alphabet. 61 Zu der komplexen Stellung des Substanzbegriffs in Whiteheads Metaphysik vgl. auch Berve (2014b). 62 Vgl. Lotter (1996), S. 108 ff. 60
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Metaphysische Grundkonzepte
wesen die körperliche und die geistige Seite des real Existierenden in seinem Erfahrungsprozess. Die ausführliche Darstellung der psychophysischen Natur des Prozesses der Erfahrungssynthese in Prozeß und Realität muss an dieser Stelle in einer kurzen Übersicht über die Struktur des wirklichen Einzelwesens und die von Whitehead verwendete Terminologie zusammengefasst werden. 63 Der Erfahrungsprozess eines wirklichen Einzelwesens ist ein Prozess der Selbstverwirklichung und wird deshalb auch als ›Konkretisierungsprozess‹ (concrescent process) bezeichnet. Er setzt sich aus vielen einzelnen Erfahrungsakten zusammen, die Whitehead ›Empfindungen‹ (feelings) nennt. Empfindungen haben zwei Pole: Ihre ›objektiven Daten‹ (objective data) sind die wirklichen Einzelwesen, die ihren Werdensprozess bereits vollendet haben – die Vielen der Kategorie des Elementaren. Jedes bereits vergangene wirkliche Einzelwesen dieser Vorwelt wird in der Form, die es während des Prozesses seiner eigenen Selbstwerdung erreicht hat, vom gerade werdenden wirklichen Einzelwesen objektiv erfahren durch ein ›physisches Empfinden‹ (physical prehension). 64 Das ist die körperliche Seite der Erfahrung, über die ein werdendes Subjekt nicht verfügen kann. In der Phase des physischen Empfindens wird radikal die gesamte Vorwelt, also das zu diesem Zeitpunkt existierende Universum, als Menge objektiver Daten aller bereits vergangenen wirklichen Einzelwesen erfahren. Doch diese rein physisch auffassende Tätigkeit ist als Beschreibungsform der Erfahrung ungeeignet, ihr fehlt die Werthaftigkeit, die Whitehead zur ontologischen Grundlage der Erfahrung erheben will. Darum folgt auf jedes physische Empfinden in einer zweiten Phase des Erfahrungsprozesses ein ›begriffliches Empfinden‹ (conceptual prehension), in dem die physisch empfundenen objektiven Daten in ihrer Formbestimmtheit erkannt werden. Der auf diese Weise als Entgegensetzung zu physischen Pol konzipierte mentale Pol umfasst nicht nur den geistigen, ›begrifflich‹ 65 arbeitenden Teil der Erfahrung, sondern auch die Emotionalität. 63 In Prozeß und Realität dient der gesamte III. Teil des Buchs der Darstellung des Erfahrungsprozesses wirklicher Einzelwesen (vgl. PR, 219–280/401–510). 64 Der Begriff der prehension ist, wie viele Begriffe des terminologischen Korsetts von Prozeß und Realität, ein von Whitehead selbst ersonnener Neologismus und schwer zu übersetzen. Er ist offensichtlich vom Begriff der apprehension abgeleitet, soll aber auf noch elementarere Weise das bloße Auffassen, das prä-kognitive Erfassen einer Sache beschreiben. 65 Die Übersetzung von conceptual prehension als ›begriffliches Empfinden‹ ist zwar
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Auf elementarer Ebene macht Whitehead, im Kontrast zu rationalistischen Philosophiekonzeptionen, keinen Unterschied zwischen begrifflicher, konzeptioneller Geistestätigkeit und dem Emotionalen. Dennoch ist die mentale Aktivität des begrifflichen Empfindens als absolut basal zu verstehen. Der mentale Pol eines wirklichen Einzelwesens ist explizit konzipiert als Teil einer Empfindungsdynamik, nicht einer bereits kognitiven Dynamik. Die Werthaftigkeit des begrifflichen Empfindens resultiert in einem emotionalen Wert der Erfahrung des werdenden Subjekts und ermöglicht eine Hierarchisierung der empfundenen Einzelwesen der Vorwelt in einer eigenen Perspektive. Teleologisch ist der subjektive Werdensprozess auf die Akkumulation des größtmöglichen Werts mittels seiner Empfindungen gerichtet, also auf eine maximale Intensität der abschließenden Erfahrung. Whitehead sieht den zuverlässigsten Weg zu Erlebnisintensität in einer Erfahrung, die auf sinnvollen Kontrasten einzelner Empfindungen beruht. Solche Kontraste werden als eine Differenz zwischen verschiedenen Empfindungen verstanden, die aber noch nicht bis zur Inkompatibilität geht. Vielmehr wird die Besonderheit der Formbestimmtheit einer Empfindung in dem Kontrast mit der Formbestimmtheit einer anderen Empfindung vom Subjekt intensiver erfasst. Die Rolle des Kontrasts relational aufeinander bezogener Formbestimmtheiten ist für Whitehead so wichtig, dass er Kontraste als Formen der Kategorie der Existenz auffasst. Da Existenz in der organistischen Philosophie immer als Erfahrungsrealität verstanden wird, sind Kontraste zwischen verschiedenen Formbestimmtheiten eine offensichtliche Tatsache der Erfahrung und damit eine Tatsache der Existenz. Die in einem begrifflichen Empfinden aufgefasste Formbestimmtheit ist die nicht wirkliche, wertfreie, allgemeine zeitlose Seinsmöglichkeit einer bestimmten Form, die das Potential hat, als Form eines jeweiligen Faktes realisiert zu werden. Diese ›zeitlosen Gegenstände‹ (eternal objects) entsprechen den platonischen Ideen, mit einem wichtigen Unterschied hinsichtlich ihres Wirklichkeitsstatus: Während die platonischen Ideen vollkommen wirklich sind und die Instanzen in der zeitlichen Welt lediglich eine ontologisch nachgeordnete Position einnehmen, sind Whiteheads wirkliche Einzelwesen das wirklich Seiende und die zeitlosen Gegenstände lediglich wertfreie, abstrakte allgemeine gut, unterschlägt aber die Nebenbedeutung des Konzipierens, des Einordnens in einen Entwurf, die im englischen Original mitschwingt.
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Metaphysische Grundkonzepte
Möglichkeiten für Verwirklichung, die selbst über keine wirkliche, werthafte Existenz verfügen. Mit den platonischen Ideen teilen sie aber die allgemeine Unbestimmtheit hinsichtlich ihrer Verwirklichung. Jede Realisierung der allgemeinen Idee realisiert sie jeweils nur in einer bestimmten Weise, und diese bestimmte Weise ist die individuelle Perspektive des werdenden Subjekts. Die objektiven Daten der Vorwelt gehen nicht ›objektiv‹ in den Werdensprozess des aktiven Subjekts ein, sondern werden durch das begriffliche Empfinden aus der Perspektive des wirklichen Einzelwesens aufgefasst und hinsichtlich ihrer Relevanz für das subjektive Ziel des Erfahrungsprozesses dieses wirklichen Einzelwesens bewertet. Allgemeine Ideen können von Werdenssubjekten immer nur als jeweils realisierte Form an einer bestimmten Tatsache der Welt erkannt werden. Die Art, auf welche Formbestimmtheiten auf die Realität verweisen, ist die einer Relation allgemeiner Möglichkeiten zu bestimmten Realisierungen. 66 Die Relevanz der objektiven Daten ergibt sich aus der Perspektive des wirklichen Einzelwesens. Das begriffliche Empfinden ist der mentale Pol der Empfindung und vervollständigt das physische Empfinden durch die Wertung der objektiven Daten, wodurch die Empfindung eine werthafte ›ästhetische Tatsache‹ wird und damit auch die von Whitehead proklamierte qualitative Textur der Erfahrung annimmt. Beide Quellen eines Empfindens bezeichnet Whitehead als Objekte des empfindenden Subjekts – die ›objektiven Daten‹ im physischen und die ›zeitlosen Gegenstände‹ 67 im begrifflichen Empfinden. Allerdings haben diese Objekte keine ontologische Realität jenseits ihres Objektcharakters für das werdende Subjekt, sie besitzen also keine autonome Existenz außerhalb des Subjekts, sondern sind die objektive Seite des subjektiven Empfindens. Die Aufteilung der Welt in Subjekt und Objekt ist für Whitehead ein Ergebnis späterer, höherer Phasen des Konkretisierungsprozesses. Vgl. hierzu Michael Hampe, der in dieser Verweisart bereits eine Form der Symbolisierung entdeckt und die Relation allgemeiner Ideen zu partikularer Realisierung als symbolischen Bezug deutet (Hampe (1990), S. 264). 67 Die Übersetzung von eternal object als ›zeitloser Gegenstand‹ ist an dieser Stelle etwas unglücklich, denn im englischen Originalbegriff kommt die Opposition von objektiven Ideen und deren werthafter, subjektiver Realisierung im Werden des wirklichen Einzelwesens noch deutlicher hervor. Für Whitehead ist die ästhetische Werthaftigkeit jeder jeweiligen Realisierung gerade das entscheidende Qualitätsmerkmal der Subjektivität, und die zeitlose, wertfreie Natur von Ideen gibt ihnen in der Entgegensetzung zu dieser Subjektivitätsdefinition gerade einen expliziten Objektcharakter. 66
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Natürlich kann das begriffliche Empfinden nur dann Formbestimmtheiten werten – also ihnen einen relationalen Wert innerhalb des Gesamterfahrungsprozesses zumessen –, wenn es sie in Relation zu anderen Formbestimmtheiten erfasst. Die zeitlosen Gegenstände sind deshalb, auch hierin Platons Konzept einer durchstrukturierten Ideensphäre ähnlich, in einem als vollkommen gedachten Beziehungsgeflecht miteinander objektiv, wertfrei und ohne Abschattungen verknüpft, sodass keine Idee ohne den Verweis auf die Totalität aller Ideen in ihrer umfassenden Allgemeinheit verstanden werden kann. Die Wertung im Empfinden der zeitlosen Gegenstände durch das werdende Subjekt ist eine hierarchisierende Abstufung der miteinander verknüpften zeitlosen Gegenstände hinsichtlich ihrer Relevanz für die Erfüllung des jeweiligen subjektiven Ziels des wirklichen Einzelwesens in seinem Streben nach größtmöglicher Erfahrungsintensität. Jede Analyse einer einzelnen Idee ist eine Abstraktion von dieser idealen Totalität, die von Whitehead als das Äußerste der organistischen Philosophie, als die ›Urnatur Gottes‹ (primordial nature of God) bezeichnet wird. Die jeweilige Perspektive eines wirklichen Einzelwesens, die durch sein subjektives Ziel vorgegeben wird, ist nicht beliebig wählbar. Der Zustand des Universums zum Zeitpunkt des Werdensprozesses eines neuen wirklichen Einzelwesens determiniert die objektive Vorwelt, die das Subjekt während seines Selbstverwirklichungsprozesses empfindet und die das abschließende Empfinden maßgeblich beeinflusst. Da das subjektive Ziel bereits bei Beginn des teleologischen Selbstwerdungsprozesses als Zielvorgabe vorhanden sein muss und, da es die Formmöglichkeit für das werthafte, emotionale Muster darstellt, ein komplexer zeitloser Gegenstand ist, steht Whitehead vor einem methodischen Dilemma. Der Prozess eines wirklichen Einzelwesens soll mit den physischen Empfindungen der Vorwelt beginnen, die in einem weiteren Schritt in den korrespondierenden begrifflichen Empfindungen erst werthaft in ihrer Formbestimmtheit erfasst werden. Die Dynamik des Selbstwerdungsprozesses aber soll durch die teleologische Ausrichtung an dem eigenen subjektiven Ziel bestimmt sein, das von Anfang an besteht und selber ein komplexer zeitloser Gegenstand ist. Die entscheidende Frage, vor der sich Whitehead nun sieht, ist: Wie kann ein Subjekt bereits einen zeitlosen Gegenstand als subjektive Zielvorgabe besitzen, wenn es seinen Selbstverwirklichungsprozess mit dem physischen Empfinden beginnt, in dessen Folge erst das be84 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Metaphysische Grundkonzepte
griffliche Empfinden zur Wertung des physischen Empfindens zeitlose Gegenstände prehendiert? Woher stammt die komplexe Idee des subjektiven Ziels? Zur Lösung dieses Problems konstruiert Whitehead die ›Folgenatur Gottes‹ (consequent nature of God), die, zusammen mit der Urnatur Gottes, den umfassenden Gottesbegriff des metaphysischen Hauptwerks von Whitehead ausmacht. 68 Er merkt selber an, in jeder philosophischen Konzeption gebe es ›Äußerstes‹ (ultimate), das als Letztursache jenseits der Realisierung in seinen Akzidenzien keine Wirklichkeit habe. Während in vielen Philosophien dieses Äußerste der jeweilige Gottesbegriff sei, nehme in seiner organistischen Philosophie die Kreativität jenen Stellenwert ein und Gott sei deren »uranfängliches, unzeitliches Akzidens« (PR, 7/38). 69 Der Gottesbegriff hat also durchaus keine letzterklärende, sondern eher eine funktionale Bedeutung. Bei der Folgenatur Gottes wird das besonders deutlich. Gemäß seinem ›ontologischen Prinzip‹ (ontological principle) kann nur ein wirkliches Einzelwesen Grund oder Bedingung für ein anderes wirkliches Einzelwesen sein. Empfindet das werdende Subjekt also eine komplexe Idee, die es zum teleologischen Maßstab seines Selbstwerdungsprozesses macht, so kann die Quelle dieses Empfindens nur ein anderes wirkliches Einzelwesen sein. Das Einzelwesen, das allen werdenden Subjekten ihr Selbstideal zur Verfügung stellt, ist die Folgenatur Gottes. Darunter versteht Whitehead eine Seite Gottes, die jeden Realisierungsprozess der Welt ohne einschränkende Perspektive und ohne Abschattungen der emotionalen Intensität vollständig aufnimmt und das auf diese Weise aktualisierte Universum mit dem in der göttlichen Urnatur systematisch verbundenen Bereich der allgemeinen Seinsmöglichkeiten abgleicht. Auf diese Weise weiß die Folgenatur Gottes immer, welche weitere Entwicklung auf Grundlage der real beDie Entwicklung des Gottesbegriffs bei Whitehead ist ein komplexes Thema. Für eine Übersicht über den Prozess, der zu der Doppelnatur Gottes in Prozeß und Realität geführt hat, vgl. auch die Interpretation von Lewis Ford: Ford (1984), S. 96–125. Der Gottesbegriff Whiteheads ist in der Forschung zwar sehr ausführlich, aber auch kontrovers rezipiert worden. Eine gute Zusammenfassung der Forschungsdebatte über die Notwendigkeit, Whiteheads Gottesbegriff zu augmentieren, findet sich bei Müller (2008), S. 209–234. 69 Zu der Darstellung der Kreativität als substantiellen Prozess, dessen akzidentelle Verkörperungen in der jeweiligen Realisierung des kreativen Impulses durch wirkliche Einzelwesen bestehen, vgl. auch SMW, 165/193. 68
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
stehenden Bedingungen der bereits gewordenen Vorwelt gegenwärtig möglich wäre. Ein neues wirkliches Einzelwesen prehendiert zu Beginn seines Werdeprozesses die Folgenatur Gottes, die ihm die Seinsmöglichkeiten für sein eigenes subjektives Ziel anbietet. Aus diesen objektiven Möglichkeiten wählt das wirkliche Einzelwesen eine komplexe Idee zu seinem Selbstideal, das zu verwirklichen seinen ganzen Selbstwerdungsprozess ausmachen wird. Die Realisierung des eigenen subjektiven Ziels ist durch die teleologische Ausrichtung auf eine feststehende Endabsicht ohne verbleibende kreative Gestaltungsräume bestimmt; die Wahl des subjektiven Ziels ist das Moment der Freiheit eines wirklichen Einzelwesens. Darauf spielt Whitehead an, wenn er sagt, die Konkretisierung jedes wirklichen Einzelwesens sei »innerlich determiniert und äußerlich frei.« (PR, 27/73) Die äußerliche Freiheit des Subjekts, sich für ein eigenes Selbstideal zu entscheiden, bedeutet zugleich die Freiheit der Entscheidung darüber, welche Elemente der Vorwelt für das eigene Werden relevant sind. Notwendigerweise kommt es in den physischen Empfindungen des gesamten Universums zu Inkompatibilitäten im Erfahrungsprozess, weshalb das Werdenssubjekt diejenigen Empfindungen, die inkompatibel mit relevanten Empfindungen und damit irrelevant für die Realisierung des eigenen subjektiven Ziels sind, vom eigenen Realisierungsprozess ausschließt. Whitehead spricht vom ›negativen Empfinden‹ (negative prehension), in dem zwar das entsprechende objektive Datum der Vorwelt aufgefasst wird und damit die Allverbundenheit des Universums gewahrt bleibt, das Empfinden jedoch keinen Einfluss auf den neuen Werdensprozess des Universums durch Vererbung seiner eigenen, bereits realisierten Formbestimmtheit nimmt. Das subjektive Ziel eines wirklichen Einzelwesens ist nicht nur dasjenige Element, ohne welches die teleologisch gerichtete Dynamik des subjektiven Selbstwerdungsprozesses auf größtmögliche Erfahrungsintensität nicht vernünftig verstanden werden könnte, sondern auch die Zielvorstellung, die werthafte Erfahrung in eine ästhetische Einheit überführt. Der Prozess der subjektiven Erfahrungssynthese ist zugleich die Dynamik, deren Erfüllung die ästhetische Einheit bildet. Wie Whitehead in seiner spärlichen Beschreibung der Ästhetik ausführt, ist ästhetisches Empfinden das Empfinden einer Erfahrungseinheit, aus der heraus in einem folgenden Schritt einzelne Details gesondert herausgehoben werden können. Diese Einheit der Erfahrung ist das Ergebnis des synthetischen Selbstwerdungsprozesses eines wirk86 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik
lichen Einzelwesens, die ästhetische Erfahrung ist das Ziel der Konjunktionsdynamik jedes Werdens. In dem Vektorcharakter des Erfahrungsaktes ist die Bewegung von Disjunktion zu Konjunktion, vom physischen Erfassen distinkter objektiver Daten hin zu einer abschließenden Erfüllung des emotionalen Musters, von den Vielen zu dem Einen, der eine – als Konkreszenz bezeichnete – Teil der Prozessdynamik. Der zweite Teil, von dem Whitehead sagt, er sei für das Verständnis des Universums von gleicher Bedeutung, werde aber in der Gesamtbetrachtung allzu häufig vergessen, ist die ›Übergang‹ (transition) genannte Bewegung vom Einen zu den Vielen, um die Grundlage für weiteres Werden zu schaffen. Erst dieser Übergang vom aktiv werdenden Subjekt zum fertig gewordenen, als objektives Datum für weiteres Werden zur Verfügung stehenden Einzelwesen vervollständigt den Werdensakt. Das gewordene Subjekt, das seinen kreativen Impuls realisiert hat und in die objektivierte Vorwelt übergegangen ist, wird als bloßes objektives Datum für neue Realisierungen neuer kreativer Impulse zum objektiven Datum für weiteres Werden. Im Zusammenspiel von Werden und Vergehen besteht für Whitehead die Gesamtheit jedes kreativen Prozesses, und diese Prozesseinheit ist für ihn nicht das Ergebnis einer theoretischen Konstruktion, sondern die Instanziierung einer in ganzheitlicher Erfahrung fassbaren universalen Dynamik. 70
1.3 Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik ›Der Mensch‹ oder ›das menschliche Subjekt‹ sind keine Begriffe, die in der organistischen Philosophie eine systematische Verwendung erfahren. Dennoch entwickelt Whitehead sein philosophisches Konzept ausgehend von unserer Erfahrung. Aus Sicht einer methodischen Interpretation muss also gefragt werden können: Gibt es anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Prozessphilosophie? Whitehead sieht diese Dynamik in dem Choral »Bleibe bei uns; denn es will Abend werden« (Abide with me; Fast falls the Eventide) (vgl. PR, 209/386) beispielhaft ausgedrückt. Die doppelte Verwendung dieses Zitats im Rahmen der Diskussion des Ästhetikbegriffs und der allgemeinen Beschreibung des wirklichen Einzelwesens zeigt, wie intrikat die beiden Bereiche miteinander verknüpft sind. Das wirkliche Einzelwesen ist in Bezug auf die Qualität seiner Erfahrung in erster Linie als ästhetische Einheit beschreibbar.
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Verwendet man den Anthropomorphismusbegriff, so sollte zunächst geklärt sein, auf welchen Bereich er bezogen wird. Häufig werden sowohl Götter als auch Naturvorgänge anthropomorph betrachtet, es wird also etwas nach dem Abbild des Menschen geformt, das ursprünglich außerhalb der menschlichen Welt liegt. Die Anthropomorphisierung der griechischen Götter wäre ein Beispiel für die erste Form. 71 Bei Whitehead wird ein Anthropomorphismusverdacht von verschiedenen Autoren artikuliert, aber von keiner Seite in Bezug auf seinen Gottesbegriff, sondern auf seine Konzeption wirklicher Einzelwesen. 72 Der Anthropomorphismusverdacht bezieht sich also auf die zentrale Struktur von Whiteheads Metaphysik. Nathaniel Lawrence argumentiert gar, jeder metaphysische Entwurf müsse notwendigerweise anthropomorph sein, da die Sprache der Philosophie anthropomorph beschaffen sei, die Aufgabe der Metaphysik liege darin, den Einfluss der Gefahren solch anthropomorpher Sprechweise zu minimieren. 73 Jenseits dieses philosophisch recht generalisierenden Arguments lassen sich jedoch auch spezifische Faktoren innerhalb des metaphysischen Entwurfs der organistischen Philosophie ausweisen, die den Zusammenhang zwischen menschlicher Erfahrung und metaphysischem Konzept als eine anthropomorphe Eigenschaftsübertragung problematisieren. Der methodische Ausgangspunkt der Philosophie Whiteheads ist die Sammlung von Erfahrung, von deren empirischer Basis ausgehend jede Theoriebildung auszugehen hat. Auch das erklärte Ziel von Prozeß und Realität ist, ein Interpretationsmuster für »jedes Element unserer Erfahrung« in der Form von »Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke« (PR, 3/31) zu sein. Zwar spricht Whitehead an dieser Stelle von Im Rahmen dieses Abschnitts soll der Anthropomorphismus als philosophischer Begriff untersucht werden, also als eine philosophische Dynamik systematischer Eigenschaftsübertragung. Anthropomorphismen aus dem Alltagsgebrauch, etwa die karikaturhafte Vermenschlichung von Tierfiguren, sollen in dieser strukturellen Verwendung des Anthropomorphismusbegriffs explizit nicht berücksichtigt werden. 72 Zur Diskussion anthropomorpher Strukturen in Whiteheads Philosophie hat die Forschung bisher nur sporadisch Stellung bezogen. Für Abhandlungen über das Thema vgl. etwa Spaemann (1986), Lawrence (1961), Fetz (1981), und ausführlich: Wiehl (1984), Wiehl (1986), und Wiehl (2007). Alle genannten Autoren beziehen ihren Anthropomorphisierungsverdacht gegenüber Whitehead auf die Übertragung genuin menschlicher Eigenschaften auf Naturprozesse, niemals auf eine Anthropomorphisierung des Gottesbegriffs. 73 Vgl. Lawrence (1961), S. 155 71
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Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik
›unserer‹ statt von ›menschlicher‹ Erfahrung, aber die bezeichneten Erfahrungsmengen dürften deckungsgleich sein. Programmatisch betrachtet, begründet die auf dem Erfahrungsbegriff beruhende Vorgehensweise der organistischen Philosophie also eine komplexe Interdependenz zweier Erfahrungsebenen: Die menschliche Erfahrung wird zum Ausgangspunkt der philosophischen Konzeption gemacht, und die in der Theorie gefundene ontologische Beschreibungsform dient in ihrer terminologisch eindeutig strukturierten Form wiederum als Interpretationsfolie der menschlichen Erfahrung. Da der Erfahrungsakt gemäß dem Erfahrungskonzept des Pragmatismus als das einzig Wirkliche verstanden wird, ist diese methodische Zirkulärbewegung konsequent. Die menschliche Erfahrung ist nicht nur methodischer Ausgangspunkt der Theoriebildung, sondern auch ihr letztlich einziges relevantes Explanandum, da die menschliche Erfahrungsdimension die einzige Verbindung ist, die wir zum Universum haben. Durch seinen Anschluss an die Position des radikalen Empirismus kennt Whitehead keine der Erfahrung äußere und begrenzende Instanz mehr. Die Aufspaltung der Welt in Subjekt und Objekt wird in Whiteheads Erfahrungsbegriff zugunsten eines universalen Erfahrungssubjekts aufgehoben; es gibt schlechthin nichts, was unabhängig vom Erfahrungssubjekt Wirklichkeit hätte. Dabei ist die objektive Welt aber, wie Whitehead meint im Unterschied zu Kant, 74 keine theoretische Konstruktion, sondern als Vorwelt realer Bestandteil des subjektiven Erfahrungsakts. Ist die Erfahrung des menschlichen Individuums also der einzig relevante Ausgangspunkt der Philosophie und alles anscheinend Objektive ein Produkt des die Realität konstituierenden Erfahrungsaktes, dann muss jede philosophische Bestimmung der Welt letztlich eine Extrapolation der menschlichen Erfahrung sein. Die menschliche Erfahrung ist der Ausgangspunkt jeder Theoriebildung, und die Welt lässt sich nur anhand der auf sie übertragenen Erfahrungsstrukturen verstehen: Der Mensch hat sich Schritt für Schritt aus den niedrigsten Lebensformen entwickelt und muß deshalb durch Begriffe erklärt werden, die auf alle Lebensformen anwendbar sind. Aber warum muß das so sein, warum muß man Whitehead meint bereits in der programmatischen Selbstbeschreibung seines philosophischen Vorhabens, »Die Kantische Lehre von der objektiven Welt als theoretischem Konstrukt aus rein subjektiver Erfahrung« sei eine für den Philosophiegebrauch zurückweisungswürdige »Denkgewohnheit« (PR, xiii/24).
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
die späteren Formen in Analogie zu den früheren verstehen? Warum sollte man diesen Verstehensprozeß nicht umkehren können? Es erschiene mir vernünftiger und als die echtere empirische Feststellung, wenn man es jeder Gattung von Lebewesen überließe, die in lebenden Organismen wirksamen Faktoren auf ihre eigene Weise zur Erscheinung zu bringen. (FR, 11/15)
Whitehead wählt ausdrücklich einen anthropomorphierenden Analogieschluss zum notwendigen Ausgangspunkt seiner philosophischen Methode. Reiner Wiehls These, die organistische Philosophie arbeite mit einem Instrumentarium von Analogieschlüssen, 75 lässt sich auf den methodischen Theorieursprung hervorragend anwenden. Diese Feststellung zur Methodik gilt auch dann, wenn man annimmt, das eigentliche Interesse Whiteheads habe im Bereich des Anorganischen gelegen und die eigentliche Leistung seiner Philosophie bestünde in der Interpretation des Anorganischen durch aus dem Bereich menschlicher Erfahrung gewonnene Paradigmen. 76 Aufgrund der ontologisch entscheidenden Bedeutung des Erfahrungsbegriffs in der organistischen Philosophie bei gleichzeitigem explizitem Verzicht auf die kantische Position einer Welt, deren ontologischer Gehalt lediglich als Sein für das Subjekt begriffen wird, ist die Anthropomorphisierung der Weltprozesse zugleich Whiteheads Antwort auf das Problem der Epistemologie – in der radikalen Einheit der Welt im Erfahrungsprozess eines wirklichen Einzelwesens sieht Whitehead die Möglichkeit, die Frage nach dem Erkenn- und Wissbaren bereits auf der Ebene der Metaphysik zu behandeln, da keine erkenntnistheoretisch zu überbrückende Trennung zwischen der subjektiven Erfahrung und der objektiven Außenwelt besteht (vgl. PR, 190/352 f.). 77 Diese ontologische Einheit kann Whitehead behaupten, indem er das Grundcharakteristikum der Sammlung menschlicher Er-
Vgl. Wiehl (1984) S. 321 Vgl. Spaemann (1986), S. 169 f. Spaemann beschäftigt sich nicht mit dem methodischen Problem der Übertragung von menschlicher Erfahrung auf Naturprozesse. Er spricht breiter von einer allgemeinen Übertragung von Eigenschaften des Organischen auf das Anorganische, und verwendet konsequenterweise nicht den Begriff ›Anthropomorphismus‹, sondern ›Biomorphismus‹. 77 Whitehead entwickelt selber keine explizit als Epistemologie ausgewiesene Theorie, und wenn er den Terminus verwendet, dann zumeist als Beschreibungsform für philosophische Theorien anderer Denker, von denen sich seine philosophische Konzeption absetzen soll (Vgl. etwa PR, 48/107, 54/117, 76/155, 94/185). 75 76
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Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik
fahrung, die den Ausgangspunkt seiner Philosophie bildet, zum universalen ontologischen Paradigma erhebt. Das Organismusparadigma ist eine andere Facette des methodischen Anthropomorphismus in der organistischen Philosophie. Insofern der Organismusbegriff spezifisch biologisch als Gegenbegriff zum Anorganischen verstanden wird, ohne das Bedingungsverhältnis des Organischen als paradigmatisch aus der menschlichen Erfahrung abgeleitet miteinzubeziehen, kann man auch von einem Biomorphismus sprechen. Tatsächlich ist schon bei der Untersuchung seiner philosophischen Methode deutlich geworden, wie wenig den Naturwissenschaftler Whitehead der naturwissenschaftliche Fachbereich der Biologie motiviert; auch der Organismusbegriff wird, wenngleich ganz offenbar aus dem Sprachgebrauch der Biologie entlehnt, nicht auf die mesoskopische Ebene der Organismen, also die Ebene des Menschen, bezogen, sondern in einem doppelten Sinn als makroskopische Beschreibungsform des Universums und als mikroskopische Beschreibungsform der wirklichen Einzelwesen verwendet; die Anthropomorphisierung der mikroskopischen Prozessebene geht einher mit einer funktionalen Enteignung des mesoskopischen Organismusbegriffs. Die Erklärung der Wirklichkeit als des Resultats elementarer Werdensprozesse lässt erkennen, wie sehr Whiteheads naturwissenschaftliches Interesse auf den Bereich der Physik ausgerichtet ist. Sowohl seine Metaphysik als auch die Fachrichtung der Physik streben danach, eine elementare Grundeinheit der Wirklichkeit zu beschreiben. In beiden Fällen sind die postulierten Grundeinheiten – ob wirkliches Einzelwesen oder Atome, Elektronen, Quanten – zu abstrakt, um vom Menschen auf der kognitiven Ebene bewusst wahrgenommen werden zu können. Tatsächlich bezieht sich Whitehead, wenn er einmal ein konkretes Beispiel für ein wirkliches Einzelwesen geben möchte, gerne auf den Bereich physikalischer Teilchen. So definiert er etwa, wie gesehen, die ästhetische Erfahrung als »Realisierung eines Kontrasts unter der Bedingung der Identität«, und begründet das Wechselspiel zwischen Kontrast und Identität mit physikalischen Schwingungen auf atomarer Ebene: Physische Quantitäten sind also Aggregate von physischen Schwingungen, und physische Schwingungen bringen unter den Abstraktionen der Physik das Grundprinzip der ästhetischen Erfahrung zum Ausdruck. (RM, 116/88)
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Die langjährige Auseinandersetzung mit der zu seiner Zeit aktuellen Forschungslage der Physik lässt sich auch den Interessensfeldern von Whiteheads metaphysischer Konstruktion noch anmerken. Wenn man das Konstrukt der wirklichen Einzelwesen als philosophische Antwort auf die Beschränkungen naturwissenschaftlicher Letzterklärungsversuche sehen möchte, so ist die Überwindung der objektiven Beobachterperspektive der Physik in der Anthropomorphisierung der elementaren Weltprozesse zu finden. Statt die Eigenschaften der Weltprozesse in physikalischen Messungen äußerer Faktoren zu bestimmen, werden die aus der Analyse der eigenen Erfahrung gewonnenen allgemeinen Eigenschaften des Erfahrens auf die Textur der Weltprozesse übertragen und die Beobachtung der größtenteils anorganischen Welt durch den lebendigen Erfahrungszusammenhang von Weltprozessen ersetzt, die nach dem Vorbild menschlicher Organismusparadigmen gestaltet sind. Die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt und die daraus resultierende Methode, Objektzusammenhänge »objektiv« von außen zu betrachten, ohne die Bedingtheit der eigenen subjektiven Perspektive zu berücksichtigen, ist einer der Hauptpunkte, gegen die sich Whiteheads ›Kritik der Abstraktionen‹ (critic of abstractions) richtet. In der Relativitätstheorie sieht Whitehead einen Rückbezug der Physik auf das Subjektivitätsprinzip, woraus er eine methodische Parallele zwischen der modernen Physik und seiner metaphysischen Konzeption ableitet. 78 Obwohl Whiteheads ontologisches Konzept das Resultat einer methodischen Anthropologisierung ist, lässt sich sehr wohl die These vertreten, seine Intention sei eigentlich die Begrenzung einer naiven Gleichmacherei der Welt nach dem Abbild der menschlichen Erfahrung gewesen, zugunsten einer auf nuancierte Binnendifferenzierung und Intensitätsabstufung angewiesenen Universalkonzeption, die mit der menschlichen Erfahrung nur die allgemeinsten, grundlegenden Eigenschaften teilen soll und in ihrer schließlichen Ausformulierung noch Distinktionsmerkmale oder zumindest Gradationsunterschiede zwischen der menschlichen Perspektive und einfachen Naturvorgängen zulässt. Der Wertbegriff ist die generalisierte Qualität von Erfahrungslebendigkeit, von welcher menschliche Wertvorstellungen lediglich einen seltenen und komplizierten Sonderfall bilden. 79 Auch andere 78 Vgl. das Kapitel Relativität in Wissenschaft und moderne Welt (SMW, 113–127/ 137–153) 79 Vgl. Lawrence (1961), S. 155
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Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik
Fachtermini Whiteheads, besonders in Prozeß und Realität, universalisieren eine der genuin menschlichen Erfahrung entlehnte Qualität und postulieren die uns lebensweltlich vertraute Perspektive als Sonderfall dieser nun allgemeinen Eigenschaft des Weltprozesses. Dorothy Emmet erachtet es als eine natürliche philosophische Reaktion, diese Form der Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der organistischen Philosophie als eine »pathetic fallacy« zu verstehen. 80 Dabei ist den in dem ontologischen Entwurf verwendeten Begriffen die Absicht anzumerken, sich von der menschlichen Erfahrung zu distanzieren und einen allgemeineren Standpunkt einzunehmen. Insofern auf diese Weise die ursprünglichen, explizit menschlichen Erfahrungsqualitäten nur noch als abgeleitete und von ontologisch grundlegenderen Erfahrungseigenschaften als Sonderfall vermittelte Eigenschaften der Erfahrung verstanden werden können, wird Robert Spaemanns Vorwurf, die Ontologie Whiteheads sei »eine Form von Reduktionismus«, verständlich. 81 Auch Whiteheads Nutzung von Neologismen als Grundbegriffe seiner Kosmologie kann tatsächlich als die spezifische Absicht interpretiert werden, die direkte Assoziation uns menschlich allzu vertrauter Umstände mit manchmal schon zu häufig verwendeten und verbrauchten Begriffen zu vermeiden. Beispielsweise verzichtet Whitehead auf den Substanzbegriff, weil dieser bereits auf zu viele metaphysische Entwürfe verweist, von denen Whiteheads Konzept sich abheben soll. Viele Neologismen der organistischen Philosophie sind Herleitungen aus anderen Begriffen, die auf diese Weise bisher noch nicht verwendet wurden und ein frisches Konzept bezeichnen. So ist etwa im englischen Originaltext sein neologistischer Begriff der prehension für die Beschreibung physischen und begrifflichen Empfindens eindeutig abgeleitet von der gängigen Vokabel der apprehension (etwa: Verstand oder Auffassungsgabe), aber doch leicht abgewandelt, um durch die Unterbrechung der sprachlichen Routine auf die grundlegendere, einfachere Funktionsweise der prehension hinzuweisen, die in der deutschen Übersetzung mit dem auf eine basale Aktivität verweisenden Terminus ›erfaßte Information‹ (vgl. z. B. PR, 22/63), im Kontrast zum Begriff der ›Auffassung‹ (apprehension) gut wiedergegeben ist. Die Diskussion um den Anthropomorphismusbegriff in Whiteheads Kosmologie erfordert, die gegenseitig aufeinander verweisenden 80 81
Vgl. Emmet (1966), S. 143 Vgl. Spaemann (1986), S. 179
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1. Teil – Grundstrukturen der organistischen Philosophie
Ebenen der menschlichen Erfahrung und der ontologisch fundamentalen einfachen Erfahrung adäquat in beide Richtungen nachzuvollziehen. Die Absolutsetzung des Erfahrungsbegriffs erfordert auf methodischer Ebene nicht nur, von der menschlichen Erfahrung auszugehen und fundamentale strukturelle Gemeinsamkeiten der ontologischen Grundbegriffe mit den Qualitäten unserer Erfahrungssammlung auszuweisen, sondern zugleich auch, in der Beschreibung der ontologischen Strukturen der Welt ein Interpretationsschema zu konzipieren, das unsere Erfahrungen – also in radikaler Bedeutung alles, was als Ausgangsmaterial einer kosmologischen Konzeption zur Verfügung steht – als explanandum der Theorie begreift. Die Aufgabe der Theorie besteht in der Bereitstellung eines Interpretationsschemas, das »jedes Element unserer Erfahrung […], dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind« (PR, 3/31), in Hinblick auf dessen Relevanz für den metaphysischen Gesamtzusammenhang verständlich macht. Man müsste von dem philosophischen Konzept erwarten können, »daß es seine konkret-paradigmatische Erfüllung in der höchsten Form unserer Selbst- und Werterfahrung gewinnt«. 82 Für eine methodische Schließung des auf einem radikalen Erfahrungsbegriff beruhenden Systems muss Whitehead also der ontologischen Reduktion auf allgemeine Grundeigenschaften durch eine Konzeption der von uns als unmittelbare Alltagsrealitäten erlebten spezifisch menschlichen Erfahrungsqualitäten« entgegenwirken, sodass sie als Sonderfälle des allgemeinen ontologischen Konzepts aufgefasst werden können. Die Spannweite der Phänomene menschlicher Erfahrung, die in der fundamentalen allgemeinen Konzeption des wirklichen Einzelwesens noch nicht ausgewiesen sind, ist recht groß, auch, wenn es keine geschlossene Liste noch einer Erklärung bedürftiger Begriffen geben kann. Unmittelbar evidente Phänomene wie etwa Bewusstsein und Selbstbewusstsein, Reflexion, Denken, Wollen, moralische Verantwortung und einen Ich-Begriff muss die organistische Philosophie als spezielle Ausformungen des ontologischen Grundkonzepts noch erklärbar machen können. Zusammenfassend lässt sich sagen: Es ist legitim, den Anthropomorphismusbegriff zu verwenden, um die organistische Philosophie zu beschreiben. 83 Whitehead gebraucht eine anthropomorphisierte Aus82 83
Spaemann (1986), S. 179 Diese Position wird in der Forschungsliteratur nicht einhellig geteilt. Stephen Ross
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Zwischenfazit: Anthropomorphe Strukturen in Whiteheads Metaphysik
drucksweise, um auf ontologisch fundamentaler Ebene die Eigenschaften der wirklichen Einzelwesen bestimmen zu können. Der Status des Menschen in der Gesamttheorie ist nicht eindeutig festgelegt; die menschliche Erfahrung dient als Ausgangspunkt der Theoriebildung und führt zu einer verallgemeinernden Anwendung ihrer spezifischen Qualitäten auf den metaphysischen Bereich der Elementarereignisse, auf die das Organismusparadigma übertragen wird. Dabei bleibt aber zunächst offen, wie die notwendige methodische Doppelbewegung vollendet werden soll: Die menschliche Erlebniswelt dient als Ausgangssituation zu einer anthropomorphisierenden Weltbeschreibung, deren Ziel es ist, für die menschliche Erfahrung in allem Umfang ein Interpretationsmuster zur Verfügung zu stellen, die den Erfahrungsbereich des Menschen als Sonderfall einer allgemeinen ontologischen Qualität der Welt begreift. In erheblicher Weise relevant zur Beurteilung seines kosmologischen Entwurfs ist daher die Frage, inwieweit Whitehead in der Lage ist, den Menschen im vollen Umfang seiner Erfahrungsmöglichkeiten als eine funktionale Einheit auszuweisen, als einen facettenreichen Spezialfall des allgemeinen metaphysischen Schemas. Viele Whiteheadinterpreten sehen ein Hauptproblem der organistischen Philosophie in ihrer Unfähigkeit, dieser Anforderung gerecht zu werden. Der Mensch werde in der organistischen Philosophie nicht als individuelles Subjekt, als der Höhepunkt anthropomorpher Strukturen, verstanden, sondern als ein Kollektiv, eine Gesellschaft vieler elementarer Subjekte, sodass aus dem Konzept des menschlichen Individuums ein öffentlicher Raum wirklicher Einzelwesen werde, aus deren komplexen Zusammenhängen und Interdependenzen sich jene bloß indirekt als komplexer Nexus beschreibbare Einheit des Menschen nur unzureichend erklären lasse. 84 Dieser Vorwurf lässt sich nur nach einer umfassenden Untersuchung der verschiedenen Erklärungsansätze höherer Geistestätigkeit in der organistischen Philosophie behanwiderspricht der Interpretation der organistischen Philosophie als einer anthropomorphisierenden Kosmologie, wenngleich er ihr eine gewisse Plausibilität nicht absprechen will (vgl. Ross (1983), S. 107). 84 Vgl. vor allem Fetz (1981), der ein passioniertes Plädoyer für den aristotelischen Wesensbegriff hält und Whiteheads Konzept, das morphologische Konzept der Substanzontologie durch seine Theorie der elementaren dynamischen Prozesse zu ersetzen, als für eine adäquate Beschreibungsform des Menschen unzulänglich ablehnt. Auch Spaemann (1986) sieht in der Beschreibung des Menschen in der organistischen Philosophie systematisch bedingte Defizite.
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deln, in denen Whitehead sowohl den Zusammenhang der menschlichen Erlebenswelt mit dem Beziehungsgefüge der Naturprozesse als auch ihre Sonderrolle adäquat berücksichtigen möchte.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
2.1 Vernunft 2.1.1 Grundlagen des Whitehead’schen Vernunftbegriffs Zeitnah zu Prozeß und Realität publizierte Whitehead 1929 den kleinen Band Die Funktion der Vernunft, Resultat einer Vortragsreihe an der Princeton University. Ziel des Buchs ist, den Vernunftbegriff in Breite und Tiefe zu untersuchen. Die eminente Geschichtlichkeit des Begriffs bringt Whitehead dazu, bereits im Einstieg auf die mannigfaltigen Kontexte hinzudeuten, innerhalb derer die Vernunft traditionellerweise diskutiert worden ist, und auf die Notwendigkeit zu verweisen, solche philosophischen Grundbegriffe für moderne philosophische Entwürfe zu interpretieren: Es gibt eine Vielzahl von Stichworten, die uns an spezielle Kontroversen im Zusammenhang mit der Bestimmung der wahren Funktion der Vernunft erinnern: Glaube und Vernunft – Vernunft und Autorität – Kritikvermögen und Vorstellungskraft – Vernunft, Handeln, Zweck – wissenschaftliche Methodik – die Philosophie und die Einzelwissenschaften – Rationalismus, Skeptizismus und Dogmatismus – Vernunft und Empirismus – Pragmatismus. Jede dieser Redewendungen läßt etwas von der Reichweite der Vernunft und von den ihr gesetzten Grenzen erkennen. Und außerdem deutet die Vielfalt der in ihnen angesprochenen Themen darauf hin, daß unser Gegenstand sich nicht auf eine saubere und kurze verbale Formel bringen lassen wird. (FR, 1/5)
Offensichtlich steht für die Untersuchung nicht allein die Frage im Mittelpunkt, was genau das Phänomen der Vernunft sei. Wichtiger scheint zu sein, wie man den Vernunftbegriff kontextualisiert und im Zusammenhang mit welchen philosophischen Problemstellungen er entwickelt wird. Die Leitfrage von Die Funktion der Vernunft lautet also im doppelten Sinn: Was ist die Vernunft und wozu dient die Ver97 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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nunft? Funktions- und Wesensbestimmung der Vernunft sind nicht voneinander trennbar. 1 Unmittelbar zu Beginn des Buchs wird diese Frage vorausgreifend zweifach beantwortet. Die einleitende Zusammenfassung beschreibt die Vernunft im Kontext einer kosmologischen Betrachtung als Gegenbegriff zu der Vorstellung der zunehmenden Entropie des Universums: Die Vernunft ist die Selbstdisziplin, die sich die schöpferisch-hervorbringende Komponente der Geschichte auferlegt. Wo es Eingriffe der Vernunft nicht gibt, wirkt sich diese Komponente anarchisch aus. (FR, i/3)
Im direkten Anschluss an diese Stelle, zu Beginn des ersten Kapitels, wird der Vernunftbegriff in einer vorläufigen Definition auf einer anscheinend ganz anderen Ebene behandelt: »Die Funktion der Vernunft besteht darin, daß sie die Kunst zu leben fördert.« (FR, 2/6). Statt eine Verknüpfung mit dem kosmologischen Entwurf zu entdecken, fühlt man sich hier eher an das aristotelische Eudaimonia-Konzept erinnert, das bezeichnenderweise nicht in der Physik oder Metaphysik beheimatet ist, sondern in der Nikomachischen Ethik. Und auch inhaltlich lehnt sich die Whitehead’sche Definition an das Konzept des ›guten Lebens‹ als Ziel menschlichen Handelns an: »Die Kunst zu leben besteht darin, daß man erstens überhaupt lebt, zweitens auf eine befriedigende Weise lebt und drittens einen noch höheren Grad von Befriedigung erreichen kann.« (FR, 5/9) 2 Das Zusammenfassen dieser verschiedenen Lösungsansätze in einem übergreifenden Vernunftbegriff drängt die Frage auf, ob der Terminus ›Vernunft‹ in der organistischen Philosophie eine konsistente Bedeutung hat oder ob sich hier nicht eine klare Einsicht in Whiteheads Intention öffnet, unter dem Dach eines umfassenden Vernunftkonzepts die Vielfalt der empirisch fassbaren Vernunft- und Erfahrungsformen zu bewahren. 3 Tatsächlich ist die Spannweite der Konzepte, die Vgl. Kann (2001), S. 71. Im englischen Text steht das Wort satisfaction an der Stelle, die hier mit ›Befriedigung‹ übersetzt wurde. Terminologisch entspricht die satisfaction in diesem Zusammenhang der satisfaction, die in der systematischen Beschreibung des wirklichen Einzelwesens in Prozeß und Realität mit ›Erfüllung‹ übersetzt wurde. Der Begriff der ›Erfüllung‹ wäre in diesem Kontext sicherlich sowohl terminologisch konsequent als auch inhaltlich angebrachter als der Begriff der ›Befriedigung‹. 3 Zur These, Whitehead berabsichtige, den Reichtum von Vernunfterfahrungen unter einem einheitlichen Oberbegriff zu zusammenzufassen, vgl. Hampe (1998), S. 46 f. 1 2
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Vernunft
Whitehead in seinem Verständnis der Vernunft abgedeckt wissen möchte, ziemlich groß. Dabei wird der Vernunftbegriff als Oberbegriff zweier Erscheinungsformen der Vernunft verstanden, der praktischen Vernunft und der theoretischen Vernunft. Als Sinnbilder der beiden Vernunftformen führt Whitehead zwei Figuren der griechischen Geschichte an, Platon als Verkörperung der theoretischen und Odysseus als Verkörperung der praktischen Vernunft (vgl. FR, 7/11). Dass nur einer der beiden tatsächlich gelebt hat, der andere hingegen eine Sagengestalt ist, wird explizit in Kauf genommen – die beiden Figuren dienen als Symbole jeweiliger Vernunftformen, als »didaktische Hilfsmittel« 4 , um veranschaulichend in einem Bild darzustellen, was definitorisch nicht auf eine kurze verbale Formel zu bringen ist. Bei einer Aufspaltung des Vernunftbegriffs in eine praktische und eine theoretische Vernunft liegt der Vergleich zu Immanuel Kants doppeltem Vernunftbegriff nahe. Whitehead orientiert sich jedoch keineswegs eng an Kants Fragestellung: Was kann ich erkennen? oder Was soll ich tun? sind keine ausreichenden Unterscheidungsmerkmale seiner Vernunftbegriffe. Auch sind beide Vernunftarten nicht dichotomisch voneinander getrennt. Man wird Whiteheads Ansatz ernst nehmen müssen, der die beiden Spielarten der Vernunft nicht unter Rekurs auf ihre konkreten Aufgabenstellungen einführt, sondern vermittels der symbolischen Stellvertreterfiguren des Platon und des Odysseus. Diese beiden werden nicht als hinsichtlich ihrer Programmatik streng voneinander getrennt vorgestellt, sondern differieren in Bezug auf die Orientierung ihrer Vernunftart: Odysseus teilt die »Vernunft der Füchse«, Platon hingegen teilt die »Vernunft der Götter« (FR, 7/11). Da beide Figuren für komplex handelnde Menschen stehen, kann ihre Natur keineswegs völlig im Gebrauch des einen Vernunftaspekts getrennt von dem jeweils anderen erklärt werden. Wie Whitehead anmerkt, lassen sich in der Alltagserfahrung beide Vernunftbegriffe letztlich nicht so scharf voneinander trennen, wie seine Schematisierung auf den ersten Blick den Anschein erweckt, vielmehr erscheinen sie uns in der Beobachtung immer in einem – mehr oder minder ausgeprägten – Wechselspiel (vgl. FR, 30 f./34). Aufgrund der von Whitehead in den beiden Stellvertreterfiguren gewählten Darstellungsform bietet sich die Interpretation an, die gewählte Vorgehensweise ziele nicht so sehr darauf ab, eine strenge Definition der Ver4
Sölch (2011), S. 13
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nunft zu geben, sondern vielmehr anhand beider Beispiele die Funktionsweise der Vernunft in zwei verschiedenen Formen zu explizieren. 5 Odysseus und Platon stehen symbolisch für einen schwerpunktartig gänzlich unterschiedlichen Gebrauch der Vernunft, eben in der Art der praktischen »Vernunft der Füchse« und der theoretischen »Vernunft der Götter«. Hier deutet sich schon an, was den Menschen in seinem Vernunftgebrauch von anderen die praktische Vernunft verwendenden Wesen unterscheidet: Gemäß unserem Kenntnisstand ist nur am Menschen die Verschränkung und das Zusammenspiel von praktischer und theoretischer Vernunft zu beobachten. Den Vernunftbegriff entwickelt Whitehead aus seiner grundlegenden Definition, Aufgabe der Vernunft sei, zu leben, gut zu leben und schließlich besser zu leben. In dieser zunächst recht abstrakten Setzung, die er im Kontext der Diskussion des Evolutionsbegriffs vornimmt, wird anfänglich nichts Spezifischeres gesagt, als dass jedes Lebewesen die natürliche Anlage hat, sich teleologisch auf ein Ziel hin zu verhalten und seine Umwelt entsprechend zu verändern. Die Parallele zum metaphysischen Konzept des wirklichen Einzelwesens, dessen subjektives Ziel darin besteht, eine größtmögliche Intensität des Erlebens zu realisieren, drängt sich regelrecht auf. Als grundlegende Bestimmung der Vernunft versteht Whitehead gerade das teleologisch gerichtete Interagieren mit der Umwelt: Die Funktion der Vernunft besteht primär darin, daß sie diesen Angriff auf die Umwelt lenkt und leitet. Anders ausgedrückt besagt diese erste Schlußfolgerung, daß die Vernunft ein Faktor in unserer Erfahrung ist, der das Anstreben eines Ziels, das in unserer Vorstellung, aber noch nicht in der Wirklichkeit besteht, leitet und kritisch korrigiert. (FR, 5/9)
In dieser basalen Erstbestimmung werden praktische und theoretische Vernunft noch nicht unterschieden. Allerdings ist fraglich, ob die Anfangsdefinition genügt, um die Funktion der Vernunft ausreichend zu bestimmen. Tatsächlich möchte Whitehead den Vernunftbegriff erklären, indem er die anfängliche Definition im weiteren Verlauf der Arbeit »veranschaulicht, transformiert und erweitert« (FR, 2/5) – dann innerhalb der Trennung in praktische und theoretische Vernunft. Diese methodische Vorgehensweise hat zu der These geführt, Whitehead wolle überhaupt nicht von der einen Funktion der Vernunft sprechen, son5
Vgl. Kann (2001), S. 72.
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Vernunft
dern halte eine Unterteilung des Vernunftbegriffs in verschiedene Funktionsweisen für den angemessenen Umgang mit dem Thema. 6 Sind aber Funktions- und Wesensbestimmung ineinander verschränkt, hieße die Annahme verschiedener Funktionsweisen der Vernunft zugleich die Annahme verschiedener Wesensbestimmungen, die in einem allgemeinen Oberbegriff der Vernunft zusammengefasst sind. Die strukturelle Trennung der Vernunft in einen praktischen und einen theoretischen Teil setzt Whitehead an der Stelle an, an der die Ziele der Vernunfttätigkeit – also das, worauf die Vernunft absieht – thematisiert werden: Wir können die Vernunft einmal als eine der Manifestationen betrachten, die zum Bestehen eines tierischen Organismus gehören, und zum anderen können wir sie abstrakt, als etwas, das von irgendwelchen organischen Lebensvorgängen völlig losgelöst ist, betrachten. (FR, 6/10)
Die Aufgabelung der Vernunft in die zwei von Odysseus respektive Platon symbolisierten Vernunftaspekte findet sich nicht zufällig an der Stelle, in der zugleich die erste funktionale Differenzierung vorgenommen wird. Als zunächst einmal natürlicher erscheint diejenige Vernunft, die der Erhaltung des tierischen Organismus zugehört, die odysseische Vernunft. Mühelos lässt sich hier ein Faden zurück durch die Evolutionsgeschichte denken, der in das basale Überlebensverhalten einfacher tierischer Organismen übergeht und, da Whitehead zwischen lebenden Organismen und anorganischen Gesellschaften keine kategorial trennscharfe Unterscheidung einzieht, nach unten hin bis in die Grundlagen des Verhaltens von Wesenheiten schlechthin übergeht. Ob dieser Vernunftaspekt überhaupt scharf abzugrenzen ist von einer Grundkraft auf der Ebene eines allgemeinen metaphysischen Geltungsanspruchs, lässt sich nicht eindeutig klären. Immerhin positioniert sich Whitehead, wenn er in der Einleitung von der Vernunft als Gegenkraft zum anarchischen Moment des Universums spricht, nicht nur im Bereichsumfeld eines anthropologisch relevanten Begriffs, sondern auf der Ebene einer kosmologischen Erklärung. So erscheint die odysseische Vernunft als die natürliche Vernunftart, aus deren Funktion und Form heraus sich die platonische Vernunft begreifen lässt – während sich die Ursprünge der odysseischen, praktischen Vernunft bis zu den Anfängen der Millionen Jahre alten Entwicklung zuneh6
Vgl. Kann (2001), S. 71.
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mend komplexerer Lebewesen zurückverfolgen lassen, soll die platonische, theoretische Vernunft erst mit der Entwicklung höherstehender menschlicher Zivilisationen beginnen (vgl. FR, 31 f./35). Die Unmöglichkeit, die basalen Dynamiken jedes Weltprozesses von den Einflüssen der grundlegenden Formen der Vernunft zu trennen, hat Rolf Lachmann zu der Aussage gebracht, die Vernunft liefere keine Inhalte, sondern sei das Moment der Kritik von Inhalten, die ihr vorliegen. 7 Darin drückt sich das Bestreben aus, die Vernunft nicht als außerhalb der Natürlichen liegende Kraft zu begreifen, sondern in den Naturzusammenhang einzuordnen. Whitehead versucht, das Besondere der Vernunfttätigkeit im Vergleich zu basalen, vorvernünftigen Weltprozessen zu verstehen, indem er Aufgabe und Funktion der Vernunft aus metaphysischen Grundeigenschaften jedes wirklichen Werdens des Universums herleitet. Ein fundamentales Konzept der organistischen Philosophie ist die Zurückweisung der ›leeren Existenz‹ (vacuous existence), also passiver Materie, die Whitehead für eine unzulässige Abstraktion der empirischen Fakten hält. 8 Die dynamischen Prozesse vermeiden jede eigene Passivität, indem sie als teleologisch auf die eigene Vollendung hin orientiert verstanden werden: Wenn wir aber diesen Begriff der leeren Existenz aufgeben, müssen wir uns das fundamental Wirkliche, den realen Vorgang, als etwas vorstellen, das einen eigenen Zweck anstrebt und erreicht. Die ganze Existenz des realen Vorgangs besteht darin, daß er sich die ihn konstituierenden Komponenten im Hinblick auf seine Zwecksetzung vergegenwärtigt. (FR, 24 f./28 f.)
Insofern das Innewerden der eigenen Zweckursache, der eigenen teleologisch gerichteten Intentionalität, das genuine Moment der Lebendigkeit eines Weltprozesses verkörpert, ist die Vernunft eine intensivierte Form der Lebendigkeit – sie ermöglicht dem werdenden Subjekt, die spezifischen Bedingungen und Begrenzungen seines eigenen Werdens durch die natürlichen Gegebenheiten der Umwelt zu erkennen und darauf mit einer eigenen Zielsetzung zu reagieren: Eine wirklich befriedigende Theorie des Kosmos wird erklären müssen, auf welche Weise Wirk- und Zweckursachen miteinander verwoben sind. […] Vgl. Lachmann (1994), S. 105. Zur Rolle der unzulässigen Abstraktion z. B. passiver Materie in der Kritik Whiteheads am traditionellen Substanzbegriff vgl. auch Berve (2014b).
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Diese beiden Aktivitätssphären sollten miteinander verwoben sein und sich wechselseitig voraussetzen; aber keine von ihnen sollte der anderen willkürlich Grenzen setzen. Die Funktion der Vernunft über kurze Distanz [der Vernunft des Odysseus – d. Verf.] besteht in der kritischen Wertung und im Hervorheben derjenigen untergeordneten Naturzwecke, die Agenzien der Zweckverursachung sind. In dieser Form ist die Vernunft ein pragmatisches Agens, die praktische Verkörperung des Strebens, das bloße Existieren in ein gutes Existieren, und das gute Existieren in ein besseres Existieren umzuwandeln. (FR, 22 f./26 f.)
Whiteheads Widerstand gegen die ›leere Existenz‹ passiver Materie verweist auf den Kern seines metaphysischen Konzepts des wirklichen Einzelwesens, in dem die unhintergehbare Doppelnatur jedes realen Faktes im Universum mit einem physischen und einem mentalen Pol einen zentralen Stellenwert besitzt. Das begriffliche Empfinden des mentalen Pols ist nicht nur ein bloßes Aufgreifen der physischen Fakten, sondern ist immer begleitet von »Emphase, Wertung und Zwecksetzung« (PR, 108/210). Zwecksetzungen sind Bestandteil der Perspektive jedes wirklichen Einzelwesens, die Perspektive jedes Werdens schließt immer einen Blick auf die Zukunft mit ein: Im physischen Erleben sind die Formen das, was seine Beschaffenheit bestimmt; im psychisch-geistigen Erleben verknüpfen die Formen den unmittelbar gegenwärtigen Vorgang mit dem, was jenseits von ihm in der Zukunft liegt. Sein zweckgerichtetes Streben verbindet das unmittelbar gegenwärtige Faktum mit der Zukunft. Die höheren Formen des bewußt-intellektuellen Erlebens entstehen nur dort, wo psychisch-geistiges und physisches Erleben auf komplexe Weise integriert und re-integriert werden. Dann tritt die Vernunft als Kritik an bestimmten zweckgerichteten Strebungen in Erscheinung, gleichsam als ein Psychisch-Geistiges zweiter Ordnung, als das zweckgerichtete Streben nach bestimmten zweckgerichteten Strebungen. (FR, 26/30)
Offensichtlich sieht Whitehead keinen kategorisch trennscharfen Unterschied zwischen der Aufgabe der Zwecksetzung, die durch die Vernunft in ihren Funktionen ausgeführt wird, und der Zwecksetzung, die er bereits auf der Ebene jedes Weltprozesses verortet. Die Verschiebung der zweckgerichteten Strebung auf eine Meta-Ebene ist der für Whitehead charakteristische Schritt, um höhere geistige Ebenen im Kontrast zu einfachen, allgemeinen mentalen Operationen zu beschreiben; höherstehende geistige Prozesse zeichnen sich in der organistischen Philosophie oft dadurch aus, dass sie einfache mentale Ope103 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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rationen reflektieren und so zu neuen, stärkeren Kontrasten führen. Wenn Whitehead die Vernunft als ›zweckgerichtetes Streben nach zweckgerichteten Strebungen‹ versteht, erhebt er die Vernunfttätigkeit nicht kategorisch, aber aufgrund ihrer praktisch explizierbaren Komplexität auf eine höhere Stufe als die allgemeine mentale Tätigkeit wirklicher Einzelwesen. Interessanterweise ist in dem in Prozeß und Realität ausgeführten Gedankengang die Zwecksetzung der höheren geistigen Ebenen nicht das Resultat einer allgemeinen Zwecksetzung auf metaphysisch-fundamentaler Ebene, sondern umgekehrt sogar deren Ausgangspunkt. Die allgemeinen ›physischen Zwecksetzungen‹ (physical purposes) erklärt Whitehead im direkten Anschluss an die Darstellung der höheren Phasen der bewussten Wahrnehmung als einfachere Form der Zwecksetzung, die ohne Propositionen auskommt. 9 Dabei leitet er ganz offensichtlich den allgemeinen Begriff der Zwecksetzung, der in jedem wirklichen Einzelwesen wirken soll, von der Erfahrung der Zwecksetzung in der menschlichen Erfahrung her: ›Physische Zwecksetzungen‹ begründen einen Typ vergleichender Empfindungen, der primitiver ist als der Typ der intellektuellen Empfindungen. Im allgemeinen scheint es, als seien intellektuelle Empfindungen in dem Sinne vernachlässigbar, daß sie nur in außergewöhnlichen wirklichen Einzelwesen Bedeutung erlangen. […] Wir wissen, daß es auf der Oberfläche dieser Erde einige wenige Einzelwesen mit intellektuellen Empfindungen gibt; und da sind wir, was zeitliche Einzelwesen angeht, mit unserer Weisheit am Ende. (PR, 275 f./501)
Das hier formulierte Dilemma lässt auf eine Kernfunktion schließen, die der Begriff der ›praktischen Vernunft‹ in der Philosophie Whiteheads übernehmen soll. Während der Geltungsbereich der organistischen Philosophie sich auf alle Prozesse der Welt erstrecken soll und damit allen ihren terminologischen Begriffen eine universale Bedeutung zukommt, ist die Erfahrungsgrundlage, von der ausgehend wir allgemeine Theorien aufstellen, auf unsere menschliche Erfahrung beschränkt. Im Fall der Vernunft als Agens der Zwecksetzung ist der Zwiespalt besonders pointiert, denn neben der methodischen Aufgabe, eine Ausgangsbasis für eine Universaltheorie zu stellen, wird die Vernunft als Explikation der menschlichen Geistestätigkeit auch selbst thematisiert. Lewis S. Ford interpretiert die ›physischen ZwecksetzunZu physischen Zwecksetzungen vgl. PR, 275–277/501–504. Der Propositionsbegriff wird in dieser Arbeit in einem eigenen Kapitel behandelt.
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gen‹ als die fundamentalen, allen Weltprozessen gemeinen Zwecksetzungen, auf die gestützt Whitehead die komplexeren Formen der bewussten menschlichen Zwecksetzung erst aufgebaut habe. 10 Damit beschreibt er zwar die funktionale Dynamik der Whitehead’schen Metaphysik korrekt, die, von den allgemeinen Eigenschaften des wirklichen Einzelwesens ausgehend, spezielle Formen der Erfahrung bestimmt, übersieht aber die genetische Dynamik des Whitehead’schen Denkens, das von der menschlichen Erfahrung ausgeht und schließlich bei der allgemeinen Theorie ankommt. Diese Doppelbewegung bestimmt die Aufgabe, derer sich in Die Funktion der Vernunft vor allem die praktische Vernunft annehmen soll. Einerseits soll der Vernunftbegriff einen bereits mit alltäglichem Vorverständnis aufgeladenen Begriff für mentale Operationen, der in seiner Funktionsweise dem Leser vertraut genug ist, um statt einer formalen Definition durch symbolische Stellvertreterfiguren expliziert zu werden, auf die Ebene einer allgemeinen kosmologischen Erklärung bringen. Andererseits soll der Vernunftbegriff eine Rückvermittlung von den metaphysisch grundlegenden Weltprozessen zu den komplexeren Formen mentaler Operation leisten und einen speziellen, explikatorisch herauspräparierten Satz an Funktionsweisen des menschlichen Geistes metaphysisch fundiert beschreiben. Der Nuancenreichtum, den Whitehead in den gleitenden Übergängen auf dem Feld der geistigen Aktivitäten gesehen hat und die Schwierigkeit einer treffenden Terminologisierung werden aus den verschiedenen Beschreibungsansätzen für Zwecksetzungen, Intentionalität und Reflexion als mentale Operationen in Die Funktion der Vernunft und Prozeß und Realität deutlich. Praktische und theoretische Vernunft, physische Zwecksetzungen und intellektuelle Empfindungen beschreiben und segmentieren einen höchst komplexen Gegenstandsbereich.
2.1.2 Theoretische Vernunft und Aufgabenbereiche des Vernunftbegriffs Erst im Anschluss an die allgemeine Beschreibung der Vernunftfunktion kommt Whitehead zu einer Beschreibung der theoretischen Vernunft, der Vernunft Platons, die dieser »mit den Göttern« teile. Ein 10
Vgl. Ford (1984), S. 212.
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Problem der Darstellung in Die Funktion der Vernunft ist die Uneindeutigkeit, mit der zuweilen die scharfe Trennung zwischen den verschiedenen Vernunftbegriffen verwischt wird, weshalb unklar bleibt, ob es sich um die theoretische oder praktische Vernunft handelt oder um beide. 11 So bezieht die Definition der Vernunft als Agens der Zweckursachen sich zunächst auf die Vernunft insgesamt, später jedoch spezifisch auf die praktische Vernunft (vgl. FR, 21 f./25 ff.). In der Herleitung der praktischen Vernunft aus den organischen Anfängen bis hinauf zum Menschen betont Whitehead vor allem das organisch aus der Natur erwachsende Moment der in Verbindung mit dem Körper stehenden Vernunft »der Füchse«, die auf Lebenssicherung bedacht ist und ihre Zweckursachen aus der Interaktion mit der Umwelt gewinnt. Schon die Bezeichnung als ›füchsische‹ Vernunft weist sie als nicht genuin menschliche, sondern biologisch weit allgemeinere mentale Operation aus, die sich im Naturzusammenhang vielfach beobachten lässt. Die theoretische Vernunft, die Vernunft Platons, wird erst im zweiten Kapitel umfassend thematisiert und definiert sich nicht aus dem Naturzusammenhang heraus, sondern vielmehr im Gegenteil in ihrer Absetzung von der praktischen Vernunft. Konsequenterweise teilt Platon seine Vernunft nicht mit den Füchsen, sondern mit den Göttern. Die platonische Vernunft zeichnet sich dadurch aus, dass sie »über die praktischen Aufgaben der Alltagswelt« erhaben ist: Sie strebt – mit interesseloser Neugier – danach, die Welt zu verstehen; und nichts, was geschieht, ist ihr fremd. Was sie vorantreibt, ist der fundamentale Glaube, daß sich jede Einzeltatsache als Exemplifikation der allgemeinen Prinzipien, die ihr Wesen und ihren Status unter den übrigen Einzeltatsachen bestimmen, verstehen lässt. Ihre Funktion erfüllt sich darin, eine solche Einsicht zu erreichen; und es ist ihre einzige Befriedigung, das Erleben verstanden zu haben. (FR, 29 f./33)
Die ›Neugier‹ der theoretischen Vernunft bezieht sich auf ihr Streben danach, allgemeine Eigenschaften der Welt zu entdecken. Eine allgemeine Einsicht muss losgelöst sein von der Partikularität der eigenen subjektiven Perspektive, die Odysseus’ praktische Vernunft stets dazu Vgl. zu diesem Punkt auch Kann (2001), S. 72. Dort wird mit Recht auf die unkritische Übernahme der begrifflichen Unschärfe in der Sekundärliteratur hingewiesen. Ob die bisweilen unsaubere Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft zu der verhältnismäßig geringen Beachtung dieses Begriffspaares in der Whiteheadrezeption beigetragen hat, kann nur vermutet werden.
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Vernunft
motiviert, das eigene Leben zu fördern und zu gestalten und Zwecksetzungen zu finden, die dem eigenen Wohlergehen förderlich sind. So ist der Begriff der ›Interesselosigkeit‹ 12 ebenso wichtig in der Beschreibung der theoretischen Vernunft, denn er definiert im Zusammenspiel mit der Neugier eine Gegenbewegung zu der vom Interesse für die eigene Person geleiteten Vernunft des Odysseus. Dieses Eigeninteresse wird nicht durch weitreichende Neugier begleitet und strebt nach nichts anderem, als auf pragmatischer Ebene unmittelbar anstehende Aufgaben zu lösen. Damit eine durch diese praktische Vernunft beschlossene Aktion nicht jedes Mal vollständig reflektiert und an allgemeinen Einsichten abgeglichen werden muss, sondern wirklich praktisch-zügig ausgeführt werden kann, handelt die praktische Vernunft nach einer Methode, die das Ergebnis bisheriger Erfahrungen des handelnden Subjekts ist und dadurch gerechtfertigt ist, dass sie bisher gut funktioniert hat. Auf diese Weise müssen künftige Probleme den bereits Bewältigten in gewisser Weise ähneln, denn der Erwartungshorizont der praktischen Vernunft ist auf das Feld, das sie in ihrer eigenen Methode umreißt, begrenzt. Eine Methode sorgt für Stabilität, strebt teleologisch nach Stabilität als Erfüllung ihres Zieles und bescheidet sich mit Stabilität auf Kosten aller über die Stabilitätserhaltung hinausgehenden Neugier: Das urtümliche, tiefsitzende, mit seinen Wurzeln in eine unübersehbare Vergangenheit reichende Gefühl der Befriedigung, das die Betätigung der Vernunft mit sich bringt, wird durch das eindrucksvolle Klarwerden einer Methode verursacht, die einem bei unmittelbar anstehenden praktischen Aufgaben weiterhilft. Die Methode funktioniert, und die Vernunft ist zufriedengestellt. Es existiert kein Interesse, das über den unmittelbaren Anwendungsbereich der Methode hinausreicht – was, genaugenommen, eine zu gemäßigte Aussage ist. Es existiert nämlich ein aktives Interesse, die forschende Neugier innerhalb des Anwendungsbereichs der Methode festzuhalten; und jede Niederlage dieses Interesses löst ein emotionales Widerstreben aus, das die Offenheit gegenüber der Erfahrung zum Verschwinden bringt. (FR, 13/ 17 f.)
12 Im englischen Original steht ›disinterested‹ an der Stelle von ›interesselos‹. Zwar ist die naheliegende Übersetzung von ›interest‹ tatsächlich ›Interesse‹, doch schwingen im englischen Wort auch noch die Bedeutungen von ›Teilnahme‹ und ›Vorteil‹ mit, in spezifischer ökonomischer Bedeutung auch ›Zinsen‹. ›Disinterested‹ muss also zumindest partiell stets auch als Abwesenheit von Eigeninteresse verstanden werden.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Der Umriss, den Whitehead der praktischen Vernunft in seinem philosophischen Entwurf geben will, wird an den Dimensionen des Methodenbegriffs deutlich. Hergeleitet wird der Begriff von seiner Verwendung im wissenschaftlichen Kontext, soll sich aber in einer zweiten Bedeutung auch im Sinn einer ›Lebensmethode‹ (methodology of life) verstehen lassen (vgl. FR, 14/18) – eine starke terminologische Dehnung. Offensichtlich ist Whitehead in seinem Entwurf des Vernunftbegriffs vor allem an dem Aufweis einer Struktur gelegen, die beide Bedeutungsebenen in einen Funktionszusammenhang zu bringen vermag. Auch die theoretische Vernunft als Komplementärbegriff der praktischen Vernunft wird sich, da sie im Zusammenspiel mit dieser verstanden wird, auf ebenjene beiden Bereiche erstrecken. Denn die praktische Vernunft allein genügt nicht, um den Vernunftbegriff ausreichend zu beschreiben, die Lebensmethode allein erschöpft das Phänomen der Lebendigkeit nicht: Wo eine Lebensform sich stabilisiert hat, gibt es keinen Platz für die Vernunft; und die sie beherrschende Methode bringt nichts Neues mehr hervor, sondern nur noch Wiederholungen. Die Vernunft ist das Organ, das das Neue hervorhebt. Sie gibt dem in der Idee Verwirklichten durch ihr Urteil den Nachdruck, mit dessen Hilfe es zur Verwirklichung in der Zielsetzung und schließlich zur Verwirklichung im Faktischen kommt. (FR, 15/19 f.)
Für einen vollständigen Funktionszusammenhang der Vernunft führt Whitehead an dieser Gelenkstelle die theoretische Vernunft ein. Mit interesseloser Neugier allgemeine Erkenntnis um ihrer selbst willen zu suchen, ist auf funktionaler Ebene eine der Hauptaufgaben der theoretischen Vernunft. Die nicht an Eigeninteressen gebundene theoretische Vernunft übersteigt den Horizont der eigenen, subjektiv empfundenen Partikularität und vermag so, den Übergang von der bereits bestehenden in eine neue Methode zu bewerkstelligen. Darin erweist sie sich als Agens des Neuen; eines Neuen, das vielleicht noch nicht realisiert ist oder gegenwärtig realisiert werden kann, aber als Möglichkeit zur Verwirklichung auf die Zukunft vorausweist. Aufgrund ihrer interesselosen, auf Erkenntnisgewinn gerichteten Neugier nennt Whitehead diese Vernunftform auch die ›spekulative Vernunft‹ (speculative reason) (FR, 30/34). Im Kontrast zur praktischen Vernunft, die als evolutionäre Grundkraft bis an die Wurzeln der Entwicklungsgeschichte des Universums zurückreicht, verortet Whitehead die spekulative Vernunft in 108 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Vernunft
ihren Anfängen sehr konkret, für ihn fallen der Beginn der Zivilisation und der Beginn der spekulativen Vernunft zusammen. Ihr wirklicher Durchbruch sei der Vernunft des Platon mit den Griechen gelungen, denn diese »haben die Mathematik und die Logik entdeckt und auf diese Weise Methode in die Spekulation gebracht.« (FR, 32/35 f.) Auch die spekulative Vernunft soll also mit einer eigenen Methode vorgehen, wenngleich der Methodenbegriff nicht mehr, wie in der praktischen Vernunft, als Lebensmethode ausgelegt wird. Stattdessen bezieht er sich auf »Mathematik und die Logik«. Tatsächlich scheint es für Whitehead eine Analogie zwischen der Funktionsweise der Logik und der Funktionsweise einer Methode zu geben. Wie bereits im ersten Kapitel geschildert, versteht Whitehead die Logik als ein Erkenntnisinstrument, das eines Fundaments des gesunden Menschenverstandes bedarf, auf dem es aufbauen kann. In diesem Sinne ist die Logik auch eine – wenngleich ausgezeichnete – Methode. Welche Logik als Methode der spekulativen Vernunft verwendet wird, hängt vom jeweils behandelten Gegenstand ab. Whitehead als Autor der Principia Mathematica ist die richtige Autorität, um vor der monolithischen Sprechweise der einen Logik zugunsten einer Vielfalt verschiedener Logiken zu warnen und damit einer Pluralität möglicher Methoden der spekulativen Vernunft das Wort zu reden. Das Verständnis des Methodenbegriffs der spekulativen Vernunft ähnelt dem Verständnis des Methodenbegriffs der praktischen Vernunft. Der Unterschied zwischen dem methodischen Streben der spekulativen Vernunft nach allgemeinen Prinzipien und dem aus Eigeninteresse in der eigenen Methode Verharren der praktischen Vernunft wird durch den Methodenbegriff nicht ausreichend beschrieben. Auffällig an dieser Darstellung der spekulativen Vernunft ist der Unterschied zur Darstellung der praktischen Vernunft. Spürt Whitehead bei der Definition der praktischen Vernunft einigen vagen allgemeinen Eigenschaften – Zwecksetzung und intentionaler Reaktion – bis in die tiefsten Verästelungen der Geschichte des Organischen nach, so richtet sich seine Vorgehensweise bei der Beschreibung der spekulativen Vernunft in die diametral entgegengesetzte Richtung: Die spekulative Vernunft soll sich nicht nur strukturell in ihrer Absetzung von der praktischen Vernunft bestimmen, sondern auch inhaltlich in ihrer Absetzung von undeutlicheren Vorformen. Zwar gesteht Whitehead auch der indischen und chinesischen Zivilisation einen gewissen Anteil an der Urheberschaft an der spekulativen Vernunft zu, 109 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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doch spielen Mathematik und Logik für ihn eine derart entscheidende Rolle, dass er den Ursprung der spekulativen Vernunft fast ausschließlich bei den Griechen sucht. Der Grund hierfür liegt in seiner Zielsetzung, denn er möchte die spekulative Vernunft, wie die zweite Hälfte von Die Funktion der Vernunft zeigt, vor allem als Fundierung einer Kritik der Wissenschaftsmethodik nutzen. Die begriffliche Ähnlichkeit zwischen ›spekulativer Vernunft‹ und ›spekulativer Philosophie‹ ist kein Zufall. Interessanterweise beginnt Whitehead die Geschichte der spekulativen Vernunft an dem Zeitpunkt, an dem er meint, sie entwickle sich von der spontanen Eingebung zur ›Methode der Spekulation‹. Ihn interessiert nicht das Phänomen der Inspiration und der Phantasie als evidente geistige Eigenschaft des Menschen und deren Herleitung aus der metaphysischen Gesamttheorie, sondern die systematische Nutzung der organistischen Philosophie in einer Methode, was letztlich auf eine Theorie der wissenschaftlichen Methodik hinauslaufen wird: Sie [die spekulative Vernunft – d. Verf.] wurde dadurch aus der ausschließlichen Abhängigkeit von mystischen Visionen und phantasievollen Mutmaßungen befreit und konnte sich nach einer Methode weiterentwickeln, die ihr selbst entstammte. Von nun an produzierte sie nicht mehr einzelne Urteile, sondern Systeme – Systeme statt Inspirationen. (FR, 32/36)
Da die spekulative Vernunft nicht als menschliche Grundeigenschaft, sondern als Methode des Denkens verstanden wird, koppelt sich ihr Verständnis an das Verständnis der wissenschaftlichen Umgebung, in der sie sich entwickelt, und damit an die Wissenschaftsgeschichte. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass der Vernunftbegriff bei Whitehead, insofern die spekulative, dezidiert menschliche Vernunft gemeint war, als eine »Funktion der Geschichte« 13 interpretiert wurde. In Abenteuer der Ideen verwendet Whitehead den gleichen Vernunftbegriff und die gleiche Charakterisierung der Wissenschaftsgeschichte als Teil seines Konzeptes der menschlichen Zivilisation (vgl. AI 141/278 f.). Tatsächlich wird die spekulative Vernunft sowohl in Die Funktion der Vernunft als auch in Abenteuer der Ideen vor allem im Kontext ihrer Einbindung in den Prozess der wissenschaftlichen Methodik thematisiert, im letzteren Fall und auch in Denkweisen als Bestandteil in den größeren Zusammenhang der Zivilisationsbildung und -entwicklung eingebettet. 13
Lachmann (1990), S. 105; der Interpretation folgt auch Kann (2001), S. 84.
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Vernunft
Obwohl er in Denkweisen den Vernunftbegriff nicht erwähnt, legt Whitehead ihn mit dessen Doppelcharakter von praktischer und theoretischer Vernunft zweifelsfrei implizit zugrunde, wenn er die Aufgabe der Philosophie erklärt. Hier ist die spekulative Seite der Vernunft sogar konstitutiv für den Zivilisationsbegriff: Systematisierung ist die Kritik an Verallgemeinerungen mit Hilfe von Mitteln, die aus der Spezialisierung der Wissenschaften herrühren. Sie setzt eine geschlossene Gruppe erster Ideen voraus. Andererseits ist Philosophie die Inanspruchnahme von Begriffen großer, angemessener Allgemeinheit. Solch eine Denkgewohnheit ist das eigentliche Wesen der Zivilisation. […] Zivilisierte Wesen sind diejenigen, welche die Welt mit einer gewissen weiten Allgemeinheit des Verstehens überblicken. (MT, 3 f./48)
Whiteheads Zivilisationsbegriff sollte an dieser Stelle nicht allzu soziologisch aufgefasst werden, sondern eher naturalistisch. Das zivilisierte Wesen zeichnet sich für ihn vor allem durch seine Bereitschaft zu produktiver Ordnung aus; die spekulative Vernunft als Methode des Denkens ist zivilisiert, weil sie die anarchischen Neuerungsimpulse bändigt, deren Sprunghaftigkeit eine Gefahr für strukturierte Ordnungen darstellt. So dient die spekulative Vernunft in ihrer zivilisatorischen Funktion als Korrektiv für das destruktive Potential von ›mystischen Visionen und phantasievollen Mutmaßungen‹ : »Die Vernunft ist das, was die rohe Kraft der anarchischen Strebungen zivilisiert.« 14 Die strukturierende Kraft der spekulativen Vernunft mag gegenüber der rohen Zerstörungsgewalt anarchischer Urkräfte gering wirken, doch verbindet Whitehead im Konzept der subtil wirkenden Vernunftkraft durchaus die zivilisationsgestaltende wie auch die natursteuernde Vernunft in einer zusammenfassenden Bildvorstellung: Die Vernunft kann mit der Gravitationskraft verglichen werden, der schwächsten aller natürlichen Kräfte, letztlich aber der Schöpfer von Sonnen und stellaren Systemen, jener riesigen Gesellschaften des Universums. (S, 69 f./128)
Die hochentwickelte Form einer systematischen Methode zur Gewinnung allgemeiner, abstrakter Wahrheiten, in der die spekulative Vernunft Verwendung findet, prädestiniert sie zwar für eine wissenschaftstheoretisch geeignetes Konzept, nimmt ihr aber zugleich die Möglichkeit, als grundlegende, allgemeine anthropologische Eigen14
FRd 32 / FR 28.
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schaft verstanden zu werden. Ganz im Gegenteil, spricht Whitehead sogar ausdrücklich davon, wie selten eine Einsicht in die Notwendigkeit der spekulativen Vernunft ist: Es gibt eine ihrer Sache gewisse moralische Intuition, daß die spekulative Einsicht um ihrer selbst willen einer der Grundbestandteile des guten Lebens ist. Auf ihr beruht die leidenschaftliche Forderung nach uneingeschränkter Gedankenfreiheit. Aber im Gegensatz zu anderen moralischen Empfindungen ist diese Intuition nicht bei allen Menschen vorhanden. Beim größeren Teil der Menschheit flackert sie nur schwach und hin und wieder auf. Es sind bedeutende Einzelne, die sie von Generation zu Generation weitergereicht haben, Gestalten, denen unsere uneingeschränkte Verehrung gebührt. (FR, 30/34)
Es sind also wenige, große Geister, die jene hochstufige Vernunft Platons verkörpern. 15 Damit behandelt Whitehead die spekulative Vernunft nicht im Rahmen ihrer Funktion für das Leben des einzelnen menschlichen Individuums, sondern im Rahmen ihrer Bedeutung für menschliche Gemeinschaften. Der Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis selbst ist unpersönlich auf allgemeine, abstrakte Wahrheiten gerichtet und ihre Bedeutung erkennt Whitehead in ihrem Einfluss auf die Ausgestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders innerhalb einer Zivilisation anhand zivilisatorischer Ideale: »Wissenschaft und Kunst bilden gemeinsam ein vom Bewußtsein gelenktes Streben nach Wahrheit und Schönheit.« (AI, 272/474) Auch, wenn er ihre Funktion auf der Ebene der zivilisatorisch relevanten Wissenschaftstheorie verortet, versteht Whitehead natürlich die spekulative Vernunft ihrer Struktur nach ebenfalls als mentale Operation des Menschen und lässt eine genetische Analyse ihrer Struktur, analog zur Analyse der praktischen Vernunft, auf der Ebene des Erfahrungsprozesses eines Prozesssubjekts zu. Die Funktion der spekulativen Vernunft wird von Whitehead auf unterschiedliche Weise, etwa als das Streben nach der Erkenntnis allgemeiner Prinzipien anstelle partikularer Erfahrungen, beschrieben. Im Kontrast zu der eng mit dem Körperlichen verbundenen und auf den Erhalt des eigenen Körpers fixierten praktischen Vernunft soll die spekulative Vernunft völlig von der Sphäre des Körperlichen unabhängig sein und ihr Ziel ist nicht auf den Erhalt des eigenen Organismus gerichtet, sondern auf die Einsicht um ihrer selbst willen. Diese EinDiese Auffassung findet sich bei Whitehead an verschiedenen Stellen, z. B. auch in AI, 92/210.
