Spaltung – Ambivalenz – Integration [1 ed.] 9783666406805, 9783525406809


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German Pages [256] Year 2019

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Spaltung – Ambivalenz – Integration [1 ed.]
 9783666406805, 9783525406809

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Pit Wahl (Hg.)

Spaltung Ambivalenz Integration

Beiträge zur Individualpsychologie

Band 45: Pit Wahl (Hg.) Spaltung – Ambivalenz – Integration

Pit Wahl (Hg.)

Spaltung – Ambivalenz – Integration

Mit 2 Abbildungen und 3 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus dem Bild: »Aufgehender Mond« von Marion Wübbold (1986), Privatbesitz Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 0722‐8902 ISBN 978-3-666-40680-5

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Andreas Kruse Die Individualpsychologie Alfred Adlers aus der Perspektive der biografisch orientierten Alternsforschung . . . . . . . . . . . . . . 14 Manfred Gehringer Figuren der Spaltung in Kunst und Psychotherapie . . . . . . . . . . 38 Patrick Meurs, Corinna Poholski, Constanze Rickmeyer und Judith Lebiger-Vogel Die Anziehungskraft des Extremen in Zeiten der Wandlung und Wanderung: Islamische Radika­lisierung aus einer psychoanalytischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Monika Huff-Müller Ambivalenzfähigkeit: Eine neue Herausforderung in Therapie und Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer Wer sind wir innerhalb der DGIP – und wenn ja, wie viele? . . . 112 Insa Fooken Spaltung, Integration oder: Die »Kraft der Unklarheit« und »Sensibilität gegenüber dem Ambivalenten«? . . . . . . . . . . . . . . 133 Anna Zeller-Breitling Zwischen zwei Identitäten – auf der Suche nach Integration . . 153

6Inhalt

Reiner Winterboer »Ich schiebe Sie mal an« – zur Integration von agierten Gegenübertragungsimpulsen: Abstinent sein und doch handeln 179 Norbert Winkler Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität. Bedeutung der Interpersonellen Neurobiologie für die Psychoanalyse . . . . . . . 202 Regine Kroschel Menschen in der DGIP. Interview mit Gisela Eife . . . . . . . . . . . 214 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

Vorwort

Mit den Konzepten Spaltung, Ambivalenz und Integration wurden bei der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie 2018 in München psychische Verarbeitungs- bzw. Abwehrmechanismen diskutiert, die im klinisch-therapeutischen Diskurs eine zentrale Rolle spielen. Die genannten hypothetischen Konstrukte sind gleichermaßen geeignet zur Beschreibung innerseelischer Phänomene wie auch zur Erfassung zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse. Dabei sind die (psycho)dynamischen Prozesse, um die es hier geht, in ihrer Wertigkeit weder stets eindeutig positiv noch negativ konnotiert. Auch bildet die im Titel der Tagung gewählte Reihenfolge der Begriffe nicht per se eine wertende Rangreihe im Sinne ihrer Bedeutsamkeit oder Valenz ab: Innerseelische Spaltungsprozesse können in bestimmten Entwicklungsphasen oder in besonders kritischen, trauma-affinen und belastenden Situationen für Menschen durchaus positiv und überlebensnotwendig sein, in anderen Kontexten aber Entwicklungsfortschritte behindern oder blockieren. Aber auch die anderen beiden Konzepte, Ambivalenz und Integration, entziehen sich bei genauer Betrachtung einer vorschnell einseitigen Bewertung. Dabei gilt insbesondere Ambivalenz als vielschichtig. So wird alltagspsychologisch eine ambivalente seelische Befindlichkeit oft durchaus kritisch betrachtet – z. B. als Ausdruck von Unentschlossenheit oder (unreifer) Willensschwäche –, wohingegen innerhalb soziologischer, tiefenpsychologischer und analytischer Theorien Ambivalenz eher als Ausdruck der Fähigkeit zur Wahrnehmung und Akzeptanz von Uneindeutigkeit bewertet wird, d. h. als Zeichen psychischer Gesundheit und seelischer Reife. So kann man davon ausgehen, dass Ambivalenztoleranz wie auch generell die Fähigkeit zum Ertragen und zur Integration von in sich widersprüchlichen oder gegenläufigen Gedan-

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ken, Gefühlen und Impulsen ein guter Maßstab für die Beurteilung von Therapieerfolg sind. Die im vorliegenden Tagungsband zusammengetragenen Beiträge beschreiben die drei psychischen Mechanismen der Spaltung, Ambivalenz und Integration als relevante Formen psychischer Verarbeitungsprozesse und Abwehrmechanismen, die in der klinisch-therapeutischen und psychosozialen Arbeit geeignet sind, Menschen und ihre Selbstwerdungs- wie auch Gesundungsprozesse zu erkennen, zu verstehen und zu fördern. Die Zugänge zum Thermenschwerpunkt erfolgen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven: Andreas Kruse geht von den Prämissen einer biografisch orientierten Alternsforschung aus und würdigt dabei den Beitrag der Adler’schen Individualpsychologie vor allem auch für die Lebensphase des hohen Alters. Er begründet, dass und warum Adlers Theorieentwürfe auch heute noch zu einem vertieften Verständnis seelischer Konflikte beitragen und Antworten geben auf aktuelle Fragen, die sich im Zusammenhang mit den gesellschaftlich veränderten Bedingungen und Herausforderungen im menschlichen Lebens- und Alternsvollzug stellen. Er interpretiert und konkretisiert verschiedene von Adler entwickelte und verwendete Denkfiguren und Begriffe – wie etwa den des Gemeinschaftsgefühls –, indem er sie unter dem Aspekt der Selbstgestaltung, Weltgestaltung, Wertverwirklichung und Sinnerfahrung untersucht. Manfred Gehringer nähert sich dem Tagungsthema aus einer kulturpsychologischen Perspektive. Am Beispiel der innerseelischen und zwischenmenschlichen Konflikte, wie sie in dem Film »Der Geschmack von Rost und Knochen« von Jaques Audiard aus dem Jahre 2012 dargestellt sind, untersucht er Spaltungsprozesse und deren Überwindung und interpretiert sie aus individual- und objektbeziehungstheoretischer Sicht. Er skizziert die Psychodynamiken der beiden Hauptpersonen des Films, beschreibt deren Verarbeitungs- und Abwehrformen – etwa die der Abspaltung von körperlich-sexuellem Erleben bei emotionaler Unverbundenheit – und legt dar, wie sich bei den beiden Protagonisten allmählich eine Fähigkeit zur Ambivalenztoleranz entwickelt. Im Zuge der Differenzierung ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmungen entdecken Ali und Stephanie nach und nach Gefühle liebevoller Verbundenheit und kommen über die Akzeptanz der eigenen Schwächen zu einer ganzheitlicheren, reiferen Beziehung und Bindung.

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Patrick Meurs und die Mitarbeiterinnen seiner Forschungsgruppen, Corinna Poholski, Constanze Rickmeyer und Judith Lebinger-Vogel, geben zunächst einen ausführlichen Überblick über die Entstehungsgeschichte der im Tagungstitel genannten Begriffe und berücksichtigen dabei besonders deren Verwendung im Rahmen der Theorieentwürfe von Sigmund Freud und Melanie Klein. Im Rahmen ihrer aktuellen Forschungsprojekte, die sich schwerpunktmäßig mit der Radikalisierung islamischer Jugendlicher und junger Erwachsener beschäftigen, explizieren sie, dass und inwieweit Prozesse der Spaltung, Ambivalenz und Integration Beschreibungs- und Erklärungskategorien darstellen, die dabei helfen, die geschilderten Phänomene zu verstehen und angemessen zu erklären. In einer erweiterten Sicht reflektieren sie die Schattenseiten jeder Religion und die psychische Disposition von Menschen und Gemeinschaften, die sich als weltgeschichtlich Herabgestufte, als Verlierer und Abgehängte im wissenschaftlich-technischen Fortschritt fühlen. Auch Monika Huff-Müller stellt in ihrem Beitrag zunächst den Stand der theoretischen Diskussion bezüglich der Begriffe Spaltung und Ambivalenz dar und begründet, dass und in welchem Maße die Entwicklung von (mehr) Ambivalenztoleranz als Maßstab einer gelingenden Psychotherapie gelten kann. Dabei ist die Fähigkeit, widersprüchliche Wahrnehmungen, Wünsche, Gefühle und Handlungsimpulse auszuhalten, für sie nicht nur ein erstrebenswertes primäres Therapieziel für Patienten, sondern auch eine Anforderung an sich selbst als Psycho­ therapeutin: Sie begreift sie als eine Eigenart, über die sie verfügen muss, um selbst arbeitsfähig zu sein und zu bleiben. Differenziert, einfühlsam und vielschichtig beschreibt sie die therapeutische Arbeit mit einem 45-jährigen türkischen Patienten, die darauf ausgerichtet war, dass die in sich oft widersprüchlichen Wahrnehmungen, Impulse und Motive im innerpsychischen Raum des Patienten nicht länger abgespalten, projiziert oder verleugnet werden mussten. Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer beziehen die Leitbegriffe der Tagung weniger auf innerpsychische Abläufe als auf Entwicklungsbewegungen und -prozesse von Gruppen. Im Rahmen dieses Betrachtungsansatzes beschreiben und interpretieren sie die Entwicklungsgeschichte der Individualpsychologie in Deutschland bzw. der DGIP und ihren Bezug zur Psychoanalyse von Anfang der

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1960er Jahre bis heute. Die Autorinnen beleuchten die Hintergründe der historisch gewachsenen Spaltungen und Getrenntheiten der verschiedenen analytischen Schulen und Strömungen und schildern die (Wieder-)Annäherungsprozesse, die in hohem Maße durch das Aushalten widersprüchlicher Einschätzungen, Haltungen und Gefühle gekennzeichnet waren und wohl auch heute noch sind. Darüber hinaus untersuchen sie auch Konkurrenzen, Widersprüche und Konflikte innerhalb der DGIP. Sie skizzieren das Verhältnis von Individualpsychologinnen bzw. -psychologen, die in verschiedenen Bereichen, z. B. beraterisch oder psychotherapeutisch, tätig sind und diskutieren die unterschiedlichen Bewertungen, die mit der Ein- und Wertschätzung verschiedener Tätigkeitsfelder – z. B. der psychotherapeutischen Arbeit mit Kinderund Jugendlichen oder Erwachsenen – zu tun haben. Insa Fooken setzt sich in ihrem Beitrag mit dem Ambivalenzkonzept auseinander, so wie es im vom Schweizer Soziologen Kurt Lüscher gegründeten »Interdisziplinären Arbeitskreis Ambivalenz (IAA)« diskutiert wird. Dabei rekapituliert sie die Lüscher’schen Theorieentwürfe und deren Entwicklung und begründet, warum das von ihm differenziert ausgearbeitete Ambivalenzkonzept als »sensibilisierendes Konstrukt« gewinnbringend auf viele Lebensbereiche angewandt werden kann und sich eignet, in Forschung und Behandlung neue Erklärungsansätze und Perspektiven zu eröffnen. In diesem Zusammenhang werden Ergebnisse aus eigenen Forschungs- und Erfahrungsbereichen vorgestellt. Zum einen geht es dabei um schriftlich festgehaltene, subjektive Erfahrungen von »kriegsbedingt vaterlos aufgewachsenen Töchtern«, bei denen oft hochgradig ambivalente Konflikterfahrungen in der Auseinandersetzung mit dem frühen Vaterverlust und dessen lebenslangen Folgen eine wichtige Rolle spielen. Zum anderen geht es um Einblicke in einen Beratungsfall, der sich im Rahmen einer E-Mail-Korrespondenz über einen Zeitraum von etwa viereinhalb Jahren entwickelte. Die hoch ambivalenten Suchbewegungen einer seit mehr als fünfzig Jahren verheirateten Frau, die sich seit vierzig Jahren mit Trennungsabsichten auseinandersetzt, veranschaulichen, wie zunehmend differenzierter werdende Ambivalenzgefühle einen Zugang zur inneren Widersprüchlichkeit und den Umgang mit ungelösten Konflikten bahnen. Anna Zeller-Breitling konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die ausführliche und detaillierte Darstellung des Verlaufs der psychotherapeuti-

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schen Zusammenarbeit mit einer jungen Frau, die auf dem Hintergrund von Migrationserfahrungen und persönlichen, biografischen und interkulturellen Brüchen ihre traumatischen Erfahrungen durch die Erschaffung einer »phantastischen« bzw. »erfundenen« Identität (im Sinne der Kreation einer zu ihrer inneren Befindlichkeit passenden Lebens- und Namensgeschichte) zu bewältigen sucht. Diese schwierige Behandlung wäre sicher nicht möglich gewesen, wenn sich die Therapeutin in der Arbeit mit ihrer jungen, an der Schwelle zum Erwachsensein stehenden Patientin nicht konsequent auf deren jeweils aktuelle Konflikte, Motive und Gefühle weitgehend vorurteilsfrei hätte einlassen können. Der Therapie- und Entwicklungsverlauf macht deutlich, dass keineswegs nur moralische und rechtliche Fragen in Zeiten verstärkter Migrations­ bewegungen bedeutsam sind, sondern auch zwischenmenschliche und innerpsychisch-persönliche Konfliktlagen, ohne die eine entsprechende Problematik nicht umfassend verstanden und gelöst werden kann. Die Überschrift »Ich schiebe Sie mal an«, die Reiner Winterboer für seinen Beitrag zur Tagung wählt, kann und muss gleichermaßen wörtlich und metaphorisch verstanden werden. Der Autor schildert eine Szene, die sich im Verlauf einer siebenjährigen, modifizierten analytischen Psychotherapie außerhalb des Behandlungszimmers ereignete: Als er zufällig sah, dass sich seine Patientin mit ihrem Auto im Schnee festgefahren hatte, bot er ihr spontan an, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien und schob sie aus der Parkbucht, sodass sie weiterfahren konnte. Er diskutiert am Beispiel dieses »Handlungsdialogs« den Sinn und die Problematik von Enactments und reflektiert unterschiedliche Sichtweisen von hiermit in Zusammenhang stehenden therapeutischen Grundsätzen und -regeln: Neutralität, Abstinenz, therapeutische Ich-Spaltung, Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse. Der Autor macht deutlich, dass es weder sinnvoll noch möglich ist, zu beurteilen, ob die geschilderte »Intervention« richtig oder falsch ist, sondern dass es vielmehr von Bedeutung ist, wie sich ein solches Geschehen auf das therapeutische Arbeitsbündnis auswirkt und ob Patientin und Therapeut im Laufe ihrer Zusammenarbeit einen (Phantasie-)Raum erschaffen können, in dem durch gemeinsame Reflexion und verbalen Austausch Entwicklungspotenziale erkannt und gefördert werden. Norbert Winkler konkretisiert und interpretiert das Tagungsthema, indem er die Theorien und Forschungsergebnisse der »Interpersonel-