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sicht hat notwendigerweise einen gewissen Abstraktionsgrad. Alle diese Beschreibungsformen lassen an die Eigenschaften der zeitlosen Gegenstände denken, die in Prozeß und Realität systematisch ausgeführt werden. Die spekulative Vernunft ist auf den Bereich der Ideen ausgerichtet und unterscheidet sich damit von der praktischen Vernunft, die sich auf die pragmatische Bewältigung ihrer Realität konzentriert. Da beide Vernunftformen sich auf einen Aspekt des mentalen Pols jedes wirklichen Einzelwesens fokussieren, erschöpfen sie jeweils auch den Umfang der geistigen Tätigkeit von Werdeprozessen nicht, sie betonen lediglich eine durch besondere Aufmerksamkeit ausgeprägte Facette des mentalen Pols. Whitehead nennt die sich ergänzenden Funktionen der praktischen und der theoretischen Seite der Vernunft ein »Wechselspiel zwischen Denken und Praxis« (FR, 64/66). Für die abschließende Empfindung eines wirklichen Einzelwesens muss die Vorwelt immer eine Rolle spielen, zugleich erschöpft sich der mentale Pol eines wirklichen Einzelwesens niemals vollständig in dem Erfassen der physischen Bedingungen seines Werdens. Auf diese Weise erklärt sich der seltsame Stellenwert des Vernunftbegriffs, der mehr Explikations- als Definitionscharakter hat. Die beiden Stellvertreterfiguren des Odysseus und des Platon stehen symbolisch für jeweils eine bestimmte Vernunftform, weil sich beide Begriffe in einer Analyse des metaphysischen Grundkonzepts anhand der Whitehead’schen Systematik nicht als definierte Strukturen der Kosmologie ausweisen lassen, sondern auf eine in genetischer Analyse nicht vollständig systematisch herleitbaren Weise für unterschiedliche Gewichtungen des mentalen Pols stehen. Ist die Verbindung der beiden Vernunftformen zum allgemeinen kosmologischen Entwurf Whiteheads zumindest in gewissem Grade als symbolisch zu verstehen, drängt sich die Frage auf, ob die Vernunft Platons, die dieser »mit den Göttern« teile, nicht auch eine symbolische Ähnlichkeit zum Gottesbegriff, den Whitehead systematisch vor allem in Prozeß und Realität, aber auch in Wissenschaft und moderne Welt sowie in Wie entsteht Religion? entwickelt, aufweist. An dieser Stelle kann wegen des komplexen und sich, über verschiedene Publikationen Whiteheads hinweg betrachtet, ändernden Charakters seines Gottesbegriffs kein Platz für eine umfangreiche Behandlung auf diese Frage sein, aber eine gewisse Vermutung lässt sich begründen. 16 16
Für einen guten Überblick über den Gottesbegriff und dessen Entwicklungsschritte
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Die etwas nach Scholastik klingende Frage, ob oder in welcher Form Gott Vernunft hat, wird bei Whitehead nicht thematisiert; der Gottesbegriff wird in Prozeß und Realität in Hinsicht auf die Bestimmung seines Stellenwertes innerhalb der organistischen Philosophie am umfassendsten behandelt, aber in diesem Werk spielt der Vernunftbegriff keine Rolle. Allerdings hat der Gott der organistischen Philosophie eine Doppelnatur, deren beide Seiten unterschiedliche Eigenschaften besitzen, die sich durchaus auch auf die mentalen Kapazitäten der jeweiligen Gottesseite beziehen: Einer Seite von Gottes Natur liegt seine begriffliche Erfahrung zugrunde. Diese Erfahrung ist die uranfängliche Tatsache der Welt, die durch keine vorausgesetzte Wirklichkeit begrenzt wird. Sie ist deshalb unendlich, bar aller negativ erfassten Informationen. Diese Seite seiner Natur ist frei, vollständig, uranfänglich, zeitlos, es fehlt ihr an Wirklichkeit und an Bewußtsein. Die andere Seite entsteht zusammen mit physischer Erfahrung, die sich von der zeitlichen Welt herleitet, und wird dann mit der uranfänglichen Seite integriert. Sie ist bestimmt, unvollständig, folgerichtig, ›immerwährend‹, vollständig wirklich und bewußt. (PR, 345/616 f.)
Die Folgenatur Gottes hat explizit Bewusstsein. Da Gottes Folgenatur von Whitehead als wirkliches Einzelwesen verstanden wird (vgl. PR, 87/174), kann auch in Hinsicht auf die Aktivität des mentalen Pols eine von Seiten Whiteheads zumindest tolerierte Analogie zu der Funktionsweise des mentalen Pols in Weltprozessen vermutet werden. Die Dynamik der bewusst handelnden Folgenatur Gottes und der spekulativen Vernunft des Menschen ähneln sich in einer Hinsicht tatsächlich: Beide entstehen auf der Grundlage physischer Erfahrungen, streben aber nach der allgemeinen begrifflichen Einsicht in die Ideen. Die Folgenatur Gottes erreicht in der Integration mit der vollständigen Ideeneinsicht der göttlichen Urnatur dieses Ziel, während die spekulative Vernunft lediglich partielle Einsichten gewinnen kann. Dennoch stimmen die Bewegungsrichtungen beider Operationen überein. Unter diesem Aspekt betrachtet, kann man Whiteheads Aussage, die spekulative Vernunft sei »mit der der Götter verwandt« (FR, 7/11) 17 durchaus systematisch in einem metaphysischen Kontext begründen. im Verlauf des Gesamtwerks von Whitehead vgl. auch Müller (2008), besonders S. 117– 139. 17 Im englischen Originaltext wird die Ähnlichkeit der menschlichen und göttlichen Vernunft noch stärker betont, denn dort heißt es »Plato […] shares Reason with the
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2.1.3 Stellenwert und Kritik des Vernunftbegriffs in Whiteheads Philosophie Bei dem Versuch, Whiteheads Vernunftbegriff innerhalb seines philosophischen Entwurfes zu kontextualisieren, fällt zunächst ein Unterschied zu der Bedeutung auf, die der Terminus in anderen philosophischen Konzepten genießt. Die ratio ist ein Kernbegriff des scholastischen Denkens, und Immanuel Kant verwendet sogar die gleiche Aufteilung der Vernunft in einen praktischen und einen theoretischen Teil wie Whitehead, wenngleich der Vernunftbegriff selber anders konzipiert ist. Hegel verwendet den Vernunftbegriff in verschiedenen Formen und kennt die abstrakte Vernunft als das spekulative Vermögen. 18 Im Gegensatz zu vielen Scholastikern und zu Kant und den deutschen Idealisten in seiner Nachfolge besitzt der Vernunftbegriff jedoch keine zentrale Bedeutung in Whiteheads Philosophie – außer in Die Funktion der Vernunft wird er kaum explizit verwendet und spielt in der systematischen Ausarbeitung der Theorie des Empfindens in Prozeß und Realität überhaupt keine Rolle. Die Einteilung des Vernunftbegriffs in eine praktische und eine theoretische Vernunft fordert schon begrifflich dazu auf, in der praktischen Vernunft einen in der Ethik verwendbaren Terminus zu suchen. Whitehead verzichtet allerdings zugunsten eines auf die Evolutionsgeschichte gerichteten und in die Metaphysik hinüberspielenden Vernunftbegriffs auf die Erschließung des Ethischen als einen dem Menschen lebensweltlich genuin eigenen und kosmologisch zu erklärendem Erfahrungsraum. Auch ist die Vernunft, in ihrer Funktion als geistiges Vermögen, kein zentrales Beschreibungsmerkmal der menschlichen Natur, insofern sich Whitehead überhaupt einmal dazu äußert. Der Kontext von Die Funktion der Vernunft lässt die Intention einer begrenzten, spezifischen Aufgabenstellung für die Vernunft in der organistischen Philosophie vermuten. Nicht nur die Namensähnlichkeit zwischen der spekulativen Vernunft und der Selbstbezeichnung der Whitehead’schen Philosophie als Gods«. In der deutschen Übersetzung durch Bubser wird aus der Teilhabe eine bloße Verwandtschaft. 18 Ein ausführlicher Vergleich von Hegels ›spekulativem Satz‹ und Whiteheads spekulativer Methode findet sich in der Monographie The Search for Concreteness: Reflections on Hegel and Whitehead von Darrel Christensen, in der er umfassend versucht, Gemeinsamkeiten der philosophischen Methode beider Denker auszuweisen und Differenzen zu überbrücken (vgl. Christensen (1986)).
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›spekulative Philosophie‹ ist auffällig, sondern auch die Parallele der Funktionsweise der beiden Vernunftformen einerseits und der ›Methode phantasievoller Verallgemeinerung‹ als der in Prozeß und Realität verwendeten Methode andererseits. Der Vergleich der ›Methode phantasievoller Verallgemeinerung‹ mit einer Flugbahn (vgl. PR, 5/34) beschreibt die gleiche methodische Dynamik wie das durch das gegenseitige Aufeinanderangewiesensein von praktischer und theoretischer Vernunft zustande kommende ›Wechselspiel zwischen Denken und Praxis‹. In Die Funktion der Vernunft wird diese wechselseitige Dynamik der Vernunftformen auch wörtlich ganz direkt als »der spekulative Gedankenflug« beschrieben (FR, 64/66). Die Darstellungsintention in Die Funktion der Vernunft scheint zu sein, mit dem Vernunftbegriff eine auf die metaphysische Grundkonstruktion verweisende Herleitung der Denkweise zu gewinnen, die in Prozeß und Realität zur generellen philosophischen Methode erhoben wird. Allerdings bleibt die Darstellung in einigen Bereichen zu undeutlich, um die Funktionen des Vernunftbegriffs in der spekulativen Philosophie eindeutig verorten zu können. Das Verhältnis, in dem die beiden Vernunftformen zueinander stehen, ist nicht einfach zu bestimmen – es gleicht einer schief zugeknöpften Weste, bei jeder Interpretation verbleibt ein sich der Deutung entziehender Rest. Eine Betrachtung der praktischen und der theoretischen Vernunft als gleichberechtigtes Nebeneinander hinsichtlich ihrer Funktion als mentale Operation scheint deshalb schwierig, weil Whitehead beide Vernunftformen in einem jeweils unterschiedlichen Kontext diskutieren möchte. Die praktische Vernunft spürt der Funktionsweise von Zwecksetzungen bis in die Anfänge der Entwicklungsgeschichte des Universums nach und steht für eine Lebensmethode, die strukturell anorganischen Prozessen, einfachen Lebewesen und Menschen gleichsam gemein ist. Die theoretische Vernunft hingegen ist streng abgetrennt von ihr strukturell ähnlichen mentalen Operationen, indem sie als Methode der Spekulation zum durch Werkzeuge wie etwa Mathematik und Logik bestimmten Vehikel der Entdeckung allgemeiner Prinzipien erhoben wird und damit exklusiv auf den Kontext menschlicher Zivilisationsentwicklung eingegrenzt ist. Während also die Funktion der praktischen Vernunft ganz allgemein in der durch eine eigene Methode stabilisierten Orientierung des Handelns an Zwecksetzungen besteht und die praktische Vernunft somit eine allen handelnden Entitäten gemeine Aktivität mit kosmologischem Geltungsanspruch ist, soll die 116 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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Funktion der theoretischen Vernunft ausschließlich auf einen Teil der Menschheit beschränkt sein und in der durch interesselose Neugier motivierte Entdeckung allgemeiner Prinzipien bestehen. Ist also nicht beabsichtigt, beide Vernunftformen gleich zu behandeln, könnte stattdessen eine hierarchische Beziehung vermutet werden. Allerdings ist diese Möglichkeit ebenso wenig überzeugend. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das die zwei Vernunftformen in sich vereint; er ist der Punkt in der Natur, an dem ein qualitativer Umschlag des Vernunftvermögens beobachtet werden kann. Doch steht die theoretische Vernunft nicht hierarchisch über der praktischen Vernunft, vielmehr müssen wir die menschliche Entscheidungsfindung in Alltagsdingen ausschließlich auf der Ebene der praktischen Vernunft suchen. Die theoretische Vernunft ist der praktischen Vernunft nicht überlegen, sondern auf einen anderen Funktionsbereich bezogen. Sie entwickelt sich auch nicht aus der praktischen Vernunft; das interesselose Streben nach allgemeiner Erkenntnis soll sich funktionell so kategorisch von der auf das eigene Wohlergehen gerichteten Lebensmethode unterscheiden, dass sich eine Evolution von der einen zur anderen Vernunftart als Interpretationsansatz nicht anbietet. Die Frage nach dem Relationsstatus beider Vernunftformen ist auch wegen dessen Uneindeutigkeit so bedeutsam, da sich an dieser Stelle eine Kritik des Vernunftbegriffs bei Whitehead anbietet. Konkret könnte man formulieren: Wie überzeugend ist die Trennung der Vernunft in zwei Vernunftformen anhand der von Whitehead vorgenommenen strukturellen Unterscheidung? Betrachtet man Whiteheads Argumentation, so fällt auf, dass sich die Notwendigkeit einer Einteilung in zwei verschiedene Vernunftformen nicht aus der strukturellen Herleitung des Begriffs von der metaphysischen Gesamtkonstruktion ergibt, sondern er vielmehr, durchaus gemäß seiner Überzeugung, am Anfang einer philosophischen Überlegung müsse die ›Sammlung‹ von Erfahrungen stehen, versucht, eine Intuition über verschiedene Phänomene der Vernunfttätigkeit in eine kohärente terminologische Form zu bringen: Die spekulative Vernunft sammelt diejenigen theoretischen Einsichten an, die in bestimmten kritischen Augenblicken den Übergang zu neuen Methoden ermöglichen. Und die Entdeckungen des praktischen Verstands schaffen das Rohmaterial, ohne das die spekulative Vernunft nicht weiterkommen kann. Aber selbst wenn man einräumt, daß es ein derartiges Wechselspiel zwischen beiden Funktionen der Vernunft gibt, ändert das nichts daran, daß
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es hier zwei wesentlich verschiedene Formen der Vernunftbetätigung gibt, eine, bei der der Antrieb äußeren Interessen und Zwecksetzungen entstammt, und eine zweite, bei der die aus der Betätigung der Vernunft erwachsende Befriedigung selbst den Antrieb bildet. (FR, 30 f./34 f.)
Problematisch wird diese Unterteilung der Vernunft nicht bloß, weil verschiedene Phänomene festgestellt werden, sondern aufgrund der Weise, in der Unterscheidungen im weiteren Verlauf von Die Funktion der Vernunft ausformuliert werden. Nicht nur haben beide Vernunftformen unterschiedliche Stoßrichtungen, im Fall der spekulativen Vernunft scheint noch eine erstaunliche Umkehrung von Whiteheads philosophischer Methode hinzuzukommen. Während die Unterteilung der Vernunft in zwei Bereiche anhand der eigenen Sammlung von Erfahrungen vollkommen der spekulativen Methode entspricht, scheint die Ausformulierung der spekulativen Vernunft nicht mehr bloß der Erklärung eines der beiden Phänomene zu dienen, sondern vielmehr durch das Ziel der Fundierung einer Wissenschaftstheorie und der eigenen spekulativen philosophischen Methode motiviert zu sein. Die allgemeine Feststellung des geistigen Phänomens einer interesselos neugierigen, auf die Erkenntnis allgemeiner Prinzipien und Zusammenhänge gerichteten Vernunft verträgt sich nicht mit der strikten Eingrenzung ebenjenes Phänomens auf eine Methode der Spekulation, die maßgeblich von der Entdeckung der Logik und der Mathematik beeinflusst worden sein soll. Man könnte auch in die entgegengesetzte Richtung argumentieren und dem Streben nach der Erkenntnis allgemeiner Wahrheiten in dem Raum vor der Etablierung des Wissenschaftsbetriebs nachspüren, wie Whitehead selbst ja auch in seiner Untersuchung der praktischen Vernunft verfährt. Sind etwa die Erklärungsversuche vorgeschichtlicher Völker frei von dem beschriebenen geistigen Phänomen des selbstlosen Strebens nach Erkenntnis, wenn einzelne unerklärliche Naturvorgänge auf das Wirkprinzip allgemeiner Naturgottheiten zurückgeführt werden? Nach Whiteheads Beschreibung können praktische und spekulative Vernunft in einer Analyse deshalb so klar getrennt werden, weil sie auf funktionaler Ebene des Wechselspiels mit dem jeweils anderen bedürfen. Wie aber soll man sich die praktische Vernunft vor der Entdeckung der spekulativen Vernunft vorstellen, die radikal im geschilderten Sinne verfährt und sich nach der Ausführung der bekannten Methode »selbstzufrieden der Ruhe hin[gibt]« (FR, 29/33)? Fortschritt der Methoden hat es 118 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Vernunft
immer gegeben, auch ohne die entwickelte spekulative Vernunft. Whiteheads Antwort auf diesen Einwand ist die Inspiration, die Eingebung, etwas Neues zu versuchen und die Grenzen der bekannten Methode zu überschreiten. Der Fortschritt, den er in der spekulativen Vernunft sieht, liegt ja gerade in der Formalisierung der Inspiration zu einer Methode der Spekulation. Nichtsdestotrotz müsste Whitehead, will er ein konsistentes Konzept der praktischen Vernunft entwerfen, ein Agens des spekulativen gedanklichen Fortschritts einführen, das etwa der Inspiration entspräche, um den Fortschritt der Methode vor der Einführung der spekulativen Vernunft erklären zu können. Auf diese Weise hätte er eine anthropologische Konstante, die als Gegenfunktion zur praktischen Vernunft aufträte und die mit den entsprechenden geistigen methodischen Werkzeugen – beispielsweise der Logik – die hochstufige Spezialform der spekulativen Vernunft annehmen könnte. Allerdings möchte Whitehead offensichtlich nicht dem jedem menschlichen Denken vertrauten Phänomen der interesselosen Neugier nachgehen, sondern dieses Phänomen als Grundlage seiner Theorie einer die Ideen methodisch abwägenden Vernunft behandeln. Statt phantasievolle Eingebung und Inspiration als anthropologische Grundeigenschaft aufzufassen, die sich in speziellen Fällen mithilfe geistiger Werkzeuge und Wissensdisziplinen zu einer eigenen Form der auf die Theorie gerichteten Vernunft erweitern liesse, möchte er ein Konzept wissenschaftlichen Denkens einführen, das konsistent als methodisch operierende Vernunft ausweisbar ist und die Inspiration als Quelle neuer Ideen nur in so weit aufnimmt, als sie durch methodisches Denken diszipliniert ist. Die theoretische Vernunft Whiteheads ist also keine anthropologische oder gar kosmologische Grundeigenschaft, sondern ein Begriff, der sich erst im Kontext der Zivilisationsgeschichte klar herausmodellieren lässt. Es mag sein, dass Whitehead bei der Frage nach der Funktion der spekulativen Vernunft gar nicht primär den Blickwinkel auf die geistigen Kapazitäten des menschlichen Individuums einnehmen wollte, sondern auf die Ebene der Gestaltung zivilisatorischen Fortschritts geblickt hat. Die Beispiele, die er aus der Geschichte der Entwicklung der spekulativen Vernunft anführt, behandeln stets die mähliche Genese allgemeiner Denksysteme über lange Zeiträume hinweg. Auch seine Überzeugung, nur bei wenigen Menschen sei die Auffassung entwickelt, spekulative Einsicht um ihrer selbst willen sei eine moralische 119 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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Empfindung, und diese Wenigen übten einen regulativen Einfluss auf die Entwicklung der Gesamtgesellschaft aus, deutet auf die als in einem gesamtgesellschaftlichen Rahmen kontextualisiert verstandene Bedeutung der spekulativen Vernunft hin. Das Konzept ihrer Wirkungsweise erinnert auffällig an das Konzept der Entwicklung von zivilisatorischen Idealen in Abenteuer der Ideen 19 und lässt die Interpretation der Vernunft bei Whitehead als »Funktion der Geschichte« 20 als berechtigt erscheinen.
2.2 Symboltheorie 2.2.1 Grundlagen des Symbolbegriffs Im 20. Jahrhundert haben Symboltheorien in verschiedenen Wissenschaften, auch in der Philosophie, reüssiert. Die Psychoanalyse hat den Symbolbegriff aufgegriffen und ihn in die Erklärung der Dynamik menschlichen Handelns eingebunden. 21 In der Philosophie haben einige Denker, allen voran Ernst Cassirer, eigene Symboltheorien ausgearbeitet, um sie als fundamentale Erklärungsmuster verwenden zu können. 22 George Herbert Mead hat seine Symboltheorie aus der Perspektive des Pragmatismus verfasst, von dem sich auch Whitehead philosophisch inspirieren ließ. Selbst Schüler Whiteheads sind als Autoren von Werken zur Symboltheorie bekannt geworden. 23 Susanne K. Für eine Interpretation der zivilisatorischen Ideale in Abenteuer der Ideen als teleologische Elemente und konstitutive Merkmale des Zivilisationsprozesses vgl. auch Berve (2014a). 20 Lachmann (1990), S. 105 und Kann (2001), S. 84. Stascha Rohmer interpretiert in seiner Einleitung zu Denkweisen den Vernunftbegriff als dem geschichtlichen Wandel unterworfen und stimmt auf diese Weise mit der Position Lachmanns und Kanns überein: »Dies leitet sich vielmehr schon daraus ab, daß Whitehead mehr an eine Geschichtlichkeit der Vernunft denn an eine Einheit der Vernunft in der Geschiche glaubte.« (Rohmer (2001), S. 35). 21 Vgl. vor allem Jacques Lacan, der dem Symbolbegriff eine Kernfunktion in seiner Objekttheorie einräumt: Lacan (1956). 22 Zu Cassirer als einem der vielleicht bekanntesten Symboltheoretiker des 20. Jahrhunderts vgl. Cassirer (2002). 23 Nelson Goodman ist zwar ein Schüler Whiteheads, aber in seinem philosophischen Denken von gänzlich anderem Zuschnitt, er ist der analytischen Philosophie zuzuordnen. Seine Symboltheorie hat einen der Intention Whiteheads geradezu entgegengesetzten Zuschnitt, denn er versucht, ein System der Symbolisierung zu erstellen, 19
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Langer hat sogar ihre Philosophie auf einer Theorie von Symbolsystemen begründet. 24 In der Reihe der Denker, die Whiteheads eigene Arbeit beeinflusst haben, wäre vor allem Charles Sanders Peirce zu nennen, der zu den Mitbegründern der Semiotik zählt. Der Symbolbegriff hat in der Semiotik auch eine Spezialwissenschaft gefunden, welche ihn in bestimmter Weise nutzt. Auch in Whiteheads Kosmologie wird eine Symboltheorie ausgewiesen. Wie bei vielen Termini der organistischen Philosophie, so entfaltet auch der Symbolbegriff seine volle Bedeutung erst, wenn er in einem Systemzusammenhang mit dem metaphysischen Gesamtkonzept Whiteheads betrachtet wird. Der Begriff des Symbols und der Symbolisierungsaktivität wird von Whitehead in dem 1927 erschienenen und damit in direkter zeitlicher Nähe zu Prozeß und Realität verfassten Buch Kulturelle Symbolisierung systematisch untersucht, findet aber in seinen anderen philosophischen Werken keine explizite terminologische Verwendung. Implizit lässt sich die Struktur des von ihm vertretenen Symbolisierungsbegriffs in der Diskussion der Wahrnehmungsarten eines wirklichen Einzelwesens in Prozeß und Realität wiederentdecken. Darin findet sich bereits ein Hinweis auf die Ebene, auf der Whitehead den Symbolbegriff hauptsächlich diskutieren wird – die systematische Darlegung seiner Symbolisierungstheorie beschreibt die Verbindung verschiedener elementarer Wahrnehmungsarten auf der Ebene der Empfindungen wirklicher Einzelwesen, ohne sich jedoch auf diesen Bereich vollständig einzuschränken. 25 Allerdings ist das Konzept der Symbolisierung in der organistischen Philosophie keineswegs auf die Diskussion der Wahrnehmung beschränkt. Auch Sprache versteht Whitehead als Symbolisierungsform, unterschieden in gesprochene und schriftliche Sprache, Alltagssprache und Wissenschaftssprache. Seine Skeptik gegenüber sprachdas gänzlich ohne Bezüge auf die Ebene der Metaphysik auskommt. Vgl. Goodman (1998). 24 Vgl. Langer (1965). 25 Der überwiegende Teil der Sekundärliteratur zu Whiteheads Symbolbegriff konzentriert sich auf die systematische Untersuchung des Symbolbegriffs in Bezug auf die von Whitehead eingeführten Wahrnehmungsarten. In der Forschungsliteratur wird dieser Zusammenhang häufig betont und der Symbolbegriff beinahe exklusiv auf den Wahrnehmungsbegriff der organistischen Philosophie bezogen. Vgl. etwa Sherburne (1966), S. 98 ff., Schmidt (1967), S. 148 ff. und Burnett (1958), S. 230 ff. Breiter angelegte Analysen des Symbolbegriffs, die auch den Bereich der Sprache miteinbeziehen, bieten Hampe (1990) und Franklin (1990).
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lichen Äußerungen bezieht sich auf die vermeintlich zeitlose Präzision von Sprache, die dem doch stets evolvierenden sprachlichen Diskurscharakter nicht gerecht wird (vgl. PR, 11 ff./45 ff.). Geradezu in Gegensatz zu dieser negativen Perspektive steht die von Whitehead unterstellte emotionale Kraft, mit der sprachliche Äußerungen, besonders poetische Formulierungen, für unmittelbare Einsichten sorgen können. Die Einsichtsmöglichkeiten der Sprache und damit ihre Kernkompetenz sind für Whitehead eng mit der symbolischen Kapazität von Sprache verbunden. Obwohl er in Kulturelle Symbolisierung die systematische Interpretation von Symbolisierung als die Beziehung verschiedener Wahrnehmungsarten aufeinander verstehen wird, lässt Whitehead in seiner Metaphysik die Sprache sogar als das Paradigma für Symbolisierung schlechthin gelten: Sprache ist das Beispiel für Symbolik, das sich auf natürlichste Weise für die Untersuchung ihrer Verwendungsweisen anbietet. Ihr etwas artifizieller Charakter macht die verschiedenen konstitutiven Elemente der Symbolik umso offensichtlicher. (PR, 182/339) 26
Michael Hampe fasst den Symbolbegriff bei Whitehead noch weiter und versteht bereits jeden Erfahrungsakt als symbolischen Bezug, da das aktive Werdenssubjekt sich den Erfahrungsgehalt der bereits objektivierten Vergangenheit vermittels der zeitlosen Gegenstände symbolisch erschließt. 27 Deshalb ist es ihm möglich, Whitehead mit Peirce, Cassirer, Langer und Goodman in einen philosophischen Wirkzusammenhang von Denkern zu stellen, die ihre Philosophie aus einer Perspektive formulieren, in der »Wahrnehmungs-, Fühl- und Denkprozesse vor allem als Vorgänge der Symboltransformation gesehen« werden können. 28 In dieser Interpretation kommt Whitehead auch bezüglich seiner eigenen Kosmologie, besonders aber als philosophischer Motivator von Goodman und Langer, eine zentrale Position in der
Der Fortgang des zitierten Textabschnitts verfolgt die gleiche Argumentation wie das erste Kapitel von Kulturelle Symbolisierung, sogar das von Whitehead gewählte Beispiel des Terminus ›Wald‹ (forest) für die Erklärung der Wirkungsweise von Symbolisierung ist in beiden Texten zu finden. Man darf auch aufgrund der zeitlichen Nähe der Entstehungszeiten beider Werke vermuten, in Kulturelle Symbolisierung die eigenständige Ausformulierung eines Gedankens zu finden, der bereits in Prozeß und Realität angelegt ist. 27 Vgl. Hampe (1990), S. 259. 28 Vgl. Hampe (1998), S. 182. 26
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Symbolphilosophie des 20. Jahrhunderts zu, von dem Hampe, nicht zu Unrecht, sagt, es sei »auch das [Jahrhundert] der philosophischen Universalisierung der Symboltheorie« gewesen. 29
2.2.2 Whiteheads Symbolbegriff Die Fragen, an welchen Stellen der organistischen Philosophie Symbolisierungssysteme operieren und an welchen Stellen der organistischen Philosophie der Symbolisierungsbegriff definiert wird, sind nicht notwendigerweise identisch. Es bietet sich an, zuerst Whiteheads Verständnis des Symbolbegriffs nachzuvollziehen und seine Symbolisierungstheorie zu rekonstruieren, bevor die breitere Frage nach Symbolisierungszusammenhängen in seinem philosophischen Gesamtentwurf beantwortet werden kann. Thematisiert und systematisch behandelt wird der Symbolbegriff in dem knappen Werk Kulturelle Symbolisierung, das 1927 erschien und dessen Entstehung in die Phase der umfassenden Darlegung des metaphysischen Systems der organistischen Philosophie in Prozeß und Realität fällt. Gewisse Textstellen beider Werke ähneln sich, sodass die Vermutung nahe liegt, Kulturelle Symbolisierung sei die mit einer eigenen Argumentationsstruktur vorgenommene Ausformulierung eines Gedankens, der sich strukturell auch in Prozeß und Realität ausweisen ließe. Der Status als separates Werk liegt möglicherweise nicht zuletzt in der Entstehungsgeschichte begründet: Während Prozeß und Realität das Ergebnis einer Vortragsreihe im Rahmen der Gifford Lectures in Edinburgh war, ist Kulturelle Symbolisierung die Ausformulierung einiger Vorträge, die Whitehead im Rahmen der BarbourPage Lectures an der University of Virginia hielt. Die separate Veröffentlichung von Kulturelle Symbolisierung mag also auch den Vorgaben der Barbour-Page Foundation geschuldet sein, wie Whitehead selber anmerkt (vgl. S, vi/60). Dennoch ist die Untersuchung des Symbolbegriffs in Kulturelle Symbolisierung in sich geschlossen und stellt die konziseste Präsentation von Whiteheads Symbolisierungstheorie dar. Da sich die Argumentationswege der Symbolisierungsdarstellungen in Kulturelle Symbolisierung und Prozeß und Realität merklich
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Vgl. Hampe (1998), S. 186.
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unterscheiden, soll hier der Text aus Kulturelle Symbolisierung in Fokus stehen, an nur besonders sich anbietenden Stellen ergänzt um das Symbolkapitel aus Prozeß und Realität. Direkt auf den ersten Seiten des Buchs wird programmatisch dargelegt, welchen Bezugsrahmen die vorzunehmende Untersuchung des Symbolbegriffs haben soll. Der methodische Ansatz ähnelt dem Vorgehen in Die Funktion der Vernunft insofern, als in beiden Fällen von einem der Sphäre menschlicher Alltagserfahrung entlehnten Phänomen ausgegangen wird, jedoch die Absicht der Untersuchung nicht in der Erklärung dieses Phänomens auf einer Ebene der menschlichen Erfahrung besteht, sondern in dem Nachweis einer funktionalen Bedeutung des Phänomens auf einer elementaren ontologischen Ebene, sodass der Begriff der Symbolisierung strukturell für alle Werdensprozesse der Welt relevant werden kann. Insofern Whiteheads philosophisches Interesse auf dem Nachweis der Strukturen liegt, welche die fundamentalen Gemeinsamkeiten aller Weltprozesse konstituieren, könnte man formulieren, die in Kulturelle Symbolisierung angewandte Vorgehensweise sei darauf ausgerichtet, die tiefere Bedeutung von Symbolen und Symbolisierung zu beschreiben. Dieses methodische Vorgehen ähnelt der Richtung jener methodischen Bewegung, die sich in der Analyse der Anthropomorphisierungsdynamik der organistischen Philosophie ergeben hat. Whitehead beginnt in die Untersuchung des in Kulturelle Symbolisierung umrissenen Symbolbegriffs mit einem kursorischen Überblick über die Formen von Symbolisierung, die vom Menschen genutzt werden. Dabei setzt er mit der Feststellung, verschiedene Zivilisationsepochen seien in unterschiedlichem Maße symbolaffin gewesen, auf der größten Ebene der Gesellschaften an: Während des europäischen Mittelalters zum Beispiel dominierten Symbolismen offensichtlich die Vorstellungen der Menschen. Die Architektur war symbolisch, die Zeremonien waren symbolisch, die Heraldik war symbolisch. Mit der Reformation setzte eine Gegenreaktion ein. Die Menschen versuchten die Symbole als ›liebevolle, vergeblich erfundene Dinge‹ zu beseitigen und konzentrierten sich auf die direkte Erfassung der grundlegenden Tatsachen. Solche Symbolisierungen stehen allerdings am Rande des Lebens. Ihre Konstitution beinhaltet unwesentliche Elemente. Bereits die Tatsache, daß sie in einer Epoche erworben und in der nächsten Epoche wieder aufgegeben werden können, bezeugt ihren oberflächlichen Charakter. (S, 1/61)
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Die Zivilisationsepoche ist für Whitehead keine völlig abstrakte Größe, sondern die größte prozessdynamischen Gesetzmäßigkeiten folgende Einheit, die durch menschliche Ideale bestimmt und gesteuert wird. 30 Verschiedene Zivilisationsepochen können sich voneinander unterscheiden in der Kombination der zivilisatorischen Ideale, die ihnen ihre jeweils bestimmte Form geben. In genau dieser Weise ist die Symbolaffinität einer Epoche ein möglicher Teil der komplexen Formbestimmtheit, die das ›Ideal‹ dieser Epoche konstituiert. Solche Symbolaffinität kennzeichnet Whitehead nachvollziehbarerweise als oberflächlich. Aber auch die Symbolwirkungen, die wir üblicherweise am offensichtlichsten als solche erkennen und verstehen, fallen in den Bereich der menschlichen Gesellschaft: Kulturelle Symbole – eine Rose als Symbol für die Liebe, Hammer und Sichel als Symbole einer politischen Ideologie, eine weiße Taube als Zeichen für den Frieden – oder religiöse Symbole werden von uns unmittelbar als Symbole aufgefasst. Offensichtlich führt Whitehead seine Diskussion des Symbolbegriffs zwar ausgehend von der Ebene dieses Symbolverständnisses ein und verwendet damit einen Begriff aus dem Bereich der unmittelbaren Lebensrealität menschlicher Alltagserfahrung, hat aber in seiner Philosophie einen anderen Interpretationsbereich für den Symbolbegriff im Blick. So hält er etwa, wie in der Diskussion der Wert- und Ästhetikbegriffe bereits gesehen, eine noch zu entwickelnde symbolische Logik für das ideale Interpretationswerkzeug der Ästhetik: We must end with my first love – Symbolic Logic. When in the distant future the subject has expanded, so as to examine patterns depending on connections other than those of space, number, and quantity – when this expansion has occurred, I suggest that Symbolic Logic, that is to say, the symbolic examination of pattern with the use of real variables, will become the foundation of æesthetics. (ESP, 99)
Die Fernvorstellung Whiteheads läuft darauf hinaus, die symbolische Logik als eine noch zu leistende Erweiterung der klassischen logischen Beziehungsmuster von »Raum, Zahl und Menge« zu verstehen. Dieser Blickwinkel bezieht eine mathematische Komponente mit ein und verlangt nach einem Symbolbegriff, der auf einer fundamentaleren Ebene angesiedelt ist als die Phänomene etwa kultureller oder religiöser SymVgl. den dritten Teil von Abenteuer der Ideen, in dem menschliche Zivilisation als das Ergebnis der harmonischen Realisierungen einiger zivilisatorischer Ideale bestimmt wird.
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bolik. Konsequenterweise benennt Whitehead ein weiteres Symbolisierungssystem, welches uns so elementar vertraut ist, dass wir es üblicherweise in der alltäglichen Verwendung nicht bewusst als Symbolisierungssystem verstehen: die Sprache. Wie bereits gesehen (vgl. PR, 182/339), begreift Whitehead Sprache in gewisser Weise als das Paradigma für Symbolisierung schlechthin. Sein Sprachbegriff ist relativ offen, Sprache kann die gesprochene Sprache bezeichnen oder die geschriebene Sprache. Darüber hinaus umfasst Whiteheads Sprachbegriff auch die Algebra: Daneben gibt es eine andere, ausschließlich geschriebene Art der Sprache, die aus den mathematischen Symbolen der Wissenschaft der Algebra besteht. In einigen Hinsichten unterscheiden sich diese Symbole von denen der normalen Sprache, denn die Manipulation der algebraischen Symbole nimmt uns das Nachdenken ab, vorausgesetzt daß wir die algebraischen Regeln einhalten. Dies ist bei der normalen Sprache nicht der Fall. Wir dürfen die Bedeutungen der Wörter nie vergessen und lediglich der Syntax vertrauen, um uns weiterzuhelfen. (S, 2/62) 31
Mit der Subsumtion der Algebra unter seinen Sprachbegriff, der seinerseits als das Paradigma von Symbolisierungsgefügen verstanden wird, legt Whitehead die Grundlage für eine etwaige Entwicklung von symbolischer Logik, die auf der mathematischen Logik der musterhaften Beziehung von Raum, Zahl und Menge aufbaut, diese aber um weitere Muster von Beziehungen erweitern soll. Auch befindet sich Whitehead mit seinem Verständnis der Mathematik als Sprache in einer durchaus wirkmächtigen Tradition. Galileo Galilei hat die Mathematik als die Sprache der Natur bezeichnet, 32 und von dem Mathematiker Nicolai Lobatschewski stammt das Bonmot: »Die beste von allen Obwohl die Sprache in der organistischen Philosophie als Paradigma für den Symbolbegriff dient, definiert Whitehead nirgendwo systematisch eine ausführliche eigene Sprachtheorie. Bereits seine bloß lockere, ohne strukturelle Konsequenzen bleibende Unterscheidung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache zeigt, wie wenig ihm daran gelegen ist, den Bereich der Sprache auf eine ausdifferenzierte, dogmatische Konzeption festzulegen. Viel eher scheint er Sprache als breites, nuanciertes Phänomen zu betrachten, das gewissermaßen eine Chiffre für verschiedene Formen der Verständigung und des Ausdrucks sein kann, mit variablen Aufgabengebieten. Deshalb scheinen Untersuchungen der Forschungsliteratur, die Whiteheads Sprachkonzept auf eine feste formale Definition bringen wollen, als ›Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit‹ zur dogmatischen Einengung verdammt. Eine solcherart detailliert ausgearbeitete formale Schematisierung in Diagrammform findet sich bei Masterman (1984), S. 112. 32 Vgl. Galilei (1896), S. 232. 31
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Sprachen der Welt ist eine künstliche Sprache, eine ziemlich gedrängte Sprache, die Sprache der Mathematik.« Zugleich aber begnügt Whitehead sich nicht damit, eine gewisse formale Ähnlichkeit zwischen mathematischer Formelsprache und normaler menschlicher Sprache zu konstatieren und daraus eine kategoriale Gemeinsamkeit beider unter dem Überbegriff der Sprache abzuleiten. Vielmehr erinnert er an die Möglichkeit, algebraische Gleichungen in einem Abstraktionsautomatismus bedienen und manipulieren zu können, wohingegen das ausgezeichnete ›Defizit‹ der normalen Sprache darin besteht, niemals von der Bedeutung der Wörter loszukommen und deshalb nicht auf der Ebene abstrakter Logik behandelt werden zu können. Die normale Sprache bezieht sich immer auf Erfahrungsgehalte des Sprechers und des Zuhörers: 33 Das Wort ist ein Symbol, und seine Bedeutung wird durch die Ideen, Vorstellungen und Emotionen, die es im Geist des Hörers hervorruft, konstituiert. (S, 2/61 f.)
Mit dem gleichen auf die Erfahrung als Bezugsebene gerichteten Fokus unterscheidet Whitehead nochmals zwischen gesprocher und geschriebener Sprache. Das geschriebene Wort ist für ihn wiederum nur ein symbolischer Bezug auf das gesprochene Wort, mit welchem wir die ursprünglichen Ideen, Vorstellungen und Emotionen verbinden. Aus diesen entsteht die ›Bedeutung‹ (meaning) einer üblichen sprachlichen Symbolisierung. Die Bedeutung eines Symbolisierungsaktes wird für Whitehead also stets durch Erfahrungsinhalte konstituiert. 34 Er verwendet die Sprache als Paradigma, um über die Relation von SignifiSelbstverständlich bezieht sich diese Feststellung auch auf die Bedeutung, die Sprache für die Formulierung philosophischer Konzepte haben kann. A. H. Johnson weist bei Whitehead die Übernahme genau dieser Position in der Wahl der Terminologie seiner Metaphysik nach: »In formulating his philosophy Whitehead uses many classes of words […]. All words which he employs he regards as symbols which refer to or involve data discoverable in experience.« (Johnson (1961), S. 140) 34 Die Parallele zwischen »Ideen, Vorstellungen und Emotionen« (ideas, images, emotions) als in Kulturelle Symbolisierung verwendete Beschreibung der Geistesaktivität des Hörers eines Wortes einerseits und »Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke« (enjoyed, perceived, willed or thought) als Beschreibung der menschlichen Erfahrung im Einleitungskapitel von Prozeß und Realität andererseits ist zu offensichtlich, als dass sie ignoriert werden könnte. Whitehead vermeidet in Kulturelle Symbolisierung den Rekurs auf einen methodisch verwendeten Erfahrungsbegriff, doch ist eine implizite Kontinuität seines Verständnisses von Erfahrungsinhalten nicht zu übersehen. 33
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cans und Significatum in einem Symbolisierungsakt zu einer Position zu kommen. Aber warum sagen wir, daß das – gesprochene oder geschriebene – Wort ›Baum‹ für uns ein Symbol für Bäume ist? Beide, das Wort selbst und die Bäume selbst, haben hinsichtlich ihres Eintretens in unsere Erfahrung denselben Stellenwert. Wenn man diese Frage abstrakt betrachtet, müßte es genauso vernünftig sein, anzunehmen, daß Bäume das Wort ›Baum‹ symbolisieren, wie umgekehrt, daß das Wort ›Baum‹ Bäume symbolisiert. Dies ist sicherlich richtig, und tatsächlich verfährt menschliches Denken gelegentlich auf diese Weise. Wenn man zum Beispiel ein Dichter ist und ein Gedicht über Bäume zu schreiben wünscht, wird man in den Wald gehen, damit die Bäume die angemessenen Wörter suggerieren. Daher sind für den Dichter in seiner Extase oder vielleicht auch in seiner Agonie der Komposition die Bäume die Symbole und die Wörter die Bedeutung. Er konzentriert sich auf die Bäume, um zu den Wörtern zu gelangen. (S, 11 f./71 f.)
Whitehead lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sowohl Symbol als auch Bedeutung eines Symbolisierungsaktes Erfahrungsinhalte sein müssen. Das Symbol repräsentiert nicht nur irgendein Außenstehendes, sondern ist selbst Teil des Funktionszusammenhangs innerhalb der Selbstwerdungsdynamik eines synthetischen Erfahrungsprozesses. Deshalb sieht Michael Hampe bei Whitehead eine realistische Symbolisierungstheorie im Gegensatz zu repräsentationalen Symbolisierungstheorien. 35 Interessant bei Whiteheads Ansatz ist die offensichtliche Austauschbarkeit der als Significans und Significatum fungierenden Erfahrungsinhalte. Im Anschluss an diese Überlegung stellt Whitehead in einer systematischeren terminologischen Formulierung sein Verständnis eines Symbolisierungsaktes als eine Beziehung zwischen zwei zunächst einmal strukturell gleichberechtigten Teilen der Erfahrung heraus, deren Beziehung zueinander erst in der funktionalen Aufteilung in Significans und Significatum eine vektorhafte hierarchische Dynamik erhält. Welche der beiden Erfahrungskomponenten welche Funktion übernehmen wird, lässt sich nicht pauschal sagen, sondern entscheidet sich stets anhand der Prioritätensetzung des subjektiven Ziels des aktiven wirklichen Einzelwesens. 36 Vgl. Hampe (1990), S. 263 f. Zu der Konzeption einer in beide Richtungen möglichen Beziehung zwischen beiden Erfahrungskomponenten und der damit verbundenen formalen Gleichrangigkeit der Erfahrungskomponenten vgl. auch Franklin (1990), S. 121.
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Wenn in einem Akt menschlicher Erfahrung eine symbolische Referenz vorliegt, so gibt es erstens stets zwei Komponenten mit einer gewissen objektiven Beziehung zwischen ihnen, und diese Beziehung wird in verschiedenen Fällen stark variieren. Zweitens muß die vollständige Konstitution des Wahrnehmenden die symbolische Referenz von einer Menge der Komponenten, den Symbolen, zur anderen Menge der Komponenten, der Bedeutung, bewirken. Drittens hängt die Frage, welche Menge von Komponenten die Symbole und welche Menge von Komponenten die Bedeutung darstellen, ebenfalls von der besonderen Konstitution des Erfahrungsaktes ab. (S, 12 f./72)
Die initiale Gleichstellung der beiden Erfahrungskomponenten, aus denen ein symbolischer Bezug gebildet werden soll, ist Whiteheads radikalem Erfahrungsbegriff geschuldet. Da ein Symbolisierungsakt an die Erfahrung in Form von »Ideen, Vorstellungen und Emotionen« appelliert, sollte man die formale metaphysische Beschreibung des Erfahrungsbegriffs als einen synthetisierenden Selbstwerdungsprozess berücksichtigen, um den auf die Erläuterung der ontologischen Ebene gerichteten Weg nachvollziehen zu können, den Whitehead bei der Konzeption seines Symbolbegriffs beschreitet. In Prozeß und Realität führt er das ›ontologischen Prinzip‹ ein: Dieses ontologische Prinzip besagt, daß wirkliche Einzelwesen die einzigen Gründe sind; deshalb ist die Suche nach einem Grund immer die Suche nach einem oder mehreren wirklichen Einzelwesen. (PR, 24/68)
Bei einem symbolischen Bezug verweist das Symbol auf etwas anderes, auf das mit dem Verweis Intendierte. Beide Teile des Symbolisierungsaktes, Significans und Significatum, müssen ›real‹, also gemäß dem ontologischen Prinzip Erfahrungskomponenten sein. Zwischen Erfahrungskomponenten kann, in der fortschreitenden Konkretisierung eines Selbstwerdungsprozesses, ein Bezug hergestellt werden, der einen Begründungszusammenhang konstituiert. Bezüge zwischen verschiedenen Erfahrungskomponenten bilden in späteren Phasen des Selbstwerdungsprozesses wiederum weitere Komponenten des Gesamterfahrungsaktes eines wirklichen Einzelwesens. Deshalb verortet Whitehead etwa Kontraste zwischen verschiedenen Empfindungen als eine eigenständige Klasse des Seienden in der Kategorie der Existenz, denn ein erlebter Kontrast ist nicht nur eine abstrakte Verbindung zweier Empfindungen, sondern selbst eine neue, mit eigener emotionaler Bewertung in die Gesamterfahrung eingehende Empfindung. Symbolisierungsakte sind, strukturell betrachtet, ebenfalls Kontraste, 129 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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denn sie verbinden zwei Erfahrungskomponenten in einer neuen Erfahrung, der Empfindung des Symbolisierungsaktes. Welche Erfahrungskomponenten in einem Symbolisierungsakt aufeinander bezogen werden, geht nicht als eine kausale Folge aus den objektiven Daten des aktiven Subjekts hervor, sondern ist eine freie Entscheidung des Subjekts in Übereinstimmung mit seinem subjektiven Ziel. Stephen T. Franklin hat deshalb in dem Symbolisierungsakt ein Stück der kreativen Freiheit des wirklichen Einzelwesens gesehen. 37 Whitehead bestätigt das Phänomen zunehmender Freiheit nicht spezifisch für seinen Symbolbegriff, sondern bezieht es allgemein auf die höheren Phasen des Werdensprozesses wirklicher Einzelwesen: Daher gehört der symbolische Bezug einer der späteren schöpferischen Phasen der Erfahrung an. Diese späteren Phasen sind durch ihr neues Element der schöpferischen Freiheit ausgezeichnet. (PR, 168/314)
Der Symbolbegriff ist also bei Whitehead in seiner Nutzung bereits durch die metaphysischen Grundannahmen vorgeprägt. Dabei wird der Symbolisierungsvorgang explizit als Aktivität auf der Ebene der menschlichen Erfahrungswelt verstanden und der symbolische Bezug ist dementsprechend ein Bezug zweier realer Fakten aufeinander: Der menschliche Geist arbeitet symbolisch, wenn einige Komponenten seiner Erfahrung Bewußtsein, Annahmen, Emotionen und Verwendungsweisen bezüglich anderer Komponenten seiner Erfahrung hervorrufen. Die erste Menge von Komponenten sind die ›Symbole‹, und die letztere Menge von Komponenten bilden die ›Bedeutung‹ der Symbole. (S, 7 f./67)
Neben diesem von Whitehead selbst explizit ausgearbeiteten Verständnis des Symbolbegriffs kann man in der organistischen Philosophie noch eine weitere Ebene symbolischer Aktivität ausweisen, wie Michael Hampe aufzeigt. Für Hampe existiert auf der elementarsten metaphysischen Ebene der organistischen Philosophie bereits ein jedem Fühlungsakt notwendig immanenter symbolischer Bezug. Die Objektivierung der wirklichen Einzelwesen der Vorwelt durch einen zeitlosen Gegenstand, die in jedem primären Empfindungsakt des aktiven Sub-
»Thus Whitehead associates symbolism with the freedom of an actual entity’s subjective development, and not with the determinism of an actual entitiy’s objective data. Symbolism is a goal to be achieved and not simply a fact which is given.« (Franklin (1990), S. 122)
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jekts geschieht, interpretiert er als symbolischen Bezug. 38 Auf diese Weise ist nicht nur ein bestimmter Teil der Erfahrungssubjekte Gegenstand einer Symboltheorie, sondern Whiteheads metaphysische Kosmologie als Ganze. Mit der Erweiterung des Symbolbegriffs auf die ontologischen Fundamente der organistischen Philosophie kann Hampe Whitehead als einen Symboltheoretiker auffassen, den er, wie bereits festgestellt, als wichtigen Denker im Wirkungszusammenhang der Symboltheorie des 20. Jahrhunderts sieht. Diese seiner Metaphysik bereits auf fundamentaler Ebene eigene Symbolisierungskomponente wird von Whitehead selber nicht eingehender thematisiert. Für ihn ist der Symbolbegriff auf den Bezug zweier Erfahrungsbereiche eines wirklichen Einzelwesens aufeinander festgelegt, statt der Relation von öffentlichen Ursachen und privaten Erfahrungsinhalten bestehen symbolische Bezüge exklusiv innerhalb der Binnenstruktur eines aktiven Erfahrungssubjekts. Diese Festlegung gestattet es einem symbolischen Bezug im Sinne von Whiteheads Begriffsverständnis, die beteiligten Erfahrungskomponenten innerhalb eines Symbolisierungsaktes in beide Richtungen aufeinander beziehen zu können. Anhand von Whiteheads Symbolisierungsparadigma der Sprache wird dies deutlich: Im Alltagsgebrauch wird üblicherweise ein Wort auf eine Menge an Gefühlen und Erfahrungen verweisen, aber die Symbolisierungsrichtung kann auch umgekehrt verlaufen, wenn etwa ein Poet seine Erfahrungswelt als symbolischen Verweis auf seine sprachliche Formulierung verwendet. Tatsächlich ist interpersonelle Verständigung nur in diesem Wechselspiel denkbar – für den Sprecher symbolisieren seine Erfahrungen eine bestimmte sprachliche Wortkombination, und für den Zuhörer symbolisiert die gehörte Wortkombination einen eigenen assoziativen Erfahrungskomplex. Der Dichter ist eine Person, für den die visuellen Ansichten, Geräusche und emotionalen Erfahrungen symbolisch auf Wörter referieren. Die Leser des Dichters sind Menschen, für die seine Wörter symbolisch auf die visuellen Ansichten, Geräusche und Emotionen, die er hervorrufen will, referieren. Daher gibt es in der Verwendung der Sprache eine doppelte symbolische Re»Als Objektivierungen von Ursachen in ihren Wirkungen stellen eternal objects oder Sinnesdaten die erste Form dar, in der ein bestimmter Erfahrungsgehalt in einem Erfahrungsereignis symbolisiert wird, d. h. die eternal objects sind nicht selber der unmittelbare private Inhalt der Erfahrung, sondern schon eine Vermittlung von etwas anderem, nämlich den öffentlichen Ursachen des Ereignisses, in dem sie aktualisiert sind.« (Hampe (1990), S. 252 f.). Vgl. auch Hampe (1990), S. 259 f.
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ferenz: von den Dingen zu den Wörtern auf der Seite des Sprechers und von den Wörtern zurück zu den Dingen auf der Seite des Hörers. (S, 12/72)
Die Ausgangs- und Enderfahrungen von Sprecher und Zuhörer mögen sich weitestgehend überschneiden, dann erfolgt eine reibungslose Kommunikation. Oder die assoziierten Erfahrungsgehalte beider bezüglich der gesprochenen Worte können divergieren, dann können Irrtümer 39 das Ergebnis des Symbolisierungen nutzenden Austauschs sein. In Symbolisierungsakten entsteht erstmals in der strukturellen Entwicklung der organistischen Philosophie die Möglichkeit des Irrtums; physisches und begriffliches Empfinden sind unmittelbar das, was sie sind, bezüglich ihrer Formbestimmtheit gibt es keine Zweifel. Erst bei symbolischen Bezügen, die das Erfahrungssubjekt freier gestalten kann, ist die Möglichkeit von Irrtum gegeben. Symbolisierungsakte haben keinen unmittelbar faktischen Bezug zur objektiven Vorwelt, sondern ermöglichen dem Subjekt ein mittelbares Verhältnis zu anderen Erfahrungstatsachen, das mit erhöhter eigener Freiheit gestaltet werden kann. Die Einführung des Irrtums erst in dem komplexen Vorgang einer Symbolisierung bedeutet auch, wie Elizabeth Kraus anmerkt, dass der Wahrheitsbegriff nur dann sinnvoll verwendet werden kann, wenn ein Symbolisierungsakt beurteilt wird: »Since symbolic reference is a learned response, it is fallible. In fact it is only with respect to symbolic reference that truth talk has any relevance.« 40 Üblicherweise ist der Irrtum ein philosophischer Defizienzbegriff. Während ein gelingendes Verstehen zumeist eine wahre Einsicht in eine Tatsache oder ein vollständig kohärentes Erfahrungsbild bedeutet, ist der Irrtum ein mißlingendes Verstehen der Wirklichkeit oder ein inadäquater Bezug verschiedener Erfahrungen. Erkenntnisse und Einsichten in die wahre Natur der Welt sind üblicherweise das Ziel menschlichen Denkens und nur schwer zu erlangen. Bei Whitehead erfahren Irrtümer eine andere Bewertung. 41 Da auf der ontologischen Der von Whitehead verwendete Begriff ›error‹ wird in den deutschen Übersetzungen mit ›Irrtum‹ übersetzt, in bestimmten Situationen jedoch wäre die Übersetzung mit ›Fehler‹ zutreffender. Im Folgenden wird, wenn von ›Irrtum‹ oder ›Fehler‹ als Fachbegrifflichkeit in der spekulativen Philosophie die Rede ist, stets auf den gleichen englischen Begriff ›error‹ Bezug genommen. 40 Kraus (1979), S. 81. 41 Tatsächlich nennt Whitehead an einer Stelle in Denkweisen den Irrtumsbegriff in einer Reihe mit der Unordnung und dem Bösen als Ausformungen eines »allgemeinen 39
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Ebene bereits jeder Werdensakt einen mentalen Pol hat und in seinen anfänglichen physischen Empfindungen die ganze Welt auffasst, ist die Totalität aller Ereignisse der Vergangenheit bereits Gegenstand einer unmittelbaren subjektiven Wertung. In den komplexeren, höheren Erfahrungsakten ist nicht die bloße Bewusstmachung der unmittelbar erfahrenen Allverbundenheit mit der Welt das Ziel, sondern die Intensivierung des emotionalen Musters der abschließenden Erfüllung: »Der Zweck der Symbolisierung ist die Steigerung der Wichtigkeit dessen, was symbolisiert wird« (S, 63/122). Irrtümer sind nicht bloß in Hinsicht auf ihre Unrichtigkeit zu bewerten, sondern hinsichtlich der Frage, ob sie intensive Erfahrungen ermöglichen – etwa neue Kontraste oder Denkanregungen: Allerding sollten wir Irrtümer nicht zu kritisch beurteilen. In den Anfangsstadien der geistigen Entwicklung sind Irrtümer der symbolischen Referenz diejenige Disziplin, die die imaginative Freiheit befördert. (S, 19/78 f.)
In einem Irrtum ist der symbolische Bezug keineswegs automatisch gescheitert, sondern kann sogar erfolgreich sein, insofern seine Aufgabe, für intensivere Erfahrung zu sorgen, durch die Folgen des Irrtums befördert wird. 42 Irrtümer können neue Perspektiven oder unversuchte Ansätze bieten, und Whitehead geht sogar so weit, Irrtümer und relevante Neuerungen als eng verwandt zu beschreiben: »In diesem Fall führt das umgewandelte Empfinden des Nexus Neues ein; und in unglücklichen Fällen läßt sich dieses Neue als ›Irrtum‹ bezeichnen.« (PR, 253/462) In der Möglichkeit des Irrtums liegt eine wichtige Voraussetzung für die Entscheidungsfreiheit eines Prozesssubjekts. Die Verknüpfung zwischen der in der Möglichkeit des Irrtums aufscheinenden Funktion der Symbolisierung als Motivator neuer Konzepte und der Funktion der Vernunft als Steuerungsinstanz von NeuerungsWesenszuges«, was den Irrtum als pauschal defizient erscheinen lässt. Aus dem Kontext wird jedoch ersichtlich, dass nicht der Irrtumsbegriff generell, sondern der zu einem schlechten Ergebnis führende Irrtum gemeint ist (MT, 50/90). Ein Irrtum muss für Whitehead jedoch nicht notwendigerweise schlechte Folgen haben. 42 In der Forschungsliteratur wird mitunter nicht zwischen der Funktion eines Symbolisierungsaktes für den Gesamterfahrungsprozess und der in einen Irrtum mündenden misslingenden Bezugnahme eines Symbolisierungsaktes differenziert. Die pauschale Beurteilung von Irrtümer erzeugenden Symbolisierungsakten als gescheitert geht diametral an Whiteheads Intention vorbei, wie sich am Irrtumsbegriff in der Debatte des Aussagenbegriffs besonders deutlich zeigen wird. Zur geschilderten Position der Forschungsliteratur vgl. etwa Burnett (1958), S. 237.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
impulsen ist offensichtlich. Weder die Vermeidung von Irrtümern, noch das allen Veränderungsstimuli kritiklose Nachgeben ist Aufgabe der Vernunft, sondern die vernünftige Lenkung: »Die Vernunft ist das, was die rohe Kraft der anarchischen Strebungen zivilisiert.« (FR, 28/ 32) Dergestalt begreift Whitehead den in Symbolisierungsakten ermöglichten Irrtum als Chance für hochentwickelte Erfahrungssubjekte, die stets auch die Möglichkeit des Verderbens in sich birgt: In der Tat ist Irrtum das Kennzeichen der höheren Organismen und der Lehrmeister, durch dessen Vermittlungstätigkeit es eine aufsteigende Evolution gibt. Beispielsweise besteht der evolutionäre Nutzen der Intelligenz darin, daß sie den Einzelnen befähigt, vom Irrtum zu profitieren, ohne an ihm zugrunde zu gehen. (PR, 168/314)
In der bisherigen Untersuchung ist der Symbolbegriff in seiner allgemeinen Bedeutung für die organistische Philosophie behandelt worden. Seine Verwendungsweise ist damit jedoch noch nicht geklärt, da bei Whitehead die konzeptinternen Funktionsebenen mancher Begriffe nicht notwendigerweise dem Bereich ihrer alltagssprachlichen Verwendung entsprechen müssen, wie am Beispiel der praktischen Form der Vernunft als evolutionäre Grundkraft des Universums gut sichtbar wird. Zwar ist die Sprache als System von Symbolisierungsbezügen für die Formulierung von Whiteheads Symbolbegriff in gewisser Weise paradigmatisch, doch muss der Symbolbegriff Anwendungsbereiche finden können, die auf verschiedenen Erfahrungsebenen relevant sind. Soll der Begriff mit Bezug zur menschlichen Alltagserfahrung verstehbar sein, so muss die organistische Philosophie auch den Bereich des kulturellen Symbolbegriffs erschließen. Vor allem aber muss die sich als Erfahrungsmetaphysik verstehende organistische Philosophie, wenn ein Symbolisierungsakt schon als gerichtete Beziehung zweier Erfahrungskomponenten aufeinander begriffen wird, den Symbolisierungsbegriff auf einer grundlegenden ontologischen Ebene behandeln und erklären, wie der systematische Zusammenhang zwischen den allgemeinen Grundlagen der Theorie des Erfassens und den höheren Phasen der Wahrnehmung, in denen Symbolisierungsakte relevant werden, beschaffen ist.
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Symboltheorie
2.2.3 Symbolisierung als ontologische Funktion 2.2.3.1 Kausale Wirksamkeit Dem Symbolisierungsakt wird in der organistische Philosophie, neben der Verwendung auf hochstufigen Symbolebenen wie etwa kulturellen Symbolsystemen oder der Sprache, auch eine fundamentale Funktion zugewiesen, die sich in Anknüpfung an die systematische Fachterminologie des in Prozeß und Realität behandelten metaphysischen Entwurfs darstellen lässt. Die Notwendigkeiten des Symbolbegriffs auf ontologisch elementarer Ebene ergeben sich beinahe von alleine aus dessen Verständnis als Form der Aufeinanderbeziehung von Erfahrungskomponenten, welche Irrtümer ermöglicht. Dabei wird der Symbolisierungsakt zugleich zu einem zentralen Bestandteil der mentalen Aktivität des Menschen gemacht, da diese zur Erklärung der Frage des wahrhaft-wissen-Könnens dient: Eine angemessene Darstellung menschlichen Denkens verlangt Antworten auf die Fragen: (1) wie wir wahrhaft wissen können, (2) wie wir irren können und (3) wie wir aufgrund von Kriterien zwischen Wahrheit und Irrtum unterscheiden können. Eine solche Erklärung verlangt, daß wir unterscheiden zwischen derjenigen geistigen Arbeitsweise, die aufgrund ihrer Natur eine direkte Bekanntschaft mit Tatsachen erlangt, und derjenigen geistigen Arbeitsweise, welche nur aufgrund der Erfüllung bestimmter Kriterien, die durch den ersten Typus der Arbeitsweise bereitgestellt werden, vertrauenswürdig ist. Ich werde die Position vertreten, daß die erste Arbeitsweise passend als ›direktes Erkennen‹ und die zweite als ›symbolische Referenz‹ bezeichnet werden kann. Ich werde mich ferner darum bemühen, den Lehrsatz zu illustrieren, daß alle menschlichen Symbolisierungen, unabhängig davon, wie oberflächlich sie erscheinen mögen, letztlich auf Verkettungen der fundamentalen symbolischen Referenz zurückgeführt werden müssen – Verkettungen, welche letztlich Wahrnehmungen in verschiedenen Modi direkten Erkennens miteinander verbinden. (S, 7/66 f.) 43
Im englischen Originaltext spricht Whitehead nicht von einer ›angemessenen Darstellung des menschlichen Denkens‹, sondern von ›human mentality‹, also etwa ›menschlicher Geistesaktivität‹. Diese Formulierung ist nicht nur flexibler als die deutsche Übersetzung, sondern kann auch so weit gefasst werden, dass sie den Bereich der Wahrnehmungen abdeckt, was die sich an die zitierte Passage anschließende Explikation der Symbolisierung als Wahrnehmungsaktivität besser an die Aufgabenstellung anschließen lässt.
43
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Alle Symbolisierungsakte sollen auf eine fundamentale symbolische Referenz (symbolic reference) rückführbar sein. Diese fundamentale symbolische Referenz kann jedoch nicht als erster Schritt hin zu einer intellektuellen Aktivität verstanden werden, sondern ist explizit im Bereich der Diskussion von ›Wahrnehmungen‹ (perceptions) angesiedelt. 44 Man könnte gar formulieren, die organistische Philosophie diskutiere das Feld der Sinneswahrnehmungen (sense-perceptions) nur als ontologisch primären Anwendungsbereich des Symbolbegriffs, ohne diesen jedoch auf das Themengebiet der Wahrnehmungen beschränken zu wollen. Ohnehin hat der Wahrnehmungsbegriff in der organistischen Philosophie eine Position, die ihn von vielen anderen philosophischen Konzepten unterscheidet. Whitehead trennt sorgsam den Wahrnehmungsbegriff von dem üblicherweise mit ihm identifizierten Bereich der Sinneswahrnehmungen und erlaubt auch den Bereich der nichtsinnlichen Wahrnehmung als »umfassendere Definition der Wahrnehmung« (AI, 180/332). 45 Die organistische Philosophie unterteilt den Wahrnehmungsbegriff in zwei von der metaphysischen Grundkonzeption herleitbare Unterformen, beide sollen Wahrnehmungsmodi sein. Jedoch sind nicht beide Unterformen für den Erfahrungsprozess eines wirklichen Einzelwesens gleich fundamental; die erste entspricht dem jedem wirklichen Einzelwesen zugrundeliegenden Prozess der Konkreszenz, sodass der elementare Erfahrungs- und Weltprozess als eine bestimmte, universelle Form der Wahrnehmung verstanden wird: Nach dieser Einschätzung ist die Wahrnehmung in ihrer wichtigsten Form das Bewußtsein von der kausalen Wirksamkeit der äußeren Welt, aufgrund derer der Wahrnehmende eine Konkretisierung aus einem endgültig konstituierten Datum ist. Der Vektor-Charakter des Datums entspricht dieser kausalen Wirksamkeit.
In dem sich mit dem symbolischen Bezug beschäftigenden Kapitel in Prozeß und Realität grenzt Whitehead ganz ausdrücklich die elementare Funktion der Symbolisierung als Beschreibungsform der ›Wahrnehmungsweisen‹ (modes of perception) von den intellektuellen Denkaktivitäten ab: »Aber hier untersuchen wir noch nicht die begriffliche oder die intellektuelle Wirkungsweise.« (PR, 168/315) 45 Die Gegenüberstellung von Sinneswahrnehmung, nichtsinnlicher Wahrnehmung und dem Wahrnehmungsbegriff ganz allgemein vgl. AI, 177–186/329–341. Die Diskussion des Wahrnehmungsbegriffs als essentiell nichtsinnliche Operation ist ein zentraler Bestandteil von Whiteheads metaphysischem Entwurf und findet sich an verschiedenen Stellen der organistischen Philosophie, vgl. etwa PR, 36/88. 44
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Symboltheorie
Daher ist Wahrnehmung in diesem wichtigsten Sinne die Wahrnehmung der abgeschlossenen Welt der Vergangenheit, wie sie sich aus ihren Empfindens-Tönen aufbaut und aufgrund dieser Empfindens-Töne wirkt. Wahrnehmung in diesem Sinne des Wortes wird als ›Wahrnehmung in der Weise der kausalen Wirksamkeit‹ bezeichnet. Das Gedächtnis ist ein Beispiel für die Wahrnehmung in dieser Weise. Denn das Gedächtnis ist Wahrnehmung, welche sich auf die Daten irgendeines historischen Weges von elementaren Wahrnehmungssubjekten M1, M2, M3 usw. bezieht, die bis hin zu M, dem sich erinnernden Wahrnehmungssubjekt führen. (PR, 120/231 f.) 46
Die ›kausale Wirksamkeit‹ (causal efficacy) 47 beschreibt den Prozess der Wahrnehmung vergangener objektiver Daten der Vorwelt. Da für Whitehead auch das Empfinden der kausalen Bedingungen des eigenen Werdensprozesses ein Erfahrungsakt ist, kann die Realisierung der eigenen Bedingtheit durchaus als Wahrnehmung verstanden werden. Dabei hat die Vorwelt nicht lediglich die Eigenschaft einer passiven Voraussetzung, sondern das Empfinden der Vergangenheit beerbt die Erfahrungen und Empfindungen der bereits gewordenen wirklichen Einzelwesen. Erinnerung als Erfahrungsakt ist keine hochstufige mentale Operation, die vergangene Zeiten für das aktuelle Empfinden wiedererlebbar macht, sondern das unmittelbare Auffassen der emotionalen Muster der Vorwelt, das die elementare Dynamik jedes Werdeprozesses ausmacht. Auch auf der Ebene unserer Erfahrung lässt sich die Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit an bestimmten Erfahrungsbereichen analytisch herauspräparieren: »Wenn wir offensichtliche Beispiele für die reine Weise der kausalen Wirksamkeit finden wollen, müssen wir auf die inneren Organe und das Gedächtnis zurückgreifen« (PR, 121 f./233 f.). Die kausale Wirkverursachung bezeichnet also einen Gedächtnisbegriff, der dem Bereich der Psychologie Weil an dieser Stelle eine Beschreibung der ontologischen Grundlagen beabsichtigt ist, verwendet Whitehead den Begriff des Bewusstseins unglücklich. Ihm ist nicht daran gelegen, jeden Wahrnehmungsakt im Modus der kausalen Wirksamkeit notwendigerweise zu einem Bewusstseinsakt zu machen – ganz im Gegenteil ist Bewusstsein eine seltene Spezialform der Erfahrung (PR, 36/88). Allerdings bezieht sich die zitierte Passage auf einen der raren Fälle in Prozeß und Realität, in denen ein Beispiel praktischer menschlicher Erfahrung angeführt wird. 47 Manchmal spricht Whitehead von ›kausaler Objektivierung‹ (causal objectification) statt von ›kausaler Wirksamkeit‹. Offenkundig ist die gleiche Form des Wahrnehmungsprozesses gemeint, aber die eine Formulierung weist eher auf den Aspekt der genetischen Bedingtheit der Wahrnehmung hin, während die andere Formulierung den Aspekt der objektiven Verursachung durch das objektive Datum betont. 46
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
fremd ist und eine starke körperliche Komponente besitzt. Das wird auch in der Weise deutlich, in der Whitehead Descartes und Hume hinsichtlich ihres Konzeptes direkter Erkenntnis der Welt vergleicht: Beide – wenn auch Hume expliziter – stimmen darin überein, daß die Sinneswahrnehmung der gleichzeitigen Welt von der Wahrnehmung des ›Dabeiseins‹ des Körpers begleitet ist. Genau dieses Dabeisein macht den Körper zum Ausgangspunkt für unsere Erkenntnis der umgebenden Welt. Hier finden wir unsere direkte Erkenntnis der ›kausalen Verursachung‹. (PR, 81/ 163) 48
Die wichtigste Aufgabe der Wahrnehmung in der Form kausaler Wirksamkeit ist für Whitehead nicht die klare Erkenntnis, sondern die tiefemotionale, wenngleich etwas vage Erfahrung des dynamischen Weltprozesses, der als ontologische Grundeigenschaft eine gewollte Parallele zu der Dynamik von in der Physik beobachtbaren Prozessen aufweist. Die Dynamik eines Wahrnehmungsaktes muss aus der Übernahme und erneuten Aktualisierung der komplexen Gefühlswelt der Vergangenheit stammen: In der kausalen Objektivierung wird das, was das objektivierte wirkliche Einzelwesen subjektiv empfindet, objektiv auf die sich konkretisierenden Wirklichkeiten übertragen, die es überschreiten. In Lockes Terminologie übt das objektivierte wirkliche Einzelwesen dann eine ›Kraft‹ aus. In diesem Typ der Objektivierung drücken die zeitlosen Gegenstände, die eine Relation zwischen Objekt und Subjekt herstellen, die formale Beschaffenheit des objektivierten wirklichen Einzelwesens aus. […] Die direkte Wahrnehmung, durch welche das Datum im unmittelbaren Subjekt von der Vergangenheit ererbt wird, kann daher, mit einer Abstraktion, als die Verlagerung von emotionalen Energiestößen aufgefaßt werden, die in Gestalt der spezifischen Formen auftreten, für welche die Sinnesgegenstände sorgen. Da die Vagheit stets im erfahrenden Subjekt zur Verschleierung der getrennten Objektivierungen führen wird, in denen individuelle Beiträge zu der umfassenden Objektivierung liegen, trägt die emotionale Energie in der abschließenden Erfüllung den Aspekt einer totalen Intensität, in der alle Möglichkeiten einer idealen Variation angelegt sind. (PR, 58,116/124,224)
Den Aspekt der ›Kraft‹ (power) in der Wahrnehmung nach dem Muster kausaler Wirksamkeit betont Stephen Franklin besonders deutlich, Die deutsche Übersetzung ist an dieser Stelle etwas inkonsequent und ersetzt grundlos ›kausale Wirksamkeit‹ durch ›kausale Verursachung‹ ; im englischen Original steht unverändert causal efficacy.
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Symboltheorie
nach seiner Lesart ist die ›Kraft‹ kennzeichnendes Merkmal der »basic perceptions« eines wirklichen Einzelwesens in der Wahrnehmungsform der kausalen Wirksamkeit. 49 Der Ausdruck basic perception hat eine doppelte Bedeutung. Einerseits weist er auf die fundamentale Rolle der kausalen Wirksamkeit für das wirkliche Einzelwesen hin, denn alle anfänglichen Empfindungen des Werdensaktes eines wirklichen Einzelwesens entstehen im Modus der kausalen Wirksamkeit. Andererseits kommt in ihm auch die Limitierung der kausalen Wirksamkeit auf die einfachen Phasen der Wahrnehmung zustande. Komplexere und erfahrungsintensivere Wahrnehmungen haben Empfindungsstrukturen, die über den Modus der kausalen Wirksamkeit hinausgehen. Aus diesem Grund charakterisiert Whitehead die Wahrnehmung im Modus kausaler Wirksamkeit auch als primitiv (vgl. S, 43/ 102). Worin auf ontologischer Beschreibungsebene die Möglichkeiten von Wahrnehmungsformen liegen, die über die kausale Wirksamkeit hinausgehen, lässt sich am besten verstehen, wenn die Begrenzungen der kausalen Wirksamkeit in den Blick genommen werden. Wahrnehmungen im Modus der kausalen Wirksamkeit haben eine große emotionale Tiefe, da die Fühlungen der Vorwelt die objektivierten wirklichen Einzelwesen in deren vollständigem, erfüllten emotionalen Muster auffassen: Die primitive Form der physischen Erfahrung ist emotional – blindes Gefühl –, wird rezipiert, als werde sie anderswo, in einem anderen Ereignis empfunden und als eine subjektive Leidenschaft konform angeeignet. (PR, 162/ 303 f.)
Gerade diese Massivität der objektiven Daten ist allerdings auch der Grund für das Charakteristikum der ›Vagheit‹ (vagueness), das für die Wahrnehmungsform der kausalen Wirksamkeit ebenso wichtig ist. ›Vagheit‹ ist ein Begriff, den Whitehead in einem Bündel mit den Begriffen ›Trivialität‹ (triviality), ›Enge‹ (narrowness) und ›Weite‹ (width) verwendet, um das Zusammenspiel der einzelnen Empfindungen in einer synthetischen Empfindungseinheit zu beschreiben, deren Ziel es ist, eine möglichst hohe Erfahrungsintensität in der abschließenden Erfüllung zu erlangen. Das harmonische Zusammenspiel der einzelnen Empfindungen kann mit den genannten verschiedenen Qualitäten charakterisiert werden. Dabei beschreiben die Begriffe keine 49
Vgl. Franklin (1990), S. 124 ff.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Charakteristika der einzelnen Empfindungen, sondern die Form des emotionalen Musters, das dem wahrnehmenden Subjekt entsteht, wenn es die einzelnen Empfindungen zueinander in Beziehung setzt und in eine umfassende Erfahrungsperspektive synthetisiert. Andererseits geht die ›Vagheit‹ mit einer übetriebenen Identifizierung einher. Im Datum sind die Objektivierungen verschiedener wirklicher Einzelwesen Ebenbilder mit schwacher Koordination des perspektivischen Kontrasts. Unter diesen Bedingungen sind die Kontraste zwischen den verschiedenen Objektivierungen schwach, und es herrscht ein Mangel an zusätzlichem Empfinden, das die Objekte voneinander unterscheidet. […] Aufgrund der Vagheit zählen viele als eins und sind unbegrenzten Möglichkeiten der Teilung in solche vielfältigen Einheiten unterworfen. Wenn ein solches vages Erfassen vorliegt, sind die Unterschiede zwischen den so erfaßten wirklichen Einzelwesen schwache, chaotische Faktoren in der Umgebung und sind dadurch in Irrelevanz verbannt worden. (PR, 111 f./215 f.)
Ein vager Gesamterfahrungsakt zeichnet sich durch geringe Fokussierung der Aufmerksamkeit des Subjekts aus. Die große Masse der einzelnen Empfindungen in ihrer feinstufigen, undifferenzierten Vielseitigkeit führt zu einem emotionalen Muster, in dem kein Merkmal der eigenen anfänglichen Empfindungen durch Koordination späterer Empfindungen zu einer herausragenden Bedeutung gelangt ist. Vages Empfinden ist der natürliche Urzustand von Erfahrungsprozessen (vgl. ESP 93). 50 Erfahrungsmuster mit einem hochstufig entwickelten mentalen Pol scheint Whitehead generell an der Einschränkung der Aufmerksamkeit auf einige wenige dominante Muster festzumachen, die dann mit erhöhter Intensität rezipiert werden. Das egalitäre Beziehungsgeflecht vieler einfacher Empfindungen, deren individueller Facettenreichtum die Herausbildung klarer Kontraste verhindert, wird in der organistischen Philosophie auch als Analogie zu demokratischen Strukturen gedeutet (vgl. PR, 108/211). Whiteheads Beschreibung der kausalen Wirksamkeit anhand des Beispiels des Gedächtnisses ist ein wichtiger Indikator dafür, wie er die kausal wirksame Wahrnehmung verstanden wissen möchte. Im Kern beruht sein Entwurf basaler Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit auf seiner an George Santayana orientierten Ablehnung Diese Passage wurde bereits in der Diskussion der Perspektive von Whiteheads Philosophie zitiert, an dieser Stelle zeigt sich nun, wie die philosophische Perspektive eines vagen Erfahrungshintergrundes sich in eine ontologische Grundstruktur übersetzt.
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Symboltheorie
eines einfachen sensualistischen Wahrnehmungsbegriffs, wie er am Beispiel von Humes Konzept der Impressionen ausführt. Wenn, wie Hume annimmt, alle Erfahrungsakte lediglich sensualistisch erfasste Impressionen sind, gibt es lediglich die Wahrnehmung des aktuellen Augenblicks, und jeder Gedächtnisakt ist nichts anderes als eine komplexe Reaktion auf die aktuellen Impressionen. Santayana nennt diese Wahrnehmungsverengung auf die Gegenwart, in der die Vergangenheit als Wahrnehmungsraum völlig ausgeschlossen wird, den »Solipsism of the Present Moment«. 51 Whitehead übernimmt diese Position und kritisiert Humes Theorie deutlich, indem er ihre Konsequenzen aufzeigt. Humes Konzept wird nicht als inkonsistent zurückgewiesen, sondern ganz pragmatisch deshalb, weil sein Gegenwartssolipsismus gemäß Whitehead der Struktur unserer Erfahrung nicht gerecht wird. Das in der menschlichen Erfahrung enthaltene Gefühl der eigenen kausalen Bedingtheit, terminologisch gefasst als ›Gedächtnis‹, ist für die ontologische Konzeption der organistischen Philosophie ausschlaggebend: Sogar das Gedächtnis verschwindet, denn eine Gedächtnisimpression ist keine Impression eines Gedächtnisses. Es ist nur eine andere unmittelbare private Impression. […] Humes Lehre mag eine gute Philosophie sein, aber sie entspricht sicherlich nicht dem gewöhnlichen Menschenverstand. Mit anderen Worten: Sie scheitert am ultimativen Prüfstein der evidenten Bestätigung. (S, 33,37/92,96)
Der von Whitehead verwendete englische Begriff ›memory‹ wäre statt mit ›Gedächtnis‹ vielleicht besser übersetzt mit ›Erinnerung‹. Erstens ist die ›Erinnerung‹ ein dynamischer Vorgang und wird damit dem Vektorcharakter der Erfahrung eher gerecht, und zweitens bildet der Begriff den Erfahrungsprozess kausal wirksamer Wahrnehmung nach, wie Whitehead ihn verstanden haben möchte: ›Erinnerung‹ ist das Wieder-Inne-Werden dessen, was objektivierte wirkliche Einzelwesen der Vorwelt bereits einmal als ihr Inbild realisiert haben. 52 Vgl. Santayana (1937), besonders die Ausführungen in Kapitel VI, VII und XI. Friedrich A. Uehlein interpretiert mit sprachlicher Finesse das subjektive Ziel eines wirklichen Einzelwesens als das ›Inbild‹, dessen ein Werdenssubjekt im Prozess seiner Einbildung ›inne wird‹. Der Werdensprozess des wirklichen Einzelwesens ist dergestalt ein Einbildungsprozess im Sinne eines In-Eins-Bildungs-Prozesses. Vgl. Uehlein (1992), S. 281 f. Michael Hampe verzichtet auf die Standardübersetzung Holls und spricht von ›Erinnerung‹ statt ›Gedächtnis‹ (vgl. Hampe (1990), S. 124 ff.).
51 52
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
2.2.3.2 Präsentative Unmittelbarkeit Die Erinnerung im Modus der kausalen Wirksamkeit ist nicht die einzige Form der Wahrnehmung in der organistischen Philosophie. Um zu einem Konzept zu kommen, das dem im alltäglichen Sprachgebrauch üblichen Verständnis des Wahrnehmungsbegriffs als Sinneswahrnehmung Rechnung trägt, muss Whitehead zusätzlich einen den Bereich sensualistischer Wahrnehmung abdeckenden Modus der Wahrnehmung einführen. Diese zweite Wahrnehmungsform nennt er ›präsentative Unmittelbarkeit‹ (presentational immediacy). 53 Sie ist in vielerlei Hinsicht das Komplementärkonzept zum Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit. Statt die kausalen Bedingungen des eigenen subjektiven Prozesses zu empfinden, erfasst die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit die gleichzeitig existierende Welt, also diejenigen anderen wirklichen Einzelwesen, deren Selbstwerdungsprozess sich parallel zum eigenen vollzieht. Doch obwohl Whitehead sich bei der Gestaltung der präsentativen Unmittelbarkeit an der Sinneswahrnehmung orientiert, möchte er sie als ontologisch fundamentale Wahrnehmungsform ausgeben, die nicht notwendigerweise die uns geläufigen Sinnesorgane voraussetzen muss: Unter ›präsentativer Unmittelbarkeit‹ verstehe ich das, was üblicherweise als ›Sinnes-Wahrnehmung‹ bezeichnet wird. Aber ich verwende den ersteren Begriff in Begrenzungen und Erweiterungen, die der üblichen Verwendung des letzteren fremd sind. Präsentative Unmittelbarkeit ist unsere unmittelbare Wahrnehmung der gleichzeitigen äußeren Welt, die als ein konstitutives Element unserer eigenen Erfahrung erscheint. In dieser Erscheinung zeigt sich die Welt als eine Gemeinschaft aktualer Dinge, die in demselben Sinn aktual sind, wie wir selbst es sind. (S, 21/80 f.) 54
53 Der Begriff der presentational immediacy wird sowohl in Process and Reality als auch in Symbolism verwendet. Allerdings unterscheidet sich die deutsche Übersetzung in beiden Werken: Während in Prozeß und Realität mit ›vergegenwärtigende Unmittelbarkeit‹ übersetzt wird, verwendet Kulturelle Symbolisierung den Begriff der ›präsentativen Unmittelbarkeit‹. In diesem Kontext soll die Übersetzung aus Kulturelle Symbolisierung berücksichtigt werden, da die systematische Diskussion der presentational immediacy vor allem in diesem Werk entwickelt wird. 54 Der Begriff der Sinneswahrnehmung wird in den anderen Hauptwerken Whiteheads kaum thematisiert, aber im ersten Kapitel von Der Begriff der Natur, seiner Untersuchung des Naturbegriffs, diskutiert er den Bereich der Sinneswahrnehmung bereits ausführlich in einer Weise, die mit seiner Behandlung des Themas in Kulturelle Symbolisierung große Gemeinsamkeiten hat.
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Symboltheorie
Ohnehin scheint für Whitehead die Hauptdifferenz zwischen niederen und höheren Formen der Wahrnehmung nicht nicht in der begrifflichen Trennung zwischen ›Wahrnehmung‹ und ›Sinneswahrnehmung‹ zu liegen, denn er verwendet den Begriff der sensa (in der deutschen Übersetzung: ›Sinnesgegenstände‹) als allgemeine Beschreibungsform für »die niedrigste Kategorie von zeitlosen Gegenständen« (PR, 114/220). Der Hauptunterschied liegt in der Weise, in der die Sinnesgegenstände vom wirklichen Einzelwesen erfasst werden. Whitehead differenziert zwischen den Modi der ›Sinneswahrnehmung‹ (sense-perception) und ›Sinnes-Rezeption‹ (sense-reception), wobei erstere ›verräumlicht‹ (spatialized) und zweitere ›unverräumlicht‹ (unspatialized) sind (vgl. PR, 113/219). Sinneswahrnehmungen stehen also im Kontext der ›Theorie der Ausdehnung‹, indem sie dem erfahrenden Subjekt ein über die bloße anfängliche, affirmative Rezeption der Vorwelt hinausgehendes Räumlichkeitsgefühl geben. Mit diesem Konzept der Sinneswahrnehmung beschreibt Whitehead noch nicht das Erfahrungsphänomen, das wir üblicherweise mit diesem Begriff bezeichnen, sondern eine Grundform der Wahrnehmung. Der Hauptunterschied zwischen dem Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit und sensualistischen Wahrnehmungstheorien 55 liegt in dem Stellenwert der Sinneswahrnehmung. Während in sensualistischen Theorien die einzige Erfahrungsverbindung zur Welt in der Wahrnehmung durch die eigenen Sinne begründet ist und dementsprechend jede Sinneswahrnehmung entsprechende Rezeptionsorgane voraussetzt, ist in der organistischen Philosophie der universelle Wahrnehmungsakt nicht auf hochstufige Sinneswahrnehmungen angewiesen, sondern empfindet seine ihn prägende Vorwelt vollumfänglich im Modus der kausalen Wirksamkeit. Die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ist lediglich eine ergänzende Wahrnehmungsform späterer Phasen der Konkreszenz. Aufgrund der Unterteilung des Wahrnehmungsbegriffs in zwei verschiedene Formen hat Elizabeth Kraus von einer »modal theory of perception« in der organistischen Philosophie gesprochen. 56 Sinneswahrnehmungen sind, in gewisser Hinsicht, das Gegenteil der fundamentalen Empfindungen Whitehead denkt hierbei vor allem an Hume, dessen philosophische Positionen als Vertreter des englischen Empirismus sowie des Sensualismus ihn zu einem der am häufigsten kritisch aufgenommenen Denker der organistischen Philosophie machen. 56 Vgl. Kraus (1979), S. 69. 55
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
im Modus kausaler Wirksamkeit. Whitehead will sie nicht auf der Ebene ontologisch konstitutiver Erfahrungsprozesse diskutieren, sondern sieht in ihnen eine hochstufige Sonderform der Wahrnehmung, die explizit auf der Ebene der menschlichen Erfahrung behandelt wird: Nun ist aber die Fähigkeit der Sinneswahrnehmung nur höheren Tieren zu eigen. Wir wollen sie daher so konzipieren, wie wir sie kennen, d. h., wie sie sich im Rahmen der menschlichen Erfahrung darstellt. Sie ist ein hochentwickelter Abkömmling der primitiveren leiblichen Erfahrung, die das Gebiet jener Erfahrung ausmacht, das wir zuletzt berücksichtigten. Sie ist allerdings über ihre Herkunft hinausgewachsen und hat eine emphatische Umkehrung herbeigeführt. Ihr wichtigster Wesenszug ist Klarheit, Abgegrenztheit und Gleichgültigkeit. Ihre emotionalen Wirkungen sind sekundäre Abkömmlinge: hervorgerufen durch das Auftreten von Reaktionen, die von der Sinneswahrnehmung selbst zu unterscheiden sind. (MT, 72 f./111) 57
Der Eigenschaftskontrast zwischen beiden Wahrnehmungsformen ist eklatant. Die intensitätsschwere Emotionalität der einfachen Empfindungen im Modus der kausalen Wirksamkeit wird abgelöst durch eine für sich betrachtet explizit emotionsfreie Wahrnehmung, die dem vagen Empfinden der kausalen Wirksamkeit eine klare, distinkte Erfahrung entgegensetzt. Der Charakter der Vagheit einfacher Empfindungen resultierte aus der Massivität der erfassten objektiven Daten, die ohne nennenswerte Zuspitzung auf relevante Kontraste die individuelle Qualität jedes Empfindungsdatums in den Gesamterfahrungsprozess einbrachte. Wahrnehmungen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit erhalten ihre Klarheit zum einen, indem sie nicht jedes objektivierte Einzelwesen in dessen individuellem Charakter berücksichtigen, sondern größere Nexūs erfassen, in denen die Empfindungen der Qualitäten individueller objektivierter Einzelwesen zugunsten der WahrDie Übersetzung ist an einer Stelle irreführend. Whitehead spricht im englischen Originaltext nicht davon, die Sinneswahrnehmung zu ›konzipieren‹, sondern »[to] consider it as we know it«, also die Sinneswahrnehmung zu bedenken oder zu prüfen. Die Bedeutungsverschiebung der Übersetzung ist offenkundig: Im Originaltext ist die Sinneswahrnehmung, wie wir sie kennen, der empirische Ausgangspunkt der Betrachtung, in der Übersetzung wird sie zur Zielvorstellung für die Theorie der präsentativen Unmittelbarkeit. Whiteheads bekundetes Interesse ist aber gerade, die Theorie der präsentativen Unmittelbarkeit nicht als bloße Erklärung des Phänomens der Sinneswahrnehmung anzulegen, sondern die Sinneswahrnehmung »in Begrenzungen und Erweiterungen, die der üblichen Verwendung« des Wahrnehmungsbegriffs »fremd« seien (vgl. S, 21/80 f.), zu diskutieren.
57
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Symboltheorie
nehmung umfassender Formbestimmtheiten des jeweiligen Nexus, die ein kontrastreicheres Empfinden ermöglichen, aufgegeben werden. Dies wird in der Diskussion der ›Kategorie der Umwandlung‹ (category of transmutation) noch präzisiert werden. Wichtiger noch, entspringen zum anderen die Klarheit und Gleichgültigkeit der präsentativen Unmittelbarkeit einem fundamentalen strukturellen Unterschied zwischen beiden Wahrnehmungsmodi, der eine Wahrnehmung in präsentativer Unmittelbarkeit nicht die emotionalen Muster seiner Vorwelt erfassen lässt, sondern die abstrakte Potentialiät räumlicher Gleichzeitigkeit. Der kosmologische Entwurf der organistischen Philosophie beruht auf dem in stets neuen Prozessen realisierten Wirkungszusammenhang zwischen objektivierten wirklichen Einzelwesen und dem aktuell werdenden wirklichen Einzelwesen. Dieser Wirkungszusammenhang ist eine kausale Beziehung zwischen den vielen Einzelwesen der Vorwelt, die dem aktuellen Werdenssubjekt den Bereich realer Potentialität vorgeben, aus dem es sein subjektives Ziel wählen kann, und dem werdenden wirklichen Einzelwesen, das die objektiven Daten der Vergangenheit erfasst, um eine möglichst intensive Erfahrung in seiner eigenen Erfüllung und in künfigen Werdensprozessen zu ermöglichen. 58 Der Kausalbezug setzt sich sogar in die dem aktuell werdenden Einzelwesen lediglich als Potential bekannte Zukunft fort, denn die eigene objektivierte Formbestimmtheit wird zum Datum künftiger Prozesse werden: Damit ist es nun möglich geworden zu bestimmen, in welchem Sinne die Zukunft der Gegenwart immanent ist. Sie ist der Gegenwart immanent, weil in deren eigenem Wesen die Beziehungen angelegt sind, die sie zur Zukunft haben wird. Sie enthält in ihrem Wesen die Notwendigkeiten, die der Zukunft Konformität auferlegen. (AI, 194/353)
In diesem fundamentalen kosmologischen Wirkungszusammenhang gibt es kausal bedingtes Empfinden der Vergangenheit, die vorausWhitehead gibt nicht viele Anhaltspunkte zu der Frage, welches Gewicht das Wohl der potentiellen zukünfigen Realisierungen für die Entscheidung des subjektiven Zieles hinsichtlich seiner eigenen abschließenden Erfüllung hat. In der ›Kategorie der subjektiven Intensität‹ (category of subjective intensity) spricht er von dem »doppelten Ziel«, beiden Ebenen gerecht zu werden, und verortet im Problem dieser Gewichtung den Ursprungsort der Moralität. Jeder Prozess verwirklicht sein eigenes subjektives Ziel unter der Maßgabe, künftige Prozesse zu berücksichtigen (vgl. PR, 27/73).
58
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sehende Annahme künfiger Erfahrungsprozesse – aber kein Empfinden der gleichzeitigen Aktualität. Whiteheads metaphysischer Entwurf muss die Frage beantworten, wie sie Gleichzeitigkeit erklären will und damit einer Grundintuition unserer Erfahrung gerecht werden kann: Wir erleben die Welt als ein Miteinander vieler gleichzeitig ablaufender Prozesse, die durchaus in Unabhängigkeit voneinander, ohne kausalen Wirkungsbezug, geschehen können. Die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ist die Antwort auf genau diese Frage. Whiteheads Definition der Gleichzeitigkeit ist die völlige kausale Unabhängigkeit von Prozessen untereinander (vgl. PR, 123/236 f.). Wenn in zwei Prozessen keiner der beiden zur objektiven Vorwelt des anderen gehört, sie also in keinem Kausalbezug zueinander stehen, dann finden sie gleichzeitig statt. Da nur abgeschlossene Werdensprozesse, die bereits ihre Konkreszenz zum objektiven Datum hinter sich haben, als objektives Datum empfunden werden können, kann zwischen gleichzeitigen Prozessen kein Erfahrungszusammenhang und damit auch kein Zusammenhang realer Bezogenheit aufeinander bestehen. 59 Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ist also keine direkte Wahrnehmung des gleichzeitigen Prozesses, sondern eine ›Projektion‹ (projection) 60 von kausal empfundenen Qualitäten der Vergangenheit auf die anderen, gleichzeitig zur eigenen Verwirklichung ihr subjektives Ziel verwirklichenden Prozesssubjekte. In dem Empfinden der Formbestimmtheit eines objektiven Datums wird nicht nur die realisierte Formbestimmtheit erfasst, sondern offenbar ist im Konzept Whiteheads für das empfindende Subjekt, genau wie für das ursprüngliche Subjekt, mit dem Erfassen dieser Formbestimmtheit
Paul Schmidt diskutiert die Möglichkeit einer direkten Wahrnehmung von gleichzeitigen Prozessen in der organistischen Philosophie und führt Textstellen aus Kulturelle Symbolisierung an, aus denen herausgelesen werden könnte, dass es möglich sei, Gleichzeitiges wahrzunehmen, kommt aber zu dem überzeugenden Schluss, Whitehead habe sich an dieser Stelle ambivalent ausdrücken müssen, da er in der Passage auf Sinneswahrnehmungstheorien anderer Denker referiert. In der systematischen Darstellung in Prozeß und Realität und Abenteuer der Ideen ist das direkte Empfinden von gleichzeitigen Prozessen unmöglich. Vgl. Schmidt (1967), S. 134 f. 60 Eine umfassendere Darstellung der Projektionsaktivität bietet der zweite Teil von Prozeß und Realität an, in welchem der Zusammenhang zwischen der Projektion der präsentativen Unmittelbarkeit und der Geist-Körper-Relation ausführlicher behandelt wird als in Kulturelle Symbolisierung: Vgl. PR, 175 ff./328 ff. 59
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Symboltheorie
zugleich immer die Perspektive einer relevanten Zukunft verbunden. Aus den erfassten Eigenschaften der Vergangenheit ergeben sich die bedingenden Notwendigkeiten, unter denen zeitgleich zum eigenen Werdensprozess sich realisierende wirkliche Einzelwesen ihren Selbstwerdungsprozess vollziehen. In der präsentativen Unmittelbarkeit wird kein anderes Einzelwesen direkt empfunden, sondern die ›reale Möglichkeit‹ (real potentiality) seines Werdens auf die Realität seiner tatsächlichen Selbstwerdung projiziert. Nun soll die Projektion allerdings kein abgeleiteter Prozess sein, in dem zuerst Eigenschaften empfunden werden, um sie anschließend in die Gleichzeitigkeit hineinzuverlegen: Der gewöhnliche Sprachgebrauch, dem ich mich durch die Rede von der ›Projektion unserer Sinnesempfindungen‹ anschloß, ist sehr irreführend. Es gibt keine reinen Sinnesempfindungen, welche zuerst erfahren und dann in unsere Füße als ihre Gefühle oder auf die gegenüberliegende Wand als ihre Farben ›projiziert‹ werden. Die Projektion ist ein integraler Bestandteil der Situation und ganz genau so ursprünglich wie die Sinnesdaten. (S, 14/73 f.)
Die Projektionsaktivität einer Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit ist eine natürliche Empfindungstätigkeit, die, wie ihr Name schon sagt, die Gegenwart unmittelbar erfasst, und zwar als Potentialität. In Empfindungen im Modus der kausalen Wirksamkeit wird die Bedingtheit des eigenen emotionalen Musters durch die abschließenden Formen der objektiven Vorwelt als selbstverständlich vorausgesetzt; in Empfindungen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit wird räumliche Ausdehnung der Welt, von welcher das eigene subjektive Werden lediglich einen Teil abdeckt, als selbstverständlich vorausgesetzt. 61 Der Begriff der ›Ausdehnung‹ wird von Whitehead jedoch allgemeiner verwendet als in der Einengung auf ein
Das Problem der Ausdehnung hat Whitehead über viele Jahre hinweg, in verschiedenen Publikationen seit seiner Zeit als Mathematikprofessor, zu lösen versucht, ohne dabei den Problemumfang zu bagatellisieren. Offensichtlich sieht er die hier beschriebene Empfindungsaktivität als Möglichkeit, dieses Vorhaben mit seiner Kosmologie der Erfahrungsprozesse zu verbinden. Im vierten Teil von Prozeß und Realität, der programmatisch mit Theorie der Ausdehnung überschrieben ist, sieht er die Vermittlung zwischen dem Körper des wahrnehmenden Subjekts und der Außenwelt in der Projektion und schließt eindeutig an seine Symbolisierungs- und Sinneswahrnehmungstheorie in Kulturelle Symbolisierung an, wenn er »›projizierte‹ Sinneseindrücke, die Gebiete des gleichzeitigen Raumes jenseits des Körpers einschließen« (PR, 314/566) erwähnt.
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bloß geometrisches Schema. 62 Er nutzt ihn als Bezeichnung für ein Gefüge extensiver Potentialität: Wir müssen uns zunächst die Wahrnehmungsweise vergegenwärtigen, in der es ein klares und deutliches Bewußtsein von den ›extensiven‹ Relationen der Welt gibt. Diese Relationen umfassen sowohl die ›Ausgedehntheit‹ des Raumes als auch die der Zeit. Zweifellos erlangt man diese Klarheit, zumindest hinsichtlich des Raumes, nur in der gewöhnlichen Wahrnehmung über die Sinne. Diese Wahrnehmungsweise wird hier als ›vergegenwärtigende Unmittelbarkeit‹ bezeichnet. In dieser ›Weise‹ wird die gleichzeitige Welt bewußt als ein Kontinuum von extensiven Relationen erfaßt. […] Auf diese Weise wird die gleichzeitige Welt aufgrund des Prinzips der gleichzeitigen Unabhängigkeit für uns unter dem Aspekt der passiven Potentialität objektiviert. Gerade die Sinnesdaten, durch welche man ihre Teile differenziert, werden durch vorausgehende Zustände unseres eigenen Körpers beigesteuert, und so verhält es sich auch mit deren Verteilung im gleichzeitigen Raum. Unsere direkte Wahrnehmung der gleichzeitigen Welt wird daher auf Ausdehnung reduziert und definiert (i) unsere eigene geometrische Perspektive, (ii) Möglichkeiten wechselseitiger Perspektiven für andere gleichzeitige Einzelwesen inter se und (iii) Möglichkeiten der Teilung. Diese Möglichkeiten der Teilung konstituieren die äußere Welt als ein Kontinuum. Denn ein Kontinuum ist teilbar; soweit die gleichzeitige Welt durch wirkliche Einzelwesen geteilt wird, ist sie kein Kontinuum, sondern atomistisch. Daher wird die gleichzeitige Welt mit ihrer Potentialität der extensiven Teilung wahrgenommen und nicht in ihrer wirklichen atomistischen Teilung. (PR, 61 f./129 f.)
Vgl. Kraus (1979), S. 59. Kraus beschreibt das extensive Kontinuum der organistischen Philosophie und grenzt die Konzeption von der Kosmologie Newtons und dem Ansatz Kants ab, ohne sich dabei auf die beiden verschiedenen Wahrnehmungsmodi zu beziehen. Damit trägt sie der kosmologischen Bedeutung der Theorie des extensiven Kontinuums Rechnung, die in der Gleichsetzung der Gleichzeitigkeit in kausaler Unabhängigkeit mit den Grundlagen von Einsteins Relativitätstheorie in der organistischen Philosophie (vgl. PR, 61/129) zum Ausdruck kommt. Allerdings kann, wie Kraus anmerkt, das extensive Kontinuum nicht ohne einen Bezug auf die Wahrnehmungsmodi verstanden werden. Da die ontologische Kohärenz der Welt durch Erfahrungszusammenhänge geleistet wird und die zwei Wahrnehmungsmodi zwei distinkte Erfahrungsarten beschreiben, ist die kosmologische Bedeutung des extensiven Kontinuums ohne einen Rekurs auf die präsentative Unmittelbarkeit nicht vollständig. Diesen notwendig zu betrachtenden Gesamtrahmen meint Michael Hampe, wenn er über das extensive Kontinuum und die Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit sagt, Whiteheads Position in diesem Problemfeld sei weder als Physikalismus noch als phänomenalistischer Standpunkt ausweisbar (vgl. Hampe (1990), S. 270).
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Symboltheorie
Das ›extensive Kontinuum‹ (extensive continuum) wird von wirklichen Einzelwesen atomisiert; jedem korrespondiert ein »vergegenwärtigter geometrischer Ort; dieser ist der gleichzeitige Nexus, der, zusammen mit seinen Gebieten, die durch Sinnesgegenstände abgegrenzt werden, in der Weise der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit wahrgenommen wird.« (PR, 126/241) In der Funktion des ›Ortes‹ (locus), die darin besteht, den distinkten Naturvorgängen eine Einheit zu verleihen, sieht Whitehead eine inhaltliche Parallele zum platonischen Konzept der chóra (vgl. AI, 187/343). Die objektiven Daten der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit sind die parallel zu dem wahrnehmenden Subjekt, in Gleichzeitigkeit, werdenden Einzelwesen, die nicht in dem komplexen emotionalen Muster ihrer abschließenden Formbestimmtheit empfunden werden können, sondern lediglich als die abstrakte Möglichkeit, das Kontinuum durch ihren aktualen Selbstwerdungsprozess zu atomisieren. Ihre individuelle Qualität wird so auf die Funktion eines Objekts beschränkt, das als Ausdruck der geometrischen Muster der räumlichen Extensionalität fungiert. Statt einer vagen Empfindung der emotionalen Massivität der Vorwelt nach dem Modus der kausalen Wirksamkeit ist die präsentative Unmittelbarkeit eine ›uninteressante‹ (barren), klare Empfindung der Möglichkeit einer räumlichen Beziehung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, abstrahiert von der tatsächlichen Beziehung beider. Sie ist der »Triumph der Abstraktion in der tierischen Erfahrung« (MT, 73/112). Die auf ihre Rolle als »passive Träger von Beziehungen und Eigenschaften« reduzierten Objekte der präsentativen Unmittelbarkeit verlieren zudem ihre »intrinsische Aktivität« (AI, 197/357). 63 Während bei primitiven wirklichen Einzelwesen, die sich auf den Modus der kausalen Wirksamkeit stützen, der Einfluss der Vorwelt auf das eigene Werden und die Erwartung künftigen Werdens auf der Basis der eigenen Konkreszenz zu einem »Gefühl für das Schicksal, aus dem sie entstanden sind, und für das Schicksal, in welches sie übergehen« führt, ist in Empfindungen im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit die schicksalhafte Bedeutsamkeit durch das »oberflächliche Produkt von Komplexität und Subtilität« ersetzt, das ganz herkunftsvergessen »aus der Unmittelbarkeit der Schau der Dinge hergeleitet ist« (S, 44/103). Die deutsche Übersetzung dieser Textstelle ist zu frei und übersetzt das englische ›intrinsic activity‹ mit ›innere Aktivität‹ übersetzt. Übersetzung mit ›intrinsischer Aktivität‹ im Zitat deshalb durch den Verfasser.
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Der Wahrnehmungsmodus der präsentativen Unmittelbarkeit ist jedoch von Whitehead nicht als identisch mit dem konzipiert, was wir üblicherweise als unsere Sinneswahrnehmung verstehen. Empfindungen in reiner präsentativer Unmittelbarkeit können in reiner Form anhand der sogenannten ›täuschenden Wahrnehmung‹ (delusive perceptions) illustriert werden: »optische Täuschungen, die im Delirium oder bei erregter Phantasie entstehen«, oder »die Empfindungen in amputierten Gliedern veranschaulichen Räume jenseits des wirklichen Körpers« (PR, 122/234). 64 In täuschenden Wahrnehmungen empfindet das Subjekt keine zutreffenden Informationen über die Welt. Was in diesen Wahrnehmungen noch erhalten bleibt, ist der eigentliche Charakter der präsentativen Unmittelbarkeit: ein Empfinden des möglichen Raums, der Erstreckung der unabhängigen, gleichzeitigen Aktualität in ihrem bloßen Möglichkeitscharakter. Unsere alltägliche Wahrnehmung findet für Whitehead überwiegend in der Verbindung beider Wahrnehmungsmodi in einem symbolischen Bezug statt, und die Aufgabe der Philosophie ist, nicht vorschnell die übliche Wahrnehmung als fundamentale Form der menschlichen Erfahrung zu postulieren, sondern sich über die dieser Erfahrung zugrunde liegende Symbolisierungsdynamik in der Beziehung der beiden fundamentalen Modi der Wahrnehmung bewusst zu sein. Auf diese Weise vermeidet Whitehead, in Anlehnung an Pragmatisten wie Dewey, 65 die Nähe zu sensualistischen Theorien und ersetzt die fundamentale Ebene der Erfahrung durch zwei distinkte Wahrnehmungsmodi, deren Verbindung in einer symbolischen Bezugnahme erst die menschliche Erfahrungsebene beschreibt: Die Entwirrung der komplexen Wechselbeziehungen zwischen den beiden Wahrnehmungsweisen – kausale Wirksamkeit und vergegenwärtigende Unmittelbarkeit – ist ein Hauptproblem der Wahrnehmungstheorie. Die übliche philosophische Diskussion der Wahrnehmung betrifft fast ausschließlich diese Wechselbeziehung und läßt die beiden reinen Wahrnehmungsweisen außer acht, obgleich sie für eine angemessene Erklärung wesentlich sind. Die Wechselbeziehung zwischen beiden Weisen wird ›symbolischer Bezug‹ genannt. (PR, 121/233)
Whitehead gibt in dieser Passage ein ganzes Bündel an Beispielen für reine Formen der präsentativen Unmittelbarkeit, deren Gemeinsamkeit in ihrem delusionären Charakter besteht. 65 Vgl. Jones (1998), S. 149 f. 64
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Symboltheorie
2.2.3.3 Symbolischer Bezug der Wahrnehmungsmodi Empfindungen in der Form der symbolischen Referenz zwischen beiden Wahrnehmungsmodi repräsentieren, im System der organistischen Philosophie, erstmals hochstufige und komplexe menschliche Erfahrungen, nämlich den Bereich der mit einer Erinnerung an die Vergangenheit kombinierten sinnlichen Wahrnehmung der Welt. 66 Das Herstellen symbolischer Referenzen ist ein eigener, ›synthetische Aktivität‹ (synthetic activity) (vgl. S, 18/77) genannter Empfindungsakt, zu dem sich das Werdenssubjekt innerhalb gewisser Grenzen frei entschließen kann. Damit zwei Erfahrungsbereiche symbolisch aufeinander verweisen können, muss es eine gewisse Schnittmenge zwischen den Strukturelementen ihrer Wahrnehmung geben. Sinnesdaten müssen eine »zweifache Rolle spielen«, indem sie in der präsentativen Unmittelbarkeit projiziert werden, um die räumlichen Dimensionen der Mitwelt aufzuzeigen, und in der kausalen Wirksamkeit unmittelbar als die Wirkmächtigkeit der Vorwelt empfunden werden (vgl. S, 50/ 109). In gewisser Weise könnte man sagen, die kausale Wirksamkeit sei die Wahrnehmungsform der genetischen Teilung (genetic division) und die präsentative Unmittelbarkeit repräsentiere die mit der koordinierten Teilung (coordinate division) assoziierte Wahrnehmungsform. 67 So ergibt sich die Frage, welche Kriterien für die weitgehend freie Entscheidung des Subjekts zu einem Symbolisierungsakt maßgeblich sind. Wenn sich ein Symbolisierungsakt als hochstufige Empfindung in das metaphysische Gesamtkonzept eingliedern soll, in der Erfahrungen der ontologischen Forderung nach möglichst intensiver Erfüllung Vgl. Franklin (1990), S. 210: »When we enter the realm of symbolic reference, we have arrived at the normal human perception of which we are conscious. What we ordinarily call sense perception is merely (one variety of) symbolic reference.« Franklin versucht, Whitehead eine ambivalente Verwendung des Begriffs der ›Sinneswahrnehmung‹ (sense perception) nachzuweisen, doch seine Lesart des Sinneswahrnehmungsbegriffs in der organistischen Philosophie scheint etwas irrig zu sein: Wie Whitehead selbst anmerkt (vgl. S, 20/81 f.), verwendet er den Sinneswahrnehmungsbegriff in anderer Weise als die philosophische Tradition. Was Franklin, ganz im Sinne unserer Alltagserfahrung und unseres normalen Sprachgebrauchs, als Sinneswahrnehmung bezeichnet, ist für Whitehead bereits die symbolische Referenz der Sinneswahrnehmung mit der kausalen Wahrnehmung, die für Whitehead den Normalfall der menschlichen Wahrnehmung ausmacht. 67 Zu den beiden Modi der Teilung des emotionalen Gesamterlebens eines wirklichen Einzelwesens in Teilempfindungen vgl. PR, 283/513. 66
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
verpflichtet sind, so kann das Entscheidungskriterium letztlich nur die Erfahrungsintensität sein: Symbolik kann gerechtfertigt sein oder nicht. Der Maßstab für ihre Rechtfertigung muß immer pragmatisch sein. Soweit die Symbolik zu einem Vererbungsweg entlang der Wahrnehmungsereignisse geführt hat, die die wahrnehmende ›Person‹ bilden, was einer glücklichen Entwicklung entspricht, ist die Symbolik gerechtfertigt; führt sie aber zu einer unglücklichen Entwicklung, so ist sie nicht gerechtfertigt. In einem etwas engeren Sinne kann Symbolik richtig oder falsch sein; und die Richtigkeit oder Falschheit werden auch an pragmatischen Maßstäben gemessen. […] Der Zweck der Symbolisierung ist die Steigerung der Wichtigkeit dessen, was symbolisiert wird. (PR, 181/ 338, S, 63/122)
Ein sinnvoller pragmatischer Test der symbolischen Referenz ist nur möglich, wenn das die symbolische Empfindung machende wirkliche Einzelwesen als Teil einer ›Person‹ betrachtet wird, also als Teil eines komplexen Organisationsschemas. Hier ist zu erkennen, wie weit der Symbolisierungsbegriff auf der ontologisch fundamentalen Ebene der Wahrnehmung bereits über das individuelle wirkliche Einzelwesen bis auf die Ebene des hochkomplexen biologischen Organismus hinausreicht. Die Erklärung der Sinneswahrnehmung in der organistischen Philosophie geht üblicherweise von einem tierischen Körper der Sinneswahrnehmungen machenden ›Person‹ aus. 68 Dieser Körper ist nicht nur eine Voraussetzung für auf Sinnesorgane angewiesene Sinneswahrnehmungen, sondern fungiert in seiner eigenen Ausdehnung zugleich als Explikationsraum des raum-zeitlichen Ausdehnungscharakters des Universums, der in der eigenen Körpererfahrung unmittelbar verständlich wird: Aber wir müssen einräumen, daß es sich beim Körper um den Organismus handelt, dessen Zustände unser Erkennen der Welt regulieren. Die Einheit des Wahrnehmungsgebiets muß daher eine Einheit der körperlichen Erfahrung sein. Indem man der körperlichen Erfahrung gewahr ist, muß man daher auch der Aspekte der ganzen raumzeitlichen Welt gewahr sein, wie sie sich innerhalb des körperlichen Lebens widerspiegeln. […] Versucht man, sich diese Lehre mit Hilfe unserer herkömmlichen Ansichten von Raum und Zeit vorzustellen, welche die einfache Lokalisierung voraussetzen, dann ist sie ein großes Paradoxon. Denkt man sie aber im Sinne unserer naiven ErVgl. PR, 170/316. In S, 56/115 werden ›Körperorgane‹ als Voraussetzung für Sinneswahrnehmungen angeführt.
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Symboltheorie
fahrung, dann ist sie eine bloße Umsetzung der offenkundigen Tatsachen. Man ist an einem bestimmten Ort und nimmt Dinge wahr. Die Wahrnehmung findet statt, wo man ist, und sie hängt ganz davon ab, wie unser Körper funktioniert. Aber dieses Funktionieren des Körpers an einem Ort eröffnet unserem Erkennen einen Aspekt der entfernten Umgebung, der ausgeblendet wird in das allgemeine Wissen, daß es noch jenseits liegende Dinge gibt. (SMW, 91 f./111 f.)
In einem metaphysischen Entwurf, der den Erfahrungszusammenhang als ontologische Grundeigenschaft der Realität und die physische Komponente eines wirklichen Einzelwesens als Atomisierung des extensiven Kontinuums begreift, ist es nur folgerichtig, wenn die Notwendigkeit des tierischen – und als Untergruppe: des menschlichen – Körpers im Verbund mit der dem menschlichen Alltagsempfinden vertrauten Sinneswahrnehmung eingeführt wird. Diese auf einer symbolischen Referenz beruhende Sinneswahrnehmung verbindet die Qualitäten beider Wahrnehmungsmodi, der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit. Die Körpererfahrung ist für Whitehead das Paradigma für das Empfinden von Kausalverursachung schlechthin, wohingegen das Wissen um jenseits liegende, gleichzeitig und unabhängig vom eigenen Werden sich vollziehende Prozesse aus der Wahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit rührt. In der Verbindung beider Wahrnehmungen wird das aus der Projektion der präsentativen Unmittelbarkeit stammende Wissen um eine extensive Welt gleichzeitiger Werdensprozesse mit dem massiven Erfahrungshintergrund der kausalen Wirksamkeit kombiniert. Dabei bezieht sich die Empfindung kausaler Wirksamkeit nicht auf weit zurückliegende Ereignisse, sie ist keine ›Erinnerung‹ im üblichen Sinn der Wortbedeutung. Statt eine hochstufigen psychologischen Funktion zu erfüllen, bezeichnet sie die massive kausale Wirkmächtigkeit der Vorwelt und hat dementsprechend zunächst eine Funktion innerhalb der metaphysischen Grundstruktur inne. Als Wahrnehmungsform soll sie die kausale Verbindung des aktuell werdenden Subjekts mit der unmittelbaren Vergangenheit herstellen, wobei die Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz eine Doppelfunktion erfüllt: Zunächst einmal ist sich Whitehead, auf der Ebene der physiologischen Argumentation, darüber im klaren, dass im tierischen Körper in Sinnesorganen erfasste und über ein hochkomplex verschaltetes Nervensystem weitervermittelte Sinneswahrnehmungen stets auf eine zumeist Sekundenbruchteile zurückliegende Ursache ver153 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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weisen und nicht auf die gleichzeitig werdende Welt (vgl. S, 13 f./73). Die symbolische Referenz verbindet so das uns aus der Sinneswahrnehmung vertraute Gefühl der unmittelbaren Gleichzeitigkeit mit der in Kausalbeziehungen darstellbaren Reizübermittlung und -verstärkung von den Sinnesorganen über das Nervensystem bis zur schließlichen zentralen Auswertung der Sinnesdaten im Gehirn. 69 Desweiteren aber ist in der organistischen Philosophie die symbolische Referenz für das Konzept der menschlichen Wahrnehmung notwendig, da sich für Whitehead Gegenwartserfahrung gerade nicht auf Santayanas »Solipsism of the present Moment« einengen lassen will. Unsere Alltagserfahrung suggeriert, dass wir die unmittelbare Vergangenheit in unser Empfinden der aktuellen Gegenwart miteinbeziehen: Spricht jemand ein mehrsilbiges Wort oder eine kurze Phrase – Whiteheads Beispiel ist »Vereinigte Staaten« – aus, so empfinden wir die gesamte Äußerung zu einem bestimmten Zeitpunkt als aktuelle Erfahrung, obwohl die ersten Silben bereits in der unmittelbaren Vergangenheit liegen (vgl. AI, 181/334). Diese Ausdehnung des Gegenwartsempfindens auf die unmittelbare Vergangenheit der letzten Halb- bis Zehntelsekunde führt zu dem Wahrnehmungskonstrukt der ›trügerischen Gegenwart‹ (specious present), ohne das der Genuss von Musik oder die Erfahrung von Bewegung gar nicht schlüssig erklärbar wären. 70 Die Gegenwartswahrnehmung in der Form der trügerischen Gegenwart ist also kein ontologisches Wahrnehmungskonzept mehr, sondern beMichael Hampe hat den umfassenden Versuch unternommen, Whiteheads Erfahrungstheorie und die komplexen Wahrnehmungsformen mit den an dem Gesamtfunktionszusammenhang des menschlichen Körpers beteiligten biologischen Vorgängen in Verbindung zu bringen und so die organistische Philosophie auf der biologischen Ebene theoretisch zu unterfüttern. Vgl. Hampe (1990). 70 Joachim Klose kontrastiert Whiteheads Konzept der trügerischen Gegenwart mit den neuesten Ergebnissen der neurologischen Forschung und findet eine Korrelation. Das Zeitfenster der noch als aktuell empfundenen Wahrnehmung liegt demnach bei etwa 3 Sekunden, die Zeitspanne, ab deren Unterschreitung die menschliche Wahrnehmung nicht mehr in der Lage ist, eine weitere Binnendifferenz des Beobachteten festzustellen, liegt bei 30 Millisekunden. Klose bezeichnet die 30-Millisekunden-Schwelle als »Systemzeit« des menschlichen Gehirns, da dieses Zeitintervall die Verarbeitungsgeschwindigkeit neuronaler Prozesse im Gehirn beschreibt. Ganz analog zu Whiteheads Konzept der symbolischen Referenz scheint die Neurowissenschaft die Verbindung beider Zeitfenster zu einem »Integrationsmechanismus« belegen zu können, der die Erfahrung einer unmittelbaren Gegenwart mit der gehaltenen Vergangenheit der letzten Sekunden zu einem organischen Gegenwartsempfinden synthetisieren kann. Vgl. Klose (2002), S. 358 ff. 69
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Symboltheorie
zeichnet eine Wahrnehmungseigenschaft auf der anthropologischen Ebene. Der Begriff der trügerischen Gegenwart wurde von Robert Kelly geprägt 71 und von William James aufgenommen, der ihn auf folgende Weise definiert: »[T]he prototype of all conceived times is the specious present, the short duration of which we are immediately and incessantly sensible«. 72 Systematisch hat John Locke in seinem ›Fluss der Gedanken‹ (train of ideas) bereits eine ähnlichen Ansatz vertreten. Bei James ist das Konzept der Gegenwart schon als wahrgenommene Zeit angelegt. Natürlich beruht jede Zeitkonzeption letztlich auf der Erfahrung der Vergänglichkeit und des Vergehens von Zeit, und von dem Phänomen der Gegenwart sprechen wir, weil wir jede Erfahrung in einer zeitlichen Gegenwärtigkeit machen. Whitehead sieht sich nun einem Problem gegenüber: Die ontologische Erklärung der Gegenwart auf der Ebene der wirklichen Einzelwesen deckt sich nicht mit der Gegenwartserfahrung, die für uns die normale Empfindungsweise ist. Er löst das Problem, indem er den Gegenwartsbegriff doppelt besetzt. Auf der ontologischen Ebene ist es der aktuale Werdensprozess, der als das gerade erfahrende Einzelwesen die unmittelbare Wirklichkeit des Universums verkörpert; die synthetisierende Aktivität der Selbstwerdung ist die nicht mehr weiter in Vergangenheit und Zukunft unterteilbare Gegenwart, die den Charakter eines diskreten Zeitquants hat (vgl. PR, 283/ 513). Trotz ihrer Unteilbarkeit hat die Gegenwart eine Ausdehnung, nämlich die Dynamik des synthetischen Prozesses, in dem die Vielen zu dem neuen Einen werden. Das ist die Wirklichkeitsqualität der Gegenwart. Eine eigene Wirklichkeit wird der Gegenwart nicht in allen Zeitkonzeptionen der Philosophie zugestanden. Aristoteles’ wirkmächtige Theorie der Zeit etwa begreift das Vergehen der Zeit als kontinuierlichen Prozess ganz ähnlich einer mathematischen Strecke, und jeder Zeitpunkt ist selbst ausdehnungslos. Lediglich Zeiterstreckungen haben eine Wirklichkeit, und die Gegenwart ist ein ausdehnungsloser Punkt im Zeitkontinuum, der als Grenze die Vergangenheit von der Zukunft trennt. In der organistischen Philosophie ist die zeitliche Ausdehnung der Gegenwart der Synthetisierungsprozess des aktuell werdenden Subjekts. Whitehead spricht sich explizit gegen eine instantane Gegenwartskonzeption aus: 71 72
Vgl. Kelly (1882). James (1981), S. 631.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
The answer is that we do not perceive isolated instantaneous facts, but a continuity of existence, and that it is this observed continuity of existence which guarantees the persistence of material. (PNK, 7 f.)
Zwar ist der jeweils aktuelle Prozess der gegenwärtige Zeitmoment des Universums, aber die Wahrnehmungsperspektive des Subjekts ist nicht auf die Gegenwart beschränkt. In den ›primären Empfindungen‹ (primary feelings) des Werdensprozesses wird die Perspektive des Subjekts auf die kausal bedingende Vorwelt gerichtet. Erst die präsentative Unmittelbarkeit ist der Wahrnehmungsmodus, der die kausal bedingende Vorwelt in der Vergangenheit und die Folgen des eigenen Selbstwerdungsprozesses ignoriert und einzig die Empfindung dieser Gegenwart anstrebt. Auf einer zweiten Ebene bezeichnet der Gegenwartsbegriff ein ontologisch weit weniger klar beschreibbares Zeitintervall, in dem die Wahrnehmung der unmittelbaren Gegenwart mit der Wahrnehmung der kausal relevanten Nahvergangenheit den Raum abstecken, der in der menschlichen Erfahrung als Gegenwart empfunden wird. Diese Gegenwart ist die symbolische Referenz beider Wahrnehmungsmodi, das Konzept der trügerischen Gegenwart. 73 Sie hat eine eigene ›zeitliche Stärke‹ (temporal thickness), die nicht trennscharf von der Vergangenheit zu unterscheiden ist, sondern graduell in den Hintergrund der ferneren, irrelevanteren Vorwelt übergeht (vgl. CN, 69/55). 74 Die Schwierigkeit und mitunter unklare Darstellung dieses Gegenwartsbegriffs haben in der Forschungsliteratur zu Irritationen geführt und sogar den Vorwurf einer strukturellen Inkonsistenz der organistischen Philosophie aufkommen lassen. 75 Klose hat die bisher ausführlichste Darstellung des Zeitbegriffs bei Whitehead gegeben. Er unterscheidet nochmals zwischen zwei verschiedenen Formen der trügerischen Gegenwart. Auf der biologischen Seite fordert er, um diskontinuierliche periodische Prozesse der Informationsverarbeitung in der organistischen Philosophie erklärbar machen zu können, eine physiologische Zeitdimension der Gegenwart, auf der psychologischen Seite unterscheidet er davon die Gegenwartsdimension der bewussten Erinnerung. Seine Darstellung zeigt die Unklarheiten, die in Whiteheads Erklärung seines Gegenwartskonzepts noch verbleiben, detailliert auf. Vgl. Klose (2002), bes. S. 179–191. 74 Deutsche Übersetzung hier durch den Verfasser. Die deutsche Standardübersetzung von Julian von Hassell verwendet an dieser Stelle den Ausdruck »zeitliche Dichte«, was einen wichtigen Aspekt des ernglischen Originalbegriffs unberücksichtigt lässt: Das Gegenwartskonzept der trügerischen Gegenwart hat den Charakter zeitlicher Extensivität. 75 Vgl. Blyth (1980), S. 59 und 63 zum Vorwurf der Inkonsistenz, den Paul Schmidt 73
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Symboltheorie
Dennoch nimmt die Konzeption der Sinneswahrnehmung als Symbolisierungsbezug einen wichtigen Stellenwert in der organistischen Philosophie ein. Sie soll ausdrücklich als ein zentrales Gelenk zwischen den basalen, primitiven Empfindungen aller wirklichen Einzelwesen und den komplexen hochstufigen Erfahrungsformen der höheren Lebewesen fungieren: In der Sinneswahrnehmung haben wir den Rubikon überschritten, der die direkte Wahrnehmung von den höheren Formen der Geistestätigkeit scheidet, die mit dem Irrtum spielen und so intellektuelle Reiche gründen. (PR, 113/219)
Die Bedeutung dieses Zitats erschließt sich, wenn man die hier angesprochenen Elemente der Erfahrung genauer betrachtet. Offensichtlich sind höhere Formen der ›Geistestätigkeit‹ (mentality), die zu intellektuellen Reichen führen sollen, mit den ›intellektuellen Empfindungen‹ (intellectual feelings) zumindest eng verwandt, die im dritten Teil von Prozeß und Realität systematisch besprochen werden. Die Sinneswahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz unterscheidet sich von der ›direkten Wahrnehmung‹ durch die Möglichkeit des Irrtums. Der Begriff der ›direkten Wahrnehmung‹ steht gerade für Empfindungen, die in einem »reinen Modus« unmittelbar aus dem Erfassen eines objektiven Datums hervorgehen. Damit ist jede Wahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz eine indirekte Form der Erfahrung (vgl. S, 19/78). Die Struktur der indirekten Erfahrung, welche zugleich mit der Möglichkeit des Irrtums auch die Möglichkeit neuer Erkenntnis birgt und von dem unmittelbaren Auffassen der Realität abstrahiert, findet sich in den höheren Formen der Geistestätigkeit, die in der organistischen Philosophie zur Beschreibung der Erfahrungswelt höherer tierischer Organismen mit dem Spezialfall des Menschen verwendet werden, wieder. Sinneswahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz ist, auf der Ebene der systematischen metaphysischen Beschreibung, der erste Schritt auf dem Weg zu komplexeren ›Formen der Geistestätigkeit‹ (forms of mentality), da in Whiteheads Konzept der Sinneswahrnehmung erstmals die Eigenschaften überzeugend auf Interpretationsfehler Blyths zurückführt (vgl. Schmidt (1967), S. 140 f.). Auch Filmer Northrop äußert sich skeptisch gegenüber Whiteheads Gegenwartskonzeption, was nachvollziehbar ist, da er die Ebene des symbolischen Bezugs völlig ignoriert und Whiteheads Zeitkonzeption streng szientistisch bewerten möchte, dabei aber die Intention Whiteheads übersieht. Vgl. Northrop (1951), S. 185 ff.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
der höheren Phasen der Erfahrung, wie Abstraktion, indirekte Empfindung mit der Möglichkeit des Irrtums und eine gewisse Entscheidungsfreiheit, eingeführt werden. Damit wendet sich Whiteheads Konzept der Sinneswahrnehmung explizit gegen einen empirischen Sensualismus, in welchem Sinnesdaten als mechanisch kausalbedingt von außen auf das Subjekt einwirkende Eindrücke – im Sinn von Informationen oder Humes Impressionen – verstanden werden. In der organistischen Philosophie sind Sinneswahrnehmungen stets bereits Interpretationsleistungen, die eine aktive Symbolisierungstätigkeit des Subjekts voraussetzen. Zwar wird die Symbolisierungstätigkeit in Kulturelle Symbolisierung mit der Sinneswahrnehmung als deren Hauptfunktion verknüpft, aber der Symbolbegriff in der organistischen Philosophie erschöpft sich nicht in dieser Verwendungsweise. Der symbolische Bezug eines vagen emotionalen Erfahrungshintergrundes auf eine präzise empfundene Gegenwart ermöglicht erst die spezifische Interaktion mit der Umwelt und die Selbsterhaltung durch die Lebensmethode der praktischen Vernunft. Whitehead sieht in dem symbolischen Bezug der Wahrnehmungsformen die Definition der dritten von vier möglichen Komplexitätsstufen wirklicher Einzelwesen, die Stufe der »wirklichen Ereignisse, die Momente in der Lebensgeschichte dauerhafter lebender Objekte darstellen« (PR, 177/331): Die dritte Stufe entspricht Ereignissen, in denen die vergegenwärtigende Unmittelbarkeit größere Genauigkeit erreicht hat, so daß ›symbolische Verlagerung‹ genau unterschiedene Gebiete des ›vergegenwärtigten Zeitschnitts‹ zur Bedeutung erhoben hat. Die subtilen Selbsterhaltungstätigkeiten werden nun möglich durch die Verlagerung der vagen Botschaft aus der Vergangenheit auf die genauer unterschiedenen Gebiete des vergegenwärtigten Zuschnitts. (PR, 178/332)
Die Theorie des symbolischen Bezugs eröffnet an dieser Stelle die Möglichkeit einer Handlungstheorie, die allerdings über den Status einer Skizze nicht hinauskommt. Whitehead nutzt die Unterscheidung zwischen den Wahrnehmungsmodi der kausalen Wirksamkeit, der präsentativen Unmittelbarkeit und der symbolischen Referenz, um Handlungsformen zu entwickeln, die auf jeweils einer der Wahrnehmungsformen beruhen. So ermöglicht die kausale Wirksamkeit die ›instinktive Aktion‹ (pure instinctive action), die präsentative Unmittelbarkeit das ›Reflexhandeln‹ (reflex action) und die Sinneswahrnehmung im 158 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Symboltheorie
Modus der symbolischen Referenz das ›symbolisch konditionierte Handeln‹ (symbolically conditioned action) (vgl. S, 78/136). 76 Der metaphysischen Beschreibung der organistischen Philosophie, wie sie in Prozeß und Realität entwickelt wird, ermangelt eine Handlungstheorie; 77 das Ziel einer Aktivität wirklicher Einzelwesen kann nur in der Erfüllung des eigenen subjektiven Zieles liegen. Eine Berücksichtigung der Auswirkungen des eigenen Tuns auf die Zukunft ist höchstens in der schwammigen ›Kategorie der subjektiven Harmonie‹ angedacht. Das aristotelische Konzept der Eudaimonia, demgemäß jeder Mensch um eines höheren Gutes willen handelt und das höchste Gut im guten Leben liegt, gibt eine sehr viel konkretere Handhabe für eine Handlungstheorie und ist der Ausgangspunkt der Ethik des Aristoteles. Whitehead greift, wie bereits gesehen, das aristotelische Eudaimoniekonzept in seiner Vernunfttheorie auf, wenn er formuliert, das Ziel des Lebens sei, »das bloße Existieren in ein gutes Existieren, und das gute Existieren in ein besseres Existieren umzuwandeln.« (FR, 22 f./26 f.) Die Vernunft übernimmt als ›pragmatisches Agens‹ die Aufgabe der Handlungsanleitung, nicht nur beim Menschen, sondern gar in einem umfassenderen Naturprozesszusammenhang als kosmologische Grundkraft. Genau diese handlungsbestimmende Kraft der Vernunft möchte Whitehead in seinem Handlungskonzept ontologisch verankern. Das symbolisch konditionierte Handeln unternimmt eine Analyse seiner Wahrnehmungsdaten: Wenn sie unter normalen Umständen hinreichend richtig ist, befähigt sie einen Organismus, seine Aktionen der langfristig ausgerichteten Analyse der besonderen Umstände seiner Umgebung anzupassen. In dem Umfang, in dem dieser Aktionstypus vorherrscht, wird der reine Instinkt abgelöst. Dieser Aktionstyp wird durch das Denken, welches die Symbole in ihrer Bezogenheit auf ihre jeweiligen Bedeutungen verwendet, beträchtlich gefördert. (S, 81/139)
Aus Gründen der Eindeutigkeit hätte sich angeboten, »pure instinctive action« mit ›instinktivem Handeln‹ zu übersetzen, ohne dass darin ein Bedeutungsverlust entstanden wäre. 77 Auch in der Forschungsliteratur ist der Unterschied zwischen dem der organistischen Philosophie zentralen Konzept der subjektiven Aktivität und absichtsvollen Handlungen im Großen und Ganzen ignoriert worden; eine Ausnahme bildet Maria-Sibylla Lotter, die den Handlungsbegriff bei Whitehead allerdings nicht aus Kulturelle Symbolisierung rezipiert, sondern ihn bereits auf der elementaren Ebene der Kosmologie zu verankern sucht: Vgl. Lotter (1996), S. 246 ff. 76
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Der mit ›Denken‹ übersetzte Begriff des englischen Originaltextes heißt reason, es ist also das gleiche Wort, das in Die Funktion der Vernunft mit ›Vernunft‹ übersetzt wird. Das Anpassen der eigenen Aktionen an die Umwelt in einem symbolisch konditionierten Handeln ist genau das, was in Die Funktion der Vernunft als ›Methode‹ eingeführt wurde – die Möglichkeit, als handelndes Subjekt selbst mit der eigenen Umwelt zu interagieren. Eine Lebensmethode ist eine Verhaltenssystematisierung, die sinnvolles, gezieltes Handeln erst ermöglicht. Allerdings ist das symbolisch konditionierte Handeln nicht die einzige Handlungsweise, die für die organistischen Philosophie relevant sein soll. Auch das Reflexhandeln und die instinktive Aktion werden als probate Handlungsweisen für komplexe Gesellschaften verstanden. Menschliche Reflexhandlungen sind ein Beispiel für Whiteheads Konzept des Reflexhandelns; das Handeln der individuellen Insekten, die einen Insektenstaat ausmachen, wird als Beispiel für eine instinktive Aktion angeführt. Die anorganischen Gesellschaften, etwa ein Stein, werden sogar als der Bereich verstanden, in dem der Instinkt vorherrsche (vgl. S, 82/140). Allerdings bleibt unklar, ob Whitehead so weit gehen möchte, anorganischen Gesellschaften auch instinktives Handeln zuzuschreiben und damit seinen eigenen Handlungsbegriff wieder auf alle Gesellschaften, ob organisch oder anorganisch, zu verallgemeinern, wodurch dessen Bedeutung als spezifische Eigenschaft höherer Lebewesen verwässert würde. Eine Parallele zwischen dem Handlungs- und dem Vernunftbegriff bietet sich insofern an, als beide Begriffe aus dem Bereich der menschlichen Erfahrungswelt stammen, aber in der organistischen Philosophie nicht klar auf diese Sphäre beschränkt bleiben. Vielmehr fällt der Vernunft in der Form der praktischen Vernunft die Rolle einer kosmologischen Grundkraft zu, die in ihrer allgemeinsten Form eine Ordnungsfunktion in allen Prozessen des Universums erfüllt, und der Handlungsbegriff ist, in seinen fundamentalen Formen des Reflexhandelns und besonders der intuitiven Aktion, offensichtlich auch auf einfachere Organismen anwendbar. Beiden Begriffen ist gemein, dass sie als Prozesseigenschaften kaum sinnvoll auf der Ebene individueller wirklicher Einzelwesen behandelt werden können, sondern als Eigenschaften andauernder Gesellschaften untersucht werden. Das Konzept der symbolischen Referenz stellt der Theorie der Erfahrung ein hervorragendes Werkzeug zur Verfügung, um die Übertragung von Emotionen zu beschreiben. Menschliche Emotionalität ist 160 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Symboltheorie
in der Symbolisierungskonzeption der organistischen Philosophie nicht lediglich ein ›Unterbau‹ der höheren, intellektuellen Geisteskapazitäten, sondern hat einen eigenen Stellenwert für die Gesamterfahrung. 78 Tatsächlich ist es genau diese Funktion der Verknüpfung unbewusster Emotionalität mit einem anderen, häufig dem Bereich der Wahrnehmung entlehnten, Erfahrungsgegenstand, die Whitehead das Konzept der symbolischen Referenz in einem Analogieschluss auf verschiedenen Ebenen der Erfahrung verwenden lässt. Während die fundamentale Form der symbolischen Referenz in der Sinneswahrnehmung liegt, werden auch komplexere Bereiche des menschlichen Lebens, wie etwa der Kulturbereich, als symbolische Bezüge massiver Emotionalität auf ein übersichtliches Symbolsystem gedeutet: In jeder wirkungsvollen Symbolisierung gibt es gewisse ästhetische Eigenschaften, die gemeinsam geteilt werden. Die Bedeutung gewinnt an Emotionalität und Gefühl, die direkt durch das Symbol erregt werden. Dies ist die allgemeine Grundlage der künstlerischer Literatur, denn die direkt durch die Wörter erregten Emotionen und Gefühle sollen diejenigen Emotionen und Gefühle, die aus der Vergegenwärtigung der Bedeutung entstehen, angemessen steigern. […] Dieses Prinzip gilt auch für alle noch künstlicheren Arten des menschlichen Symbolismus, zum Beispiel für die religiöse Kunst. Besonders die Musik ist aufgrund der starken Emotionen, die sie bereits selbst erregt, für diesen symbolischen Transfer von Emotionen geeignet. […] Diese ganze Angelegenheit des symbolischen Transfers von Emotionen berührt die Grundlagen jeder Theorie der künstlerischen Ästhetik. (S, 83 ff./142 ff.) 79
Die menschlichen Emotionen werden durch den Bezug auf ein Symbol strukturiert und anderen, ebenfalls mit diesem Symbol vertrauten, Menschen mitteilbar gemacht. In der Vermittlerrolle zwischen der massiven, fast ausschließlich unbewussten Emotionalität des Menschen und seiner lebensweltlichen, zum Gutteil bewussten Erfahrung hat der Bereich der Symbolisierung für Whitehead einen ähnlichen Stellenwert wie für Carl Gustav Jung in dessen psychoanalytischem Vgl. Lachmann (2000), S. 213. Lachmann betont die Bedeutung der Emotionalität für kulturelle und gesellschaftliche Prozesse und sieht in Whiteheads Symbolisierungstheorie vor allem den Versuch, durch Symbole strukturierte Emotionalität als Bestandteil gesellschaftlicher und kultureller Entscheidungsprozesse auszuweisen. 79 Der Hinweis auf religiöse Kunst im Zusammenhang der Symbolisierungsdebatte ist kein Zufall. In seiner Untersuchung der Religion und ihrer Organisationsformen in Wie entsteht Religion? verwendet Whitehead den Symbolbegriff an verschiedenen Stellen, ohne ihn jedoch genauer zu bestimmen. 78
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Entwurf. Jungs Archetypenkonzeption behauptet, jeder tiefemotionale Erlebnisakt sei durch symbolische Urbilder strukturiert, die sogenannten Archetypen. Der schöpferische Drang der Psyche, die Welt zu verstehen, schafft sich Symbole, die als Zielbilder des menschlichen Verhaltens dienen. 80 Whitehead und Jung leitet bei ihren Symboltheorien die gleiche Intention. Dass die Vermittlung zwischen der massiven, vagen Emotionalität und der bewussten Erlebniswelt des Menschen durch eine Symbolisierung erfolgen soll, schränkt nicht etwa eine unverfälschte, authentische, fundamentale Emotionalität ein, sondern ermöglicht der aktuellen Wahrnehmung überhaupt erst einen strukturierten Zugang zum eigenen massiven, unbewussten Erfahrungshintergrund, der unsere vermeintlich unabhängig und frei beschlossenen Handlungen bedingend unterlegt. Obwohl Whitehead kein besonderes Interesse an der modernen Psychologie gezeigt hat und sich mit psychoanalytischen Entwürfen in seinen eigenen Schriften nicht beschäftigt, macht ihn sein besonderes Interesse für die massiven, vagen, hintergründigen Emotionen und die Frage, wie dieser Bereich strukturiert und der bewussten Gegenwartserfahrung zugänglich gemacht werden kann, zu einem Denker, der sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Fragestellung seiner Zeit bewegt. Das Konzept der symbolischen Referenz fungiert in der organistischen Philosophie als Verbindungselement zwischen der Emotionalität des Menschen und Symbolen, die durchaus den Charakter von Ordnungsstrukturen annehmen können. Viele dieser Ordnungstrukturen werden nicht individuell, sondern in einem kulturellen Rahmen definiert und sind für eine ganze Gesellschaft relevant: In der Beschreibung der psychischen Dynamik lässt Jung ganz offensichtliche Strukturparallelen zu Whitehead erkennen: »Obschon wir keine Physik der Seele besitzen, auch nicht imstande sind, dieselbe von einem archimedischen Punkt außerhalb zu beobachten und zu beurteilen, daher nichts Objektives über sie wissen, und da zudem alles Wissen über die Seele eben diese selber ist, so ist sie doch unsere unmittelbare Lebensund Daseinserfahrung. Sie ist sich selber die einzige und unmittelbare Erfahrung und die condition sine qua non der subjektiven Weltwirklichkeit überhaupt. Sie schafft Symbole, deren Grundlage der unbewußte Archetypus ist und deren erscheinende Gestalt aus den Vorstellungen, welche das Bewußtsein erworben hat, hervorgehen. Die Archetypen sind numinose Strukturelemente der Psyche und besitzen eine gewisse Selbständigkeit und spezifische Energie, kraft welcher sie die ihnen passenden Inhalte des Bewußtseins anzuziehen vermögen. Die Symbole funktionieren als Umformer, indem sie Libido aus einer ›niedereren‹ Form in eine höhere überleiten.« (Jung (1988), S. 295 f.)
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Symboltheorie
Wenn wir prüfen, wie eine Gesellschaft ihre individuellen Mitglieder so lenkt, daß sie in Konformität mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen funktionieren, entdecken wir, daß eine wichtige operative Aktionseinheit unser riesiges System übernommener Symbolismen ist. […] Keine elaborierte Gemeinschaft elaborierter Organismen könnte existieren, wenn nicht ihre Symbolsysteme im allgemeinen erfolgreich wären. Kodizes, Verhaltensregeln und Kanons der Kunst sind Versuche, systematische Aktionen aufzuerlegen, die im allgemeinen günstige symbolische Wechselbeziehungen befördern. Wenn sich eine Gemeinschaft wandelt, ist eine vernünftige Revision aller solcher Regeln und Kanons erforderlich. […] Die Kunst der freien Gesellschaft besteht erstens im Aufrechterhalten des symbolischen Kodes und zweitens in der Furchtlosigkeit ihrer Revision, um sicherzustellen, daß der Kode denjenigen Zielen dient, welche eine aufgeklärte Vernunft zufriedenstellen. (S, 73, 87 f./131 f., 145 f.)
Die Spannweite des Symbolisierungsbegriffs reicht von fundamentalen Wahrnehmungsprozessen bis zu den Ordnungsstrukturen gelingenden gesellschaftlichen Zusammenlebens. Man könnte sogar überspitzt formulieren, zivilisierte Gesellschaften seien Gruppen von Menschen, denen gewisse Symbolsysteme gemein sind. Der Symbolisierungsbegriff ähnelt dem Vernunftbegriff, dessen Spannweite ebenfalls von der ontologisch fundamentalen Ebene der kosmische Grundkraft bis zu seiner gestaltenden Funktion bei der Zivilisationsbildung reichen soll. Offensichtlich sind in den Symbolisierungsakten beide Begriffe miteinander verknüpft, denn die Vernunft als Lenkungsinstanz des Handelns hilft, ein Problem der Symbolisierung zu beheben: Erfahrungen im Modus der symbolischen Referenz sind, für sich selbst betrachtet, blind. Dass formal jeder Erfahrungsbereich auf jeden anderen bezogen werden kann, verleiht der Symbolisierung in der organistischen Philosophie zwar einerseits eine große Anwendungsflexibilität, andererseits jedoch stellt sich das Problem, anhand welches Kriteriums entschieden wird, welche zwei Erfahrungsbereiche aufeinander bezogen werden sollen. Whitehead gibt in Kulturelle Symbolisierung keine klare Antwort auf diese Frage. Natürlich gibt letztlich das individuelle subjektive Ziel vor, welche Symbolisierungsakte entstehen sollen. Allerdings ist diese Lösung unergiebig, denn wenn ein Symbolisierungsakt schon auf einer freien, kreativen Entscheidung des Subjekts beruht, 81 dann erfordern Symbolisierungsakte eine Entscheidungskapazität, die zu planvoller Steuerung in der Lage sein muss. 81
Vgl. Franklin (1990), S. 122
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Diese Rolle soll offenbar die Vernunft einnehmen. Bezüglich der höheren, auf der Gesellschaftsebene angesiedelten Symbolsysteme spricht Whitehead ganz offensichtlich von der Lenkungsfunktion der Vernunft, die durch kritische Überprüfung zum gedeihlichen zivilisierten Zusammenleben notwendig sei. Widrigenfalls wären die Symbolsysteme blind und könnten nicht zielgerichtet an die Bedürfnisse der Gesellschaft angepasst werden. Die Vernunft ist, durch ihr Streben nach einem besseren Existieren, die teleologische Kraft der Weltprozesse, die jedem absichtsvollen Handeln zugrunde liegen muss. Auch auf der fundamentalen Symbolisierungsebene der Sinneswahrnehmung wird dementsprechend die grundlegende Form der Vernunft wirken, als teleologisch gerichtetes Zielbild des Symbolisierungsaktes. Die Bedeutung des Symbolbegriffs für die organistische Philosophie lässt sich nicht einfach zusammenfassen. Er übt keine integrale Funktion innerhalb des in Prozeß und Realität formulierten Gesamtkonzepts aus, der grundlegende allgemeine Prozesszusammenhang des Universums lässt sich ohne Rückgriff auf Symbolisierungsakte im Sinne von Whiteheads Begriffsverständnis beschreiben. Zumindest gilt diese Aussage, wenn man Whiteheads engerer Definition eines Symbolisierungsaktes folgt, nach welcher ein symbolischer Bezug stets zwischen zwei Erfahrungsbereichen besteht. Fasst man das Verständnis des Symbolbegriffs weiter als Whitehead und betrachtet bereits die bestimmte Realisierung einer die Einzelwesen der Vorwelt objektivierenden allgemeinen Möglichkeitsform als symbolischen Akt, so lässt sich zwar keine überragende thematische, wohl aber eine strukturelle Bedeutung von Symbolisierungen für die organistische Philosophie behaupten, was Michael Hampe dazu gebracht hat, Whitehead als wichtigen Vertreter einer Symbolphilosophie zu bezeichnen. 82 Hier soll das Symbolisierungskonzept in dem engeren Sinne, in dem Whitehead es explizit verwendet, also als ein Bezug verschiedener Erfahrungsbereiche aufeinander, verstanden werden. Zwar besitzen Symbolisierungen keine Relevanz für die einfachen Empfindungskonzepte der allgemeinen Erfahrungstheorie, doch kommt ihnen eine hohe Bedeutung für die höheren Formen der Geistesaktivität zu. Die menschliche Erfahrung ist nicht nur wesentlich auf ihre symbolischen Perzepte der Sinneswahrnehmung angewiesen, sondern auch das freie Spiel der Gedanken birgt stets eine symbolische Komponente: Sobald 82
Vgl. die bereits angeführte Passage in: Hampe (1998), S. 182 f.
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
das werdende Subjekt sich zu einem neuen Empfinden entschließt, das zwei Erfahrungsbereiche miteinander kontrastiert, die aus vorherigen Empfindungen der Konkreszenz stammen, ist dies ein symbolischer Bezug. Symbolisierungsakte können auf völlig verschiedenen Ebenen der Erfahrung stattfinden, wie Whiteheads eigene Beispiele deutlich machen. Er führt immer wieder die Sprache als paradigmatisches Symbolisierungssystem an, findet aber in der Sinneswahrnehmung einen für die menschliche Erfahrungswelt grundlegenden Anwendungsbereich der symbolischen Referenz und dehnt das Schema bis auf die Ebene kultureller und religiöser Symbolbezüge aus. Sein Verzicht auf eine strukturelle Binnendifferenzierung des Symbolbegriffs erlaubt Whitehead, den Akt der Symbolisierung flexibel in einem Analogieschluss auf verschiedene Ebenen des Erfahrungsbegriffs anzuwenden, führt aber, aufgrund des solcherart weitgespannten Bezugsrahmens, auch zu einer gewissen definitorischen Unschärfe. Letztlich ist die gesamte Sphäre der höheren, ›menschlichen‹ Erfahrung symbolisch; und die Qualitäten der indirekten, intensiven, frei entschiedenen, zum Guten wie zum Schlechten für Irrtümer offenen symbolischen Erfahrung finden sich in der Struktur der höheren Phasen der Erfahrung wieder.
2.3 Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung 2.3.1 Die Struktur von Prozeß und Realität Der Vernunftbegriff und der Symbolbegriff bilden den Untersuchungsmittelpunkt zweier kleinerer Bücher, Kulturelle Symbolisierung und Die Funktion der Vernunft. Bei der Ausformulierung des metaphysischen Systems, die sich hauptsächlich auf Prozeß und Realität konzentriert, spielt der Vernunftbegriff keine Rolle. Der Symbolbegriff wird zwar in einem eigenen Kapitel im anwendungsbezogenen zweiten Teil des Werks untersucht, hat aber keine Relevanz für die argumentative Struktur des Gesamtkonzepts. Man könnte sagen, die organistische Philosophie behandle unmittelbar der menschlichen Erfahrungswelt zugehörige Phänomene als eigenständige Exkurse, die nicht direkt in die ontologische Konzeption eingebunden werden. Der Grund hierfür lässt sich an der Aufgabenstellung von Prozeß und Realität festmachen. Nachdem die individuelle Erfahrung, die den Ausgangspunkt von Whiteheads philosophischem Konzept bildet, zu einer 165 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
anthropomorphen Grundstruktur der Wirklichkeit verallgemeinert worden ist, soll in Prozeß und Realität nicht nur diese ontologische Konzeption ausformuliert werden, sondern, davon ausgehend und vermittels der Terminologie des kosmologischen Entwurfs, auch der Weg zurück zur metaphysisch fundierten Erklärung der menschlichen Erfahrungswelt gebahnt werden. Deshalb besteht der methodische Ansatz in Prozeß und Realität darin, nicht von spezifischen Phänomenen auszugehen und anschließend eine Erklärung auf der fundamentalen ontologischen Ebene zu suchen, sondern bei der allgemeinen ontologischen Konzeption zu beginnen und mit auf diesen Allgemeinheitsgrad zugeschnittenen Begriffen eine strukturelle Verbindung zwischen den Ebenen der Metaphysik und der menschlichen Erfahrung herzustellen, anhand derer sich unsere Erfahrungen begründen lassen. Die umfassende Konzeption des Erfahrungsprozesses eines wirklichen Einzelwesens, in der sowohl einfache primäre Empfindungen wie auch komplexe intellektuelle Geistesaktivitäten erklärt werden, nimmt den dritten Teil von Prozeß und Realität ein. Während mit der Darstellung der primären Empfindungen der fundamentale Konkreszenzprozess ausreichend beschrieben ist und den aus dem allgemeinen metaphysischen Grundentwurf stammenden Anforderungen an das Konzept Genüge getan ist, dient der Rest des dritten Teils der Entwicklung eines Erfahrungsprozessmodells, das durch fortschreitende Kontrastbildung, Komplexion und Abstraktion zu höheren Formen der Erfahrung führt und eine intensivere abschließende Erfüllung ermöglicht. Also sind die höheren Formen der Erfahrung keine nach irgendwie anders gearteten Gesetzmäßigkeiten arbeitenden Ausnahmen von allgemeinen Erfahrungsprozess, sondern verfolgen mit verfeinerten Instrumentarien den gleichen kosmologischen Auftrag, nämlich eine möglichst intensive Erfahrung zu ermöglichen. Whitehead orientiert sich in dieser Untersuchung nicht an unmittelbar plausiblen Leitbegriffen, wie etwa der Vernunft in Die Funktion der Vernunft oder der Symbolisierung wie in Kulturelle Symbolisierung, sondern betreibt schrittweise eine funktionale Weiterentwicklung der Theorie des Empfindens. Nur in einem ebenso schrittweisen Nachvollzug lässt sich seine Konzeption der höheren Phasen der Erfahrung angemessen kontextualisieren.
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
2.3.2 Die Anfänge von personaler Identität und Abstraktion 2.3.2.1 Die Kategorie der begrifflichen Umkehrung Bereits der Einstieg in das Kapitel Die Übertragung der Empfindungen führt zu Interpretationsbedarf. Die zwei über die primären Empfindungen hinausgehenden Aktivitäten – ›begriffliche Umkehrung‹ (conceptual reversion) und ›Umwandlung‹ (transmutation) –, die in diesem Kapitel behandelt werden, zeichnet eine funktionale Mehrdeutigkeit aus. Auch in der Forschungsliteratur wird die Vielschichtigkeit dieser Aktivitäten kontrovers behandelt. 83 Zur ›Kategorie der begrifflichen Umkehrung‹ hat Lewis Ford eine Analyse angestellt, in der er den Text Whiteheads detailliert seziert und auf diesem Wege festgestellte Ungereimtheiten durch eine Einteilung des Textkorpus in verschiedene Entstehungsphasen erklärt. Sein Fazit ist die Erklärung, die ›Kategorie der begrifflichen Umkehrung‹ sei durch das seiner Meinung nach später eingefügte Konstrukt der ›hybriden Empfindungen‹ (hybrid prehensions) überflüssig gemacht. 84 Selbst, wenn man Fords Erklärung nicht Vor allem die Kategorie der begrifflichen Umkehrung wird in unterschiedlichen Kontexten gedeutet. Elizabeth Kraus versteht sie vor allem als Vorgang auf der Ebene der physiologischen Reizübertragung, also als Umwandlungsaktivität eines äußeren Objektes in einen koordinierten Sinneseindruck (vgl. Kraus (1979), S. 74 f.), wohingegen Judith A. Jones die kategoriale Funktion im Zusammenhang der generellen kosmologischen Erklärung für die Entstehung von Neuem erläutert (vgl. Jones (1998), S. 67 ff.). Tobias Müller hingegen verzichtet in seiner Darstellung der metaphysischen Konzeption Whiteheads auf die Kategorie der begrifflichen Umkehrung und behandelt stattdessen nur die hybriden Empfindungen: Müller (2008), S. 77 f. Darin folgt er implizit der Darstellungsweise von Ivor Leclerc, der in seiner Einführung in Whiteheads Metaphysik auf die Kategorie der Umkehrung zugunsten der Konzeption der hybriden Empfindungen vollständig verzichtet: Leclerc (1958), S. 183 ff. Maria-Sibylla Lotter sieht von einer Übernahme der Standardübersetzung von Hans Günter Holl ab und übersetzt conceptual reversion ganz minimalistisch mit ›begriffliche Reversion‹ : Lotter (1996), S. 242. 84 Vgl. Ford (1984), S. 260. Fords Annahme, Whitehead habe durch die Einführung der hybriden Empfindungen die begriffliche Umkehrung abgeschafft, wirkt seltsam angesichts der Tatsache, dass Whitehead seinen Text nicht korrigiert und die dabei überholte Konzeption herausgenommen hat, sondern in seiner eigenen Ausgabe von Process and Reality die category of reversion sogar mit eigenen Marginalien auf sein Kategorienschema bezogen hat. Allerdings bleibt unleugbar der Umstand einer auffälligen Vermischung beider Konzepte in dem behandelten Kapitel bestehen. Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Whitehead nicht von einer funktionalen, sondern eher einer anwendungsbereichsbezogenen Differenz beider ausgeht, da die ›Kategorie der begrifflichen Umkehrung‹ lediglich auf die Übertragung von Empfindungen zwischen Subjekt und 83
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
folgen möchte, weist seine Überlegung auf einen offensichtlichen Umstand hin: In Whiteheads Konzept der Empfindungsübertragung fließen verschiedene Themenkomplexe ein, die Restposten der kosmologischen Erklärung sind, sodass die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung ein ganzes Bündel an Funktionen erfüllen. Im einzelnen lassen sich diese Funktionszuschreibungen als Antworten auf Fragen verstehen, vor die Whitehead seine Philosophie im Anschluss an die Darstellung der primären Empfindungen gestellt sieht. Um die Übertragung von Empfindungen zu verstehen, ist es deshalb hilfreich, diese Fragestellungen nachzuvollziehen. Der Prozess der Konkreszenz besteht in der Synthese der vielen objektivierten Einzelwesen der Vorwelt zu einer neuen Einheit des Universums mit einer neuen Perspektive. Welche Seinsmöglichkeiten dem werdenden Subjekt für seine Selbstverwirklichung zur Verfügung stehen, wird durch die objektiven Daten der Vorwelt, deren Erfassen durch das Subjekt das Erfahrungsmaterial für den Selbstverwirklichungsprozess liefert, bestimmt, die auf diese Weise eine gewisse normative Kraft auf den Werdensprozess ausüben. Die Beschreibung des Prozesses bis zu diesem Punkt bedeutet strenggenommen: Neues ist die Wiederholung von bereits irgendwann einmal realisierten Ideen, und das Moment der Neuheit besteht bestenfalls in der neuen Kombination der erfassten Ideen zu einer neuen Einheit. Wie wirklich kategorisch Neues in die Welt kommen kann, wird so nicht erklärt. Dennoch ist die organistische Philosophie keine naive Evolutionstheorie, deren Fortschritt letztlich nur eine Wiederkehr des immer Gleichen bedeuten kann. 85 Whitehead möchte gerade eine Möglichkeit für quaobjektivem Datum abstellt, während die ›hybriden Empfindungen‹ den Gottesbegriff voraussetzen und damit die Diskussion auf eine andere Ebene verlagern. Dafür spricht auch die Passage in PR, 247/451, in der Whitehead explizit die Kategorie der begrifflichen Umkehrung auf den Anwendungsbereich der Übertragung von Erfahrungen innerhalb der wirklichen Welt beschränkt und hybride Empfindungen für eine Erweiterung der Theorie um den Gottesbegriff reserviert. Abgesehen von dieser perspektivischen Differenz erfüllen beide Konzepte jedoch die gleiche Funktion (vgl. PR, 250/456). Auch verwendet Whitehead den Terminus ›hybrid‹ innerhalb von Prozeß und Realität ambivalent; die ›hybriden Empfindungen‹, die eine der ›begrifflichen Umkehrung‹ analoge Funktion haben, sind etwas völlig anderes als »hybrid types of entities«, was zu Verwirrungen führen kann. (PR, 188/351). Die deutsche Übersetzung vermeidet vorbildlich die Doppelbesetzung des Hybridbegriffs und übersetzt elegant »Mischformen von Einzelwesen«. 85 Diese Thematik ist in der gesamten Philosophiegeschichte immer wieder behandelt
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
litativ neues Werden schaffen. Er muss also erklären, wie ein wirkliches Einzelwesen in seinem Werdensprozess Ideen – die ja selbst unwirkliche, rein abstrakte Möglichkeiten für Verwirklichung sind – erfassen kann, ohne sie als Formbestimmtheiten an bereits bestehenden Einzelwesen der Vorwelt zu empfinden, also als Charakteristika der bereits bestehenden Wirklichkeit. Dieses strukturelle Problem des kosmologischen Entwurfs teilt er mit Platon, dessen Ideenreich eine frappierende Ähnlichkeit mit Whiteheads Konzept der in völliger Verbundenheit durchstrukturierten Seinsmöglichkeiten hat. Platon löst das Dilemma durch seine Konzeption der anámnêsis. 86 Er unterscheidet zwischen Neuem, das bloß Bestehendes wiederholt, und Neuem, das eine neue Qualität in die Welt einführt. Das repetitive Neue ist das Ergebnis der hypómnêsis, des Erinnerns. Diese Funktion entspricht Whiteheads Konzept des Erfassens der Vorwelt durch physische Empfindungen; die Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit beschreibt Whitehead auch explizit als ›Erinnerung‹. Qualitative Neuheit ist für Platon nichts tatsächlich Neues, sondern eine noumenale ›Wiedererinnerung‹ (anámnêsis) der Seele an ihre Schau der Ideen, die ihr die Götter vor ihrer Einkörperung ermöglicht haben. 87 Neues, bisher nicht Instantiiertes kann entstehen, indem der Bereich der Totalität der Ideen vermittels der Vernunft (nous) erschlossen wird. Whitehead muss eine vergleichbare Struktur ausweisen, die es wirklichen Einzelwesen ermöglicht, eine neue Qualität durch ein Empfinden der durchstrukturiert aufeinander bezogenen und in ihrer Relevanz für das wirkliche Einzelwesen gradierten Seinsmöglichkeiten zu verwirklichen. Sowohl Platon als auch Whitehead werden durch ihren metaphysischen Erklärungsansatz genötigt, die rein physische Ebene zu übersteigen und auf worden. Die bekannteste Formulierung der Neuzeit ist wohl Friedrich Nietzsches Konzeption der ›ewigen Wiederkehr‹, aber der Gedanke bestimmt auch die kosmologischen Überlegungen der Stoa. Eine gute Übersicht über die Problemstellung bietet Mircea Eliade: Vgl. Eliade (1984). 86 Die gleiche implizite Verbindung zwischen Whiteheads Kategorien der Empfindungsübertragung und Platons anámnêsis stellt auch Stascha Rohmer her, ohne sie jedoch weiter zu erklären. Vgl. Rohmer (2000), S. 206. Interessanterweise sieht Whitehead selbst in der platonischen Konzeption der anámnêsis vor allem die Wiedererinnerung des Bewusstseins an im Konkreszenzprozess vorausgehende, unbewusste Erfahrungsinhalte und psychologisiert das Konzept damit (vgl. PR, 242/442). 87 Vgl. Platon: Phaidros, 245b–249b. In dieser Passage wird die anámnêsis der Seele als Mythos erzählt. Im Phaidon wird der gleiche Sachverhalt ohne Rückgriff auf den Mythos dargestellt (vgl. Platon: Phaidon, 72e–74a).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
den Bereich der Ideen auszugreifen. Wie Platons Konstrukt der anámnêsis, so muss auch Whiteheads Lösung auf der Seite des mentalen Pols liegen, denn die Empfindung von Seinsbestimmtheiten ist die Aufgabe des begrifflichen Empfindens. Eine weitere Frage, die innerhalb der basalen Theorie des Empfindens noch nicht geklärt wurde, ist, wie sich Gesellschaften oder Nexūs als Erfahrungsinhalte verstehen lassen. In der bisherigen Theorie können Nexūs lediglich in einer Analyse der Wirklichkeit als Gruppen von einander irgendwie ähnlichen wirklichen Einzelwesen interpretiert werden, aber nicht als objektive Daten der Erfahrung. Die Konzeption der organistischen Philosophie lässt das aktuell werdende wirkliche Einzelwesen jedes objektivierte Einzelwesen der Vorwelt als separates Objekt erfassen, das Empfinden eines Nexus ist in den primären Empfindungen nicht möglich. Auch eine lebendige Person kann nur als komplexe Gesellschaft vieler individueller Einzelwesen verstanden werden, deren Interaktionen das andauernde Individuum konstituieren. Dabei muss Whitehead erklären können, wie ein durchgängiges Identitätsgefühl dieser Gesellschaft die Einheit einer andauernden Person geben kann, ähnlich Immanuel Kants Konzept der Idee des Ichs. Auch Kant ist auf der Suche nach einem Prinzip, das eine Kontinuität der subjektiven Perspektive ermöglichte und konzediert dem Subjekt notwendigerweise ein Selbstbewusstsein, das einerseits einen empirischen Charakter hat und sich aus den gemachten Erfahrungen ergibt, andererseits auf einer zweiten Ebene eine jedem Anschauungsakt vorausgehende und begleitende, einheitsstiftende Ich-Vorstellung ist, losgelöst von allen empirischen Erfahrungen: »Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können«. 88 In Whiteheads Theorie des Empfindens gibt es keine andauernde Identität, die in einer Ich-Vorstellung das wirkliche Einzelwesen zum Teil eines langlebigen Individuums machte. 89 Kant (1998), B 131–132. Whitehead erkennt das Problem und nennt Nexūs mit serieller Anordnung explizit »Gesellschaften mit personaler Ordnung«, doch diese Konstruktion alleine überzeugt nicht als ausreichende Erklärung (vgl. PR, 34 f./84 f.). Die Topik des andauernden Subjekts in der organistischen Philosophie behandelt Friedrich Rapp, wobei er versucht, die Verwendung des Subjektbegriffs bei Whitehead mit Menschenkonzepten der philosophischen Tradition zu konnotieren (vgl. Rapp (1990), S. 143–168). Fetz interpretiert das Fehlen eines andauernden, selbstidentischen Subjekts in Whiteheads Philosophie als strukturelles Defizit, dem innerhalb der organistischen Philosophie nicht abgeholfen
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
Die Beantwortung dieser Fragen führt zu den beiden Aktivitäten der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung, die in einem funktionalen Zusammenhang miteinander stehen. Hat Whitehead von seinem Konzept der Sinneswahrnehmungen gesagt, es überschreite den Rubikon, so könnte man mit gewisser Berechtigung die gleiche Metaphorik für die Übertragung der Empfindungen verwenden. Tatsächlich vollzieht sich, beginnnend mit den Aktivitäten der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung, ein grundsätzlicher Wechsel der Methode, mit der das wirkliche Einzelwesen eine intensive Erfüllung seines emotionalen Musters anstrebt. Während in den primären Empfindungen Erfahrungsintensität aus der extensiven Empfindung aller Einzelwesen der Vorwelt in einer gewissen Werthaftigkeit gemäß des eigenen subjektiven Ziels entstand, beginnt mit der Übertragung der Empfindungen die Phase der intensiven Komplexion bereits getätigter primärer Empfindungen zu abgeleiteten, durch fortschreitende Kontrastierung kontrastreichen neuen Empfindungen. 90 Die Gesamtheit der primären physischen Empfindungen hat bereits die maximale Extensität: Sie umfasst das gesamte Universum. Begriffliche Umkehrung und die Umwandlung stehen deshalb am Anfang eines qualitativen Umschlages, der zu den Formen der höheren Geistestätigkeit führen wird. Allerdings will Whitehead die Aktivitäten der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung nicht als exklusive Kapazität spezieller, hochkomplexer Lebewesen anlegen, sondern ihre Funktion bereits auf einer grundlegenden Ebene der anorganischen Seinsformen verorten. Während die bloße Reaktivierung der subjektiven Formen der Vorwelt in den einfachen physischen Empfindungen mit dem Beispiel der Energieübertragung in der physischen Welt illustriert wird, soll die Aufgabe der begrifflichen Umkehrung sein, Neues in die Welt zu bringen, was durch das »Entstehen und die Ausrichtung von Energie in der physischen Welt« (PR, 245 f./449) beiwerden könne (vgl. Fetz (1981)). Insgesamt hat sich die Forschungsliteratur dieser Interpretationsrichtung weitgehend angeschlossen, wobei zwar die metaphysische Basiskonzeption berücksichtigt wurde, jedoch nur selten auch die Theorie der Übertragung von Empfindungen, die Whitehead als Lösung dieses Problems konzipiert. 90 Judith Jones betont den gleichen Wechsel der Intensitätssteigerung, wenn sie in ihrer Untersuchung den qualitativen Umschlagpunkt zu gesteigerter Erfahrungsintensität in der Übertragung von Empfindungen sieht: »Diversity in the objective data provides intensive dimensions of the new occasion, but with reversion intensity is deepened by the production of novel diverse feelings« (Jones (1998), S. 67 f.).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
spielhaft beschrieben werden könne. Die begriffliche Umkehrung, die, wie ihr Name bereits sagt, eine irgendwie mit dem Bereich der zeitlosen Gegenstände befasste mentale Operation ist, hat also eine allgemeine kosmologische Relevanz, die das Entstehen von qualitativ Neuem im Prozess des Universums erklären können soll. Wie der Vernunftbegriff, der als kosmologische Grundkraft fungiert, wird auch das begriffliche Erfassen von qualitativ Neuem als eine Eigenschaft des allgemeinen Werdensprozesses konzipiert. Dabei lässt die Darstellung offen, ob die begriffliche Umkehrung eine Phase im Werdensprozess jedes wirklichen Einzelwesens sein soll oder nicht. Für eine allgemeine Relevanz der Kategorie der begrifflichen Umkehrung spricht ihre Einbettung in die Darstellung allgemeiner Prozesskategorien. Diese Unbestimmtheit kennzeichnet Whiteheads gesamten Umgang mit den höheren Phasen der Erfahrung in Prozeß und Realität. Von einem ihre Aufgaben definierenden Anwendungsbereich der komplexeren mentalen Operationen schweigt Prozeß und Realität konsequent; die Schlussfolgerung liegt nahe, dass in der Theorie der Empfindungen lediglich die funktionale Struktur komplexer Erfahrung ausgewiesen werden soll, unbelastet durch einschränkende konkrete inhaltliche Festlegungen zu ihrer praktischen Nutzung. So ist auch die Definition der begrifflichen Umkehrung abstrakt formuliert, ohne auf spezifischere Anwendungen zu verweisen: Es gibt eine sekundäre Entstehung begrifflicher Empfindungen, deren Daten nur zum Teil mit den zeitlosen Gegenständen identisch sind, aus denen sich die Daten in der ersten Phase des geistigen Pols zusammensetzen. Die Bestimmung der Abweichung richtet sich nach den subjektiven Zielen auf Tiefe der Intensität durch Kontrast. Daher ist die erste Phase des geistigen Pols begriffliche Reproduktion und die zweite eine Phase der begrifflichen Umkehrung. In dieser zweiten Phase wird das angenäherte Neue begrifflich empfunden. Dabei handelt es sich um den Prozeß, durch welchen die anschließende Anreicherung der subjektiven Form sowohl durch qualitative Muster, als auch an Intensität durch Kontrast, aufgrund des positiven begrifflichen Erfassens relevanter Alternativen ermöglicht wird. Es entsteht ein begrifflicher Kontrast zwischen physischen Unvereinbarkeiten. […] Es ist die Kategorie, nach der Neues in die Welt kommt, so daß es selbst unter den Bedingungen der Stabilität niemals bei undifferenzierter Dauer bleibt. (PR, 249/454 f.)
Die Funktion der Kategorie der begrifflichen Umkehrung besteht darin, Neues hervorzubringen. Dieses Neue ist eine Formbestimmtheit, 172 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
die nicht einem in der primären Konkreszenzphase gemachten faktischen physisches Empfinden zugeordnet ist, sondern eine bloß mögliche Alternative zu dem Realisierten, die selbst keine tatsächliche Realität qualifiziert. Deshalb ist die Aktivität, die neue Ideen in relevanten Kontrasten zu tatsächlich Realisiertem empfindet, eine Tätigkeit des mentalen Pols. Whitehead spricht ihr eine »analytische Kraft« (RM, 117/88) zu. 91 In der organistischen Philosophie wird die Analyse immer als geistige Aktivität verstanden, die den synthetischen Prozess virtuell in Komponenten segmentiert. Man sollte sich allerdings davor hüten, die mentale Aktivität der begrifflichen Umkehrung zu hochstufig zu interpretieren. Mit dem Erfassen von alternativen Ideen ist noch keineswegs eine Denkaktivität gemeint, die in freier geistiger Tätigkeit mit Ideen spielt, sondern ein unmittelbares Kontrastieren des faktisch Seienden mit relevanten Alternativen, die das physische Empfinden der Vorwelt um den Kontrast einer nicht verwirklichten Seinsmöglichkeit bereichern. Ein Beispiel wäre vielleicht das Empfinden der Formbestimmtheit ›Röte‹ an einem objektiven Datum, das durch begriffliche Umkehrung zu dem kontrastreicheren Empfinden ›Röte und nicht Bläue‹ wird. Dieses Erfassen von Alternativen wird von Whitehead offensichtlich nicht bloß als formales Strukturelement verstanden, sondern als fundamentale Dynamik der Erfahrung: Wenn möglich, schweift der Geist vom lediglich konformen Empfinden der Realität zum Empfinden von Alternativen zur Realität ab und bindet sie in seine Wahrnehmung der Realität ein. Ein wirkliches Einzelwesen muss einerseits die Vergangenheit durch Reiteration des bereits Gewesenen bewahren, was in seinen primären physischen Empfindungen geschieht. Andererseits muss es aber auch einen Kontrast zum bereits Bestehenden schaffen, um »Lebhaftigkeit und Qualität zu erreichen«, was in der begrifflichen Umkehrung geschieht. Interessanterweise führt Whitehead diese doppelte Anforderung des »Kontrasts unter der Bedingung der Identität« an das wirkliche Einzelwesen als Definition der ästhetischen Erfahrung ein. Wie die begriffliche Umkehrung in Prozeß und Realität, so wird auch das ästhetische Empfinden in Wie entsteht Religion? bereits auf
In Wie entsteht Religion? beschreibt Whitehead die begriffliche Umkehrung – hier lediglich ›Umkehrung‹ (reversion) genannt – nicht im Anschluss an die allgemeine Prozesskonzeption, sondern als einen ihrer integralen Bestandteile.