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len Neurobiologie« in Beziehung setzt zu psychoanalytischen Denkfiguren und zu seinem eigenen therapeutischen Handeln. Er legt dar, wie das integrative Vorgehen dieser relativ neuen Forschungsrichtung psychoanalytische Erklärungs- und Handlungsstrategien – auch seine eigenen – verändert und bereichert haben. Beispielhaft stellt er den Verlauf einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie mit einem zu Beginn der Behandlung 17-jährigen Jugendlichen dar, den er etwa zwei Jahre begleitete. Der Patient, zu früh per Notkaiserschnitt geboren, entwickelte auf dem Hintergrund dieser sehr frühen Mangelerfahrung zahlreiche Symptome von Krankheitswert, u. a. Depressionen, Phobien und Panikattacken. Im Verlauf der therapeutischen Arbeit lernte der junge Mann, seine lebensgeschichtlichen Gegebenheiten zu akzeptieren und durch angemessene Selbstfürsorge zu kompensieren – sowohl durch Einsicht als auch im Zuge eines emotionalen Erlebnisprozesses. Im Kern ging es bei dieser Behandlung darum, aus Unterversorgung und Not abgespaltene Anteile zu erkennen, anzunehmen und nach und nach zu integrieren. So konnte die zunächst unerklärliche Angst des jungen Mannes vor Spiegeln und sein Gefühl, dass ihn hinter diesen Spiegeln jemand beobachten könnte, als eine Art Erinnerung an seine frühe Lebenswelt (als Säugling im Brutkasten) entschlüsselt werden. Der Autor betont auf dem Hintergrund dieser Kasuistik, dass das Grundprinzip der Psychoanalyse, das Unbewusste bewusst zu machen, zu ergänzen ist durch den Versuch, Nicht-Integriertes durch Differenzierung und Zusammenführung zu integrieren. Das Gespräch, das Regine Kroschel mit Gisela Eife geführt hat, lässt sich ebenfalls in die Thematik der Jahrestagung einfügen. Im Rahmen des inzwischen fest etablierten Formats Menschen in der DGIP zeichnen die beiden Ärztinnen den persönlichen Entwicklungsweg von Gisela Eife nach, benennen Personen und Gruppen und Konzepte, die bei Eifes Hinwendung zur Individualpsychologie und ihrem Werdegang innerhalb des »Alfred Adler Instituts München«, dem »Tölzer Studienkreis« und auch während der viele Jahre in Bernried durchgeführten »Werkstatt für Individualpsychologie« von Bedeutung waren. Besondere Aufmerksamkeit wird im Gespräch den inhaltlichen Beiträgen gewidmet, die Gisela Eife in den vergangenen Jahren in

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die individualpsychologische Theoriediskussionen eingebracht hat: Hier ist zunächst die Herausgabe des dritten Bandes der Alfred Adler Studienausgabe zu nennen – besonders ihr Vorwort zu den Schriften, die Adler im Zeitraum von 1913 bis 1937 verfasst hat – und ihr 2016 erschienenes Lehrbuch »Analytische Individualpsychologie in der therapeutischen Praxis: Das Konzept Alfred Adlers aus existentieller Perspektive« sowie – last, not least – ihr Engagement für die Wiederentdeckung und Beachtung des von Adler verwendeten Begriffs der »doppelten Dynamik«. Auch in diesem Jahr wünsche ich denen, die an der Münchner Jahrestagung der DGIP 2018 teilgenommen haben, mit dieser Zusammenstellung eine gute »Nachlese« und allen, die sich vom Thema dieser Publikation angesprochen und herausgefordert fühlen, vielfältige Anregungen und Impulse für die eigene pädagogische, psychotherapeutische und psychoanalytische Arbeit. Pit Wahl

Andreas Kruse

Die Individualpsychologie Alfred Adlers aus der Perspektive der biografisch orientierten Alternsforschung

Zusammenfassung Der Beitrag zeigt auf, in welcher Hinsicht das theoretische Werk von Alfred Adler die biografisch orientierte Alternsforschung zu befruchten vermag. Die psychologische Analyse des Alterns (in seinen biografischen Bezügen) erfolgt aus drei Perspektiven: Selbstgestaltung, Weltgestaltung, thematische Strukturierung und Sinnerfahrung. Größtes Gewicht – dies vor allem im Kontext der thematischen Strukturierung und Sinnerfahrung – kommt dem »Sorgeaspekt« im hohen Alter bei: Alte Menschen begreifen sich selbst nicht allein als »Umsorgte«, sondern sie möchten nachfolgenden, vor allem jungen Generationen auch Sorge zuteilwerden lassen. Mit diesem für das psychologische, gesellschaftliche und kulturelle Verständnis von Altern wichtigen Befund wird erneut eine Beziehung zum Werk Alfred Adlers hergestellt: Hier ist das Individuum in seinen mitverantwortlichen Bezügen zur Gesellschaft angesprochen, hier wird die in den Dienst der Gemeinschaft gestellte Lebensführung besonders deutlich erkennbar. Der Beitrag wird eingeleitet mit einer Explikation der biografischen Pers­ pektive in ihrer Bedeutung für das Verständnis von Altern, wobei diese Pers­ pektive um eine gesellschaftlich-historische und politisch-historische erweitert wird. Zudem wird der Frage nachgegangen, warum das theoretisch (und praktisch) bedeutsame Werk Alfred Adlers vielfach nicht mehr jene Würdigung erfährt, die ihm eigentlich gebührt. Die in diesem Beitrag gegebene Antwort lautet: Die von Alfred Adler vorgenommene Entwicklung sehr unterschiedlicher Analyseperspektiven – die ihn in gewisser Hinsicht als einen »Grenzgänger« ausweist – könnte dazu beigetragen haben, dass dessen disziplinäre Verortung immer schwerer fällt und damit dessen Werk mehr und mehr aus dem vorherrschenden disziplinären Blick gerät.

Das Individuum als Glied einer Generation (Kohortenperspektive) Die lebenslaufbezogene Analyse der Persönlichkeit wird nachfolgend aus der Perspektive der Alternsforschung vorgenommen. Für die Alternsforschung ist immer auch die Beschreibung und Deutung des

Die Individualpsychologie Alfred Adlers15

biografischen Kontextes, in dem sich die seelisch-geistige Entwicklung vollzogen hat, konstitutiv, wobei die individuelle Biografie zugleich in einen umfassenderen gesellschaftlich- und politisch-historischen Kontext gestellt wird: Das Individuum ist Mitglied einer Kohorte oder Generation, die in ihrer Entwicklung spezifischen gesellschaftlich- und politisch-historischen Ereignissen und Prozessen ausgesetzt war. Auch wenn diese Ereignisse und Prozesse von den Mitgliedern einer Kohorte bzw. einer Generation unterschiedlich wahrgenommen, gedeutet und verarbeitet werden, so bilden sie doch den Hintergrund jeder individuellen Entwicklung (Riley, Foner u. Warner, 1988). Wenn von Kohorten- oder Generationenspezifität gesprochen wird, so denke man zunächst an den gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontext, in die die Biografie Alfred Adlers (1870–1937) eingebettet war: Die Zeit von 1871 bis 1914 wird in der Geschichts­ forschung als eine Periode beschrieben, in der in Deutschland wie auch in Österreich die Gesamtwirtschaftsleistung und die Wohlstands­ entwicklung erkennbar wuchsen, zugleich aber Prozesse sozialer Differenzierung stattfanden – in der Hinsicht nämlich, dass einer in kontinuierlicher Beschäftigung stehenden Facharbeiterschaft (mit einem dem Kleinbürgertum vergleichbaren Lebensstandard) eine große Zahl von angelernten und ungelernten Arbeitern gegenüberstand, die in Armut oder im Prekariat lebten. In den Familien Letzterer konnte das Einkommen vielfach nicht vom Familienoberhaupt allein erwirtschaftet werden; Frauen, bisweilen auch Kinder, waren gezwungen, hinzuzuverdienen. So wundert es nicht, dass Demonstrationen von Arbeitern wegen ihrer wirtschaftlichen Notlage stattfanden, so z. B. in Wien am 24. April 1900. Parallel zum wachsenden Fortschrittsoptimismus und zur zunehmenden Technikbegeisterung entwickelte sich in dieser Periode ein Kulturpessimismus, der sich von der Überzeugung leiten ließ, dass sich Dekadenz, Niedergang und Zerstörung immer mehr Bahn brächen und in der Gesellschaft nur noch das »Prinzip des Stärkeren« Gültigkeit beanspruchen könne. Wien war damals die inoffizielle Kulturhauptstadt Europas, in der sich die Avantgarde der Literatur, der Malerei und der Musik bewegte und in der sich zugleich ganz neue Denkströmungen ausbildeten, die von aufklärerischen, fortschrittlichen, gegen den immer weiter um sich

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Andreas Kruse

greifenden Nationalismus gerichteten Tendenzen bestimmt waren – zu diesen Denkströmungen gehörte die Psychoanalyse. Diese ließ sich in ihren verschiedenen Varianten durchaus als eine grundlegende Infragestellung von patriarchalen Herrschaftsstrukturen und Menschen­ bildern verstehen. Zugleich wurden die Sexualität wie auch das Machtstreben des Menschen mehr und mehr in den Mittelpunkt der Analyse gerückt – hier spielte die Individualpsychologie Alfred Adlers eine sehr wichtige Rolle. Wenn es um die Analyse potenzialer Kohorteneinflüsse auf die persönliche Entwicklung geht, sind u. a. folgende Fragen von Bedeutung: Welche Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten boten sich den jungen Menschen? Welche Erziehungs- und Bildungsprinzipien dominierten? Welche Bedeutung wurde der Autonomie und Teilhabe gesellschaftlich, kulturell und politisch beigemessen? Welche politischen Systeme haben die Menschen erlebt? Welche Art und Qualität gesundheitlicher Versorgung wurde ihnen zuteil? Welche Menschenbilder, welche Entwicklungsvorstellungen in Bezug auf die verschiedenen Lebensalter dominierten? Inwiefern boten sich in den verschiedenen Lebensaltern berufliche und außerberufliche Bildungsperspektiven? Inwiefern vollzog sich Entwicklung in einem Staat, in einer Gesellschaft mit »verlässlichen«, »Sicherheit vermittelnden« Institutionen? Welches allgemeine Wohlstandsniveau herrschte in der Gesellschaft zu den verschiedenen Entwicklungsabschnitten der Mitglieder einer Kohorte bzw. einer Generation vor? Und schließlich: Findet sich im Erleben dieser Mitglieder die Überzeugung, dass sie in ihrer Gesamtheit eine Generationen­einheit (Mannheim, 1928/1964) bilden, die in besonderer Weise auf die Gesellschaft einwirkt, diese beeinflusst? Ein naheliegendes Beispiel für eine derartige Generationeneinheit bildet die »68er-Generation«, die nicht nur aus objektiver, sondern auch aus subjektiver, d. h. erlebensbezogener Sicht ein hohes gesellschaftliches Gestaltungs- und Veränderungspotenzial besessen und dieses im gesellschaftlichen, im kulturellen wie auch im politischen Alltag umgesetzt hat. In der soziologischen Alternsforschung wird diskutiert, inwieweit die 68er-Generation die Orientierungs- und Handlungs­prinzipien der praktischen Interventionsgerontologie wie auch die Institutionen der Altenarbeit verändern werden: Kann davon ausgegangen werden, dass die Mitglieder dieser Generation Autonomie, Teilhabe und demo-

Die Individualpsychologie Alfred Adlers17

kratische Leitbilder deutlich stärker betonen und einfordern werden als die Mitglieder der Vorgängergenerationen?

Rahmenbedingungen persönlicher Entwicklung: Das »politische Moment« von Bildung Für Alfred Adler bildeten – was angesichts des spezifischen historischen Kontextes, in dem sich seine persönliche Entwicklung vollzog, vielleicht auch biografisch nachvollziehbar ist – die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Rahmenbedingungen von individueller Entwicklung eine zentrale Analyseebene (Adler, 1927). Zu bedenken ist hier, dass Bildung – und dies hieß für ihn immer auch: psychologische Bildung bzw. Bildung der Persönlichkeit – dem Ziele dienen sollte, für alle Menschen Entwicklungsbedingungen zu schaffen, die diese in die Lage versetzen sollten, sich zu einer reifen, kompetenten, mitfühlenden und mitverantwortlich handelnden Persönlichkeit zu entwickeln (Adler, 1931/2008). Von einem derartigen Bildungs- oder Erziehungsprogramm sollten in seinem Verständnis vor allem Kinder und Jugendliche profitieren, die aus sozial benachteiligten Milieus stammten. In der heutigen Terminologie könnte man diese Zielsetzung wie folgt umschreiben: Es geht darum, bestimmte Grade und Formen sozialer Ungleichheit zu vermeiden bzw. abzubauen. Es geht darum, alle Menschen dazu zu befähigen, ihre Vorstellungen von einem »guten Leben« möglichst weit umzusetzen, wobei das Individuum zunächst dazu motiviert und befähigt werden muss, sich der eigenen Vorstellungen von gelungener Entwicklung, der eigenen Entwicklungsziele (»Finalität«, »Telos«), der eigenen Lebenspläne (»Lebenslinie«) bewusst zu werden. Diese gesellschaftliche und politische »Rahmung« seiner Entwicklungstheorie wie auch seiner Interventionskonzepte waren die ersten Aspekte, die mich an den Schriften Alfred Adlers beeindruckt haben. Hinzu treten drei weitere Aspekte: Die Analyse der Person vor dem Hintergrund 1. ihrer Lebens- bzw. Selbstgestaltung; 2. ihrer (stärker vs. schwächer ausgeprägten) Überzeugung, mitverantwortlich für das Leben anderer Menschen, vor allem der e­ ngsten

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Andreas Kruse

Bezugspersonen, aber auch der Gesellschaft als Ganzes zu sein (Weltgestaltung); 3. ihrer (bewussten vs. nicht vollumfänglich bewussten) Lebensziele und Lebensthemen (»Lebenslinie«) sowie des in diesen Zielen und Themen sich widerspiegelnden Sinn- und Stimmigkeitserlebens (»Finalität«, »Telos«).