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der fundamentalen physikalischen Ebene der energetischen Schwingungen verortet: In der physischen Welt kommt dieses Prinzip des Kontrasts unter der Bedingung von Identität in dem physikalischen Gesetz zum Ausdruck, daß Schwingung in die elementare Natur atomistischer Organismen eingeht. Schwingung ist die Wiederkehr des Kontrasts innerhalb einer typenmäßigen Identität. (RM, 117/88)
Die wichtige Frage, die sich daraus ergibt, lautet: Wie empfindet ein wirkliches Einzelwesen eine nicht aus dem Erfassen der Vorwelt stammende wirkliche Idee, ohne gegen das ›ontologische Prinzip‹ zu verstoßen? Und welche Instanz entscheidet über den Grad der Relevanz, die eine Idee für das Subjekt als Kontrast zur empfundenen Wirklichkeit hat? Für einen physischen Fakt gilt, dass er diese eine bestimmte Tatsache der Wirklichkeit ist, begrifflich qualifiziert durch seine Formbestimmtheit. Eine Idee in der abgestuften Relevanz des Gesamtbezugs aller Ideen ist nicht nur diese eine Seinsmöglichkeit, sondern muss in Verbindung mit der Ideengesamtheit gesehen werden. In der organistischen Philosophie wird die Totalität der Ideen in der uranfänglichen Natur Gottes verortet und die abgestufte Relevanz aller Ideen für den Selbstwerdungsprozess des aktuellen Subjekts in der Folgenatur Gottes. Konsequenterweise muss das Empfinden von etwas qualitativ Neuem auf einem Empfinden der Folgenatur Gottes beruhen. Aber Gottes Folgenatur kann nicht durch physische Empfindungen erfasst werden, sondern nur durch hybride Empfindungen, deren Datum kein physisches Faktum der Vorwelt ist, sondern vielmehr das begriffliche Empfinden eines bereits objektivierten wirklichen Einzelwesens: Ein hybrides physisches Empfinden bringt für sein Subjekt ein begriffliches Empfinden hervor, dessen Datum mit dem des begrifflichen Empfindens im vorausgegangenen Subjekt identisch ist. Aber die beiden begrifflichen Empfindungen der beiden Subjekte können entsprechend verschiedene subjektive Formen haben. […] Offensichtlich bestehen zwei Subspezies hybrider Empfindungen: (i) Diejenigen, welche die begrifflichen Empfindungen zeitlicher wirklicher Einzelwesen empfinden, und (ii) diejenigen, welche die begrifflichen Empfindungen Gottes empfinden. […] Ohne das Eingreifen Gottes gäbe es nichts Neues und keine Ordnung in der Welt. Der Gang der Schöpfung verliefe immer auf einer leblosen Ebene der Ineffektivität, wobei alles Gleichgewicht und alle Intensität durch die Gegenwirkung der Unvereinbarkeit zunehmend ausgeschlossen würden. (PR, 246 f./450 f.)
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
Der letzte Satz erinnert frappierend an die Beschreibung der kosmologischen Aufgabe der Vernunft in Die Funktion der Vernunft. Sowohl die Vernunft als auch die begriffliche Umkehrung werden als Steuerungselemente der Höherentwicklung des Universums explizit schon auf der fundamentalen Ebene physikalischer Prozesse verortet. Auch als Agens des Neuen, das festgefahrene Routinen überwindet, ähnelt die Vernunft der Aktivität begrifflicher Umkehrung oder hybrider Empfindung; die leblose Wiederholung des schon Gewesenen ist der Bereich bloßer physischer Empfindungen, die erstarrte Methode, die durch die hybriden Empfindungen erst um ein qualitativ Neues bereichert werden und in eine neue Lebensmethode überführt werden kann. Gottes Eingreifen ermöglicht das Entstehen von Neuem in der Welt und ist, ganz genau wie die Vernunft, ein Gegenagens zu einer Zustandsbewegung in Richtung der maximalen Entropie. Offensichtlich ist die Vernunft jene Ordnungskraft, die vermittels hybrider Empfindungen einen kreativen Fortschritt des Universums gewährleisten soll. Das hybride Empfinden umfasst einerseits, wenn normale wirkliche Einzelwesen der Vorwelt das Datum des Empfindens bilden, die Kategorie der begrifflichen Umkehrung, und geht andererseits, wenn Gott das Datum des Empfindens ist, über die begriffliche Umkehrung hinaus. Whitehead formuliert in diesem Kapitel von Prozeß und Realität umständlich und bleibt uneindeutig bei der Beantwortung der Frage, wie genau der Zusammenhang zwischen den hybriden Empfindungen und der Aktivität der begrifflichen Umkehrung beschaffen sein soll, was auch durch die kontroverse Rezeptionsgeschichte dieser Konzepte in der Forschungsliteratur illustriert wird. 92 Insofern beide Konzepte die gleiche Funktion hinsichtlich des Empfindens einer begrifflichen Empfindung der Vorwelt erfüllen, dürfte es gerechtfertigt sein, sie als inhaltlich deckungsgleich zu betrachten. Neben der Einführung von Neuem erfüllen begriffliche Umkehrung und hybrides Empfinden eine weitere Funktion, die jedoch keine allgemeine kosmologische Relevanz hat, sondern auf einen Bereich spezieller Einzelwesen eingeschränkt ist. In der organistischen Philoso-
Vgl. die Anmerkung zu Lewis Fords Schematisierungsversuch der organistischen Philosophie am Beginn dieses Kapitels. Affirmativere Interpretationen der Kategorie der begrifflichen Umkehrung finden sich etwa bei Kraus (1979) und Jones (1998), deren Gewichtung der Kategorie der begrifflichen Umkehrung sich allerdings teilweise unterscheidet.
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phie sind andauernde Gegenstände, die wir aus unserer Erfahrungswelt kennen, keine ontologische Einheit, sondern komplexe Nexūs vieler wirklicher Einzelwesen, die lediglich durch eine irgendwie geartete Gemeinsamkeit ihrer Formbestimmtheiten als Gesellschaft wahrgenommen werden können. 93 Ein andauernder Gegenstand ist ein Nexus mit einer ›personalen Ordnung‹ (personal order), was bedeutet, dass die einzelnen Ereignisse des Nexus eine Vererbungslinie teilen. Damit sieht Whitehead die Kriterien für ein Andauerndes erfüllt: »Ein solcher Nexus wird als ›dauerhafter Gegenstand‹ bezeichnet. Man hätte ihn auch ›Person‹ nennen können, und zwar im juristischen Sinne des Wortes.« (PR, 34 f./85) Diese Definition ist natürlich zu grob, um als abschließendes Erklärungsmodell für die unserer fundamentalen Eigenerfahrung der ganzheitlichen organischen Einheit eines Lebewesens dienen zu können. Eine durchgängige Identität, wie sie durch Kants Idee des Ichs im Zusammenspiel mit dem empirischen Ich erreicht wird, ergibt sich aus der Theorie der dauerhaften Gegenstände noch nicht. Dazu benötigt Whitehead das Konzept der begrifflichen Umkehrung oder der hybriden Empfindung. Mit ihrer Hilfe definiert er den Begriff der ›lebenden Person‹ (living person): 94 Das abgrenzende Charakteristikum einer lebenden Person ist ein eindeutig bestimmter Typ von hybriden erfaßten Informationen, die von einem EreigReto Luzius Fetz stellt die Frage, ob in der organistischen Philosophie der Fortschritt von einem Substanzschema zu einer Konzeption dynamischer Elementarprozesse nicht eher ein methodischer Rückschritt sei, da das wirklichen Einzelwesen sich nicht als plausibles Erklärungsmodell aus unseren Erfahrungen ergebe: »Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, was uns mit Whitehead zwingt, die Einheit sich ursprünglich gebender Ganzheiten der ›Lebenswelt‹ zugunsten einer unabsehbaren Vielheit mikrokosmischer letzter Geschehenseinheiten preiszugeben, deren Existenz und Wesen immer fragwürdig bleibt« (Fetz (1981), S. 256). 94 Diese Definition steht im Zusammenhang der Anwendung von Whiteheads metaphysischem Konzept auf die Organismustheorie der Biologie. Wie in einer ausdrücklich organistischen Philosophie das wirklich Anorganische bestimmt werden soll, ist ein Problem, das Whitehead letztlich nicht lösen kann. Stattdessen verlegt er die Unterschiede zwischen lebloser Materie und Lebendigkeit in den Begriff des Organischen hinein und unterteilt den Raum des Organischen mit feinen Binnendifferenzierungen, die eine sukzessive Steigerung der Lebendigkeit erlauben, statt eine scharfe Trennung zwischen Lebendigkeit und Nichtlebendigkeit anzunehmen. Deshalb spricht er auch von einem »uneingeschränkt lebenden Nexus« (PR, 107/207) als derjenigen Gesellschaft, die den jeder Gesellschaft zumindest latent eigenen Lebendigkeitsaspekt voll ausschöpft, was im Umkehrschluss auch die Möglichkeit einer eingeschränkten Lebendigkeit fordert. 93
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Der Übergang zu den höheren Formen der Erfahrung
nis ihrer Existenz zum anderen übertragen werden. […] Hier genügt es zu sagen, daß ein ›hybrides‹ Erfassen das in einem Subjekt erfolgende Erfassen eines begrifflichen oder ›unreinen‹ Erfassens ist, welches zur Geistestätigkeit eines anderen Subjekts gehört. Durch diese Übertragung nimmt die geistige Originalität der lebenden Ereignisse Charakter und Tiefe an. Auf diese Weise wird die Originalität sowohl ›kanalisiert‹ – um Bergsons Wort zu verwenden – als auch intensiviert. (PR, 107/208)
Lebendigkeit und durchgängige Identität hängen offensichtlich eng zusammen. Das hybride Erfassen ermöglicht dem wirklichen Einzelwesen, andere Einzelwesen der Vorwelt nicht durch physische Empfindungen zu erfassen, sondern in einem begrifflichen Empfinden direkt die ›Geistestätigkeit‹ (mentality) ihres mentalen Pols. So ist ein unmittelbares Anknüpfen an die mentale Aktivität des Einzelwesens der Vorwelt möglich, wodurch Whitehead meint, eine emotionale Kontinuität bei lebenden Personen gewährleisten zu können. Außerdem können Dispositionen der Vorwelt direkter übernommen werden, was die angesprochene ›Kanalisierung‹ ausdrücken soll: Der emotionale Haushalt eines wirklichen Einzelwesens wird der von ihm empfundenen Vorwelt umso deutlicher gleichen, je direkter die Geistesaktivitäten der Vorwelt ererbt werden können. Auch die Kategorie der subjektiven Intensität, die eine möglichst hohe Erfahrungsintensität »(a) im unmittelbaren Subjekt und (b) in der relevanten Zukunft« (PR, 27/73) anstrebt, wird in diesem Zusammenhang wichtig. Ein subjektives Ziel, das nicht nur eine intensive Erfüllung des eigenen Werdens anstrebt, sondern auch künftigem Werden eine möglichst intensive Erfahrung ermöglichen möchte, kann diese doppelte Absicht bedeutend einfacher realisieren, wenn das eigene emotionale Muster in folgenden Werdeprozessen direkt empfunden wird und eine kanalisierende Wirkung hat. Das Konzept der lebenden Person mit andauernder Identität wird in der organistischen Philosophie für manche systematische Erklärung als notwendig vorausgesetzt. So ermöglicht erst die kontinuierliche Körperempfindung eines Subjekts mit andauernder Identität die Sinneswahrnehmung im Modus der symbolischen Referenz; jeder pragmatische Test einer Symbolisierung verlangt nach einer Person, die sowohl den Symbolisierungsakt als auch dessen pragmatische Überprüfung als Teil ihrer eigenen Identität betrachtet (vgl. SMW 91 f./111 f.). 95 Michael Hampe behandelt das Konzept der Zentralisierung und Verstärkung in der organistischen Philosophie vor allem auf der Ebene der Körperorganisation, also des
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2.3.2.2 Die Kategorie der Umwandlung Die Übertragung von Empfindungen beinhaltet noch eine weitere Aktivität, die Kategorie der Umwandlung. Im Gegensatz zur begrifflichen Umkehrung ist die Funktion der Umwandlung eindeutig verortbar und in Prozeß und Realität unzweideutig beschrieben. 96 Das allgemeine metaphysische Konzept der organistischen Philosophie kennt nur zwei Erfahrungsebenen, die mikroskopische und die makroskopische. Zu Beginn des eigenen Selbstwerdungsprozesses empfindet das wirkliche Einzelwesen jedes andere, bereits objektivierte, wirkliche Einzelwesen des Universums mit dessen eigener Formbestimmtheit, und in seiner abschließenden Erfüllung sind alle einzelnen Empfindungen in eine Gesamterfahrung synthetisiert. Allerdings fehlt die Möglichkeit, Gegenstände der mesoskopischen Ebene in einem Erfahrungsakt zu empfinden. Die Kategorie der Umwandlung ermöglicht diese Empfindung. Whitehead formuliert allgemein: Dieses begriffliche Empfinden hat eine unvoreingenommene Relevanz für die oben erwähnten vielen einfachen physischen Empfindungen der verschiedenen Elemente des Nexus. Genau diese Unvoreingenommenheit des begrifflichen Empfindens führt zu der Integration, in der die vielen Elemente des Nexus zu dem einen Nexus zusammengefasst werden, den sie bilden, und in der dieser Nexus mit dem einen zeitlosen Gegenstand kontrastiert wird, der durch deren Analogien ans Licht getreten ist. […] Auf diese Weise bildet der Nexus (oder sein Teil) das objektive Datum eines Empfindens, das dieses erfassende Subjekt aufnimmt. (PR, 250 f./457 f.) Zusammenwirkens verschiedener körperlicher Organe mit besonderem Augenmerk auf der Reizzentralisierung durch ein zentrales Nervensystem: Vgl. Hampe (1990), S. 234 ff. Das Problem der andauernden Person bei Whitehead sieht er »nicht als Spezialproblem, sondern als Anwendungsproblem« des metaphysischen Gesamtsystems (vgl. Hampe (1990), S. 278). 96 Dennoch erweckt die Behandlung der Kategorie der Umwandlung in der Forschungsliteratur mitunter das Gefühl, sie müsse schwierig begreifbar sein. So benutzen Sherburne (1966), S. 74, und Christensen (1986), S. 347, zur Veranschaulichung der Kategorie der Umwandlung schematische Diagramme. Auch einige weitere Aspekte der organistischen Philosophie illustrieren beide Autoren mit Diagrammen. Elizabeth Kraus stellt den gesamten Konkreszenzprozess eines wirklichen Einzelwesens in einem komplexen Diagramm dar, in dem die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung eine zentrale Position einnehmen: Kraus (1979), S. 118. Stephen Franklin stellt alle komplexeren Empfindungsarten in Diagrammen dar; der Kategorie der Umwandlung in ihren unterschiedlichen Formen widmet er gleich vier Einzeldiagramme: Franklin (1990), S. 400 ff.
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Wirkliche Einzelwesen, die einen zeitlosen Gegenstand als gemeinsame Bestimmtheit ihrer Form haben, bilden einen Nexus. Um aus den Empfindungen einzelner Tatsachen der Vorwelt zu einer umfassenden Empfindung dieser vielen Tatsachen als einem Erfahrungsgegenstand zu kommen, wird diejenige Formbestimmtheit erfasst, die allen Tatsachen gemein ist. Ein Nexus vieler wirklicher Einzelwesen ist nicht real in der Weise, in der individuelle wirkliche Einzelwesen real sind. Das werdende Subjekt kann die allgemeine Formbestimmtheit wählen, unter deren Hinsicht es aus den vielen Empfindungen seiner primären Phase die umfassende Empfindung eines Nexus macht. Auch in der Umwandlung verstärkt die neue Empfindung die Erfahrungsintensität, indem das gemeinsame abgrenzende Charakteristikum des Nexus mit großer Massivität auf das emotionale Muster des Subjekts einwirkt und die Vagheit, die aus den vielen subtilen Unterschieden der individuellen physischen Empfindungen entsteht, überdeckt. Dementsprechend wird die Umwandlung einzelner objektiver Daten zu einem Nexus in manchen Situationen fast selbstverständlich sein, falls sie aus der Perspektive des Subjekts möglich ist; alle Erfahrungsgegenstände der mesoskopischen Ebene sind hochkomplexe Nexūs, die menschliche Erfahrung beruht also auf einer konsequenten Anwendung der Kategorie der Umwandlung. Dennoch ist das Subjekt frei in seiner Entscheidung, viele einzelne Empfindungen in eine Gesamtempfindung umzuwandeln, im Gegensatz zu den primären Empfindungen, die das Subjekt sich nicht weigern kann zu tätigen. Die mesoskopische Erfahrungsebene ist, in Whiteheads Konzeption, auf besondere Weise das Resultat aktiver Konstruktion (vgl. PR, 261 f./ 488 f.). Auch die primären Empfindungen sind das Ergebnis einer aktiven Empfindungstätigkeit, aber die umgewandelten Empfindungen pointieren durch ihre Möglichkeit der freien Entscheidung diesen Aktivitätscharakter nochmals. An Empfindungen der Kategorie der Übertragung lässt sich in besonderer Weise das Wechselspiel von Freiheit und Determination beobachten. Die Entscheidung, ob und welche primären Empfindungen auf welche Weise zu der Empfindung eines Nexus umgewandelt werden oder welche alternativen Seinsmöglichkeiten begrifflich umgewandelt werden, kann vom Subjekt frei getroffen werden. Aber diese Freiheit beruht auf der Voraussetzung einer entsprechend veranlagten Vorwelt – etwa körperliche Organismen mit einer zentralisierenden und intensivierenden Reizübermittlungsstruktur –, die dem Subjekt erst die Voraussetzung bietet, um derartig freie Entscheidungen treffen 179 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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zu können. 97 Die Freiheit des wirklichen Einzelwesens, seine objektiven Daten zu der Empfindung eines komplexen Nexus zu organisieren, ist durch die Umgebung, aus der es hervorgeht, bedingt und unterscheidet sich auf diese Weise von der absoluten Freiheit des Fichte’schen Ichs, sich ohne äußere Bedingtheit ein Nicht-Ich entgegenzusetzen. So ist die mesoskopische Ebene der Erfahrung, die den lebensweltlichen Erfahrungsbereich des Menschen ausmacht, auf doppelte Weise das Ergebnis aktiver Konstruktion: In der Kategorie der Umwandlung und in der symbolischen Referenz, die jedem Akt der Sinneswahrnehmung zugrunde liegt, trifft das Subjekt eine freie Entscheidung, aus den fundamentalen Empfindungen komplexere, intensivere Folgeempfindungen zu kreieren. Allerdings unterscheidet sich Whiteheads Philosophie noch deutlich von konstruktivistischen Konzeptionen. Wenngleich für die organistische Philosophie und den Konstruktivismus unser lebensweltlicher Erfahrungsbereich kein unmittelbarer Wirklichkeitsbezug ist, sondern eine Konstruktion des empfindenden Subjekts, unterscheiden sich die Fragestellungen hinter beiden Ansätzen deutlich. Whitehead fragt ontologisch danach, was es wirklich gibt, während konstruktivistische Theorien üblicherweise epistemologisch fragen, wie die Konstruktion unserer Erfahrung zustande kommt. Man wird von der organistischen Philosophie nicht sagen können, sie enthielte besondere epistemologische Qualitäten; allen komplexen Formen der Erfahrung liegt eine ontologische Erklärungsebene zugrunde. Die mesoskopische Erfahrungsebene ist sicherlich ein Hauptanwendungsbereich für die Kategorie der Umwandlung. Allerdings wäre es verkürzend, zu gegenständlich zu denken und sie nur auf den Bereich der Sinneswahrnehmung beziehen zu wollen; 98 jedes Objekt der menschlichen Erfahrung ist ein Resultat der Umwandlung, auch Objekte der Geistestätigkeit. Im Verbund mit der begrifflichen Umkehrung erfüllt die Umwandlung einen weiteren Zweck: Lediglich als AlElizabeth Kraus hat die Übertragung der Empfindungen auf diese Weise interpretiert: Vgl. Kraus (1979), S. 110 ff. 98 Beispielhaft für eine verkürzende philosophische Interpretation kann an dieser Stelle ein Aufsatz von James W. Felt genannt werden, der die Kategorie der Umwandlung bei Whitehead ausschließlich auf der mesoskopischen Erfahrungsebene verortet und ihre weiteren Bedeutungs- und Funktionsebenen übersieht. Diese verkürzte Untersuchung zusammenfassend, unterstellt er Whitehead einen »naive realism« (vgl. Felt (1984), S. 181). 97
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ternativen zu faktisch Wirklichem erfasste Seinsbestimmtheiten können vermittels der Kategorie der Umwandlung zu einem neuen komplexen Empfinden umgewandelt werden und so für das Werden künftiger Subjekte eine eigene Wirksamkeit erlangen. Soll die begriffliche Umkehrung die Identität einer lebenden Person leisten können, so ist auch dafür das Zusammenspiel mit der Kategorie der Umwandlung nötig. Begriffliche Empfindungen der Vorwelt werden durch begriffliche Umkehrungen direkt erfasst und in einer Umwandlung zu der Empfindung eines Nexus gemacht, dem Nexus dieser andauernden mentalen Identität. Whiteheads Konzeption des mesoskopischen Individuums beruht auf dem Bereich der Übertragung von Empfindungen und beinhaltet ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die zu einer graduellen Kanalisierung und Intensivierung führen. 99 Fetz kritisiert an Whiteheads Vorstellung des Individuums genau diese komplizierte Konzeption, die alles andere als intuitiv sei und die unmittelbare Einheitserfahrung, die jedem menschlichen Selbstbewusstsein zugrunde liegt, nicht erklären könne. 100 Vor allem aber dient die Kategorie der Umwandlung dazu, einen Kernbegriff der organistischen Philosophie in die systematische Darstellung einzuführen, nämlich die Abstraktion. Nach Whiteheads Definition besteht die Aufgabe der Philosophie geradezu darin, »Kritik der Abstraktionen« zu sein: Wir können nicht ohne Abstraktionen denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen. Genau hier findet die Philosophie ihren Platz als wesentlicher Beitrag zum gelungenen gesellschaftlichen Fortschritt. Sie ist Kritik der Abstraktionen. (SMW, 59/75)
Das Loslösen von einzelnen Tatsachen der Erfahrung ist notwendig, um höhere, generalisierende geistige Aktivitäten ausüben zu können. Aber es ist eine für die menschliche Erfahrung zugleich auch notwendige Eigenschaft. Die Frage, wie wir mit Abstraktionen umgehen, ist ein Hauptanliegen der Beschäftigung Whiteheads mit der Funktionsweise höherer Geistestätigkeit. Eine umfassende Behandlung des Abstraktionsbegriffs, die auch die philosophische Methodik und das VerDie Bedeutung der Kanalisierung für die Persönlichkeit wird von Stascha Rohmer betont, der in Kanalisierungen auf psychologischer Ebene eine »Vertiefung des Selbst« sieht: Vgl. Rohmer (2000), S. 218. 100 Vgl. Fetz (1981), S. 251 ff. 99
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hältnis zu den Naturwissenschaften berücksichtigen müsste, würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. 101 Die Kategorie der Umwandlung ist die Gelenkstelle zwischen unmittelbarem Empfinden und abstrakten Bewusstseinsinhalten, in der die Abstraktion als Funktion innerhalb des Naturzusammenhanges dargestellt wird. Ganz unabhängig von der Frage, wie der Abstraktionsbegriff in der philosophischen Methode der organistischen Philosophie bei der Suche nach den richtigen Abstraktionsweisen Anwendung finden soll, besteht eine erste Schwierigkeit darin, überhaupt zu sagen, was eigentlich eine Abstraktion sein soll. Whitehead verwendet den Begriff an verschiedenen Stellen seines Werks, um den Akt einer Generalisierung, einer Objektivierung oder einer Simplifizierung zu beschreiben. Offensichtlich ist der Abstraktionsbegriff mehrdeutig und kaum auf eine konzise Formel zu bringen. Stephen T. Franklin schreibt der Abstraktion in der organistischen Philosophie mehrere Bedeutungen zu: 102 Sie kann als Simplifizierung auftreten, wenn sie viele verschiedene Sachverhalte zu einer größeren Einheit verbindet und so von den individuellen Einzigartigkeiten zugunsten einer Gesamtbetrachtung abstrahiert. Sie kann in einer Analyse auftreten, wenn ein Teil aus dem Ganzen herausgelöst betrachtet wird und also von der Erfahrungsgesamtheit zugunsten einer Partikularbetrachtung abstrahiert wird. Insofern das Empfinden der Erfahrungsgesamtheit in der organisti101 Der Abstraktionsbegriff ist ein häufig behandelter Gegenstand in der Forschungsliteratur. Je nach Zielsetzung der Untersuchung werden dabei verschiedene Aspekte der vielschichtigen Auseinandersetzung Whiteheads mit dem Abstraktionsbegriff in den Fokus genommen: Joachim Klose behandelt Abstraktion im Modus der ›extensiven Abstraktion‹ (extensive abstraction), die im vierten Teil von Prozeß und Realität Whiteheads Konzept der räumlichen Ausdehnung zugrunde liegt (vgl. Klose (2002), bes. S. 242 ff.). Für Michael Hampe liegt die Hauptaktivität der Abstraktion auf der Ebene der spezifischen Verwirklichung allgemeiner Seinsmöglichkeiten in einem bestimmten Empfinden (vgl. Hampe (1990), S. 99 ff.). In die gleiche Richtung geht Stephen Ross (vgl. Ross (1983), S. 233 f.). Darrel Christensen beschränkt in seiner Interpretation die Abstraktion auf die Tätigkeit der Objektivierung; allerdings ist seine Absicht keine genuine Whiteheaddeutung, sondern eine Kontrastierung der philosophischen Konzepte Whiteheads und Hegels, wozu die Beschränkung der Abstraktion auf die Objektivierung dient (vgl. Christensen (1986), S. 349 ff.). Einen guten Überblick über die vielfältigen Facetten des Abstraktionsbegriffs bei Whitehead bietet Stephen Franklin, wenngleich er selbst den Abstraktionsbegriff im Rahmen von Sprache untersuchen möchte (vgl. Franklin (1990), S. 266 ff.). 102 Vgl. Franklin (1990), S. 266 f. Die folgende Darstellung des Abstraktionsbegriffs in diesem Kapitel schließt sich an Franklins überzeugende Interpretation an.
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schen Philosophie als ästhetische Erfahrung verstanden wird, wäre diese Form der Abstraktion ihr Gegenteil, die ›logische‹ Betrachtung. 103 Außerdem kann die Abstraktion auf der Ebene der wissenschaftlichen Theoriebildung die Bedeutung einer allgemeiner werdenden Kategorisierung haben: Auch wenn ein Gegenstand sowohl mit gleicher Berechtigung als roter Apfel, organische Substanz oder ein Gegenstand mit raumzeitlicher Ausdehnung beschrieben werden kann, unterscheiden sich die Beschreibungen doch hinsichtlich ihrer Konkretheit. Die allgemeinste Formbestimmtheit ist zugleich abstrakteste. Whitehead bezieht diese Feststellung auf den Bereich der Seinsmöglichkeiten, die er, abhängig von ihrer Komplexität, in ›abstraktive Hierarchien‹ (abstractive hierarchies) ordnen möchte (vgl. SMW, 166/196). 104 Außerdem bezeichnet die organistische Philosophie das negative Empfinden, in dem bereits gewordene Einzelwesen der Vorwelt von den Fühlungen des aktiven Subjekts ausgeschlossen werden, als Abstraktionen; in dieser Begriffsbedeutung wird die Abstraktion ausdrücklich als Synonym für die Aktivität der Eliminierung verwendet (vgl. PR, 210/389). In der Kategorie der begrifflichen Umkehrung wird die erste Bedeutung der Abstraktion erklärt, die Simplifizierung. Die komplexe Seinsbestimmtheit eines Nexus ist dasjenige Formelement, das allen wirklichen Einzelwesen des Nexus gemein ist; dabei wird notwendigerweise von der individuellen Qualität der vielen Einzelwesen zugunsten der komplexen Qualität des Nexus abgesehen. Durch die Vereinfachung der vielen subtilen Einzelempfindungen zu einer Nexusempfindung kann das Subjekt seine Aufmerksamkeit mit massierter Intensität auf die Empfindung der Formbestimmtheit des Nexus konzentrieren. Wollte man, analog zur Beschreibung der begrifflichen Umkehrung als ›Agens des Neuen‹, die Kategorie der Umwandlung griffig benennen und ihre Bedeutung für die komplexen Folgephasen des Konkreszenzprozesses herausstellen, könnte man sie als das ›Agens der Vereinfachung‹ bezeichnen. Whitehead schreibt der Kategorie der Umwandlung eine eminente Bedeutung im Konstitutionsprozess komple103 Whitehead bezieht sich bei der Entgegensetzung von Ästhetik und Logik, wie bereits gesehen, nicht auf einen bestimmten Logikbegriff, sondern möchte einen generellen Begriff analytischer Geistestätigkeit bedienen. 104 Whitehead behandelt die Thematik der Abstraktion in Wissenschaft und moderne Welt im Kontext einer nahezu mathematischen Konstruktion des Bereichs aller hierarchisch durchgeordneten und aufeinander bezogenen Seinsmöglichkeiten. Wie genau diese Abstraktheit bestimmt sein soll, bleibt offen.
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xer Organismen zu und scheint in ihr gar eine Kerndynamik höherer Organisationsstrukturen von Erfahrungssubjekten zu sehen: Diese beiden Typen des Empfindens [zwei Ausformungen der Kategorie der Umwandlung – d. Verf.] sind das Ergebnis eines komplexen Prozesses massiver Vereinfachung, der für die höheren Grade von wirklichen Einzelwesen charakteristisch ist. Sie sind anscheinend in der Beschaffenheit wirklicher Einzelwesen des leeren Raumes nur von geringer Bedeutung; aber in den physischen Empfindungen, die zur Lebensgeschichte dauerhafter – sowohl anorganischer als auch organischer – Organismen gehören, spielen sie eine wichtige Rolle. (PR, 314/566)
Die Übertragung der Empfindungen beinhaltet die beiden Aktivitäten der begrifflichen Umkehrung – oder der hybriden Empfindung – und der Umwandlung. Weder die begriffliche Umkehrung noch die Umwandlung stehen für eine als Phänomen unserer menschlichen Lebenswelt beschreibbare Erfahrungseigenschaft; sie erfüllen eine Brückenfunktion zwischen der fundamentalen Konzeption des Konkreszenzprozesses und der Erklärung der hochstufigen menschlichen Geistestätigkeit. Offensichtlich soll die Übertragung der Empfindungen generell in allen Werdensprozessen wirksam sein können, während gewisse ihrer Funktionen lediglich für spezifische wirkliche Einzelwesen relevant zu sein scheinen, wie etwa die Kontinuität der Identität einer lebenden Person durch das direkte Erfassen eines begrifflichen Empfindens in einer begrifflichen Umkehrung im Zusammenspiel mit einer Umwandlung. Die Vagheit in der Darstellung der Übertragungsaktivitäten, bestens illustriert durch die Uneindeutigkeit, mit der die einander ähnlichen Konzepte der begrifflichen Umkehrung und des hybriden Empfindens verwendet werden, ist das charakteristischste Merkmal dieses Kapitels von Prozeß und Realität; ein ganzes Bündel von miteinander kombinierbaren und vielseitig anwendbaren Prozessfunktionen wird hier ausgebreitet, ohne eindeutig zu definieren, zur Erklärung welcher Phänomene oder Problemstellungen sie ersonnen worden sind. Wie die ambivalente Anwendungsbereichszuschreibung vermuten lässt, nimmt das Kapitel der Übertragung der Empfindungen eine Zwischenposition zwischen der metaphysischen Grundkonzeption und der Ebene der menschlichen Erfahrungswelt ein. Ihre Bedeutung ist rein funktional und ermöglicht komplexeren Empfindungen von Folgephasen, auf gewisse Operationen aufzubauen, die Whitehead zugleich noch den einfachen Naturprozessen offenhalten möchte: Die 184 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Propositionen
Einführung von qualitativ Neuem, das Empfinden rein begrifflicher, bloß möglicher Formalternativen und das Empfinden von Nexūs, das die Abstraktion in den Prozess einführt.
2.4 Propositionen 2.4.1 Der Propositionsbegriff Mit dem Begriff der ›Propositionen‹ (propositions) 105 führt Whitehead ein philosophisch bereits intensiv behandeltes Konzept die organistische Philosophie ein und knüpft wissentlich an eine ausgeprägte und vielgestaltige Begriffstradition an, die inhaltlich in der aristotelischen Logik mit dem Begriff der prótasis beginnt und spätestens seit der Spätantike auf dem lateinischen propositio aufbaut. Zur Zeit Whiteheads verweist der Terminus zumeist in einem logischen Kontext auf die Bedeutung eines Satzes, losgelöst von dessen symbolischen oder verbalen Komponenten. Seit George Edward Moores Arbeiten zum Propositionsbegriff 106 wird zwischen Propositionen und dem proposi105 Hans Günter Holl übersetzt in Prozeß und Realität den Begriff der proposition mit ›Aussage‹. Obwohl in diesem Buch zur besseren Verständlichkeit generell Holls Übersetzung verwendet wird, soll hier eine Ausnahme gemacht werden, da die direkte Wiedergabe von proposition mit ›Proposition‹ dem Charakter des englischen Originals besser entspricht und neben dem Bezug auf die Begriffsverwendung in der analytischen Philosophie zudem noch den Charakter der Absicht, des Vorhabens, des Vorschlags beinhaltet. Zudem verwendet Abenteuer der Ideen auch im Deutschen den Propositionsbegriff, weshalb schon aus Kompatibilitätsgründen eine einheitliche Begriffsverwendung geboten ist. Aus diesem Grund werden künftig in Zitaten der deutschen Übersetzung der Begriff ›Aussage‹ durch ›Proposition‹ und ›aussageartiges Empfinden‹ durch ›propositionales Empfinden‹ ersetzt. Eberhard Bubser ist in Abenteuer der Ideen, seiner Übersetzung von Adventures of Ideas, vorsichtiger mit dem Propositionsbegriff, sein Unbehagen äußert sich in der erläuternden Zusatzübersetzung der Propositionen mit »›zur Beurteilung vorgelegte Annahmen‹, ›Urteilsinhalte‹, ›Gedanken‹, auf logische bzw. die Bedürfnisse einer logifizierten Ontologie hin normierte ›Aussagen‹« (vgl. AI, 243/426 f.), den Propositionsbegriff selbst verwendet er nicht. Bereits im ersten Kapitel von Der Begriff der Natur stellt Whitehead sein Propositionskonzept in etwa der gleichen Form wie später in Prozeß und Realität vor, Julian von Hassell übersetzt proposition mit ›Satzaussage‹ oder ›Aussage‹. Der Fokus in Der Begriff der Natur liegt auf dem Bereich der Naturphilosophie und, hinführend dazu, auf dem Bereich der Wissenschaftstheorie. Whitehead versteht den Propositionsbegriff hier eindeutig als Beitrag zu seiner »Theorie der Formation der wissenschaftlichen Materiedoktrin« (CN, 20/19). 106 Vgl. Moore (1899), S. 176–193.
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tionalen Gehalt eines Satzes unterschieden. In der Mathematik wird der Propositionsbegriff als Synonym für einen Satz oder ein Theorem verwendet; die Verbindung zwischen widerspruchsfreien logischen Aussagen im mathematischen Kontext und im breiteren Kontext der Philosophie wird etwa bei Gottlob Frege hergestellt. 107 Auch die Linguistik hat den Propositionsbegriff aufgegriffen, in der Sprechakttheorie weist etwa John Searle jeder sprachlichen Äußerung als Teilakt einen propositionalen Akt zu. 108 Der philosophische Propositionsbegriff ist hauptsächlich mit dem Bereich der analytischen Philosophie verbunden. Auch die Bezeichnungen einzelner Faktoren, die in der organistischen Philosophie an der Empfindung einer Proposition beteiligt sind, erinnern an die Tradition des philosophischen Propositionsbegriffs. So werden die Termini ›Prädikat‹ und ›logisches Subjekt‹ üblicherweise mit Propositionskonzepten der analytischen Philosophie assoziiert, aber die organistische Philosophie verwendet beide auch in ihrem eigenen Propositionskonzept. Daran wird augenscheinlich, wie deutlich Whitehead begrifflich an eine philosophische Tradition anknüpft. Whiteheads Propositionskonzept lässt sich in die ihm zeitgenössische Debatte kaum einordnen, da er den Begriff in völlig eigenen Abgrenzungen und Zielsetzungen verwendet und ihn an keinen zentralen Platz seiner Philosophie setzt. 109 Die organistische Philosophie möchte sich von der exklusiven Anwendung des Propositionsbegriffs auf den Bereich der Logik lösen und hält die Exklusivität, mit der eine Proposition rein logisch lediglich in Hinsicht auf ihre Richtigkeit oder Falschheit betrachtet wird, für eine schädliche Beschränkung (vgl. PR, 184/ 343). Dabei soll das Konzept der Proposition in der organistischen Philosophie durchaus auch den Bereich der Propositionen in der Logik miteinbeziehen, darüber hinaus aber ein weiteres Spektrum an Bedeu107 Frege verbindet die Strukturen mathematischer und sprachlicher Aussagen in seinem wichtigsten Werk zur Logik, der Begriffsschrift (vgl. Frege (1998)). Außerdem entwirft er eine eigene Semantik, in der Zeichen und Symbole übergreifend sowohl in der Mathematik als auch in der Umgangssprache zur Darstellung wahrer Sätze verwendet werden sollen (Frege (1892), S. 25–50). Mit dem Propositionsbegriff Moores wird Freges Werk von Betrand Russell in Verbindung gebracht: Vgl. Russell (1996), S. 502 f. 108 Vgl. Searle (1969) 109 Dennoch wird Whiteheads Propositionskonzept genug Bedeutung beigemessen, um es im Historischen Wörterbuch der Philosophie als wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Propositionsbegriffs im 20. Jahrhundert aufzuführen: Vgl. Nuchelmans (1981), S. 1518.
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Propositionen
tungen abdecken. Darauf weisen die von Whitehead in der ›Kategorie der Existenz‹ angeführten alternativen Bezeichnungen des Propositionsbegriffs, wie ›Theorien‹ und, ganz technisch, ›unreine Potentiale für die spezifische Bestimmung von Sachverhalten‹, hin (vgl. PR, 22/ 63 f.). Auch der in Abenteuer der Ideen behandelte Bereich der ›Erscheinungen‹ (appearance) ist offensichtlich eine implizite Wiederaufnahme des Propositionskonzepts, das lediglich unter einer anderen Bezeichnung behandelt wird (vgl. AI, 209 ff./374 ff.). 110 Zumeist hat die Forschungsliteratur die Propositionen als Vorstufe des Bewusstseins interpretiert und den Unterschied zwischen Whiteheads Propositionsbegriff und der Begriffsverwendung im Kontext analytischer Philosophie betont. 111 Dennoch gibt es bisher keine ausführliche Unter110 Die Verwendung des Begriffs der appearance könnte, vor allem, da das entsprechende Kapitel im englischen Original von Abenteur der Ideen mit Appearance and Reality überschrieben ist, als eine implizite Anspielung auf Francis Herbert Bradley verstanden werden, dessen Hauptwerk vom 1893 ebenfalls Appearance and Reality betitelt ist. Whitehead nennt Bradley ausdrücklich an verschiedenen Stellen als philosophische Referenz; allerdings wird im Gesamtwerk der organistischen Philosophie nicht deutlich, welchen Stellenwert Bradley für Whitehead einnimmt. Auch der Titel von Whiteheads Hauptwerk, Process and Reality, kann mit etwas spekulativem Wagemut als Anspielung auf Bradleys Appearance and Reality gedeutet werden. Ein Vergleich von Bradleys und Whiteheads philosophischen Entwürfen ist von Leemon MacHenry unternommen worden (vgl. MacHenry (1992)). Zumindest ist sich Whitehead der besonderen Bedeutung des appearance-Begriffs zweifellos bewusst gewesen. 111 Das Konzept der Propositionen ist in der Forschungsliteratur recht einheitlich aufgenommen worden, allerdings sind Arbeiten mit einem Schwerpunkt auf dieser Thematik rar und Interpretationen, die sich auf lediglich einen Aspekt der Propositionen beschränken, häufig. Eine hervorragende Zusammenfassung des Propositionsbegriffs bei Whitehead, in einen umfassenderen Kontext mit William James und John Searle gesetzt, findet sich bei Ralph Pred (vgl. Pred (2005), S. 202–213). Ebenfalls zentral diskutiert Sydney Hooper den Propositionsbegriff bei Whitehead (vgl. Hooper (1945), S. 63–73). Bei Stephen Franklin werden zwar die Propositionen bloß in einem Ausschnitt ihres Geltungsbereichs, der Sprache, genauer behandelt, in seiner Übersicht über die organistische Philosophie lässt er jedoch keinen Zweifel am zentralen Stellenwert der Propositionen für den Gesamtprozess und identifiziert ihre Funktion in der Steigerung des Kontrastempfindens (vgl. Franklin (1990), S. 9 ff.). Dieser funktionalen Deutung des Propositionsbegriffs schließt sich auch John Lango an (vgl. Lango (1972), S. 48 ff.). Stephen Ross gehört zu den wenigen Autoren, die den Propositionsbegriff hinsichtlich ihrer Bedeutung für Whiteheads Konzept des Wissenserwerbs behandeln (vgl. Ross (1983), S. 118 ff.). Elizabeth Kraus betrachtet Propositionen ausschließlich als Vorstufe zu Whiteheads Theorie des Urteilens und definiert das Propositionskonzept explizit als »Prolegomenon to a Theory of Judgment« (Kraus (1979), S. 87). Dorothy Emmet interpretiert die Propositionen unter Berücksichtigung des Bereichs, dem der
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suchung zum Stellenwert der Propositionen, die in der organistischen Philosophie ja auch explizit ›Theorien‹ heißen, für die wissenschaftliche Methodik. Dass Whitehead einem Konzept, das er mit dem Terminus ›Theorie‹ bezeichnet, keine Funktion in dem für ihn mit besonderem Interesse verbundenen Gebiet der Wissenschaftstheorie zuweisen wollte, mutet unwahrscheinlich an.
2.4.2 Die ontologische Struktur des Propositionskonzepts 2.4.2.1 Propositionen und propositionale Empfindungen Propositionen werden von Whitehead nicht als bloße Strukturen sprachlicher Äußerungen verstanden, sondern auf einer ontologischen Ebene als eigene Gruppe von Einzelwesen verortet: Entsprechend gibt es im Universum vier Haupttypen von Einzelwesen, von denen zwei primäre Typen und zwei Mischformen sind. Die primären Typen sind wirkliche Einzelwesen und reine Potentiale (zeitlose Gegenstände); die Mischformen sind Empfindungen und Propositionen (Theorien). (PR, 188 f./ 351)
Die ›Haupttypen der Einzelwesen‹ entsprechen ziemlich genau den Formen der Existenz, die Whitehead in seiner Kategorie der Existenz bezeichnet; Nexūs und Kontraste sind noch weiter abgeleitete Existenzformen, die sich aus einer weiteren Integration der hier genannten Haupttypen ergeben. Während wirkliche Einzelwesen die jeweils bestimmte, konkrete Realität des Universums darstellen und zeitlose Gegenstände reine Möglichkeiten für Verwirklichung sind, sollen Propositionen Anteile an beiden Primärtypen von Einzelwesen haben.
Begriff eigentlich entstammt, und kontrastiert Whiteheads Verwendung des Begriffs mit seinem mathematischen Anwendungsbereich (vgl. Emmet (1966), S. 160 ff.). Wolfe Mays diskutiert die Propositionen ausschließlich im Zusammenhang der Sinneswahrnehmung und überträgt so den Aufgabenbereich der Symbolisierungsdebatte in Kulturelle Symbolisierung in einer verkürzenden Anwendung auf den nicht primär auf den Bereich der Sinneswahrnehmungen festgelegten Propositionsbegriff (vgl. Mays (1959), S. 139 ff.). Wie leicht der Propositionsbegriff der organistischen Philosophie missverstanden werden kann, wird an den Interpretationen von Blyth (1980), S. 68–79, und Müller (2008), S. 70, deutlich, die Whiteheads Konzept falsch deuten. Müller identifiziert die Propositionen vorschnell mit dem subjektiven Ziel des wirklichen Einzelwesens, in diese Richtung tendiert auch Elmar Busch (vgl. Busch (1993), S. 65).
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Propositionen
Obgleich die organistische Philosophie Propositionen als eine Kategorie der Existenz versteht, ist ihre Rolle als ontologische Kategorie nicht unmittelbar selbstverständlich. Man könnte Propositionen auch, wie Reto Luzius Fetz ausführt, als »logische Strukturzusammenhänge« verstehen. 112 In gewisser Weise erinnert diese Frage an den Universalienstreit; haben Theorien und Aussagen eine ontologische Existenz außerhalb ihres Auftretens in propositionalen Empfindungen des menschlichen Geistes? Whitehead ist aus formalen Gründen gezwungen, Propositionen eine eigene Existenzkategorie zuzusprechen, wie er es auch mit zeitlosen Gegenständen getan hat: Alles, was ein Faktor des Erfahrungsaktes ist, muss der ›Kategorie der Existenz‹ zugerechnet werden können, denn wenn die Erfahrung der Stoff der Wirklichkeit ist, müssen deren qualitative Faktoren ebenfalls wirklich sein. Propositionen als die Daten propositionaler Empfindungen werden von Whitehead als hybride Einzelwesen definiert, weil sie nicht bloß für logische Strukturen stehen, sondern darüber hinaus als Daten von Empfindungen in der ontologischen Struktur der Theorie verortet sein müssen. Dieses Beziehungsfeld zwischen der reinen Wirklichkeit und der reinen Potentialität bildet die Propositionen, die entsprechend eine ›unreine‹ (impure) Art von Einzelwesen sind (vgl. PR, 188/351). Obwohl sie auch in anderen Werken mitunter implizit vorausgesetzt werden, behandelt Whitehead die Propositionen nur in Prozeß und Realität systematisch. Ihre Konstruktion ist kompliziert und baut auf den primären Empfindungen auf. Vielleicht könnten die Propositionen am besten als Kompromiss zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bezeichnet werden, in einer »Mittelstellung« 113 zwischen beiden. Sie bilden eine neue Klasse von Einzelwesen, um das ontologische Prinzip zu wahren, wonach alles, was Ursache für das Werden von wirklichen Einzelwesen ist, selbst zur Kategorie der existierenden Einzelwesen gehören muss. Propositionen sind Seinsmöglichkeiten, die ihre überzeitliche, unparteiisch-neutrale Verbindungslosigkeit zur Realität verloren haben. Sie beziehen sich stets auf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit, also auf eine gewisse Menge wirklicher Einzelwesen der Vorwelt, die den Gegenstandsbereich der Proposition bilden. Dergestalt sind Propositionen ein hybrides Mittelding zwischen reiner Möglichkeit und reiner Wirklichkeit: In ihnen wird die reine, unbeschränkte 112 113
Vgl. Fetz (1981), S. 176 f. Vgl. Fetz (1981), S. 176.
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Potentialität von zeitlosen Gegenständen limitiert auf die wirkliche Möglichkeit, Formbestimmtheit einer historischen Gruppe wirklicher Einzelwesen zu sein, und die wirklichen Einzelwesen werden limitiert auf ihre mögliche Wirklichkeit, in der diese spezifischen zeitlosen Gegenstände verkörpert sind. Der zeitlose Gegenstand wird nicht mehr als allgemeine Möglichkeit verstanden, der sich auf ein generelles ›irgend‹ (any) beziehen kann, sondern als ›prädikatives Muster‹ (predicative pattern), das von einem bestimmten Satz ›logischer Subjekte‹ (logical subjects) prädiziert wird. 114 Diese logischen Subjekte sind die wirklichen Einzelwesen, deren Funktion darauf beschränkt ist, unter Ignorierung jeglicher individueller Qualitäten lediglich als Projektionsfläche für das prädikative Muster zu dienen. Der Terminus ›logisch‹ deutet auf ihre Funktion hin, als Projektionsgegestand für ein Prädikat lediglich wahr oder falsch zu sein. Das Subjekt empfindet die Proposition so, dass sie wahr sein könnte, aber nicht notwendigerweise wahr sein muss. Die unmittelbare Evidenz – Ralph Pred spricht von der ›Immanenz‹ 115 – des Wirklichen, die in jedem physischen Empfinden ganz selbstverständlich empfunden wird, löst sich in einem propositionalen Empfinden zugunsten des Gefühls einer bloß möglicherweise wahren Formzuschreibung auf. Die organistische Philosophie ist eine Erfahrungsontologie, ein Einzelwesen existiert genau dann, wenn es ein Faktor in einem Erfahrungsakt ist. So muss auch eine Proposition als unreines Einzelwesen an Empfindungen beteiligt sein. Die Empfindungen, deren Datum eine Proposition ist, bezeichnet Whitehead als ›propositionale Empfindungen‹ (propositional feelings). In ihnen wird ein wirkliches Einzelwesen der Vorwelt – oder, gewöhnlich, ein Nexus wirklicher Einzelwesen der Vorwelt – erfasst und mit der Formbestimmtheit der Proposition qualifiziert. Die Enzelwesen dieses Nexus bilden die logischen Subjekte des 114 Sowohl der Prädikatsbegriff als auch der Begriff des logischen Subjekts stammen aus dem klassischen terminologischen Umfeld des Propositionskonzepts und verweisen auf die logische Dimension, in der das Konzept in der analytischen Philosophie üblicherweise behandelt wird. Der Akt, innerhalb einer Aussage einem logischen Subjekt ein logisches Prädikat zuzusprechen, wird von Whitehead nicht nur inhaltlich, sondern auch begrifflich übernommen. Interessanterweise werden die Einzelwesen, die im Propositionskonzept als ›logische Subjekte‹ bezeichnet werden, vom sie empfindenden Subjekt gerade als Objekte wahrgenommen – Whitehead versäumt es, den Begriff der logischen Subjekte zu definieren, und so bleibt diese terminologische Spannung in der organistischen Philosophie ungeklärt. 115 Vgl. Pred (2005), S. 203.
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Propositionen
propositionalen Empfindens. Das prädikative Muster des propositionalen Empfindens wird aus einer weiteren Empfindung von Einzelwesen der Vorwelt gebildet und ist deren Formelement. Die Nexūs beider Empfindungen können identisch sein, aber auch verschieden. In dem propositionalen Empfinden wird nun die aus dem prädikativen Muster entstammende Formbestimmtheit auf die logischen Subjekte projiziert – ein Objekt, das, von allen individuellen Eigenschaften entkleidet, zu einer selbst leeren Projektionsfläche für eine Aussage gemacht wird, wird durch ein Prädikat qualifiziert. Wahrheit oder Falschheit von Propositionen hängen von dem Umstand ab, ob der zeitlose Gegenstand, der das Prädikat bildet, die Eigenschaften der logischen Subjekte korrekt beschreibt oder ob er ihnen falsche Qualitäten zuspricht. Deshalb ist eine Proposition, anders als ein überzeitlich auf kein wirkliches Einzelwesen bezogener zeitloser Gegenstand, ›historisch‹, da sie sich immer auf eine bestimmte Gruppe wirklicher Einzelwesen bezieht. Die Propositionen werden in der organistischen Philosophie als Übergangsstruktur zwischen allgemeinen, einfachen Empfindungen und bewussten intellektuellen Empfindungen verwendet. Propositionale Empfindungen, deren Datum eine Proposition ist, entstehen in einer zweiten Phase der Konkreszenz und bauen auf den primären physischen Empfindungen auf, aus denen die logischen Subjekte des propositionalen Empfindens stammen. Auch die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung werden im Propositionskonzept vorausgesetzt, was propositionale Empfindungen, ob in der Form einfacher Erscheinungen oder hochstufiger wissenschaftlicher Theorien, zu komplexen, auf frühere Phasen des Empfindungsprozesses aufbauenden Empfindungen macht. Dennoch besteht Whitehead auf der Feststellung, mit dem emotionalen Muster propositionaler Empfindungen sei noch kein Bewusstsein verbunden; ihre Aufgabe ist nicht, ein Urteil darüber zu treffen, ob die von ihnen artikulierte Erscheinung kohärent mit der Wirklichkeit sei, sondern einzig, die Möglichkeit auszusagen, dass die Realität so beschaffen sein könnte. Damit eröffnen sie dem Erfahrungsakt des Subjekts den Raum der Erscheinungen, der Fragen und hypothetischen Theorien, die zu einer intensiven Kontrasterfahrung zwischen reiner Wirklichkeit und Möglichkeit reizen. Falsche Propositionen sind Irrtümer des die propositionale Empfindung anstellenden Subjekts. In der organistischen Philosophie werden Irrtümer nicht als in erster Linie bedrohlich gesehen, sondern als 191 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
die größte Chance für Neuerungen im universalen Werdensprozess. Symbolisierungsakte werden von Whitehead, vor allem in Kulturelle Symbolisierung, explizit als Irrtümer ermöglichende Empfindungen genannt. Die Definition von Symbolisierungen als Bezug eines Erfahrungsbereichs auf einen anderen ähnelt der Struktur propositionaler Empfindungen – wird ein Prädikat auf eine Gruppe logischer Subjekte bezogen, erfüllt dies eine ähnliche Verweisfunktion. In beiden Fällen obliegt es der freien Entscheidung des Subjekts, eine Verbindung zwischen den Daten zweier Empfindungen herzustellen, die zu einem die Möglichkeit des Irrtums einschließenden Kontrast im propositionalen bzw. symbolischen Empfinden führt. In beiden Fällen ist die kosmologische Aufgabe der Empfindungen, einen möglichst großen Anreiz zu einer intensiveren Erfüllung zu bieten. Es scheint sinnvoll, im Konstrukt der Propositionen eine an die Aufgabe und den Maßstab der strukturellen Darstellung der organistischen Philosophie in Prozeß und Realität angepasste Formulierung des Symbolisierungskonzeptes zu sehen. 116 Das Aussagen eines Prädikates von einer Menge logischer Subjekte ähnelt frappierend dem Symbolisierungskonzept Whiteheads, der Projektion eines Erfahrungsaktes auf einen anderen Erfahrungsakt. Seiner Struktur nach kann ein propositionales Empfinden als ein Symbolisierungsakt verstanden werden. Analog zur Reichweite des Symbolisierungsbegriffes in Kulturelle Symbolisierung, der sich von der grundlegenden Sinneswahrnehmungen über die Sprache 117 bis hin zu künstlerischen und kulturellen Symbolkodizes spannt, wird auch die Reichweite des Propositionsbegriffs verstanden werden müssen, wenngleich beide Konzepte von Whitehead in unterschiedlichen
116 Stephen T. Franklin kommt zu einer Interpretation der organistischen Philosophie, die dem Symbolisierungskonzept eine strukturell den Propositionen vergleichbare Position zumisst, doch leider unterlässt er in der Folge den offensichtlichen Vergleich zwischen beiden Konzepten: Vgl. Franklin (1990), S. 219 ff. Ralph Pred versteht den Symbolisierungsakt der Sinneswahrnehmung wie selbstverständlich als eine spezifische Form der Propositionen: Vgl. Pred (2005), S. 209. 117 Sydney Hooper weist explizit auf das Zusammenspiel des Propositions- und des Symbolkonzepts in Whiteheads Sprachtheorie hin: »[I]t is interesting to note that the verbal statement of the proposition includes words and phrases which symbolise the sort of physical feelings necessary to indicate the logical subjects of the proposition« (Hooper (1945), S. 64 f.). Die Topik verdiente eine intensivere Beschäftigung, die aber auch Franklin (1990) in seinem ausführlichen Kapitel über Sprache in der organistischen Philosophie nicht umfassend genug leistet.
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Propositionen
philosophischen Kontexten verwendet werden und deshalb nicht vereinfachend miteinander gleichgesetzt werden sollten. 2.4.2.2 Binnendifferenzierung der Propositionsstruktur Whitehead stellt innerhalb der propositionalen Empfindungen noch eine Binnendifferenzierung an. Während das Konzept der Propositionen einheitlich beschreibbar ist und für alle Propositionen gilt, kann die Weise, in der ein und die gleiche Proposition in die emotionalen Muster verschiedener propositionaler Empfindungen eingehen kann, verschieden sein und abhängig von dem besonderen Hintergrund jedes Subjekts: »Aber in verschiedenen erfassenden Subjekten differieren die verschiedenen propositionalen Empfindungen von derselben Proposition je nach ihren Geschichten in diesen Subjekten erheblich voneinander.« (PR, 261/477) Was Propositionen sind, ist deutlich einfacher zu beschreiben als die spezifische Weise, in der sie vom einzelnen Subjekt empfunden werden. Whitehead weist dem Propositionskonzept eine Mittelstellung zwischen den einfachen, bloß abstrakt auf metaphysischer Ebene beschreibbaren physischen Empfindungen und den intellektuellen, die menschliche Erfahrung modellierenden Empfindungen zu. In dieser Vermittlerposition ist die vorrangige Aufgabe der Propositionen nicht, uns aus dem Alltag vertraute Erfahrungsphänomene bereits abschließend erklären zu können, sondern eher, auf der einen Seite die verschiedenen möglichen Empfindungsformen des Konkreszenzprozesses in ihrer Vielfalt aufzunehmen und auf der anderen Seite möglichst viele Optionen für spätere, bewusste intellektuelle Empfindungen offen zu halten. Um eine breite Basis für eine Beschreibung unterschiedlicher Erfahrungsphänomene in Folgephasen des Konkreszenzprozesses zu erhalten, fächert Whitehead die propositionalen Empfindungen nochmals auf, um die verschiedenen Empfindungsformen des Konkreszenzprozesses in all ihren möglichen Kombinationen darstellen zu können. Denn die Struktur – und damit das emotionale Muster – der wirklichen Einzelwesen können sich voneinander maßgeblich unterscheiden, vor allem bedingt durch die Weise, in der sie die obligatorischen primären physischen Empfindungen in Folgephasen des Konkreszenzprozesses durch fortschreitende Kontrastbildung und Abstraktion ausbauen. Besondere Bedeutung für diese individuelle Erfahrungskomplexierung, die den propositionalen Empfindungen vorausgeht, haben die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der 193 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Umwandlung. Die verschiedenen Formen der propositionalen Empfindung, die angeben, auf welche Weisen eine Proposition gefühlt werden kann, korrespondieren noch nicht mit menschlichen Erfahrungsphänomenen, sondern sind komplizierte, abstrakte Erfahrungsstrukturen, die sich aus den Kombinationsmöglichkeiten der anfänglichen Empfindungen und der Übertragung der Empfindungen ergeben. Dieser seltsame Status hat, in Verbindung mit dem Verzicht Whiteheads, die verschiedenen Formen des propositionalen Empfindens mit spezifischen Aufgaben oder Anwendungsbereichen unserer konkreten Erfahrung in Verbindung zu bringen, sicherlich zu der äußerst dürftigen Rezeption in der Forschungsliteratur beigetragen. 118 Betrachtet man die Ausdifferenzierung der propositionalen Empfindungen, so fällt zunächst auf, dass Whitehead seine Schematisierung nicht auf Anknüpfungspunkte zu den höheren Phasen der Erfahrung hin ausrichtet, sondern anhand der Kategorien aus der Phase der Übertragung von Empfindungen alle Kombinationsmöglichkeiten nahezu mathematisch durchdekliniert. Neben einer inhaltlichen Differenzierung, die in den späteren intellektuellen Empfindungen zu der Aufspaltung der bewussten Mentaloperationen in Wahrnehmung und Denken führen wird, ist in der Ausbuchstabierung aller Formen propositionaler Empfindungen auch ein formaler Aspekt gegenwärtig. Die wichtigste Binnendifferenzierung der propositionalen Empfindungen entsteht durch die Aufteilung in ›wahrnehmende Empfindungen‹ (perceptive feelings) und ›vorstellende Empfindungen‹ (imaginative feelings). 119 Der Unterschied zwischen beiden Modi besteht in der Weise, in der das propositionale Empfinden zu den logischen Subjekten und seinem Prädikat kommt. Die logischen Subjekte entstehen durch einen Akt des ›bezeichnenden Empfindens‹ (indicative feeling) aus einer gewissen Menge an wirklichen Einzelwesen, die in der primä118 Einer der wenigen Autoren, die eine systematische Darstellung der verschiedenen Formen des propositionalen Empfindens geben, ist Sydney Hooper, und auch seine Untersuchung ist mehr eine Zusammenfassung der entsprechenden Textstellen aus Prozeß und Realität als eine eigenständige Interpretation: Vgl. Hooper (1945), S. 66 ff. Stephen Franklin gibt eine kurze Beschreibung der verschiedenen Modi propositionaler Empfindungen und führt zur Illustration Diagramme für fünf unterschiedliche propositionale Empfindungen an: Vgl. Franklin (1990), S. 12–19, 401–403. 119 Die folgende Darstellung referiert auf zwei Abschnitte im Propositionskapitel des dritten Teils von Prozeß und Realität, auf die Whiteheads Ausdifferenzierung der propositionalen Empfindungen konzentriert ist: Vgl. PR, 261 ff./477 ff.
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ren Konkreszenzphase in physischen Empfindungen erfasst wurden. Das Prädikat entsteht aus einem ›physischen Wiedererkennen‹ (physical recognition), das seine komplexe Form aus den Formbestimmtheiten einer gewissen Menge ebenfalls in der primären Konkreszenzphase erfasster wirklicher Einzelwesen der Vorwelt gewinnt. Rein logisch bestehen zwei Möglichkeiten: Die beiden Mengen können identisch sein, dann entspricht die Form des Prädikats der tatsächlichen Form der logischen Subjekte, und die Proposition ist wahr. In diesem Fall ist das propositionale Empfinden eine wahrnehmende Empfindung. Oder beide Mengen können sich unterscheiden, dann ist die Proposition falsch und das propositionale Empfinden eine vorstellende Empfindung. In vorstellenden Empfindungen können die Schnittmengen des bezeichnenden Empfindens und des physischen Wiedererkennens vollkommen verschieden sein oder große Gemeinsamkeiten aufweisen und die sich nur unwesentlich unterscheiden; die Nicht-Identität beider Mengen erlaubt innerhalb der Gruppe der vorstellenden Empfindungen enorme graduelle Unterschiede zwischen den subjektiven Mustern einzelner Empfindungen. An dieser Stelle führt die organistische Philosophie den auf einer metaphysischen Erklärung beruhenden Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen ein, wenngleich der begriffliche Unterschied innerhalb der Behandlung des Propositionsbegriffs noch ein programmatisches Versprechen ist, das in späteren Folgephasen ausführlicher behandelt werden muss. Allerdings bleibt Whiteheads Anlage des Wahrnehmungsbegriffs leider ambivalent. Ein Hauptinhaltspunkt von Kulturelle Symbolisierung ist die Erklärung der Sinneswahrnehmung als Symbolisierungsakt zwischen zwei distinkten Wahrnehmungsmodi, der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit. In Prozeß und Realität wird der Wahrnehmungsbegriff zwar als Modus der propositionalen Empfindungen eingeführt, aber ein Verweis auf einen Symbolisierungsakt im Sinne von Kulturelle Symbolisierung oder zumindest die Erwähnung des Unterschieds zwischen basalen Wahrnehmungen und der Sinneswahrnehmung sucht man vergeblich. Im gesamten dritten Teil von Prozeß und Realität, in dem die höheren Geistesaktivitäten schwerpunktartig behandelt werden, findet sich keine Einlassung zu diesem Thema. Im vierten Teil, der sich der Theorie der Ausdehnung widmet, wird die präsentative Unmittelbarkeit jedoch ausführlich thematisiert, und zwar im Zusammenhang mit der Wahrnehmung der äußeren Welt als vom Körper des 195 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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Subjekts, seinem ›hier‹, unterschieden (vgl. PR, 311 ff./560 ff.). Das solcherart vorgestellte, völlig mit der Darstellung in Kulturelle Symbolisierung kompatible Konzept der Sinneswahrnehmung und der Zusammenhang der verschiedenen Wahrnehmungsarten bleibt allerdings im Propositionskapitel, in dem die Trennung zwischen wahrnehmenden und vorstellenden Empfindungen eingeführt wird, vollkommen unberücksichtigt. Die weitere Unterteilung der wahrnehmenden Empfindungen in authentische und unauthentische Empfindungen und anschließend der authentischen Empfindungen in direkte authentische und indirekte authentische Empfindungen mag auf den ersten Blick wie bloße Kategorisierungswut anmuten, ist aber tatsächlich die Folge des Vorsatzes, alle strukturellen Kombinationsmöglichkeiten des propositionalen Empfindens auszubuchstabieren. Das wahrnehmende Empfinden weiter zu unterteilen ist notwendig, um die Auswirkung der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung auf den Wahrheitsgehalt des wahrnehmenden Empfindens darstellen zu können. 120 Die umständliche Differenzierung in authentisch/unauthentisch und direkt/indirekt dient lediglich dazu, die unterschiedlichen Weisen aufzuzeigen, in denen begriffliche Umkehrungen im Zusammenspiel mit der Kategorie der Umwandlung den Wahrheitsgrad einer propositionalen Empfindung beeinflussen können. Das physische Wiedererkennen, aus dem das Prädikat des propositionalen Empfindens hervorgeht, baut auf frühere physische Empfindungen auf. In der Phase der Übertragung von Empfindungen kann das Erfassen des Nexus, der die Grundlage der physischen Wiedererkennung bildet, durch begriffliche Umkehrung und Umwandlung ›gebrochen‹ (refracted) 121 werden. In diesem Fall ist das 120 Die deutsche Übersetzung von perception mit ›Wahrnehmung‹ erweist sich an dieser Stelle als im englischen Originaltext nicht vorhandener Glücksfall. ›Wahrnehmen‹ im Zusammenhang der Propositionserörterung impliziert tatsächlich den Akt des ›fürwahr-Nehmens‹. Die Abstufungen des Wahrnehmungsbegriffs in den verschiedenen Modi des wahrnehmenden Empfindens beschreiben zugleich die Abstufungen des Wahrheitsgehalts der propositionalen Empfindung. 121 Hans Günter Holl übersetzt den aus der Physik stammenden Begriff der refraction, der eigentlich die Brechung des Lichts durch ein Farbprisma bezeichnet, mit ›reflektieren‹. Hier kann nur ein Übersetzungsfehler vorliegen; Whitehead ist eindeutig der Meinung, begriffliche Empfindungen könnten durch begriffliche Umkehrungen quasi zu anderen Formbestimmtheiten ›gebrochen‹ oder ›abgelenkt‹ werden, er verfällt zur illustrativen Beschreibung der Empfindungsgeschichte einzelner Formbestimmtheiten auf diese Analogie zu der physikalischen Optik.
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Propositionen
propositionale Empfinden ›unauthentisch‹ ; liegt hingegen im Erfassen dieses Nexus durch die physische Wiedererkennung keine begriffliche Umkehrung vor, so ist das propositionale Empfinden ›authentisch‹. Aber selbst in diesem Fall kann es sein, dass die physische Wiedererkennung nicht ganz konform mit der ursprünglich empfundenen Vorwelt ist; wenn in dem Empfinden gemäß der Kategorie der Umwandlung, das die vielen primären physischen Empfindungen als Nexus erfasst hat, begriffliche Umwandlungen aufgetreten sind, wird auch ein darauf aufbauendes authentisches propositionales Empfinden in gewissem Maß ›gebrochen‹ sein. Das ist ein ›indirektes‹ authentisches physisches Empfinden. Nur, wenn sowohl in der Umwandlung der vielen physischen Empfindungen zu einem Nexus als auch in dem darauffolgenden Empfinden dieses Nexus durch die physische Wiedererkennung keine begrifflichen Umkehrungen vorkommen, entsteht ein ›direktes‹ authentisches propositionales Empfinden, das vollständig wahr ist und die reinste Verkörperung eines wahrnehmenden propositionalen Empfindens ist. Die naheliegende Frage ist, was Whitehead mit dieser ausführlichen Binnendifferenzierung der propositionalen Empfindungen eigentlich bezweckt. Offensichtlich ist ihm wichtig, propositionale Empfindungen nicht lediglich durch die bipolare Aufteilung in streng voneinander unterschiedene wahrnehmende und vorstellende Empfindungen zu beschreiben, sondern vielmehr den graduellen Übergang des einen Modus in den anderen zu betonen. Dabei wird der Vorstellungsbegriff nicht weiter thematisiert, von einer weitergehenden Ausdifferenzierung der Vorstellungen in authentische oder direkte Vorstellungen schweigt Prozeß und Realität, wenngleich es ebenso gut möglich wäre, die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von begrifflichen Umkehrungen und Umwandlungen in der Struktur eines vorstellenden propositionalen Empfindens weiter zu untersuchen. Was Whitehead mit seiner internen Unterscheidung der Struktur wahrnehmender propositionaler Empfindungen erreichen möchte, ist, den Wahrheitsbegriff genauer zu qualifizieren. Wie er an einigen Stellen seines philosophischen Werks anmerkt, steht er der kategorischen Unterscheidung zwischen bloßem Glauben oder Meinung einerseits und Wissen andererseits skeptisch gegenüber (vgl. PR, 267 f./486 f.); 122 die 122 Whitehead setzt sich mit John Lockes strikter Trennung zwischen Meinung und Wissen auseinander und erklärt sie für »bewundernswert«, betont aber zugleich die
197 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Besonderheit seines Wissenskonzepts ist, dass auch Wissen auf dem emotionalen Muster des Glaubens beruht, aber durch methodische Überprüfung um die Richtigkeit des Geglaubten weiß, im Gegensatz zum Glauben, der lediglich vermeintliches – oder hypothetisches – Wissen besitzt. Praktisch ist im Einzelfall schwer feststellbar, wo die Grenze zwischen beiden Kenntnisformen verläuft. Die Binnendifferenzierung des wahrnehmenden propositionalen Empfindens gestattet es Whitehead, feine Graustufen im Wahrheitsgehalt propositionaler Empfindungen strukturell zu begründen. Interessant an der Wahrheitsdebatte ist für ihn nicht die rein wahre oder falsche propositionale Empfindung – schwarz oder weiß – sondern der nahezu stufenlose Grauverlauf zwischen beiden. Die emotionalen Muster der propositionalen Empfindungen in den verschiedenen beschriebenen Unterkategorien können sich, abhängig von den jeweiligen Umständen des individuellen Empfindens, sehr ähneln oder gar in einander übergehen. Direkte authentische wahrnehmende Empfindungen sind ohne Einschränkungen wahr, vorstellende Empfindungen, deren Prädikat sich vollständig von ihren logischen Subjekten unterscheidet, sind ohne Einschränkung falsch. Aber mit zunehmender Freiheit in den Empfindungen, die zum propositionalen Empfinden hinführen, entstehen größere Abstraktionen und begriffliche Alternativen, und bei den unauthentischen wahrnehmenden Empfindungen spricht Whitehead bereits von einer »›gefesselten‹ Vorstellung« (PR, 263/479), 123 die sich von der freien Vorstellung kaum noch unterscheidet. 2.4.2.3 Die emotionalen Muster propositionaler Empfindungen Allein aus der Beschreibung ihres Aufgabenbereichs werden die Propositionen nicht ausreichend greifbar. Wenngleich Whitehead, im Gegensatz zu seiner Vorgehensweise in der Diskussion des Symbol- oder des Vernunftkonzepts, mit dem Propositionsbegriff kein eindeutiges Erfahrungsphänomen aus der menschlichen Erfahrungswelt assoziiert, enge Verbindung zwischen Glaube und Wissen, die sich je nach dem Modus des propositionalen und später des intellektuellen Empfindens ausformt. 123 Der Ausdruck der ›tied‹ imagination betont die Bindung des Prädikats eines authentischen wahrnehmenden Empfindens an die gleiche physische Basis wie seine logischen Subjekte, womit die Reichweite der freien Vorstellung noch begrenzt ist. Darin äußert sich aber keine kategorische Unterscheidung zwischen den emotionalen Mustern beider Empfindungsformen, sondern eine pragmatische.
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Propositionen
drängt sich die Frage auf, wie der qualitative Aspekt propositionaler Empfindungen konzipiert ist: Welche Form hat das emotionale Muster eines propositionalen Empfindens, was fühlt ein Subjekt, das propositionale Empfindungen tätigt? Das Propositionskapitel im dritten Teil von Prozeß und Realität ist nicht als Erklärung einer lebensweltlichen Phänomenbeobachtung angelegt, sondern als ausdifferenzierende Darlegung eines Strukturelements des metaphysischen Konstrukts, dessen Auftrag man sowohl inhaltlich als auch kompositorisch definieren könnte. Innerhalb des Darstellungszusammenhangs der organistischen Philosophie ist den Propositionen die Aufgabe zugedacht, als Datum eines propositionalen Empfindens dem kosmologischen Auftrag emotional möglichst intensiver Selbstverwirklichung besonders umfassend nachzukommen. Zugleich dient das Propositionskonstrukt Whitehead in der Komposition seiner Kosmologie als Verbindungselement zwischen den allgemeinen ontologischen Eigenschaften des Erfahrungsaktes und dem Spezialfall der bewussten Erfahrung. Elizabeth Kraus bringt diesen Aspekt auf den Punkt, wenn sie Propositionen als »Prolegomenon to a Theory of Judgment« bezeichnet. 124 Der merkwürdige Zwischenstatus der Propositionen wird deutlich erkennbar, wenn man nicht nur nach ihren Kapazitäten fragt, sondern auch danach, was sie noch nicht vermögen. Als Prolegomena bewusster Urteile sind sie selbst unbewusst, sind sie lediglich der notwendige Zwischenschritt zwischen der Erfahrung der unmittelbaren Faktizität einfacher physischer Empfindungen und dem Bewusstsein selbstreflexiver intellektueller Empfindungen, denn »zwischen Anfang und Ende der Integration ins Bewußtsein liegt die Entstehung eines ›propositionalen Empfindens‹.« (PR, 256/467) Die Stellung der Propositionen zwischen einfachen physischen und bewussten Empfindungen ist auch in ihrer Aufgabe, ›Anreiz für Empfinden‹ zu sein, angelegt, die unabhängig von einer eventuell in bewusste Erfahrung mündenden Integration konzipiert ist. In der Funktion des Empfindungsanreizes wird eine zweite Seite des englischen Propositionsbegriffs betont, denn proposition kann auch ›Absicht‹, ›Vorhaben‹ oder ›Vorschlag‹ bedeuten. Als in den Gesamtzusammenhang des Erfahrungsprozesses eingebet124 Vgl. Kraus (1979), S. 87. In einer anderen Hinsicht ist Kraus’ Formulierung irreführend, denn sie klingt, als spräche sie den Propositionen einen von ihrer Beurteilung in bewussten Empfindungen unabhängigen Eigenwert ab.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
teter Empfindungsakt ist dem propositionalen Empfinden die Anreizfunktion sogar wichtiger als der aussagenlogische Aspekt; propositionale Empfindungen können richtig oder falsch sein, für den Konkreszenzprozess ist zentral, dass sie emotional interessant sind. Zwar sind Empfindungen, die Bewusstsein beinhalten, ›Urteile‹ (judgments) über den Wahrheitsgrad von Propositionen, doch ist die Funktion der Propositionen nicht teleologisch auf ihre Beurteilung in einem späteren bewussten Empfinden ausgerichtet; propositionale Empfindungen werden nicht als bloße Vorstufe zu bewussten Urteilen verständlich, sondern haben einen Eigenwert. Nicht das Urteil darüber, ob die Proposition konform zur Wirklichkeit ist oder nicht, ist entscheidend, sondern die Steigerung der Erfahrungsintensität. Ihrer Natur nach ›negieren‹ (negate) Propositionen sogar Urteile, sie sind ergebnisoffen. Alles, was für propositionale Empfindungen zählt, ist die unkontrollierte Möglichkeit, dass die Welt so sein könnte, wie das Propositionsprädikat behauptet. Den Propositionen wird man also am ehesten gerecht, wenn man ihren Eigenwert für den Konkretisierungsprozess ins Auge fasst, der in einem bewussten Urteil kulminieren kann, aber nicht muss. Dieser Eigenwert der Propositionen für die Gesamttheorie liegt in ihrer Eigenschaft, ein intensiver Anreiz für das Empfinden zu sein; das Besondere propositionaler Empfindungen kommt in ihrem emotionalen Muster, ihrer subjektiven Form zum Ausdruck. In der organistischen Philosophie beinhalten Aktivitäten des mentalen Pols zugleich stets eine begriffliche und emotionale Komponente – Erkenntnis ist subjektive Wertung, und Whiteheads xiii. Kategorie der Erklärung konstatiert, »[d]aß es viele Arten von subjektiven Formen gibt, wie zum Beispiel Gefühle, Wertungen, Zwecksetzungen, Zuneigung, Abneigung, Bewußtsein usw.« (PR, 24/67). Daß auch die Urteile in den höheren intellektuellen Empfindungen nicht nur für eine logische Entscheidung über ›wahr‹ oder ›falsch‹ einer Proposition, über ihre Konformität oder Nicht-Konformität mit der Wirklichkeit, stehen, wird deutlich, wenn man sich die Sekundärbedeutung des Begriffs der ›Beurteilung‹ vor Augen führt. Auch hier ist eine emotionale Wertungsaktivität inbegriffen, die über den bloß logischen Aspekt des Urteils hinausgeht. 125 125 Diese Sekundärbedeutung ist nicht auf die deutsche Übersetzung beschränkt, auch im englischen Original ist der Vokabel judgment / to judge der Beiklang einer emotionalen Bewertung eigen.
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Propositionen
Das der organistischen Philosophie auf der metaphysischen Ebene zugrundeliegende Prinzip der Subjektivität durch Wert-Zusprechung (valuation) erstreckt sich auf alle Empfindungsarten und sorgt für eine Kontinuität, die von den einfachen physischen bis zu den intellektuellen Empfindungen reicht. Genau diesen Punkt meint Ralph Pred, wenn er das Konzept der Propositionen in einen kontinuierlichen Empfindungszusammenhang stellt: »In fact, the progression is from physical feeling, to conceptual valuation, to qualified nexus, and proposition, and thence to intellectual feelings, without ever leaving the monistic realm of feelings.« 126 In Abenteuer der Ideen wird der Eigenwert von Propositionen über die aus propositionalen Empfindungen resultierenden Eigenschaften des emotionalen Musters eines wirklichen Einzelwesens definiert. Als Veranschauungsbeispiel wählt Whitehead hier die Sprache, womit der Theorie-Aspekt des Propositionsbegriffs hervorgehoben wird: Kein Satz der Wortsprache ist bloß und nicht mehr als der Ausdruck einer Proposition. Auf irgendeine Weise erhält er immer auch gleichzeitig den Anstoß für das Hervorbringen einer bestimmten psychologischen Einstellung, mit der die in ihm enthaltene Proposition aufgefaßt wird. Mit anderen Worten: Jeder Satz versucht die subjektive Form festzulegen, die das Fühlen der betreffenden Proposition als Gegebenheit umgibt. Dieser Anstoß kann uns dazu bringen, das Gesagte zu glauben, zu bezweifeln, zu genießen, oder auch ihm zu gehorchen. […] Das unbewußte Auffassen von Propositionen bildet eines der Stadien im Übergang von der ›Wirklichkeit‹ der Anfangsphase des Erlebens zur ›Erscheinung‹ der Abschlußphase. Bei den niedrigsten Typen von realen Vorgängen, in deren Selbstgestaltungsprozessen es kaum zu einem Auffassen von Propositionen kommt, gibt es praktisch keine den Übergang von der Anfangs- zu der Schlußphase differenzierende ›Erscheinung‹. Daß eine Proposition interessant ist, ist wichtiger als daß sie wahr ist. Diese Feststellung ist beinahe schon eine Tautologie. Denn das Ausmaß, in dem eine Proposition in einem bestimmten Erlebnisvorgang zur Wirkung kommt, wird ja gerade durch das Ausmaß, in dem sie interessant und bedeutsam ist, bestimmt. (AI, 243 f./427 f.) 127
Pred (2005), S. 210 f. Im letzten Satz übersetzt Bubser unsauber »energy […] of a Proposition« des englischen Originaltexts mit »Ausmaß, in dem eine Proposition […] zur Wirkung kommt«. Der Originaltext verweist deutlicher auf die innere Erlebnisdynamik, die durch Propositionen befördert wird. Da Whitehead Energie mit dem kreativen Impuls gleichsetzt, ist eine energiereiche Empfindung grundsätzlich eine ihren kosmologischen Auftrag 126 127
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Das wie des Empfindens einer Proposition, die subjektive Form eines propositionalen Empfindens, ist für Whitehead viel bedeutsamer als der formale Inhalt der Aussage. Wahre Propositionen haben gegenüber falschen keinen höheren Stellenwert, sondern in einem pragmatischen Sinn lediglich den Vorteil, das empfindende Subjekt eher zu Handlungen zu bewegen. Im wie des propositionalen Empfindens soll sich vor allem eine ihrer Beschreibung nach anthropomorphe psychische Einstellung manifestieren, die dem emotionalen Muster des Subjekts die Möglichkeit verleiht, »zu glauben, zu bezweifeln, zu genießen, oder auch […] zu gehorchen«. Diese Sammlung möglicher emotionaler Zustände ist keine willkürliche Aufzählung, sondern benennt eine programmatische Kerngruppe subjektiver Formen, mit denen das propositionale Empfinden sein eigenes emotionales Muster ausstatten kann. Die Topografie der Emotionalität propositionaler Empfindungen wird aus diesen subjektiven Formen gestaltet. Wenngleich Whitehead den Emotionsbegriff in seiner Kosmologie nie systematisch einführt, 128 sind die propositionalen Empfindungen die erste Empfindungsstruktur, in der die subjektive Form in verschiedene emotionale Muster ausdifferenziert wird. Das ›Genießen‹ (enjoyment) einer Proposition betont den ästhetischen Reiz propositionaler Empfindungen. Wollen wir das Propositionskonzept im Kern als Reformulierung des Symbolisierungsgedankens oder zumindest als enge Anlehnung verstehen, so wäre das beste Beispiel der in Kulturelle Symbolisierung erwähnte ästhetische Kunstgenuss (vgl. S, 83 ff./142 ff.). Ein Beleg für die inhaltliche Nähe von Symbolisierungs- und Propositionskonzept findet sich auch in dem Beispiel, das Whitehead in Prozeß und Realität gibt, um die gut erfüllende Erfahrungsoperation. Die Formulierung des ›Anreizes für das Empfinden‹ in Prozeß und Realität beschreibt die gleiche Eigenschaft der Propositionen. 128 Bei einer Theorie, die den Erfahrungsbegriff so zentral verwendet wie die organistische Philosophie, ist der Mangel an terminologischer Finesse bezüglich des Emotionsbegriffs durchaus verwunderlich, wenngleich Whiteheads Schriften generell ein präzises Definitionsinteresse vermissen lassen. Nicht nur führt Whitehead die Emotionalität im Nebensatz als selbstverständliche Eigenschaft des Werdenssubjekts ein, er lässt auch kein Interesse an einer trennscharfen Begriffsdefinition erkennen. So findet sich, trotz der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts reüssierenden Psychologie, in der organistischen Philosophie kein Hinweis auf eine Trennung zwischen Emotion und Affekt oder Stimmung – der psychologisch bedeutsame Gefühlsbegriff (feeling) ist bei Whitehead ja bereits terminologisch besetzt. Für eine Orientierung zum Emotionsbegriff und einen Überblick über Emotionstheorien und verschiedene Kategorisierungskonzepte vgl. auch Mees (2006).
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Propositionen
Wirkungsweise von Propositionen zu erklären: Er führt Hamlets berühmten ›Sein oder nicht Sein …‹-Monolog an, ein Paradebeispiel für »ästhetisches Wohlgefallen« (PR, 185/344). Die emotionalen Muster des Glaubens und des Bezweifelns sind schwieriger zu fassen. Sie beschreiben, mit welchem subjektiven Muster eine Proposition im Erfahrungsgesamtzusammenhang empfunden wird. Solch eine Überprüfung der Propositionen findet erst in späteren Empfindungen statt, den bewussten Urteilen, aber das Datum, an das geglaubt oder an dem gezweifelt wird, ist die Proposition der zugrunde liegenden propositionalen Empfindung. In Die Funktion der Vernunft stellt Whitehead Vernunftkriterien auf, anhand derer über Glaubensinhalte vernünftig-methodisch geurteilt werden können soll (vgl. FR, 53/55) 129 – bewusste Beurteilungen setzen unmittelbar geglaubte oder bezweifelte Meinungen und Überzeugungen voraus. Dabei handelt ein Gefühl des Glaubens oder Zweifels nicht bloß »von der objektiven Wahrscheinlichkeit einer Proposition« (PR, 267/486), sondern der ›Glaube‹ (belief) ist die qualitative Form des emotionalen Musters: Ein Empfinden wird als ›Glaube‹ bezeichnet oder soll ein Element des ›Glaubens‹ enthalten, wenn sein Datum eine Proposition ist, und wenn in seiner subjektiven Form als das abgrenzende Element ihres emotionalen Musters ein gewisse Form oder ein zeitloser Gegenstand steckt, denen einige Intensität zukommt. Dieser zeitlose Gegenstand hat ›Glaubens-Charakter‹. Wenn dieser Charakter in das emotionale Muster einfließt, dann ist das Empfinden, je nach der erreichten Intensität, was immer es auch sonst noch sein mag, in gewissem Maße ein Glaube. […] Vergleichsweise Sicherheit des Glaubens ist eine psychologische Tatsache, die durch objektive Evidenz gerechtfertigt sein kann oder auch nicht. (PR, 267 f./486 f.) 130 Im englischen Text steht »belief«, Bubser übersetzt »Meinungen und Überzeugungen«. 130 Die Frage, ob mit dem Glaubensbegriff auch eine religiöse Bedeutungsebene konnotiert sein soll, lässt sich nicht eindeutig beantworten. In Prozeß und Realität wird der Glaubensbegriff völlig ohne Bezugnahme auf den Bereich der Religion behandelt, und man würde in einem christlich-religiösen Kontext im englischen Original statt belief auch eher den Begriff faith erwarten. Allerdings überschreibt Whitehead in seinem Buch Religion in the Making, in dem er sich mit dem Phänomen der Religion in verschiedenen Facetten auseinandersetzt, das vierte Kapitel mit dem neutraleren Begriff Belief, man kann also eine Implikation des Glaubensbegriffs auch auf der Ebene des religiösen Gefühls annehmen. In gewisser Weise scheint sein Verständnis der Religion mit einer ähnlichen Begriffsstruktur zu operieren wie sein Verständnis höherer Geistesaktivitäten allgemein. Zumindest fühlt man sich an die Struktur der Vernunfttätigkeit 129
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Die Ablehnung einer subjektiven Form, die ihr eigenes Prädikat gemäß einer »objektiven Wahrscheinlichkeit« betrachtet, erschließt sich in ihrer Bedeutungsvielfalt, wenn man sich die Struktur der Darstellung des Propositionsbegriffs im zweiten Teil von Prozeß und Realität vor Augen führt. Whitehead beschreibt hier das Konzept der Propositionen mit besonderem Augenmerk auf ihrer Rolle als ›Theorien‹ und verwendet sie mit der Absicht, wissenschaftliche Methodik erklären zu können. Seine der organistischen Philosophie zugrundeliegende Methode der phantasievollen Verallgemeinerung ähnelt, wie bereits gesehen, Charles Sanders Peirces Abduktionskonzept, in dem pragmatisch gefundene Hypothesen auf ihre Richtigkeit überprüft, gegebenenfalls als unzureichend verworfen und durch neue Hypothesen ersetzt werden. Whitehead versteht die Propositionen nun als ›Hypothesen‹ (hypothesis) (PR, 205 f./379 f.), die induktiven Argumenten zugrunde liegen. Die Frage, die ihn umtreibt, ist, wie sich, metaphysisch begründet, eine Hypothese beurteilen lässt. Im Gegensatz zu John Locke findet Whitehead es schwierig, trennscharf zwischen einer Meinung und einem Wissen zu unterscheiden (vgl. PR, 267 f./486 f.). Dementsprechend fordert er, die Unmöglichkeit objektiv absoluter Gewissheit vor Augen, als Maßstab zur Beurteilung einer Hypothese einen hohen Wahrscheinlichkeitsgrad ein: Wir stellen die metaphysische Frage: Aufgrund welchen Aspekts in der Natur der Dinge kann ein induktiver Schluß oder ein Urteil über allgemeine Wahrheit signifikant als ›richtig‹ oder ›unrichtig‹ bezeichnet werden? […] Nach den uns vorliegenden Beweisen sind unsere Überzeugungen gerechtfertigt, vorausgesetzt, daß wir in unsere Urteile eine Abschätzung der hohen Wahrscheinlichkeit einführen, die alles ist, was wir zu behaupten meinen. (PR, 199/369 f.) 131 und der Propositionen erinnert, auch stehen ›Gefühl‹ (emotion) und ›Glaube‹ (belief) hier in einer engen Beziehung zueinander: »Die Religion weist, sofern sie in der menschlichen Geschichte äußerlich zum Ausdruck kommt, vier Faktoren oder Aspekte auf. Diese Faktoren sind Ritual, Gefühl, Glaube und Rationalisierung.« (RM, 18/16) 131 Whitehead entlehnt seinen Wahrscheinlichkeitsbegriff ausdrücklich bei dem von ihm hoch gelobten John Maynard Keynes. Auch in Essays in Science and Philosophy bezieht sich Whitehead in seinem Aufsatz Uniformity and Contingency auf Keynes’ Arbeit (ESP, 111). Die Wertschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit; Keynes studierte in Cambridge, zwar in einem anderen College als Whitehead, doch direkte wissenschaftliche Kontakte bestanden. Später äußerte er sich immer wieder anerkennend über Whitehead. Keynes’ Wahrscheinlichkeitsbegriff – und damit auch Whiteheads Verwendung der Wahrscheinlichkeit – ist keine unreflektierte bloße Empirie, sondern eine logisch-
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Propositionen
Die hier angesprochene Problematik ist eine für Whiteheads Denken zentrale Fragestellung. In einer metaphysischen Konzeption, die auf subjektiven Erfahrungsprozessen beruht, kann es keinen Begründungsbezug empfindender Einzelwesen auf ein objektives, überzeitlich jenseits aller jeweiligen, subjektiv gefärbten Erfahrung stehendes Wahrheitskriterium geben. Ein Maß an Ungewissheit verbleibt. Auch gibt es kein autoritatives Kriterium, um zu entscheiden, welche aus der ungemein großen Menge möglicher Hypothesen für eine induktive Überprüfung ausgewählt wird – das ist genau Whiteheads Kritikpunkt am wissenschaftlichen Methodenkonzept der Induktion/Deduktion, der zu seiner Methode der spekulativen Verallgemeinerung maßgeblich beigetragen hat. Die Lösung der organistischen Philosophie ist, diese Entscheidung auf die Ebene der wertenden Subjektivität zu verlagern, auf die Ebene des Glaubens. ›Glaubt‹ das Subjekt durch eine entsprechende Beschaffenheit des emotionalen Musters einer propositionalen Empfindung an die prädizierte Proposition, so ist das eine emotional-qualitative Formulierung des »könnte so sein«, das in einer stochastischen Wahrscheinlichkeitsaussage quantitativ formalisiert wird. Für Whitehead ist ganz offensichtlich die einen Anspruch auf Objektivität stellende Wahrscheinlichkeitsaussage nicht der natürliche Fall eines »könnte so sein«, sondern eine nur in formalen, hochstufigen Theorien zur Anwendung kommende Abstraktion, die von dem genuinen Emotionsgehalt des propositionalen Empfindens absieht und lediglich die logisch-formale Bedeutung der Proposition berücksichtigt. 132 Das »könnte so sein« ist immer ganz fundamental ein »könnte so sein«-Gefühl, die stochastische Betrachtung ist eine derivative und auf die Emotion aufbauende »könnte so sein«-Formulierung. Glauben wir Propositionen, so ist damit nur in den seltensten Fällen zugleich eine objektiv-quantifizierende Wahrscheinlichkeitserwägung verbunden – halten wir Propositionen hingegen aufgrund stochastischer Be-
relationistische philosophische Theorie. Whitehead sieht im Wahrscheinlichkeitbegriff sogar ein »verwirrendes philosophisches Problem« (PR, 201/372). Auch für Keynes ist Urteilen eine unreduzierbare Ungewissheit eigen, die einen Wahrscheinlichkeitsbegriff notwendig macht. Zu diesem Thema vgl. Keynes (1979). 132 Selbst der etymologische Befund des im Griechischen wurzelnden Wortes ›Stochastik‹ verweist auf die Aktivität des Ratens oder Vermutens, was exakt der Bedeutung entspricht, die durch die emotionale Form des Glaubens abgedeckt sein soll; mithin untermauert auch die begriffsgeschichtliche Betrachtung Whiteheads Auffassung.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
rechnungen für wahrscheinlich, glauben wir zugleich auch stets auf emotionaler Ebene an ihre Richtigkeit. Im Rahmen wissenschaftlicher Theorien, die in der organistischen Philosophie ebenfalls unter dem Oberbegriff der Propositionen subsumiert werden, erfüllt die objektivierende Wahrscheinlichkeitsaussage ihren Hauptzweck. Die Methode des induktiven Schließens ist zwar nicht auf den Bereich der wissenschaftlichen Methoden beschränkt, findet dort aber ihre am deutlichsten definierte Anwendung und basiert für Whitehead auf einem Wahrscheinlichkeitsbegriff, der eine rein logisch-mathematische Funktion erfüllt (vgl. PR, 199 ff./ 369 ff.). Jede logische Verfahrensweise gründet sich für Whitehead auf einer Basis des gesunden Menschenverstands, das basale emotionale Konzept der Relevanz durch Wertung liegt für ihn unzweifelhaft jeder wissenschaftlichen Theoriebildung zugrunde: [D]ie Theorie diktiert die Methode; und jede bestimmte Methode ist nur auf Theorien einer ihr korrespondierenden Spezies anwendbar. […] Es ist immer die Theorie, die diktiert, welches Beweismaterial für sie relevant ist. Man kann eine Theorie nicht auf Beweismaterial stützen wollen, das von ihr selber schon als irrelevant verworfen worden ist. (AI, 220 f./391 ff.)
Die Frage, wie man objektive Aussagen über die Welt treffen kann, hat Whitehead beschäftigt. Gerade, weil seine eigene Antwort die Möglichkeit wirklich objektiven, endgültigen Wissens ausschließt, formuliert sich das Problem mit größerer Dringlichkeit: Auf welche komplexen und der jeweiligen Situation angepassten Weisen kann es gelingen, möglichst adäquates Wissen zu erlangen? Eine hochkomplexe Theorie – speziell eine wissenschaftliche Theorie – glaubt man nicht einfach, sondern man abstrahiert von dem unmittelbaren »könnte so sein«-Gefühl zugunsten einer auf logischer Methode beruhenden Wahrscheinlichkeitserwägung. Wir kleiden also nach Whitehead keinesfalls unsere qualitätsbezogenen Überlegungen in ein emotionales Gewand, sondern haben umgekehrt ein qualitatives, der eigenen subjektiven Perspektive entstammendes Gefühl, von dem zu einer rein quantitativen Wahrscheinlichkeitsaussage zu kommen das Ergebnis einer hochgradigen Abstraktion ist. Ohne solch eine Einschränkung wäre jedoch naturwissenschaftliches Vorgehen nicht vorstellbar; die Selbstbeschränkung etwa der Physik auf eine reine Beobachterperspektive, die alle Weltdinge als quantitativ messbare Objekte behandelt, eröffnet durch ihren Verzicht auf subjektive Perspektiven und Absichten erst die Möglich206 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Propositionen
keit, die Welt als Beziehungsgeflecht statistisch darstellbarer und berechenbarer Größen aufzufassen. Die subjektive Form des Bezweifelns muss offensichtlich als Widerpart zum emotionalen Muster des Glaubens verstanden werden. Whitehead selbst thematisiert den Zweifel nicht genauer, und so bleibt offen, ob Glaube und Zweifel als Gegenkräfte in einer Art Emotionsdynamik in der Rezeption von Propositionen verstanden werden sollen oder ob es sich um eine rein deskriptive Feststellung handelt, die der emotionalen Form des Glaubens eben auch eine Form des Nicht-Glaubens entgegensetzt. Sucht man in der Philosophiegeschichte eine Entsprechung zu Whiteheads Konstrukt der Proposition, um im Vergleich die Konturen des Propositionsbegriffs in der organistischen Philosophie klarer erkennen zu können, so bietet sich Platons Begriff der dóxa an, der häufig mit ›Meinung‹ oder ›Vorstellung‹ übersetzt wird. Wie die Propositionen, die zwischen zeitlosen Gegenständen und wirklichen Einzelwesen stehen und die generelle Allgemeinheit des einen sowie die partikulare Bestimmtheit des anderen zu einem derivativen Mittelding verbinden, so ist auch die dóxa als ›Mittleres‹ (metaxy) konzipiert, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Platon weist der dóxa eine ontologische Mittelstellung zwischen ›Sein‹ (to òn) und ›Nichtsein‹ (to mê òn) zu, aber auch eine funktionale Mittelstellung zwischen ›Erkenntnis‹ (gnôsis) und ›Unkenntnis‹ (àgnoia). 133 Besonders deutlich wird die Wissensfunktion der dóxa in ihrer Mittelposition zwischen ›Wissen‹ (epistême) bzw. ›Erkenntnis‹ (phronêsis) und ›Unverstand‹ (amathía). 134 Während wahres Wissen eine Erkenntnis der überzeitlichen Ideen ist, bleibt die dóxa eine Meinung, die letztlich unbegründet auf Akten der Sinneswahrnehmung (aísthesis) beruht. 135 Mit dem nicht auf eine einfache Bedeutung festgelegten, sondern sowohl eine fundamentale ontologische wie eine epistemische Funktion umfassenden Aufgabenspektrum ähnelt die dóxa dem ebenfalls nicht auf eine simple Formel zu bringenden Propositionsbegriff der organistischen Philosophie. Wie das propositionale Empfinden, so hat auch die dóxa einen Eigenwert, insofern eine Meinung auch für Platon nicht notwendigerweise nach epistemischer Erkenntnis tendiert, sondern im Genuss des eigenen Schein133 134 135
Vgl. Platon: Politeia, 478c. Vgl. Platon: Symposion, 202a. Vgl. Platon: Timaios, 52a.
207 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
wissens selbstgenügsam zufrieden sein kann. Im Gegensatz zu Whiteheads Propositionskonzept ist die dóxa bei Platon durchgängig pejorativ besetzt; wenngleich eine bloße Meinung den Normalfall der menschlichen Kenntnis darstellt, 136 so bleibt sie doch hinter der im menschlichen Wesen angelegten Möglichkeit zurück, zeitlos Wahres zu erkennen. Der Hauptunterschied zwischen Platon und Whitehead auf der Ebene der Ontologie bewirkt diese Differenz; während für Platon wahres Wissen über die Welt der Instanzen hinausweist auf die reichere Wirklichkeit der Ideen, liegt für Whitehead die Wirklichkeit auf der Ebene des weltimmanenten Werdensprozesses, und Wahrheit hat die ganz pragmatische Bedeutung der Konformität einer zunächst unreflektierten Aussage über diese Welt mit dieser Welt. Im Kontrast mit Platons starker Trennung zwischen Meinung und Wissen treten die Konturen von Whiteheads Wissenskonzeption deutlich hervor: Wissen ist eine überprüfte Meinung, auf deren emotionalem Muster das urteilende Empfinden – in wie starkem inhaltlichen Kontrast auch immer im jeweiligen Einzelfall – aufbaut. Möchte man Elizabeth Kraus’ spitze Definition der Propositionen als ›Prolegomenon des Wissens‹ nachvollziehen, so muss die prolegomenale Abhängigkeit auch in die Umkehrrichtung gelten – Wissen bedarf der Vorleistung propositionaler Empfindungen. Im emotionalen Muster des propositionalen Empfindens selbst ist kein Streben nach einer späteren Beurteilung angelegt. In der organistischen Philosophie ist zudem eine wahre Proposition nicht intrinsisch besser als eine falsche, Wahrheit und Falschheit haben keine im Kern ethische Dimension. Whitehead formuliert keine kategorischen Unterscheidungen, sondern operiert vorsichtig mit einer pragmatischen Einordnung wahrer und falscher Propositionen aufgrund empirischer Beobachtungen: Natürlich sind wahre Propositionen eher interessant als falsche. Und wenn das Handeln dem emotionalen Anreiz wahrer Propositionen folgt, wird es öfter erfolgreich sein als bei falschen. Aber selbst wenn man vom Handeln
Das Sonnengleichnis (Politeia, 508a–509b) arbeitet ausdrücklich mit der Lichtmetapher, um die ›Erleuchtung‹ durch die Ideenerkenntnis zu beschreiben. Im berühmten Höhlengleichnis (Politeia, 514a–521b) wird die Lichtmetapher erneut aufgegriffen. Nicht nur illustriert das Gleichnis ausdrucksstark die von Platon behauptete Wirkmächtigkeit bloß gemeinten Scheinwissens, es benennt dieses Scheinwissen auch explizit als dóxa (wörtlich doxádsein, 516 d).
136
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Propositionen
völlig absieht, hat die rein kontemplative Betrachtung der Wahrheit immer noch ein ganz besonderes Interesse. Alles in allem aber bleibt es unbeschadet dieser klärenden Zusätze wahr, daß eine Proposition in dem Maße wichtig ist, in dem sie interessant ist. (AI, 244/428)
Selbst, wenn Whitehead der Wahrheitsliebe einen ästhetischen Eigenwert zubilligt, kann er keine absolute Hierarchisierung zwischen wahren und falschen Propositionen vornehmen. Ausschlaggebend ist seine für die Argumentation kardinale Grundüberzeugung, in letzter Instanz komme es auf die im propositionalen Empfinden erzeugte Erfahrungsintensität an. Und natürlich können in bestimmten Fällen falsche Propositionen durchaus für eine intensivere Erfüllung sorgen; die organistische Philosophie schätzt Irrtümer als Fortschrittsbereiter hoch ein, und ob Fehler zu glücklichen Weiterentwicklungen oder zu Katastrophen führen, obliegt den jeweiligen komplexen Zusammenhängen unterschiedlicher Faktoren, die über den unmittelbaren Irrtum zum Teil weit hinausreichen. Operieren wir gemäß der praktischen Vernunft anhand einer Lebensmethode, so hoffen wir, unsere Handlungen nach wahren Annahmen zu organisieren. Lassen wir unserer Phantasie freies Spiel, so kann der Genuss des Kontrafaktischen durchaus eine das pragmatische Handeln weit übersteigende emotionale Intensität erreichen. Hoffnungen und Träume leiten unser Handeln in nicht unerheblichem Ausmaß, haben aber immer etwas Kontrafaktisches an sich. Auf diese Weise ergibt sich ein Mosaik emotionaler Formen, die in propositionalen Empfindungen maßgeblich beteiligt sind. Auf verschiedene Weise geht das propositionale Empfinden vor allem als Akt der Distanzierung in das emotionale Gesamtmuster des Subjekts ein. Von der unmittelbaren Erfahrung der Vorwelt, die durch die primären physischen Empfindungen entsteht, geht das Subjekt in propositionalen Empfindungen zu einer mittelbaren Erfahrung der Welt über, in der die unmittelbare Gewissheit des Faktischen abgelöst wird durch eine aus der Distanz des »könnte so sein«-Gefühls geäußerte Aussage über die Welt, deren Ungewißheit das Empfinden mit einem gewissen Maß an Glauben an ihre Richtigkeit begegnet. Auch wird die komplexe, nuancierte Vielheit der empfundenen Vorwelt zugunsten der wenigen, mit besonderer Intensität empfundenen Prädikationen aus propositionalen Empfindungen simplifiziert. Die mitunter zu einer vagen Gesamtempfindung führende Vielfalt der primären Empfindungsphase wird bereits durch die Kategorie der Umwandlung kanalisiert und auf 209 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
wenige, intensiver empfundene Formbestimmtheiten reduziert. Diese distanzierende Abstraktionsdynamik bildet eine Entwicklungslinie, die sich kontinuierlich von den Kategorien der Umwandlung und der begrifflichen Umkehrung bis zu den bewussten intellektuellen Empfindungen erstreckt. Ein weiterer Distanzierungsschritt, der nicht nur generell in den meisten Fällen zu einer Intensitätssteigerung führen soll, sondern tatsächlich eine kategorisch neue Qualität in den Erfahrungsprozess einbringt, liegt in der Einführung der ›logischen Subjekte‹ durch das propositionale Empfinden. Im Erfahrungsprozess eines wirklichen Einzelwesens gibt es im strengen Sinne keine Objekte, die außerhalb des Subjekts stünden; das Empfinden eines objektiven Datums führt zu einer Einbindung der individuellen Formbestimmtheiten dieses Datums in die umfassende subjektive Perspektive des aktuellen Weltprozesses. Die logischen Subjekte des propositionalen Empfindens beruhen zwar auf empfundenen wirklichen Einzelwesen der Vorwelt, doch stellen sie gerade die Abstraktion von deren Individualität dar: Von ihrer realen Rolle in der Wirklichkeit wird abstrahiert; sie sind nicht mehr Faktoren im Faktischen, es sei denn, zum Zwecke ihrer physischen Bezeichnung. Jedes logische Subjekt wird zu einem bloßen ›Es‹ unter Wirklichkeiten, mit seiner zugewiesenen hypothetischen Relevanz für das Prädikat. (PR, 258/470)
Logische Subjekte sind also von aller subjektiven Individualität entkleidete, eben bloß ›logische‹ Subjekte, die keinen Eigenwert mehr besitzen, sondern als Projektionsfläche für das Prädikat des propositionalen Empfindens dienen. Genau in dieser Reduktion auf ihre Fähigkeit, Projektionsfläche für Aussagen zu sein, liegt ihre ›Gegenständlichkeit‹ im eigentlichen Wortsinn begründet. Erstmals im seinem Selbstwerdungsprozess empfindet das Subjekt andere Einzelwesen nicht mehr als individuelle Beiträge zu seiner eigenen emotionalen Formbestimmung, sondern als Dinge, über die es Aussagen trifft – so entstehen in propositionalen Empfindungen erstmals Objekte, die vom Subjekt als äußerlich empfunden werden. 137 Ein Kernanliegen der organistischen 137 Eine hervorragende Darstellung des Zusammenhangs von innerer und äußerer Perspektive und der schrittweisen Genese von Objekten und dem Selbst aus den anfänglichen, einfachen subjektiven Werdensakten liefert Jason Brown, der die neurowissenschaftliche und Whitehead’sch-philosophische Perspektive zusammenbringt: Vgl. Brown (2012), S. 21–41, bes. S. 22 ff.
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Propositionen
Philosophie ist, das gesamte Universum als solidarisch darzustellen, ohne den einzelnen Subjekten die Rolle autarker Substanzen zukommen zu lassen. Deshalb vermeidet Whitehead konsequent auf ontologisch fundamentaler Ebene eine Subjekt-Objekt-Spaltung der Welt. In den einfachen physischen Empfindungen wird das gesamte Universum als Datum einer neuen, alles umfassenden Synthese aufgefasst. Propositionale Empfindungen nun gestatten dem Subjekt nicht nur, Aussagen zu tätigen, sondern zugleich auch, die Welt in der Reduktion auf logische Subjekte als äußere, nicht zum Subjekt selbst gehörige Projektionsfläche zu verstehen. 138 Die Verwandtschaft zwischen dem Propositions- und dem Symbolisierungskonzept zeigt sich auch im Begriff der Projektion, den Whitehead zur Beschreibung des Symbolisierungsaktes in Kulturelle Symbolisierung explizit und in den propositionalen Empfindungen implizit verwendet. Wird ein wirkliches Einzelwesen der Vorwelt in einem physischen Empfinden erfasst, so wird die allgemeine Formbestimmtheit, die sein abgrenzendes Charakteristikum ausmacht, an ihm lediglich exemplifiziert, der zeitlose Gegenstand bleibt allgemein in dem Sinn, dass er eine generelle Möglichkeit für Verwirklichung ist, nicht festgelegt auf den Weltprozess, in dem er tatsächlich auch realisiert wird. Erfährt das Subjekt durch ein propositionales Empfinden einige Einzelwesen seiner Vorwelt hingegen als Objekt, so ändert sich sein emotionales Muster auch in Bezug auf die erfahrene Formbestimmtheit, denn das Datum des Empfindens ist kein vollkommen allgemeiner zeitloser Gegenstand, sondern eine auf einen bestimmten Bereich der Realität bezogene Proposition. Statt eine allgemeine Formbestimmtheit, die in ihrer umittelbaren Allgemeinheit Teil des Weltprozesses ist, zu erfassen, wird ein spezifisches Objekt an einem spezifischen Ort als spezifischer Fall von seinem Prädikat empfunden: »Man kann nicht wissen, was rot ist, indem man lediglich an 138 Obgleich zwischen beiden philosophischen Konzepten kaum Berührungspunkte bestehen, erinnert diese Eigenart der organistischen Philosophie, sich durch eigene Empfindungstätigkeit die als Objekte verstandenen Gegenstände der Welt selbst zu generieren, an die Dynamik des Fichte’schen Ichs, das sich das Nicht-Ich durch die eigene Aktivität erst entgegensetzt. Im Unterschied zu Fichtes Philosophie ist in Whiteheads Denken das Subjekt durchaus durch die Vorwelt bedingt, die es in seiner primären Phase als objektive Daten aufnimmt, doch werden dadurch nicht auch automatisch alle objektiven Daten durch propositionale Empfindungen zu Objekten: Was durch propositionale Empfindungen als außerhalb des eigenen Selbst erfahren wird, obliegt der freien Entscheidung des Subjekts, das über seine höheren Geistestätigkeiten frei entscheiden kann.
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Röte denkt.« (PR 256/467) 139 Die Abstraktion von einer allgemeinen Formbestimmung auf das spezifische Prädikat eines Objektes ist ebenfalls eine Leistung der propositionalen Empfindungen. Auch eine ursprünglich in der Kategorie der begrifflichen Umkehrung angesiedelte Eigenschaft wird in den propositionalen Empfindungen mit verstärkter Intensität im emotionalen Muster verankert, und zwar das Empfinden begrifflicher Alternativen zur Wirklichkeit. Ein propositionales Empfinden hat die Möglichkeit, auch unzutreffende Formbestimmtheiten, die in begrifflichen Umkehrungen – oder hybriden Empfindungen – in vorausgegangenen Phasen des Konkreszenzprozesses erfasst worden sind, als Prädikate zu verwenden. Auf diese Weise kann das Subjekt kontrafaktische Behauptungen über die Welt anstellen. Damit eröffnet sich dem empfindenden Subjekt im System der organistischen Philosophie der Raum der Imagination. Whitehead ist überzeugt, unsere Erfahrung konstituiere sich maßgeblich durch die Ergänzung des wirklich Erfassten mit Alternativen, die aus dem vorbewussten Halbschatten unserer Erinnerung entspringen, wie in seinem bereits zitierten Brief an Russell zum Ausdruck kommt: »You think the world is what it looks like in fine wheather at noon-day; I think it is what it seems like in the early morning when one first wakes from deep sleep.« 140 Es ist offensichtlich, dass Whitehead mit dem Konstrukt der propositionalen Empfindungen die Anschlussstelle für alle zeitgenössischen Theorien des Unbewussten schaffen möchte, die Das Beispiel von ›Röte‹ (redness) und ›rot‹ (red) verwendet Whitehead mehrfach zur Illustration des Unterschieds zwischen der Empfindung allgemeiner Ideen in einfachen physischen Empfindungen und der Empfindung spezifischer, nur auf ein jeweiliges Objekt bezogener Formbestimmtheiten in komplexeren Folgeempfindungen, in denen die unmittelbare Allgemeinheit der Formbestimmtheit zugunsten einer distanzierten, auf dieses Objekt reduzierten Proposition aufgegeben wird: »Hinsichtlich der betroffenen Sinnesgegenstände [englisch sensa, gemeint sind die zeitlosen Gegenstände – d. Verf.] findet eine graduelle Transformation ihrer Funktionen statt, wobei sie auf einem Vererbungsweg, der bis zu einem abschließenden hochgradigen Erfahrenden führt, von Ereignis zu Ereignis übergehen. In deren einfachster Wirkungsweise wird ein Sinnesgegenstand mit dem emotionalen Erleben seines ganz individuellen Wesens physisch empfunden. Beispielsweise wird Rot mit dem emotionalen Erleben seiner schieren Röte empfunden« (PR 314 f./566 f.). Dieser Argumentation folgend, ist das Empfinden von ›rot‹ als Eigenschaft eines spezifischen Objekts in einem hochstufigen propositionalen Empfinden eine Abstraktion der allgemeinen Formbestimmtheit ›Röte‹, die in den primären physischen Empfindungen als unmittelbare Formbestimmtheit erfasst worden sein kann. 140 Russell (1956), S. 41 139
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durch die Betonung tiefemotionaler, unbewusster Handlungsmotive die psychologische – und psychoanalytische – Revolution des Menschenbildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutionierten. Die Wirkung des ›Halbschattens‹ (penumbra) alternativer, kontrafaktischer und hauptsächlich unbewusster Überlegungen auf den emotionalen Haushalt des Menschen hält Whitehead für eminent und erklärt sie zu einem Hauptanwendungsgebiet seines Propositionskonzepts: Einige Menschen lassen Elemente aus diesem Komplex des Halbschattens auf ihr tatsächliches Empfinden einwirken und andere schließen sie völlig aus. Einige sind sich dieser inneren Entscheidung über Zulassung und Ablehnung bewußt; bei anderen fließen die Ideen als Tagträume, ohne das Bewußtsein einer überlegten Entscheidung, ins Denken ein; und wieder bei anderen wird der emotionale Ton der Dankbarkeit oder des Bedauerns, der Freundschaft oder des Hasses, dunkel durch diesen Halbschatten von Alternativen beeinflußt, ohne daß es zu einer bewußten Analyse ihres Inhalts käme. Die Elemente dieses Halbschattens sind propositionale Empfindungen. (PR, 185/345 f.)
Alternativen zum faktisch Wirklichen sind natürlich unwahre Propositionen. Diese begleiten unsere Alltagswahrnehmung jedoch so selbstverständlich, dass wir sie überhaupt nicht bewusst wahrnehmen. Am Beispiel der Wahrnehmung eines Stuhles illustriert Whitehead, welchen Stellenwert kontrafaktische – oder ›ideale‹ – Erfahrungen einnehmen: Denken Sie nochmals an den Stuhl. Bei den Erfahrungen, auf denen das Konzept von ihm basiert, habe ich unsere Erwartungen von seiner zukünftigen Geschichte mit eingeschlossen. Ich hätte noch weiter gehen und unsere Vorstellung von all den möglichen Erfahrungen mit einschließen sollen, die wir in der Alltagssprache Wahrnehmungen des Stuhls, die hätten auftreten können, nennen sollten. Dies ist ein schwieriges Problem, und ich sehe nicht, wie ich es lösen könnte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt scheint es bei der Aufstellung einer Theorie des Raumes und der Zeit unüberwindliche Schwierigkeiten zu geben, wenn wir uns weigern, ideale Erfahrungen anzuerkennen. (AE, 107/160)
Gerade in den kontrafaktischen Empfindungen befindet sich die Grundlage hochstufiger Geistesoperationen. Das emotionale Muster komplexerer Subjekte bewegt sich maßgeblich in der ›Sphäre‹ (realm) der Alternativen: Diese Sphäre wird durch alle unwahren Propositionen enthüllt, die sich sinnvoll über dieses Ereignis bilden lassen. Es ist die Sphäre alternativer Ver-
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mutungen, deren Stützpunkt in der Wirklichkeit jedes wirkliche Einzelwesen transzendiert. Die tatsächliche Relevanz unwahrer Aussagen für jedes wirkliche Ereignis tritt zutage durch Kunst, Poesie und durch Kritik an Idealen. […] Die Wahrheit, daß irgendeine Proposition über ein wirkliches Ereignis unwahr ist, kann die entscheidende Wahrheit über die ästhetische Vollendung zum Ausdruck bringen. (SMW, 158/185)
Alternativen in der Form unwahrer Propositionen decken die gleiche Funktion wie die Akte kultureller Symbolisierung ab – sie sollen eine höhere ästhetische Wahrheit, die über die Assertion des rein Faktischen hinausgeht, zugänglich machen. Das Spiel mit Alternativen, das zu einer »Kritik an Idealen« führen kann, sollte zugleich als Voraussetzung für die spekulative Vernunfttätigkeit verstanden werden. Aus den verschiedenen Eigenschaften des emotionalen Musters propositionaler Empfindungen ergibt sich ein facettenreiches Bild der Funktionen, die in der organistischen Philosophie vom Konzept des Propositionsbegriffs ausgefüllt werden sollen. Das vielleicht einprägsamste Charakteristikum des Propositionskonzepts ist der Mangel eines klaren Anwendungsbereichs; ein Grund für die spärliche Rezeption des Propositionskonzepts in der Forschungsliteratur mag diesem Umstand geschuldet sein. Whitehead macht an keiner Stelle deutlich, welche Kernabsicht sein Entwurf der Propositionen verfolgt. Zudem lässt sich kaum eine Gemeinsamkeit des Propositionskonstrukts der organistischen Philosophie mit den wirkmächtigen Verwendungsformen des Propositionsbegriffs in der modernen Philosophie ausweisen. Weder sollen Propositionen Operatoren einer Aussagenlogik sein, noch soll ihr Aussagecharakter zur Schaffung einer »Orthosprache« 141 im Sinne des methodischen Konstruktivismus dienen. Am besten wird man Whiteheads Entwurf der propositionalen Empfindungen gerecht, wenn man sie in einem allgemeinen Sinn als komplexe Geistesaktivitäten verstehen möchte.
141 Zur Verwendung des Propositionsbegriffs im Konzept der Orthosprache vgl. Lorenzen (1973). Man sollte vorsichtig sein, über Rudolf Carnap eine Verbindung zwischen Whitehead und dem methodischen Konstruktivismus ziehen zu wollen; die möglichen Traditionslinien verwischen sich über wenige Stationen so eminent, dass von philosophischen Gemeinsamkeiten zu reden äußerst fahrlässig wäre.
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2.4.3 Die Stellung des Propositionsbegriffs in der organistischen Philosophie 2.4.3.1 Anwendungsbereiche des Propositionsbegriffs Jeder philosophische Begriff, den Whitehead behandelt, muss sich in das Gesamtschema der organistischen Philosophie einfügen. Viele Begriffe werden dabei in einer ihrer ursprünglichen Bedeutung uneigentlichen Weise verwendet und erfüllen Funktionen in ganz neuen Strukturzusammenhängen. Auch werden manchen Begriffen verschiedene Funktionen auf unterschiedlichen Ebenen zugewiesen, wie etwa am Vernunftbegriff gut zu erkennen ist. In welchem Kontext die organistische Philosophie den Propositionsbegriff verwendet, welche Funktionen innerhalb der Gesamttheorie er übernehmen und welche Bereiche von Erfahrungsphänomenen er erklären helfen soll, ist angesichts der ein traditionelles Verständnis anbietenden Begriffsgeschichte eine sich aufdrängende Frage. Tatsächlich bildet die Darlegung des Propositionsbegriffs eine Etappe im dritten Teil von Prozeß und Realität, in welchem der Weg von einfachen Empfindungen zu menschlichen Erfahrungsphänomenen beschrieben werden soll. Zur Erklärung der menschlichen Erfahrungswelt möchte Whitehead eine Struktur anbieten, die in die Bewusstseinskonzeption der höheren Phasen der Erfahrung mündet. Der Weg dorthin beginnt systematisch mit der Konzeption der Propositionen, die selbst zwar, ähnlich der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung, noch unbewusst sind, jedoch durch geistige Aktivitäten in speziellen Empfindungen weniger wirklicher Einzelwesen entstehen und von Whitehead eindeutig teleologisch auf die Entstehung von Bewusstsein hin ausgerichtet sind: Bisher wurde die Natur des Bewußtseins noch nicht hinreichend untersucht. Die anfänglichen, grundlegenden Empfindungen – physische und begriffliche – wurden erwähnt und desgleichen auch die abschließende Synthese zum Kontrast zwischen Affirmation und Negation. Aber zwischen Anfang und Ende der Integration ins Bewußtsein liegt die Entstehung eines ›propositionalen Empfindens‹. (PR, 256/467)
Ein propositionales Empfinden – das Empfinden einer Proposition – ist ein selbst noch nicht zwingend bewusster Schritt auf dem Weg zu Bewusstsein, in dem Wahrheit und Irrtum relevante Kategorien der Erfahrung werden. Ist in einer Empfindung die Möglichkeit des Irrtums 215 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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gegeben, so gewinnt die Erfahrung dadurch ein neues Potential, das in den einfachen physischen Empfindungen noch nicht vorhanden ist. Die primären Phasen der Konkreszenz erfassen die Vorwelt immer unmittelbar und untäuschbar. Kann die Empfindung auch unmöglich falsch sein, so ist sie auch unmöglich wahr: Sie ist, was sie ist, und Wahrheit und Falschheit sind für die einfachen Empfindungen völlig irrelevante Kategorien. In den propositionalen Empfindungen gewinnt die Erfahrung eine neue Eigenschaft, denn statt unmittelbarer Faktizität empfindet sie nun die mittelbare Möglichkeit, dass die Welt sein könnte, wie sie vermutet wird zu sein. Der Theoriebegriff beschreibt die Form von Propositionen, sie sind Hypothesen. Propositionen sollen eindeutig auch, als Daten der Sonderfälle hochkomplexer intellektueller Empfindungen, den wissenschaftlichen Theoriebegriff abdecken. 142 Das gesamte neunte Kapitel des zweiten Teils von Prozeß und Realität geht der Überlegung nach, wie Propositionen im Kontext des Wissenserwerbs mit den Methoden der Induktion und Wahrscheinlichkeitserwägung genutzt werden können. Zugleich jedoch soll der Propositionsbegriff einen breiteren Anwendungsbereich haben; hochstufige Geistesfunktionen mit den allgemeinen kosmologischen Grundlagen zu verwinden, ist in der organistischen Philosophie eine übliche Vorgehensweise, wie am Beispiel des Vernunft- und des Symbolbegriffs deutlich wird. Whitehead suggeriert, jedes wirkliche Einzelwesen habe Anteil an propositionalen Empfindungen, wenngleich in unterschiedlich stark ausgeprägter Intensität, und in diesen propositionalen Empfindungen liege »die Quelle des Irrtums, der Wahrheit, der Kunst, der Ethik und der Religion.« (PR, 189/351) 143 Was in hochstufigen wissenschaftlichen Theorien methodisch geleitete, induktive Wahrscheinlichkeitsabwägungen sind, ist in den einfachen propositionalen Empfindungen ein einfaches, unmittel142 Zu diesem Aufgabenbereich der Propositionen gibt es kaum Forschungsliteratur. Ausnahmen sind Ross (1983) und Emmet (1966), die beide den Propositionsbegriff in seiner Bedeutung für eine »theory of knowledge« behandeln. Insgesamt jedoch fehlen bisher in der Forschung Untersuchungen, die Whiteheads philosophische Methode als Resultat seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen mit seinem Propositionskonzept behandeln. 143 Whitehead zitiert an dieser Stelle in Prozeß und Realität eine Passage aus seinem Werk Wissenschaft und moderne Welt (SMW, 176 f./206), in welcher der Prozess der Konkreszenz nur unter dem Blickwinkel der allgemeinen kosmologischen Erklärung betrachtet wird, vollkommen ohne Berücksichtigung irgendwelcher höheren Formen der intellektuellen Empfindungen.
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bares Verhalten zur Kontingenz der alternativen Seinspotentiale. Beiden gemein ist das Spiel mit hypothetischem Sein, mit dem, was möglicherweise sein könnte, also nicht bloß abstrakte Möglichkeit ist, zugleich aber noch nicht ist, also keine unzweifelhafte, unmittelbare faktische Realität hat. Ein wichtiger Anwendungsbereich der Propositionen liegt im Bereich der Sprache. Unsere Sprache gestaltet sich nach einem SubjektPrädikat-Schema, und in dieser Hinsicht sind alle sprachlichen Äußerungen Propositionen. Jedoch liegt nach Whiteheads Überzeugung ein Kardinalfehler vieler metaphysischer Konzepte der Philosophietradition in der Übertragung des aus der Sprache entlehnten Subjekt-Prädikat-Schemas auf die Ebene der Metaphysik. 144 Die organistische Philosophie versteht sich explizit als Zurückweisung dieser Position; das Subjekt-Prädikat-Schema wird auf den Bereich der Sprache beschränkt, in dem es durchaus angemessen verwendet werden kann. Es ist wenig verwunderlich, wenn dieses Schema in genau den Empfindungen maßgebliche Bedeutung erlangt, auf deren Ebene die Sprache verortet wird – den propositionalen Empfindungen. Die Form der Prädikation einer Seinsbestimmtheit auf eine gewisse Menge logischer Subjekte sorgt nicht nur für die Entstehung wirklicher Objekte in der Wahrnehmung des Subjekts, sondern führt zugleich das Subjekt-Prädikat-Schema ein: »In der organistischen Philosophie wird eine Aussage in Form von Subjekt und Prädikat als Ausdruck einer hohen Abstraktion aufgefaßt.« (PR, 138/261) Die Erfahrung im Subjekt-PrädikatSchema ist eine abstraktive Leistung des Subjekts, die durch das Propositionskonzept ermöglicht wird. 145 In Abenteuer der Ideen werden die Propositionen erneut thematisiert, aber ohne ausdrückliche Verwendung des Propositionsbegriffs. Die Diskussion bewegt sich auf einer anderen Ebene und fügt dem Konzept der Propositionen noch eine weitere Stoßrichtung hinzu; Whitehead subsumiert es in diesem Kontext unter dem Begriff der ›Erscheinung‹ (appearance). Erscheinungen sind notwendig, um den Begriff der Wahrheit (truth), mit dessen Definition Whitehead die Untersuchung der die hochstufige menschliche Erfahrung bestimmenden Zivilisationsideale beginnt, beschreiben zu können (vgl. AI, 241–296/ 144 Zur Stellung Whiteheads in der Geschichte der Substanzontologie vgl. Fetz (1981), S. 209 ff. 145 Vgl. auch Pred (2005), S. 211.
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423–512). 146 Die Erscheinung ist Voraussetzung für höhere Formen der Geistesaktivität, deren Fähigkeit zum Irrtum den Rubikon zu intellektuellen Empfindungen überschritten hat, doch sieht Whitehead in jedem Erfahrungsakt das »Gegensatzpaar ›Erscheinung-Realität‹« (AI, 209/374) fundamental verankert. Aus den verschiedenen Bedeutungsebenen lässt sich auf einen differenzierten Aufgabenbereich des Propositionskonzepts in der organistischen Philosophie schließen. Einerseits ist das Konstrukt der propositionalen Empfindungen, die mit der Möglichkeit spielen, eine prädizierte Qualität könnte eventuell wahr sein, eindeutig der Sphäre des menschlichen Denkens entlehnt: Jeder, der vor dem Einschlafen bewußt die Geschehnisse des Tages vor sich ablaufen läßt, projiziert sie im Unterbewußtsein auf das im Halbschatten liegende Wirrwarr von Alternativen. Genauso unbewußt entscheidet er auch über Empfindungen, um sein primäres Empfinden zu maximieren und um seine Übertragung über das unmittelbar gegenwärtige Ereignis hinaus zu sichern. (PR, 187/348) 147
Propositionale Empfindungen selbst sind noch unbewusst, aber in der Lage, durch eine weitere Kontrastierung mit der Realität zu bewussten Empfindungen zu führen; in Freuds Schema käme ihnen die Rolle des Vorbewussten zu; in der organistischen Philosophie bilden sie den Vorhof der bewussten Erfahrungsakte. Die Betonung des unbewussten Kontrastierens, des Spielens mit hypothetischen Alternativen, erinnert an Whiteheads philosophische Grundintuition, das Hauptgewicht der 146 Für eine ausführlichere Übersicht über die Orientierungsfunktion, welche die Zivilisationsideale für den gemeinschaftlich organisierten Menschen erfüllen, vgl. Berve (2014a). 147 Die deutsche Übersetzung übernimmt die uneindeutige Verwendung der Begriffe ›unterbewusst‹ (subconscious) und ›unbewusst‹ (unconscious) aus dem englischen Originaltext. Prozeß und Realität entstand zu einer Zeit, in der Sigmund Freuds Abschaffung des umgangssprachlichen Begriffs des Unterbewussten zugunsten der Begriffstrias des ›Bewussten‹, des ›Unbewussten‹ und des ›Vorbewussten‹ in der Psychoanalyse gerade reüssierte (vgl. Freuds immer noch begriffsbestimmende Schrift Das Ich und das Es: Freud (1975), S. 273 ff.). In Whiteheads Philosophie gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass er in der von ihm für die Beschreibung der intellektuellen Empfindung zentralen Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Erfahrung in irgendeiner Weise die ihm zeitgenössischen psychodynamischen Strukturuntersuchungen des Bewusstseins berücksichtigt hätte, wenngleich er zeitgemäß die Bedeutung des – von ihm nicht weiter inhaltlich definierten – Unbewussten für eine Gesamtbeschreibung der menschlichen Erfahrung und ihrer Dynamik anerkennt.
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menschlichen Erfahrungswelt nicht in den klaren bewussten Erkenntnissen zu suchen, sondern in dem in jedem bewussten Erfahrungsakt mitschwingenden vagen Hintergrund der emotionalen Konnotationen und Alternativen, wie Whitehead in dem bereits zitierten Brief an Bertrand Russell zum Ausdruck bringt: »You think the world is what it looks like in fine wheather at noon-day; I think it is what it seems like in the early morning when one first wakes from deep sleep.« 148 Einerseits soll das Konzept der Propositionen diese Rolle des unbewussten Ergänzens der bewusst wahrgenommenen Realität um begriffliche Alternativen erfüllen. Andererseits jedoch lässt Whiteheads Formulierung vermuten, der Propositionsbegriff solle auch eine Funktion auf der fundamentalen Strukturebene des kosmologischen Gesamtentwurfs übernehmen. Darauf weist der Rahmen hin, in dem er den Anwendungsbereich des Propositionsbegriffs in Prozeß und Realität vorläufig definiert, ohne die spezifischen Formen höherer Geistestätigkeit zu erwähnen, die seinen ersten Aspekt ausmachen: Das primäre Element in dem ›Anreiz für das Empfinden‹ ist das Erfassen der Urnatur Gottes durch das Subjekt. Begriffliche Empfindungen werden erzeugt, und durch Integration mit physischen Empfindungen schließt sich sogleich eine spätere Phase von propositionalen Empfindungen an. Der Anreiz für das Empfinden entwickelt sich mit den Konkretisierungsphasen des jeweiligen Subjekts. (PR, 189/351) 149
Der ›Anreiz für das Empfinden‹ beginnt mit der Wahl des subjektiven Ziels und entfaltet seine Lockungsfunktion in den propositionalen Empfindungen folgerichtig noch weiter, indem nicht nur die Seinsmöglichkeit des eigenen Erfüllungsideals empfunden wird, sondern zudem noch nicht realisierte und nicht zu realisierende alternative Formen, die für das Subjekt interessant sind, weil sie als hypostasierte Eigenschaften der Welt prädiziert werden können und so etwas Nichtseiendes als »positiver Faktor« in die abschließende Erfüllung des Subjekts eingehen kann. Auf diese Weise »wird das Tatsächliche mit Alternativen konfrontiert« (PR, 189/351). Wie bereits bei der praktischen Russell (1956), S. 41 Im Anschluss zitiert Whitehead selbst eine Stelle aus Wissenschaft und moderne Welt, die seiner Meinung nach die gleiche Prozesseigenschaft beschreibt, allerdings ohne den Propositionsbegriff zu nennen. Das Kapitel, aus dem diese Passage entlehnt ist, beschäftigt sich mit dem Gottesbegriff und dessen Verbindung mit der allgemeinen Prozessstruktur des Universums. 148 149
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Vernunft, so geht auch beim Propositionsbegriff aus Whiteheads Formulierung nicht eindeutig hervor, ob dem Begriff eine Funktion zugeordnet sein soll, die auf fundamentaler Ebene zumindest als Ansatz in allen Werdensprozessen verortet ist und sich bei komplexeren Subjekten zu besonders prominenter Ausprägung entwickelt, oder ob es nicht präziser wäre, zusammen mit der Unterscheidung verschiedener Anwendungsebenen des Begriffs zugleich von verschiedenen, jeweils einer Ebene zugeordneten Funktionen zu sprechen. 150 150 In der Forschungsliteratur gibt es durchaus Interpretationen, die das Propositionskonzept auf eine einzige Funktion einschränken. Die Darstellungsweise Whiteheads in Prozeß und Realität, die bezüglich der Aufgabe des Propositionskonzepts unklar bleibt, ermöglicht missverständliche Deutungen. So interpretiert etwa Tobias Müller den Propositionsbegriff als Beschreibung der Struktur des subjektiven Ziels (vgl. Müller (2008), S. 70). In dieser Lesart wird der ›Anreiz für das Empfinden‹ ausschließlich auf die Propositionen bezogen und dessen laut Whitehead erste Aufgabe, Gottes Urnatur zu erfassen, mit seiner Aufgabe in den propositionalen Empfindungen identifiziert. Bereits Reto Luzius Fetz vertritt diesen Interpretationsansatz: »›Propositionen‹ lösen darum als Finalursache den Prozeß der Konkreszenz aus« (Fetz (1981), S. 177). Das propositionale Empfinden soll demnach keine Aussagen über die Einzelwesen der Vorwelt treffen – denn diese sind ganz unmittelbar das, was sie sind, unabhängig von ihrer Empfindung durch das aktive Subjekt –, sondern eine mögliche Zielvorstellung des Selbstwerdungsprozesses artikulieren, nämlich das, was das Subjekt werden könnte, wenn es diese Vorstellung wahrhaftig realisierte. Aus einer Theorie über die Welt, die wahr oder falsch sein kann, wird eine subjektive Zielvorstellung, die den Wahrheitsbegriff introspektiv verwendet, in der »die subjektive Einheit sozusagen auf der Suche nach ihrem Wahrheitswert« (Müller (2008), S. 71) ist. Gegen diese Interpretation sprechen, neben der Reduktion des Propositions- und des Wahrheitsbegriffs auf einen minimalen Funktionsbereich, auch die Strukturen der organistischen Philosophie. Ein propositionales Empfinden entsteht aus der Prädizierung einer Formbestimmtheit auf eine Gruppe in primären physischen Empfindungen erfasster wirklicher Einzelwesen der Vorwelt. Wenn das Subjekt sein subjektives Ziel erst in dem propositionalen Empfinden gewönne, nach welchen perspektivischen Auswahlkriterien hätte es die vorausgegangenen primären physischen Empfindungen getätigt? Wenn die Erfüllung des subjektiven Ziels sein Wahrheitswert sein soll und ein falsches propositionales Empfinden, ein Irrtum, also das Misslingen dieses Vorhabens wäre, was wird dann ein wirkliches Einzelwesen, das sein subjektives Ziel nicht erfüllt? In der organistischen Philosophie findet ein Subjekt seine Erfüllung genau dann, wenn es sein subjektives Ziel erreicht; das subjektive Ziel beschreibt die Perspektive seiner Selbstverwirklichung, die nicht mitten im Prozess gewechselt oder nur annäherungsweise erreicht werden kann. Das Problem scheint in der vorschnellen Gleichsetzung des ›Anreizes für das Empfinden‹ mit dem Propositionsbegriff zu liegen. Statt den Empfindungsanreiz als exklusive Funktion der propositionalen Empfindungen zu verstehen, kann man ihn als allgemeine Beschreibung der Aufgabenstellung aller Erfahrungsakte interpretieren. Alles Werden ist auf das Ziel möglichst intensiver Erfahrung ausgerichtet, und die häufige Benennung der Proposi-
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Aus Whiteheads vielschichtiger, uneindeutiger Anwendung des Propositionskonzepts ergibt sich ein Problem. Die organistische Philosophie dehnt den Begriff der Propositionen, wenn sowohl wissenschaftliche Theoriebildungen auf der einen als auch jedem wirklichen Einzelwesen zugängliche, basale Kontraste zwischen unmittelbarer Realität und dem Möglichkeitsbereich auf der anderen Seite unter einem Oberbegriff zusammengefasst werden und implizit die gleiche Funktion zugewiesen bekommen. Whitehead bleibt in seiner Beschreibung des Propositionsbegriffs und seiner Aufgaben undeutlich. Sein Umgang mit den Propositionen ähnelt der Behandlung der Vernunft insofern, als in beiden Fällen der Begriff für ein sich kontinuierlich von den allgemeinen ontologischen Grundlagen bis zu den höheren Formen der Erfahrung erstreckendes Konzept verwendet wird. Die erkennbare Absicht Whiteheads ist, alle Spezifika der höheren Erfahrungsebenen strukturell bereits auf der ontologischen Ebene zu verankern und keine kategorischen Trennungen in der Hierarchie der Erfahrungsebenen anzunehmen, sondern durch die Rückführung des emotionalen Musters jedes Erfahrungssubjekts auf ein komplex miteinander verwobenes Geflecht verschiedener Empfindungsarten fließende Übergänge zwischen ›niederen‹ und ›höheren‹ Formen der Erfahrung zu schaffen. 151 Im Gegensatz zum Vernunftbegriff bezieht sich der Propositionsbegriff nicht auf ein für uns lebensweltlich eindeutig verortbares Erfahrungsphänomen, sondern bleibt in gewissem Sinne abstrakt; die in Teilen der Forschungsliteratur vertretene Lesart der Propositionen als Synonyme für das subjektive Ziel mag deshalb zwar in die Irre gehen, aber sie macht deutlich, wie unklar die Rolle und tionen als ›Anreize für das Empfinden‹ könnte einen doppelten Grund haben: Erstens verheißen propositionale Empfindungen durch ihren Kontrast zwischen dem Wirklichen und dem bloß Möglichen dem emotionalen Muster des Subjekts eine besondere Intensität und können deshalb in der Darstellung des philosophischen Schemas bevorzugt als Empfindungsanreize aufgefasst werden. Zweitens scheint die deutliche Betonung ihrer Anreizfunktion zugleich dem Zweck zu dienen, den Unterschied zur Rolle der Propositionen in der Aussagenlogik zu betonen, in der ihre Funktion einzig darauf beschränkt ist, in einer logischen Analyse richtig oder falsch zu sein. 151 Die Umorientierung des Propositionsbegriffs von der logischen hin zur ontologischen Ebene wird von Nathan Rotenstreich als wichtigste Eigenschaft der Whitehead’schen Deutung des Begriffs verstanden: »The most significant fact is that the term ›proposition‹ has been transmuted from the field of logic to the field of ontology. This ontologization of logical terms certainly indicates an essential trend in Whitehead’s theory in general« (Rotenstreich (1952), S. 391 f.).
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der Bezugsrahmen des Konzepts der Propositionen sind. Diese Unklarheit hat John Blyth sogar zu einer Interpretation geführt, die den Propositionsbegriff als überflüssig verwirft, da er »neither fish, flesh, nor fowl« sei. 152 2.4.3.2 Der Propositionsbegriff im Kontext von Whiteheads metaphysischem Gesamtkonzept Das Propositionskonzept der organistischen Philosophie besitzt in seiner Vielschichtigkeit einige Verbindungen zu anderen Konzepten höherer Geistestätigkeit in Whiteheads Philosophie. Seine Stellung im metaphysischen Gesamtentwurf und seine Funktion innerhalb des Komplexes höherer Geistestätigkeit können in Abstraktion von diesen Zusammenhängen nicht adäquat verstanden werden. In Form einer groben Analogie lassen sich etwa die Funktionsbereiche des Propositionskonzepts und des Vernunftkonzepts in der organistischen Philosophie vergleichen. In beiden Fällen wird ein Begriff, der sich auf den Bereich der menschlichen Erfahrungsphänomene bezieht oder doch zumindest darauf verweist, bis auf die Grundkonzepte der metaphysischen Theorie rückgebunden und soll doch zugleich bis in den Bereich der Wissenschaft hinein eine konstitutive Funktion ausüben: Im Fall der Vernunft ist die dynamische Grundkraft der Erfahrung gemeint, die auch auf der hochstufigen Ebene den Wissenschaften den Impuls für eine methodische Neuorientierung gibt, im Fall des Propositionskonzepts ist der inhaltliche Modus der Erfahrung gemeint, der zu einer Hypothesenbildung im Wissenschaftsbereich führen kann. Auch die implizite Analogie des Propositionskonzepts zum Symbolkonzept der organistischen Philosophie erweist sich als belastbar; die basalen Symbolisierungsakte auf der Ebene der Sinneswahrnehmung oder – bereits komplexer – der Sprache können Symbolisierungen auf höheren Ebenen bedingen, etwa kulturelle oder soziale Symbolkodizes, die ohne die fundamentaleren Symbolisierungsformen unmöglich wären, und so zu einer Art Kaskadierung der
152 Blyth (1980), S. 69. Mitunter erweckt Blyth den Anschein, als wolle er Whitehead missverstehen. Sein gegen die organistische Philosophie gerichteter, unhaltbarer Vorwurf der strukturellen Inkonsistenz (vgl. Blyth, (1980), S. 59, 63) lässt die gleiche Tendenz erkennen. Dennoch belegt der Vorwurf beispielhaft, wie uneindeutig die Präsentation des Propositionsbegriffs in Prozeß und Realität ist.
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Symbolisierungsakte führen. Ähnlich sollten Propositionen gedacht werden. Natürlich entstehen neue Hypothesen auf der Grundlage bereits geglaubter Einsichten, sodass auf der Grundlage der einfacheren, primitiven Aussagen, die sich an einer übersichtlichen Gruppe logischer Subjekte in einer urteilenden Folgeempfindung leicht überprüfen lassen, die komplexeren Propositionen ergeben, deren Anwendungsbereich genereller und zugleich für eine Überprüfung diffuser ist. Sowohl hochstufige Symbolisierungen wie auch propositionale Empfindungen komplexer Propositionen sind in besonderem Maße der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt und sind das Ergebnis vernünftiger Methoden, die selbst durch die Möglichkeit der Veränderung ihrer Grundlagen im Evolutionsprozess der Welt stets wieder revisionsbedürftig werden. Nicht nur in der Bedeutung der Sprache für beide Konzepte ähneln sich die Symbol- und die Propositionstheorie der organistischen Philosophie. Die inhaltliche Überschneidung ist bemerkenswert – ein propositionales Empfinden, in dem ein Prädikat von einer Gruppe logischer Subjekte ausgesagt wird, setzt das ›physische Wiedererkennen‹ und das ›bezeichnende Empfinden‹ miteinander in Beziehung, was genau Whiteheads Definition des symbolischen Bezuges entspricht: zwei Erfahrungsakte werden aufeinander bezogen. Jedes propositionale Empfinden ist also zugleich ein Symbolisierungsakt. Dennoch bestehen Unterschiede; während der Begriff der Wahrnehmung in beiden Konzepten eine wichtige Stellung einnimmt, scheinen die jeweiligen Darstellungen des Wahrnehmungsphänomens gänzlich unterschiedliche Gelenke zu besitzen. Im Kontext von Kulturelle Symbolisierung wird die menschliche Wahrnehmung in zwei Wahrnehmungsmodi unterschieden, die Sinneswahrnehmung und das Gedächtnis beziehungsweise die Körperwahrnehmung. Ein symbolischer Bezug entsteht erst in der Kontrastierung beider Wahrnehmungsmodi miteinander. Die Darstellung des Propositionskonzeptes in Prozeß und Realität jedoch fächert die menschliche Erfahrungswelt in die beiden Zweige der Wahrnehmung und der Vorstellung auf und zielt damit auf ein weiteres Feld kognitiver Prozesse ab als die explizit auf Wahrnehmungsprozesse begrenzte Darstellung in Kulturelle Symbolisierung; der Wahrnehmungsbegriff wird nicht näher qualifiziert, aber da es sich um propositionale Empfindungen handelt, ist ein Wahrnehmungsakt gemäß dieser Struktur immer schon ein symbolischer Bezug. Auch spielt in den wahrnehmenden propositionalen Empfindungen, anders 223 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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als in Kulturelle Symbolisierung, Whiteheads komplexe ›Theorie der Ausdehnung‹ in Form des ›extensiven Kontinuums‹ kaum eine Rolle. Einzig bei der Behandlung des Themas der Irrtümer in propositionalen Empfindungen erwähnt Whitehead in einer Nebenbemerkung die aus Kulturelle Symbolisierung vertrauten Wahrnehmungsformen, ohne sie jedoch eingehender zu kontextualisieren: »Diese Möglichkeit des Irrtums ist besonders augenscheinlich bei der besonderen Klasse von physischen Empfindungen, die zu der Weise der ›vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit‹ gehören.« (PR, 264/481) Die hier gemeinte Aktivität der Projektion, die in Kulturelle Symbolisierung genauer beschrieben ist, wird in Prozeß und Realität offenkundig als Tätigkeit propositionaler Empfindungen verstanden. Trotz dieser offensichtlichen Verwandtschaft zwischen den Konzepten des symbolischen Bezugs und der Propositionen bestehen in der Ausformulierung der Anwendungsbereiche beider genug Unterschiede, um sie nicht vollkommen miteinander zu identifizieren. Durch das komplexe Zusammenspiel der Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung kann ein als bloß begriffliche Alternative erfasster zeitloser Gegenstand zur Formbestimmtheit einer wirklichen Erfahrung werden und so qualitativ Neues in die Welt einführen. In vorstellenden propositionalen Empfindungen ist diese Kapazität besonders deutlich ausgeprägt; indirekte unauthentische wahrnehmende Empfindungen, in denen die begriffliche Umkehrung und die Umwandlung erheblichen Einfluss ausüben, werden von Whitehead ob ihrer großen begrifflichen Freiheit als ›gefesselte Vorstellungen‹ bezeichnet. Die mentale Aktivität der Realisierung bloß begrifflich erfasster Alternativen ist nicht nur ein Nebenprodukt des kreativen Weltprozesses, sondern als das Streben nach Neuem eine seiner fundamentalen Eigenschaften, die in Die Funktion der Vernunft ausdrücklich als Vernunfttätigkeit beschrieben wird: »Anders ausgedrückt besagt diese erste Schlußfolgerung, daß die Vernunft ein Faktor in unserer Erfahrung ist, der das Anstreben eines Ziels, das in unserer Vorstellung, aber noch nicht in der Wirklichkeit besteht, leitet und kritisch korrigiert.« (FR, 5/9) Auf diese Weise scheint Whitehead die propositionalen Empfindungen – im Kontrast zu den simpleren anfänglichen physischen Empfindungen – als in hohem Maße vernunftgesteuert zu verstehen und eine der Hauptaufgaben der Vernunft, nämlich das Schaffen neuer Konzepte, sogar in den propositionalen Empfindungen zu verorten. 224 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Propositionen
In einer zusammenfassenden Betrachtung wird der Funktionsumfang deutlich, den das Konzept der Propositionen in der organistischen Philosophie einnehmen soll. Sowohl der Ursprung der Wahrnehmung, die auf den späteren Sonderfall der Sinneswahrnehmung vorausweist, als auch der Beginn der Vorstellungen, die auf den weiten Bereich des Denkens und der freien Phantasie vorausweisen, sind in den propositionalen Empfindungen zu finden, auf intrikate Weise miteinander verzahnt durch die Einwirkungsmöglichkeiten der Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung. Kognitive Kapazitäten, die den Menschen auszeichnen, finden ihren Anfang in den propositionalen Empfindungen. Zugleich soll die Möglichkeit, hypothetische Aussagen über Teile der Welt zu tätigen, in ihrer komplexesten Ausprägung zu wissenschaftlichen Hypothesen und Theoriebildungen führen und das Konzept der Propositionen mit dem Bereich der Wissenschaftstheorie verbinden. In gewisser Weise ist das Propositionskonzept die Struktur, mit der theorieimmanent die Erfahrungsdynamik erklärt wird, die auf der methodischen Ebene von Whitehead zur allgemeinen philosophischen Vorgehensweise erhoben wurde: Von der Sammlung unmittelbarer Erfahrungen ausgehend, gelangt der Philosophierende zu verallgemeinernden und abstrahierenden Hypothesenbildungen, die in einer Gesamttheorie münden. Vor allem aber begründen propositionale Empfindungen die grundlegenden Formen des emotionalen Musters, die zu uns lebensweltlich vertrauten Formen der Emotionalität führen. Wenngleich in Whiteheads Denken die Dimension des Psychologischen keine eigenständig ausgewiesene Bedeutung hat, findet man im emotionalen Muster der propositionalen Empfindungen erstmalig emotionale Regungen, die im Bereich der menschlichen Gefühle angesiedelt sind. Die Entwicklungsdynamik, die das emotionale Muster des Subjekts auf dem Weg von den einfachen physischen Empfindungen bis zu den intellektuellen Empfindungen auszeichnet, lässt sich in den propositionalen Empfindungen gut erkennen: Eine fortschreitende Abstrahierung von den unmittelbaren Empfindungen verbindet sich mit einer Simplifizierung, die einige wenige Charakteristika zulasten der anfänglichen Empfindungsvielfalt verstärkt und hervorhebt, und führt zu einer immer größeren Distanz des emotionalen Fühlens vom anfänglichen unmittelbaren Erfassen der Vorwelt. Dabei wird die Hauptaufgabe des Konkreszenzprozesses, möglichst hohen ästhetischen Wert zu erzeugen, aufgenommen und verstärkt: Die Aufgabe der Propositionen ist nicht, wahr oder falsch 225 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
zu sein, sondern interessant. Wenn Whitehead die »Grundlagen jeder Theorie der künstlerischen Ästhetik« (S, 83 f./142 f.) im symbolischen Transfer von Emotionen sieht, so muss das emotionale Muster propositionaler Empfindungen ein Fortschritt auf dem Weg zu möglichst werthaftigem Werden sein. Wie Symbolisierungsakte, so überschreiten auch propositionale Empfindungen den Rubikon, der einfache Empfindungen von den intellektuellen Empfindungen trennt, in denen das Subjekt Bewusstsein entwickelt. Die losen Enden, die aus der Darstellung des Propositionsbegriffs herausragen, werden im Konzept der intellektuellen Empfindungen zusammengeführt. In all seinen Facetten dargestellt, bleibt ein Moment der Irritation bezüglich des Propositionskonzepts. Das liegt einerseits an Whiteheads Darstellungsweise, zunächst ein begriffliches Rahmenwerk zu definieren und dann durch komplexe Binnendifferenzierungen die begrifflichen Grenzen zu verwischen. Andererseits ist die Position des Propositionskonzepts in der organistischen Philosophie undankbar. Wenngleich die Modi propositionaler Empfindungen nach Phänomenen der menschlichen Erfahrungswelt benannt werden, ist damit noch keine endgültige Klärung dieser Phänomene verbunden; die differenzierte Struktur der propositionalen Empfindungen nimmt sich vielmehr wie das auf Folgephasen verweisende Versprechen auf eine schließliche Klärung aus. Sind in philosophischen Theorien der menschlichen Kognition Vorstellungen und Wahrnehmungen üblicherweise Grundformen der Erfahrung mit eindeutig zugewiesenen Phänomenbereichen, die durch eine wissenschaftliche Untersuchung kontextualisiert und interpretiert werden, so haben sie in der organistischen Philosophie eine viel mittelbarere Stellung als nahezu abstrakte Produkte einer umfassenden Erfahrungsdynamik. Sie gehen über komplexe Ketten von Empfindungsakten aus den allgemeinen metaphysischen Empfindungsformen hervor und können aufgrund der langen, variationsreich verästelten Begründungswege kaum den Anspruch auf praktikable Anwendbarkeit erheben. Durch die vielen Anknüpfungspunkte und Aufgabenbereiche behält das Gesamtbild eine gewisse Vagheit; wenn Reiner Wiehl die organistische Philosophie als »eine Systematik möglicher Analogien« charakterisiert, die »in heuristischer und kritischer Funktion gebraucht werden können«, 153 so trifft diese Beschreibung auf das Propositionskonzept in besonderem Maße zu. Tatsächlich fun153
Vgl. Wiehl (1984), S. 321.
226 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Bewusstsein
gieren die propositionalen Empfindungen als Gelenkstellen zwischen der fundamentalen metaphysischen Prozessbeschreibung und den Phänomenen der menschlichen Erfahrungsebene. Als solche bleiben sie jedoch in gewisser Weise unterbestimmt; wie genau etwa das Verhältnis zwischen wahrnehmenden propositionalen Empfindungen und dem Konzept der Sinneswahrnehmung in Kulturelle Symbolisierung beschaffen sein oder wie das Beispiel von Cäsars Rubikonüberquerung vermittels des Instrumentariums der kategorischen Binnenunterscheidung propositionaler Empfindungen strukturell beschrieben werden soll, wird nicht vollständig geklärt. Letztlich verbleibt im Konzept der Propositionen ein offener Raum, der durch pragmatische Analogien überbrückt wird. Die von Wiehl korrekt erkannte heuristische Komponente der organistischen Philosophie kommt im Propositionskonzept als implizites Gestaltungsmerkmal besonders deutlich zur Geltung und ermöglicht dessen breit aufgefächertes Aufgabenspektrum.
2.5 Bewusstsein 2.5.1 Hinführung zum Bewusstseinsbegriff In der Gegenwartsphilosophie nimmt der Bewusstseinsbegriff eine zentrale Position ein. Sowohl in der Philosophie des Geistes und der interdisziplinären Debatte mit den Neurowissenschaften als auch in Schnittbereichen mit der Psychologie ist er ein wichtiger Bestandteil der Diskursterminologie. Wenn Whitehead den Begriff des ›Bewusstseins‹ (consciousness) 154 also in seiner organistischen Philosophie verwendet, stellt er damit Anknüpfungspunkte zu vielen Bereichen der modernen Philosophie her. Der Ursprung des Begriffs liegt im lateinischen conscientia und wird erst in der Neuzeit in die englische bzw. deutsche Sprache eingeführt (das englische ›consciousness‹ im 17. Jahrhundert und das deutsche ›Bewusstsein‹ im 18. Jahrhundert). Während das lateinische con154 Die Wortbedeutungen von ›Bewusstsein‹ und ›consciousness‹ sind sich sehr ähnlich, dennoch bestehen feine Unterschiede. Während ›awareness‹ und ›perception‹ – also Wahrnehmungs- bzw. Aufmerksamkeitsbegrifflichkeiten – eine große Nähe zu Begriff der ›consciousness‹ besitzen, ist der deutsche Bewusstseinsbegriff weniger eng mit der Sinneswahrnehmung verbunden. Die etymologische Verbindung mit dem Begriff des ›Wissens‹ ist beiden Worten jedoch gemein.
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scientia neben der Bedeutung von ›Mitwissen‹ zugleich noch die des ›Gewissens‹ hat, ist der moderne Bewusstseinsbegriff frei von ethischmoralischen Dimensionen. 155 Zugleich nutzen verschiedene Bereiche der aktuellen Philosophie das Bewusstsein in jeweils eigener Weise und mit spezifischem Begriffsverständnis. Denker, die sich vorrangig mit der in die Psychologie und Psychoanalyse hinüberspielenden Topik der menschlichen Psychodynamik beschäftigen, sehen das Bewusstsein vor allem als einen besonders privilegiert der Analyse zugänglichen Teil der aus hauptsächlich unbewussten Prozessen bestehenden menschlichen Erfahrungswelt an. 156 Auch die Phänomenologie, die den Bewusstseinsbegriff zentral verwendet, hat sich in der Auseinandersetzung mit der Psychologie ihrer Zeit entwickelt. 157 Die Philosophie des Geistes – die im englischsprachigen Raum als »philosophy of mind« ein terminologisch und thematisch ziemlich festgefügtes Forschungsfeld beschreibt – verwendet den Bewusstseinsbegriff in zentraler Position. Bewusstsein wird vor allem als mentaler Zustand begriffen, und innerhalb der Untersuchung mentaler Funktionen verwenDas englische ›conscience‹ liegt zwar nahe an ›consciousness‹, ist aber ein eigener Begriff. Im Deutschen beschreibt zwar Wilhelm Dilthey das Gewissen als ›moralisches Bewusstsein‹ : Vgl. seine Schrift Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins in: Dilthey (1924), S. 1–55. Damit wirkt er jedoch keineswegs traditionsbildend, sondern konstituiert vielmehr eine Ausnahme von der üblichen Trennung der Begriffe ›Bewusstsein‹ und ›Gewissen‹. 156 Zur Verbindung der Psychotherapie mit philosophischen Grundlagen vgl. aktuell etwa Fischer (2007). Zwar sind weder der Bewusstseinsbegriff noch der Begriff des Unbewussten eine Erfindung der Psychologie oder der Psychoanalyse, doch ist unbestreitbar die Erhebung des Gegensatzes ›bewusst/unbewusst‹ zum Verständnisparadigma des menschlichen Geistes im 20. Jahrhundert zu einem erheblichen Teil auch ihrer Popularisierung in diesen Fachdisziplinen geschuldet. 157 Der philosophische Ansatz Edmund Husserls, dem Vater der Phänomenologie, ähnelt dem Whiteheads insofern, als es kein bloßes Subjekt und kein bloßes Objekt gibt, sondern stets eine intentionale Verbindung – den Akt der Noesis, der ›Bewusstwerdung‹ – zwischen beiden. Auch Husserls Denken ist fundamental erfahrungsbasiert, und der Bewusstseinsbegriff bezeichnet jeden Erfahrungsakt: »Jedes ›Erlebnis‹ im prägnanten Sinn ist innerlich wahrgenommen. (…) Dieses gegenwärtige, jetzige, dauernde Erlebnis ist schon, wie wir durch Blickänderung finden können, eine ›Einheit des inneren Bewusstseins‹, des Zeitbewusstseins, und das ist eben ein Wahrnehmungsbewusstsein. ›Wahrnehmen‹, das ist hier nichts anderes als das zeitkonstituierende Bewusstsein mit seinen Phasen der fließenden Retentionen und Protentionen« (Husserl (1969), S. 127). Aktuell hat Hermann Schmitz eine Untersuchung zum Bewusstseinsbegriff vorgelegt, die den Begriff aus der Perspektive der Neuen Phänomenologie umfassend in seiner komplexen Funktionsvielfalt bestimmt: Vgl. Schmitz (2010). 155
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Bewusstsein
det. 158 Die stark an medizinischen Erkenntnissen orientierte Diskussion bezieht aktuelle neurowissenschaftliche Erkenntnisse in die Debatte mit ein und versucht, Bewusstsein als einen quantifizierbaren Faktor im Gesamtzusammenhang eines naturwissenschaftlich beschreibbaren psycho-physischen Gesamtzusammenhanges darzustellen.
2.5.2 Einflüsse auf Whiteheads Bewusstseinsentwurf Whiteheads Philosophie entstand in einer Zeit, in der sich ein fundamentaler Wandel in der philosophischen Landschaft abzeichnete. Populär war um die Jahrhundertwende die oft als auf Hegels Idealismus beruhend verstandene Schule des britischen Idealismus, die von Denkern wie Francis Herbert Bradley – von Whitehead immerhin im Vorwort von Prozeß und Realität als Einfluss angegeben – oder John McTaggart und in den Vereinigten Staaten näherungsweise von Josiah Royce vertreten wurde. Im absoluten Idealismus Hegel’scher Prägung ist der Geistesbegriff, dessen Aktivität sich auf der Ebene bewusster Rationalitätsentscheidungen entfaltet, der zentrale Faktor, um die menschliche Erfahrungswelt und die Wissenschaften in einer kohärenten Einheit des Absoluten zusammenzuführen. Dieses Bewusstseinsverständnis universalisiert, da es über den Menschen hinaus zugleich als bis in den Weltgeist hinein zentrales Strukturmerkmal dienen soll, eine anthropologische Geistesqualität zu einer ontologischen Bedeutung. Hier setzt die philosophische Gegenbewegung zum modernen Idealismus an, die heute unter dem Begriff des Pragmatismus gefasst wird. 159 William James, der als Vertreter der zu seiner Zeit jungen Disziplin der Psychologie ebenso wirkmächtig geworden ist wie als Philo158 Die Literatur zu dieser Form des Umgangs mit dem Bewusstseinsbegriff ist viel zu umfangreich, um hier detailliert aufgeführt werden zu können. Eine gute Übersicht über das Thema bietet das Standardwerk von Thomas Metzinger: Vgl. Metzinger (2005). 159 Die Abkehr vom Idealismus der Jahrhundertwende hat mehrere Gesichter, auch die Anfänge der analytischen Philosophie, die maßgeblich von Bertrand Russell und George Edward Moore begründet wurde, liegen in der Ablehnung idealistischer Prinzipien begründet. Allerdings ist in der ursprünglichen Konzentration der analytischen Philosophie, die Whitehead beeinflusst haben könnte, auf sprachphilosophische und logisch-mathematische Aspekte kaum eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Bewusstseinsbegriff erkennbar. Die moderne philosophy of mind ist jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der analytischen Philosophie hervorgegangen.
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soph, legt seinem Denken ein ganz anders geartetes Paradigma menschlicher Geistestätigkeit zugrunde. Er verwendet nämlich den mehr als nur die bewusste Rationalitätsentscheidung beinhaltenden Erfahrungsbegriff, der aus der zeitgenössischen Psychologie stammende Impulse aufnimmt und den emotionalen Aspekt der Erfahrung als fundamentalen Bestandteil des menschlichen Erlebens versteht. Bewusstsein ist keine eigenständige geistige Substanz mehr, sondern ist zu einer Funktion der menschlichen Erfahrung unter mehreren geworden. 160 Whitehead übernimmt diesen Ansatz von James und billigt James’ Text Does ›Consciousness‹ Exist? 161 einen epochalen Stellenwert zu, dessen Bedeutung als neue Paradigmen für die künftige Philosophie einführende Schrift sich kaum abschätzen lasse (vgl. SMW, 143/167). Wenn Whitehead in der Philosophie der Moderne überhaupt einzelne Wegmarken herausstellen möchte, so wären dies Descartes als Entdecker der Subjektivitätsphilosophie und William James als der Initiator der auf dem Konzept radikaler Erfahrung basierenden Philosophie. Tatsächlich vergleicht er in der Passage, in der er seine Hochachtung vor James’ Bewusstseinsschrift artikuliert, den Fortschritt der Philosophie von Descartes bis zu James mit besonderem Augenmerk auf dem eine geistige und eine körperliche Substanz unterscheidenden Substanzdualismus, welchen er durch James’ erweiterten Erfahrungsbegriff überwunden sieht. 162 Dem Bewusstsein kommt keine eigenständige Substanz mehr zu, sondern eine Funktion innerhalb des umfassenden Erfahrungsbegriffs, und Whitehead zitiert James wörtlich: »Diese Funktion ist das Erkennen [knowing]« (SMW, 144/168). Wenige Seiten später beschreibt er seinen eigenen Bewusstseinsbegriff in fast identischer Formulierung: »Bewußtsein wird also die Funktion
Die in Teilen der philosophy of mind verbreitete Vorgehensweise, das Bewusstsein zu einer Funktion des Gehirns zu erklären, unterscheidet sich maßgeblich von dem von James und Whitehead vertretenen Verständnis des Bewusstseins als Funktion der Erfahrung: Als Funktion des Gehirns wäre das Bewusstsein wiederum nur ein Phänomen eines durch physikalistischen Reduktionismus geprägten Substanzverständnisses. 161 Vgl. James (1981), S. 3 ff. 162 Dieser Vergleich wurde in der Forschung im Rahmen von Whiteheads Auseinandersetzung mit der – vor allem cartesischen – Substanzmetaphysik behandelt (vgl. Kann (2001), S. 161 f.). Die Bedeutung der Übernahme von James’ Position für Whiteheads Erfahrungsbegriff wird von David Ray Griffin behandelt: Vgl. Griffin (2007), S. 61 f. 160
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des Erkennens [knowing] sein.« (SMW, 151/176) Die Anknüpfung an James ist offensichtlich.
2.5.3 Der Bewusstseinsbegriff außerhalb von Prozeß und Realität Der Bewusstseinsbegriff wird nicht nur in Prozeß und Realität thematisiert, sondern begleitet Whiteheads philosophische Entwicklung bereits in früheren Schriften und findet, über das Gesamtwerk verteilt, in unterschiedlichen Kontexten und Relationen Verwendung, wenngleich er dort zumeist nur als Teil der wissenschaftlichen Methode erwähnt oder am Rande abgehandelt wird. Bereits die Argumentationslinie in Der Begriff der Natur behandelt die Verschiedenartigkeit der menschlichen Geistesaktivitäten – zusammengefasst unter ›Geist‹ (mind) –, wenngleich Whitehead sich gezielt von dem Bereich der Metaphysik distanziert und seinen Text als Naturphilosophie verstanden haben will. 163 Auch ist der Bereich des menschlichen Denkens kein Hauptgegenstand der Untersuchung, wird jedoch als wichtig genug erachtet, um ihn in der methodischen Einführung zu thematisieren. Die später für die organistische Philosophie strukturbildende Unterteilung der menschlichen Wahrnehmung in Sinneswahrnehmung und Denken ist bereits in Whiteheads methodischen Überlegungen zur Naturphilosophie erkennbar: Das Denken [thought] über Natur ist etwas anderes als die Sinneswahrnehmung (sense-perception) der Natur. Daher beinhaltet die Tatsache der Sinneswahrnehmung einen Faktor, der nicht gedanklich ist. Ich nenne diesen Bestandteil das sinnliche Bewußtsein (sense-awareness). […] Wir denken ›homogen‹ über die Natur, wenn wir, ohne über das Denken oder das sinnliche Bewußtsein nachzudenken, über sie nachdenken, und wir denken ›heterogen‹ über die Natur, wenn wir in Verbindung mit dem Denken, dem sinnlichen Bewußtsein oder in Verbindung mit beiden über sie nachdenken. (CN, 4 f./7 f.)
Die englischen Begriffe consciousness und awareness sind nicht völlig synonym, ähneln sich jedoch sehr. Von Bewusstsein als einer maßgeblichen Struktur höherer Geistestätigkeit ist in dieser Passage keine Rede, vielmehr scheint das sinnliche Bewusstsein ein spezifisches Erken163 Diesen naturphilosophischen Ansatz von Der Begriff der Natur unterstreicht Alfred Taylor in einer Rezension von Whiteheads Buch: Vgl. Taylor (1921).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
nen der eigenen Sinneswahrnehmungen als Sinneswahrnehmungen zu bezeichnen. Die Aktivität des Denkens ähnelt den in Prozeß und Realität eingeführten bewussten Empfindungen; homogenes Denken soll eine direkt sich auf die Natur richtende Form der Geistesaktivität verkörpern, wohingegen heterogenes Denken stets eine Selbstreflexionsstufe oder einen Aspekt der frei assoziativen Phantasie beinhaltet. Diese strikte ›Sachbezogenheit‹ des homogenen Denkens erlaubt sich Whitehead, weil er sich in Der Begriff der Natur explizit als Naturphilosoph versteht, der von den Naturwissenschaften die Eigenschaft der Welt, »abgeschlossen dem Denken verfügbar zu sein« (CN, 3/6), übernimmt. In seinen späteren Schriften, in denen der Schritt zur Metaphysik vollzogen ist und der Erfahrungsbegriff wesentlich fundamentaler aufgefasst wird, eignet sich die bloße Einteilung des Denkens in eine homogene, auf eine abgeschlossen sich darbietende Natur gerichtete und eine heterogene, selbstreflexive und imaginative Erfahrungsstrukturen des beobachtenden Menschens berücksichtigende Seite nicht mehr als einfache Möglichkeit zur Kategorisierung der menschlichen Geistesaktivitäten. Explizit thematisiert wird der Bewusstseinsbegriff in Wissenschaft und moderne Welt, wobei das entsprechende Kapitel Wissenschaft und Philosophie sich hauptsächlich mit dem Aspekt der Relation von Geist und Körper – von Whitehead wissenschaftlich als »Relation der Psychologie zur Physiologie« (SMW, 150/175) bezeichnet – beschäftigt. Die Entwicklung der Wissenschaften von Descartes bis zu James steht im Hauptfokus der Untersuchung, und die Beschreibung des Bewusstseins als Funktion des Erkennens wird nicht genauer auf den Bereich der menschlichen Erfahrung hin spezifiziert, sondern bleibt insgesamt vage. Die allgemeine Beschreibung des ›Ereignisses‹ (event), unschwer als das Konzept des wirklichen Einzelwesens erkennbar, wird auf der kosmologischen Ebene als ontologische Grundeinheit des Universums untersucht. Ob Whitehead das Bewusstsein über dessen allgemeine Eigenschaft der Funktion des Erkennens 164 hinaus als 164 ›Function of knowing‹ lässt sich als ›Funktion des Erkennens‹, aber auch als ›Funktion des Wissens‹ übersetzen. Auf den Wissensaspekt, der etymologisch in ›Be-WusstSein‹ ebenso wie im englischen ›con-scious-ness‹ bereits enthalten ist, geht Whitehead inhaltlich nicht näher ein. Letztlich scheint die Übersetzung mit ›Funktion des Erkennens‹ gerechtfertigt zu sein, da hierin eine Aktivität ausgedrückt wird, wohingegen ›Funktion des Wissens‹ sich nach einem beinahe passiven Wissenszustand anhört und die Aktivität des mentalen Pols ignoriert.
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spezifische Form der geistigen Aktivität, die nur wenigen Organismen eigen ist und sich in Abgrenzung von einem allgemeinen Erfahrungsbegriff verstehen lässt, auffasst, ist fraglich. Vielmehr werden Kognition und Bewusstsein in impliziter struktureller Anlehnung an das abstrakte Konstrukt des Prozessereignisses behandelt: Die primäre Situation, die in der kognitiven Erfahrung enthüllt wird, ist das ›Ich-Objekt unter Objekten‹. […] Das Ich-Objekt als bewußtes Hier und Jetzt ist sich seines Erfahrungswesens bewußt, das durch sein inneres Bezogensein auf die Welt der Realitäten und der Ideen konstituiert wird. (SMW, 151 f./ 177 f.)
Offensichtlich soll der Phänomenbereich der menschlichen Erfahrungsmodi in Wissenschaft und moderne Welt lediglich als peripheres Thema behandelt werden. Interessanterweise sind die Schriften, die sich mit ursprünglich eindeutig aus der Sphäre menschlicher Erfahrungen stammenden Konzepten befassen, fast völlig frei von Beschreibungen des Bewusstseins: In Kulturelle Symbolisierung wird die höhere Wahrnehmung im Modus symbolischer Referenz dargestellt, ohne eine strukturelle Verknüpfung mit dem Bewusstseinsbegriff anzustellen. Vor allem aber ist Die Funktion der Vernunft eine Abhandlung über den Vernunftbegriff in seinen verschiedenen Formen, ohne das Bewusstsein als traditionellen Ort rationaler Überlegungen wirksam in die Diskussion miteinzubeziehen. Der Grund dafür mag in der Intention beider Werke liegen, die jeweils ein bestimmtes Konzept in einer von den metaphysischen Grundlagen bis zu zivilisationsgesellschaftlicher Relevanz reichenden Wirkungsbreite darstellen wollen und deshalb bemüht sind, Vergleichslinien von den fundamentalen Grundannahmen bis in die höchsten Ebenen von Kultur und Wissenschaft zu ziehen, anstatt einem Phänomen der menschlichen Erfahrungswelt nachzugehen.