Einflüsse Alfred Adlers »vor dem Vergessen bewahren« Bevor ich mich diesen drei Aspekten zuwende, möchte ich einen kleinen Beitrag zur Erinnerungskultur leisten, der mir mit Blick auf das Werk von Alfred Adler bedeutsam erscheint. Alfred Adler hat Entwicklungsprinzipien formuliert und expliziert, die für eine psychologische Anthropologie wie auch für eine Entwicklungspsychologie der Lebensspanne von hohem Wert sind. Um einige Beispiele zu geben: Entwicklung wird von ihm immer auch im Sinne der Selbstgestaltung verstanden, wobei Alfred Adler grundsätzlich darauf hinweist, dass schon der Säugling und das Kleinkind Techniken der Beziehungs­gestaltung und – über diese – der Entwicklungsgestaltung besitzt. Entwicklung bedeutet für ihn aber nicht nur Selbstgestaltung, sondern auch – und dies ist für mich besonders wichtig – Weltgestaltung. Man kann geradezu von einer Entwicklungstheorie der Selbst- und Weltgestaltung sprechen, oder anders ausgedrückt: Nicht allein die Fähigkeit und Bereitschaft zu einem selbstverantwortlichen Leben, sondern auch jene zu einem mitverantwortlichen Leben tritt in das Zentrum der Persönlichkeitsund Entwicklungsanalyse Alfred Adlers. Die Nähe zu folgenden Konzepten ist unabweisbar: –– früheste Würdebegriffe – z. B. des Würdebegriffs eines Pico della Mirandola (1486/1990), in dem die Freiheit der Person mit ihrem Entwicklungsauftrag der Selbst- und Weltgestaltung verknüpft wird; –– politisch-philosophische Konzepte des »öffentlichen Raums« – z. B. des von Hannah Arendt (1959) entwickelten Modells des »Handelns« (der höchsten Form der »Vita activa«) als eines von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Mitverantwortung bestimmten Austausches zwischen Menschen im öffentlichen Raum;

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–– existenzpsychologische Arbeiten  – z. B. der von Viktor Frankl (2005a, 2005b) entfalteten Wert- und Sinnanalyse des Menschen; –– thematische Analysen der Persönlichkeit – z. B. der »Themen« von Henry Murray (1938/2008), der »Daseinsthemen« von Hans Thomae (1951/1966), der »Lebensstrukturen« von Daniel Levinson (1986), der »Generativitätsskripte« von Dan McAdams (2009). Die Frage, die sich mit Blick auf die Rezeption Alfred Adlers in der psychologischen Anthropologie wie auch auf die Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie stellt, kann deswegen nur lauten: Warum ist eine Entwicklungstheorie, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in psychologischen, pädagogischen und zum Teil auch in soziologischen Fachkreisen solch große Beachtung fand, heute weitgehend in Vergessenheit geraten? Warum wird schon seit Jahrzehnten die Adler’sche Psychologie in der Psychologie-, Pädagogik-, Psychotherapie- und Psychiatrieausbildung nicht mehr gelehrt, ja, meistens nicht einmal mehr erwähnt, wohingegen Arbeiten von Sigmund und Anna Freud, Carl Gustav Jung, Erik Homburger Erikson, Viktor Frankl – um nur einige Autoren zu nennen – heute (immer noch und zu Recht) eine große Rolle in der psychologischen Anthropologie wie auch in verschiedenen psychologischen und psychotherapeutischen Disziplinen spielen? Wenn nach Antworten gesucht wird, dann könnte vielleicht eine wie folgt lauten: Die Beiträge Adlers verbinden vielfach psychologische und gesellschaftliche oder psychologische und politische Themen; damit werden Analyseperspektiven zusammengeführt, die sich einer strengen disziplinären Zuordnung entziehen. Zudem sprengten sie damals (zum Teil auch heute) »gängige« Theorien (man denke nur an den Bruch zwischen Freud und Adler, an die vielfach abwertenden Aussagen von Freud gegenüber Adler; siehe vor allem Freud, 1914/1980). Schließlich erfordern Adlers Ansätze für die empirische Fundierung ein methodisches Programm (auch methodische Designs), das nur schwer umzusetzen ist. Und doch darf man nicht den Fehler begehen, das psychologisch, soziologisch, pädagogisch und politikwissenschaftlich wichtige Werk von Alfred Adler einfach zu übergehen. Es finden sich in diesem zahlreiche Aussagen, die uns auch heute helfen können, die individuelle Entwicklung eines Individuums besser zu verstehen. Hier sei nur eine

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Andreas Kruse

Bewertung des Werkes von Alfred Adler durch einen der größten Sozialpsychologen des letzten Jahrhunderts, Gordon W. Allport (1897–1967), angeführt, die dieser nach Erscheinen des von den Ansbachers edierten Schriften Adlers »Superiority and Social Interest: A Collection of Later Writings« (1964/1979) vorgenommen hat: »This compilation establishes Adler beyond doubt as one of the wisest psychologists of this century« (ebd.). Nachfolgend sei der Versuch unternommen, den Beitrag Alfred Adlers zum vertieften Verständnis der drei erwähnten Entwicklungsbereiche – Selbstgestaltung, Weltgestaltung, thematische Struktur mit ihren Bezügen zur Wertverwirklichung und Sinnerfahrung – aus der Perspektive der biografisch orientierten Alternsforschung zu skizzieren: Wenn hier von biografisch orientierter Alternsforschung gesprochen wird, so ist damit ein Analyseansatz gemeint, der das Erleben, das Verhalten und das Handeln alter Menschen auch auf Erlebnisse, Erfahrungen und Entwicklungsprozesse in der Biografie bezieht (z. B. Kruse, 2005a; Lehr, 1987).

Selbstgestaltung Die Entwicklungstheorie Alfred Adlers misst der Selbstgestaltung große Bedeutung bei. Dabei vollzieht sie sich immer unter dem Eindruck der sozialen Beziehungen, in denen das Individuum steht und die dieses als befruchtend erlebt. Die Selbstgestaltung spiegelt sich vor allem in der Entwicklung, der weiteren Differenzierung und (dem Versuch) der Verwirklichung von Lebenszielen wider. Von einer »funktionalen« oder »förderlichen« Entwicklungsgrundlage kann dann gesprochen werden, wenn das Individuum (in den ersten Entwicklungsphasen zunächst tentativ, in den weiteren Entwicklungsphasen immer deutlicher) Lebensziele definiert, die nicht nur mit den eigenen Entwicklungsressourcen übereinstimmen und das Individuum zu schöpferischem Handeln motivieren, sondern die auch von einem positiv erlebten Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft zeugen. Das Individuum erfährt sich als ein mitfühlendes, mitverantwortlich handelndes Wesen. Es kann sich durchaus in eine motivierende, inspirierende Wettbewerbssituation gestellt sehen, aber es ordnet sich selbst oder Bezugspersonen nicht per

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se eine inferiore (minore) oder superiore (majore) Stellung zu, es unterwirft sich nicht anderen (»Unterwürfigkeit«, »Dienerschaft«), wie es andere auch nicht zu beherrschen versucht (»Sklaverei«). Alfred Adler hat – dies sei hier ergänzend angemerkt – in seinem Buch »Menschenkenntnis« (1927) bis heute sehr wichtige Aussagen zur Unterwürfigkeit einerseits, zur Sklaverei andererseits getroffen. Betrachten wir diesen Entwicklungsbereich nun aus der biografisch orientierten Alternsforschung. Für die emotionale Befindlichkeit im höheren und hohen Alter ist die Erfahrung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung als Ausdrucksform von Autonomie und Kompetenz höchst bedeutsam. Selbstständigkeit und Selbstverantwortung äußern sich nicht nur in alltagspraktischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch in subjektiven Überzeugungssystemen: Kontroll-, Gestaltungs- und Veränderungsüberzeugungen – im Sinne des Vermögens, die Entwicklung einer Situation oder die eigene Entwicklung in einer Situa­tion kontrollieren, die persönliche Entwicklung auch unter intra­individuell variierenden Entwicklungsanforderungen und Entwicklungsmöglichkeiten gestalten, eine eingetretene, belastende Situa­tion durch eigenes Handeln verändern zu können – gewinnen hier besonders an Gewicht (Brandtstädter, 2007; Freund u. Hennecke, 2015). Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das Individuum durch funktionale Einschränkungen, durch soziale bzw. materielle Verluste, wie überhaupt durch Schicksalsschläge in seinen Handlungsmöglichkeiten eingeengt ist oder derartige Einengungen antizipiert. Gerade in diesen Fällen sieht sich das Individuum besonders herausgefordert, nun werden Kontroll-, Gestaltungs- und Veränderungsüberzeugungen immer wichtiger. Dabei lehrt die Resilienzforschung (Rutter, 2012; Ryff, 2013), dass funktionale, also kompetenzförderliche Überzeugungssysteme zum einen biografische Vorläufer oder Wurzeln aufweisen, Menschen aber zugleich in belastenden oder bedrohlichen Situationen ganz neue Entwicklungs- oder Reifungsschritte vollziehen können (aus entwicklungspsychologischer Perspektive siehe Fooken, 2009; Greve u. Staudinger, 2006). In einer vom Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg gemeinsam mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung durchgeführten und Ende 2018 abgeschlossenen Studie zum Thema: »Altern in Balance. Unterschiedliche Perspektiven auf Lebensgestal-

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tung, Potenzialverwirklichung und Verletzlichkeitsverarbeitung im hohen und höchsten Alter«, in der 510 Frauen und Männer im Alter von 75 bis 95  Jahren medizinisch-psychologisch und medizinisch-­ soziologisch untersucht wurden, zudem 200 nationale und internationale Expertinnen und Experten auf den Gebieten der Medizin, Pflegewissenschaft, Psychologie und Sozialarbeit interviewt wurden und schließlich weitere 255 Experten auf den genannten Gebieten (einschließlich Kommunalpolitik) in Fokusgruppen diskutierten (siehe Kruse, Becker, Ding, Hinner u. Schmitt, 2019), gingen wir auch der Frage nach, welche Bedeutung die subjektiven Kontroll-, Gestaltungsund Veränderungsüberzeugungen für die Belastungsverarbeitung sowie für gesundheitsförderliches Verhalten und positive emotionale Befindlichkeit besitzen. Vier Befunde erscheinen hier mit Blick auf die Selbstgestaltung bedeutsam. 1. Bei Vorliegen kompetenzförderlicher Überzeugungssysteme gelingt es alten Menschen eher, in objektiv gegebenen Belastungskonstellationen Wohlbefinden, Zufriedenheit und Lebensqualität aufrechtzuerhalten. 2. Die soziale Schichtzugehörigkeit hat Einfluss auf den Ausprägungsgrad kompetenzförderlicher Überzeugungssysteme und – vermittelt über diese – auf die Verarbeitung gegebener Belastungskonstellationen: Bei Angehörigen der untersten Sozialschichten waren in unserer Untersuchung die kompetenzförderlichen Überzeugungs­systeme im Durchschnitt geringer ausgeprägt, zudem gelang es ihnen weniger gut, unter dem Eindruck starker (auch objektiv nachweisbarer) Belastungen zu einer positiven emotionalen Befindlichkeit zu gelangen bzw. diese aufrechtzuerhalten. Dieser Befund macht einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, die objektiven Lebensbedingungen auch in ihren entwicklungsförderlichen vs. -hinderlichen Einflüssen zu betrachten: Das bestätigt erneut eine zentrale theoretische Position Alfred Adlers. 3. Es waren bei der weit überwiegenden Anzahl von Studienteilneh­ menden im Falle funktionaler Einschränkungen oder sozialer Verluste Kompensationsstrategien erkennbar, die entweder (a) die Entwicklung von Verhaltenstechniken zur Wiederherstellung von Selbstständigkeit bzw. zur Erhaltung und Weiterentwicklung des Interessenspektrums (»Handlungsebene«) oder (b) die Verände-

Die Individualpsychologie Alfred Adlers23

rung der Lebenseinstellung (»Einstellungsebene«) umfassten. Entscheidend war, dass die Erfahrung funktionaler Einschränkungen oder sozialer Verluste seelisch-geistige Entwicklungsversuche auslösen konnte (und zwar durchaus auch in dem von Adler unter dem Begriff der »Kompensation« umschriebenen Sinne), sodass es geboten erscheint, angesichts körperlicher und sozialer Verluste von einer Entwicklungsnotwendigkeit zu sprechen (Heuft, Kruse u. Radebold, 2006). 4. In der Studie sind wir auch der Frage nachgegangen, inwieweit sich im biografischen Teil der Interviews Hinweise auf »biografische Vorläufer« einzelner Verarbeitungs- und Kompensationsstrategien finden lassen. In Bezug auf die Kompensationsstrategien ließen sich solche Vorläufer in der Hinsicht finden, dass es Menschen, die bereits in der Biografie gelernt hatten, Einschränkungen und Verluste ebenso wie Konflikte und Belastungen eher als eine Herausforderung zu deuten und sich um die Wiederherstellung von Selbstständigkeit und Selbstverantwortung (Autonomie) zu bemühen, auch im hohen Alter deutlich eher in der Lage waren, in der Erfahrung von Einschränkung und Verlust die Hoffnung auf Verbesserung der Situation ebenso wie die Suche nach Kompensations- und Verarbeitungsstrategien (bzw. -techniken) zu intensivieren. Auch die in der aktuellen Situation gegebenen Gestaltungs- und Veränderungsüberzeugungen ließen derartige biografische Vorläufer erkennen: In allen untersuchten Variablen waren die Zusammenhänge zwischen Biografie und aktueller Situation sehr eng. Diesen Abschnitt, in dem auch den Kompensationsleistungen des Individuums große Bedeutung zukommt, möchte ich mit einer Überlegung abschließen, die die Beziehung zwischen der Adler’schen Lehre von der Kompensation der Minderwertigkeitsgefühle einerseits und der Theorie der »Selektiven Optimierung mit Kompensation« berührt, die auf das hoch anerkannte, viel zu früh verstorbene Gerontologenehepaar Margret und Paul Baltes zurückgeht. Diese Theorie postuliert, dass im Falle eingetretener funktionaler Einschränkungen eine vermehrte Konzentration (Selektion) auf solche (körperlichen, alltagspraktischen, kognitiven, sozioemotionalen, sozialkommunikativen) Funktionen und Fertigkeiten erfolgt, die bereits gut beherrscht werden und nun weiter vervoll-

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Andreas Kruse

kommnet werden (Optimierung). Dieser Prozess dient dazu, die eingetretenen funktionalen Einschränkungen auszugleichen (Kompensation). Die von Baltes und Baltes (1990) als Metatheorie klassifizierte Theorie ist für das Verständnis von Selbstgestaltung im Alter (aber nicht nur im Alter) wichtig. Sie macht zugleich deutlich, wie recht Alfred Adler hatte, als er postulierte, dass die Erfahrung von Einschränkungen, von Unterlegenheit, von Minderwertigkeit der Organe seelisch-geistige Entwicklungsprozesse anstoßen kann, die ihrerseits dazu führen können, dass Menschen sehr gute, wenn nicht sogar ausgezeichnete Leistungen (»Überkompensation«) erbringen. Dies lässt sich eben auch im höheren und hohen Alter beobachten (Baltes, 1996).