2.5.4 Der Bewusstseinsbegriff in Prozeß und Realität 2.5.4.1 Die subjektive Form als Kontrast zwischen Affirmation und Negation Eine detaillierte konzeptionelle Ausarbeitung des Bewusstseins bietet Whitehead in Prozeß und Realität an, deren Nuancenreichtum nachzuvollziehen eine Untersuchung mit einem feinen Körnungsgrad ver233 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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langt. Bereits der Darstellungskontext in Prozeß und Realität weist auf die Form hin, die das Bewusstseinskonzept in der organistischen Philosophie einnehmen soll. In der Aufgabenstellung auf der ersten Seite von Prozeß und Realität wird Bewusstsein als integrale Eigenschaft unserer Erfahrungswelt, die einer philosophischen Interpretation zugrunde liegt, verstanden: »Mit diesem Begriff der ›Interpretation‹ meine ich, daß alles, dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind, den Charakter eines besonderen Falles im allgemeinen Schema haben soll.« (PR, 3/31) Natürlich ist damit nicht die metaphysisch fundamentale Erfahrungskonzeption der wirklichen Einzelwesen gemeint. Whitehead spricht hier von unserer, der philosophischen Analyse offenstehenden, Erfahrung. Diese ist ein Sonderfall des allgemeinen Erfahrungsbegriffs, der in besonders komplexen wirklichen Einzelwesen bis zu bewussten Empfindungen führen kann, aber nicht muss: Das von mir angenommene Prinzip lautet, daß Bewußtsein zwar Erfahrung voraussetzt, Erfahrung aber nicht Bewußtsein. Dieses ist ein spezielles Element in den subjektiven Formen einiger Empfindungen. Daher kann sich ein wirkliches Einzelwesen einiger Teile seiner Erfahrung bewußt sein oder auch nicht. Seine Erfahrung ist seine vollständige Beschaffenheit, und dazu gehört gegebenenfalls auch das Bewußtsein. (PR, 53/115)
Das Erfahrungskonzept der organistischen Philosophie streng dualistisch in einen nichtbewussten und eine bewussten Teil zu trennen, um die niedrigen von den höheren Erfahrungen zu unterscheiden, wäre allerdings vorschnell. Whitehead erachtet das Bewusstsein als einen Faktor der höheren Geistestätigkeit. Andere Faktoren benennt er, wenn er für seine Philosophie die Annahme ablehnt, »daß die grundlegenden Elemente der Erfahrung nur mit Hilfe der drei Bestandteile Bewußtsein, Denken und Sinneswahrnehmung beschreibbar sind.« (PR, 36/ 88) Die Dynamik der Erfahrung geht von unbewussten Empfindungen aus und führt von diesen bis zum Bewusstsein. Der Beginn und die Ursache von Bewusstsein liegt stets im Unbewussten. Ein Aspekt der Erfahrung taucht sowohl in propositionalen wie auch in bewussten Empfindungen auf und bildet eine Konstante der Erfahrungsstruktur auf dem Weg zu höheren Formen der Geistestätigkeit: Die unmittelbaren physischen Empfindungen der Vorwelt, durch welche das Subjekt die Realität im Modus der kausalen Wirksamkeit wahrnimmt, werden in späteren Phasen höherer Erfahrungsformen wiedererinnert. 234 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Bewusstsein
Bereits in propositionalen Empfindungen entsteht das Prädikat aus der sogenannten ›physischen Wiedererinnerung‹ (physical recollection). 165 Für bewusste Empfindungen gilt diese von Whitehead explizit mit Platons Konzept der anámnêsis verglichene Erfahrungseigenschaft in noch verstärktem Maße: »Bewußtsein ist immer von einem Moment der Erinnerung begleitet. Es erinnert frühere Phasen aus den dunklen Tiefen des Unbewußten.« (PR, 242/442) Die zu Bewusstsein führende Kontrastierung eines propositionalen Empfindens mit der Realität trägt also in ihrer subjektiven Form die Dynamik einer »aus den dunklen Tiefen des Unbewußten« ins Licht der bewussten Betrachtung erhobenen Geistesaktivität. Whitehead sieht eine Analogie zwischen dieser recht formal beschriebenen Erfahrungsdynamik und der Weise, in der wir Menschen Erkenntnisse gewinnen. Erstreckt sich der Weg zur Erkenntnis über einen längeren Zeitraum hinweg, ist der Zusammenhang zwischen der abstrakten Theorie wirklicher Einzelwesen und dem Menschen evident: Wenn wir die Gesellschaft von aufeinander folgenden wirklichen Einzelwesen auf dem historischen Weg betrachten, der das Leben eines dauerhaften Objekts bildet, kann es einigen der früheren wirklichen Einzelwesen an Erkenntnis mangeln und einige spätere können über Erkenntnis verfügen. Dann ist der unwissende Mensch wissend geworden. In dieser Schlußfolgerung steckt nichts Überraschendes; den meisten von uns passiert etwas derartiges täglich, wenn wir nachts schlafen und morgens aufwachen. (PR, 161/ 300 f.)
Whitehead gestaltet diese Analogie inhaltlich nicht weiter aus, dennoch ist die Dynamik der aus den dunklen Bereichen des Unbewussten ins Bewusstsein gelangenden Erkenntnis offensichtlich nicht bloß eine Struktur seines metaphysisch fundierten Erfahrungskonzepts, sondern aus der Beobachtung der menschlichen Lebenswelt abgeleitet. Die for165 Im Propositionskapitel spricht Whitehead noch von ›physical recognition‹ (vgl. PR, 260/475), von Holl übersetzt mit ›physisches Wiedererkennen‹. Im sich anschließenden Bewusstseinskapitel hat sich die Terminologie dann zu ›physical recollection‹ (Holl: ›physische Wiedererinnerung‹) (vgl. z. B. PR, 272/495) geändert, obwohl der identische Sachverhalt gemeint ist. Da im Bewusstseinskapitel der Begriff öfter verwendet wird, Whitehead offensichtlich (vgl. PR, 242/442) tatsächlich von einer Struktur des Wiedererinnerns im Sinne eines Wieder-Inne-Werdens bereits früherer Konkreszenzphasen ausgeht und diese Struktur sogar mit Platons Konzept der anámnêsis vergleicht, wird konsequenterweiser im Fortgang der Begriff der ›physischen Wiedererinnerung‹ benutzt.
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male Definition der Bewusstseinsstrukturen in Prozeß und Realität ist erstaunlich einfach. Whitehead bemerkt in der xiii. Kategorie der Erklärung, dass »es viele Arten von subjektiven Formen gibt, wie zum Beispiel Gefühle, Wertungen, Zwecksetzungen, Zuneigung, Abneigung, Bewußtsein usw.« (PR, 24/67) Bewusstsein wird also als eine bestimmte qualitative Form des emotionalen Musters des Subjekts aufgefasst, nicht als formales Strukturmerkmal der Erfahrung. 166 So, wie Gefühle (emotions), Wertungen, Zuneigung und Abneigung Ausdruck des lebendigen, erfahrenden Subjektivitätscharakters des Werdensprozesses sind, soll auch Bewusstsein verstanden werden als eine Funktion innerhalb der lebendigen Erfahrungswelt höherer wirklicher Einzelwesen. Dabei ist jedoch das Bewusstsein nicht etwa ein Strukturmerkmal des Erfahrungsprozesses unter vielen. Vielmehr dient es Whitehead als Hauptdistinktionsmerkmal, um innerhalb seines allgemeinen Erfahrungsbegriffes die höchste von verschiedenen qualitativen Stufen, in die die Erfahrung unterteilt werden kann, zu definieren: In der wirklichen Welt erkennen wir vier Stufen von wirklichen Ereignissen, die nicht scharf voneinander unterschieden werden können. Zuerst haben wir als unterste Stufe die wirklichen Ereignisse im sogenannten ›leeren Raum‹ ; zweitens die wirklichen Ereignisse, die Momente in der Lebensgeschichte dauerhafter, nicht lebender Objekte sind, wie Elektronen oder andere einfache Organismen; drittens sind da die wirklichen Ereignisse, die Momente in den Lebensgeschichten dauerhafter lebender Objekte darstellen; viertens die wirklichen Ereignisse, die Momente in den Lebensgeschichten dauerhafter Objekte mit bewußter Erkenntnis sind. […] Die vierte Stufe ist mit der kanalisierten Wichtigkeit freier begrifflicher Wirkungsweisen gleichzusetzen, in deren Rahmen blinde Erfahrung durch Vergleich mit der phantasievollen Realisierung reiner Potentiale analysiert wird. Auf diese Weise wird die Erfahrung durch die gemeinsame Operation des phantasievollen Erlebens und des Urteils mit Bezug auf die relative Wichtigkeit ihrer Bestandteile reorganisiert. (PR, 177 f./331 f.)
166 Vgl. auch Griffin (2007), S. 65 ff. Der Umstand, dass Bewusstsein eine subjektive Form ist, also nicht nur eine formale Funktion hat, sondern immer auch mit einem qualitativen wie? empfunden wird, wird in der Forschungsliteratur häufig nicht ausreichend betont. Dorothy Emmet etwa behandelt bewusste Empfindungen lediglich in ihrer Kapazität, Urteile für Propositionen zu sein, und reduziert sie damit auf den Status einer bloßen Funktion im Zusammenhang logischer Analyse, wobei sie den Unterhaltungscharakter der Propositionen sehr wohl herausstellt (vgl. Emmet (1966), S. 165 ff.).
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Bewusstsein
Ganz offenkundig ist das Bewusstsein für Whitehead in gewisser Hinsicht der Kulminationspunkt der Erfahrung, da in ihm das ursprünglich ›blinde‹ Empfinden die Fähigkeit der bewussten Analyse erwirbt und urteilsfähig wird. Zugleich soll das Bewusstsein auch ein ›phantasievolles Erleben‹ (imaginative enjoyment) sein. Die qualitativen Erfahrungsaspekte, die für ihn in den ›höheren Phasen der Erfahrung‹ auf die Spitze gebracht werden, sind hier bereits klar umrissen. Bewusstsein besteht für ihn in der Kombination imaginativ-freier und analytisch-rationaler Momente zu einer intensiven Gesamterfahrung, der im Prozess die ›Funktion des Erkennens‹ zukommt. Systematisch ausformuliert wird die Konzeption des Bewusstseinsbegriffs am Ende des dritten Teils von Prozeß und Realität, der die ›Theorie des Erfassens‹ darstellt, also die Theorie der verschiedenen Formen der Erfahrung, die sich in der genetischen Analyse des Prozesses ergeben und in dem finalen Konzept der bewussten Empfindungen kulminieren. Die Phase des Bewusstseins wird auch unter »die höheren Phasen der Erfahrung« subsumiert und bewusste Empfindungen werden als ›intellektuelle Empfindungen‹ (intellectual feelings) bezeichnet. Schon an der terminologischen Vielfalt wird deutlich, dass Whitehead in diesem Konstrukt versucht, ein Bündel aus vielen Interessen zu schnüren. Intellektuelle Empfindungen sind, ihrer Struktur nach, auf propositionalen Empfindungen aufbauende Folgeempfindungen, die aus der Kontrastierung eines propositionalen Empfindens mit der Realität die subjektive Form des Bewusstseins erhalten. Whitehead definiert diese subjektive Form deutlich: Es ist das qualitative Erleben des prononcierten Kontrasts von Wirklichkeit und Möglichkeit, »der Kontrast zwischen ›tatsächlich‹ und ›könnte sein‹« (PR, 267/485), der als der Kontrast »zwischen Affirmation und Negation« (affirmation-negation-contrast) (PR, 267/485) bezeichnet wird. Der Kontrastbegriff ist in der organistischen Philosophie omnipräsent, da er jeden Vergleich und jeden Bezug einzelner Empfindungen aufeinander bezeichnet. Innerhalb des aufgrund seines umfassenden Anwendungsbereichs formlos zu werden drohenden Kontrastbegriffs unterscheidet Whitehead jedoch in seinen ›Kategorien der Erklärung‹ sehr deutlich die Wichtigkeit der einzelnen Arten von Kontrasten: Für den ›menschlichen Verstand‹ genügt es praktisch, einige Grundtypen der Existenz zu untersuchen und die abgeleiteten Typen unter dem Stichwort
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
›Kontraste‹ zusammenzufassen. Der wichtigste dieser Kontraste besteht zwischen ›Affirmation‹ und ›Negation‹. (PR, 24/68)
Auch der Kontrastbegriff der organistischen Philosophie wird offenkundig mit der menschlichen Erfahrungswelt als Strukturvorbild gestaltet, ohne jedoch einen expliziten Anthropomorphismus erkennen zu lassen. Nachdem das Propositionskonzept zuvor relativ formal vorgestellt worden ist, geht der Bewusstseinsentwurf in Prozeß und Realität wieder zentral auf die Qualität des Erlebens ein. Im AffirmationsNegations-Kontrast wird der Unterschied zwischen der direkten Wahrnehmung der Welt, die sich in einer blinden Affirmation der Wirklichkeit äußert, und der hypothetischen Aussage über die Welt, in der die unmittelbare Evidenz der Wirklichkeit zugunsten eines möglicherweise wahren propositionalen Empfindens negiert wird, thematisiert. Das bewusst empfindende Subjekt fühlt in einem Empfinden zugleich die tatsächliche Realität, die bloß resultativ zur Kenntnis genommen wird, und die Spekulation über mögliche Seinsformen, die der Realität zukommen könnten, obwohl keine Gewissheit über ihren tatsächlichen Realitätsstatus besteht. Gelingt es dem Subjekt, einen kompatiblen Kontrast zwischen beiden Empfindungsformen herzustellen, so resultiert daraus ein Empfinden, das die Realität nicht nur unmittelbar-affirmativ aufnimmt, sondern die Welt als das, was sie ist, erkennen und hypothetische Möglichkeiten und Alternativen zum Bestehenden im Kontext mit dem wirklich Bestehenden erwägen kann. Das Bewusstsein wird so auch als die ›Funktion des Erkennens‹ verständlich. Die strukturelle Beschreibung bewusster Empfindungen baut direkt auf propositionalen Empfindungen auf und mutet recht abstrakt und formal an; ein intellektuelles Empfinden – also eine bewusste Empfindung – ist die erneute Kontrastierung eines propositionalen Empfindens mit denjenigen Elementen der Realität, die bereits die logischen Subjekte des propositionalen Empfindens bilden. Diesen direkten Zusammenhang meint Elizabeth Kraus, wenn sie das Propositionskonzept der organistischen Philosophie als »Prolegomenon to a Theory of Judgment« bezeichnet. 167 Kraus argumentiert, Whiteheads Entwurf der Propositionen sei seinem Sinn nach darauf ausgerichtet, in bewusste Urteile zu münden. Ontologisch zutreffend ist die umgekehrte Abhängigkeit: Während propositionale Empfindungen nicht in späteren 167
Vgl. Kraus (1979), S. 87.
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Bewusstsein
intellektuellen Empfindungen kulminieren müssen, können bewusste Empfindungen nur aus propositionalen Empfindungen hervorgehen. Die komplexe Struktur der bewussten Empfindungen reflektiert dieses Verhältnis: Ein propositionales Empfinden generiert seine logischen Subjekte aus einem ›bezeichnenden Empfinden‹, sein Prädikat aus der ›physischen Wiedererinnerung‹. Wenn das bezeichnende Empfinden und die physische Wiedererinnerung den gleichen Nexus der Vorwelt als Datum haben, ist das propositionale Empfinden ein ›wahrnehmendes Empfinden‹. Unterscheiden sich die beiden Nexūs, ist das propositionale Empfinden ein ›vorstellendes Empfinden‹. Sowohl im bezeichnenden Empfinden wie in der physischen Wiedererkennung können begriffliche Umkehrungen und Umwandlungen beteiligt sein, was zu der weiteren Binnenunterteilung in authentische und unauthentische sowie direkte und indirekte authentische Empfindungen führt. In einem bewussten Empfinden wird dieses abschließende propositionale Empfinden samt dem emotionalen Muster seiner subjektiven Form nochmals in einen Kontrast mit dem bezeichnenden Empfinden der propositionalen Empfindung gesetzt, die bloß möglicherweise wahre Aussage über die Welt also mit der Realität verglichen. Die Vielfalt der Formen propositionaler Empfindungen verlangt eine weitere Ausdifferenzierung der intellektuellen Empfindungen, um auf den Charakteristika der jeweiligen propositionalen Empfindungen eine angemessen nuancierte Bewusstseinstheorie aufbauen zu können. 2.5.4.2 Bewusste Wahrnehmungen Die intellektuellen Empfindungen, die auf der ›wahrnehmende Empfindungen‹ genannten Gruppe propositionaler Empfindungen aufbauen, nennt Whitehead ›bewusste Wahrnehmungen‹ (conscious perceptions). Dieser Terminus bezeichnet in Prozeß und Realität eine ganz bestimmte Erfahrungsform. Wenn er mit »Bewußtsein, Denken und Sinnesewahrnehmung« von höheren Formen der Erfahrung spricht, die für den fundamentalen Erfahrungsprozess nicht wesentlich sind, versteht Whitehead den Begriff der Sinneswahrnehmung in einer sehr klar umrissenen Weise: »Der letzte Terminus wird im Sinne von ›bewußter Wahrnehmung in Form der vergegenwärtigenden Unmittelbarkeit‹ verwendet.« (PR, 36/88) 168 Auf diese Weise erinnert die Klasse 168
Die presentational immediacy wird in Prozeß und Realität mit ›vergegenwärtigende
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
der ›bewusste Wahrnehmungen‹ genannten intellektuellen Empfindungen an die Wahrnehmungskonzeption, die Whitehead in Kulturelle Symbolisierung entwirft, ohne sie aber im Bewusstseinskapitel des dritten Teils von Prozeß und Realität zu erwähnen. Ist schon der Umstand bemerkenswert, dass die organistische Philosophie zwei strukturell voneinander völlig verschiedene Wahrnehmungskonzepte besitzt, so erstaunt Whiteheads Verzicht auf die als Form bewusster Wahrnehmungen verstandene präsentative Unmittelbarkeit in seiner Darstellung der ›bewussten Wahrnehmungen‹ besonders. Schließlich hat er im ersten Teil von Prozeß und Realität, wie gesehen, die Ebene der menschlichen Erfahrung mit dem Konstrukt der präsentativen Unmittelbarkeit beschrieben. Offensichtlich soll der Bereich der Sinneswahrnehmungen nicht identisch sein mit dem breiteren Konzept der Wahrnehmungen. Wahrnehmungen sind für Whitehead stets mehr als die bloß sinnliche – und in der Philosophie häufig auf die visuellen Reize beschränkte – Wahrnehmung, und so scheint es sinnvoll, die Sinneswahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit als Sonderfall der Klasse der bewussten Wahrnehmungen zu verstehen. Paul F. Schmidt schlägt gar vor, statt von ›bewusster Wahrnehmung‹ von ›bewusster Erinnerung‹ (conscious memory) zu sprechen, falls das intellektuelle Empfinden auf physischen Empfindungen im Modus der kausalen Wirksamkeit beruht, und nur dann von ›bewusster Wahrnehmung‹, wenn das intellektuelle Empfinden auch tatsächlich aus einer Sinneswahrnehmung im Modus der präsentativen Unmittelbarkeit hervorgeht. 169 Dieser Verbesserungsvorschlag macht zumindest auf eine Erklärungslücke des Konzepts der ›bewussten Wahrnehmung‹ aufmerksam: Wie die in Kulturelle Symbolisierung dargestellte Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezugs von kausaler Wirksamkeit und präsentativer Unmittelbarkeit mit der in Prozeß und Realität ausgewiesenen Struktur der bewussten Wahrnehmungen ausgedrückt werden könnte, lässt sich nicht eindeutig klären. Da in bewussten Wahrnehmungen die objektiven Daten aller beteiligten Empfindungen auf dem gleichen Nexus wirklicher Einzelwesen beruhen, können sie keine Wahrnehmungen im Modus des symbolischen Bezuges verschieUnmittelbarkeit‹ übersetzt, in der ausführlicheren Darstellung von Kulturelle Symbolisierung jedoch mit ›präsentative Unmittelbarkeit‹. Hier soll aus Gründen der Einheitlichkeit die zweite der beiden Übersetzungen verwendet werden. 169 Vgl. Schmidt (1958), S. 154 ff.
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dener Wahrnehmungsformen sein – die objektiven Daten der Wahrnehmungen im Modus der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit werden notwendigerweise von unterschiedlichen Nexūs gebildet. Sollte das zugrunde liegende physische Empfinden bereits ein symbolischer Bezug beider Wahrnehmungsformen sein, so beruhte folglich auch die bewusste Wahrnehmung auf einer Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezugs – aber das bewusste Empfinden wäre dennoch nicht der Ort, an dem diese symbolische Wahrnehmung entstünde. Stephen T. Franklin betont die generelle Verbindung des symbolischen Bezugs und des Bewusstseins besonders deutlich, auch wenn er die Unterschiede zwischen den Wahrnehmungskonzepten beider nicht genauer herausarbeitet. 170 Die formale Struktur der bewussten Wahrnehmungen ist einfach zu beschreiben. Ein propositionales Empfinden im Modus eines ›wahrnehmenden Empfindens‹ wird mit dem physischen Empfinden, das auf denjenigen objektiven Daten gründet, die auch seinem ›bezeichnenden Empfinden‹ und seiner ›physischen Wiedererinnerung‹ zugrunde liegen, kontrastiert. In diesem Kontrast wird also die unmittelbar-affirmative Wahrnehmung eines Nexus von Einzelwesen mit der Aussage, dass dieser Nexus hypothetischerweise so sein könnte, wie er ist, verglichen. Da die objektiven Daten, aus denen die physische Kontrastempfindung wie auch das Prädikat des propositionalen Empfindens hervorgehen, identisch sind, ist der inhaltliche Kontrast bestenfalls gering. Dennoch können in der Entstehungssequenz einer bewussten Wahrnehmung Entwicklungen stattfinden, die zu inhaltlichen Differenzen zwischen dem Prädikat des propositionalen Empfindens und dem physischen Kontrastempfinden führen; Whitehead spricht von »täuschenden Wahrnehmungen« (erroneous perceptions) (PR, 268/ 488). Diese Möglichkeiten der Täuschung, die eine vollständige inhaltliche Identität von »unmittelbaren Fakten« und deren »potentieller Ir170 Vgl. Franklin (1990), S. 210. Die sich aus der Gleichsetzung beider Konzepte ergebende Frage, ob symbolische Wahrnehmungen immer bewusst sind, kann Franklin nicht definitiv beantworten (vgl. Franklin (1990). S. 219). Die Theorie der Propositionen als vorbewussten Ort für Wahrnehmungen im Modus des symbolischen Bezugs behandelt er nicht ausreichend. Die Gleichsetzung von Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezugs und des Bewusstseins prägt auch die Herangehensweise von Joe Ray Burnett an die Bewusstseinstheorie der organistischen Philosophie: Vgl. Burnett (1958), S. 238. Auch Elizabeth Kraus versteht bewusste Wahrnehmungen grundsätzlich als symbolische Wahrnehmungen: Vgl. Kraus (1979), S. 120.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
relevanz« (PR, 268/488) verhindern können, beruhen auf den subtilen Binnendifferenzierungen, die Whitehead in der Darstellung der propositionalen Empfindungen vorgenommen hat. Die Unterteilung wahrnehmender Empfindungen in authentische und unauthentische Empfindungen und authetischer Empfindungen in direkte und indirekte authentische Empfindungen dient dazu, die verschiedenen Möglichkeiten anzugeben, welche die Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung haben, um zu der Entstehung von begrifflichen Alternativen, Erweiterungen und Neuerungen führen zu können. Bewusste Wahrnehmungen haben diese Formenvielfalt wahrnehmender Empfindungen zum Datum der einen Seite ihres Affirmations-Negations-Kontrastes. Deshalb gibt die formale Beschreibung der Struktur bewusster Wahrnehmungen auch keine hinreichende Auskunft darüber, wie sich das emotionale Muster der einzelnen bewussten Wahrnehmung ausgestalten mag. Grundsätzlich überwiegt in bewussten Wahrnehmungen das Gefühl einer Identität der Affirmation der Wirklichkeit mit ihrer Negation im Möglichkeitscharakter des propositionalen Empfindens. Das emotionale Muster betont die Seite der unmittelbaren Realitätsaffirmation: »Beim wahrnehmenden Empfinden spiegelt es die enge Verbindung von Prädikat und logischen Subjekten innerhalb des gesamten Entstehungsprozesses wieder.« (PR, 273/497) Doch diese Realitätsaffirmation mag möglicherweise im emotionalen Muster der bewussten Wahrnehmung in nur bedingter Weise stattfinden. Ist das wahrnehmende Empfinden, das sein Datum bildet, durch begriffliche Umkehrungen, Umwandlungen oder komplexe Kombinationen beider beeinflusst worden, so ist die bewusste Wahrnehmung nicht bloß ein passives Erfassen der eigenen Umwelt, sondern mehr noch ein Erfassen der Umwelt, das die bloße Wirklichkeit mit gedanklichen Alternativen kontrastiert. Ein auf diese Weise wahrgenommener Gegenstand der Umwelt wird nicht lediglich als faktisch gegeben empfunden, sondern darüber hinaus auch als Inhalt von Zwecksetzungen, von Entscheidungen und Handlungen. Eine Tasse ist in unserem Empfinden mitunter nicht lediglich ein bloß existierender Gegenstand, sondern ein Objekt, das wir zu benutzen trachten, nach dem zu reichen und aus dem zu trinken wir vorhaben können. 171 So wird eine bewusste Wahrnehmung durch die Beteiligung 171 Zu diesem Beispiel vgl. Pred (2005), S. 216. Obwohl Ralph Pred Whitehead lediglich in einem Teil seines Buches behandelt und sein Interesse letztlich auf die Neurobiologie
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begrifflicher Umkehrungen und Umwandlungen zugleich um Intentionen, Handlungen, symbolischen Verknüpfungen und Erinnerungen ergänzt. Whitehead erachtet die Vorstellung einer »reinen« Sinneswahrnehmung als eine Abstraktion von der Wirklichkeit, in welcher Wahrnehmungen zumeist auf einen reichen Empfindungshintergrund zurückgreifen können und in einem kognitiven Gesamtempfinden aufgehen. 172 Je intensiver die Einflüsse von begrifflichen Alternativen auf die bewusste Wahrnehmung sind, desto größer wird der inhaltliche Kontrast zwischen der Wirklichkeitsaffirmation und der Negation dieser unmittelbaren Realität in freien mentalen Assoziationen. Ein Gefühl von freier Vorstellung kontrastiert im emotionalen Muster mit dem Gefühl der bloß affirmativen Wirklichkeitswahrnehmung. 173 Ob eine komplexe bewusste Wahrnehmung die Wirklichkeit tatsächlich völlig korrekt ohne Abweichungen abbildet, ist für das empfindende Subjekt nur schwer eindeutig zu klären. Ein besonders intensiver Fokus des Bewusstseins oder eine restrospektive Überprüfung der Folgen in späteren wirklichen Einzelwesen können Sicherheit bringen; auf der Ebene des emotionalen Musters übernimmt Whitehead das pragmatische Kriterium Humes, Eindrücke und Wahrnehmungen nach ihrer »Stärke und Lebhaftigkeit« (PR, 269/490) zu bewerten. Deshalb ist die Reinform der bewussten Wahrnehmung, in der die Wirklichkeit mit einer »lebhaften Relevanz« (PR, 270/491) im emotionalen Muster affirmativ erfasst wird, der eindeutige Fall bewusster Wahrnehmungen. Von assoziationsreichen Alternativmustern begleitete bewusste Wahrnehmungen spielen, ihrer subjektiven Form nach, in den Bereich gerichtet ist, ist seine Behandlung des Whitehead’schen Bewusstseinsbegriffs eine der besten und vielseitigsten Interpretationen der höheren Erfahrungsebenen der organistischen Philosophie. 172 ›Kognition‹ soll hier nicht im terminologischen Bedeutungsumfang moderner Wissenschaften aufgefasst werden; Whitehead selber verwendet den Kognitionsbegriff in Prozeß und Realität überhaupt nicht (streng terminologisch: cognition bzw. cognitive werden in PR nicht ein einziges Mal gebraucht). Dennoch scheint das Kognitionsverständnis moderner philosophischer Strömungen Whiteheads Verständnis der höheren Formen der Geistestätigkeit durchaus zu ähneln. 173 Elizabeth Kraus sieht in dem Aspekt des Zusammenspiels von Wirklichkeit und Möglichkeit in Whiteheads Theorie der bewussten Wahrnehmung eine Parallele zu Henri Bergsons Wahrnehmungstheorie, die er in Matter and Memory darstellt, und betrachtet Whitehead gar als Ergänzung zu Bergson: »Whitehead’s notion of conscious perception, though less pragmatic than Bergson’s, supplies the ontological basis lacking in Bergson’s psychological account« (Kraus (1979), S. 120).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
der ›intuitiven Urteile‹ (intuitive judgments) hinüber. Das Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Gruppen bewusster Empfindungen – in einem Fall gehen logische Subjekte und das Prädikat der Proposition auf die gleichen objektiven Daten zurück, im anderen Fall auf zwei verschiedene – kann in Grenzfällen zu einem rein formalen Differenzierungskriterium werden, wenn die emotionalen Muster von bewussten Empfindungen und intuitiven Urteilen einander mehr ähneln mögen als den Reinformen der beiden jeweiligen intellektuellen Empfindungen. 2.5.4.3 Intuitive Urteile Richtet man sein Augenmerk auf die zweite Gruppe intellektueller Empfindungen, so fühlt man sich zunächst durch die Terminologie verwirrt. Diese zweite Gruppe intellektueller Empfindungen beruht auf denjenigen propositionalen Empfindungen, welche Whitehead ›vorstellende Empfindungen‹ nennt. Bei ihnen würde man, analog zum Ausdruck der ›bewussten Wahrnehmungen‹, die Bezeichnung ›bewusste Vorstellungen‹ (conscious imaginations) erwarten. Stattdessen wählt Whitehead den Terminus ›intuitive Urteile‹ (intuitive judgments); 174 ›bewusste Vorstellungen‹ werden ein spezieller Sonderfall der intuitiven Urteile sein. Die Funktion des Urteilens muss, in seinen Augen, eine der Erfahrungsqualität der Vorstellung gegenüber wichtigere Beschreibung dieser Gruppe bewusster Empfindungen liefern. Tatsächlich soll das Bewusstsein ja auf einer allgemeinen Beschreibungsebene eine Funktion des Erkennens sein; dieses ›Erkennen‹ (knowing) ist die Überprüfung der im propositionalen Empfinden ausgesagten Hypothese an der Wirklichkeit. Der Akt einer solchen Überprüfung ist ein ›Urteil‹ (judgment). Für Whitehead scheinen Urteile grundsätzlich den Charakter eines intuitiven Erfassens zu haben: Alle metaphysischen Theorien, die eine Trennung zwischen den in der individuellen Erfahrung enthaltenen Elementen einerseits und denjenigen der äußeren Welt andererseits zulassen, müssen unweigerlich mit der Wahrheit und Falschheit von Propositionen, sowie mit den Grundlagen des Urteils in Schwierigkeiten geraten. […] Die erste Schwierigkeit wirft die Frage nach der Erklärung von Wahrheit und Falschheit auf, die zweite die nach der Erklärung 174 Fetz (1981), S. 193, übersetzt ›intuitive judgment‹ mit ›Anschauungsurteil‹, was eine freiere Begriffsinterpretation ist.
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Bewusstsein
der intuitiven Wahrnehmung von Wahrheit und Falschheit. Jene betrifft Propositionen, diese Urteile. (PR, 189/352)
In diesem Zitat finden sich alle Begriffe wieder, die im dritten Teil von Prozeß und Realität zur Beschreibung der verschiedenen Klassen intellektueller Empfindungen dienen werden. Whitehead verwendet den Urteilsbegriff stellvertretend für alle bewussten Empfindungen, spricht jedoch von einem Urteil als einer »intuitiven Wahrnehmung von Wahrheit und Falschheit«. Offensichtlich sind die zwei Bewusstseinsformen der ›bewussten Wahrnehmungen‹ respektive ›intuitiven Urteile‹ keine kategorisch voneinander getrennten Erfahrungsmodi, sondern eher besondere Betonungen allgemein in bewussten Strukturen angelegter Eigenschaften. Dafür spricht auch die Sorgfalt, mit der Whitehead versucht, die zwei Klassen propositionaler Empfindungen, die objektive Daten einer intellektuellen Empfindung sein können, als bloß auf formaler Ebene klar unterschiedene Empfindungsformen eines kontinuierlichen Emotionsspektrums zu etablieren. Die bewussten Wahrnehmungen akzentuieren den Aspekt der wahrnehmenden, affirmativen Wirklichkeitsempfindung, die intuitiven Urteile den Aspekt der vorstellenden, kritischen Beurteilung hypothetischer Aussagen durch propositionale Empfindungen. Viele bewusste Empfindungen haben Anteil an beiden Aspekten des emotionalen Musters. Interessant ist der Intuitionsbegriff, der den intuitiven Urteilen zugrunde liegt. In für die organistische Philosophie typischer Weise wird keine eindeutige Begriffsdefinition gegeben, die Bedeutung der Intuition lässt sich nur aus dem Zusammenhang erschließen. Wie allerdings bei den meisten Termini der organistischen Philosophie, so kann auch bei der Intuition eine sorgfältige Begriffswahl durch Whitehead unterstellt werden. In der Philosophiegeschichte hat etwa Henri Bergson besonders prominent den Intuitionsbegriff behandelt und ihn als Gegenbegriff zur Methode der wissenschaftlichen Diskursivität konzipiert. 175 Whitehead entlehnt Bergsons Konzept der ›instinktiven Intuition‹, um die Empfindungen auf der Komplexitätsstufe propositionaler Empfindungen zu charakterisieren, in Unterscheidung von den einfachen physischen Empfindungen einerseits und den komplexen bewussten Empfindungen andererseits: »Wir unterscheiden also drei Stufen: Die rein physischer Zwecksetzung, die rein instinktiver 175
Vgl. Bergson (2008), S. 126 ff.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Intuition und die intellektueller Empfindungen.« (PR, 280/509) Wenngleich Bergson einigen Einfluss auf Whiteheads Denken hatte, so gibt Prozeß und Realität keinen Anhaltspunkt für die Vermutung, der Intuitionsbegriff werde als spezifisch in dieser besonderen Denktradition stehend behandelt. Auch Santayanas Intuitionsbegriff wird in Prozeß und Realität diskutiert und, in Whiteheads typischer Weise der lockeren Aneignung anderer philosophischer Positionen und Begriffe, als Beschreibungsform für das Erfahrungskonzept des eigenen philosophischen Entwurfs verwendet (vgl. PR, 142 f./269 f.). Vielmehr scheint Whitehead inhaltliche Verwandtschaften zu Bergson und Santayana zu erkennen, aber dennoch eine in seiner eigenen philosophischen Methode wurzelnde Intuitionsauffassung zu haben. Die aus dem Lateinischen stammende Bedeutung der intuitio als ›unmittelbare Anschauung‹ ist im modernen Begriffsverständnis immer noch präsent, wenn die Intuition als »das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines komplizierten Vorgangs« 176 verstanden wird. Auch die Methode der spekulativen Philosophie beruht darauf, gerade nicht von wohlreflektierten Vorstellungen auszugehen, sondern sich ganz unmittelbar auf die »konkretesten Elemente unserer Erfahrung« (PR, 18/57) zu beziehen: »Die spekulative Schule appelliert an die unmittelbare Einsicht und strebt danach, unter zusätzlicher Berufung auf Situationen, die solche besonderen Einsichten fördern, ihre Bedeutung anzuzeigen.« (MT, 173/201) 177 Reto Luzius Fetz setzt in seiner Whitehead-Interpretation die ›unmittelbare Einsicht‹ (immediate insight) in dieser Passage mit dem Begriff der Intuition gleich. 178 Die Methode der spekulativen Philosophie gründet in Whiteheads Grundüberzeugung, der unmittelbarste und damit am wenigsten abstrahierte Zugriff auf unsere Erfahrungswelt erfolge intuitiv; auch philosophisches Denken kann nicht darauf hoffen, ein allgemeines, umfassendes, von den Umständen seiner Formulierung unabhängiges Wissen zu formulieren, das aus mehr als »flüchtigen Einsichten (intuitions) in metaphysische
Zur Definition vgl. Duden (2010). Sowohl in Prozeß und Realität als auch in Wissenschaft und moderne Welt wird diejenige Form des Philosophierens, die durch den eigenen Ansatz überwunden werden soll, als ein abstrakt-analytisches Denken mit großer Distanz zu der eigenen unmittelbaren Erfahrungswelt verstanden. 178 Vgl. Fetz (1981), S. 100. 176 177
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Wahrheiten« (PR, 13/49) bestehe. Sein Bewusstseinskonzept soll diese Überzeugung ganz offenkundig modellieren. Die Forderung nach intuitiver Einsicht scheint auf Erfahrungsakte zu verweisen, die auf der Ebene bewussten Empfindens angesiedelt sind, ist doch die erste, allgemeine Aufgabe des Bewusstseins im Schema der organistischen Philosophie, eine ›Funktion des Erkennens‹ zu sein. Mit der Bezeichnung ›intuitive Urteile‹ ist der Charakter dieser Empfindungsform, nimmt man Whiteheads methodisches Begriffsinstrumentarium ernst, bereits umrissen: Ein bewusstes Empfinden, in dem ein unmittelbares Erkennen eines bestimmten Teils der Welt durch ein Urteil über den Wahrheitsgrad der von diesem Teil ausgesagten Proposition zustande kommt. Die ›instinktive Intuition‹ der propositionalen Empfindungen wird durch die Urteilsbildung im Bewusstsein zu einer qualifizierten Intuition. Der Urteilsbegriff wird in der organistischen Philosophie ebenfalls eingehend behandelt. Wie Propositionen, so definiert Whitehead auch Urteile ursprünglich aus dem Kontext der Logik heraus und übersteigt die Grenzen dieses Bereichs in der weiteren Ausformulierung. Seine Anmerkung, es sei ein unglückliches Versäumnis, Propositionen exklusiv den Logikern überlassen zu haben (vgl. PR, 184/344), muss auch für Urteile in bewussten Empfindungen gelten. So, wie propositionale Empfindungen einen Eigenwert haben, der sich nicht darin erschöpft, eine Vorlage für Urteile zu sein, haben auch bewusste Urteile einen Eigenwert, der sich nicht darin erschöpft, ein Urteil über die Richtigkeit oder Falschheit von Propositionen zu sein. Die Formulierung, die Theorie der Propositionen sei lediglich als »Prolegomenon to a Theory of Judgment« 179 zu verstehen, greift deshalb von beiden Seiten zu kurz. Aus dem Wahrheitsverständnis der organistischen Philosophie ergibt sich ein gründlicheres Verständnis von Whiteheads Urteilskonzeption: Die Theorie des Urteils kann in der organistischen Philosophie genauso gut als eine ›Korrespondenz‹-Theorie wie als eine ›Kohärenz‹-Theorie beschrieben werden. Sie ist eine Korrespondenztheorie, weil sie das Urteil als die subjektive Form des vollständigen Erfassens der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Proposition und objektiviertem Nexus beschreibt. […] 179 Kraus (1979), S. 87. Kraus greift den Bewusstseinsbegriff in einem separaten Kapitel (Kraus (1979), S. 117–126) nochmals auf, ohne ihn diesmal ausschließlich auf die Urteilsfunktion zu beschränken. Dennoch erwecken beide Kapitel den Anschein, eine heterogene Gesamtdarstellung anzubieten.
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Dieses Urteil betrifft die Übereinstimmung zweier Bestandteile innerhalb einer Erfahrung. Es handelt sich daher um eine ›Kohärenz‹-Theorie. […] Wir werden sagen, daß eine Proposition wahr oder falsch und daß ein Urteil richtig, unrichtig oder aufgeschoben sein kann. Anhand dieser Unterscheidung sehen wir, daß sich eine ›Korrespondenz‹-Theorie der Wahrheit und Falschheit von Aussagen und eine ›Kohärenz‹-Theorie der Richtigkeit, Unrichtigkeit und des Schwebens von Urteilen ergibt. (PR, 190 f./354 f.)
Sowohl die von Whitehead zitierte Korrespondenztheorie als auch die Kohärenztheorie sind wichtige Vertreter von Wahrheitstheorien. Die Korrespondenztheorie ist eines der wirkmächtigsten Wahrheitskonzepte der Philosophiegeschichte und sagt aus, Wahrheit sei die Korrespondenz einer Aussage zu einem Element der Wirklichkeit. Erst in der modernen Philosophie ist die Kohärenztheorie entwickelt worden – unter maßgeblicher Mitwirkung von Francis Herbert Bradley, auf den sich Whitehead bei der Einführung seines Urteilsbegriffs explizit beruft (vgl. PR, 184/344). 180 Grundlage der Kohärenztheorie ist die Annahme, die Wahrheit einer Aussage lasse sich nicht an einer objektiv erfassbaren Wirklichkeit abmessen, sondern nur an ihrer Kohärenz mit dem Gesamtsystem von Erfahrungen und Aussagen, innerhalb dessen sie getätigt wird. Whiteheads Beschäftigung mit der Frage, was wahr sei, führt ihn zu einer Verbindung beider Konzepte, wie auch Nicholas Rescher bemerkt: 181 Zwar ist, formal-ontologisch gesprochen, eine Proposition wahr, die objektiv auf die Realität zutrifft, doch gibt es kein 180 Bradleys Werk Essays on Truth and Reality gilt als eines der Begründungswerke der Kohärenztheorie. Die Auseinandersetzung mit dem ihm zeitgenössischen Pragmatismus macht Bradley zu einem aus Whiteheads Perspektive höchst aktuellen Denker, mit dem er inhaltliche Übereinstimmungen hat. Sein Insistieren, Bewusstsein beruhe notwendigerweise auf Empfindungen (feelings) und Erfahrung sei stets unmittelbare Erfahrung (immediate experience), lässt eine gedankliche Ähnlichkeit zu Whitehead erkennen und seine auf diesen Annahmen beruhende Wahrheitstheorie für Whitehead interessant werden. Vgl. Bradley (1962), S. 159 ff., S. 192 ff. 181 Nicholas Reschers Wahrheitstheorie nimmt ebenfalls eine Position ein, die sowohl die Korrespondenz- als auch die Kohärenztheorie berücksichtigt. Als ersten Philosophen, der diese Verbindung gewagt habe, erachtet er Whitehead, wobei er dessen Intention richtig als Vermittlung zwischen Ontologie und Epistemologie deutet: »Again, A. N. Whitehead distinguishes between propositional statements of fact and judgmental endorsements of propositions. At the former, ontological level, correspondence to fact is the governing conception; at the latter, epistemological level, the coherence criterion reigns supreme« (Rescher (1982), S. 3). Auch Wolfe Mays sieht Whiteheads Wahrheitskonzept als Mischung zwischen klassischer Korrespondenztheorie und Kohärenztheorie an: Vgl. Mays (1959), S. 160.
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objektives Verhältnis in der Welt, sondern nur subjektive Perspektiven, für deren Verständnis der Wirklichkeit es keine Wahrheitsgarantie geben kann, da jedes Weltverständnis auf Irrtümern und Verfälschungen beruhen mag. 182 Die epistemologische Kluft zwischen unmittelbarer Wirklichkeit und komplexen Aussagen über die Wirklichkeit ist für Whitehead nicht überbrückbar. Ob unsere Urteile eine objektive Wahrheit artikulieren können, ist für ihn zweifelhaft: »Dementsprechend muß unsere Haltung gegenüber einer unmittelbare Intuition die der Gladiatoren sein, morituri te salutamus«, da wir uns in ein Dunkel vorwagen, wo wir auf die ungewisse Darstellung angewiesen sind.« (PR, 268/487) Für intuitive Urteile gilt also kein hartes Richtigkeits- oder Falschheitskriterium, sondern einzig die Frage, ob die Aussage der empfundenen Proposition sich in die Gesamterfahrung des Subjekts einfügt und ob das emotionale Muster so beschaffen ist, dass dem Urteil Glaube oder Zweifel entgegengebracht werden. 183 In Whiteheads Augen scheint der Kern des Urteilsbegriffs in der Flankierung des Beurteilungsaktes durch eine emotionale Komponente zu liegen. Solange das intuitive Urteil durch ein Gefühl des Glaubens begleitet wird, ist es richtig (correct); zweifelt das Subjekt hingegen, ist das Urteil unrichtig (incorrect) – unabhängig davon, ob die zugrunde liegende Proposition wahr oder falsch ist. Der Unterschied zwischen den emotionalen Mustern bewusster Wahrnehmungen und intuitiver Urteile liegt also in der Weise, in der die propositionale Empfindung im Datum der intellektuellen Empfindung ernst genommen wird. Bewusste Wahrnehmungen ignorieren die Eigenständigkeit der propositionalen Empfindung weitgehend und gestalten ihr emotionales Muster als unmittelbare, ›blinde‹ Affirmation der Wirklichkeit, ohne der alternativen Seinsmög182 Tatsächlich ist Whiteheads Wahrheitsbegriff vielschichtig, wie er in Abenteuer der Ideen erklärt. Das Korrespondenzkonzept steht zwar am Anfang des Wahrheitsbegriffs: »Die Wahrheit ist die Übereinstimmung der Erscheinung mit der Wirklichkeit« (AI, 241, deutsche Übersetzung durch den Autor, da Eberhard Bubsers Übersetzung hier ungenau ist), aber später diversifiziert Whitehead den Wahrheitsbegriff noch weiter, um schließlich mit dem Begriff der ›symbolischen Wahrheit‹ (symbolic truth) aufzuwarten, der nicht mehr vorrangig »objektive Bedeutungsinhalte« vermittle, sondern »subjektive Formen«. Diese Form der Wahrheit versteht Whitehead als »die delikate innere Wahrheit der Kunst« (AI, 248 f./436 f.). 183 Reiner Wiehl sieht in Whiteheads Wahrheitsverständnis den Versuch, den »Dualismus von philosophischem Glauben und philosophischem Wissen« aufzuheben (vgl. Wiehl (1986), S. 146 ff.).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
lichkeit viel Gewicht beizumessen. Intuitive Urteile hingegen erkennen der begrifflichen Alternative, die durch das propositionale Empfinden geboten wird, einen Eigenwert zu, sodass der Kontrast zwischen der affirmativ erfassten Wirklichkeit und der diese Wirklichkeit negierenden Hypothese eine emotionale Positionierung verlangt. Ob wir wirklich objektiv wissen, dass eine Theorie über die Welt wahr ist, bleibt schwierig zu bestimmen; dass wir glauben, unsere Theorie sei richtig, da sie sich in ein mit unseren anderen Erfahrungen kohärentes Gesamtbild einfügt, ist uns auf emotionaler Ebene unmittelbar einsichtig (vgl. PR, 267 f./486 f.). Deshalb spricht Whitehead auch davon, »daß ein Urteil richtig, unrichtig oder aufgeschoben sein kann« (PR, 191/355). Diese Beurteilung einer Proposition gibt das Gefühl an, mit dem die Proposition empfunden wird. 184 Whitehead versteht Urteile nicht als formale Strukturbeschreibungen der Wahrheitsfindung, sondern als einen bewussten Erfahrungsakt, »dessen subjektive Form Urteil einschließt« (PR, 191/354) – ein Urteil ist eine emotionale Form, die eine Aussage in einen kohärenten emotionalen Gesamthaushalt einfügt. Interessanterweise behandelt das Propositionskapitel im zweiten Teil von Prozeß und Realität, in dem das Konzept der Propositionen samt der auf ihnen aufbauenden bewussten Affirmations-Negations-Kontraste dargestellt wird, alle bewussten Empfindungen als Urteile (vgl. PR, 184–207/343–384). Es scheint also, als seien bewusste Wahrnehmungen die Sonderform intellektueller Empfindungen und intuitive Urteile von Whitehead als der eigentliche Kern bewusster Empfindungen konzipiert. An anderer Stelle scheint Whitehead diese Lesart zu bestätigen: »Bewußte Wahrnehmung ist daher die primitivste Form des Urteils« (PR, 162/302). Der formale Unterschied zwischen bewussten Wahrnehmungen und intuitiven Urteilen liegt in der Struktur der Daten – bewusste Wahrnehmungen beruhen auf propositionalen Empfindungen im Modus der ›wahrnehmenden Empfindungen‹, intuitive Urteile auf propositionalen Empfindungen im Modus ›vorstellender Empfindungen‹. In vorstellenden Empfindungen wird das Prädikat der Proposition aus einer anderen Gruppe erfasster wirklicher Einzelwesen gewonnen als die logischen Subjekte. Intuitive Urteile beurteilen also einen Kontrast 184 Wolfe Mays spricht sogar davon, dass die Unterteilung intuitiver Urteile in richtige, unrichtige und aufgeschobene Urteile den »psychological attitude« eines intuitiven Urteils beschreibe: Vgl. Mays (1959), S. 157.
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Bewusstsein
zwischen Proposition und Realität, der nicht mehr bloß affirmativ ist, sondern unterschiedliche Formbestimmtheiten aufeinander bezieht. Das emotionale Muster des intuitiven Urteils kann annehmen, das vorstellende Empfinden sei richtig, dann ist es vom emotionalen Muster bewusster Wahrnehmungen nicht mehr weit entfernt. Oder es kann die Unrichtigkeit des vorstellenden Empfindens behaupten, dann empfindet es den Affirmations-Negations-Kontrast in großer Intensität: Die Aussage der Proposition wird als nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmende Möglichkeit empfunden, ihre Formbestimmtheit erfasst in dem Wissen, dass diese Formbestimmtheit nicht in der Wirklichkeit realisiert ist. Zu dem formalen Kontrast von Wirklichkeit und Möglichkeit kommt der inhaltliche Kontrast zwischen der Form der Wirklichkeit und der Form der Möglichkeit. Diese unrichtigen Urteile nennt Whitehead ›negative Urteile‹ (negative judgments), und sieht in ihnen durch die starke Ausprägung des Affirmations-Negations-Kontrastes die intensivste Ausprägung des Bewusstseins: Der Triumph des Bewußtseins geht einher mit dem negativen intuitiven Urteil. In diesem Fall kommt es zu einem bewußten Empfinden dessen, was sein könnte, aber nicht ist. Das Empfinden betrifft unmittelbar die abgegrenzten negativ erfassten Informationen, die sein Subjekt aufnimmt. Es ist das Empfinden von Abwesenheit, und es empfindet diese Abwesenheit als verursacht durch die endgültige Ausschließlichkeit dessen, was tatsächlich gegeben ist. Daher erreicht die Ausdrücklichkeit der Negation, die das besondere Charakteristikum des Bewußtseins ausmacht, hier ihren Höhepunkt. (PR, 273 f./497)
Auch bewusste Wahrnehmungen können negative Wahrnehmungen sein. Unausgesprochen bleiben die strukturellen Bedingungen, unter denen sich bewusste Wahrnehmungen als negative Wahrnehmungen konstituieren. Allerdings scheint die Vermutung vernünftig zu sein, gemeint seien damit indirekte unauthentische Wahrnehmungen, in denen ein hohes Maß an begrifflichen Alternativen zur Wirklichkeit empfunden wird: Der allgemeine Fall bewußter Wahrnehmung ist die negative Wahrnehmung, nämlich ›diesen Stein als nicht grau wahrzunehmen‹. Das ›Grau‹ tritt dann in seinem vollständigen Charakter einer begrifflichen Neuheit ein, die eine Alternative veranschaulicht. Im positiven Fall, ›diesen Stein als grau wahrzunehmen‹, tritt das Grau in seiner Eigenschaft einer möglichen Neuheit ein; tatsächlich hebt es aber durch seine Konformität das gegebene Grau hervor, welches blind empfunden wird. Bewußtsein ist das Empfinden der Negation:
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In der Wahrnehmung des ›Steins als grau‹ ist dieses Empfinden nur im Keim vorhanden; in der Wahrnehmung des ›Steins als nicht grau‹ ist es voll entwickelt. Daher bedeutet die negative Wahrnehmung den Triumph des Bewußtseins. Es erhebt sich schließlich auf die Höhe der freien Einbildungskraft, in der das begrifflich Neue ein Universum durchdringt, in dem es noch nicht als Beispiel vorgegeben ist. (PR, 161/302)
Auch bei den negativen bewussten Empfindungen sieht die organistische Philosophie eine große Ähnlichkeit zwischen bewussten Wahrnehmungen und intuitiven Urteilen. Gemeinsames Merkmal negativer Wahrnehmungen und negativer intuitiver Urteile ist ihre intensive Realisierung der subjektiven Form des Bewusstseins, das sie auf »die Höhe der freien Einbildungskraft« führen. Aber die organistische Philosophie kennt nicht nur richtige und unrichtige intuitive Urteile, sondern zusätzlich noch schwebende Urteile. Bewusste Empfindungen und sowohl affirmative als auch negative intuitive Urteile entsprechen für Whitehead der Locke’schen Kategorie des ›Wissens‹ (knowledge) – und erfüllen damit offensichtlich die ›Funktion des Erkennens‹ (function of knowing), die in der organistischen Philosophie dem Bewusstsein zugeschrieben wird (vgl. PR, 274/498). 185 In ihnen wird definites Wissen über die Welt gewonnen. Was Locke im Kontrast zum Wissensbegriff unter dem Urteilsbegriff versteht, nennt Whitehead ein ›abgeleitetes Urteil‹ (inferential judgment): Das bewusste Empfinden weiß nicht sicher, ob das eigene Urteil korrekt ist, sondern vermutet bloß, da seine Kontrastempfindung »so beschaffen ist, daß sie beide Fälle von direktem Urteil ausschließt« (PR, 274/498). Wenn also zwischen dem Prädikat der Proposition und der Wirklichkeitsaffirmation keinerlei Identifikation stattfindet, aber ein »vereinbarer Kontrast« besteht, dann kann das intuitive Urteil seine eigene Beurteilung zugunsten einer aus den
185 Warum Whitehead selbst keinen eigenen Begriff einführt, um das, was Locke mit seinem Wissensbegriff bezeichnet, in der organistischen Philosophie wiederzugeben, lässt sich nicht abschließend klären. Seine kritische Einstellung gegenüber der Vorstellung eines endgültigen, unbezweifelbaren Wissens hat er wenige Seiten zuvor (vgl. PR, 268/487) anlässlich Lockes scharfer Trennung zwischen Wissen und Glauben zum Ausdruck gebracht. Vermutlich ist der Unterschied, den Whitehead zwischen ›Wissen‹ und ›aufgeschobenen Urteilen‹ sieht, eine Differenz der emotionalen Muster: ›Wissende‹ bewusste Empfindungen sind sich über die Korrektheit ihres Urteils sicher, während aufgeschobene Urteile lediglich vermuten, also eine sichere Klärung des eigenen Affirmations-Negations-Kontrasts bewusst auf spätere Urteile verschieben.
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ihm bekannten Fakten abgeleiteten und spekulativ auf den Bereich des noch Unbekannten gerichteten Vermutung aufgeben: Es ist das Empfinden des Kontrastes zwischen dem, was die logischen Subjekte offenkundig sind, und dem, was dieselben Subjekte darüber hinaus sein können. Dieses aufgeschobene Urteil ist unser Bewußtsein von den Begrenzungen, die in der Objektivierung angelegt sind. […] Festzuhalten ist, daß ein aufgeschobenes Urteil kein Wahrscheinlichkeitsurteil ist. Es ist ein Urteil über Vereinbarkeit. Das Urteil sagt uns, was zusätzliche Informationen über die formalen Beschaffenheiten der logischen Subjekte sein können, Informationen, die durch unsere direkte Wahrnehmung weder einbezogen noch ausgeschlossen sind. (PR, 274 f./499)
Ein abgeleitetes Urteil wird zugleich auch noch als ›aufgeschobenes Urteil‹ (suspended judgment) bezeichnet. Damit ist die Dynamik angezeigt, die Whitehead durch die Konzeption der aufgeschobenen Urteile strukturell fassen möchte. Wenn ein intuitives Urteil Vermutungen über zusätzliche Eigenschaften seiner logischen Subjekte anstellt, dann wird dadurch ein emotionaler Anreiz für in späteren wirklichen Einzelwesen stattfindende intuitive Urteile geschaffen, diese Vermutungen aus der Perspektive eines besseren Kenntnisstandes heraus zu beurteilen. Aufgeschobene Urteile sind also der Ursprung gezielter Fragen. Für Whitehead sind die meisten intuitiven Urteile aufgeschobene Urteile (vgl. PR, 192/357) und ein abschließendes Urteil das eher seltene Ergebnis einer konsequenten Suche nach der richtigen Antwort auf eine absichtsvoll initiierte Fragestellung. Explizit werden der »Fortschritt in der Wissenschaftstheorie und darüber hinaus auch in der Verfeinerung der direkten Beobachtung« (PR, 274/499) als das Ergebnis aufgeschobener Urteile genannt. Auf diese Weise können langfristige intellektuelle Beschäftigungen mit einer sich entwickelnden Fragestellung entstehen, die weit über den Rahmen eines individuellen Einzelwesens hinausgehen. Der Kern von Whiteheads Bewusstseinskonzept liegt in der Verbindung von Urteilen mit dem zielgerichteten Fragen und Vorstellen: Auf diese Weise wird die Erfahrung durch die gemeinsame Operation des phantasievollen Erlebens und des Urteils mit Bezug auf die relative Wichtigkeit ihrer Bestandteile reorganisiert. Die Entwicklung der Vernunft entspricht der gesteigerten Bedeutung des kritischen Urteils für die Disziplin des phantasievollen Erlebens. (PR, 178/332)
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Der bewusste Gebrauch der spekulativen Vernunft, die nach neuen Methoden sucht und dabei gezielt vorgeht, wird durch das Konzept der aufgeschobenen Urteile erklärbar. Überhaupt stellt erst die Theorie des Bewusstseins eine Verbindung zwischen der Vernunfttätigkeit und kritischem Urteil her; die Krone des Bewusstseins sind Empfindungen, die Rationalität und kreative Vorstellung in einem Urteil verbinden. Als letzte Untergruppe der intuitiven Urteile nennt Whitehead die ›bewussten Vorstellungen‹ (conscious perceptions). Bewusste Vorstellungen unterscheiden sich von den drei anderen Arten intuitiver Urteile – richtigen, unrichtigen und aufgeschobenen Urteilen – einzig durch die Struktur ihres emotionalen Musters. In einem Vergleich mit intuitiven Urteilen der anderen Urteilsarten ist »das Datum bewußter Vorstellungen […] mit dem Datum des entsprechenden Urteils identisch«. (PR, 275/500) Das emotionale Muster der bewussten Vorstellungen unterscheidet sich von den anderen intuitiven Urteilen nicht durch seine objektiven Daten, sondern durch die Weise, in der es sie empfindet. Bewusste Vorstellungen sind durch »Gleichgültigkeit gegenüber Wahrheit oder Falschheit« (PR, 275/499) der empfundenen Proposition geprägt. Sie streben überhaupt keine Erkenntnis darüber an, ob die empfundene Proposition die Realität korrekt abbildet, sie interessiert lediglich die Möglichkeitsform des zeitlosen Gegenstandes, der das Prädikat der Proposition bildet. Das Potential propositionaler Empfindungen im Modus der ›vorstellenden Empfindungen‹, die das Datum aller intuitiven Urteile bilden, wird erst in bewussten Vorstellungen voll realisiert: eine reine Vorstellungsaktivität, ein freies Spiel der Phantasie, das Empfinden rein begrifflicher Möglichkeiten ohne Berücksichtigung der Wirklichkeit. Innerhalb des Schemas der organistischen Philosophie kommt ihnen jedoch keine besondere Funktion zu. Während die anderen drei Formen intuitiver Urteile die dem Bewusstsein zugeschriebene Funktion des Erkennens erfüllen oder doch zumindest auf eine Erkenntnis zu einem späteren Zeitpunkt ausgerichtet sind, führen bewusste Vorstellungen zu keinem Erkenntnisgewinn. Sie sind auch nicht der Höhepunkt des Bewusstseins, denn in ihnen ist der Affirmations-Negations-Kontrast aufgrund der einseitigen Betonung des Möglichkeitsbereichs schwach ausgeprägt. Für Whitehead triumphiert das Bewusstsein in der urteilenden Kontrastempfindung von Realität und Vorstellung, die zugleich ein Höchstmaß an Erfahrungsintensität beinhaltet.
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2.5.5 Form und Funktion des Bewusstseins in der organistischen Philosophie Unzweifelhaft hat Whitehead eine deutliche Vorstellung davon, welche Rolle das Bewusstsein in unserer Erfahrung spielt. Bemerkenswert ist vor allem seine Überzeugung, die sich in diffizilen Binnendifferenzierungen ergehende Darstellung der Bewusstseinsstruktur im dritten Teil von Prozeß und Realität sei eine adäquate Beschreibung der menschlichen Bewusstseinsdynamik. Deshalb beansprucht die organistische Philosophie in ihrer Theorie des Bewusstseins, nicht nur eine technische Definition der ›Funktion des Erkennens‹ zu sein, sondern auch angemessen zu beschreiben, wie sich bewusste Erfahrungen anfühlen. In einer beinahe literarischen Passage lässt sich Whiteheads Annahme, was Bewusstsein sei, nachvollziehen: Diese Darstellung stimmt mit den offen zutage liegenden Tatsachen unserer bewußten Erfahrung überein. Das Bewußtsein flackert; und selbst wo es am hellsten ist, gibt es ein kleines Brennpunktgebiet klarer Erleuchtung und ein großes Gebiet im Halbschatten liegender Erfahrung, das in dunklem Erahnen von intensiver Erfahrung berichtet. Die Einfachheit klaren Bewußtseins ist kein Maßstab für die Komplexität vollständiger Erfahrung. Auch dieser Charakter unserer Erfahrung läßt vermuten, daß Bewußtsein die Krone der Erfahrung ist, die nur gelegentlich erreicht wird, keineswegs aber deren notwendige Grundlage. (PR, 267/486) 186
Mit seiner Akzentuierung der emotionalen Qualität bewussten Empfindens schließt sich Whiteheads Bewusstseinskonzeption ganz direkt an eine ihm zeitgenössische Philosophietradition an. Nicht nur schätzt er William James für die Einführung des modernen Erfahrungsbegriffs und lobt seine Abhandlung Does ›Consciousness‹ Exist? als epochal, in der Bewusstseinskonzeption der organistischen Philosophie lassen sich zudem mehrere äußerst deutliche inhaltliche Parallelen zu James’ BeIn Abenteuer der Ideen äußert sich Whitehead sehr ähnlich: »Das Bewußtsein ist das Instrument, das das Moment der Künstlichkeit am Erlebensvorgang verstärkt. Es vergrößert die Bedeutung, welche die den Vorgang abschließende Erscheinung gegenüber der anfänglich gegebenen Realität besitzt. Infolgedessen ist es die Erscheinung, die im Bewußtsein klar und distinkt ist, während die Details der im Dämmerlicht des Hintergrunds liegenden Wirklichkeit für das Bewußtsein kaum erkennbar sind. Was unmittelbar ins Bewußtsein eindringt, ist die Masse von Vorannahmen (presuppositions) über die Wirklichkeit, aber nicht die Anschauung bzw. das intuitive Erfassen der Wirklichkeit selbst« (AI, 270/470).
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wusstseinsbegriff erkennen, den dieser in The Varieties of Religious Experience ausführt: As our mental fields succeed one another, each has its centre of interest, around which the objects of which we are less and less attentively conscious fade to a margin so faint that its limits are unassignable. […] Our whole past store of memories floats beyond this margin, ready at a touch to come in; and the entire mass of residual powers, impulses, and knowledges that constitute our empirical self stretches continuously beyond it. So vaguely drawn are the outlines between what is actual and what is only potential at any moment of our conscious life, that it is always hard to say of certain mental elements whether we are conscious of them or not. 187
Whiteheads Strukturbeschreibung des Bewusstseins durch den Affirmations-Negations-Kontrast greift unmittelbar auf das Bewusstseinsverständnis von James zurück, beide sehen Bewusstsein als einen Kontrast von Wirklichem und Möglichem. Auch teilen beide die Vorstellung des Bewusstseins als einer Geistesaktivität, deren Grenzen nicht trennscharf bestimmbar sind. Die Einflüsse der Vergangenheit, die in der Form unbewusster Emotionen, Impulse und vager Erinnerungen auf das Subjekt einwirken, haben einen massiven Einfluss auf das Bewusstsein. Sie stellen die eigentlich grundlegende Erfahrung des Subjekts dar, Bewusstsein ist hingegen ein hochstufiger Sonderfall, der nur manchmal als Resultat vorteilhaft zusammenstimmender Basiserfahrungen entsteht. Interessant ist die Lichtmetaphorik, die in der organistischen Philosophie bemüht wird, um die Aktivität bewusster Empfindungen zu beschreiben. Whitehead ist in seiner Metaphernutzung konsequent: Bewusstsein ›erhellt‹ (illuminates) die Tatsachen der Welt, wohingegen der Bereich des Unbewussten im ›Halbschatten‹ (penumbral region oder penumbral background) bleibt. 188 Offenkundig bezieht sich diese Metaphorik auf die Erkennensfunktion des Bewusstseins. Weiterhin James (1982), S. 231 f. Whitehead ist nicht der einzige Autor, der diese Metaphorik verwendet. Seine metaphorische Sprechweise stimmt nahezu vollständig mit der von Carl Gustav Jung in seinem Parallelen zwischen der Psychoanalyse und der Alchemie suchenden Werk Mysterium Coniunctionis verwendeten metaphorischen Bezeichnung der menschlichen Erkenntnisbereiche überein. Jung untersucht ausführlich die mit dem Bewusstsein verbundene Lichtmetaphorik der alchimistischen Tradition, bezeichnet dann aber den Bereich des Unbewussten mit seiner eigenen Terminologie ausdrücklich als »Hintergrund«, den »sogenannten Schatten«: Vgl. Jung (1968), S. 270 f. 187 188
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betont sie den ›Blickcharakter‹, den bewusste Empfindungen haben – ein gewisser Teil der eigenen dunklen Erfahrungen wird, aus einer bestimmten Perspektive, ›in den Blick genommen‹ und durch Beurteilungen erhellt. Whitehead spricht hierbei mitunter von ›Akten der Aufmerksamkeit‹ (acts of attention) (PR, 198/368). Das Subjekt entscheidet sich für einen geringen Teil seiner Erfahrungen, auf den es seine Aufmerksamkeit richtet: »Bewusstsein ist also ein Modus der Aufmerksamkeit. Es ist das Extrem des selektiven Hervorhebens. Die Spontaneität eines Vorgangs findet ihre Hauptausprägungen zuerst in der Richtung des Bewusstseins und zweitens in der Erzeugung von Ideen, die in den Bereich der bewussten Aufmerksamkeit übergehen.« (AI, 270/470) 189 Folgt man dieser Vorstellung von Bewusstsein, so werden die Übergänge zwischen dem Halbdunkel des unbewussten Erfahrungshintergrundes und dem durch das Bewusstsein erleuchteten Erfahrungsbereich in vielen Fällen als fließend empfunden werden, der Unterschied zwischen Unbewusstem und Bewusstem als eine Helligkeitsgradation. Je höherstufig die Phase ist, in der eine Empfindung stattfindet, desto klarer wird diese Empfindung üblicherweise vom Bewusstsein erhellt und aus dem vagen Dunkel des Halbschattens gelöst (vgl. PR, 162/303). 190 Außerdem sorgt die Selektivität des Bewusstseins für eine enorme Reduktion der objektiven Daten: »Das bewußt Psychische ist ein Agens der Simplifikation […] Ein einziger Augenblick der Introspektion genügt, um uns die Schwäche unserer intellektuellen Operationen und die dunkle Kompaktheit unserer komplexen Gefühle des Abkünftigseins vor Augen zu führen.« (AI, 213/380) Die Simplifizierung ist allerdings nicht als eine Vereinfachung durch Abstraktionen zu verstehen, sondern als Verringerung der zugrundeliegenden Datenmenge, die dann durch Kontraststeigerung zu komplexen, intensiven bewussten Empfindungen führt. 191 Aus einer über189 Deutsche Übersetzung durch den Verfasser, da Eberhard Bubsers Übersetzung an dieser Stelle ungenügend ist. 190 David Ray Griffin geht sogar so weit, diese Dynamik als »Whitehead’s perceptual law« zu beschreiben (vgl. Griffin (2007), S. 67 f.). Diese Formulierung ist etwas unglücklich, denn zumeist ist Whitehead ja gerade bestrebt, auf empirischen Beobachtungen beruhende Naturgesetze als ›Gewohnheiten‹ einer bestimmten kosmischen Epoche zu verstehen und dadurch die dogmatische Einengung auf eine einzige zulässige Lesart zu vermeiden. 191 Der Unterschied zwischen Vereinfachung und Komplexierung wird von Maria-Sibylla Lotter deutlich gemacht: Vgl. Lotter (1996), S. 243.
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wältigenden, vagen Gesamterfahrung wird ein kleinerer Ausschnitt ausgewählt, der relevante Kontrastempfindungen ermöglicht. Deshalb sind sowohl Simplifizierung als auch Komplexitätssteigerung Attribute der Erfahrungsdynamik, die im Bewusstsein kulminiert. Betrachtet man den Bereich des Bewusstseins in der organistischen Philosophie und versucht, dessen Form und Gliederung zu verstehen, so bemerkt man als erstes die Unterteilung in die zwei Bereiche der Wahrnehmungen und Vorstellungen. 192 Die klassische Dichotomie zwischen Sinneswahrnehmung und Denken drängt sich als Verständnisparadigma geradezu auf. Interessanterweise scheint es das Hauptanliegen Whiteheads zu sein, diese beiden Erfahrungsformen nicht als völlig unterschiedliche Kategorien des Bewusstseins auszuweisen, sondern als zwei Modi einer Gesamtbewusstseinsdynamik zu verstehen, zwischen deren emotionalen Mustern mitunter nur graduelle Unterschiede bestehen. Der Grund für dieses inklusive Bewusstseinsverständnis liegt in Whiteheads philosophischem Ansatz, der sich streng weigert, einen Dualismus rein geistiger und rein körperlicher Aktivitäten anzunehmen. Jeder Erfahrungsakt ist eine psychophysische Einheit, und auch im Bereich des Bewusstseins soll dieses Einheitskonzept wirken. Im Affirmations-Negations-Kontrast wird sowohl der körperlichen als auch der mentalen Seite der Erfahrung Bedeutung zugemessen, die freilich in verschiedenen bewussten Empfindungen ganz unterschiedlich gewichtet werden kann: Jede bewusste Vorstellung ist kein rein geistiges, völlig frei-ungebundenes Denken, sondern hat immer einen Realitätsbezug, auch wenn ihr emotionales Muster dessen Relevanz ignorieren mag. In welcher Situation ein Subjekt denkt und woher seine Denkinhalte stammen, ist von der Vorstellung nicht zu abstrahieren. Im Gegenzug hat jede bewusste Wahrnehmung immer einen Anteil, welcher aus der die gegebene Realität übersteigenden Vorstellung besteht. Dieser Anteil bewirkt, dass die bewusste Wahrnehmung darüber reflektiert, was der empfundene Weltausschnitt zusätzlich – oder alternativ – sein könnte. 193 So vermeidet die organistische Philosophie auch auf ihrer komplexesten Ebene, dem 192 Wolfe Mays spricht von zwei bewussten Erfahrungsmodi, die das Subjekt mit sensations beziehungsweise images versorgen (vgl. Mays (1959), S. 153). 193 Aus diesem Grund spricht Whitehead auch der uranfänglichen Natur Gottes, die alle zeitlosen Gegenstände in vollständiger Durchdringung empfindet, Bewusstsein ab, denn ihr fehlt die Integration mit physischen Empfindungen – ihr mangelt es an Wirklichkeit: Vgl. PR, 344/614.
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Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit zu verfallen und eine rein geistige Ebene von einer rein körperlichen zu unterscheiden; eine Einordnung gemäß der populären philosophischen Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus ist bei Whiteheads Metaphysik wenig ergiebig. Seine Bewusstseinskonzeption kann keine trennscharf unterschiedenen Kategorien bewusster Erfahrung ausweisen, sondern verwendet viel Aufmerksamkeit auf die subtile Binnendifferenzierung eines umfassenden Bewusstseinsbegriffs. Diese fein unterschiedenen Bewusstseinsformen lassen sich zumeist kaum eindeutig mit lebensweltlichen Erfahrungsbeispielen illustrieren. Ein Grund für die Schwierigkeit, sich das Bewusstseinskonzept der organistischen Philosophie anschaulich zu machen, liegt in der unübersichtlichen Präsentationsform, die Whitehead wählt. Bereits die Aufgabenbeschreibung des Bewusstseins ist interpretationsbedürftig. Die einzige eindeutig dem Bewusstsein zugeordnete Funktion ist die ›Funktion des Erkennens‹ (function of knowing), und der Gegenstand des Erkennens, ein Wissen (knowledge) um etwas Erkanntes, bleibt strukturell sonderbar unterbestimmt. Statt eine eigene Wissensdefinition zu geben, beruft Whitehead sich auf Lockes Wissensbegriff: »Die beiden Fälle des intuitiven Urteils, nämlich das affirmative und das negative, sind vergleichsweise selten. Diese beiden Fälle entsprechen zusammen mit der bewußten Wahrnehmung dem, was Locke als ›Wissen‹ bezeichnet.« (PR, 274/498) Lockes im Anschluß darauf zitierte Definition des Wissens ist die Beschreibung einer Fähigkeit des Geistes und soll augenscheinlich übernommen werden: »Erstens, das Wissen; hierbei nimmt er mit Gewißheit wahr und überzeugt sich in zweifelsfreier Weise von der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung irgendwelcher Ideen.« (PR, 274/498) Wissen scheint also für Whitehead in der Erkenntnis der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Proposition mit dem Wirklichkeitsausschnitt, auf den sie sich bezieht, zu bestehen. Völlig abstraktes Denken ohne irgendeinen Bezug auf eine partikulare Realität existiert in Whiteheads Bewusstseinsverständnis nicht. Allerdings gehen aufgeschobene Urteile, in denen es nicht zu Urteilen kommt, und diejenigen bewussten Wahrnehmungen, deren emotionalen Mustern jedes Interesse an einem solchen Erkennen ermangelt, in diesem Wissensverständnis nicht restlos auf: Das wesentliche Element freier Vorstellung lässt sich durch die Kategorie des Wissens nicht fassen. Tatsächlich scheint Bewusstsein für Whitehead, über eine rein technische Funktion des Er259 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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kennens hinaus, in einer Gemeinsamkeit verschiedener Formen bewusster Empfindungen zu bestehen, nämlich in einer generellen Art, Aufmerksamkeit auf Aspekte der eigenen Erfahrung zu richten. Der Aufmerksamkeitsbegriff wird in der organistischen Philosophie nicht weiter bestimmt, ist jedoch nicht bloß ein reines Mehr-oder-Weniger der Erlebnisintensität, sondern erfordert eine gewisse Struktur der aufeinander aufbauenden höheren Empfindungen, wie sie die menschliche Erfahrung auszeichnet. Aufmerksamkeit wird von Whitehead als psychologische und nicht als ontologische Tatsache eingeführt; Reiner Wiehl spricht bezüglich der im Affirmations-Negations-Kontrast gefühlten Differenz zwischen Realität und Möglichkeit auch von einer »kosmopsychologischen Differenz«, die »insbesondere im Bereich der Gefühle und Empfindungen« zur Geltung gebracht werden müsse. 194 Interessanterweise erinnert der Aufmerksamkeitsbegriff, den Whitehead in seiner Diskussion des Bewusstseins einführt, an die Bewusstseinsdarstellung von William James. Auch für James ist die Aufmerksamkeit, als eine »reactive spontaneity«, Grundeigenschaft jeder bewussten Erfahrung. In dem mit ›Attention‹ überschriebenen entsprechenden Kapitel der Principles of Psychology formuliert er: Millions of items of the outward order are present to my senses which never properly enter into my experience. Why? Because they have no interest for me. My experience is what I agree to attend to. Only those items which I notice shape my mind – without selective interest, experience is an utter chaos. Interest alone gives accent and emphasis, light and shade, background and foreground – intelligible perspective, in a word. […] Everyone knows what attention is. It is the taking possession by the mind, in clear and vivid form, of one out of what seems several simultaneously possible objects or trains of thought. 195
Whitehead würde dieser Darstellung von James vollständig zustimmen. Auch der Gedanke von durch Aufmerksamkeit gesteuerter Einteilung der Erfahrung in einen Erfahrungsvordergrund und einen -hintergrund findet sich bereits bei James. Allerdings ist für James, im Unterschied zu Whitehead, Erfahrung stets bewusst, 196 wohingegen in Vgl. Wiehl (1986), S. 150. James (1981), S. 380 f. 196 James widmet der Frage nach der Existenz des Unbewussten in Principles of Psychology einigen Raum (vgl. James (1981), S. 162 ff.), kommt dann aber zu dem eindeutigen Schluss, das Konzept unbewusster mentaler Zustände abzulehnen. 194 195
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der organistischen Philosophie nur ein kleiner Bereich komplexer Erfahrungsstrukturen zu Bewusstsein gelangt. Statt, wie bei James, also eine universale Eigenschaft des Erfahrungskonzeptes zu sein, ist die Aufmerksamkeit bei Whitehead lediglich eine in der Beschreibung des Bewusstseins verwendete Qualität der Erfahrung, bei der unklar bleibt, inwiefern sie eine besondere Ausformung der bereits auf ontologisch grundlegender Ebene verankerten subjektiven Perspektivität des wirklichen Einzelwesens ist. Zumindest macht Whitehead deutlich, auf welche Erfahrungsstruktur Aufmerksamkeit sich bezieht. Bewusste Aufmerksamkeit richtet sich stets auf den Affirmations-Negations-Kontrast, und in diesem Rahmen sind Aufmerksamkeit und Bewusstsein keine fixen Größen, sondern können durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Intensität der subjektiven Form von Bewusstsein ist, einhergehend mit der durch sie gerichteten Aufmerksamkeit, kontinuierlich steigerbar, abhängig von der Prominenz des Affirmations-Negations-Kontrastes: Wo dieser Kontrast im Empfinden nur schwach ausgeprägt ist, liegt ein Bewußtsein nur im Keim, als latent bleibende Fähigkeit vor. Wo aber dieser Kontrast deutlich artikuliert in den Vordergrund tritt, enthält das betreffende Erlebnis ein voll entfaltetes Bewußtsein. (AI, 270/470)
Bewusstsein ist eine subjektive Form von graduell verstärkbarer Intensität, eine Erkenntnis ist jedoch nicht verstärkbar. Hat ein Subjekt ein bestimmtes Wissen, so ist der formale Gehalt dieses Wissens, also eine bestimmte Tatsache, die erkannt wird, unabhängig von der Intensität der Bewusstseinsausprägung. Die Art und Weise jedoch, in der ein Wissen im emotionalen Muster eines Subjektes wirkt, hängt durchaus mit der Intensität des Bewusstseins zusammen. Es scheint, als stelle das emotionale Muster des Glaubens genau diese Verbindung zwischen der bloßen Tatsacheninformation eines bewussten Erkennens und dem in verschiedenen Formen und Intensitäten möglichen emotionalen Umgang mit dieser Information dar: »Vergleichsweise Sicherheit des Glaubens ist eine psychologische Tatsache, die durch objektive Evidenz gerechtfertigt sein kann oder auch nicht.« (PR, 268/487) Dennoch lässt sich die Bewusstseinskonzeption der organistischen Philosophie nicht allein als eine auf Erkenntnisgewinn oder Wissenserwerb gerichtete Empfindungsform verstehen. Zwar weist Whitehead bewussten Empfindungen keine weitere formale Funktion außer der 261 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
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›Funktion des Erkennens‹ zu, doch ist der Wissenserwerb nicht dasjenige Ziel, auf welches sich das im emotionalen Muster fundierte »bewusste Zielstreben« 197 der intellektuellen Empfindungen richtet. In einem allgemeineren Sinne scheint Whitehead in den verschiedenen Bewusstseinsformen diejenigen Instrumentarien zu sehen, vermittels derer die Vernunfttätigkeit die allgemeine metaphysische Forderung nach der Entstehung von Neuem besonders gut erfüllen kann: »Anders ausgedrückt besagt diese erste Schlußfolgerung, daß die Vernunft ein Faktor in unserer Erfahrung ist, der das Anstreben eines Ziels, das in unserer Vorstellung, aber noch nicht in der Wirklichkeit besteht, leitet und kritisch korrigiert.« (FR, 5/9) Der Affirmations-Negations-Kontrast erscheint hier nicht bloß als epistemologischer Kontrast zwischen zwei Formen der Erfahrung, sondern zugleich als Ausgangspunkt für geplante, bewusste Handlungen. Einiges spricht dafür, dass Whitehead Erkennen und Handeln nicht als zwei vollständig voneinander getrennte Aktivitätskategorien versteht, sondern einen organischen Zusammenhang zwischen dem erkennenden und dem handelnden Aspekt des umfassenden emotionalen Musters eines Subjekts sieht. 198 Bereits die Weise, in welcher der Vernunftbegriff in einen praktischen, lebenserhaltende Methoden ermöglichenden und einen theoretischen, spekulative Methoden des Wissenserwerbs fördernden Teil unterschieden wird, spiegelt diese Denkweise wider. Für Whitehead zeichnet sich Bewusstsein im Zusammenspiel mit der Vernunft vor allem durch die Kapazität aus, Veränderungen der Umwelt und Problemstellungen weiträumig erkennen und entsprechend reagieren zu können. Die Fähigkeit dezidierten Erkennens und Handelns ist zwar in bewussten
197 Fetz (1981), S. 194. Ralph Pred spricht bezüglich der Bewusstseinsaktivität von einer »concrescual approximation« (vgl. Pred (2005), S. 215, 240), die den Charakter von »aim-bearing attention« habe (Pred (2005), S. 221), womit er das Zielstreben des Bewusstseins gerechtfertigterweise in den allgemeinen Kontext einer Erfahrungsmetaphysik zielgerichteter Empfindungen einordnet. 198 Dieser Punkt wird ausführlich von Maria-Sibylla Lotter behandelt: »Die Prehensionslehre ist weder eine reine Erkenntnislehre noch eine reine Handlungslehre, sondern eine Lehre von der konkreten Wirklichkeit subjektiver Erfahrung, gegenüber der (reine) Erkenntnis und Handlung keine konkrete Wirklichkeit, sondern Interpretationen von einzelnen abstrahierten Aspekten der Wirklichkeit darstellen« (Lotter (1996), S. 246). Lotters Interpretation weist dem Handlungsbegriff in der organistischen Philosophie eine wichtige Bedeutung zu und versteht bewusste Urteile im Kontext einer Handlungserörterung (vgl. Lotter (1996), S. 249 f.).
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Empfindungen voll entwickelt, hat ihren Ursprung jedoch bereits in einfacheren Empfindungsformen. Betrachtet man das Bewusstsein in der organistischen Philosophie nicht streng auf struktureller Ebene als den Kontrast zwischen Wirklichkeit und Proposition, sondern hinsichtlich der Qualität seines emotionalen Musters, so erscheint es nicht als klar von vorbewussten Empfindungsformen getrenntes Phänomen, sondern als Ergebnis und Kulminationspunkt über verschiedene Phasen der Konkreszenz hinweg verlaufender Erfahrungsprozesse. Viele Eigenschaften intellektueller Empfindungen haben ihre Basis bereits in fundamentalen Strukturen allgemeiner Empfindungsprozesse: Der Affirmations-Negations-Kontrast macht zwar den Kontrast zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit besonders deutlich, aber bereits in einfacheren Empfindungen mit begrifflichen Umkehrungen wird die Wirklichkeit nicht unmittelbar als sie selbst, sondern in Korrelation zu bloß begrifflichen Alternativen erfasst. Zwar ist die Einbeziehung einer Zukunftserwartung in die eigene Erfüllung in aufgeschobenen Urteilen besonders deutlich, doch ist bereits jedes einfache Empfinden immer schon ein »Übergang von der Wiederholung zur Antizipation« (AI, 192/350), die Erwartung einer relevanten Zukunft und die Harmonisierung der eigenen Selbsterfüllung mit den Bedürfnissen der erwarteten Zukunft zeichnen schon einfache physische Empfindungen aus. 199 Explizit bezeichnet Whitehead auch nicht notwendigerweise bewusste emotionale Regungen wie Ambitionen und Ängste als unverständlich, wenn sie bloß gegenwartsbezogen und nicht auf die Zukunft gerichtet sein sollen (vgl. AI, 191/349). Die Bewusstseinskonzeption der organistischen Philosophie greift alle diese Aspekte der einfacheren Empfindungsformen auf einer höheren Ebene wieder auf und macht sie zu Facetten der bewussten Empfindungen. Durch die Vielgestalt der im Bewusstsein zusammenlaufenden Eigenschaften des Erfahrungsprozesses wirkt Whiteheads Bewusstseinskonzeption zerfasert. Fast scheint es, als näherte sich die organistische Philosophie der Erfahrungsform des Bewusstseins deskriptiv, indem sie die verschiedenen, lebensweltlich vertrauten Phäno199 Bereits in der allgemein gehaltenen achten kategorialen Verbindlichkeit, der »Kategorie der subjektiven Intensität«, richtet sich das subjektive Ziel »auf die Intensität des Empfindens (a) im unmittelbaren Subjekt und (b) in der relevanten Zukunft« (PR, 27/ 73).
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mene bewussten Empfindens, deren Sammlung den methodischen Ausgangspunkt alles philosophischen Denkens bildet, sämtlich mit dem Konzept der intellektuellen Empfindungen erklären möchte. Auf der methodischen Ebene ist dieses Vorhaben bereits in der einleitenden Aufgabenstellung von Prozeß und Realität explizit ausgesprochen, wenn Whitehead formuliert, das Ziel der organistischen Philosophie sei, ein Interpretationsmuster zu schaffen, das »alles, dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind« (PR, 3/31) erklären können solle. Interessanterweise ist in der folgenden Ausarbeitung des metaphysischen Systems vom ›Willen‹ überhaupt nicht mehr die Rede, wie Robert Spaemann bemerkt. 200 Auch der Begriff des Gedankens erfährt keine Erklärung in den höheren Phasen der Erfahrung, obwohl die Kombination von aufgeschobenen Urteilen und endgültig urteilenden Urteilen offenkundig das zielgerichtete Denken erklären soll. Offenkundig sollen Urteile und, mitunter, auch bewusste Wahrnehmungen die Rolle einnehmen, die man umgangssprachlich mit ›Denken‹ oder ›Gedanken‹ assoziiert. Man könnte nun vermuten, die bereits auf der Ebene der propositionalen Empfindungen begründete dichotomische Aufteilung in bewusste Wahrnehmung und bewusste Vorstellungen diene Whitehead dazu, zumindest die in der Aufgabenstellung von Prozeß und Realität mit ›Wahrnehmung‹ und ›Gedanke‹ bezeichneten bewussten Empfindungen zu erklären. Bewusstsein wäre dann eine hauptsächlich kognitive Kategorie. Leider aber definiert Whitehead als diejenigen intellektuellen Empfindungen, die auf den propositionalen Empfindungen im Modus der ›vorstellenden Empfindungen‹ beruhen, nicht bewusste Vorstellungen, sondern intuitive Urteile. Die bewussten Vorstellungen sind lediglich ein Spezialfall innerhalb der intuitiven Urteile, und mehr noch: durch ihre Indifferenz gegenüber der Wahrheit negiert ihr emotionales Muster geradezu den 200 »Nicht von Ungefähr spricht Whitehead nur von ›Fühlen‹, ›Erfassen‹, ›Streben‹, nicht aber von ›Denken‹, ›Wollen‹ und ›Verantwortung‹« (Spaemann (1986), S. 179). Whitehead mag zwar in Prozeß und Realität nicht explizit von einer Erfahrungsform des Denkens sprechen, doch beschäftigt er sich implizit durchaus mit der Frage, wie sich Gedanken innerhalb seiner Erfahrungsmetaphysik strukturell erklären lassen. Von Verantwortung wird höchstens an einigen verstreuten Stellen gesprochen, die sich mit der fundamentalen Verortung der Ethik im Konkreszenzprozess wirklicher Einzelwesen beschäftigen. Ein Willenskonzept sucht man in der organistischen Philosophie allerdings tatsächlich vergebens, auch wenn der Willensbegriff zu Beginn von Prozeß und Realität als von der Gesamttheorie zu erklärender Begriff genannt wird.