Weltgestaltung Ein großes Verdienst der Adler’schen Theorie ist, wie bereits hervorgehoben wurde, darin zu sehen, dass sie die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in das Zentrum ihrer Analyse rückt. Inwieweit nimmt das Individuum in seiner Lebensführung und Lebensgestaltung eine gemeinschaftsfreundliche Haltung ein, inwieweit lässt es sich – um in den Worten des baltisch-französischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1991; dt. 1995) zu sprechen – vom Antlitz des anderen berühren, inwieweit stellt es sein Leben (auch) in den Dienst von Gemeinschaft? Ich plädiere schon seit vielen Jahren dafür, das menschliche Handeln in den anthropologischen Kontext einer coram-Struktur zu rücken. Das lateinische coram heißt übersetzt: vor den Augen. Damit ist unmittelbar die Verantwortung des Menschen angesprochen. Von einer Struktur spreche ich, weil wir Verantwortung vor uns selbst, Verantwortung vor dem anderen Individuum, Verantwortung vor unserer Gesellschaft, schließlich Verantwortung vor der Schöpfung übernehmen bzw. übernehmen sollten (Kruse, 2005b, 2011). Der Verantwortungsbegriff verbindet Selbstgestaltung und Weltgestaltung. Die Weltgestaltung spiegelt sich wider in der Verantwortung vor dem oder der anderen, der Gesellschaft, der Schöpfung (hier beziehe ich übrigens auch die Verantwortung vor den nachfolgenden – den geborenen wie auch den noch nicht geborenen – Generationen ein). Ich könnte mir vorstellen, dass Alfred Adler der Hervorhebung von Verantwortung als einem zentra-

Die Individualpsychologie Alfred Adlers25

len Merkmal der Conditio humana in einer psychologischen Anthropologie ausdrücklich zugestimmt und mich in meiner Annahme, dass dieser Begriff eine konzeptionelle Nähe zu seinem Verständnis vom Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft aufweist, bestärkt hätte. Die Verantwortung des Individuums vor der und für die Gesellschaft und Schöpfung als zentrales Prinzip der »Weltgestaltung« zeigte sich meinem Heidelberger Kollegen Eric Schmitt und mir zum ersten Mal in einer internationalen Studie zu den Spätfolgen des Holocaust, in der wir 248 jüdische Frauen und Männer in verschiedenen Ländern der Welt ausführlich interviewt haben. Es handelte sich dabei um ehemalige Konzentrations- bzw. Vernichtungslagerhäftlinge oder Emigrantinnen und Emigranten, die gezwungen waren, aufgrund der von den Nationalsozialisten ausgehenden Bedrohung Deutschland zu verlassen (ausführlich Kruse u. Schmitt, 2000). Unser ursprüngliches Forschungsinteresse (fachlich wie sittlich-moralisch) bestand darin, eine empirisch fundierte Aussage zu der Frage zu treffen, ob im hohen Alter die Wahrscheinlichkeit einer Reaktivierung von Traumata, mit denen Menschen im Lebenslauf konfrontiert waren, erkennbar zunimmt (Heuft, 1999) – sei es aufgrund einer Abnahme der Leistungsfähigkeit exekutiver Funktionen, mithin der Kontrolle über Gedanken und Emotionen (einschließlich des Rückgangs von »Abwehrleistungen«, durch die früher die traumatischen Erlebnisse in »Abschattung« gebracht worden waren), sei es aufgrund der wachsenden Bedeutung des Lebensrückblicks im Alter (Butler, 1963), oder sei es aufgrund der erlebten Nähe zum Tod, in der existenzielle Erfahrungen, die in der Biografie gemacht wurden, erneut thematisch werden (Kruse, 2007). Wir konnten in der Tat den Nachweis erbringen, dass bei Überlebenden des Holocaust im hohen Alter die Erinnerungen an erfahrene Traumata wieder thematisch werden, und dies in emotional höchst bedrängender Weise – wobei das Individuum immer weniger in der Lage ist, das Präsentisch-Werden dieser Erinnerungen sowie deren Verlauf zu kontrollieren. Dies aber war nur ein Ergebnis unserer Studie. Ein weiteres: In allen von uns aufgesuchten Ländern konnten wir bei etwa einem Drittel der Teilstichproben das stark ausgeprägte Motiv erkennen, die persönlichen Leidenserfahrungen im Holocaust in Teilen in schöpferisches Handeln zu verwandeln – und zwar in der Hinsicht, dass sich die Überleben-

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Andreas Kruse

den an junge Menschen wandten, um diese für Selbstverantwortung, Courage, Demokratie und den grundlegenden Respekt vor der Würde des anderen Menschen (im Sinne der Toleranz) zu sensibilisieren. Die persönliche Lebensgeschichte bildete somit Grundlage für ein Mitverantwortungsmotiv, das heißt für die Verantwortung vor der und für die Gesellschaft und Schöpfung. Lassen Sie mich an dieser Stelle hervorheben: Wir waren beeindruckt von dem Streben und auch der Fähigkeit dieser Menschen, unvorstellbares seelisches und existenzielles Leid in kreatives, mitverantwortliches Handeln umzusetzen. Es handelt sich hier sicherlich um ein Extremum mitverantwortlichen Handelns. Aber dieses Extrem hat uns dafür sensibilisiert, die Bedeutung mitverantwortlichen Handelns für ein persönlich sinnerfülltes, stimmiges Leben, für positive emotionale Befindlichkeit, für hohe Lebensqualität ausführlich zu untersuchen (Kruse u. Schmitt, 2018). Im Kern lautet die Botschaft: In dem Maße, in dem es dem Individuum gelingt, nicht nur selbstverantwortlich, sondern auch mitverantwortlich zu handeln – das heißt, sein eigenes Handeln auch in den Dienst anderer Menschen, der Gesellschaft, der Schöpfung (Beispiel für Letzteres: eigenes Handeln als Beitrag zum möglichst schonenden Umgang mit natürlichen Ressourcen begreifen) zu stellen –, wird dessen Überzeugung, von anderen Menschen gebraucht zu werden, wird dessen Sinnund Stimmigkeitserleben, schließlich – als Folge – dessen positive emotionale Befindlichkeit gefördert. Damit ist ein zentrales Merkmal der Weltgestaltung, wie ich diese verstehe, benannt und beschrieben.

Thematische Strukturierung, Wertverwirklichung und Sinnerfahrung Für Adler bildete die Frage, von welchen Zielen und Werten sich das Individuum in seiner Lebensgestaltung wie auch in der Antizipation seiner weiteren Entwicklung leiten lässt, einen bedeutenden Gegenstand seiner psychologischen Analyse. Diese Ziele und Werte, ebenso wie die Lebenspläne, müssen dem Individuum nicht (immer) vollumfänglich bewusst sein. Doch können in einem »wahrhaftigen Austausch« zwischen Menschen diese Ziele und Werte, diese Lebenspläne mehr und mehr bewusst werden, sodass der Person auch die eigene Motiv-

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struktur ihres Erlebens, Verhaltens und Handelns wie auch die Quellen ihrer Sinn- und Stimmigkeitserfahrung deutlicher erfahrbar werden. Und ohne die Erfahrung von Sinn und Stimmigkeit ist eine wirkliche Bejahung des Lebens im Kern nicht möglich (Frankl, 2005a, 2005b): Hier werden wichtige Berührungspunkte der Theorien von Alfred Adler und von Viktor Frankl sichtbar, der allerdings nur kurze Zeit im Austausch mit Adler stand – Adler hat Frankl schon sehr bald aus dem von ihm gegründeten Verein für Individualpsychologie ausgeschlossen. Die von Frankl getroffene Aussage, wonach auch der neurotische Mensch immer als Person zu betrachten sei, die ihr Dasein zu verstehen versuche und nach Sinn in seinem Leben suche, bildete dabei eine wesentliche Ursache für den Dissens. Der Bonner Psychologe Hans Thomae war einer der profiliertesten Vertreter einer thematischen Analyse der Person, wobei ihm diese thematische Analyse zugleich als Weg hin zu einer tiefer greifenden Analyse der Motivstruktur der Person wie auch ihrer Sinn- und Stimmigkeitserfahrung galt – hier sei vor allem auf sein Hauptwerk »Das Individuum und seine Welt« (1968) hingewiesen, in der ausführlich auf die Zusammenhänge zwischen den Lebens- oder Daseinsthemen einerseits sowie der Motiv- und Wertstruktur der Person andererseits eingegangen wird. Lebens- oder Daseinsthemen sind – Hans Thomae zufolge – als umfassende innere Anliegen der Person zu verstehen, die sich nicht nur auf spezifische Lebensbereiche oder Situationen beziehen, sondern deren grundlegende Einstellung zu sich selbst sowie zur umgreifenden Welt betreffen. Diese Anliegen sind auch nicht bloß punktuell auftretende, sondern sich über weite Zeiträume der Biografie erstreckende Motive des Erlebens, Verhaltens und Handelns. Sie können sich unter dem Eindruck neuer – zeitlich überdauernder – Lebensanforderungen und tief greifender Erlebnisse weiter entwickeln, weiter differenzieren. Diese Lebens- oder Daseins­themen müssen dem Individuum nicht (in allen Situationen) unbedingt bewusst sein. Sie werden, wie schon deutlich gemacht wurde, vielfach erst in einem wahrhaftig geführten, tief greifenden Gespräch oder in Phasen ernsthaft geführter Selbstreflexion erfahrbar. Und doch wirken sie auf die Deutung von spezifischen Situationen wie auch auf den Umgang mit diesen (hier spricht Thomae von »Daseinstechniken«) ein und bestimmen den Lebens- und Entwicklungsweg einer Person

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mit (Levinson, 1986) – hier sehe ich bedeutsame Berührungspunkte mit den Adler’schen Aussagen zur Lebenslinie eines Individuums. Denn auch in der daseinsthematischen Struktur einer Person kann sich durchaus eine Lebenslinie widerspiegeln, die nicht selten bis in Kindheit und Jugend zurückzuverfolgen ist. Die von Hans Thomae getroffenen Aussagen zur »Kontinuität« menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns – die sich auch und vor allem der Kontinuität von Daseinsthemen verdankt – lassen ebenfalls Anklänge an das Konzept der Lebenslinie erkennen.

Alte Menschen als sich Sorgende und als Sorge Leistende Hier berichte ich von den Ergebnissen der am Institut für Gerontologie der Universität Heidelberg durchgeführten, im Jahre 2014 abgeschlossenen Generali-Hochaltrigkeitsstudie, in der vierhundert 85–98-jährige Frauen und Männer ausführlich interviewt wurden – und dies mit dem Ziel, Einblick in die individuellen daseinsthematischen Strukturen zu gewinnen (Kruse, Schmitt u. Ehret, 2014). In dieser Studie stand vor allem die Frage nach möglichen Sorgemotiven alter Menschen im Zentrum: Vor dem Hintergrund der in der psychologischen Literatur getroffenen Aussagen zu »Generativität« als einem zentralen Motiv des mittleren und auch hohen Lebensalters (Erikson, Erikson u. Kivnick, 1986; McAdams, 2009) war es unser Bestreben, herauszuarbeiten, inwieweit sich in der daseinsthematischen Struktur alter Menschen die Sorge um und die Sorge für andere Menschen erkennen lässt (ausführlich dazu Kruse, 2017a). Zwei Befunde aus dieser Studie sollen hier ausführlicher berichtet werden – zum einen, weil sie einen Aspekt des hohen Lebensalters ausdrücken, der in wissenschaftlichen, vor allem in gesellschaftlichen Altersdiskursen zu selten thematisiert wird: das tiefgreifende Interesse an dem Lebensweg nachfolgender, vor allem junger Generationen, der Wunsch, diesen Lebensweg zu befruchten, das Bedürfnis, in nachfolgenden Generationen »symbolisch« fortzuleben (im Sinne der symbolischen Immortalität, von der Hannah Arendt an verschiedenen Stellen ihres Werkes spricht, z. B. Arendt, 1959), auch wenn die irdische Existenz erloschen ist (Kruse u. Schmitt, 2015a, 2015b). Zum anderen

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weisen die Ergebnisse auf die enge Relation zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft hin, deren Analyse für das Werk von Alfred Adler so entscheidend ist.

Daseinsthemen Zum ersten Befund: Welche Daseinsthemen waren in den Interviews der Studienteilnehmenden erkennbar? Anders ausgedrückt: Von welchen Anliegen war ihr Erleben bestimmt, wo lagen also ihre Quellen von Sinn- und Stimmigkeitserfahrung? In Tabelle 1 sind die Daseinsthemen aufgeführt von den Personen, bei denen das jeweilige Daseinsthema ermittelt werden konnte (zur Methodik der Kategorienbildung und Auswertung siehe Kruse u. Schmitt, 2015a, 2015b): Tabelle 1: Daseinsthemen 85–98-Jähriger im Interview (N = 400) Nr.

Daseinsthema

%

1

Freude und Erfüllung in einer emotional tieferen Begegnung mit anderen Menschen

76

2

Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Entwicklung nahestehender Menschen – vor allem in der eigenen Familie und in nachfolgenden Generationen

72

3

Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen

61

4

Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geachtet zu sein – vor allem von nachfolgenden Generationen

60

5

Sorge vor dem Verlust der Autonomie (im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstständigkeit)

59

6

Bemühen um die Erhaltung von (relativer) Gesundheit und (relativer) Selbstständigkeit

55

7

Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen gewonnen zu haben, das Angehörigen nachfolgender Generationen eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann

44

8

Intensivere Auseinandersetzung mit sich selbst, differenziertere Wahrnehmung des eigenen Selbst, vermehrte Beschäftigung mit der eigenen Entwicklung, Rückbindung von Interessen und Tätigkeiten an frühe Phasen des Lebens

41

9

Phasen von Einsamkeit

39

30

Andreas Kruse

Nr.

Daseinsthema

%

10

Fehlende oder deutlich reduzierte Kontrolle über den Körper und spezifische Körperfunktionen, Sorge vor immer neuen körperlichen Symp­tomen

36

11

Fragen der Wohnungsgestaltung (Erhaltung von Selbstständigkeit, Teilhabe, Wohlbefinden)

34

12

Phasen der Niedergedrücktheit

31

13

Chronische oder passagere Schmerzzustände und Bemühen, diese zu kontrollieren

30

14

Intensive Beschäftigung mit der Endlichkeit des eigenen Lebens

30

15

Intensive Beschäftigung mit einem Leben nach dem Tod; diese Beschäftigung ist dabei auch eingebettet in religiöse oder spirituelle Kontexte

28

16

Sorge vor fehlender finanzieller Sicherung

24

17

Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach Engagement für andere Menschen

23

18

Fehlende Achtung, Zustimmung und Aufmerksamkeit durch Familien­angehörige – vor allem nachfolgender Generationen

23

19

Selbstzweifel mit Blick auf die Attraktivität der eigenen Person für andere Menschen

20

20

Innere Beschäftigung mit Fragen der Art und Weise des Sterbens wie auch des Sterbeortes

19

21

Probleme bei der finanziellen Sicherung des Lebensunterhalts

18

22

Subjektiv erlebte kognitive Einbußen, die vorübergehend die Sorge auslösen können, an einer Demenz erkrankt zu sein

17

23

Beschäftigung mit dem Leben und dem Schicksal persönlich bedeut­samer Gruppen und Orte (z. B. des Geburts- und Heimatortes)

15

24

Fehlende Achtung und Aufmerksamkeit von Mitmenschen, Leben in Distanz zu anderen, auch Konflikte und Unverständnis, anderen nicht näherzukommen

13

25

Unerfüllt gebliebenes Bedürfnis nach verständnisvoller und tief­ sinniger Kommunikation mit nachfolgenden Generationen

12

26

Intensive Zuwendung zur Menschheit und Schöpfung

11

27

Intensive Auseinandersetzung mit dem Leben eines Verstorbenen, der bedeutsam für das eigene Leben gewesen und es auch heute noch ist

10

Die Individualpsychologie Alfred Adlers31

Es wurden insgesamt 27 Daseinsthemen identifiziert, die sich in der Häufigkeit, mit der sie in der Stichprobe vertreten waren, deutlich voneinander unterscheiden: der prozentuale Anteil reichte von 76 Prozent (Thema 1) bis 10 Prozent (Thema 27). In den ersten vier Daseinsthemen wie auch im siebten Daseinsthema spiegelt sich die subjektiv erlebte Bezogenheit des Individuums wider, wobei diese auch mit dem Erleben von Generativität verbunden ist: Die Untersuchungsteilnehmenden setzen sich intensiv mit der Frage auseinander, was sie für andere Menschen tun können, und erkennen in dem Gefühl, gebraucht zu werden, eine bedeutende Sinngrundlage. Zugleich wird deutlich, dass ein sehr breites, vielfältiges Themenspektrum das Erleben bestimmt; dabei spielen auch Fragen der Endlichkeit, der Art des Sterbens sowie eines Lebens nach dem Tod eine bedeutende Rolle.

Sorgeformen Zum zweiten Befund: Welche Sorgeformen waren in den Interviews erkennbar? Wir stellten den Teilnehmenden die Frage, in welcher Art und Weise sie sich um andere Menschen kümmerten bzw. sich innerlich mit anderen Menschen beschäftigten. Es wurden zwanzig »Sorge­ formen« ermittelt, die in Tabelle 2 aufgeführt sind. Tabelle 2: Sorgeformen 85–98-Jähriger im Interview (N = 400) Nr.

Sorgeform

%

1

Intensive Beschäftigung mit dem Lebensweg nachfolgender ­Generationen der Familie

85

2

Unterstützende, anteilnehmende Gespräche mit nachfolgenden Generationen der Familie

78

3

Intensive Beschäftigung mit dem Schicksal nachfolgender ­Generationen

72

4

Unterstützung von Nachbarn im Alltag

68

5

Unterstützung von Familienangehörigen im Alltag

65

6

Unterstützung junger Menschen in ihren schulischen Bildungs­ aktivitäten

58

7

Gezielte Wissensweitergabe an junge Menschen (berufliches ­Wissen, Lebenswissen)

54

32 Nr.

Andreas Kruse Sorgeform

%

8

Finanzielle Unterstützung nachfolgender Generationen der Familie

49

9

Beschäftigung mit der Zukunft des Staates und der Gesellschaft

48

10

Freizeitbegleitung junger Menschen

41

11

Besuch bei kranken oder pflegebedürftigen Menschen

38

12

Existentielle Gespräche vor allem mit jungen Familienangehörigen

33

13

Zurückstellung eigener Bedürfnisse, um Familienangehörige nicht zu stark zu belasten

29

14

Unregelmäßig getätigte Spenden; regelmäßige Spenden an Vereine oder Organisationen

27

15

Anderen Menschen in der Lebensführung und Belastungsbewältigung Vorbild sein

24

16

Kirchliches Engagement (Freiwilligentätigkeit in kirchlichen Organisationen)

23

17

Beschäftigung mit der Zukunft des Glaubens und der Kirchen

19

18

Politisches Engagement (Freiwilligentätigkeit in Kommunen oder Parteien)

17

19

Gebete für andere Menschen

16

20

Besuchsdienste in Kliniken und Heimen

12

Der Überblick über die verschiedenen Sorgeformen zeigt, dass zwischen praktischer Unterstützung, die anderen Menschen gegeben wird, und innerer Anteilnahme zu differenzieren ist. Die hohe Besetzung der ersten und der dritten Sorgenform – in denen die Beschäftigung mit der Lebenssituation eines anderen Menschen zum Ausdruck kommt – weist auf die große Bedeutung hin, die die innere Anteilnahme am Lebensweg eines anderen Menschen besitzt. Zugleich zeigen die Befunde, dass auch hochbetagte Menschen ein bemerkenswertes instrumentelles Engagement unter Beweis stellen, wie sich dieses in konkreter Unterstützung anderer Menschen, auch der Angehörigen junger Generationen, verwirklicht (Kruse, 2017b).

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Seelisch-geistige Entwicklungsmöglichkeiten im hohen Alter: Auch eine Grundlage für die Verarbeitung von Verletzlichkeit Die psychologische Betrachtung von Entwicklungsmöglichkeiten im hohen Alter führte mich zu einer – theoretisch-konzeptionell und empirisch fundierten – Verbindung von vier psychologischen Potenzialen (ausführlich Kruse, 2017a): 1. Introversion mit Introspektion: im Sinne der »vertieften Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst«; 2. Offenheit: im Sinne der »Empfänglichkeit für neue Eindrücke, Erlebnisse und Erkenntnisse, die aus dem Blick auf sich selbst wie auch aus dem Blick auf die umgebende soziale und räumliche Welt erwachsen«; 3. Sorge: im Sinne der »Bereitschaft, sich um andere Menschen, sich um die Welt zu sorgen«; 4. Wissensweitergabe: im Sinne des »Motivs, sich in eine Generationenfolge gestellt zu sehen und durch die Weitergabe von Wissen Kontinuität zu erzeugen und Verantwortung zu übernehmen«. Wie wichtig es ist, diese vier Potenziale im Auge zu behalten, wenn man alte Menschen in ihrem Umgang mit erlebter (körperlicher, kognitiver und emotionaler) Verletzlichkeit fachlich begleitet, geht aus folgender Beobachtung hervor: Die innere Auseinandersetzung mit körperlichen, zum Teil auch kognitiven, zudem mit sozialen Verlusten und begrenzter Lebenszeit wird durch psychische Kräfte und Orientierungen gefördert, die sich in den vier genannten Potenzialen und deren Verbindung widerspiegeln: 1. Die vermehrte Konzentration auf sich selbst und der darin zum Vorschein kommende Versuch, das Selbst auch in seiner kontinuierlichen Veränderung (oder Dynamik) zu erfahren; 2. die Offenheit für Neues – sowohl in einem selbst wie auch in der (räumlichen, sozialen und kulturellen) Welt, die einen umgibt; 3. die erlebte und praktizierte Sorge um bzw. für andere Menschen; 4. die Bereitschaft, Wissen weiterzugeben und damit sowohl zur Kontinuität in der Generationenfolge beizutragen als auch die Entwicklung nachfolgender Generationen zu fördern

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Andreas Kruse

bilden in ihrer Integration eine bedeutsame psychologische »Rahmung« des Umgangs mit eigener Verletzlichkeit. Mit diesen vier psychologischen Potenzialen sind auch seelisch-­ geistige Bereiche angesprochen, in denen sich alte Menschen weiterentwickeln, in denen sie schöpferische Kräfte zeigen, in denen sie etwas Neues hervorbringen können – hier sind auch Bezüge zu dem von Adler entwickelten Kompensationsmodell erkennbar (Kompensation erfahrener Organminderwertigkeit – ich würde sagen: erfahrener Verletzlichkeit). Zudem machen diese Potenziale deutlich, dass körperliches Altern einerseits, seelisch-geistiges Altern andererseits verschiedenartigen Entwicklungsgesetzen folgen: Das Wesen des Alterns wird nur bei integrierter Betrachtung dieser verschiedenartigen Entwicklungsgesetze (ergänzt um die soziale und die kulturelle Dimension) wirklich erfahrbar. Allerdings ist zu bedenken, dass sich die körperliche Dimension sowie die seelisch-geistige Dimension gegenseitig durchdringen: Tiefgreifende körperliche Veränderungen (zu denen auch Veränderungen des Gehirns zu zählen sind) können sich auf die emotionalen, vor allem aber auf die geistigen Prozesse auswirken und potenzielle Entwicklungen im hohen Alter mehr und mehr einengen oder unmöglich machen – man denke hier nur an neurodegenerative oder vaskuläre Hirnprozesse, die ihrerseits das Lern-, Gedächtnis- und Denkvermögen erheblich einschränken, wenn nicht sogar weitgehend zerstören. Umgekehrt zeigt sich immer wieder, dass sich kontinuierliche körperliche Aktivität (Ausdauer, Koordination, Kraft, Beweglichkeit) positiv auf die emotionale Befindlichkeit wie auch auf die kognitive Kompetenz im Alter auswirkt – mittlerweile kann als gesichert angesehen werden, dass kontinuierliche körperliche Aktivität einen bedeutenden Schutzfaktor mit Blick auf die verschiedenen Demenzerkrankungen darstellt. Erneut umgekehrt wirken sich emotionale und geistige Entwicklungsprozesse positiv auf die körperliche Gesundheit, das körperliche Befinden und die körperliche Restitutionsfähigkeit des Individuums aus – darauf weisen empirische Befunde aus psychosomatisch-psychotherapeutischen Interventionsstudien hin. Und auch in der Bewältigungsund Resilienzforschung lassen sich Belege dafür finden – diese sind für unsere Argumentation besonders wichtig –, dass die Verwirklichung emotionaler und geistiger Entwicklungspotenziale im hohen Alter dazu

Die Individualpsychologie Alfred Adlers35

beiträgt, dass alte Menschen auch im Falle chronischer Erkrankung erkennbar mehr für ihre Gesundheit tun, dass sie gesundheitliche Einschränkungen besser verarbeiten und bewältigen können, dass ihnen das Alter trotz körperlicher Grenzen als eine Lebensphase erscheint, in der sie immer wieder Phasen des Wohlbefindens, der Stimmigkeit, der Erfüllung und des Glücks erleben können. Das Werk von Alfred Adler birgt mit seiner Akzentuierung der Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. Gesellschaft (und zwar im Sinne des mitverantwortlich handelnden oder sich sorgenden Individuums, um die in diesem Beitrag entfaltete Terminologie zu wählen), der Kompensation von Einschränkungen und Verlusten, der entwicklungsförderlichen Kräfte von Kompensation, schließlich der Lebenspläne, Lebensziele und Lebenslinien – die auch die Grundlage von Wert- und Sinnverwirklichung darstellen – ein bedeutsames Potenzial auch zur vertieften Auseinandersetzung mit seelisch-­geistiger Entwicklung im gesamten Lebenslauf – bis hin zum hohen Alter. Meine Hochachtung vor diesem Werk!

Literatur Adler, A. (1927). Menschenkenntnis. Leipzig: Hirzel. Adler, A. (1931/2008). Der Sinn des Lebens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1964/1979). Superiority and social interest. A collection of later writings. (Eds.: H. L. Ansbacher, R. R. Ansbacher) New York: Norton. Arendt, H. (1959). Vita activa oder vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer. Baltes, M. M. (1996). The many faces of dependency in old age. New York: Cambridge University Press. Baltes, P. B., Baltes, M. M. (1990). Psychological perspectives on successful aging: The model of selective optimization with compensation. In P. Baltes, M. Baltes (Eds.), Successful aging: Perspectives from the behavioral sciences (pp. 1–33). New York: Cambridge University Press. Brandtstädter, J. (2007). Das flexible Selbst. Selbstentwicklung zwischen Zielbindung und Ablösung. Heidelberg: Elsevier/Spektrum. Butler, R. N. (1963). The Life Review: An Interpretation of Reminiscence in the Aged. Psychiatry, 26, 65–76. Erikson, E. H., Erikson, J. M., Kivnick, H. Q. (1986). Vital involvement in old age. New York: Norton. Fooken, I. (2009). Resilienz und posttraumatisches Wachstum. In A. Maercker (Hrsg.), Handbuch der posttraumatischen Belastungsstörungen (3. Auflage, S. 65–85). Heidelberg: Springer.

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Andreas Kruse

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Manfred Gehringer

Figuren der Spaltung in Kunst und Psychotherapie

Zusammenfassung Das Phänomen der Spaltung ist in der Kunst von jeher und behandlungstechnisch in der Psychoanalyse seit Melanie Klein ein sehr wichtiges Thema. Der Beitrag zeigt anhand des Films »Der Geschmack von Rost und Knochen«, einer Neuauflage des Märchens »La Belle et la Bête«, Wege der Überwindung von Spaltung aus individual- und objektbeziehungstheoretischer Sicht.

Ein Thema bricht sich Bahn Meine psychotherapeutische Erfahrung mit Patienten und Patientinnen aller Schattierungen und Störungsgrade, aber auch meine eigene Lebenserfahrung haben mir gezeigt, wie zentral der Abwehrmechanismus der Spaltung ist, welche verheerenden, lebenseinschränkenden und lebensvernichtenden Auswirkungen pathologische Spaltung hat. Nicht zuletzt können wir dies alltäglich im Zeitalter von Dschihad, Trump und Populismus in der Weltpolitik beobachten. Erstaunlich bleibt, dass sich die Psychoanalyse lange Zeit wenig mit dem Thema Spaltung beschäftigt hat, mit Ausnahme der Kleinianer und der Neo-Kleinianer und von Otto Kernberg. Von ihnen stammen auch die grundlegenden Arbeiten. Spaltungsvorgänge, etwa in Phantasien der Selbstverdoppelung oder in der inneren Zerrissenheit zwischen gegensätzlichen Bestrebungen und Ansprüchen spielten seit der Romantik in der Literatur und Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eine große Rolle. Erinnert sei hier nur an Robert Louis Stevensons »Dr. Jekyll and Mr. Hyde« (Stevenson, 1886/2015). Dabei geht es jedoch um einen Vorgang einer bewussten Spaltung, die außer Kontrolle gerät, während wir es in unserer Praxis größtenteils mit unbewussten Spaltungsvorgängen zu tun haben. Fol-

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gendes Textbeispiel zeigt den bewussten Charakter der Spaltung in »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«: »Wenn beide, sagte ich mir, in separierten Identitäten untergebracht werden könnten, würde das Leben von allem befreit sein, das es unerträglich machte – der Ungerechte ginge entbunden von den Ansprüchen und der Zerknirschung seines aufrechten Zwillings seinen Weg, und der Gerechte könnte standhaft und sicher seinen aufsteigenden Pfad beschreiten, das Gute tun, an dem er seine Freude hätte, und wäre ohne den Zugriff des Bösen nicht länger Schande und Reue ausgesetzt. Es war der Fluch der Menschheit, dass diese nicht zusammenpassenden Bündel derart zusammengebunden waren – dass diese gegensätzlichen Zwillinge im gequälten Schoß des Bewusstseins unablässig miteinander ringen mussten. Wie also trennte man sie?« (S. 88)

In der Anfangszeit der Psychoanalyse gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielte das Konzept der Spaltung, inspiriert von der zeitgenössischen Literatur und Wissenschaft, noch eine große Rolle. Freud sprach damals, ausgehend von einer traumatischen Genese der Neurosen, von einer »Spaltung des Bewusstseins« (Breuer u. Freud, 1895, S. 9). Seine Abkehr von der traumatischen Genese der Neurose durch seine Erkenntnis, dass es sich bei Erinnerungen an traumatische Ereignisse um kindliche Phantasien und nicht um wirkliche Ereignisse handelte, hatte enorme Auswirkungen auf die Entwicklung der Psychoanalyse und führte u. a. dazu, dass von da an Verdrängung als zentraler Abwehrmechanismus in den Vordergrund trat und der Spaltungsbegriff im psychoanalytischen Mainstream für lange Zeit in den Hintergrund trat. Erst durch die Renaissance des Traumabegriffs im Gefolge des Vietnamkriegs und der Arbeiten Otto Kernbergs zur Pathologie schwerer Persönlichkeitsstörungen trat der Spaltungsbegriff wieder aus seinem Nischendasein heraus. Spaltungsvorgänge und deren Überwindung bzw. der Versuch, sie zu überwinden, spielen jedoch nicht nur im Leben von spezifischen Patientenpopulationen eine herausragende Rolle, sondern, wie James S. Grotstein (1985) in »Splitting and Projective Identification« – der meines Wissens einzigen Monografie zum Spaltungsbegriff – meint, in unser aller Leben: »Es ist eine universelle Erfahrung des Menschen, die wiederum aus der Erfahrung resultiert, in getrennten Selbstsubsystemen oder getrennten Persönlichkeiten zu existieren, die nie ganz zu einer Einheit integriert werden konnten. Einssein ist nicht nur das Ziel der Analyse, es ist auch ein Lebensziel.