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Zweck der Urteile, nämlich dem erfahrenden Subjekt zu einer Erkenntnis zu verhelfen. Offenkundig will Whitehead zwei Aufgabengebiete zu einer Konzeption verquicken, nämlich die Formen menschlicher Erfahrung und seinen Ansatz einer Wissenschaftstheorie. Mit besonderer Deutlichkeit ergibt sich diese Schlussfolgerung, wenn man Whiteheads Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein im Kapitel Die Anatomie einiger wissenschaftlicher Ideen in Die Ziele von Erziehung und Bildung vergleicht, in welchem die Beziehung zwischen Wahrnehmung und wissenschaftlichem Denken untersucht wird. Auch die summarische Bezeichnung bewusster Empfindungen als ›intellektuelle Empfindungen‹, die an keiner Stelle definitorisch begründet wird, könnte sich aus diesem Anspruch auf einen zumindest latenten wissenschaftsterminologischen Beiklang in der Bewusstseinsstruktur erklären. Whiteheads in Die Ziele von Erziehung und Bildung getroffene Unterscheidung zwischen primären und sekundären Gedanken ähnelt deutlich der Unterscheidung zwischen bewussten Wahrnehmungen und intuitiven Urteilen in Prozeß und Realität: Wenn wir von Sinnes-Vergegenwärtigung sprechen, meinen wir diese primären Gedanken, die wesentlich an ihrer Wahrnehmung beteiligt sind. Aber es gibt Gedanken über Gedanken und Gedanken, die sich von anderen Gedanken herleiten. Diese sind sekundäre Gedanken. An dieser Stelle ist es angebracht, explizit zu unterscheiden zwischen einem aktualen Gedankenausdruck, das heißt einem aktual gebildeten Urteil, und einer bloßen Proposition, welche ein hypothetischer Gedankenausdruck ist, das heißt eine vorgestellte Möglichkeit eines Gedankenausdrucks. […] Nun zielt Wissenschaft darauf ab, unsere reflektierenden und abgeleiteten Gedanken mit den primären Gedanken zu harmonisieren, die an dem unmittelbaren Erfassen der Sinnes-Vergegenwärtigung beteiligt sind. Sie zielt auch darauf ab, solche abgeleiteten Gedanken hervorzubringen, die logisch miteinander verknüpft sind. Dies ist wissenschaftliche Theorie; und die zu erreichende Harmonie ist die Übereinstimmung von Theorie mit Beobachtung, die das Erfassen von Sinnes-Vergegenwärtigung ist. (AE, 123 f./177 ff.)
Hier werden ›Gedankenausdruck‹ (thought expression) und ›Urteil‹ explizit als Synonyme verstanden. Der Terminus der ›abgeleiteten Gedanken‹ (derivative thoughts), der wissenschaftliches Denken kennzeichnet, taucht in synonymer Form – als ›abgeleitetes Urteil‹ (derivative judgment) – in der Bewusstseinsdiskussion im zweiten Teil von Prozeß und Realität, dem Diskussions- und Anwendungsteil, wieder auf – wird im dritten Teil, der die Struktur des Bewusstseins ausführ265 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
lich erklären soll, allerdings nicht mehr erwähnt. 201 Diese seltsame Fraktionierung eines eigentlich zusammengehörigen Themas ist bedauerlich, denn man würde sich von einem Bewusstseinskonzept eine detailliertere Beschreibung von Gedanken, Urteilen, wissenschaftlichen Theorien und Vorstellungen erhoffen, die auch eine genauere Abgrenzung der einzelnen Begriffe voneinander ermöglichte. Das Konzept in Prozeß und Realität, das versucht, so viele Aspekte menschlicher Erfahrung miteinander zu verbinden, lässt den Leser über die genaue Rolle der einzelnen Strukturelemente im Unklaren. Das gilt nicht nur für die unübersichtliche Konzeption der intuitiven Urteile, sondern auch für den Bereich der Wahrnehmungen: Die in Kulturelle Symbolisierung entwickelte Theorie des symbolischen Bezugs, der die zwei Wahrnehmungsformen der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit zu einer einheitlichen Wahrnehmungserfahrung verbindet, wird in der Diskussion der menschlichen Wahrnehmung im dritten Teil von Prozeß und Realität nicht thematisiert. Bezüglich der Struktur der bewussten Wahrnehmung wird nicht klar, welchem Wahrnehmungsmodus sie entsprechen soll. Im Propositionskapitel des zweiten Teils von Prozeß und Realität beschreibt Whitehead zwei Arten von Urteilen: Intuitive Urteile und ›abgeleitete Urteile‹ (derivative judgments). Holl übersetzt sowohl derivative judgments im zweiten Teil (PR, 192/356) von Prozeß und Realität wie auch inferential judgments im dritten Teil (PR, 274/498) mit ›abgeleitete Urteile‹, da er in beiden offenkundig die gleiche Empfindungsstruktur sieht. Elizabeth Kraus unterscheidet derivative judgments von intuitiven Urteilen, indem sie in ersteren ›Urteile der Wirklichkeit‹ und in letzteren ›Urteile der Erscheinungen‹ sieht (vgl. Kraus (1979), S. 95). Ob sie damit derivative judgments und inferential judgments als verschiedene Urteilsformen oder als zwei Beschreibungen einer Urteilsform sieht, lässt sie offen. Genau wie Wolfe Mays (Mays (1959), S. 159 f.) interpretiert Kraus das Konzept der derivative judgments als den Bereich von Whiteheads Urteilstheorie, in dem logische Urteile gefällt werden, die nicht mehr empirisch überprüft werden, sondern lediglich logisch. Mays sieht in derivative judgments Empfindungen, die »deductive reasoning« sein sollen, also rein logisch-deduktives Urteilen. Leider greift Whitehead den Begriff der derivative judgments in seiner Beschreibung des Bewusstseins im dritten Teil von Prozeß und Realität nicht mehr auf, während er im zweiten Teil, in dem die derivative judgments behandelt werden, von inferential judgments überhaupt nicht spricht. Zwar weisen beide Konzepte deutliche Ähnlichkeiten auf, doch sind die Kontexte, in denen sie behandelt werden, sehr verschieden. Whiteheads Ausführungen zum Bewusstseinsbegriff im zweiten Teil von Prozeß und Realität haben also teilweise engere terminologische Verbindungen zu Die Ziele von Erziehung und Bildung als zum dritten Teil von Prozeß und Realität. Die organistische Philosophie hätte an dieser Stelle von einer gründlicheren und konsequenteren Darstellung Whiteheads profitiert. 201
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Zwar scheinen die Theorie der Propositionen und die Theorie des symbolischen Bezuges beider Wahrnehmungsmodi Ähnlichkeiten zu haben, aber im Detailvergleich ergeben sich viele Ungereimtheiten. 202 Auch erlaubt die Struktur der intellektuellen Empfindungen nicht, Gedanken zu erklären, die sich reflexiv mit anderen Gedanken beschäftigen: Die von Whitehead erwähnten sekundären Gedanken, die »Gedanken über Gedanken und Gedanken, die sich von anderen Gedanken herleiten«, müssten in der in Prozeß und Realität dargestellten Struktur ebenfalls auf dem Affirmations-Negations-Kontrast zwischen einer Proposition und einer Wirklichkeitsempfindung beruhen. Reflexionsschritte müssten also in der Theorie der Propositionen angelegt sein, worauf die Theorie der Propositionen jedoch keinen Hinweis liefert. So ist kaum zu verstehen, wie Whiteheads Bewusstseinskonzeption ein reflexives Bewusstsein oder gar ein Selbstbewusstsein ausdrücken können soll. 203 Wahrnehmungen und Vorstellungen sind primär kognitive Kategorien, während ein dauerhaftes Selbst, das von der Umwelt unterschieden ist, von Whitehead überhaupt nicht thematisiert wird. Die einzige Erwähnung einer Handlungsperson im Bewusstseinskapitel des dritten Teils von Prozeß und Realität ist die des »dauernden Wahrnehmenden« (enduring percipient) (PR, 270/490), ansonsten formuliert Whitehead keine Theorie, die erklärte, von welcher Gestalt die persönliche Identität sein könnte, zu der sich ein Selbstbewusstsein verhalten könnte. 204 Die einzige Erwähnung des Be202 Zu einer minutiösen Untersuchung der Ungereimtheiten in Whiteheads Theorie des Bewusstseins siehe vor allem die scharfsinnigen Ausführungen von John W. Blyth, der zumindest die Problemfelder bei einem Vergleich der verschiedenen Konzepte Whiteheads benennt: Vgl. Blyth (1980), S. 84 ff. 203 Ob Whitehead mit der Begriffswahl der ›intuitiven Urteile‹ ein Intuitionskonzept in seine Bewusstseinstheorie hineinbringt, das sich als Gegenteil von Reflexionen versteht, wird sich nicht abschließend klären lassen, da er den Intuitionsbegriff in den intuitiven Urteilen nie definitorisch bestimmt. Zumindest fordert der Charakter des unmittelbaren Erfassens, der Intuitionen eigen ist, eigentlich auch die Komplementierung durch eine reflexive, distanziertere Form des Empfindens, um die volle Bandbreite unserer uns lebensweltlich vertrauten Alltagserfahrung abdecken zu können. Formen bewusster Empfindungen, die diesem Profil gerecht würden und zumindest in die Richtung von Reflexion oder Diskursivität deuten, finden sich jedoch in Whiteheads Bewusstseinstheorie nicht. 204 Eine gegensätzliche Position vertritt Stascha Rohmer, für den ein Individuum nach Whiteheads Konzeption stets ein »reflexives Werde-Wesen« (Rohmer (2000), S. 220) und Bewusstsein stets Selbstbewusstsein ist (vgl. Rohmer (2000), S. 211). Rohmers Vergleich Whiteheads mit Hegel bezüglich der Rolle der Negativität für ihre Bewusstseins-
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
griffs ›Selbstbewusstsein‹ (self-consciousness) in Prozeß und Realität findet sich im Anschluss an Whiteheads Darstellung der personalen Identität durch die Kategorie der begrifflichen Umkehrung: »Aber bei den höheren Tieren gibt es eine zentrale Lenkung, die den Gedanken nahelegt, daß hier jeder tierische Körper eine lebende Person oder lebende Personen beherbergt. In unserem eigenen Selbstbewußtsein sind wir uns unserer selbst direkt als solche Personen gewiß.« (PR, 107 f./ 208 f.) 205 Ein Selbstbewusstsein scheint für Whitehead in der Erfahrung der eigenen Person zu bestehen, also in der Abgrenzung derjenigen Teile der Vorwelt, die ›zu mir‹ gehören, von denjenigen Teilen der Vorwelt, die die Umwelt konstituieren. Die ursprüngliche Erfahrung des Subjekts kennt noch keine solche Unterteilung, sondern empfindet die gesamte Vorwelt unmittelbar. In der Ausdifferenzierung der massiven Gesamterfahrung zu einer eigenen, personalen Struktur und einer äußeren Umwelt besteht die eigentliche Leistung des komplexen, bewussten Subjekts in der organistischen Philosophie. 206 Die andaukonzepte (Rohmer (2000), S. 212) ist naheliegend, wenn man die Terminologie beachtet, mit der er Whiteheads Bewusstseinssystem beschreibt: Reflexivität, Selbstbestimmung und sich-ins-Verhältnis-Setzen sind keine Begrifflichkeiten der organistischen Philosophie, sondern erinnern an die Philosophie des deutschen Idealismus. Die einzige andere Auseinandersetzung mit dem Problem des Selbstbewusstseins bei Whitehead stammt von Ernest Wolf-Gazo, der interessanterweise ebenfalls die Systeme Whiteheads und Hegels vergleicht (vgl. Wolf-Gazo (1986), S. 208 f.) Allerdings scheint WolfGazo nicht jeden Bewusstseinsakt in der organistischen Philosophie auch bereits als Selbstbewusstseinsakt zu verstehen, sondern das Selbstbewusstsein als Sonderfall des Bewusstseins zu betrachten. Den Vergleich des ›negativen Urteils‹ (negative judgment) in der organistischen Philosophie mit Hegels systematischem Konzept der Negation stellt auch Wolf-Gazo an (vgl. Wolf-Gazo (1986), S. 213). Reto Luzius Fetz unterscheidet ebenfalls nicht definitorisch zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein, bringt Whitehead aber nicht mit idealistischen Konzepten in Verbindung (vgl. Fetz (1980), S. 61 ff.). 205 Im Englischen formuliert Whitehead »Our own self-consciousness is direct awareness of ourselves as such persons«. ›Direct awareness‹ ist mehr als bloßes Gewisssein, es ist eine Beschreibung direkter Wahrnehmung. 206 In Die Funktion der Vernunft setzt Whitehead das Resultat dieser Aufteilung in Selbst und Umwelt als selbstverständlich voraus, wenn er in der ersten allgemeinen Funktionsbestimmung der Vernunft sagt: »Die höheren Lebensformen sind darauf eingestellt, ihre Umwelt durch aktives Eingreifen zu verändern« (FR, 5/9). Die durch Kanalisierung des mentalen Pols entstandene dauernde Person wird in diesem Text ebenso vorausgesetzt. Auch die Form der höheren mentalen Operationen, in denen die Wirkung der Vernunft erkennbar ist, erinnert an die Bewusstseinstheorie von Prozeß und Realität. Bewusstsein und dauernde Person werden offenkundig als Voraussetzungen
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ernde Person ist der Umwelt in keiner Weise vorgängig, sondern der Ursprung beider liegt in der abstrakten Konstruktion einer kosmopsychologischen subjektiven Erfahrungseinheit. Zwar möchte Whitehead durchaus das Selbstverhältnis einer andauernden Person durch seine Bewusstseinstheorie ausdrücken können und dieses Selbstbewusstsein mag auch implizit mitgedacht sein, doch gibt die Struktur der bewussten Empfindungen leider kein gutes Instrumentarium an die Hand, um diesen Bereich der menschlichen Lebenswelt in verständlichen Formen zu beschreiben. Ohnehin fällt es schwer, Beispiele aus dem Bereich menschlicher Alltagserfahrung zur Illustration von Whiteheads Bewusstseinsformen zu finden. Bewusste Wahrnehmungen und bewusste Vorstellungen erschließen sich lebensweltlich recht schnell, doch welche Erfahrungen durch intuitive Urteile oder aufgeschobene Urteile dargestellt werden sollen, lässt sich nicht unmittelbar nachvollziehen. Whiteheads Bewusstseinskonzept, das er im dritten Teil von Prozeß und Realität darstellt, bleibt, auch nach eingehender Untersuchung, merkwürdig vage. Bewusstsein soll in der gesteigerten Aufmerksamkeit bestehen, mit der das aktive Subjekt Teile des dunklen Erfahrungshintergrundes illuminiert und so die Funktion des Erkennens ausübt. Diese Weise des Empfindens ist eine eigene subjektive Form, Bewusstsein ist also keine bloß formale Bestimmung, sondern emotionale Wirklichkeit des Subjekts. Strukturell ist seine Beschreibung recht einfach: Propositionale Empfindungen – die zwei Formen der wahrnehmenden Empfindungen und der vorstellenden Empfindungen – werden wieder aufgegriffen und in einen Kontrast mit dem Bereich der Wirklichkeit, von dem sie ausgesagt werden, gestellt, dem Affirmations-Negations-Kontrast. Die nuancenreiche Binnendifferenzierung, die sich in der Theorie der Propositionen aus den möglichen Einflüssen der Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung ergibt, wird in den intellektuellen Empfindungen wieder aufgenommen und führt zu einem fein durchgliederten Portfolio bewusster Empfindungsformen, die letztlich auf den zwei Erfahrungsbereichen der Wahrnehmungen und der Vorstellungen beruhen. Zusätzlich werden Urteile eingeführt, die über Richtigkeit oder Unrichtigkeit der empfundenen Proposition richten. Leider ist aber Whiteheads höherer Vernunfttätigkeit verstanden: »Gleichzeitig aber setzt eine Selbstregulierung des Psychisch-Geistigen ein, eine Urteilsfähigkeit, die die eigenen Aktivitäten kanalisiert […]: die Vernunft wird sichtbar« (FR, 27/31 f.).
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Darstellung ambivalenter, als sie hätte sein müssen. Die genaue Relation von bewusster Wahrnehmung und dem in Kulturelle Symbolisierung detailliert beschriebenen komplexen Verhältnis der beiden Wahrnehmungsformen kausaler Wirksamkeit und präsentativer Unmittelbarkeit bleibt ungeklärt, die Terminologie und der Fokus in der Darstellung der intuitiven Urteile unterscheidet sich zwischen dem zweiten und dem dritten Teil von Prozeß und Realität erheblich genug, um die Frage nach der Einheitlichkeit des Entwurfs aufkommen zu lassen. Zudem erfüllt sich der eingangs von Prozeß und Realität verkündete Anspruch, ein Interpretationsmuster für »jedes Element unserer Erfahrung […], dessen wir uns als Erlebnis, Wahrnehmung, Wille oder Gedanke bewußt sind« (PR, 3/31) zu sein, nicht vollständig, da nicht einmal alle genannten Begriffe in der Folge wieder aufgegriffen werden. Durch diese selektive Behandlung der uns lebensweltlich vertrauten Bewusstseinsphänomene stellt sich die Frage, ob das von Whitehead eingeforderte methodische Strukturmerkmal der Adäquanz, also die umfassende Behandlung unserer Erfahrungen, in seiner Konzeption höherer Erfahrungsakte erfüllt wird. Seine Bewusstseinskonzeption möchte offenkundig gar nicht psychologisch ausführlich alle Phänomene unseres Bewusstseins erklären, sondern eine Grundstruktur anbieten, an die anknüpfend sich bei Bedarf andere komplexe Formen unserer Erfahrung erklären lassen. Wie er sagt, bedeutet Adäquanz nicht, in Bezug auf jede einzelne Beobachtung adäquat zu sein, sondern eine einheitliche Textur der Erfahrung anzubieten, die universell anwendbar ist (vgl. PR, 3 f./32). Leider wird auf diese Weise nicht deutlich, welchen genauen interpretatorischen Erklärwert für unsere lebensweltlichen Erfahrungen die Bewusstseinskonzeption der organistischen Philosophie haben soll. Der Mensch als Gesamtphänomen wird aus ihr nicht greifbar, und eine Handhabe zum Verständnis und zur Bewältigung praktischer Probleme lässt sich aus ihr ebenfalls kaum gewinnen – ob also Whiteheads Bewusstseinstheorie als Ganze eine adäquate Repräsentation unserer Erfahrung oder zumindest ein adäquates Interpretationsmuster unserer psychologischen Dynamik bietet, sei an dieser Stelle zumindest bezweifelt. Die organistische Philosophie universalisiert den Erfahrungsbegriff, indem sie das anthropomorphe, abstrakte ontologische Konzept des wirklichen Einzelwesens kreiert, und versucht in ihrer Bewusstseinskonzeption, den Spalt zwischen dem allgemeinen abstrakten Konzept und der ursprünglich als Ausgangsbasis für jedes philosophische Denken dienenden mensch270 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
lichen Lebenswelt möglichst weit zu überbrücken. Dieser Spagat ist der Theorie des Bewusstseins deutlich anzumerken.
2.6 Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie 2.6.1 Menschliche Erfahrung unterhalb der Schwelle des Bewusstseins Eine Erfahrungsbestimmung, die auf den Bereich unterhalb der Schwelle des Bewusstseins begrenzt ist, bleibt so lange vorläufig, bis die Struktur des Bewusstseins endgültig geklärt ist. Auch ist der Bereich unterhalb des Bewusstseins bereits sprachlich immer eine Definition ex negativo, eben wesentlich dasjenige, was ohne die Qualität des Bewusstseins auskommt. In Prozeß und Realität verwendet Whitehead den Begriff ›unbewusst‹ (unconscious) äußerst spärlich und zumeist unterminologisch. Der Ausdruck ›unterbewusst‹ (subconscious), der kein psychologischer Fachterminus, sondern hauptsächlich ein Begriff der Umgangssprache ist, kommt in Prozeß und Realität nur einmal vor (vgl. PR, 187/348); Sigmund Freuds für den Bewusstseinsbegriff traditionsbildende Einteilung des menschlichen Erfahrungsapparates in Bewusstsein (»bw«), Unbewusstsein (»ubw«) und Vorbewusstsein (»vbw«) würde stattdessen vom Vorbewussten (preconsciousness) sprechen, doch dieser Begriff ist der organistischen Philosophie inhaltlich und terminologisch fremd. 207 Obwohl Whitehead Freud nur einmal en passant und unkontextualisiert erwähnt (vgl. PR 32/82), gibt es Ähnlichkeiten zwischen den Menschenkonzepten beider Theorien. Der mit der Psychologie und der Psychoanalyse etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzende Paradigmenwechsel bei der Erklärung der menschlichen Mentalität verabschiedet endgültig das lange maßgebliche Gegensatzpaar von Ratio und Emotion als Hauptdistinktions207 Später schafft Sigmund Freud die Begriffstrias Bewusstsein, Unbewusstsein und Vorbewusstsein zugunsten seines Konzeptes von Ich, Es und Über-Ich ab: Vgl. Freud (1975), S. 283 ff. Dieser Konzeptwechsel beruht auf der Uneindeutigkeit, die Freud in der Aufspaltung des Unbewussten in zwei Bereiche ausmachte: »Nun können wir mit unseren drei Termini, bw, vbw und ubw, bequem wirtschaften, wenn wir nur nicht vergessen, daß es im deskriptiven Sinne zweierlei Unbewußtes gibt, im dynamischen aber nur eines« (Freud (1975), S. 285).
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merkmal menschlicher Geistestätigkeit und macht stattdessen die Spannung zwischen Bewusstsein und den unbewussten Prozessen zur zentralen Unterscheidung für die Interpretation des menschlichen Erfahrungsapparates. Wenngleich Whiteheads weitgespannte Interessen, wie sie sich in seinen Schriften manifestierten, die Psychologie fast völlig auslassen, befindet er sich mit der Unterteilung seiner Erfahrungskonzeption in einen bewussten und einen noch nicht bewussten Teil in der Gesellschaft zu seiner Zeit hochaktueller Denker, die zur Speerspitze des intellektuellen und wissenschaftlichen Fortschritts gehörten. Mit Freud teilt die organistische Philosophie die Überzeugung, der wichtige und erforschenswerte Teil des menschlichen Erfahrungsapparates liege nicht auf der Ebene des Bewusstseins, sondern im Bereich des Nicht- oder Noch-Nicht-Bewussten. Dabei lässt Whiteheads Theorie keine inhaltliche Unterscheidung erkennen zwischen einerseits einer vorbewussten Erfahrung, die noch nicht in den Fokus des Bewusstseins gerückt ist, aber grundsätzlich einer bewussten Betrachtung offenstünde, und andererseits einer unbewussten Erfahrung, also einer emotionalen Dynamik, die sich einer Bewusstmachung dezidiert widersetzt – in der Psychologie der Freud’schen Tradition vor allem ein Ergebnis von Verdrängungsprozessen oder, in potenzierter Form, Traumata. Die Erfahrungsakte ab der Stufe symbolischer Bezüge und propositionaler Empfindungen können, legt man dieses psychologische Schema der Bewusstseinsdynamik an, als vorbewusst bezeichnet werden, da sie in der Phasenabfolge eines Konkreszenzprozesses durch anschließende bewusste intellektuelle Empfindungen empfunden und damit ins Bewusstsein gehoben werden können. Whiteheads Denken kennt keine Gegendynamik zu Bewusstmachungsprozessen; der teleologische Selbstwerdungsprozess eines wirklichen Einzelwesens wird einzig unter der Maßgabe des Strebens nach größerer Intensität betrachtet. Wenngleich höhere Phasen der Erfahrung und, als deren Krönung, bewusste Empfindungen niemals dogmatisch mit einer intensiveren Erfüllung des emotionalen Musters identifiziert werden, so lässt die organistische Philosophie doch keinen Zweifel an der grundsätzlichen Richtigkeit dieser Gleichsetzung aufkommen. Insgesamt ähnelt Whiteheads Konzeption der höheren Geistestätigkeit nicht so sehr psychodynamisch orientierten Theorien als vielmehr kognitiven Beschreibungen des menschlichen Erkenntnisvermögens. Auch der Beginn der menschlichen Emotionalität scheint in den 272 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
Empfindungen zu liegen, die begriffliche Umkehrung, Umwandlung, und die Konzepte der Symbolisierungen und Propositionen kombinieren. Durch diese Kombination entstehen Erfahrungseigenschaften, die für komplexe Emotionen unverzichtbar sind. Personale Identität wird durch die kanalisierte Vererbung begrifflicher Empfindungen und deren vereinheitlichendes Erfassen in einem Nexus durch begriffliche Umkehrung und Umwandlung gebildet. Wahrnehmungen im symbolischen Bezug der kausalen Wirksamkeit und der präsentativen Unmittelbarkeit vereinen bewusste Sinnesempfindungen und unbewusste Erinnerungen, aber sie dienen der organistischen Philosophie zugleich auch als Ausgangspunkt für die Erklärung des organischen Körpers (vgl. 311 ff./560 ff.). 208 Zusammen mit der Subjekt-Objekt-Trennung der Wahrnehmung, die in propositionalen Empfindungen stattfindet, teilt sich so die Erfahrung in eine Innen- und Außenwahrnehmung auf, eine andauernde personale Identität entsteht, für welche die Welt sich in ein Ich und eine Umwelt unterscheidet. 209 All diese Bestandteile der menschlichen Erfahrungswelt können nicht trennscharf auseinandergehalten werden, sondern gehen ineinander über. Der Relevanzgrad der verschiedenen Faktoren mag zwischen einzelnen Erfahrungen variieren, doch ist die menschliche Erfahrungswelt immer eine Mischung dieser Faktoren, die zumindest vage stets präsent sind. Eine spezifisch menschliche Emotionalität von der allgemeinen Qualität des emotionalen Musters, das jedem wirklichen Einzelwesen eigen ist, zu trennen, ist kaum erfolgversprechend; auch ist der Begriff der ›Emotion‹ in der Philosophie keineswegs eindeutig bestimmt. 210 208 Whitehead spricht im vierten Teil von Prozeß und Realität von einem jede menschliche Erfahrung begleitenden »›Dabeisein‹ des Körpers«, das durch die Wahrnehmungsform der »körperlichen Wirksamkeit« (bodily efficacy) begründet sei, die eindeutig mit der kausalen Wirksamkeit identisch ist. Eine tiefere Behandlung von Whiteheads Theorie der Ausdehnung zur Klärung seines Körperbegriffs muss aufgrund der Komplexität des Themas in diesem Buch unterbleiben. 209 Die meisten Theorien der Emotionspsychologie gehen von einer fundamentalen Objektgerichtetheit der Emotionen aus (vgl. Meyer, Schützewohl, Reisezein (1993), S. 26 f.). Dieser Bezugsgegenstand des emotionalen Empfindens müsste in der organistischen Philosophie das Ergebnis propositionaler Empfindungen sein. 210 Einen knappen Überblick über die gegenwärtige Forschungslage zum Emotionsbegriff bietet Mees (2006), der allerdings nicht die philosophische Debatte um den Emotionsbegriff beschreibt, sondern hauptsächlich den Forschungsbereich der Emotionspsychologie. In einer Untersuchung des philosophischen Emotionsbegriffs bringt Paul Griffiths die seiner Meinung nach erstaunliche bisherige Vernachlässigung dieses
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Deshalb lässt sich in der organistischen Philosophie keine präzise Begriffs- oder Funktionsdefinition der menschlichen Emotionalität nachweisen, sondern lediglich ein grober Umriss der Konturen menschlicher Emotionen zeichnen. 211 Die einzige Orientierungsmaßgabe für Subjekte in der organistischen Philosophie ist die Ausrichtung auf eine reichere Erfüllung gemäß der metaphysischen Annahme des Strebens nach höherer Erlebnisintensität. Spezifische Handlungsanweisungen für menschliches Verhalten oder besondere Ausformungen des emotionalen Musters, die als menschliche Emotionen bezeichnet werden könnten, lassen sich aus dieser allgemeinen Formulierung jedoch nicht ableiten. Jede komplexe Emotion, die Whitehead einführt, muss einer Funktion im kognitiven Prozess der höheren Formen der Erfahrung
Phänomens in der philosophischen Debatte auf die Formel »Philosophy and Emotion – The Poverty of Conceptual Analysis« (vgl. Griffiths (1997), S. 21 ff.). Auch in der Emotionspsychologie wird der Emotionsbegriff ganz unterschiedlich besetzt, eine verbindliche, exakte Definition des Phänomens der Emotionen fehlt dem Fachbereich. WulfUwe Meyer, Achim Schützewohl und Rainer Reisenzein ziehen im ersten Band ihrer Einführung in die Emotionspsychologie aus vielen ihrer Sichtweise nach ungenügenden Emotionstheorien den Schluss, der Emotionsbegriff werde dogmatisch eingeengt, wenn man sich ihm mit mehr als einer ungefähren Arbeitsdefinition nähere, die ohne Endgültigkeitsanspruch Beispiele anführt und daraus auf Merkmale schließt (vgl. Meyer, Schützewohl, Reisezein (1993), S. 22 f.). Auch halten sie die häufig anzutreffende Unterscheidung zwischen Emotionen, Affekten und Stimmungen für artifiziell (vgl. Meyer, Schützewohl, Reisezein (1993), S. 33 f.), in Whitehead’scher Terminologie könnte man bezüglich einer solch trennscharfen Begriffsunterscheidung von einem »Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit« sprechen. Eingedenk dieser psychologischen Herangehensweise an das weite Feld der menschlichen Emotionalität erscheint es sinnvoll, auch den Versuch, Ansätze der menschlichen Emotionalität in der organistischen Philosophie nachzuweisen, nicht auf einen streng vordefinierten Emotionsbegriff zu gründen, sondern ungefähr dem Phänomen der Emotionalität nachzuspüren. 211 Theodor Leiber hat den Versuch unternommen, Whiteheads Philosophie in Hinblick auf seinen Begriff des Gefühls und, als Spezialfall dessen, auf seinen Emotionsbegriff auszudeuten und eine Verbindung zu den Neurowissenschaften auszuweisen. Interessanterweise stammt die Differenzierung der menschlichen Emotionalität in verschiedene einzelne Gefühle, die sich in Leibers Text findet, nicht aus der Philosophie Whiteheads, sondern wird aus einer anderen philosophischen Gefühlskategorisierung übernommen. Einzelne Gefühle der menschlichen Erfahrungswelt in Whiteheads Schriften spürt auch diese Untersuchung nicht auf. Ein Zusammenhang zwischen spezifischen Gefühlen und korrespondierenden Hirnaktivitäten oder eine philosophische Theorie des Hirns allgemein ist mit Whiteheads Theorien ebenfalls nicht nachweisbar, sodass Leiber konzidiert: »Eine dezidiert neurowissenschaftliche Perspektive auf Gefühle bietet Whitehead nicht an« (vgl. Leiber (2011), S. 134 ff.).
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Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
zugeordnet sein. Deshalb kann er die subjektive Form der grundlegenden Emotionen als Muster beschreiben, das ein wirkliches Einzelwesen dazu bringt, »zu glauben, zu bezweifeln, zu genießen, oder auch […] zu gehorchen« (AI, 243/427), aber er kann als grundlegende Emotionen auch »Schrecken, Erleichterung, Zwecksetzung« (PR, 188/351) verstehen, weil er jeder dieser Emotionen eine Funktion in seinem metaphysischen Schema zuweisen kann. Einen verbindlichen Katalog von Basisemotionen hat Whitehead typischerweise nicht angelegt. Zumindest ist jede Form menschlicher Emotionalität bereits sehr viel komplexer als die ontologisch fundamentale Emotionalität einfacher wirklicher Einzelwesen: »Es ist jedoch daran zu erinnern, daß Gefühl in der menschlichen Erfahrung, oder sogar in der tierischen, nicht bloße Emotion ist. Es ist interpretiertes, integriertes und in höhere Kategorien des Empfindens umgewandeltes Gefühl.« (PR, 163/305) Offensichtlich sind Emotionen auf die Vorleistung eines andauernden, zwischen sich selbst und seiner Umwelt unterscheidenden Individuums angewiesen. Die tiefemotionale Wahrnehmung im Modus der kausalen Wirksamkeit sorgt für die Verbindung der Erfahrungswelt eines Individuums mit seiner Vorwelt; Emotionen entstehen in dieser Verknüpfung der Erinnerung bereits getätigter Erfahrungen mit der in präsentativer Unmittelbarkeit empfundenen Umwelt. Für Whitehead nun verbinden Emotionen sich nicht hauptsächlich mit der präsentativen Wahrnehmung der eigenen Umwelt, sondern mit dem, was möglicherweise sein könnte. Echte Objekt-Empfindungen sind in der organistischen Philosophie in den propositionalen Empfindungen verortet, in denen auch der Anfang eines Empfindens bloß möglicherweise zutreffender Qualitäten liegt. Menschliche Emotionen sind für Whitehead nicht im klassischen Sinne objektgebunden, sondern sind vor allem aus der eigenen biographischen Erfahrung abgeleitete Muster, die sich auf einen üblicherweise im vagen Halbschatten unserer unbewussten Erfahrung verborgen bleibenden Bereich von Alternativen und möglichen zukünftigen Entwicklungen beziehen. Die Beschreibung dieser kognitiven Dynamik in Prozeß und Realität gewährt ein gutes Verständnis von Whiteheads durchaus lebendigem Bild des Bereichs unbewusster menschlicher Erfahrung, der in Situationen der Abwesenheit bewusster Sinneswahrnehmungen besonders deutlich wird:
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Das Ausbleiben vertrauter Sinnesgegenstände führt sehr leicht dazu, daß wir uns in vagen Ängsten über eine umgebende Welt kausaler Vorgänge verlieren. Im Dunklen gibt es schemenhafte Erscheinungen, vor denen man sich voller Zweifel fürchtet; in der Stille drängt sich uns die unwiderstehliche kausale Wirksamkeit der Natur auf; in der Dumpfheit des tiefen Summens von Insekten in einer Augustwaldung überwältigt uns der Einfluß von Empfindungen aus der uns umschließenden Natur; im verschwommenen Bewußtsein des Halbschlafs treten die Vergegenwärtigungen der Sinne zurück, und was uns bleibt, ist das vage Empfinden von Einflüssen vager Dinge um uns herum. Es trifft jedenfalls nicht zu, daß die Empfindungen verschiedener Typen von Einflüssen auf der Vertrautheit ausgeprägter Sinnesgegenstände in unmittelbarer Vergegenwärtigung beruhen. Jedesmal, wenn wir die Sinnesgegenstände außer acht lassen, sind wir vagen Empfindungen von irgendwelchen Einflüssen ausgeliefert. (PR, 176/328 f.)
Für den eigentlich abstrakten Darstellungsgestus von Prozeß und Realität ist diese anschauliche Beschreibung der menschlichen Erfahrungswelt ungewöhnlich. Wenngleich Whitehead hier von dem Wahrnehmungsmodus der kausalen Wirksamkeit spricht, ist die Parallele zu seiner Beschreibung der propositionalen Empfindungen augenfällig: Einige Menschen lassen Elemente aus diesem Komplex des Halbschattens auf ihr tatsächliches Empfinden einwirken und andere schließen sie völlig aus. Einige sind sich dieser inneren Entscheidung über über Zulassung oder Abweisung bewußt; bei anderen fließen die Ideen als Tagträume, ohne das Bewußtsein einer überlegten Entscheidung, ins Denken ein; und bei wieder anderen wird der emotionale Ton der Dankbarkeit oder des Bedauerns, der Freundschaft oder des Hasses, dunkel durch diesen Halbschatten von Alternativen beeinflußt, ohne daß es zu einer bewußten Analyse ihres Inhalts käme. (PR, 185/345)
Der von Whitehead in beiden Zitaten beschriebene unbewusste Erfahrungshintergrund stellt offenbar eine Kombination der in Kulturelle Symbolisierung ausgeführten symbolischen Beziehung zweier Erfahrungsmodi und dem Konzept der Propositionen dar. Zudem ist eine gewisse Akzentverschiebung zwischen beiden Zitaten erkennbar: Während das erste den Erfahrungshintergrund unbewusster Emotionen thematisiert, schließt das zweite auch bewusste Vorstellungen von Alternativen mit ein. Die Betonung eines Hintergrundes vager Emotionalität und unbewusster Erwägung von Alternativen erinnert an Whiteheads Auffassung der Welt, die er Bertrand Russell in einem Brief beschrieben hat: »You think the world is what it looks like in fine 276 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
wheather at noon-day; I think it is what it seems like in the early morning when one first wakes from deep sleep.« 212 Dabei werden Emotionen vor allem im unbewussten Teil des menschlichen Erlebens verortet, ihre Funktion wird mit den Grundfunktionen primitiver Organismen verglichen. Eine ganze Anzahl expliziter Emotionen sind das Erbe dieser auf die Anfänge der organischen Selbstorganisation zurückgehenden Verhaltensweisen: Ein Teil unserer Erfahrung ist handlich, in unserem Bewußtsein definit und kann nach Belieben leicht reproduziert werden. Der andere Typ der Erfahrung ist, obwohl er insistierend ist, vage, eindringlich und schwer zu handhaben. Der erste Typ ist trotz all seiner dekorativen Sinnes-Erfahrung steril. Er liefert uns eine Welt, die durch eine zufällige Schau verdeckt ist, eine Schau, die unser eigener Körper produziert. Der zuletzt genannte Typ ist beladen mit dem Gewicht des Kontakts vergangener Dinge, welche ihren Griff auf unser unmittelbares Selbst legen. Dieser letztere Typ, der Modus der kausalen Wirksamkeit, ist die Erfahrung, die das Leben der primitive lebenden Organismen dominiert. Sie haben ein Gefühl für das Schicksal, aus dem sie entstanden sind, und für das Schicksal, in welches sie übergehen. Solche Organismen schreiten voran und ziehen sich zurück, können aber kaum irgendeinen unmittelbaren Anschein unterscheiden. […] Zorn, Haß, Furcht, panische Angst, Attraktion, Liebe, Hunger, Eifer, intensiver Genuß sind Gefühle und Emotionen, die engstens mit dem primitiven Funktionieren des ›Zurückziehens von‹ und des ›Ausdehnens hin zu‹ verbunden sind. Sie entstehen im höheren Organismus als Zustände aufgrund eines lebhaften Auffassens, daß irgendeiner dieser primitiven Modi des Funktionierens den Organismus dominiert. (S, 43 ff./102 ff.)
Höhere Emotionalität ist in der organistischen Philosophie nicht nur an den generellen metaphysischen Erfahrungsbegriff geknüpft, sondern an das Zusammenspiel der komplexeren Wahrnehmungsformen von präsentativer Unmittelbarkeit und kausaler Wirksamkeit. Deshalb bietet die Konzeption der menschlichen Erfahrung nicht nur Anknüpfungspunkte für Vergleiche mit Kognitionstheorien wie etwa dem Konzept von Humberto Maturana, sondern behält durch den zentralen Stellenwert der Erinnerung an biographische Vorprägungen in der Form unbewusster Emotionen auch eine gewisse Verwandtschaft zu psychodynamischen Theorien. Wie sich entscheidet, welche biographischen Erfahrungen und 212
Russell (1956), S. 41
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Emotionsmuster zu emotionalen Assoziationsmustern führen, erklärt Whitehead nicht explizit. Als Steuerungsinstanz komplexer Organismen lässt sich aber das Konzept der praktischen Vernunft annehmen; die wilde Vielfalt von Emotionen und Assoziationen, von Wahrnehmungen und Vorstellungen, die das Leben eines Individuums prägen, müssen sich, um dem Individuum eine praktische Lebensfähigkeit zu gewähren, zu handhabbaren Reaktionsmustern fügen, woraus sich das der praktischen Vernunft zugeordnete Konzept der ›Lebensmethode‹ erkennen lässt. Der Vernunftbegriff ist bei Whitehead nicht antithetisch zur Emotionalität gedacht, Vernunft und Emotionen stehen in einer irreduziblen Wechselwirkung zueinander. Die häufige Betonung der Vagheit des unbewussten Erfahrungshintergrundes ist durchaus terminologisch zu verstehen. Vagheit ist ein Erfahrungscharakteristikum 213 und beschreibt einen Mangel an relevanten Kontrasten. Massive, vage Emotionalität ist eine Form der Erfahrung, in der große Mengen sich kaum relevant voneinander unterscheidender Empfindungen zu einer Gesamterfahrung führen, die keine strengen Unterteilungen vornimmt. Harmonische Erfahrungen haben einen Anteil an Vagheit; so werden etwa alle Mitglieder eines Nexus vage erfasst. Damit die scharf kontrastierenden bewussten Empfindungen, in denen Abstraktion und Simplifizierung bestimmte Seinsformen besonders deutlich hervorheben und ihnen Relevanz für die abschließende Erfüllung verleihen, richtig wirken können, benötigen sie eine Basis vager Empfindungen, auf denen sie aufbauen können. Das in jedem wirklichen Einzelwesen angelegte harmonische Zusammenspiel zwischen verschiedenen Erfahrungscharakteristika bildet eine Analogie zu dem Verhältnis zwischen dem vagen Erfahrungshintergrund und den bewussten Erfahrungsgegenständen in den höheren Erfahrungen: Daher ist die Vagheit eine wesentliche Bedingung der Enge, die ihrerseits eine Bedingung für Tiefe der Relevanz darstellt. Sie ermöglicht es einem Hintergrund, seine relevanten Anteile beizutragen und befähigt eine soziale Gruppe im Vordergrund, konzentrierte Relevanz für ihren Gemeinschaftscharakter zu gewinnen. Das richtige Chaos und die angemessene Vagheit sind beide erforderlich für jede effektive Harmonie. (PR, 112/216)
213 Die vier von Whitehead angegebenen Charakteristika sind Trivialität, Vagheit, Enge und Weite (vgl. PR, 111/215).
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Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
In gewisser Hinsicht ist der Bereich der menschlichen Erfahrungen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins, der Emotionen und der Anlagen zu Wahrnehmungen und Vorstellungen, der Höhepunkt ästhetischer Erfahrung. Zwar sind alle Erfahrungen ästhetische Akte und damit ist der Ästhetikbegriff ein metaphysisches Grundkonzept, doch verwendet die organistische Philosophie durchaus spezifisch der menschlichen Erfahrungswelt zugedachte Ästhetikvorstellungen. Whitehead selbst appelliert in seinem Beispiel für propositionale Empfindungen, dem Hamlet-Monolog ›Sein oder nicht Sein …‹, an einen unmittelbaren ästhetischen Genuss, der ungefiltert durch logische Erwägungen, Reflexionen und Maximen sein soll (vgl. PR, 185/344). Die literaturwissenschaftliche Analyse, in der dieser Monolog als Objekt der Untersuchung behandelt, reflektiert und kontextualisiert würde, wäre keine unmittelbare ästhetische Erfahrung mehr, sondern eine intellektuelle Leistung. Diese Form der Erfahrung soll durch die Theorie der intellektuellen Empfindungen erklärt werden, in der das Bewusstsein in das metaphysische System der organistischen Philosophie eingeführt wird.
2.6.2 Menschliches Bewusstsein Besonders auffällig an Whiteheads Vorstellung des menschlichen Bewusstseins ist die merkwürdige Formlosigkeit, die ihm anhaftet. Zweifellos ist in seinen Augen die menschliche Erfahrungswelt komplex, vielfältig und reichhaltig, und kaum anhand eines einzigen Unterscheidungsmerkmals in klar voneinander getrennte Kategorien einteilbar. Vielmehr besteht menschliche Erfahrung aus der Kombination einer Unmenge verschiedener möglicher emotionaler Qualitäten, die in ihren verschiedenartigen Verbindungen die subjektive Form des Erlebens bestimmen: Wir – als dauerhafte Objekte mit personaler Ordnung – objektivieren die Erkenntnisse unserer eigenen Vergangenheit in unserer unmittelbaren Gegenwart besonders vollständig. Wir entdecken in diesen Ereignissen, wie wir sie von unserem gegenwärtigen Standpunkt aus kennen, eine überraschende Vielfalt in der Reichweite und in der Intensität unserer realisierten Erkenntnis. Wir schlafen; sind halbwach; wir sind uns unserer Wahrnehmungen bewußt, es fehlt uns aber an allgemeinen Denkprinzipien; wir sind aufs lebhafteste in einen kleinen Bereich abstrakten Denkens vertieft und vergessen
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
derweil die Welt um uns herum; wir achten auf unsere Gefühle – ein Strom von Leidenschaft –, auf sie und nichts anderes; wir schweifen mit unserer Aufmerksamkeit krankhaft weit ab; und schließlich sinken wir in zeitweiliges Vergessen zurück, schlafen oder sind betäubt. Ferner können wir uns an Erfahrenes in unserer unmittelbaren Vergangenheit erinnern, das wir seinerzeit nicht bemerkten. (PR, 161/301)
Statt eine kategorische Stufe zwischen den Qualitäten unbewusster und bewusster Erfahrung zu sehen, betont Whitehead stets die ungemeine Vielfalt der Phänomene unseres Erlebens. Bewusstsein ist in der zitierten Passage beileibe nicht das primäre Distinktionsmerkmal, um die Bandbreite der Erfahrung zu kategorisieren. Auch bieten sich verschiedene Binnendifferenzierungen innerhalb des bewussten Empfindens an, das qualitative wie des bewussten Erlebens unterscheidet sich, zwischen analytisch-abstraktem Denken und emotionaler SelbstAufmerksamkeit, enorm. Als allgemeine Qualitäten, um den Stellenwert des Bewusstseins innerhalb seines umfassenden Erfahrungsbegriff zu orientieren, verwendet Whitehead »Reichweite und Intensität«. Bewusste Erfahrungen zeichnen sich durch ein gewisses Maß an selektiv auf einen bestimmten Teil der Gesamterfahrung gerichtete Aufmerksamkeit aus. Aufmerksamkeits- und Reichweitensteigerung scheint aber weit eher auf eine Konzeption kontinuierlicher Intensitätszunahme hinzuweisen als auf eine scharfe Trennung zwischen Bewusstsein und Unbewusstem. Auch können wir einen scharfen Bruch zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten in unserer Alltagserfahrung gar nicht klar fassen. Das Bewusstsein hat keine singuläre, es von den ›bloßen‹ unbewussten Empfindungen eindeutig abgrenzbare Funktion, sondern untergliedert sich selbst wieder in verschiedene Empfindungsformen, die unterschiedliche Intensitäten und Reichweiten haben. Von bewussten Wahrnehmungen, die über die unbewusste Affirmation der Vorwelt kaum hinausgehen, bis zu hochkomplexen negativen bewussten Empfindungen, die den Affirmations-NegationsKontrast besonders intensiv realisieren und zudem relevante neue Ideen in die Welt bringen, ist die Spannweite der Erlebnisintensität weit. Wo Whitehead über Bewusstsein nicht terminologisch-strukturell spricht, sondern die Auswirkung des Bewusstseins auf die Qualität der Erfahrungen untersucht, gibt er keine trennscharfen Kriterien an, sondern scheint im Bewusstsein ein generelles Mehr bestimmter, allgemeiner Erfahrungseigenschaften zu sehen:
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Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
Sinneswahrnehmung ist der Triumph der Abstraktion in der tierischen Erfahrung. Solch eine Abstraktion geht aus einer gesteigerten Betonung der Selektivität hervor. Sie verleiht der Menschheit drei Geschenke, nämlich eine Annäherung an Genauigkeit, einen Sinn für qualitative Differenzierung äußerlicher Aktivitäten und eine Unterschlagung wesentlicher Verbindungen. Diese drei Charakterzüge höher entwickelter tierischer Erfahrung – nämlich Genauigkeit, qualitative Zuweisung und essentielle Auslassung – konstituieren gemeinsam den Fokus des Bewußtseins, so wie es sich in der menschlichen Erfahrung kundtut. (MT, 73/112)
Annäherungsweise Präzision, Differenzierung und Abstraktion sind keine exklusiven Kapazitäten der bewussten Empfindungen, sondern dort lediglich von besonders prominenter Bedeutung. Interessant ist auch Whiteheads Unwillen, Bewusstsein eindeutig dem menschlichen Empfinden zuzuordnen; der Mensch wird mehr als Fall tierischer Erfahrung denn als eindeutig privilegierter Sonderfall der Erfahrung erkennbar. Insgesamt erscheint seine Konzept des Bewusstseins eher eine Vollendung basaler Erfahrungskomponenten denn eine komplett eigenständige Form der Erfahrung zu sein. Zwar haben bewusste Empfindungen mit dem Affirmations-Negations-Kontrast eine eigene Struktur, doch ist es offenkundig Whiteheads Hauptanliegen, eine Vielzahl von Faktoren und Wirkzusammenhängen in seiner Bewusstseinstheorie zusammenzuführen und einen großen Facettenreichtum an möglichen Ausprägungen bewusster Erfahrungen zuzulassen. Nahezu alle Erfahrungseigenschaften bewusster Empfindungen entstehen nicht erst im Bewusstsein, sondern werden dort lediglich mit größerer Intensität umgesetzt – die psychologische Sprechweise des ›aus dem Erfahrungshintergrund in den Vordergrund der Erfahrung holen‹, die an psychodynamische Überlegungen seiner Zeit erinnert, gilt in Whiteheads Konzeption auch auf struktureller Ebene für die Eigenschaften des Erfahrungsprozesses. Bewusstsein in der organistischen Philosophie ist nichts außerhalb der ontologisch fundamentalen unbewussten Erfahrungsstrukturen Stehendes, sondern vielmehr in verschiedener Hinsicht der Kulminationspunkt verschiedener Erfahrungsdynamiken. Alle Kapazitäten bewusster Empfindungen finden ihren systematischen Anfang bereits in früheren Phasen des Konkreszenzprozesses: Wahrnehmung beginnt nicht erst in dem für das Bewusstsein charakteristischen Modus der präsentativen Unmittelbarkeit, sondern bereits im basaleren Modus der kausalen Wirksamkeit. Vorstellungen, verstanden als begriffliche Alternativen zur unmittel281 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
bar empfundenen Realität, setzen bereits in der Kombination der Kategorien von begrifflicher Umkehrung und Umwandlung ein, und haben im Bewusstsein keinen kategorisch anderen Status, sondern erfahren lediglich eine graduelle Ausweitung ihrer spekulativen Reichweite und ihrer Freiheit, Kontrafaktisches zu denken. Doch auch der Freiheitsbegriff lässt sich in der organistischen Philosophie nicht auf die Freiheit bewusster Entscheidungen und Handlungen einengen, sondern beginnt maßgeblich mit der jedem Werden anfänglichen Wahl des eigenen subjektiven Ziels aus den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Eines der wenigen Anwendungsgebiete, das Whitehead ausdrücklich und konsequent im Kontext des Bewusstseins behandelt, ist die Frage der wissenschaftlichen Theoriebildung. Es überrascht nicht, wenn die Faktoren, die Whitehead in der wissenschaftlichen Methode für wichtig erachtet, auch zu Strukturmerkmalen des Erfahrungskonzepts werden. So, wie er auf einer methodischen Ebene die Aufgabe der Philosophie als Kritik der Abstraktionen sieht, 214 ist für ihn auch auf der Ebene der strukturellen Erklärung der Erfahrungsakte die Abstraktion ein Mittel der Intensitätssteigerung, das spätestens in der Kategorie der Umwandlung beginnt und bis zu bewussten Erfahrungen immer maßgeblicheren Anteil am emotionalen Muster des wirklichen Einzelwesens erhält. Abstraktes Denken ist keine exklusive Eigenschaft des Bewusstseins, sondern findet dort lediglich seine deutlichste Ausprägung – der Weg zu komplexeren, höheren Formen der Erfahrung ist ein Weg der fortschreitenden Abstraktion. Auch der Vernunftbegriff, der offenkundig den Rationalitätsbegriff mit einschließt, 215 wird in Die Funktion der Vernunft bereits auf fundamentaler Ebene verankert. Die spekulative Vernunft allerdings soll explizit eine durch methodisches Vorgehen zivilisationsbefördernd wirkende Form der Vernunft sein, die sich in höchst bewusster, wissenschaftlicher Tätigkeit äußert. 214 »Wir können nicht ohne Abstraktionen denken; deshalb ist es von äußerster Wichtigkeit, unsere Abstraktionsweisen sehr sorgfältig zu überprüfen. Genau hier findet die Philosophie ihren Platz als wesentlicher Beitrag zum gelungenen gesellschaftlichen Fortschritt. Sie ist Kritik der Abstraktionen« (SMW, 59/75). 215 Whitehead schreibt direkt zu Beginn von Prozeß und Realität, sein spekulatives System habe eine rationale und eine empirische Seite (vgl. PR, 3/32). Die beiden Aspekte der rationalen Seite – Kohärenz und Logik – bilden auch die Kernaspekte seiner im Verlauf der spekulativen Vernunft gewonnenen Kriterien, mit denen in Die Funktion der Vernunft Glaubensgegenstände und Hypothesen getestet werden sollen, und dies schließt wissenschaftliche Systeme ein (vgl. FR, 53/55). Der enge Zusammenhang zwischen Vernunft und Rationalität ist evident.
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Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
Offenkundig ist das analytische Denken in methodisch reflektierten Abstraktionsstufen für Whitehead der Paradefall des bewussten Erlebens. Dabei agiert im Bewusstsein die Vernunft als Gegenbewegung zur Abstraktion: Sein [des Bewusstseins – d. Verf.] nächster Schritt ist die Suche nach essentiellen Verbindungen in seinem eigenen Bewußtseinsfeld. Das ist der Prozeß der Rationalisierung. Dieser Prozeß ist das Wiedererkennen essentieller Verbindungen innerhalb der offensichtlichen Vereinzelung abstrakter Details. So ist Rationalisierung die Umkehrung der Abstraktion, soweit denn Abstraktion innerhalb ihres Bewußtseinsfeldes umgekehrt werden kann. (MT, 124/ 159)
Im bewussten Denken vermittels wissenschaftlicher Methodik führt Whitehead die Abstraktions- und die Rationalisierungsdynamik, die beide auf elementarer Erfahrungsebene angelegt sind und in den höheren Phasen der Erfahrung massiver und entwickelter auftreten, zu einer Gesamtdynamik zusammen. Dabei hat bewusstes Denken nicht lediglich eine individualpsychologische Dimension, vielmehr füllt ein solches Denken auch im Zivilisationskontext Aufgaben aus, die maßgeblich auf die Kapazitäten bewusster Empfindungen aufbauen: Der im Bewusstsein kulminierende Weg zu höheren Formen der Erfahrung ist nicht nur durch eine Zunahme der Abstraktionen gekennzeichnet, sondern auch durch eine zunehmende Freiheit in der Hervorbringung neuer Ideen und Konzepte. Was in der Kategorie der begrifflichen Umkehrung noch eine enge Alternative zum wirklich Bestehenden ist, kann in bewussten Vorstellungen bereits eine nahezu losgelöste Spekulation sein, ein ferner Gedanke, eine relevante neue Hypothese. Für Whitehead besteht zivilisatorischer Fortschritt ebenfalls in der gemeinschaftlichen Realisierung neuer Ideen, und Denker, die sich in ausgezeichneter Weise der spekulativen Vernunft bedienen, sind jene Instanzen, die neue Ideen und Konzepte ersinnen, die dann in gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen realisiert werden (vgl. z. B. AI, 16/97). 216 Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass freies Denken in der Form methodischer Hypothesenbildung für Whitehead die ›Königsdisziplin‹ bewusster Erfahrungen bildet.
216 Für eine genauere Untersuchung von Whiteheads Vorstellung menschlicher Zivilisationen als Veränderungsprozesse, die sich an gemeinsamen Idealen orientieren, vgl. auch Berve (2014a).
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2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
Interessant ist die Frage, ob in der organistischen Philosophie das Bewusstsein einen Einfluss auf die personale Identität des Individuums nimmt. Da Whitehead den Gedanken einer Substanzontologie zurückweist, muss eine der wichtigsten Leistungen seines Systems dynamischer Prozesse darin bestehen, die andauernde Identität eines Individuums zu erklären, an welchem biographische Veränderungen statthaben, ohne die Gesamtidentität zu zerstören. Gerade dieses Verständnis des Menschen als komplexen Nexus wirklicher Einzelwesen kritisiert Reto Luzius Fetz berechtigterweise, ihm scheint »Whitehead selbst einem ›Trugschluß der verstellten Konkretheit‹ zu verfallen, weil er an die Stelle eindeutiger Einheiten eine fragwürdige Vielheit setzt«. 217 Woran Whitehead selbst nicht nur die Fortdauer einer physischen Existenz, sondern auch die Kontinuität einer mentalen Personalität festmacht, bleibt in Prozeß und Realität etwas unklar. Verschiedene Strukturen, die über den Rahmen des individuellen Einzelwesens auf eine größere Einheit hinausweisen sollen, finden sich über die gesamte Erfahrungskonzeption verteilt, ohne jemals zusammenhängend diskutiert zu werden. Bereits auf elementarer Ebene fordert seine ›Kategorie der subjektiven Intensität‹, das Ziel jedes Einzelwesens müsse sein, eine möglichst intensive Realisierung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die aus seiner Perspektive relevante Zukunft zu gewährleisten. Darin kommt zwar eine Bedeutung der über das eigene Werden hinausreichende Zukunft zum Ausdruck, aber eben noch keine Personalität, keine Erwartung, das eigene Selbst in der Zukunft fortzusetzen. Später, im Kontext höherer Erfahrungsformen komplexerer Nexūs, führt die Kategorie der begrifflichen Umkehrung zu einer Kanalisierung der emotionalen Muster, sodass ein neues wirkliches Einzelwesen in diesem Nexus an seine Vorwelt direkt anschließen kann. Aber auch hier kann personale Identität lediglich resultativ die Rückbesinnung auf eine personale Vergangenheit implizieren, ein Selbstentwurf als andauernde Person auf die Zukunft hin ergibt sich aus der kanalisierten Vorwelterfahrung noch nicht. Ob es gerechtfertigt ist, wie John Bennett von »anticipatory propositional feelings« 218 zu sprechen und damit den propositionalen Empfindungen eine Projektion der eigenen Person in die Zukunft zuzusprechen, ist eine schwierige Frage. Offenkundig können Emotionen wie »Hoffnung und Angst, Freude 217 218
Fetz (1981), S. 253. Bennett (1973), S. 521.
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Zwischenfazit: Formen menschlicher Erfahrung in der organistischen Philosophie
und Hoffnungslosigkeit« (MT, 100/136) ohne eine dem Subjekt eigene Erwartung noch zu entwickelnder Potentialitäten nicht sinnvoll erklärt werden. Jedoch deutet in Whiteheads Theorie der Propositionen selbst nichts auf eine Aufgabenzuschreibung hin, die es propositionalen Empfindungen ermöglichte, jenseits des auf unmittelbare und in naher, relevanter Zukunft erwartete Realisierung gerichteten ›Anreizes für Empfindung‹ eine dezidiert auf künftige Prozesse in anderen, merklich verschiedenen Kontexten vorausplanende Rolle auszufüllen. Es scheint vielmehr, als ob die ›Reichweite und Intensität‹ des Bewusstseins, zumindest in Form der aufgeschobenen Urteile, diese Funktion erfüllen solle. Im Aufschieben von Urteilen werden die Lösungen für Problemstellungen der Gegenwart erstmals auf eine Zukunft verlagert, die nicht mehr bloß als Fortsetzung des unmittelbar gegenwärtigen eigenen emotionalen Befindens verstanden wird, sondern als ein qualitativ neuer Abschnitt, in welchem veränderte Umstände herrschen werden, die zum aktuellen Zeitpunkt noch uneinsichtig sind. Die Reichweite der Erwartungshaltung solcher bewusster Empfindungen geht über die bloße, blinde Ausdehnung gegenwärtiger Emotionen und Affekte auf künftiges Werden gemäß der Kategorie der subjektiven Harmonie hinaus. In für ihn typischer Weise rückt Whitehead diese Form der bewussten Planung, des vorausschauenden Selbstentwurfs bewusster Subjekte, wieder in die Nähe wissenschaftlichen Denkens – das Finden abschließender Urteile zu vorher formulierten Hypothesen beschreibt sowohl die Dynamik seiner Theorie wissenschaftlichen Fortschritts wie auch die des Konzepts der aufgeschobenen Urteile. Auch die spekulative Vernunft, gewiss eine Kapazität höchst bewusster Erfahrungsakte, wird in Kulturelle Symbolisierung ausschließlich im Kontext wissenschaftlicher Methodik behandelt. Konturen gewinnt die Form, die in der organistischen Philosophie dem Bewusstsein zugedacht ist, nicht nur aus der Interpretation der behandelten Strukturen, sondern auch aus den Auslassungen lebensweltlich vertrauter Bewusstseinsphänomene. Ein Bereich der Bewusstseinserfahrung, den Whiteheads höhere Formen der Erfahrung völlig unerwähnt lassen, ist das Selbstbewusstsein. Bereits der Begriff des ›Selbst‹ ist in der organistischen Philosophie terminologisch irrelevant; eine reflexive Selbstbezüglichkeit, in der das Subjekt sich selbst thematisierte, fehlt ihrem Erfahrungskonzept vollständig. Die Bewusstseinsstruktur in Whiteheads Werk verbleibt auf der Stufe des Urteilens über Aussagen, die ganz allgemein einen Erfahrungsbereich der Welt be285 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
2. Teil – Höhere Formen der Erfahrung
zeichnen – ohne jedoch die Möglichkeit aufzuzeigen, sich selbst als bewusst wahrnehmendes Subjekt zum Inhalt des bewusst Empfundenen zu verhalten, sich zu ihm in Beziehung zu setzen oder sich selbst als bewusst Empfindender in diesem Bewusstseinsakt zu thematisieren, in bewusster Abgrenzung des eigenen Selbst von der Umwelt. Bezeichnenderweise steht Whiteheads Denken denjenigen philosophischen Positionen, die sich mit Selbstbewusstseinstheorien hervorgetan haben, besonders fern. Im gesamten deutschen Idealismus ist der Begriff des Bewusstseins immer mit dem Gedanken eines reflexiven Selbstbewusstseins verbunden – bereits bei Kant begleitet das transzendentale Selbstbewusstsein jeden Erkenntnisprozess; den vielleicht prominentesten Höhepunkt bildet Hegels Schrift Phänomenologie des Geistes, in der Hegel den Fortschritt vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein thematisiert, auf welchem Freiheit und Autonomie beruhen. Whitehead gibt, in einem kurzen Vortrag anlässlich seines siebzigsten Geburtstags, an, in seinem Leben genau eine Seite aus Hegels Werk gelesen zu haben (vgl. ESP, 88). 219 Bei ihm bleibt Bewusstsein begrenzt auf eine recht schmale Definition, die für die intrikateren Operationen eines andauernden, reflexiven Selbst bereits begrifflich wenig Anschlussmöglichkeiten bietet.
219 Zwar mag diese Aussage ein gewisses Maß an Koketterie enthalten, denn in der gleichen Passage gibt Whitehead an, sich in Gesprächen mit befreundeten Philosophen intensiv mit Hegel’schen Positionen auseinandergesetzt zu haben. Dennoch bleibt festzuhalten, dass er Hegels Werk niemals mit philosophischem Interesse eigenständig rezipiert hat.
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3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
3.1 Zwischen Universaltheorie und anthropologischem Entwurf Einer der größten Anwendungsvorteile der organistischen Philosophie besteht in der Universalisierung des Organismusbegriffs, der als Erklärungsparadigma sowohl mikroskopisch für die kleinsten Elementarprozesse wie auch makroskopisch für das Universum als Ganzes verwendet wird. Allerdings geschieht diese Universalisierung auf Kosten der ursprünglichen Bedeutung des Organismuskonzepts, das eigentlich eine biologische Beschreibung für mesoskopische Lebenseinheiten ist. Diese Bedeutungsebene geht im Zuge der Umdeutung des Organismusbegriffs verloren. Ein Ziel des metaphysischen Ansatzes Whiteheads ist es, von den elementaren Grundeinheiten bis zum Universum als Gesamteinheit ein durchgehendes Strukturparadigma anzubieten. So wird das Konzept der organischen Erfahrungseinheit und der Gesellschaft organischer Erfahrungseinheiten zur ontologischen Interpretationsfolie für alle Phänomene unserer Welterfahrung. Deshalb ist es auf Grundlage der allgemeinen metaphysischen Konstruktion der organistischen Philosophie kaum noch möglich, Gründe anzugeben, wieso der Mensch sich von den Erfahrungseinheiten der einfacheren Ebenen qualitativ unterscheiden sollte; der Mensch als mesoskopischer Organismus ist lediglich eine Etappe in einer Welt organischer Einzelwesen unterschiedlicher Komplexitäts- und Organistationsstufen, die durch ihr Ziel, eine möglichst große Erfahrungsintensität zu realisieren, geeint sind: So ist z. B. eine Armee eine Gesellschaft, die aus Regimentern besteht, Regimenter sind Gesellschaften, die aus Männern bestehen, diese Männer wiederum sind Gesellschaften, die aus Zellen, aus Fleisch, Blut und Knochen bestehen, zusammen mit der dominierenden Gesellschaft des personalen menschlichen Erlebens, und die Zellen schließlich sind ihrerseits auch wieder Gesellschaften, die aus Elementarteilchen wie Protonen bestehen, usw. usf.
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3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
Außerdem setzen alle diese Gesellschaften einen umgebenden Raum gesellschaftlicher physischer Aktivität voraus. […] Die Natur ist ein Komplex von dauernden Objekten, die als untergeordnete Elemente in einer umfassenden raumzeitlichen Gesellschaft funktionieren. (AI, 206 f./370 f.)
Der menschliche Organismus ist wiederum in Suborganismen gegliedert, die zu einem Verständnis des Gesamtorganismus ebenfalls adäquat verstanden werden müssen; der Zusammenhang zwischen dem Menschen und den elementareren Ebenen organismischer Organisation ist damit stets gegeben. Zugleich verweist der Mensch immer auch auf die übergeordnete Ebene der gesellschaftlichen Organisation, einige Ideale sieht Whitehead als nur im Rahmen zivilisatorischer Gestaltungsprozesse realisierbar an (AI, 239 ff./423 ff.). Die personale Einheit des Menschen deutet immer schon auf die personale Einheit des Ganzen voraus: Wir sind damit zu einer Auffassung gekommen, die gleichzeitig eine Lehre von der Einheit der Natur und der Einheit jedes einzelnen Menschenlebens ist. Es folgt aus ihr, daß das Bewußtsein der persönlichen Identität, des Sichgleichbleibens, das wie ein roter Faden die Folge unserer Erlebensvorgänge durchzieht, nichts weiter ist als die Kenntnis eines einzelnen Strangs von Einheitlichkeit innerhalb der allgemeinen Einheit der Natur. (AI, 187/343)
Aus dieser Darstellung des Menschen als Teil einer kontinuierlich durchstrukturierten Welt ergibt sich die Frage, inwiefern der Mensch sich von organischen Einzelwesen anderer Komplexitätsstufen unterscheidet und weshalb das menschliche Subjekt sich zum Paradigma des Subjektbegriffs insgesamt eignen soll. Denn natürlich bezeugt uns unsere alltägliche Erfahrung einen Unterschied zwischen einem Menschen und bloß »Fleisch, Blut und Knochen«, einen Unterschied zwischen einem Menschen und etwa einem Stuhl. Im Streit der zwei konfligierenden philosophischen Grundintuitionen – dem Menschen eine Sonderrolle zuzugestehen und die Welt als durchgängig auf allen Ebenen miteinander verwobenes Wirkkontinuum zu verstehen – entscheidet Whitehead sich klar für die zweitere. Eine intuitiv klare kategorische Abgrenzung des menschlichen Individuums von anderen organischen Strukturen liefert die organistische Philosophie nicht, stattdessen müssen sich dessen Besonderheiten in einer nuanciert abwägenden Binnendifferenzierung des Subjektbegriffs ausweisen lassen. Statt exklusiver, ihn klar von anderen Organismen abgrenzenden Kapazitäten wird sich der Mensch durch ein relatives Mehr maßgeb288 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Zwischen Universaltheorie und anthropologischem Entwurf
licher Erfahrungsqualitäten, durch eine besonders zugespitzte Dichte vorteilhafter Eigenschaften von anderen Ebenen erfahrender Subjekte unterscheiden. Further, each human being is a more complex structure than any social system to which he belongs. Any particular community life touches only part of the nature of each civilized man. If the man be wholly subordinated to the common life, he is dwarfed. His complete nature lies idle, and withers. Communities lack the intricacies of human nature. The beauty of a family is derivative from its members. The familiy life provides the opportunity; the realization lies in the individuals. […] There always remains solus cum solo. We have developed a moral individuality; and in that respect we face the universe – alone. (ESP, 52) 1
Für Whitehead ist der Mensch also durchaus der Höhepunkt des Subjektkonzeptes. Größeren Gemeinschaften fehle die Komplexität der menschlichen Natur – stellt man in Rechnung, dass Whitehead durchaus ernsthaft davon spricht, verhältnismäßig einfache, unkoordinierte lebendige Körper seien »demokratisch« organisiert (vgl. PR, 108 f./ 211), 2 wird deutlich, wie sehr er die Organisationsprinzipien menschlicher Gesellschaften und einfacher organischer Gesellschaften in Analogie denkt. 3 In der Konsequenz dieser Analogie nimmt der Mensch
Interessanterweise findet sich diese Passage zur Stellung des Menschen in der Welt nicht im Kontext einer umfassenden philosophischen Untersuchung, sondern in einem Aufsatz, den Whitehead für amerikanische Leser verfasste, um ihnen die besorgniserregende politische Entwicklung Ende der 1930er Jahre in Europa deutlich zu machen. Man könnte formulieren, sein eigenes Menschenbild, verknüpft mit seinen persönlichen politischen Ansichten, komme hier deutlicher zum Vorschein, als er sich in seinen philosophischen Werken, immer auf der Hut vor dem ›Trugschluss unzutreffender Konkretheit‹, jemals gestattet hat. 2 David Hall versucht, mit Whiteheads eigener Terminologie eine trennscharfe Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem menschlichen Individuum – selbst eine komplexe Gesellschaft – und einer Gesellschaft menschlicher Individuen herauszuarbeiten. Seine Differenzierung in lebendige und nicht-lebendige Gesellschaften sieht sich wiederum gezwungen, die politische Struktur einer Gesellschaft menschlicher Individuen als Analogieschluss zur Struktur des komplexen Organismus eines menschlichen Individuums zu verstehen: Vgl. Hall (1973), S. 68. 3 In Denkweisen stellt Whitehead explizit einen Analogieschluss zwischen Menschen, wirklichen Einzelwesen und dem gesamten Universum her, indem er eine allen gemeine demokratische Struktur zur ontologischen Grundeigenschaft universalisiert: »Die Basis der Demokratie liegt in der gemeinsamen Tatsache der Werterfahrung, so wie sie die wesentliche Beschaffenheit jeder einzelnen pulsierenden Wirklichkeit konstituiert. Ein 1
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3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
deshalb eine herausragende Position innerhalb des organischen Weltgefüges ein, weil er die komplexeste bekannte organische Einheit darstellt und durch seine »moralische Individualität« ein besonderes verantwortungs- und handlungsbildendes Personalitätsmerkmal besitzt. Alle diese Bestimmungen unterscheiden den Menschen jedoch nicht kategorisch von anderen organischen Einheiten der Welt, sondern machen ihn lediglich zu derjenigen Ebene organischer Einheit, die bestimmte Aspekte des Lebendigen am pointiertesten realisiert. Diese Feststellung ist pragmatisch und beansprucht keine Endgültigkeit; sie besagt lediglich, dass uns nach gegenwärtigem Kenntnisstand kein anderer Organismus bekannt ist, der uns in Hinsicht auf die uns auszeichnenden Aspekte in Erfahrungskomplexität und -intensität gleichkäme. Eine eindeutigere Sonderrolle kommt dem Menschen auf der methodischen Ebene der organistischen Philosophie zu. Da auf fundamentaler ontologischer Ebene jede Wirklichkeitseinheit aus Erfahrungsrelationen besteht, ist der Erfahrungsbegriff für Whitehead nicht nur eine psychologische Vokabel, sondern eine metaphysische. Zugleich jedoch ist die Erfahrung – als ›Sammlung‹ der gemachten Erfahrungen – auch die systematische Grundlage der philosophischen Methode Whiteheads. Weil so letztlich das Whiteheads gesamte metaphysische Philosophie durchdringende Organismus- und das Erfahrungsparadigma auf die menschliche Erfahrung als methodischen Ausgangspunkt zurückgehen, kann man die Struktur der organistischen Philosophie in diesen zentralen Punkten als anthropomorph bezeichnen. Wir mögen, zu Beginn der Untersuchung, noch nicht verstehen, in welcher strukturellen Beziehung der Mensch zu anderen Formen von Organismen – oder der Welt als ganzer – steht, aber wir haben bereits ein unmittelbares, umfassendes Vorverständnis davon, was die Lebenswirklichkeit unserer menschlichen Existenz ausmacht und welche Formen von eventuell noch erklärungsbedürftigen Erfahrungsphänomenen es in unserem Leben gibt.
jedes hat irgendeinen Wert für sich selbst, für andere und das Ganze. Dies charakterisiert die Bedeutung von Wirklichkeit« (MT, 111/146).
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Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
3.2 Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person Die Frage danach, was denn der Mensch in der organistischen Philosophie sei, erschöpft sich nicht in der Untersuchung des ursprünglich aus dem Kontext der Biologie entlehnten Organismusbegriffs. Deutlich wird dieser Umstand, wenn man den Bedeutungsumfang von Whiteheads Subjektbegriff und dessen Anwendbarkeit auf den Bereich der menschlichen Erfahrung betrachtet. In Abwendung von klassischen Substanzkonzepten möchte die Prozessphilosophie die ontologische Grundstruktur der Welt nicht in einem andauernden Bestehen, sondern in der radikalen Dynamik von Werdensprozessen begreifen. Von zentraler Bedeutung für diese Intention ist der konzeptionelle Schritt von einer aus passiven Objekten bestehenden Welt hin zu einem Weltgefüge aus aktiven Empfindungstätigkeiten von Erfahrungssubjekten. Der Subjektbegriff ist nicht nur ein für Whiteheads gesamte Metaphysik fundamentaler ontologischer Terminus, sondern hat zugleich auch eine elementare methodische Bedeutung: In der subjektivistischen Ausrichtung der Philosophie sieht Whitehead »die größte philosophische Entdeckung seit Platon und Aristoteles« (PR, 159/297). Allerdings gibt er an keiner Stelle eine ausführliche Definition des Subjektbegriffs, stattdessen lässt er den Leser den Bedeutungsumfang dieser zentralen Vokabel explikativ erfassen. Dabei wird deutlich, dass sich dieser Grundbegriff der organistischen Philosophie nicht ausschließlich als philosophischer Fachterminus verstehen lässt, sondern vielmehr über die Grenze der Fachsprache hinweg auf den Überschneidungsbereich mit vorphilosophischer Umgangssprache verweist. 4 Offenkundig hat der Subjektbegriff im alltagssprachlichen Kontext einen vielschichtig-ambivalenten Gehalt, in der Philosophie der Neuzeit wird er häufig als Synonym oder doch zumindest bedeutungsnah zum Konzept des bewussten Ichs verstanden. Whitehead hingegen universalisiert ihn zu einem ontologischen Grundbegriff seiner Metaphysik. Insofern dieser Terminus, der die qualitative Innenperspektive des Erfahrenden beschreibt, verwendet Vgl. Kann (2010), S. 196. Kann erwähnt den Subjektbegriff als explizites Beispiel eines nicht bloß philosophischen, sondern immer zugleich auch umgangssprachlich besetzten Begriffs. Seine Feststellung: »Eine trennscharfe Linie zwischen Normalsprache und philosophischer Fachsprache kann man nicht ziehen« (Kann (2010), S. 206) gilt nicht nur allgemein für Whiteheads Philosophie, sondern liegt als zentrale Erkenntnis sogar dessen gesamter terminologischer Methodik zugrunde (vgl. Kann (2008), S. 97 f.).
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3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
werden soll, um das begrifflich schwer auf den Punkt zu bringende, spezifisch Menschliche unserer Erfahrung in Absetzung von der allgemeinen Bedeutungsebene der Erfahrung zu beschreiben, besteht Klärungsbedarf. Bietet die organistische Philosophie weitere Begriffe oder implizite Konzepte, die helfen, den Menschen als psychologisch und biographisch besondere Einheit innerhalb von Whiteheads Gesamtentwurf zu verorten? Eine Schwierigkeit bei dieser Untersuchung besteht in dem Mangel einer unserem alltagssprachlichen Gebrauch kompatiblen Begriffsstruktur, um der psychologischen Evidenz einer spezifisch menschlichen Innenperspektive gerecht zu werden. Viele klassische, üblicherweise zu diesem Zweck verwendete Begrifflichkeiten kommen in der organistischen Philosophie nicht vor. Die Suche nach einem dem Untersuchungsgegenstand angemessenen Begriffskorsett ist nicht bloß ein terminologisches Unterfangen, sondern zeigt darüber hinaus, in welchem Maße Whiteheads Theorie sich eignet, um den uns lebensweltlich und alltagssprachlich vertrauten Phänomenbereich der menschlichen Individualität mit einer lebendigen Terminologie verständlich zu erklären und Anknüpfungspunkte für weitergehende Untersuchungen zu geben. Spricht Whitehead etwa vom ›Individuum‹, so ist notwendigerweise das Konzept des wirklichen Einzelwesens gemeint, denn ein komplexerer Organismus ist, als ein Nexus wirklicher Einzelwesen, stets weiter in kleinere Einheiten konkreter Wirklichkeit unterteilbar. Streng terminologisch ließe sich also in der organistischen Philosophie nicht vom ›menschlichen Individuum‹ sprechen; tatsächlich tut sich Whitehead schwer, überhaupt einen Begriff für die komplexe subjektive Einheit zu finden, an die wir denken, wenn wir den Begriff ›Mensch‹ hören. So spricht er bei seiner Beschreibung bewusster Wahrnehmungen vom ›dauernden Wahrnehmenden‹ als demjenigen Organismus mit andauernder Innenperspektive, der in der Lage ist, eigene Wahrnehmungen zu einem späteren Zeitpunkt nochmals zu überprüfen. Es scheint, als ob dem Konzept des dauernden Wahrnehmenden das im Kontext der Kategorie der begrifflichen Umkehrung diskutierte Personenkonzept der organistischen Philosophie zugrunde liegt. Der Hauptunterschied zwischen Subjekten auf der Ebene wirklicher Einzelwesen und Personen liegt in der Dauer ihrer Existenz. Personen sind andauernde Gesellschaften, die nicht, wie wirkliche Einzelwesen, beanspruchen können, Individuen zu sein. Eine Person in der 292 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
organistischen Philosophie ist ein Nexus mit personaler Ordnung, eine in strenger Reihenabfolge geordnete Vererbungssequenz, in der charakteristische Eigenschaften des mentalen Pols kanalisiert, gebündelt weitervererbt und dadurch personalisiert werden. Dabei denkt Whitehead sehr wohl die Möglichkeit einer Entwicklung der Person mit: »Selbstidentität kann bei irgendeinem Voranschreiten auf Neues niemals aufrechterhalten werden. […] Das Baby in der Wiege und der Mann mittleren Alters sind in manchem Sinn identisch und in einem anderen Sinn verschieden.« (MT, 107/142 f.) Der Personenbegriff bezieht sich allerdings nicht bloß auf bewusste, dauerhafte subjektive Einheiten, sondern kann und wird in den meisten Fällen bereits weit einfachere dauerhafte Gesellschaften bezeichnen; Whitehead gibt kein trennscharfes Kriterium an, mithilfe dessen zwischen Personen und nicht-Personen unterschieden werden könnte. 5 Im Kontrast mit dem philosophiegeschichtlich besonders wirkmächtig gewordenen Personenbegriff von Immanuel Kant wird die Dimension des Whitehead’schen Personenbegriffs deutlicher sichtbar. Kant unterscheidet eindeutig zwischen Sachen und Personen: »Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet«. 6 Für ihn ist die Persönlichkeit »die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur« nach »von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen«. 7 Aus Kants Personendefinition ergibt sich ein klares Bild von den Kapazitäten, die in seinem System eine Person auszeichnen. In der besonderen Betonung der Vernunft und des Gegensatzes zwischen der Freiheit des Vernunftwesens und der Mechanistik von Naturprozessen erweist er sich deutlich als Denker in der Tradition der Aufklärung. John Locke, auf dessen Philosophie Kant maßgeblich zurückgreift, behandelt den Personenbegriff ebenfalls als zentrale BeDie berechtigte Frage, welchen Organismen gemäß der Vorgaben der organistischen Philosophie der Personenstatus zukommt und welchen erklärerischen Mehrwert dieser Personenbegriff infolge seines Anwendungsbereichs besitzt, versucht Reto Luzius Fetz zu beantworten: Vgl. Fetz (1981), S. 156 ff. 6 Kant (1965), S. 428. 7 Kant (1967), S. 155. 5
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grifflichkeit und definiert ihn mit einem ganzen Eigenschaftskatalog: »This being premised to find wherein personal Identity consists, we must consider what Person stands for; which, I think, is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self as it self, the same thinking thing in different times and places; which it does only by that consciousness, which is inseparable from thinking […].« 8 Für Locke ist, wie für Kant, eine Person ein denkendes, vernunftbegabtes Individuum mit Bewusstsein. Offenkundig ist der Personenbegriff bei ihnen für menschliche Wesen reserviert; in der Gegenwartsphilosophie entzündete sich eine hitzige Debatte um den Personenbegriff gerade an dem Versuch Peter Singers, den Status der Person auch über diesen Bereich hinaus auf andere Gattungen von Lebewesen anzuwenden und im Gegenzug den Personenstatus menschlicher Embryonen in Frage zu stellen. 9 Kaum eine der bei Locke und Kant angeführten spezifischen Qualitäten einer Person kann Whitehead für seinen Personenbegriff geltend machen. Dieser bleibt seltsam unterbestimmt, insofern aus seiner Darstellung in der organistischen Philosophie nicht deutlich wird, welche spezifischen Qualitäten ihn auszeichnen sollen. Zumindest teilwei-
Locke (1975), S. 335. In seinem Bemühen, die Schranken zwischen Person und nicht-Person aufzuweichen oder zumindest die Unterscheidung zwischen beiden nicht zu schematisch werden zu lassen, scheint Peter Singer sich auf ein Verständnis des Personenbegriffs zuzubewegen, das demjenigen der organistischen Philosophie ähnelt. Singer schreibt: »[T]he concept of person can be meaningfully contrasted – as it so frequently was in moral philosophy – with the concept of ›thing‹. Since ›thing‹ is an older and more widespread notion than ›person‹, the more sensible procedure is to get going from it, and not the other way round; and the determinative conditions of application of the concept of thing have generally to do with passiveness and unawareness. This reading raises the question of whether we might not ultimately move towards defining ›person‹ in terms of the simple possibility of relating to other beings, and consequently, if the idea of relation is divested of any high-sounding tinsel, of mere consciousness. And this could imply the possibility of its application to all beings with interests as defined above.« (Singer, Cavalieri (2002), S. 136). Die Kritik an nichtpersönlichen passiven, erfahrungsfreien ›Sachen‹ als Widerpart zu menschlichen Personen ähnelt Whiteheads Kritik am Konzept der passiven Materie. Sicherlich denkt Singer, wenn er für eine Ausweitung des Personenstatus argumentiert, an eine adäquatere Binnendifferenzierung innerhalb des Bereichs biologischer Lebewesen statt an eine Ausweitung des Personenbegriffs auf eine allgemeine ontologische Ebene, doch die Grundüberzeugung, dass der Personenbegriff alleine nicht genüge, um scharf zwischen Menschen und nicht-Menschen zu unterscheiden, teilt er mit Whitehead.
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Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
se entspricht diese Vagheit durchaus Whiteheads Intention; Lockes Gleichsetzung von Person und personaler Identität sowie Kants strikte Unterscheidung zwischen Personen und Sachen sind Annahmen genau jener Art, die er als ›Trugschlüsse unzutreffender Konkretheit‹ bezeichnen würde. Maria-Sibylla Lotter sieht in Whiteheads Personenkonzept einen deutlichen Unterschied zu Locke, da jener personale Einheit vor allem als eine auf buchhalterischem Vergangenheitserfassen bestehende Erinnerungseinheit verstehe, wohingegen Whiteheads Personenkonzept eine Fraktionierung personaler Identitäten und damit den psychologisch relevanten Phänomenbereich des Identitätsverlustes zulasse. Im Gegensatz zu Locke begreife Whitehead eine Person nicht nur als rückwärtsgewandtes Resultat einer Einheit mit Erinnerungen, sondern darüber hinaus auch als zukunftsgerichtet durch die Antizipation eines künftigen Handlungsbereichs, der den »Möglichkeitsraum« der Person ausmache. 10 Zweifellos ist die im Konzept der wirklichen Einzelwesen angelegte Synthese von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb einer subjektiven Perspektive eine erklärte Absicht Whiteheads, 11 doch darf durchaus gefragt werden, ob aus der Kanalisierung des mentalen Pols vermittels serieller Vererbung auch tatsächlich bereits eine gerichtetere und fokussiertere Zukunftserwartung entsteht. Ob eine Person den eigenen, künftigen Handlungsraum gezielt antizipieren kann, hängt sicherlich auch mit einer schlüssigen und fokussierten Biographie zusammen, doch verweist die Frage nach personaler Antizipation und intentionalem Handeln darüber hinaus auf weitere klärungsbedürftige Aspekte unserer Alltagserfahrung: Eine Person wird üblicherweise als ein andauerndes Subjekt verstanden, das von der es umgebenden, andauernden Welt verschieden ist und sich deshalb gezielt zu ihr verhalten kann. Bei Whitehead jedoch ist es schwer, ein dauerhaftes, sich körperlich erstreckendes Subjekt in Abgrenzung von einer es umgebenden, ›objektiven‹ Umwelt zu definieren. Wenn in Die Funktion der Vernunft einmal der Organismus aus evolutionsbiologischer Perspektive her in den Blick genommen wird, um den Wirkungsbereich der Vernunft zu umreißen, wird die Vernunft bereits auf fundamentaler Ebene als die Interaktionskapazität
Vgl. Lotter (1996), S. 257 ff. Diesen Punkt bringt Whitehead in dem Kapitel Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Abenteuer der Ideen besonders deutlich zum Ausdruck: Vgl. AI, 191 ff./348 ff.