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Aber es muss ein Ziel bleiben, nie unsere Leistung« (Grotstein, 1985, S. 18; eigene Übers.). Ich will mich beschränken auf die Analyse von Spaltungsprozessen intrapsychischer und intrapersoneller Natur in dem preisgekrönten französischen Film »Der Geschmack von Rost und Knochen« von Jaques Audiard aus dem Jahre 2012 mit Marion Cotillard und Mathias ­Schoenaerts in den Hauptrollen. Er basiert auf einer Kurzgeschichte aus der Sammlung »Rust and Bone« des kanadischen Autors Craig Davidson (2005). Cotillard hatte einige Jahre vorher den Oscar für ihre großartige Darstellung Edith Piafs in »La vie en rose« bekommen, Schoenarts war bis dahin weitgehend unbekannt. »Der Geschmack von Rost und Knochen« ist eine moderne Version des alten französischen Märchens »La Belle et la Bête«. Im Film wie im Märchen geschieht die Heilung, die in der Auflösung von Spaltungen besteht, durch die Kraft menschlicher Bezogenheit, durch die Liebe. »Die Schöne und das Biest«, ursprünglich »Die Schöne und das Tier« ist ein traditionelles Volksmärchen aus Frankreich. Die erste Veröffentlichung stammt von Gabrielle-Suzanne Barbot de Villeneuve (1740/2017). Im Märchen verlässt die Schöne das Tier, in dessen Schloss es lebt, um ihre Familie zu besuchen. Im Traum sieht die Schöne das Tier, welches im Sterben liegt, weil es die Hoffnung an ihre Rückkehr verloren hat. Die Schöne eilt zurück ins Schloss und kann das todkranke Tier retten. Dabei werden ihr ihre eigentlichen Gefühle für das Tier klar. Sie gesteht ihm ihre Liebe und willigt in die Heirat ein. Am nächsten Morgen wacht die Schöne an der Seite des zurückverwandelten schönen und sprachgewandten Prinzen auf, eben jenes Prinzen, der sie immer wieder in ihren Träumen besucht hatte. Das realistische Modern-Time-Märchen »Der Geschmack von Rost und Knochen« hat mir für meine psychotherapeutische Praxis dahingehend Mut gemacht, dass auch schwer gestörte Menschen einen Zugang zu ihren Gefühlen finden und Spaltungen zumindest partiell auflösen können. Gleichzeitig hat mich der Film darauf verwiesen, dass es häufig traumatischer Ereignisse bedarf, um erstarrte psychische Bewegungsmuster, »gefrorene Lebensbewegungen« im Sinne Alfred Adlers, wieder in Bewegung zu bringen. Wichtig erscheint mir für unsere Therapie­ praxis auch der im oben zitierten Satz Grotsteins enthaltene Gedanke zu sein, dass es nie unsere Leistung, sondern der gesamte Lebens­

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prozess ist – in dem Psychotherapie im Idealfall eine wichtige Rolle spielen kann –, die bzw. der positive Entwicklungen befördern, aber auch hemmen und verhindern kann.

Was ist Spaltung? Spaltung, so meint Grotstein (1985, S. 3), könnte einerseits als die Aktivität definiert werden, durch die das Ich Unterschiede zwischen dem Ich und seinen Objekten wahrnimmt – wobei im perzeptuellen und kognitiven Sinne ein Akt der Trennung erfolgt – und andererseits (dieses Verständnis liegt uns näher) kann Spaltung als genuiner Abwehrvorgang gesehen werden, der seine Wurzeln in den frühkindlichen Abwehroperationen eines noch primitiven, zur Verdrängung unfähigen Ichs hat. Im günstigen Entwicklungsfall wird Spaltung durch Verdrängung ersetzt und damit bewusstseinsfähig, im ungünstigen Verlauf erfolgt weiterhin eine Aufteilung psychischer Repräsentanzen des Selbst oder des Objekts in kontradiktorische Qualitäten wie z. B. »nur gut« oder »nur böse«. Wenn der Übergang zum Sowohl-alsauch, die Integration von polaren Selbst- und Objektrepräsentanzen nicht gelingt, kann die depressive Position nach Melanie Klein nicht erlangt werden. Die depressive Position ist gekennzeichnet durch das Ertragen von Ambivalenzen. Wenn sie nicht erreicht werden kann, bleibt das Individuum in einer paranoid-schizoiden Position gefangen, die Welt, das eigene Selbst und die Objekte werden als »Feindesland« empfunden und z. B. im Falle einer akuten paranoiden Psychose auch real angegriffen. Grotstein beschreibt die entscheidenden Veränderungen beim Übergang von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position folgendermaßen: »Vor der depressiven Position ist ein gutes Objekt in keiner Weise das Gleiche wie ein böses Objekt. Erst in der depressiven Position können polar entgegengesetzte Qualitäten als unterschiedliche Aspekte des gleichen Objekts gesehen werden« (S. 37; eigene Übers.). Freilich ist die depressive Position mit ihrer ganzheitlichen Sichtweise des eigenen Selbst und der Objekte nicht etwas, was einmal erreicht wird und dann bleibt. Es geht vielmehr um eine grundsätzliche Fähigkeit. Auch im Leben psychisch relativ gesunder Menschen

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gibt es unter Stress immer wieder Rückfälle in die Spaltungsvorgänge der paranoiden Position. Es geht folglich im Leben wie in der Therapie immer wieder darum, die depressive Position zurückzugewinnen.

Figuren der Spaltung: Ali und Stephanie Die beiden Protagonisten des Films sind Alain, Ali genannt, und Stephanie. Beide sind augenscheinlich Ende 20, Anfang 30 Jahre alt. Ali kommt aus dem Norden Frankreichs. Er ist ein Koloss, wohl an die zwei Meter groß, manchmal sogar zu groß für die Kamera, mit überbordendem Bizeps und einem durch sein Box- und Kampfsporttraining gestählten Oberkörper. Nachdem die Schlachterei in Belgien, in der er gearbeitet hat, Pleite gemacht hat, ist er arbeits- und obdachlos. Hinzu kommt, dass, wie wir im Laufe des Films erfahren, auch noch sein Boxtrainer verstorben ist. Zusätzlich hat er seinen fünfjährigen Sohn Sam »an der Backe«, weil dessen Mutter, dies wird angedeutet, wohl wegen eines Drogendeliktes einsitzt. Um ihn muss er sich nun kümmern, was er mehr schlecht als recht tut. Den einzigen Ausweg sieht er darin, zu seiner älteren Schwester Anne zu fahren, die im glamourösen Antibes an der Côte d’Azur wohnt und dort in einem Supermarkt arbeitet. Sie lebt freilich nicht im Antibes der Reichen, sondern im Antibes der Armen, in einem heruntergekommenen Hinterhof. Seit Jahren hat er sie nicht gesehen, entsprechend kühl fällt der Empfang aus. Sein Leben, das wird schon in der Anfangsszene deutlich, ist ein ständiger Überlebenskampf. Die Außenwelt wird als Feindesland wahrgenommen, von dem man sich nehmen muss, was man gerade kriegt. Im kleinianischen Sinne ist Ali gefangen in der paranoid-schizoiden Position. Weil er kein Geld hat, um Nahrung für sich und seinen Sohn zu kaufen, durchwühlt er im Zug die Abfalleimer, um sich von dem, was die Wohlstandsgesellschaft übrig lässt – und das ist nicht wenig – zu ernähren. Was er findet, wird hastig heruntergeschlungen, »gefressen«. Im Kampf ums Überleben scheut er auch vor Delinquenz nicht zurück. Einen Moment der Unachtsamkeit in einem Fotogeschäft nützt er aus, um eine Kamera zu klauen und mit einem beherzten Sprung über die Barriere zu türmen.

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Hier zeigt sich etwas Grundsätzliches. Auch wenn er sich sonst auf nichts verlassen kann, auf seinen Körper scheint immer Verlass zu sein, in jeder Hinsicht. Freilich erstaunt auch, was er mit dem Erlös der Kamera anfängt. Er kauft seinem Sohn Geschenke, überschüttet ihn geradezu. Sein Verhältnis zu ihm ist gespalten, mal zärtlich fürsorglich, mal ruppig, mal verantwortungslos vernachlässigend. Diese kontradiktorischen Aspekte seiner Beziehung zu seinem Selbst und den Objekten wirken unverbunden. Über einem Quickie mit einer Unbekannten vergisst er schon mal seinen Sohn und holt ihn eine Stunde zu spät vom Hort ab. Überhaupt gewinnt man den Eindruck, dass es in seinem Leben weder Vergangenheit noch Zukunft, sondern nur Gegenwart gibt. Diese Abspaltung ist, wie wir alle wissen, typisch für Menschen mit struktureller Beeinträchtigung. Libidinöse und aggressive Impulse können nicht aufgeschoben, kontrolliert oder gar sublimiert werden. Sie müssen immer sofort ausgelebt werden. Im freudianischen Sinne steht Triebbefriedigung im Vordergrund. In manchen Szenen des Films hat man den Eindruck, ein menschliches Raubtier, eine »Bête Humaine«, vor sich zu haben, immer präsent und bereit zum Beutefang und zum Angriff, ein menschliches Pulverfass. Dies betrifft auch weibliche Beute, die ihn, nachdem er sie erlegt hat, nicht mehr weiter interessiert. Seine Bedürfnisse nach menschlicher Bezogenheit und Bindung scheinen abgespalten zu sein. Sozialpsychologisch gesehen ist er ein Mann, der den Überforderungen der Moderne mit Urinstinkten begegnet: Seine Muskeln, seine Fäuste, sein Schwanz, das ist die einzige Währung, mit der er im entfesselten Kapitalismus noch bezahlen kann. Männer wie Ali bleiben früher oder später auf der Strecke, landen im Knast oder finden einen frühen Tod oder sie schließen sich, wie die jüngste Entwicklung gezeigt hat, radikalen fundamentalistischen Gruppierungen an. Alis Ich ist in erster Linie ein Körper-Ich. Essen, Laufen, Kämpfen und Sex stehen im Vordergrund, sind seine selbstverständliche innere Realität, alles andere steht im Hintergrund. Der ihm von seiner Schwester Anne besorgte Job als Türsteher in der Diskothek »Annexe« ist ihm auf den Leib geschnitten, weil er dort sowohl seine fürsorglichen als auch seine aggressiven Impulse ausleben kann und es ihm den Zugang zu weiblicher Beute erleichtert, die sich ja vielleicht erkenntlich zeigt für seinen Schutz und seine Fürsorge.

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Dies zur psychischen Ausgangsposition Alis vor der lebensverändernden Begegnung mit der grazilen, attraktiven Stephanie. Stephanie ist Dompteuse von Orcawalen im Marineland von Antibes. Mit rhythmischen Armbewegungen animiert sie die riesigen Prädatoren, die bis zu neun Metern groß und sechs Tonnen schwer werden, zu Kunststücken, begleitet von Diskoklängen von Kate Perry. Orcawale, auch Killerwale genannt, weil sie mit ihrem furchterregenden, aus vierzig dicht beieinanderstehenden kräftigen Zähnen u. a. kleine Delfine, Zwergwale und Grauwale erlegen, sind in der freien Wildbahn für den Menschen ungefährlich. Das gilt jedoch nicht für die nicht artgemäß in engen Bassins gehaltenen Tiere. Hier kam es und kommt es immer wieder zu für den Menschen tödlichen oder mit schweren Verletzungen endenden Attacken. Stephanie genießt diesen Kitzel, das Spiel mit der Gefahr, ihre Macht über die riesigen Tiere. Auch hier klingt das Thema des Films »La Belle et la Bête« an. Nicht nur beruflich, sondern auch im Privaten sucht sie ständig den »Thrill«. Im »Annexe« ist sie die Discoqueen, im superkurzen Minirock macht sie die Männer an, setzt ihren makellosen Körper als Waffe ein, genießt das Begehren der Männer, ihre Macht über sie und lässt die »Fische«, die angebissen haben, dann an der langen Leine zappeln, weil sie von dem, was danach geschieht, gelangweilt ist, wie sie Ali später in einem Gespräch offenbart. Auch dieses Spiel ist keineswegs gefahrlos, was sich in einer Szene vor dem Aufeinandertreffen mit dem Türsteher Ali zeigt: Ein Zurückgewiesener attackiert sie, stößt sie zu Boden, verletzt sie. Stephanies unbewusster Lebensstil ist im Sinne Adlers von einem hysterioiden narzisstisch getönten Machtstreben geprägt. Weitgehend abgespalten sind Bedürfnisse nach Bindung, Sicherheit und Bezogenheit. Sie lebt zwar mit einem Mann zusammen, der geduldig zu Hause wartet, während sie auf ihren nächtlichen Streifzügen unterwegs ist. Sie verachtet ihn aber dafür. Die Beziehung hat, das spürt man sofort, keine Zukunft. Wenn man Ali und Stephanie hinsichtlich ihres strukturellen, psychischen Strukturgrades vergleicht, wird deutlich, dass sich Stephanie auf einem wesentlich höheren Niveau bewegt. Im Vergleich zu Ali ist Stephanie reflexions- und mentalisierungsfähiger. Ihre Körperlichkeit trägt narzisstische Züge, dient der Selbsterhöhung. Über ihren Körper

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erfährt sie narzisstische Gratifikation. Triebbefriedigung ist sekundär. So hat sie eine Vorstellung von Liebe und der Gestaltung von Beziehungen, auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich liebesfähig ist.