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einer dauernden Person, die methodisch für ihre eigene Zukunft plant, auf eine als Objekt verstandene Umwelt beschrieben: Die höheren Lebensformen sind darauf eingestellt, ihre Umwelt durch aktives Eingreifen zu verändern; und im Falle des Menschen ist dieser Angriff auf die Umwelt der bemerkenswerteste Zug seiner Existenz. Meine These ist nun, daß sich dieser Angriff auf die Umwelt durch ein dreifaches Bestreben erklärt: erstens, überhaupt zu leben, zweitens, gut zu leben und drittens, noch besser zu leben. (FR, 5/9)
Wo der Mensch, als höheres Lebewesen im besonderen Maße vernunftbegabt, in der organistischen Philosophie als handelnde Person thematisiert wird, ist die Aufteilung in dauerhaftes Subjekt und äußere Umwelt bereits vorausgesetzt. Eine befriedigende ontologische Erklärung dieser Unterscheidung bietet Whitehead jedoch nicht an; ganz im Gegenteil ist sein Denkansatz gerade darauf gerichtet, die Struktur eines gegenüber seiner Umwelt autarken Subjekts zu vermeiden, um nicht wieder in substanzontologische Denkstrukturen abzugleiten. Selbstverständlich muss man davon ausgehen, dass Bewusstsein eine Form des emotionalen Musters ist, die praktisch nur in durch komplexe Kanalisierungs- und Zentralisierungsdynamiken geprägten wirklichen Einzelwesen vorkommt, welche in einer Gesellschaft personaler Ordnung organisiert sind. 12 Interessant ist jedoch, wie Whitehead den Personenbegriff in Passagen behandelt, in denen er ihn als spezifisches aus der menschlichen Selbsterfahrung entlehntes Phänomen auffasst. Er verwendet ihn nicht als systematischen Ausgangspunkt seiner Konzeption von Erfahrungssubjekten, sondern als Terminus, den zusätzlich auch noch zu erklären die organistische Philosophie gezwungen ist, wenngleich er sich aus der metaphysischen Theorie der elementaren dynamischen Prozesse nicht von alleine ergibt: Das Personhafte am Menschen hat sich bei unserer Behandlung des menschlichen Erlebens zu einer genetischen Beziehung zwischen menschlichen Erlebensvorgängen verdünnt. Aber die Einheit der menschlichen Person ist eine Tatsache, um die man nicht herumkommt. […] Die beiden modernen Philosophen, die die Vorstellung einer sich gleichbleibenden substantiellen Seele am konsequentesten verworfen haben, sind Hume und William James gewesen. Aber auch ihnen stellte sich das Problem, vor dem hier die Organismus-Philosophie steht: eine adäquate Erklärung für die unbezweifelbare EinDiese Annahme macht etwa Reiner Wiehl, der Personalität explizit als Voraussetzung von Bewusstsein annimmt: Vgl. Wiehl (2007), S. 37.
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Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
heit der Person zu finden, die sich durch alle Wechselfälle des Lebens hindurch erhält. (AI, 186 f./341 f.)
Anschließend zitiert Whitehead ausführlich Platons Definition der hypodoché im Timaios als seiner Meinung nach unübertroffene Formulierung des Konzepts der andauernden Person, wobei er den Begriff der hypodoché durch den Terminus »Einheit der Person« ersetzt und den Begriff der »Erlebensvorgänge« einfügt: Neben der Fülle der Ereignisse und den Formen, die sich in ihnen exemplifizieren, brauchen wir noch ein Drittes, nämlich die Einheit der Person – einen sehr dunklen und verwirrenden Begriff. … Wir müssen sie uns als Gefäß, oder, wie man auch sagen könnte, als die Nährmutter vorstellen, die alle unsere Erlebensvorgänge aufzieht. … Diese Einheit der Person ist das, was alle Vorgänge im Leben des Menschen in sich aufnimmt. (AI, 187/342 f.)
Anhand dieser von Whitehead selbst gewählten Referenzstelle wird deutlich, in welchem Kontext er den Personenbegriff verwendet sehen möchte, nämlich als an Platons ontologisches Konzept angelehnte Beschreibung des selbst nicht weiter qualifizierbaren, an sich bestimmungslosen Einheitsmerkmals menschlicher Erfahrung. Auch die ›Dunkelheit‹ des platonischen hypodoché-Konzepts passt in Whiteheads Auffassung des Personenbegriffs: Wir kommen nicht umhin, ein andauerndes, einheitsstiftendes Element in unserer Erfahrung zu konstatieren, haben aber Schwierigkeiten, dieses Element als ontologisch eigenständigen Fakt aufzufassen. Das ›Wirkliche‹ sind die einzelnen Elementarprozesse, doch muss irgendwie darüber hinaus eine im Rahmen der Metaphysik kaum noch praktisch explizierbare höhere Einheit der subjektiven Erfahrung als Gestaltungsmerkmal unserer Welt angenommen werden. Komplexe körperliche Organisationsstrukturen, mentale Kapazitäten und die Frage nach dem aktiven Handlungssubjekt weisen stets auf das individuelle wirkliche Einzelwesen als ontologische Letztinstanz zurück. Whitehead ist es wichtig, das unbestreitbare Phänomen der dauernden Einheit menschlicher Identität nicht als eine Art Seelensubstanz zu deuten. Wie sein Verständnis des Personenbegriffs zeigt, möchte er das Einheitsstiftende, das die vielen menschlichen Erfahrungsakte verbindet, nicht als Transzendentalie verstehen, sondern als selbst inhaltlich nicht genauer bestimmbare Qualität, die allen in personaler Ordnung strukturierten Erfahrungsakten inhärent ist. Auch Ralph Pred weist den Gedanken zurück, es könne bei Whitehead eine 297 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
im Sinne einer Transzendentalie verstandene überdauernde subjektive Einheit geben. Stattdessen betont er die Bedeutung eines empirischbiographisch verstandenen Personenbegriffs: »There is no ›I‹ guiding the integration, but the act of concrescence is informed by who the experient is, his or her whole long variously acculturated personal history replete with conditioning habits and dispositions, as well as by activated potentials and interests.« 13 Nichtsdestotrotz lässt sich das Phänomen einer dauernden subjektiven Einheit unserer Erfahrung, die eine eigene Dynamik zu haben scheint, nicht leugnen. In der philosophischen Tradition der Neuzeit verwendet man für diese subjektive Einheit, insofern man ihre innere Dynamik beschreiben möchte, gerne den Begriff des ›Ich‹. Bei Whitehead scheint, zumal er sich explizit als Vertreter einer Subjektivitätsphilosophie sieht, dieser Begriff durch den universelleren Terminus des Subjekts ersetzt zu sein. Als eine Ich-Philosophie würde man die organistische Philosophie nicht beschreiben. Tatsächlich aber gibt es eine interessante Passage in Wissenschaft und moderne Welt, in der Whitehead den Begriff des ›Ich‹ (ego) thematisiert. Dabei spricht er dezidiert über komplexere Ebenen der Erfahrung und nicht die allgemeine, abstrakte Konstruktion des wirklichen Einzelwesens als Erfahrungssubjekt: Der technische Ausdruck ›Subjekt-Objekt‹ ist schlecht geeignet als Bezeichnung der Grundsituation, die in der Erfahrung enthüllt wird. Er gemahnt tatsächlich an das aristotelische ›Subjekt-Prädikat‹ und setzt bereits die metaphysische Lehre voraus, wonach verschiedene Subjekte durch ihre privaten Prädikate qualifiziert werden. Das ist die Lehre von den Subjekten mit privaten Erfahrungswelten. […] Die primäre Situation, die in der kognitiven Erfahrung enthüllt wird, ist das ›Ich-Objekt unter Objekten‹. Damit meine ich, daß die primäre Tatsache eine unvoreingenommene Welt ist, die das ›Hier und Jetzt‹ transzendiert, wie es das Ich-Objekt bezeichnet, aber auch das ›Jetzt‹ überschreitet, das die räumliche Welt der gleichzeitigen Realisierung ist. Es ist eine Welt, die auch die Wirklichkeit des Vergangenen und die begrenzte Potentialität der Zukunft einschließt, wozu noch die vollständige Welt der abstrakten Potentialität gehört, die Sphäre der zeitlosen Gegenstände, die transzendiert und die im wirklichen Verlauf der Realisierung ihre Exemplifikation und ihren Vergleich findet. Das Ich-Objekt als bewußtes Hier und Jetzt ist sich seines Erfahrungswesens bewußt, das durch sein inneres Bezogensein auf die Welt der Realitäten und der Ideen konstituiert wird. (SMW, 151 f./177 f.) 13
Pred (2005), S. 224.
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Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
Die primäre Selbsterfahrung des Menschen ist nicht die als Subjekt, das sich auf Objekte der Außenwelt bezieht, sondern die als Ich, das sich als Teil einer Gesamtwelt erlebt, in der es nicht von den anderen Objekten der Welt abstrahiert ist. Damit versucht die organistische Philosophie, das menschliche Ich von der Konnotation einer autarken Substanz, die sich unabhängig vom Gesamtzusammenhang aller Dinge begreifen ließe, zu befreien und der Forderung nach einem solidarischen Universum gerecht zu werden. Das Hier und Jetzt der gegenwärtigen subjektiven Perspektive wird durch die Aktivitäten des Bewusstseins um den Bereich der als Alternativen empfundenen abstrakten zeitlosen Gegenstände ergänzt und sein Horizont um die kanalisierte Erinnerung der Vergangenheit und die weitschauende Erwartung der Zukunft erweitert: Das wirkliche Einzelwesen wird in einen größeren Gesamtzusammenhang mit biographischer Erstreckung eingebettet. Im Unterschied zur personalen Einheit ist das Ich explizit auf der Ebene des Bewusstseins verortet; die Aktivität des Ichs ist, mehr als eine bloße Kanalisierung subjektiver Formen, eine erweiterte Erkennensaktivität. So findet sich Whiteheads Bestimmung des Bewusstseins als ›Funktion des Erkennens‹ auch genau im Kontext seiner Diskussion des Ich-Objekts, als Hinführung auf die Benennung unserer Erfahrungseinheit als Ich: »Daher erkennen wir uns als eine Funktion der Vereinigung einer Pluralität von Dingen, die sich von uns unterscheiden. Das Erkennen enthüllt ein Geschehnis als Aktivität, die eine reale Gemeinsamkeit fremder Dinge organisiert. […] Bewußtsein wird also die Funktion des Erkennens sein.« (SMW, 150 f./176) Leider wird in Prozeß und Realität der Begriff des ›Ichs‹ (zumindest das englische: ego) nicht als Fachterminus verwendet. Whitehead gibt keine genauere Definition oder auch nur eine hinreichende Explikation, aus der sich ein struktureller Unterschied zwischen dem Subjekt- und dem Ichbegriff verstehen ließe. Es scheint, als diene der Subjektbegriff für die systematische Darstellung der Erfahrungsprozesse auf der abstrakten ontologischen Ebene des wirklichen Einzelwesens und der Ichbegriff finde lediglich in einer terminologisch lockereren Sprechweise Verwendung, wenn die Phänomene unserer menschlichen Selbsterfahrung auf der Ebene bewusster Geistesaktivität thematisiert werden; ganz so, als sei es das von jedem Leser mitgebrachte intuitive Vorverständnis des Begriffs, worauf Whitehead abziele, wenn er vom Ich-Objekt spricht. Möchte man darüber hinaus versuchen, auf Grundlage von Whiteheads Formulierung eine Strukturanalyse dieses be299 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
wussten Ich-Objekts zu liefern, so ist es leicht, darin eine implizite Amalgamierung des Personenkonzepts und der Propositions- und Bewusstseinstheorie unter Beteiligung von Vernunft- und Symbolisierungsaktivitäten zu sehen – allerdings darf mit guten Gründen bezweifelt werden, ob diese Ich-Vorstellung einen eigenen Erklärwert für das Verständnis des Menschen besitzt, der ohne diesen Begriff nicht auch geliefert werden könnte. Die Frage, die sich hinter diesen Begriffsuntersuchungen verbirgt, ist nicht lediglich, welche methodisch-systematische Struktur Whitehead den jeweils behandelten Begriffen innerhalb seines metaphysischen Entwurfs der organistischen Philosophie zumisst, sondern darüber hinaus auch, welchen Stellenwert ein unzweifelhaftes, universelles, jedoch schwer definitorisch bestimmbares Element unserer lebensalltäglichen Selbsterfahrung in seinem Denken einnimmt: Wir erleben uns als Individuen, die einen eigenen Wesenskern inmitten einer Welt voller Veränderungen beibehalten, als mit ihrer Umwelt interagierende Subjekte und finden verschiedene Begriffe, um diesen Phänomenbereich umfassend oder in Aspekten zu beschreiben. 14 Das überwältigende Gewicht der mit diesen Begriffen konnotierten Alltagserfahrungen verhindert von vorneherein, solch ein Vorhaben als hermetisch geschlossene Diskussion von Fachtermini zu führen und verlangt jedem Begriff jenseits seiner strukturellen Bedeutung innerhalb des metaphysischen Entwurfs eine Übereinstimmung mit unserer unmittelbaren, unabweisbaren Selbsterfahrung ab. Anhand dieses Spannungsfeldes lässt sich Whiteheads durchaus differenzierte Begriffsverwendung verstehen. Auf der einen Seite nutzt er den Subjektbegriff als auf ontologischer Ebene universalisierten Grundbegriff, mit dem er die Erfahrungshaftigkeit und Perspektivität jedes Weltprozesses im Konstrukt des wirklichen Einzelwesens beschreibt. Wirkliche Einzelwesen sind die Individuen der organistischen Philosophie. Unsere Erfahrung spielt sich auf einer weit komplexeren Ebene ab, auf welcher die einzelnen Erfahrungsphänomene nur als Resultate komplexer Synergien weiterführender Erfahrungsformen zu verstehen sind. Dadurch werden kategorische Unterscheidungen zwischen verschiedenen Typen Eine hervorragende Darstellung des Phänomens der zeitlich überdauernden Bewusstseinseinheit an der Schnittstelle zwischen Philosophie und Neuropsychologie unter wiederkehrender Bezugnahme auf Whitehead bietet Jason Brown; vgl. Brown (2012), S. 30 ff.
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Subjekt, Individuum, Ich-Objekt, Person
von Erfahrungsgegenständen schwierig. So bietet der Personenbegriff der organistischen Philosophie in seiner einfachen Struktur alleine kein hinreichendes Instrumentarium, das es ermöglichte, mit ihm die besondere Erfahrungseinheit, die der Mensch unserer Alltagserfahrung nach ist, in Abgrenzung von anderen Objekten personaler Dauer zu beschreiben. Auch der Terminus des dauernden Wahrnehmenden geht kaum über den Bedeutungsumfang des Personenbegriffs hinaus, besitzt jedoch im Gegensatz zu diesem nicht einmal eine alltagssprachliche Bedeutung, die uns eine pragmatische Verortung ermöglichte. Der Begriff des Ich-Objekts ist weit eher auf den Menschen als bewusst wahrnehmenden, gezielt handelnden, dauerhaften Organismus anwendbar, wird jedoch von Whitehead selbst nicht umfassend behandelt. Man sucht vergeblich, möchte man in der organistischen Philosophie ein adäquates Begriffswerkzeug finden, das einem ein konkretes und anwendbares Konzept des menschlichen Individuums eröffnete. Bestimmte Aspekte der menschlichen Selbsterfahrung bleiben bei Whitehead unbestimmt. 15 Es scheint auch keineswegs seine Absicht zu sein, ein konzises Interpretationsmuster der menschlichen Erfahrung zu geben, das sich von den allgemeinen, ontologisch fundamentalen Erfahrungsstrukturen kategorisch unterschiede, sondern vielmehr, der unabschließbaren Mannigfaltigkeit unserer Erfahrungsphänomene ein von kleinteiligen Details abstrahierendes Grundmuster abzugewinnen, das sich an die metaphysische Konzeption anschließen lässt. Für Whitehead korrespondiert dem methodischen Anspruch seiner Philosophie, eine kohärente Universaltheorie zu sein, auf ontologischer Ebene die Forderung nach einem solidarischen Universum. Wenn also im Kontext kosmologischer Überlegungen der Mensch thematisiert wird, dann ist der Gesichtspunkt der Unabgrenzbarkeit des menschRobert Spaemann formuliert in einem Überblick über die organistische Philosophie sehr konkrete Defizienzen des bei Whitehead zur Darstellung kommenden Menschenbildes. Vor allem komplexere Phänomene unserer alltäglichen Selbsterfahrung sieht er bei Whitehead unbehandelt: »Nicht von ungefähr spricht Whitehead nur von ›Fühlen‹, ›Erfassen‹, ›Streben‹, nicht aber von ›Denken‹, ›Wollen‹ und ›Verantwortung‹. Wenn Whitehead diese vermittelten events als abgeleitete versteht, dann ist auch seine Ontologie noch eine Form von Reduktionismus. […] Um über die Kosmologie hinaus zu einer Fundamentalontologie vorzudringen, bedürfte es wohl der Orientierung an denjenigen Weisen der Erfahrung, die nicht den Charakter der ›presentational immediacy‹ haben, sondern den der reflektierten Vergegenwärtigung des Anderen als des Anderen und der Selbstidentifikation in der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit« (vgl. Spaemann (1986), S. 179 f.).
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3. Teil – Der Mensch in der organistischen Philosophie
lichen Individuums von der Umwelt, die es umgibt, stets präsent. Den Zusammenhang mit der ontologischen Struktur des Universums herauszustellen hat Vorrang vor einer auf die Diskussion exklusiver Details der condition humaine fokussierten Untersuchung.
302 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
Dieses Buch hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche Beschreibungsformen Whiteheads organistische Philosophie für die komplexeren Erfahrungsphänomene anbieten kann, die unser lebensweltliches Selbstverständnis als menschliche Individuen ausmachen. Die Vorgehensweise bestand darin, zunächst die einzelnen Phänomendarstellungen nachzuvollziehen und zu kontextualisieren, um daraus sukzessive ein multifokales Bild der menschlichen Erfahrungsformen in der organistischen Philosophie zu gewinnen. So sollte geklärt werden, ob der organistischen Philosophie eine kohärente Vorstellung des Menschen als Erfahrungswesen zugrunde liege, die alle separaten Untersuchungen durchdringt und miteinander verflicht, oder ob Whiteheads auf verschiedene Werke verteilte Thematisierungen spezifischer Erfahrungsphänomene sich als nicht kompatible Einzeldarstellungen erweisen. Aus diesen besonderen Anforderungen leitet sich der Aufbau des Buchs her. Erstens steht Whiteheads Metaphysik methodisch unter dem Anspruch, eine kohärente Gesamttheorie zu liefern, was es erschwert, einen einzelnen Aspekt isoliert von der Gesamtdarstellung zu analysieren. Zweitens existieren in der Welt der organistischen Philosophie ausschließlich Erfahrungsrelationen, sodass es schwierig ist, eine trennscharfe Linie zwischen verschiedenen Erfahrungsformen zu ziehen, ohne die inhaltliche Grundforderung nach einem solidarischen Universum zu verletzen. Einerseits die Verbindungen zum metaphysischen Gesamtentwurf nachzuvollziehen und andererseits den Abgleich mit der aus unserer unmittelbaren psychologischen Selbsterfahrung stammenden Sammlung von Erfahrungsphänomenen zu suchen ist der methodische Doppelanspruch, der sich in der Untersuchung jedes Erfahrungsaspektes ergibt. Deshalb haben die einzelnen Kapitel nicht den Charakter einer Abfolge abgeschlossener Argumentationen distinkter Themenbereiche, sondern knüpfen implizit immer wieder orga303 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
nisch an bereits erörterte Aspekte an und erweitern so sukzessive in immer weiteren Kreisen das Begriffsinstrumentarium, das sich für eine Interpretation der menschlichen Erfahrungswelt in der Kosmologie Whiteheads gewinnen lässt. Der Doppelanspruch wird bereits in der Diskussion des Vernunftbegriffs deutlich. Wenn die Dynamik von Erfahrungsakten auf ein zu erreichendes Ziel gerichtet sein soll, dann stellt sich die Frage, welche Kapazität das Subjekt besitzt, um zu entscheiden, welches Ziel es anstreben möchte. Whitehead behandelt Intentionalität in seinem Vernunftbegriff, der nicht nur auf das Handeln menschlicher Individuen, sondern allgemein auf alle Erfahrungsakte anwendbar sein soll und so zu einem evolutionären Grundkonzept universalisiert wird. In jedem Erfahrungsprozess spielen begriffliche Wertung und die sich aus der praktischen Vernunft ergebende Lebensmethode eine wie intensiv auch immer ausgeprägte zusammenhängende Rolle. Zugleich soll die Vernunft in der Rolle der spekulativen Vernunft jedoch auch den hochkomplexen, auf den Menschen beschränkten Bereich der wissenschaftlichen Methodik erklären können. Die Untersuchung der höheren Formen der Erfahrung beginnt mit der Symboltheorie der organistischen Philosophie. Whitehead verwendet den Symbolbegriff in einer für Symboltheorien untypischen Weise; während Symbolphilosophien häufig in Ästhetik- oder Psychologiekontexten angesiedelt sind, führt die organistische Philosophie den Symbolbegriff bereits auf der allgemeinen ontologischen Ebene ein und findet seinen Hauptanwendungsbereich höchst idiosynkratisch auf der Ebene der menschlichen Wahrnehmung. Während so mit dem Konzept des symbolischen Bezugs ein strukturell einheitlicher Bogen von einfachen Erfahrungsakten bis hin zu Kunsttheorien und den Wertkodizes komplexer menschlicher Zivilisationen geschlagen werden kann, wird gleichzeitig das kognitive Potential menschlicher Wahrnehmungen im Kontext des symbolischen Bezugs zweier Wahrnehmungsarten verortet. Das Zusammenspiel einfacher Empfindungen mit komplexen Formen der Geistestätigkeit vermittels symbolischen Bezugs gibt Whiteheads Bild menschlicher Wahrnehmung wider, das in der Synthese vager, unbewusster Emotionalität mit scharfumrissen-selektiver, bewusster Gegenwartswahrnehmung durch die Sinne besteht. Sowohl die emotional-sinnstiftende Einordnung der Sinneseindrücke durch unseren massiven unbewussten Erfahrungshintergrund als auch die Rationalisierung unserer emotionalen Zustände 304 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
durch die bewusste Betrachtung sind Symbolisierungsakte, in denen jene kreative Entscheidungsfreiheit des Menschen besteht, welche für Whitehead die psychologische Grunddynamik des menschlichen Lebens auszeichnet. Ein zweiter Zugang zu den höheren Erfahrungsformen findet sich in Prozeß und Realität. Hier möchte Whitehead sich weit weniger direkt an menschlichen Erfahrungsphänomenen orientieren als vielmehr seine metaphysische Konzeption systematisch entwickeln. Dementsprechend besteht eine Hauptintention des Werkes, die sich wie ein roter Faden durch die Darstellungen zunehmend komplexerer Erfahrungsformen zieht, in der Suche nach einer Verbindung zwischen den fundamentalen ontologischen Strukturen der Erfahrungsprozesse und der Ebene unserer lebensweltlichen Erfahrungsphänomene. Vor allem den ersten Konzepten auf diesem Weg, den Kategorien der begrifflichen Umkehrung und der Umwandlung, ist die Nähe zu der abstrakten Theorie der wirklichen Einzelwesen noch deutlich anzumerken. Sie besitzen kein Korrelat aus dem Bereich der menschlichen Erfahrung, sondern bleiben formale Strukturen und schaffen solcherart auf formaler Ebene die Grundlage für zusammenhängende Wahrnehmung, Empfindung von Alternativen und über den einzelnen Erfahrungsakt hinausreichende personale Dauer. Die Schlüsselgelenkstelle zwischen metaphysischem Grundentwurf und Konzeption des Menschen bildet die Theorie der Propositionen. Hier verwendet Whitehead erstmals in der Entwicklung der höheren Erfahrungsformen Beispiele aus der menschlichen Erfahrungswelt, wenngleich er keine kategorisierende Definition der genauen Dimensionen gibt, die der Bereich der propositionalen Empfindungen einnehmen soll. In der Tat scheint diese Vagheit beabsichtigt zu sein, denn sie erlaubt, eine Vielzahl von Konzepten im Propositionsbegriff zu binden. So sollen Propositionen auf der Ebene menschlicher Kognition die Trennung von Wahrnehmung und Vorstellung einführen und dem Subjekt durch die in ihnen stattfindende Aufteilung der Welt in Subjekt und Objekt eine Selbstabgrenzung von seiner Umwelt gestatten. In einem anderen Anwendungsbereich des Propositionsbegriffs, auf der Ebene der Wissenschaftstheorie, sind Propositionen, die Whitehead auch ›Theorien‹ nennt, sogar der Ausgangspunkt seines Denkens; sie decken sich nicht mit dem Propositionsterminus, wie er in der Logik verwendet wird, sondern verkörpern die Aussagen, die über die aus dem gesunden Menschenverstand gewonnene Erfahrungsbasis ge305 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
troffen werden. Damit sind wissenschaftliche Hypothesen in der organistischen Philosophie Propositionen. Leider verwendet Whitehead den Propositionsbegriff in seinen mehr auf die Ebene menschlicher Erfahrungsphänomene gerichteten Untersuchungen nicht. So scheinen auch symbolische Bezüge die Struktur der Propositionen zu erfüllen, da der Bezug eines Erfahrungsbereichs auf einen anderen der Aussagendynamik der Propositionstheorie zu entsprechen scheint. Eine klärende Formulierung Whiteheads findet sich jedoch nicht und gewisse strukturelle Irritationen verbleiben. Auch die menschliche Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezuges, die in Kulturelle Symbolisierung ausführlich behandelt wird, scheint in dem Vorgang der Projektion des einen Wahrnehmungsmodus auf den anderen die Struktur der propositionalen Empfindungen aufzunehmen. Lediglich in der Form der Erscheinungen in dem mit Erscheinung und Realität – einem direkten Zitat von Francis Herbert Bradley – in Abenteuer der Ideen überschriebenen Kapitel ist das Propositionskonzept völlig eindeutig wiederzuerkennen. In der Vielschichtigkeit und dem Konnotationsreichtum des Propositionsbegriffs verwischen dessen genaue Konturen. Die Darstellung des Weges zu höheren Erfahrungsstufen endet im Bewusstseinskonzept der organistischen Philosophie, der Theorie der bewussten Empfindungen oder auch der intellektuellen Empfindungen. Deren formale Struktur baut auf den propositionalen Empfindungen auf und urteilt über die Richtigkeit der ihnen zugrunde liegenden Propositionen. Der Kontrast, der auf diese Weise zwischen den fundamentalen Empfindungen und der Aussage entsteht, ist Whiteheads Defintion des Bewusstseins. Dabei greifen bewusste Empfindungen die in den vorausgegangenen Erfahrungsphasen entstandenen Ausdifferenzierungen der Erfahrung auf. Statt aber eine kategorische Trennung von Wahrnehmung und Denken zu behaupten, betont Whitehead in einer komplexen Binnendifferenzierung bewusster Empfindungen den stufenlosen Übergang zwischen den vielen verschiedenen Nuancen von Bewusstseinsformen. Explizit soll die Vielzahl von Formen bewusster Empfindungen menschliche Erfahrungsphänomene beschreiben. Deshalb kann man die Ebene des Bewusstseins mit Berechtigung als denjenigen Bereich der metaphysischen Gesamtkonzeption Whiteheads ansehen, der die menschliche Erfahrungswelt darstellen können soll. Auch ist das Bewusstsein diejenige Erfahrungsform, in welcher die gemäß wissenschaftlichen Methoden über Hypothesen urteilende Ver306 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
nunft ihren Ort hat; Whiteheads Grundüberzeugung, jede logische Überlegung sei in ein Umfeld des pragmatischen Alltagsverstandes eingebettet, findet in dem Zusammenspiel von propositionalen und bewussten Empfindungen ihre strukturelle Entsprechung. Die verschiedenen untersuchten Konzepte höherer Erfahrung kulminieren in der Bewusstseinstheorie. Allerdings verstärkt sich auch der Charakter der Uneindeutigkeit, der bereits in der Theorie der Propositionen deutlich ist, in Whiteheads Theorie der bewussten Empfindungen nochmals. Für diese Uneindeutigkeit lässt sich eine dreifache Begründung anführen: Erstens wird nicht eindeutig geklärt, nach welchem Unterscheidungsmerkmal sich die Bewusstseinsphänomene auf die verschiedenen Formen bewusster Empfindungen aufteilen. Während die in den propositionalen Empfindungen beginnende Aufteilung in Wahrnehmung und Vorstellung auf ein den Bereich des Kognitiven umfassendes Spektrum hindeuten, bilden in bewussten Empfindungen nicht mehr Wahrnehmung und Vorstellung, sondern Wahrnehmung und Urteil das die Unterteilung der bewussten Empfindungen bezeichnende Begriffspaar. Urteile sollen eine Anknüpfungsmöglichkeit der Bewusstseinstheorie an Whiteheads wissenschaftstheoretische Überlegungen gewährleisten. Bewusste Vorstellungen sind nur ein Sonderfall der Urteile; sie scheinen mit dem ebenfalls nicht eindeutig geklärten Konzept der aufgeschobenen Urteile zu korrespondieren. Durch dieses Ineinandergreifen kognitiver und wissenschaftstheoretischer Begriffe verschwimmt die Erklärungsabsicht, die in der organistischen Philosophie der Bewusstseinstheorie zugrunde liegt. Der zweite Grund für den Uneindeutigkeitscharakter des Bewusstseins liegt in der Trennung des Bewusstseins vom Bereich der nicht bewussten Empfindungen. Whitehead macht nicht deutlich, wo er die Grenze des Bewusstseins zieht, doch ist sicher, dass der unbewusste Erfahrungshintergrund, die vage Emotionalität, eine erhebliche Rolle in seinem Verständnis der menschlichen Erfahrungswelt einnimmt. An der Theorie der Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezuges wird deutlich, wie uneinheitlich Whiteheads eigene Konzeption höherer Geistestätigkeit sich in verschiedenen Werken darstellt: Der in Kulturelle Symbolisierung eingeführte symbolische Bezug der beiden Wahrnehmungsarten scheint eine exakte Entsprechung propositionaler Empfindungen zu sein, mithin also eine vorbewusste Empfindung. Mit der Wahrnehmungsform der präsentativen Unmittelbarkeit ist das Konzept der Sinneswahrnehmung gemeint, die Ver307 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
wandschaft zu den bewussten Wahrnehmungen in Prozeß und Realität ist jedoch offenkundig. Eine Entsprechung der nochmaligen Kontrastierung bewusster Wahrnehmungen mit dem unbewussten, vagen Erfahrungshintergrund der kausalen Wirksamkeit, wie er dem Konzept der Wahrnehmung im Modus des symbolischen Bezuges entspräche, findet sich jedoch in Prozeß und Realität nicht. So wird in einer Rekonstruktion von Whiteheads Bewusstseinstheorie nicht nur nicht deutlich, wo im Bereich unserer lebensweltlichen Erfahrung die Trennlinie zwischen bewussten und unbewussten Wahrnehmungen verlaufen soll, die im Affirmations-Negations-Kontrast begründete formale Struktur des Bewusstseins scheint für diese Rekonstruktion sogar irrelevant zu sein. Daraus folgt die dritte Uneindeutigkeit des Bewusstseinskonzeptes, nämlich die Frage nach dessen Funktion. Einerseits wird dem Bewusstsein die ›Funktion des Erkennens‹ zugeschrieben, womit Whitehead auf den Bereich hinwirkt, den er, so beispielsweise in der Darlegung der spekulativen Vernunft, am direktesten mit vollbewusster Geistestätigkeit assoziiert – das Aufstellen und Überprüfen von Hypothesen vermittels einer selbst stets wieder verbesserungswürdigen Methode, woraus sich eine direkte Verknüpfung mit seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen ergibt. In dieser Funktionszuschreibung besteht zwischen den noch unmittelbar fühlenden, unbewussten propositionalen Empfindungen und den urteilenden bewussten Empfindungen ein kategorischer Unterschied. Andererseits aber beschreibt Whitehead bewusste Empfindungen konsequent mit einer Lichtmetapher, wonach das Kriterium für bewusste Erfahrung eine möglichst ›helle‹, intensive Erfahrung mit großer ›Reichweite‹ ist. Hier ist nicht nur der Übergang zwischen Bewusstsein und Unbewusstem fließend und von keiner kategorischen Trennstufe unterbrochen, das Verständnis des Bewusstseins scheint sich bei Whitehead zudem an die Überlegungen von William James anzuschließen, der als Kriterium für die kontinuierliche Gradierbarkeit von Bewusstseinsintensität das Konzept der ›Aufmerksamkeit‹ verwendet. Bewusstsein in dieser Lesart wäre ein qualitatives Mehr der Erfahrung, ein Empfinden mit erhöhter Leuchtkraft und Reichweite, das aber nicht notwendigerweise urteilen muss. Freie Vorstellungen sind ein Beispiel für diese Auffassung des Bewusstseins. Neben der komplexen Theorie der höheren Formen der Erfahrung bedarf eine Darstellung des lebensweltlichen Selbstverständnisses 308 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
menschlicher Individualität in Whiteheads organistischer Philosophie auch einer Untersuchung des zentralen Selbsterfahrungsphänomens der individuellen, dauerhaften Ich-Haftigkeit. In der Philosophiegeschichte hat sich eine Reihe von Konzepten zur Erklärung dieses Phänomenbereichs herausgebildet. Den Subjektbegriff hat Whitehead bereits auf die abstrakte Ebene des wirklichen Einzelwesens universalisiert, welches auch der einzige Baustein der Realität ist, den man als Individuum bezeichnen kann. Philosophiegeschichtlich deutlich wirkmächtiger ist der Personenbegriff, der üblicherweise ein ganzes Eigenschaftsbündel voraussetzt und so implizit das Menschenbild des jeweiligen Autors mitreflektiert. Bei Whitehead ist die Personendefinition denkbar breit angelegt; weder Lebendigkeit noch Bewusstsein sind konstitutive Elemente einer Person, sondern lediglich eine hierarchische Vererbungsstruktur der beteiligten wirklichen Einzelwesen. Am ehesten ließe sich eine Person im Sinne Whiteheads als ›dauerhafter Gegenstand‹ verstehen. Den Begriff des Selbst zur Beschreibung eines Subjekts mit einer eigenen Innendynamik verwendet die organistische Philosophie nicht, allerdings kann Whitehead dem Ich-Begriff durchaus einen philosophischen Mehrwert abgewinnen. In ihm scheint er seine Vorstellungen höherer Geistestätigkeit kombiniert zu sehen, aber leider leitet sich daraus keine terminologische Verwendung des Ichs in seinem philosophischen Entwurf ab. Eine konzise Beschreibung unserer lebensweltlich wie selbstverständlich vertrauten Innenperspektive, aus der sich ein Verständnis des besonderen Charakters menschlicher Individualität ableiten ließe, liefert die organistische Philosophie nicht. Insgesamt erscheint Whiteheads Konzept der menschlichen Individualität als eine nicht geschlossene Theorie. Ihre Darstellung, die sich über Prozeß und Realität hinaus zumindest auch auf Die Funktion der Vernunft und Kulturelle Symbolisierung erstreckt und andere Werke punktuell miteinbezieht, ist nicht vollständig kohärent. Vor allem darf in Frage gestellt werden, ob sie eine adäquate Repräsentation der Phänomenvielfalt unserer Alltagserfahrung abgibt; selbst der eingangs von Prozeß und Realität verkündeten eigenen Arbeitsaufgabe, eine umfassende Interpretation unserer Erfahrung in Form von Erlebnissen, Wahrnehmungen, Willensakten und Gedanken zu sein, wird die organistische Philosophie nur teilweise gerecht. In methodischer Hinsicht jedoch ist Whiteheads Entwurf konsequent. Die vielen einzelnen Strukturen der komplexen Erfahrungsprozesse sind erkennbar sorgfäl309 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
tig miteinander verfugt; der Weg hin zu komplexeren Formen der Erfahrung ist folgerichtig ausformuliert und baut in jeder neuen Phase auf den bereits eingeführten Erfahrungsformen auf. Bei keinem Teilkonzept unterschlägt Whitehead noch so indirekte Einflüsse anderer Strukturen, sodass eine Vielgestalt von Wirkfaktoren in jedem Erfahrungsphänomen deutlich wird, die einen vorschnellen Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit vermeiden und letztlich stets auf den metaphysischen Grundentwurf zurückverweisen. Was genau aber das menschliche Individuum in seiner Philosophie ausmacht, welche Konturen die menschliche Erfahrungswelt in einer allgemeinen Metaphysik der Erfahrung auszeichnen, bleibt in seinem kosmologischen Entwurf unterbestimmt. Wie soll man nun Whiteheads Konzeption der uns aus unserer menschlichen Lebenswelt vertrauten Erfahrungsformen verstehen? Ich denke, es lässt sich eine schlüssige Interpretation für seine hier untersuchte Umgangsweise mit diesem Thema finden. Zunächst einmal ist festzustellen: Die Untersuchung der Erfahrungsformen unserer Lebenswelt ist keine Anthropologie, sie stellt nicht die Frage nach der ›Natur der Menschen‹. Gewissermaßen ist sogar die Verwendung des Begriffs des ›Menschen‹ willkürlich; es kann nicht darum gehen, eine abgeschlossene Definition davon, was der Mensch und seine Erfahrungswelt sei, als Maßstab der Untersuchung zugrunde zu legen. Whitehead selber spricht unterminologisch zumeist von ›unserer Erfahrung‹ statt von ›menschlicher Erfahrung‹. Doch auch dieses ›wir‹ ist trügerisch – man vermeidet die Bedeutungslast, die am Menschenbegriff hängt, bewegt sich aber implizit im gleichen Bezugsrahmen. Wer sonst sollten ›wir‹ denn sein? Der Begriff des Menschen soll hier also ganz unterminologisch in der Weise verwendet werden, in der auch die Rede von ›unserer‹ Erfahrung verstanden werden könnte: Als nicht bedeutungsscharfe, grobe Beschreibung einer Form von Erfahrung, die uns allen unmittelbar vertraut ist. Ganz offenkundig liegt eine differenzierte Binnenbestimmung des Menschen, aus der sich praktische Handlungsanweisungen und ein tieferes Verständnis der genauen gesellschaftlichen Eigenschaften und Problemstellungen seiner Zeit ergäben, außerhalb der Zielsetzung von Whiteheads Philosophie, ihm geht es um die adäquate Untersuchung seines universellen Erfahrungsbegriffs. Whitehead ist kein im engeren Sinne psychologisch oder politisch motivierter Denker. Das soll nicht bedeuten, er habe für seine philosophischen Texte keine praktischen 310 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
Anwendungsbereiche gesehen; in den Bereichen von wissenschaftlicher Methodik und von Erziehung und Bildung etwa hat er sehr wohl konkrete Ziele benannt und Veränderungsvorschläge formuliert. Demgegenüber verlangt er seinem Menschenbild keine klaren Konturen ab, aus denen sich generelle, praktikable Schlussfolgerungen für die individuelle Lebensgestaltung oder gar für eine an praktischen Fragestellungen ausgerichtete Ethik gewinnen ließen. Auf merkwürdige Weise bleibt seine Zeichnung des Menschen vage und lässt sich nicht schlagwortartig auf eine überschauliche Essenz verdichten. Die Frage nach einer ›Natur des Menschen‹ in der organistischen Philosophie zu stellen wäre vollkommen widersinnig. Genau dieser Umstand nun scheint mir aber auch die Intention Whiteheads zu sein. In der Philosophiegeschichte hat es viele wirkmächtige Menschenbilder gegeben, in denen der Mensch jeweils in einer mehr oder weniger konkreten Weise schematisiert wurde. Dabei verweist das solcherart in der menschlichen Natur entdeckte System zumeist auf den philosophischen Diskurs seiner Zeit und ist so selbst im Höchstmaß zeitlich gebunden; die Definiton dessen, was den Menschen und seine Kapazitäten im Kern ausmache, ist mit dem speziellen Vokabular ihrer zeitgenössischen Denkströmungen überladen und erschließt sich außerhalb dieses soziokulturellen Kontextes nicht selbstverständlich. So vereint beispielsweise etwa für René Descartes der Mensch einen mechanischen Funktionsprinzipien unterworfenen Körper mit einem Geist, dessen Hauptfunktion in der Erkenntnis abstrakter, allgemeiner Wahrheiten besteht; in der Perspektive Immanuel Kants zeichnet sich der Mensch durch seine autonomes Handeln ermöglichende Kapazität zum Verstandes- und Vernunftgebrauch aus. Beide Konzeptionen sind eng mit den philosophischen Fragestellungen ihrer Zeit verknüpft und würden heute keineswegs mehr wie selbstverständlich gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen als Prämissen zugrunde gelegt. Nun wäre eine kategorische Trennung zwischen zeitgeistgebundenen Mensch-Konzepten und einer überzeitlichen, universell gültigen Theorie des Menschen bei Whitehead nicht statthaft; natürlich sind die Übergänge zwischen beiden beschriebenen Positionen fließend. Dennoch lässt sich ein bedeutsamer Gewichtungsunterschied festmachen: Die organistische Philosophie bringt den Menschen nicht auf eine eingängige Formel, vereinfacht die ungemeine Phänomenvielfalt unserer Erfahrungen und deren unbegrenzte Wertungs- und Interpretationsmöglichkeiten nicht, indem sie ein geschlossenes Inventar 311 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
menschlicher Erfahrungskategorien aufführte. Wenn Whitehead den Reichtum unserer Erfahrungen wirklich für unerschöpflich hält, muss jede Erklärung des Menschen, die mit handfertigen Formeln arbeitet, letztlich einen Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit darstellen. Schließlich ist der Mensch als der die Ausgangserfahrungen der philosophischen Theorie Liefernde für sein eigenes kosmologisches Konzept auch methodisch zentral. Wir sollten die Vagheit seiner Darstellung menschlicher Individualität nicht als Mangel begreifen, sondern als einen angemessenen Umgang mit der unabschließbaren Vielfalt unserer Selbsterfahrungen, die sich nicht streng deduktiv-eindeutig auf einen metaphysischen Letztgehalt ausdeuten lassen, sondern sich als überreicher Nexus für systematische Analogieschlüsse anbieten, die kreativ und spekulativ den phantasievollen Überstieg über die engen Grenzen logisch geschlossener Binnenuntersuchungen gewähren. Jede neue Hinsicht auf den Bereich der menschlichen Natur, jede Thematisierung in anderen Diskurszusammenhängen sollte genügend Freiraum innerhalb der weitgefassten Einhegung dieses Analogiesystems haben, um sich angemessen positionieren und den Formulierungen der organistischen Philosophie eine genuin eigene Perspektive abgewinnen zu können. Diese methodische Grundeinsicht hat Reiner Wiehl unübertrefflich formuliert: Die spekulative Philosophie läßt hier bewußt einen theoretischen Abstand zwischen ihren Grundbegriffen und entsprechenden möglichen empirischen Instanzen. Man mag die spekulative Philosophie Begriffsdichtung nennen. Sie ist darum nicht schon sinnlos und hoffnungslos vieldeutig. Sie vermag vielmehr eine Systematik möglicher Analogien zu entwickeln, die in heuristischer und kritischer Funktion gebraucht werden können. […] Wenn dieses Begriffssystem, wie gesagt, den Reflexionsabstand zwischen Kategorie und Erfahrung bewußt offen hält und ein Gefüge von Analogien zur möglichen Interpretation dieses Zwischenraumes bereitstellt, so geschieht dies im Blick auf die Unerschöpflichkeit und die Kohärenz des Realen. 1
Der von Wiehl genannte theoretische Abstand zwischen begrifflicher Definition und dem so bezeichneten Komplex empirischer Erfahrungen korrespondiert mit Whiteheads Reserviertheit gegenüber der Erkenntnismacht sprachlicher Formulierung. Nicht nur lassen sich durch die Formulierung eines philosophischen Systems Problemstellungen niemals endgültig für alle Zukunft lösen. Auch lassen sich aus der jeder 1
Wiehl (1984), S. 321 f.
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Fazit
philosophischen Theoriebildung zugrundeliegenden massiven Sammlung von Erfahrungen überhaupt keine überzeitlich gültigen, scharfkantig abgegrenzten Problemfelder herausdestillieren, die nicht in irgend einer Weise den sprachlichen und gesamtgesellschaftlichen Konventionen und Problemdiskursen ihrer Zeit verpflichtet wären. Fragestellungen verändern sich sowohl in ihrer Bedeutung als auch in ihrer Abgrenzung voneinander mit den gesellschaftlichen Umständen, unter denen sie formuliert werden. Deshalb vermeidet Whitehead konsequent, sich inadäquat festzulegen, wenn er den komplexen Bereich unserer menschlichen Individualität beschreibt; strenggenommen sind seine höheren Erfahrungsformen nicht einmal exklusiv für den Menschen reserviert. Weniger noch lässt sich in seinem Werk eine umfassende Definition der menschlichen Natur finden, etwa in Begriffen wie dem ›menschlichen Selbst‹. Stattdessen spricht Whitehead ganz unterminologisch von ›unserer‹ Erfahrung, für die es ein Interpretationsmuster zu finden gelte. Nach Maßgabe des eigenen gesunden Menschenverstandes hat jeder Rezipient ein unmittelbares, vorterminologisches Verständnis davon, welcher Phänomenkomplex hier untersucht werden soll. Dabei wirkt in der organistischen Philosophie eine Systematik von Analogieschlüssen auf zwei verschiedene Weisen: Aus unserem lebensweltlichen Erfahrungshorizont leitet sich in einem Analogieschluss die abstrakte Theorie der wirklichen Einzelwesen her, die unschwer erkennbar anthropomorphe Strukturen aufweisen. Diese Analogie ist – in streng wissenschaftlichem Sinn – weder beobachtnoch beweisbar, der Analogiecharakter besteht also in einer intuitiven Einsicht. Zudem aber arbeitet Whiteheads Philosophie selber mit symbolischen Verweisstrukturen, die man als Analogiebezüge verstehen kann. Deutlich wird dieser Umstand besonders, wenn man die Darstellung in Prozeß und Realität mit den Darstellungen anderer Werke vergleicht. So sind etwa die Wahrnehmungsentwürfe in Kulturelle Symbolisierung und in Prozeß und Realität nicht identisch, dennoch bezeichnen sie den gleichen Phänomenbereich. Zwischen beiden Konzepten lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein Analogieverhältnis vermuten. Auch die beiden unterschiedlich benannten Konzepte der Propositionen in Prozeß und Realität und des symbolischen Bezugs in Kulturelle Symbolisierung scheinen zwar nicht identisch zu sein, lassen sich aber durchaus als analogische Entsprechung verstehen. Die in Kulturelle Symbolisierung ausgeführten 313 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
Ansätze einer Handlungstheorie lassen sich nicht einfach auf die Darstellung in Prozeß und Realität übertragen. Wo Whitehead von symbolisch konditioniertem Handeln spricht, ist offenkundig ein Bewusstseinsbezug gegeben, doch wie sich die Intentionalität von Handlungen oder eine Unterscheidung zwischen bewussten Handlungen und bloßen bewussten Vorstellungen innerhalb des Rahmens von Prozeß und Realität bestimmen ließe, bleibt offen. Auch hier vermitteln zu einem bestimmten Grad Analogien zwischen den verschiedenen Darstellungen. Man könnte gar aufgrund der deutlichen strukturellen Verschiedenheit der praktischen und der theoretischen Vernunft auch in der Beziehung der beiden Vernunftbegriffe eher einen Analogiebezug als ein unmittelbar binnenlogisches Verhältnis unterstellen. Diese Verknüpfung einzelner Teile seines philosophischen Entwurfes vermittels systematischer Analogien scheint mir aber keine Folge unzulänglicher und unpräziser philosophischer Arbeit zu sein – auch, wenn man sich mitunter in einigen Passagen von Whitehead einen größeren semantischen Klärungswillen wünscht – sondern sich aus der Anlage seiner Philosophie notwendigerweise zu ergeben. Wie er in seinen wissenschaftsmethodischen Überlegungen immer wieder betont, erachtet Whitehead das klassische Methodenmodell von Induktion und Deduktion zwar innerhalb gewisser Grenzen als gerechtfertigterweise anwendbar, aber auf allgemeiner wissenschaftstheoretischer Ebene als nicht hinreichend. Vielmehr verlangt er eine stete Überprüfung der Arbeitshypothesen anhand des empirischen Materials. Bezüglich seiner philosophischen Methode bedeutet das den Verzicht auf eine bloße Deduktion der menschlichen Erfahrung aus den metaphysischen Grundannahmen. Das neue interpretative Ansetzen an Erfahrungsphänomenen, wie es in den kleineren Schriften vorkommt, sorgt für Korrektive zu der langen Herleitung aus den abstrakten Theoriegrundbegriffen, die Whitehead hauptsächlich in Prozeß und Realität entwickelt. Das Spannungsgefüge, das sich aus den Beziehungen dieser verschiedenen Darstellungen zueinander ergibt, ist der theoretische Abstand, den Whitehead mit seinem Gefüge systematischer Analogien überbrücken möchte. Diese Reflexionsdistanz betrifft auch das Konzept menschlicher Individualität in der organistischen Philosophie. Die lebensweltliche Erfahrung des Menschen wird nicht als bloß psychologisches Phänomen gesehen, sondern immer auf das abstrakte metaphysische Grundkonzept der fundamentalen Erfahrungsprozesse wirklicher Einzelwesen rückgebunden. Zugleich haben die wirklichen 314 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Fazit
Einzelwesen einen anthropomorphisierten Erfahrungscharakter, sodass ein impliziter Rückbezug auf die abstrahierte Grundqualität unserer Erfahrungswelt in jeder metaphysischen Spekulation der organistischen Philosophie gegeben ist. Da der Bereich der menschlichen Erfahrungswelt diese beiden Ebenen beinhaltet, umfasst er in sich selbst eine mit Strukturerklärungen nicht vollständig überbrückbare Distanz, die es erforderlich macht, ihn als ein Gefüge von systematischen Analogien zu begreifen, die ihn einerseits mit den ontologischen Grundlagen von Whiteheads Kosmologie verbinden, andererseits aber auch Anknüpfungspunkte für eine Einbindung in die psychologische Phänomenwelt unseres lebensweltlichen Selbstverständnisses bieten. Ein umfassendes Verständnis des Gefüges systematischer Analogien, das Whitehead in seinem philosophischem Entwurf verwendet, um nachvollziehen zu können, nach welchen Analogiebeziehungen seine Interpretationsstruktur der Welt sich gestaltet, würde, neben dem metaphysischen Konzept, den Bereich der symbolischen Logik beinhalten. Wenn er die Philosophie mit der Poesie vergleicht und so einen Analogiebezug zwischen mathematischem Muster und sprachlichem Metrum herstellt, so formuliert Whitehead nicht nur einen Zusammenhang zwischen Darstellungskonventionen. Zugleich beschreibt er den Schnittbereich, aus dem sich seiner Meinung nach ein adäquates Interpretationsinstrument für das Verständnis unserer Erlebensqualität als ästhetischem Phänomenfeld gewinnen ließe, nämlich den Bereich der symbolischen Logik. Eine präzisere Beschreibung des Bereichs menschlicher Individualität in der Form einer durchgängig geschlossenen konsistenten Herleitung von den abstrakten metaphysischen Grundkonzepten bis hin zu der umfassenden Erklärung jedes Phänomens unserer Lebenswirklichkeit, die nicht mit systematischen symbolischen Bezügen und Analogien arbeitete, ist mit der Methode der organistischen Philosophie nicht erwartbar. Um mit den Worten zu enden, mit denen Whitehead den letzten philosophischen Vortrag seines Forscherlebens, betitelt Immortality, beschloss (vgl. ESP, 74): Exactness is a fake.
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Bibliographie
Aus Gründen der Texteinheitlichkeit werden, soweit möglich, die Werke Alfred North Whiteheads in der deutschen Übersetzung zitiert. Dabei wird, wie es sich in der Forschung als Norm eingebürgert hat, zunächst die Seitenangabe des englischen Originaltextes und anschließend, durch einen Schrägstrich abgetrennt, die Seitenangabe der deutschen Übersetzung genannt. Da für die beiden Schriften Essays in Science and Philosophy und An Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge keine deutsche Übersetzung vorliegt, werden diese Werke auf Englisch zitiert.
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Personenregister
Aristoteles 16, 37n, 57, 95n, 98, 155, 159, 185, 291 Bennett, John 20, 284 Bergson, Henri 243n, 245 f. Blyth, John W. 156n, 222 Bradley, Francis Herbert 187n, 229, 248, 306 Brown, Jason 19, 210n, 300n Bubser, Eberhard 78n, 115n, 185n, 201n, 203n, 249n, 257n Busch, Elmar 19 f. Carnap, Rudolf 214n Cassirer, Ernst 120n, 122 Christensen, Darrel 115n, 178n, 182n Descartes, René 16, 61–63, 79n, 80, 138, 230, 232, 311 Dewey, John 50, 51n, 63, 64n, 65 f., 150 Dilthey, Wilhelm 228n Driesch, Hans 49n Einstein, Albert 148n Eisendrath, Craig 21 Emmet, Dorothy 58, 93, 187n, 236n Felt, James W. 180n Fetz, Reto Luzius 19, 49, 95n, 170n, 176n, 181, 189, 220n, 244n, 246, 268n, 284, 293n Fichte, Johann Gottlieb 61 f., 180, 211n Ford, Lewis S. 36n, 104, 167, 175n
Franklin, Stephen T. 130, 138, 151n, 178n, 182n, 187n, 192n, 194n, 241 Frege, Gottlob 186 Freud, Sigmund 218n, 271 f. Galilei, Galileo 126 Goodman, Nelson 120n, 122 Griffin, David Ray 18 Hall, David L. 17, 289n Hampe, Michael 19 f., 52, 56, 83n, 122 f., 128, 131, 141n, 148n, 154n, 164, 177n, 182n Hassell, Julian von 156n, 185n Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 20 f., 115, 229, 267n, 268n, 286 Holl, Hans-Günter 79n, 141n, 167n, 185n, 196n, 235n, 266n Hooper, Sydney 187n, 192n, 194n Hume, David 62 f., 138, 141, 143n, 158, 243, 296 Husserl, Edmund 228n James, William 18, 20, 63–65, 155, 187n, 229 f., 232, 255, 256n, 260 f., 296, 308 Johnson, A. H. 127n Jones, Judith 171n Jung, Carl Gustav 161 f., 256n Kann, Christoph 36n, 106n, 291n Kant, Immanuel 16, 73, 89 f., 99, 115, 148n, 170, 286, 293–295, 311 Kelly, Robert 155 Keynes, John Maynard 204n, 205n
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Personenregister Klose, Joachim 154n, 156n, 182n Kraus, Elizabeth 132, 143, 167n, 178n, 187n, 199, 208, 238, 243n, 247n, 266n
Platon 37n, 82, 84, 149, 169 f., 207 f., 235, 291, 297 Pred, Ralph 18, 187n, 190, 192n, 201, 242n, 262n, 297
Lacan, Jacques 120n Lachmann, Rolf 102, 110n, 161n Langer, Susanne K. 120–122 Lango, John 187n Lawrence, Nathaniel 68, 88 Leclerc, Ivor 167n Leiber, Theodor 274n Leibniz, Gottfried Wilhelm 63 Locke, John 16, 38, 51, 63, 138, 155, 197n, 204, 252, 259, 293–295 Lotter, Maria-Sibylla 20, 38, 80, 159n, 167n, 262n, 295
Rapp, Friedrich 170n Rescher, Nicholas 248 Rohmer, Stascha 20, 76n, 120n, 181 f., 267n Ross, Stephen 94n, 187n Rotenstreich, Nathan 221n Royce, Josiah 229 Russell, Bertrand 33, 186n, 212, 219, 229n, 276
MacHenry, Leemon 187n Maturana, Humberto 277 Mays, Wolfe 188n, 248n, 250n McTaggart, John 229 Mead, George Herbert 120 Moore, George Edward 185, 186n, 229n Morris, Bertram 71n Müller, Tobias 18, 114n, 167n, 220n Newton, Isaac 63, 148n Nietzsche, Friedrich 169n Northrop, Filmer 157n Oakley, H. D. 49n Peirce, Charles Sanders 45–47, 121 f., 204
Santayana, George 140 f., 154, 246 Schaper, Eva 71, 76n Scheler, Max 68 f. Schmidt, Paul F. 18, 146n, 156n, 240 Schmitz, Hermann 228n Searle, John 186, 187n Sherburne, Donald W. 72n, 178n Singer, Peter 294 Spaemann, Robert 68, 90n, 93, 95n, 264, 301n Taylor, Alfred 231n Uehlein, Friedrich A. 141n Watzka, Heinrich 18 Wessell, Leonard 67, 72n Wiehl, Reiner 72n, 78, 90, 226, 249n, 260, 296n, 312 Wolf-Gazo, Ernest 20, 268n
324 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister
Abduktion 45, 204 abgeleitetes Urteil 265, 266n Abide with me; fast falls the Eventide 78n, 87n Abstraktion 50, 56 f., 63, 73 f., 84, 92, 102, 113, 127, 138, 145, 149, 158, 166 f., 181–183, 185, 193, 198, 205 f., 210, 212, 217, 225, 243, 246, 257, 278, 281–283, 315 Affirmations-Negations-Kontrast 29, 215, 233, 237 f., 242 f., 250 f., 252n, 254, 256, 258, 260–263, 267, 269, 280 f., 308 Alltagserfahrung 17, 39, 56, 99, 124 f., 134, 151n, 153 f., 269, 280, 295, 309 Alternative 173, 180 f., 185, 198, 212– 214, 217–219, 224, 238, 242 f., 249– 251, 263, 275 f., 281, 283, 299, 305 Analogie 57, 70 f., 90, 109, 114, 140, 161, 165, 178, 222, 226 f., 235, 278, 289, 312–315 analytische Philosophie 185n, 186 f., 190n, 229n anámnêsis 169 f., 235 andauernde Person/Gegenstand/ Wahrnehmender 176, 235 f., 296 f., 267, 279n, 288, 292, 301, 305, 309 anorganisch/organisch 19, 50, 52 f., 90–92, 101, 116, 160, 171, 176n, 184 Anreiz für Empfinden 199 f., 202n, 219, 220n, 221n, 285 Anthropologie 22, 24, 27, 68, 101, 111, 119, 155, 229, 287
Anthropomorphismus 27, 68, 70, 87 f., 90–95, 124, 166, 202, 238, 270, 290, 313, 315 Ästhetik 27, 65, 71–78, 80, 83, 86, 87n, 91, 124, 161, 173, 183, 202 f., 209, 214, 225 f., 279, 304, 315 aufgeschobenes Urteil (vgl. schwebendes Urteil) 248, 250, 253 f., 259, 263 f., 269, 285, 307 Aufmerksamkeit 227n, 257, 260 f., 269, 280, 308 Aussage 185n, 186, 189, 191, 202, 208–211, 214, 238 f., 241, 245, 248– 250, 285, 305 authentisches/unauthentisches Empfinden 196–198, 224, 239, 242, 251 begriffliches Empfinden (vgl. primäres physisches Empfinden) 53, 81–85, 114, 132, 170, 172, 174, 177 f., 181, 184, 196n, 215, 219, 273 begriffliche Umkehrung 29, 167 f., 171–173, 175 f., 178, 180 f., 183 f., 191, 193, 196 f., 210, 212, 215, 224 f., 239, 242 f., 263, 268 f., 273, 282–284, 292, 305 Begriffsdichtung 71, 312 bewusstes Empfinden 29 f., 35, 191, 193, 200, 218, 232, 234 f., 237–239, 241, 244 f. 247, 250, 256, 259 f., 263, 272, 278, 285, 306–308 bewusste Vorstellung 30, 244, 254, 258, 264, 269, 283, 307, 314 bewusste Wahrnehmung 30, 239 f.,
325 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister 242–245, 249–252, 258 f., 264 f., 269 f., 292, 308 Bewusstsein 17–20, 24, 28–30, 37, 55, 64, 94, 103, 105, 112, 114, 130, 133, 136, 137n, 148, 161 f., 169n, 182, 187, 191, 194, 199 f., 203, 213, 215, 219, 226–231, 233–241, 244, 247, 248n, 250–258, 260–262, 264 f., 267, 268n, 269–272, 275–286, 288, 291, 293 f., 296, 298–301, 304–309, 314 bezeichnendes Empfinden 194, 223, 239, 241 Biologie 18, 22 f., 49–52, 91, 154n, 176n, 287, 291 Common Sense 35, 44, 46, 75, 109, 141, 206, 305, 307, 313 Deduktion 42–44, 46, 205, 312, 314 Denken 28, 30, 39 f., 62, 66, 94, 113, 116, 119, 122, 128, 132, 160, 194, 213, 218, 225, 231 f., 234, 239, 258 f., 264, 276, 279n, 280, 282 f., 301n, 306 direktes/indirektes Empfinden 157 f., 165, 196–198, 224, 238 f., 242, 251 Distanzierung 209 f., 212n, 225 Dualismus (vgl. Monismus) 55, 63 f., 80, 230, 234, 258 Eines/Vieles 58–60, 65, 74 f., 81, 87, 155 emotionales Muster 84, 87, 133, 137, 139 f., 145, 147, 149, 171, 177, 179, 191 f., 198–203, 205, 207 f., 211 f., 213 f., 221, 225 f., 236, 239, 242 f., 245, 249, 251, 252n, 258 f., 261–264, 273 f., 282, 284, 296 Emotionalität 20, 28, 30, 69 f., 73, 81 f., 107, 127, 129–131, 138 f., 144, 149, 158, 160–162, 177, 200, 202, 205 f., 209 f., 212n, 213, 219, 225 f., 230, 244 f., 250, 253, 255 f., 269, 271–280, 284 f., 304, 307 Enge (vgl. Trivialität, Vagheit, Weite) 139, 278n
Epistemologie 61, 72, 90, 180, 248n, 249, 262 Erfahrung, Erfahrungsbegriff, Erfahrungsprozess 15 f., 19–22, 25 f., 27– 30, 34, 39 f., 43, 45 f., 49 f., 53–57, 62 f., 64n, 65–67, 69–72, 75–77, 79– 83, 86–88, 94, 98, 105, 112, 114, 117, 122, 128 f., 131–133, 137–141, 144, 149, 152, 154 f., 157, 160 f., 166, 168n, 170, 173, 177, 180, 189, 205, 209, 213, 215 f., 220n, 221, 225 f., 230, 232–234, 237, 248, 253n, 255, 257 f., 260–262, 268, 273, 275, 277 f., 280 f., 292, 297, 299, 301, 303, 308, 310–313 Erfüllung 59, 66, 70, 87, 98n, 107, 133, 139, 145, 151, 166, 171, 177 f., 192, 219, 220n, 263, 272, 274, 278 Erinnerung, Gedächtnis 137, 140–142, 151, 153, 169, 212, 223, 235, 240, 243, 256, 273, 275, 277, 295, 299 Erscheinung 187, 191, 201, 217 f., 255n, 306 Ethik 54, 70, 115, 159, 208, 216, 228, 264n, 311 Evolution 100 f., 115, 117, 134, 168, 304 extensives Kontinuum 148n, 149, 153, 224 Fakt 43, 60, 82, 103, 108, 130, 156 Folgenatur Gottes (vgl. Urnatur Gottes) 85 f., 114, 174 Formbestimmtheit (vgl. Idee, Potentialität, zeitloser Gegenstand) 82, 84, 86, 103, 132, 144–146, 149, 169, 172, 174, 176, 178 f., 183, 190, 210, 220n, 251 freie Vorstellung 252, 259, 308 Freiheit 86, 130, 132 f., 158, 163–165, 179 f., 198, 224, 243, 282 f., 293, 305 Funktion des Erkennens 230–232, 237 f., 244, 247, 252, 254–256, 259 f., 262, 269, 299, 308
326 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister Gedanke 34 f., 185n, 234, 264, 266– 268, 270, 283, 309 gefesselte Vorstellung 224 Gefühl 200, 204n, 225, 236, 249 f., 257, 260, 275, 277, 280 Gegenwart 141, 145, 154–156, 158, 162, 279n, 285, 295 Gesellschaft 23, 53, 95, 101, 111, 120, 124, 160, 162–164, 170, 176, 235, 287–289, 292 f. Glaube 197 f., 201–203, 204n, 205, 207, 209, 249, 252n, 261, 275 Gleichzeitigkeit 146 f., 154 Gottesbegriff 85, 88, 114, 168n, 174 f., 219 Halbschatten, Halbdunkel 35, 212 f., 218, 255–257, 275 f. Handeln, Handlung 28, 69, 97 f., 116, 120, 160, 162–164, 202, 208 f., 242 f., 262, 267, 274, 282, 290, 295 f., 304, 310 f., 314 Handlungstheorie 69, 158 f. Harmonie 263, 265, 278, 285 Hintergrund (vgl. Vordergrund) 30, 34 f., 39–41, 43 f., 46, 140n, 153, 156, 158, 162, 219, 243, 255n, 257, 260, 269, 276, 278, 304, 308 höhere Formen der Erfahrung 24 f., 27–31, 76n, 83, 95, 103, 130, 133 f., 142, 151, 157, 161, 164–166, 172, 181, 184, 194, 203n, 211n, 213, 215 f., 218 f., 221 f., 231, 234, 236 f., 243n, 260, 263, 270, 272, 274, 278, 282–285, 300, 304 f., 307 f. hybrides Empfinden 167, 168n, 174– 177, 184, 189, 212 Hypothese 40, 42 f., 45–47, 54, 204 f., 216, 222 f., 225, 244, 282 f., 285, 306, 308, 314 Ich 23, 31, 94, 170, 176, 180, 211n, 271, 273, 291, 298 f., 309 Ich-Objekt 233, 291, 298–301 Ideal 34 f., 125, 214, 283 Idealismus 62, 229, 259, 268n
Idee (vgl. Formbestimmtheit, Potentialität, zeitloser Gegenstand) 40, 83– 85, 108, 111, 113 f., 119, 127, 129, 168–170, 173 f., 207 f., 212n, 233, 257, 259, 276, 280, 283 Identität 17, 77, 91, 170, 173 f., 176 f., 181, 184, 242, 273, 293, 297 Individualität, Individuum 16, 20, 23– 25, 31, 89, 95, 112, 119, 170, 181, 210, 275, 278, 284, 288, 289n, 290– 292, 294, 300–304, 309 f., 312–314 Induktion 43 f., 46, 204–206, 216, 314 instinktive Aktion 158, 160 instinktive Intuition 245–247 intellektuelles Empfinden 104 f., 157, 166, 191, 193 f., 199–201, 210, 216, 218n, 225 f., 237–240, 244–246, 249 f., 262–265, 267, 269, 272, 279, 306 Intensität (Erfahrung) 53, 69 f., 82, 84–86, 100, 133, 138–140, 144 f., 151 f., 165 f., 171 f., 174, 177, 179, 181, 183, 191, 192, 199 f., 203, 209 f., 212, 216, 220n, 221n, 251 f., 254 f., 257, 260 f., 272, 274, 279n, 280–282, 284 f., 287, 290, 308 Intuition 40, 45 f., 67, 245, 247, 249 intuitives Urteil 244 f. 247, 249, 250– 254, 259, 264–266, 267n, 269 f. Irrtum 28, 132–135, 157 f., 165, 191 f., 209, 215 f., 218, 220n, 223 f., 249 Kanalisierung 177, 181, 209, 236, 268n, 273, 284, 293, 295 f., 299 kausale Wirksamkeit 28, 135–140, 142–144, 147, 149–151, 153, 158, 169, 195, 234, 240 f., 266, 270, 273, 275–277, 281, 308 Klarheit (Erfahrung) 144 f., 148, 219, 255n Kognition, kognitiv 17, 19, 23, 25, 82, 91, 223, 225 f., 233, 243, 264, 267, 272, 274 f., 277, 298, 304 f., 307 Kohärenztheorie (vgl. Korrespondenztheorie) 247 f.
327 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister Komplexität 22–24, 28 f., 104, 149, 216, 258, 287, 289, 303, 310 Konformität/Nicht-Konformität 200, 208 Konkreszenz 87, 136, 143, 146, 149, 165 f., 168, 169n, 173, 178n, 183 f., 191, 193, 195, 200, 212, 216, 220n, 225, 263, 264n, 272, 281 Konkretisierung 59 f., 81, 86, 219 Kontrast 30, 74, 77, 82, 91, 104, 129, 133, 140, 144 f., 166, 171–174, 187n, 188, 191, 193, 218, 221, 223, 235, 237–239, 241, 243, 250–254, 257 f., 261–263, 269, 278, 293, 306, 308 Korrespondenztheorie (vgl. Kohärenztheorie) 247 f., 249n Kosmopsychologie 260, 269 kreativer Impuls 59 f., 79 f., 85n, 87, 201n Kreativität 27, 54, 56–58, 79 f., 85, 130 Kultur 23 f., 28, 165, 233 Kunst 28, 71 f., 76, 77n, 78, 112, 161, 163, 192, 202, 214, 216, 226, 249n, 304 lebende Person 170, 176 f., 181, 184, 268 Lebendigkeit 51, 56, 176n, 177, 309 Lebensmethode 28, 108 f., 116 f., 158, 160, 175, 209, 278, 304 Lebenswelt 23, 28–30, 180, 184, 269– 271, 310 Logik 30, 35, 43–45, 74–76, 109 f., 116, 118 f., 126, 183n, 185 f., 190, 200, 205 f., 214, 221n, 229n, 247, 266n, 279, 282, 305 logisches Subjekt 186, 190–192, 194 f., 198, 210 f., 217, 223, 238 f., 242, 244, 250, 253 makroskopische Ebene (Organismus) 50–52, 60, 65, 91, 178, 287 Massivität (Erfahrung) 144, 149, 153, 161 f., 179, 256, 278, 283, 304 Materie (passiv) 51, 55, 57, 63, 65, 80, 102 f., 176n, 294n
Mathematik 56, 63, 72 f., 109 f., 116, 118, 125–127, 183n, 186, 206, 229n, 315 Mechanismusparadigma (vgl. Organismusparadigma) 51, 66 f. Meinung 39, 197, 203 f., 207 f. Mensch 23 f., 31, 35, 51, 66, 87 f., 91, 95, 100, 106, 110, 112, 114–117, 119, 124, 135, 157, 159, 162 f., 213, 218n, 225, 229, 232, 235, 270, 276, 281, 287–292, 296, 299–301, 303–305, 309–314 menschliche Erfahrung 15, 21 f., 23– 28, 30 f., 37, 51 f., 54–56, 58, 61, 68, 70 f., 75, 77n, 9678, 88–95, 104 f., 124 f., 129 f., 134, 141, 144, 146, 150 f., 153 f., 156, 160, 164–166, 176, 179–181, 184, 189, 193 f., 198, 212, 215, 217, 218n, 219, 222–224, 226– 233, 235, 238, 240, 246, 250, 255, 260, 265 f., 269 f., 272 f., 275–277, 279, 281, 287–292, 296–301, 304– 306, 309, 314 f. mentaler Pol (vgl. physischer Pol) 53, 81–83, 103, 113, 133, 140, 170, 172 f., 177, 200, 232n, 268n, 293, 295 mesoskopische Ebene (Organismus) 51, 53, 60, 91, 178–181, 287 Methode 38 f., 41 f., 43 f., 47, 49, 75, 107–110, 116, 160, 175, 206, 223, 254, 308 mikroskopische Ebene (Organismus) 50–52, 60, 65, 91, 287 Monismus (vgl. Dualismus) 49n, 63 Natur 55, 64n, 68, 73, 80, 88n, 90n, 96, 106, 126, 232, 276, 288, 293, 310, 312 f. Naturphilosophie 185n, 231 f. negativ erfasste Information 86, 114, 183 negatives bewusstes Empfinden 251 f., 259, 268n, 280 Neologismus 31, 79n, 81n, 93 Neues 79, 108, 111, 119, 133, 167n,
328 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister 168 f., 171 f., 174 f., 185, 192, 196, 224, 242, 251, 262, 293 Neurowissenschaften 18, 227, 229, 242n, 274n, 300n Nexus 29, 53, 95, 133, 144 f., 149, 170, 176, 178 f., 181, 183, 185, 188, 190 f., 197, 201, 239–241, 247, 273, 278, 284, 292 f., 312 Nicht-Ich 180, 211n Objekt 29, 59, 64 f., 68 f., 80, 83, 89, 92, 138, 149, 167n, 170, 180, 190n, 191, 206, 210–212, 228n, 242, 275, 291, 296, 299, 301, 305 objektives Datum 65, 70, 81, 83, 86 f., 130, 137n, 139, 144–146, 149, 168, 170, 173, 178–180, 210, 211n, 240 f., 244 f., 254, 257 Objektivierung 59 f., 182 odysseische Vernunft (vgl. praktische Vernunft) 28, 99–101, 106 f., 113 Organismus 19, 23 f., 48 f., 51–54, 60, 64n, 73, 90 f., 101, 112, 134, 152, 157, 159, 174, 179, 183 f., 233, 236, 276–278, 287 f., 290–292, 295, 301 Organismusparadigma (vgl. Mechanismusparadigma) 19, 24, 27, 31, 49–52, 65 f., 91 f., 95 Paradigma 27, 48 f., 90 f., 122, 126 f., 134, 165, 230, 271, 287 f. Person 16 f., 20, 23, 31, 152, 176 f., 178n, 267–269, 284, 291–295, 297 f., 300 f., 309 personale Identität 167, 177, 267 f., 273, 284, 288, 295 personale Ordnung 170n, 176, 279n, 293, 296 Perspektive 27, 29, 35, 59, 65, 70, 82– 84, 92 f., 106, 133, 140, 147 f., 156, 168, 170, 179, 206, 210, 220n, 249, 257, 261, 284, 291 f., 295, 299 f., 312 Phantasie 34, 47, 110 f., 150, 209, 225, 232, 254 phantasievolle Verallgemeinerung 46n, 47, 204
Physik 18, 51, 55, 63, 91 f., 138, 162n, 196n, 206 physischer Pol (vgl. mentaler Pol) 81, 103 physisches Wiedererkennen 195–197, 223, 235, 239, 241 physische Zwecksetzung (vgl. Zwecksetzung) 104 f., 245 platonische Vernunft (vgl. spekulative Vernunft, theoretische Vernunft) 28, 99–102, 105 f., 109, 112 f. Poesie 67, 71, 73, 77, 122, 214, 315 Potentialität (vgl. Formbestimmtheit, Idee, zeitloser Gegenstand) 147– 149, 189 f., 298 Prädikat 186, 190 f., 192, 194, 196, 198, 200, 203, 210, 212, 217, 219, 220n, 223, 235, 239, 241 f., 244, 250, 252, 254, 298 Pragmatismus 63 f., 75, 89, 97, 120, 150, 229, 248n praktische Vernunft (vgl. odysseische Vernunft) 99–101, 105–109, 111– 113, 115–119, 158, 160, 209, 219 f., 262, 278, 304, 314 präsentative Unmittelbarkeit, vergegenwärtigende Unmittelbarkeit 28, 142–151, 153, 156, 158, 195, 224, 239–241, 266, 270, 273, 275, 277, 281, 301n, 307 primäres physisches Empfinden (vgl. begriffliches Empfinden) 29, 81, 83– 87, 114, 132 f., 156, 166, 168 f., 171, 173–175, 177, 179, 189, 191, 193, 195–197, 199, 209, 211, 212n, 215 f., 220n, 223–226, 234, 240 f., 258n Projektion 146 f., 153, 190–192, 210 f., 218, 224, 284, 306 Prolegomenon to a Theory of Judgment 187n, 199, 208, 238, 247 Proposition (vgl. Theorie) 29 f., 104, 185–192, 194 f., 200–202, 204–209, 211, 212n, 213–215, 217, 220–226, 236n, 238, 241n, 244 f., 247–252, 254, 259, 263, 265 f., 269, 273, 276, 285, 300, 305–307, 313
329 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister propositionales Empfinden 29 f., 185n, 188–195, 197–200, 202 f., 205, 207– 209–212, 214, 216, 218 f., 224–227, 234 f., 237–239, 241 f., 244 f., 247, 250, 264, 269, 272 f., 276, 279, 285, 305, 307 f. Prozess 16, 54, 57 f., 60, 65, 70, 80 f., 102, 104, 137, 141n, 146, 173, 184, 220n, 297 Psychoanalyse 120, 161 f., 213, 228, 256n, 271 Psychodynamik 20, 23, 25, 218n, 228, 272, 277, 281, 304 Psychologie 20–23, 162, 202n, 213, 227–230, 271 f., 281 Reflexhandeln 158, 160 Reflexion 28, 39, 94, 232, 246, 267, 279, 285 Reichweite 279n, 280, 282, 285, 308 Religion 165, 203n, 216 richtig/falsch 152, 186, 204, 206, 209, 221n, 247–250, 252, 269 Sammlung (Erfahrung) 15, 40 f., 45, 47, 54, 60, 66, 88, 90, 94, 117 f., 225, 264, 290, 313 Schönheit 71, 75, 76n, 78, 112 schwebendes Urteil (vgl. aufgeschobenes Urteil) 248, 252 Selbst 20, 23, 181n, 210n, 211n, 267, 268n, 284–286, 309, 313 Selbstbewusstsein 20, 94, 170, 181, 267 f., 269, 285 Selbstwerdungsprozess 59, 70, 80, 86, 129, 142, 147, 149, 155 f., 174, 178, 210, 220n, 272 Simplifizierung, Vereinfachung 45, 182–184, 209, 225, 257 f., 278 Sinneswahrnehmung 28, 30, 136, 138, 142–144, 147 f., 150, 151n, 152 f., 157 f., 161, 164, 177, 180, 188n, 192n, 195 f., 207, 222 f., 225, 227, 231 f., 234, 239 f., 243, 258, 275, 281, 307 Solidarität 50, 211, 303
Solipsism of the Present Moment 141, 154 spekulative Vernunft (vgl. platonische Vernunft, theoretische Vernunft) 28, 108–115, 117–120, 254, 262, 282 f., 285 Sprache 28, 34 f., 39, 47n, 121 f., 126 f., 131, 134 f., 165, 187n, 192, 201, 217, 222 f., 315 Subjekt 29–31, 54, 59, 61, 64–70, 73 f., 76, 78–84, 86, 89 f., 92, 95, 102, 122, 130 f., 134, 138, 140, 143, 146, 151, 153, 160, 163 f., 167n, 174, 177, 179– 181, 183 f., 191–193, 196, 199, 201 f., 209–211, 219–221, 226, 228n, 234, 236, 238, 243, 249, 256, 258, 261 f., 265, 269, 274, 285 f., 288 f., 291, 295 f., 298–300, 304 f., 309 subjektive Form 172, 200–203, 207, 234, 236 f., 239, 243, 247, 249n, 250, 252, 261, 269, 275, 279, 299 subjektives Ziel 70, 83–86, 100, 128, 130, 141n, 145 f., 159, 171, 177, 188n, 219 f., 220n, 221, 282 Subjekt-Objekt-Struktur 68, 211, 273, 298 Subjekt-Prädikat-Schema 217, 298 Substanz 16, 19, 23, 80, 93, 95n, 176n, 183, 211, 217n, 230, 284, 297, 299 Superjekt 60, 80 Symbol, Symbolisierung 25, 27 f., 75 f., 78, 83n, 99 f., 105, 113, 120– 136, 152, 158 f., 161–166, 185, 186n, 188n, 192, 195, 198, 202, 211, 214, 216, 222 f., 225 f., 243, 273, 300, 304 f., 313 symbolische Logik 76, 125 f., 315 symbolischer Bezug, symbolische Referenz 28 f., 83n, 122, 127, 129, 131 f., 134–136, 150 f., 153 f., 156– 165, 177, 180, 223 f., 233, 241, 266 f., 272 f., 276, 304, 306–308, 313, 315 symbolisch konditioniertes Handeln 159 f. Symbolkodex 17, 28, 192, 222
330 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister Synthese 59, 65–67, 70, 79 f., 86, 151, 155, 168, 173, 215 täuschende Wahrnehmung 150, 241 theoretische Vernunft (vgl. platonische Vernunft, spekulative Vernunft) 28, 30, 99–102, 105–108, 111, 115–117, 262, 304, 314 Theorie (vgl. Proposition) 187–189, 191, 204, 220n, 225, 305 Theorie der Ausdehnung 143, 195, 224 Trivialität (vgl. Enge, Vagheit, Weite) 139, 278n trügerische Gegenwart 154–156 Trugschluss der unzutreffenden Konkretheit 44, 63, 126n, 259, 274n, 284, 295, 310, 312 Übergang 60, 87, 165 Übertragung 168, 171, 178 f., 184, 194, 196 Umwandlung 29, 145, 167 f., 171, 178– 184, 191, 194, 196 f., 209 f., 215, 224 f., 239, 242 f., 269, 273, 282, 305 Umwelt 23, 30, 100, 106, 158, 160, 242, 262, 268 f., 273, 275, 286, 295 f., 300, 302, 305 unbewusst 28, 35, 72n, 161, 169n, 199, 201, 212 f., 215, 218n, 219, 228, 234 f., 256 f., 260n, 271 f., 275–278, 280, 304, 308 Universum 28, 30, 34, 50–52, 56, 59 f., 65 f., 73, 81, 84–87, 89, 91, 98, 101– 103, 108, 111, 116, 134, 152, 156, 160, 164, 168, 171 f., 175, 178, 188, 211, 219, 232, 252, 287, 289n, 299, 301–303 Unmittelbarkeit 162n, 182, 209, 216 f., 221, 225, 234, 238, 241, 246 f., 249, 255n, 263, 267n, 268, 280–282 unreines Einzelwesen 177, 189 f. Unterbewusstsein 218, 271 Urnatur Gottes (vgl. Folgenatur Gottes) 84, 114, 174, 219, 220n, 258n
Urteil 30, 44, 46, 108, 110, 187n, 191, 199 f., 203 f., 205n, 208, 236, 244 f., 247–250, 252, 253n, 254, 257, 259, 262n, 265 f., 269, 285, 306–308 Vagheit (vgl. Enge, Trivialität, Weite) 34 f., 37n, 54, 138–140, 144, 149, 158, 162, 179, 184, 209, 219, 226, 232, 256, 258, 269, 273, 275–278, 295, 304, 307 f., 311 f. Vektor 56, 87, 141 Vergangenheit 145, 154–156, 173, 256, 279n, 280, 284, 295, 299 Vernunft 25, 27 f., 31, 97–104, 106– 108, 110, 114–119, 120n, 134, 159 f., 163–166, 169, 172, 175, 198, 203n, 214–216, 220–224, 233, 253n, 262, 268n, 269n, 278, 282 f., 293 f., 296, 300, 304, 306 f., 311 vorbewusst 30, 212, 218n, 241n, 263, 271 f., 307 Vordergrund (vgl. Hintergrund) 260, 278, 281 vorstellendes Empfinden 194–198, 224, 244, 250 f., 254, 264, 269 Vorstellung 29 f., 127, 129, 195, 197, 198n, 207, 213, 220n, 223–226, 243 f., 254, 258, 266 f., 269, 278 f., 281, 305, 307 Vorwelt 59 f., 65, 69 f., 80–84, 86, 89, 113, 130, 132, 137, 141, 143, 145, 147, 149, 151, 153, 156, 164, 168– 171, 173–175, 177, 179, 181, 183, 189–191, 195, 197, 209–211, 216, 220n, 225, 234, 239, 268, 275, 280, 284 Wahrheit 34, 40 f., 111 f., 132, 135, 191, 197 f., 208 f., 214–216 f., 220n, 225, 244 f. 247 f., 249n, 254, 264, 311 wahrnehmendes Empfinden 194–198, 223, 227, 239, 242, 250, 269 Wahrnehmung 17 f., 25 f., 28–31, 74, 88, 94, 121 f., 136–139, 141–146, 148–150, 152, 154, 162 f., 173, 194 f.,
331 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .
Sachregister 213, 217, 219, 223–226, 227n, 228n, 231, 233 f., 240 f., 243, 245, 251, 252 f., 258, 264–267, 268n, 269 f., 273, 278 f., 281, 292, 301, 304–309, 313 Wahrnehmungsmodus 135–137, 142, 145, 151, 156, 169 Wahrscheinlichkeit 203 f., 205, 206, 216, 253 Weite (vgl. Enge, Trivialität, Vagheit) 139, 278n Wert, Werthaftigkeit 27, 65, 67–70, 73, 77, 80–82, 84, 86, 92, 124, 171, 200, 225 f., 290n Wertung 70, 77, 85, 103, 129, 133, 200, 206, 236, 304, 311 wirkliches Einzelwesen 15, 27, 30, 50, 78–88, 91 f., 95, 100, 103–105, 113 f., 121, 128–131, 136 f., 139–142, 144 f., 147–149, 152 f., 155, 159 f., 166, 168 f., 171, 173–180, 183 f., 188–191, 194 f., 201, 205, 207, 210 f., 214–216, 220n, 221, 232, 234 f., 240 f., 250, 253, 261, 264n, 270, 272–273, 275,
278, 282, 284, 287 f., 289n, 292, 295– 300, 305, 309, 313–315 Wissen 34, 197 f., 204, 206–208, 252, 259, 261 Wissenschaftstheorie 112, 118, 185n, 206, 225, 253, 265 zeitloser Gegenstand (vgl. Formbestimmtheit, Idee, Potentialität) 82–85, 113, 122, 130, 138, 172, 178 f., 188, 190 f., 203, 207, 211, 224, 254, 258n, 298 f. Zivilisation 17, 24, 67, 102, 109–112, 116, 119, 120n, 124 f., 134, 163 f., 282 f., 304 zivilisatorisches Ideal 17, 112, 120, 125, 217, 218n, 288 Zukunft 103, 108, 145, 147, 155, 213, 263, 275, 284 f., 295, 298 f. Zwecksetzung (vgl. physische Zwecksetzung) 102, 105, 107, 109, 118, 200, 236, 242, 275 Zweifel 202 f., 207, 249, 275
332 https://doi.org/10.5771/9783495808399 .