Erste Begegnung Ihre erste Begegnung im »Annexe«, jenem Club, in dem Ali soeben einen Job als Türsteher und Rausschmeißer bekommen hat, ist flüchtig (Audiard, 2012/2013, DVD 00:13:08–00:15:10). Ali befreit Stephanie aus einer misslichen Lage. Sie wurde, wie gerade schon erwähnt, von einem vermutlich angetrunkenen, männlichen Gast zu Boden gestoßen, liegt verletzt auf dem Asphalt. Er leistet Erste Hilfe, hält die männlichen Aggressoren fern und fährt sie nach Hause. In seiner Haltung kommt eine gewisse Fürsorglichkeit zum Ausdruck, aber auch ein Spekulieren auf einen möglichen Nutzen, auf Sex als Dank für die erwiesenen Dienste. Unverhohlen starrt er bei der Heimfahrt auf die nackten, blutverschmierten Beine Stephanies. Er meint, dass sie ja wohl nicht in erster Linie zum Tanzen in die Disko gekommen wäre, sonst würde sie sich nicht so nuttig kleiden. Schon in dieser Szene kommt die naiv anmutende Offenheit und Ehrlichkeit Alis zum Ausdruck. Wenn er überhaupt spricht, dann unzensiert; es kommt das heraus, was gerade in seinem Kopf ist. Kann er die interpersonellen Folgen nicht abschätzen oder will er es nicht? Stephanie reagiert kühl. Die ungehobelte, primitive Art Alis stößt sie ab. Welten trennen die stolze Partyqueen und den primitiven Kraftprotz. Am Schluss der Begegnung drängt Ali Stephanie seine Telefonnummer auf, für den Fall, dass sie ihn einmal brauche. Noch ahnt Stephanie nicht, dass dies bald der Fall sein wird.

Der Unfall Doch dann kommt es zu einer traumatischen Katastrophe im Leben Stephanies (00:20:08–00:21:40). Bei einer Show, vielleicht in einem Moment der Unachtsamkeit, wird sie von den riesenhaften Tieren vom

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Beckenrand ins Becken gerissen, ihre makellos schönen Beine werden vom Oberschenkel abwärts abgetrennt, übrig bleiben zwei Stümpfe.

Die Verarbeitung des Traumas Stephanie wird von einem Moment zum nächsten aus dem für sie normalen Leben gerissen. Sie verliert das, was sie ganz wesentlich ausmachte, worauf sie stolz war, ihre Körperlichkeit. Mit ihrem Restkörper kann sie zunächst nichts anfangen. Voller Verzweiflung schreit sie im Krankenhaus, als sie aus der Narkose aufwacht, die noch angeschlossenen Schläuche hinter sich herziehend: »Was habt ihr mit meinen Beinen gemacht?« (00:25:00–00:25:10) Sie ist zunächst suizidal. Später sehen wir sie, zutiefst deprimiert in der Reha im Rollstuhl sitzen. Ihr Blick ist ins Leere gerichtet, so wie auch in ihr selbst nur Leere herrscht. Sie wird rührend umsorgt von einer treuen Freundin, was ihre Depression aber eher noch verstärkt, weil ihr, deren Lebensstil durch ein betontes Streben nach Autarkie und Autonomie gekennzeichnet war, dadurch die eigene Abhängigkeit und Angewiesenheit auf die Hilfe anderer Menschen noch schmerzhafter spürbar werden. Allein in ihrer abgedunkelten Wohnung sitzend, ruft sie Ali, der inzwischen bei einem Sicherheitsdienst angeheuert hat, an. Vielleicht tut sie dies gerade auch deshalb, weil sie ahnt, dass sie von ihm kein Mitleid, keine Empathie zu erwarten hat. Und in der Tat, als Ali kommt, nimmt er ihre versehrten Beine zwar wahr, aber es scheint für ihn ganz normal zu sein, keines weiteren Kommentars wert. Er begegnet ihr ohne Mitleid. An dieser Stelle wird »Der Geschmack von Rost und Knochen« zu einer Variation des französischen Kassenschlagers »Ziemlich beste Freunde«. In beiden Filmen können nur die Nicht-Empathischen den schwerstbehinderten Helden wirklich helfen. Warum? Weil sie dem Tetraplegiker Philippe in »Ziemlich beste Freunde« und der unter­ schenkel­amputierten Stephanie in »Der Geschmack von Rost und Knochen« ein Stück Normalität zurückgeben. In »Ziemlich beste Freunde« wird viel gesprochen, in »Der Geschmack von Rost und Knochen« herrscht überwiegt hingegen beredtes Schweigen – gerade das macht den Film so beeindruckend.

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Zunächst wirkt Ali ein wenig ratlos, doch dann kommt er instinktiv auf die Idee, sie aus dem abgedunkelten Apartment mit nach draußen in die Sonne zu nehmen, zur Strandpromenade. Nicht aus humanitären Erwägungen, sondern einfach, weil er Lust dazu hat. Als sie an der Strandpromenade sitzen, beschließt er spontan, ins Wasser zu gehen, und fragt sie: »Kommst du mit?« »Ist dir klar, was du da eben sagst?«, fragt sie zurück (00:37:00–00:37:30). Das ist es Ali vermutlich eben nicht. Doch, animiert von seinen lustvollen Bewegungen im Wasser, kommt sie mit, lässt sich von ihm ins Wasser tragen (00:39:01– 00:42:20). Ali macht dies, als ob es nichts Selbstverständlicheres, nichts Schöneres gebe, als eine Frau mit Stümpfen vor aller Augen ins Wasser zu tragen. Und in der Tat empfindet Stephanie, als sie in das glitzernde Nass gleitet, so etwas wie Glück. Es ist wunderbar, mit anzusehen, welches Vergnügen es ihr bereitet, sich wieder in dem Element bewegen zu können, das mit der größten Katastrophe ihres Lebens vor einigen Monaten verbunden ist. So beginnt sowohl ihre gemeinsame Geschichte als auch die Verarbeitung und Überwindung ihres Traumas, die Wiederaneignung ihres versehrten Körpers. Stephanie bekommt wieder Lust auf das Leben und auf sich selbst. Dies ist zweifellos die schönste Szene des Films, in der Audiard an die Legende von Offerus anknüpft, dessen Erscheinung in der christlichen Überlieferung alle erschreckte, die ihm begegneten. Auf Gottes Anruf hin sollte er anstelle eines Fährmanns Reisende über einen Fluss tragen: »Eines Tages nahm er ein Kind auf die Schulter, um es über den Fluss zu tragen. Zunächst war das Kind sehr leicht, aber je tiefer Offerus in die Furt stieg, desto schwerer schien es zu werden. In der Mitte des Stromes keuchte Offerus schließlich: ›Kind, du bist so schwer, als hätte ich die Last der ganzen Welt zu tragen!‹ Das Kind antwortete: ›Wie du sagst, so ist es, denn ich bin Jesus, der Heiland. Und wie du weißt, trägt der Heiland die Last der ganzen Welt.‹ Am anderen Ufer angelangt, setzte Offerus das Kind ab, worauf das Kind zu ihm sagte: ›Du hast den Christ getragen, von jetzt an darfst du Christofferus heißen.‹« (Christophorus, o. J.)

Diese Tat Alis ist der erste Schritt auf dem Weg zur Wiederaneignung ihres Körpers und zur Überwindung der Spaltung des Körperselbst. Der verhasste, versehrte Körper wird zumindest für Momente auch wie-

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der zum guten Körper, der Stephanie mühelos durch die glitzernden Meeres­wellen trägt. Ein zweiter Schritt folgt bald. Sie lässt sich ihre Oberschenkel tätowieren, den einen mit dem Wort »gauche« (links), den anderen mit dem Wort »droite« (rechts). Dies erscheint zunächst als relativ oberflächliche Sinngebung, die der Film uns jedoch weitergehend verstehen lehrt: Die Tätowierung ist Symbol für eine neue Selbstfindung, für die Akzeptanz ihrer Behinderung. Auch in einer weiteren Hinsicht hilft Stephanie die nicht-empathische, Gefühle negierende Haltung Alis. Mir kommt in diesem Zusammenhang ein Songtitel von Chris Lowe in den Sinn: »You have to be cruel to be kind« (»Man muss grausam sein, um freundlich zu sein«). Seit dem Unfall fühlte Stephanie sich nicht mehr als Frau, sozusagen geschlechtslos. Sexualität ist für sie, wie in einem Gespräch mit Ali deutlich wird, den sie nach seinem Sexualleben befragt, in den Bereich des Unvorstellbaren gerückt. Sie hatte dabei offensichtlich nicht mit der Reaktion Alis gerechnet, der ihr kurzerhand vorschlägt, einfach auszuprobieren, ob es noch funktioniert. Nach kurzem Zögern willigt sie ein. Es funktioniert. Hilfreich für sie ist Alis Einstellung zur Sexualität. Sexualität ist für ihn nur eine körperliche Funktion, ein Bedürfnis, das nichts mit Gefühlen oder Bindung zu tun hat. So ist es für ihn auch kein Problem, mit einer Behinderten zu schlafen. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine Selbstverständlichkeit für ihn, es ist normal. Frau ist Frau. Ebenso normal ist es für ihn, dass er bis dahin keine Liebesbeziehung zu einer Frau eingegangen ist. Beim Abschied sagt er, dass er fast immer »opé« sei. Dies ist, wie uns das PONS-online Wörterbuch sagt, die Abkürzung für ein »offre publique d`échange«, ein öffentliches Umtauschangebot. In seinem Verständnis bedeutet dies: jederzeit sexuell funktionsbereit zu sein, falls sie das wünscht. Ein Anruf oder eine Nachricht würden genügen. Stephanie beginnt sich allmählich in Ali zu verlieben, eine Bindung zu ihm aufzubauen. Sie erlebt sich wieder als Frau, was ihr Selbstwertgefühl immens stabilisiert. Wenn sie Ali anruft und er nicht antwortet – meist weil er gerade mit einer anderen Frau zugange ist –, leidet sie. Wohl zum ersten Mal erlebt sie sich im Kontext der Geschlechterbeziehungen als abhängig. Man kann sehen, wie sie damit ringt, dies zu ertragen. Dieser innere Kampf, das Aushalten extremer Spannungsgefühle, führt zu einem großen psychischen Wachstum. Ein wunder-

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barer Aspekt dieses Films ist es, dass er uns teilhaben lässt an diesem Wachstumsprozess von der oberflächlichen Diskoqueen zur leidgeprüften, gereiften Frau. Die Beziehung zu Ali intensiviert sich auch dadurch, dass sie ihn bei seinen gut dotierten nebenberuflichen Aktivitäten begleitet. So lernt auch sie den zwielichtigen Martial kennen, der mit Ali in einem Sicherheitsdienst zusammenarbeitet. Mit ihm und unter seiner Anleitung installiert Ali Kameras zur Überprüfung des Personals in Supermärkten. Durch Martial kommen beide auch in Kontakt mit der illegalen Szene der »Free« oder »Ultimate Fighters« (freie und zum letzten entschlossene Kämpfer), deren »Locations« (Treffpunkte) am Stadtrand, unweit von Schrottplätzen liegen (daher wohl auch der Titel »Der Geschmack von Rost und Knochen«). Im »Free« oder »Ultimate Fighting« gehen die Kämpfer ohne Schutz aufeinander los. Es ist fast alles erlaubt, außer Beißen und in die Augen stechen. Gekämpft wird, bis einer k. o. geht oder aufgibt. Ali ist hier endgültig in seinem Element, seine Wut auf ein im Grunde verpfuschtes Leben verschiebt sich auf den jeweiligen Gegner. Für Stephanie aber ist es die heilsame Wiederkehr der animalischen Kraft, die ihr Leben versehrt hat. Ali nimmt für sie die Rolle der Killerwale ein, die Rolle wilder Tiere, die sie vom vermeintlich sicheren Rand des Geschehens aus beobachtet und zu kontrollieren versucht. Im Verlauf des Films wird Stephanie nun zu Alis Managerin, weil Martial aufgrund seiner illegalen Machenschaften untertauchen muss. Ihre Entwicklung geht jedoch nicht mit seiner einher. Nach einem erfolgreichen Kampf fahren beide zusammen in das »Annexe«, den Ort, an dem sie sich kennengelernt haben. Der triebgesteuerte Ali lässt Stephanie hier aber einfach stehen, geht auf die Tanzfläche und zieht zum Leidwesen und zur Demütigung Stephanies mit einer hübschen Blonden mit makellosen Beinen von dannen.

Regression und Veränderung Im weiteren Verlauf (01:41:02–01:49:18) ist Stephanie dann aber doch bereit, Ali zu vergeben und die Beziehung mit ihm fortzusetzen, jedoch nur unter einer Bedingung: dass sie mit Feingefühl und Respekt weiter-

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geführt werde. Er habe dieses Feingefühl, meint sie, auch wenn er es verstecke. Wie immer sagt Ali wenig, möchte das Ganze bagatellisieren und neutralisieren, als normal abtun; aber dennoch spürt man, dass die Worte Stephanies wirken, dass er ihre Verletzung versteht. Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu. Alis Schwester wird aufgrund von Aufnahmen der Kameras, die er unter Anleitung Martials installiert hatte, entlassen. An diese möglichen Folgen seines Handelns hatte er, befangen in seinem nur dem Augenblick verhafteten Lebensstil, nicht gedacht. Seine wutentbrannte Schwester wirft ihn raus. Ali reagiert lebensstilspezifisch im paranoid-schizoiden Modus: Er fährt, ohne sich von seinem Sohn oder Stephanie zu verabschieden, in ein Boxercamp in die Vogesen – einen Ort der Sicherheit für ihn. Aber dennoch hat sich etwas in ihm verändert. Das sieht man an seiner unbändigen Freude, als er seinen Sohn, der vom Lebensgefährten seiner Schwester zu ihm gebracht wird, wiedersieht. Endlich ist er zu Gefühlen fähig. Doch das Idyll zwischen Vater und Sohn, die in den winterlichen Vogesen herumtollen und auf der Eisfläche eines Sees ihren Spaß haben, ist trügerisch. Wieder ist es ein Mangel an Voraussicht, der ein Verhängnis heraufbeschwört. Als Ali fahrlässig, weil er austritt, seinen Sohn Sam unbeaufsichtigt lässt, bricht dieser in der Eisfläche ein. Es ist sehr bewegend, wie Ali verzweifelt mit der Kraft, die ihm der Impuls zur Wiedergutmachung und seine gewachsene Beziehungs­ fähigkeit geben, um das Leben seines Sohnes kämpft, wie er verzweifelt mit der ganzen Kraft seiner mächtigen Fäuste auf das Eis eindrischt und dabei in Kauf nimmt, dass sein einziges Kapital, seine Fäuste, dabei zugrunde gehen. Zum ersten Mal erleben wir bei ihm eine Annäherung an die depressive Position, eine Lockerung seines schizoiden Rückzuges. Dies setzt sich im Krankenhaus fort, als er um das Leben seines Sohnes bangt und ihm zärtlich mit seinen versehrten Händen die Finger streichelt. Als Stephanie anruft, kann er zum ersten Mal über seine Gefühle sprechen, über seine Angst, dass sein Sohn sterben könnte – und sich zu ihr bekennen, zur Bindung an sie. Er möchte, dass sie nicht auflegt. Und das kaum Vorstellbare, Märchenhafte geschieht: Er bekennt sich zu seiner Liebe zu ihr, überwindet zumindest in diesem Augenblick die tief in ihm verankerte Spaltung von Seele und Körper.

Figuren der Spaltung in Kunst und Psychotherapie51

Abspann Der Film »Der Geschmack von Rost und Knochen« ist geradezu ein Paradigma dafür, wie zum einen im Falle Alis eine Menschwerdung im eigentlichen Sinne durch die Kraft menschlicher Bezogenheit – Adler nannte das bekanntlich Gemeinschaftsgefühl – stattfinden kann, und zum anderen, wie das Beispiel Stephanies zeigt, dass dieselbe Kraft entscheidend dazu beiträgt, schwere Traumata zu überwinden. Der schizoide Rückzug liegt immer nahe, weil er Sicherheit vermittelt. Der andere Weg ist psychisch risikoreich und leidensbehaftet. Aber das Leiden lohnt sich. Das gilt auch für unsere therapeutische Arbeit. Zum Schluss möchte ich eine Äußerung Audiards hervorheben, die Wenke Husmann in ihrer Rezension des Films (2012, o. S.) zitiert und die manche eher kopfgesteuerte Analytikerinnen und Analytiker zum Nachdenken anregen könnte: »Der Körper zwingt uns zum Handeln, wie es das Schicksal tut.«

Literatur Audiard, J. (Regie und Drehbuch) (2012/2013). Der Geschmack von Rost und Knochen. Mit M. Cotillard, M. Schoenaerts u. a. DVD (2013). München: Universum Film. Barbot de Villeneuve, G.-S. (2017). Die Schöne und das Biest. Münster: Coppen­ rath. Breuer, J., Freud, S. (1895). Studien über Hysterie. Leipzig: Deuticke. Christophorus (Heiliger) (o. J.). https://de.wikipedia.org/wiki/Christophorus (18.12.2018). Davidson, C. (2005). Rust and Bone. Toronto: Viking Canada. Grotstein, J. S. (1993). Splitting and Projective Identification. New York u. London: Jason Aronson. Husman, W. (2012). Brutaler Blick auf die Schwäche des Körpers. ZEIT-­ online vom 18.5.2012. www.zeit.de/kultur/film/2012-05/cannes-audiard (18.12.218). Stevenson, R. L. (1886/2015). Der merkwürdige Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Stuttgart: Reclam.

Patrick Meurs, Corinna Poholski, Constanze Rickmeyer und Judith Lebiger-Vogel1

Die Anziehungskraft des Extremen in Zeiten der Wandlung und Wanderung: Islamische Radika­ lisierung aus einer psychoanalytischen Perspektive

Zusammenfassung Der Beitrag stellt den islamischen Extremismus in den größeren Rahmen des generellen jugendlich-adoleszenten Angezogenseins durch radikale, »reine« Opposition, Ausdrucksformen und Ideen – gerade in bedrohlichen Zeiten der Gefährdung. Diese Radikalisierungstendenzen können konstruktive gesellschaftliche Veränderungen bewirken, sie können aber – wenn sie bei Spaltung und Amivalenzintoleranz stehen bleiben – (selbst)destruktive, gewalttätige Folgen haben. Die psychoanalytische Traditionslinie (von Bleuler und Freud über Klein und Winnicott bis zu Kernberg, Fonagy u. a.) bietet hier ein starkes Verstehens­ potenzial und das wird auch anhand von Interviews mit islamischen Jugendlichen und Adoleszenten demonstriert. Hinzukommen muss nach Auffassung der Autoren aber ebenfalls der historische Blick einerseits auf die Schattenseiten jeder Religion und anderseits im Falle des Islams auf die psychische Disposition von Menschen und Gemeinschaften, die sich als weltgeschichtlich Herab­ gestufte und als Verlierer und Abgehängte im wissenschaftlich-­technischen Fortschritt fühlen.

Unsere heutige Gesellschaft ändert sich in raschem Tempo. Nicht wenige Menschen reagieren auf diese Veränderungen mit Unbehagen und einer Verunsicherung, deren Ursachen komplex und vielfältig sind. Mit Blick auf den beständigen Wandel und Wechsel der Verhältnisse hält jenes Unbehagen den Menschen letztlich dazu an, sich im Kontext des Transformierenden auf die Suche nach Identität zu begeben und sich im Bleibenden einen Halt zu erhoffen. Einige Menschen suchen innerhalb einer von Fluidität durchzogenen Gesellschaft Halt, Verankerung und Stabilität in radikalen Ideen, denen im Sinne von Idealen an sich durchaus eine kreative Seite beigemessen werden kann. So 1 Der Beitrag ist die erweiterte und überarbeitete Fassung des Vortrags von Patrick Meurs vom 2.11.2018.

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könnte man z. B. die Radikalität der jugendlichen Schulstreikenden oder Schulschwänzenden zugunsten des Klimaschutzes (Greta Thunbergs »Schulstreik für das Klima«) als entwicklungsphasenspezifische Radikalität und überdies als eine radikale, politische Aktion gegen die Drohung des Klimawandels verstehen. Die Anziehung des Extremen und der Radikalität hat also durchaus eine konstruktive Seite und macht notwendige Veränderungen möglich. Radikale Ideen haben beispielsweise dazu geführt, dass in der Vergangenheit die Sklaverei abgeschafft wurde, Diktaturen gestürzt worden sind, demokratische Grundrechte und Frauenstimmrecht errungen werden konnten usw. Andererseits kann jedoch Radikalität auch aus einer Angst resultieren, aus der heraus die Vorstellung von einer einheitlichen Identität als bedroht wahrgenommen und ihr Verlust oder ihre »Unreinheit« befürchtet wird. Diese Angst führt schließlich zu radikalen Ideen und Handlungen, die darauf zielen, die sich verändernde Gesellschaft zu »säubern« und eine reine, nicht-kontaminierte Identität anzustreben. Unter gewissen Umständen können diese Säuberungsideen und ­-haltungen dazu führen, dass sich ein auf Angst gründender Radikalismus gegen diejenigen oder dasjenige richtet, die bzw. das diese »Unsauberkeit« verkörpert. Diese Dynamiken der Radikalität können in sehr unterschiedlichen Kontexten und in einer Vielzahl politischer Haltungen untersucht werden – wie beispielsweise in Bezug auf (Rechts-)Extremismus oder Antisemitismus. In diesem Beitrag wird der islamische Radikalismus unter die Lupe genommen und sowohl im Hinblick auf die Suche nach einer »reinen«, »sauberen« islamischen Identität innerhalb einer sich wandelnden westlichen Gesellschaft wie auch vor dem Hintergrund seiner gewaltbereiten Formen des Terrors betrachtet. Dabei wollen wir nicht aus dem Blick verlieren, wie Gruppendynamiken gewisse Formen des islamischen Radikalismus noch mehr ins Extreme befördern und sich entsprechend eines extremen Zwangs zur »Säuberung« in einem extremen Aufruf zur Gewalt manifestieren können. Psychoanalytische Konzepte wie Spaltung, Ambivalenz und Integration spielen für das Verstehen der Anziehungskraft des Extremen in Zeiten des Wandels eine bedeutende Rolle. Es sind nicht nur entwicklungspsychopathologische Konzepte; es sind menschliche Reak-

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tionen, die unter bestimmten, drohenden oder besonders verletzenden Umständen für jeden Menschen erfahrbar werden können und von enormer Relevanz sind, wenn sie nicht nur als persönliche Reaktionen, sondern überdies als Konzepte mit gesellschaftspolitischer und historischer Bedeutung verstanden werden.

Spaltung, Ambivalenz und Integration: Grundbegriffe der psychoanalytischen Entwicklungspsychopathologie und Grundformen des menschlichen Daseins Spaltung, Ambivalenz und Integration waren die drei Kernbegriffe der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie im November 2018 in München. Das Ambivalenzkonzept erscheint im Zusammenhang mit dem Thema der Tagung dabei als das zentrale Konzept, wenn wir, Kernberg (1980) folgend, davon ausgehen, dass Patientinnen und Patienten innerhalb des therapeutischen Prozesses von einer Spaltung zur Integration erst über das Moment der Ambivalenz gelangen.

Spaltung, Ambivalenz und Integration in entwicklungspsychopathologischer Perspektive Aus psychoanalytisch-entwicklungspsycho(patho)logischer Perspektive (Fonagy u. Target, 2003) lässt sich die Spaltung als Abwehrvorgang der prä-neurotischen Störungen, die partielle Objektbeziehung und die teilperspektivische (auch egozentrische) Sichtweise als Funktionsweise der prä-ödipalen Entwicklungsphasen verstehen (Klein, 1983). Das Zusammenbringen (verbinden) sowie das abwechselnde Aktivieren von Teilaspekten einer ganzen Objektbeziehung oder aber von kontrastierenden psychischen Elementen sind dabei typisch für ödipale Entwicklungen. Ausgeprägte Ambivalenzen und Disparitäten als neurotische Charakteristika hingegen weisen darauf hin, dass die Integration von kontrastierenden Elementen hin zu einer einheitlichen Objektbeziehung noch nicht gelingen kann. Dabei ist gerade die Integration aber ein zentraler Aspekt der post-ödipalen psychischen Gesundheit oder Kreativität. Durch sie ist

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das Subjekt nunmehr fähig, mehrere (auch kontrastierende) Objekt­ beziehungen sowie psychische Vorstellungen vom Selbst und vom Objekt hierarchisch zu organisieren, sodass unterschiedliche psychische Perspektiven weniger wechselhaft oder antagonistisch in den Vordergrund treten, sondern einander nuancieren oder gar bereichern können. In diesem Sinne bedeutet Postödipalität sogleich, dass bestimmte, destruktive Aspekte (wie beispielsweise Aggressionen in einer Bindungsbeziehung) im Hintergrund gehalten werden können, wodurch die Kontinuität der libidinösen Tendenzen in Objektbeziehungen und in Bezug auf die Selbsterfahrung nicht immer wieder von neurotischen Ambitendenzen durchkreuzt wird, wie es bei neurotischen Störungen der Fall sein kann. Auch wird auf diese Weise einer Verkehrung idealisierter, liebevoller Versionen vom Objekt und vom Selbst in devalu­ ierte, destruktive Versionen vorgebeugt, wie es sich bei prä-neurotischen Störungen äußern kann. Diese Perspektive auf Spaltung, Ambivalenz und Integration differenziert prä-ödipale, ödipale und post-ödipale Mechanismen und unterscheidet hierbei deutlich zwischen normalen Entwicklungen und pathologischen Mechanismen dieser drei Entwicklungsniveaus. Besonders eindrücklich lässt sich diese Unterscheidung bei Personen beobachten, die sich einem radikalen Weltbild verpflichten und sich durch die Abwendung von einer für sie bedrohlich erscheinenden Welt zu einer idealisierten Welt hinwenden. Bei radikal islamisierten Personen sind manchmal extreme (neurotische) Ambivalenzen unserer Gesellschaft gegenüber zu bemerken, bei manchen Personen zeigen sich hingegen (prä-neurotische, borderlineartige) Spaltungsmechanismen, die teilweise bis hin zu Ausbrüchen von Gewalt im Rahmen eines extremen Schwarz-Weiß-Weltbildes führen können.

Spaltung, Ambivalenz und Integration als Phänomene des menschlichen Daseins Obwohl sich diese Beschreibung von Normalentwicklung und Pathologie im Hinblick auf prä-ödipale, ödipale und post-ödipale Varianten für psychoanalytische Therapeutinnen und Therapeuten als fruchtbar erweist, bedarf es jedoch einer zusätzlichen Perspektive, um das ­extrem

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gespaltene und rigide aufgeteilte Weltbild radikalisierter Personen verstehen zu können – ein Weltbild, das so extrem und rigid ist, dass es über ambivalentes Ausgrenzen und Abwerten der westlichen Gesellschaft hinaus sogar destruktives Bestreiten und Vernichtenwollen dieser Gesellschaft zulässt. Unter Berücksichtigung dieser Perspektive werden wir die Spaltung bzw. das gespaltene Weltbild zunächst nicht als prä-ödipalen Mechanismus, sondern als allgemein menschliches Potenzial betrachten. Auf eine islamische Radikalisierung kann sowohl vor psychopathologischem Hintergrund geblickt werden, durchaus darf dabei aber die gesellschaftliche und historische Prekarität der Radikalisierten nicht außer Acht geraten. Vielmehr ist die Erfahrung der Bedrohung oder der narzisstischen Kränkung des islamischen Weltbilds zu kontextualisieren und innerhalb ihrer Begegnung mit der westlichen Welt und der Moderne zu betrachten. Die zwanghafte Frommheit und die aggressive Radikalisierung als mögliche Antworten auf diese Bedrohungen und Kränkungen gilt es auch psychoanalytisch zu verstehen. Wenn man, entsprechend des psychoanalytischen Menschenbildes, davon ausgeht, dass Psychopathologie und Normalität nicht immer scharf voneinander zu trennen sind, kann man Spaltung, Ambivalenz und Integration nicht primär als charakteristisch für unterschiedlich strukturierte Persönlichkeiten betrachten, sondern als Prozesse und Verarbeitungsmodalitäten von Menschen im Allgemeinen. In ernsthaften Konflikten oder Lebenskrisen – wenn uns der Boden unter den Füßen weggerissen wird und der Rahmen unseres Lebens ins Wanken gerät – geht das Urvertrauen (Basic Trust) oder das Vertrauen in das Gute, in die Sinnhaftigkeit des Lebens sowie in die Verfügbarkeit der anderen (Epistemic Trust) oftmals eine Zeit lang verloren. Folglich besteht die Gefahr, auch dann auf gespaltene »Schwarz-Weiß«-Pers­ pektiven und Ambivalenzen zurückzufallen, wenn zuvor bereits reifere Abwehr- und Copingmechanismen gezeigt wurden und keinerlei Anzeichen von Borderline- oder anderen prä-ödipalen Störungen nachgewiesen werden konnten. Ein Rückfall in Spaltungen ist meist jedoch zeitlich begrenzt und trägt überdies bereits eine Öffnung in Richtung einer neuen Integration in sich – insbesondere dann, wenn der im Leben Sicherheit bietende Rahmen wiederhergestellt werden kann und man zuvor in der Lage

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war, Ambivalenzen zu tolerieren. Bei Melanie Klein (1935/1975) wird solch eine vorübergehende und nicht extreme Spaltung, die auf Weiterentwicklung und Integration geöffnet ist, eine »durchlässige« Spaltung genannt (siehe Petot, 1982: »clivage permeable«, »clivage poreuse«). »There are great variations in the strenght, frequency and duraction of the splitting processes« (Klein, 1952/1975, S. 66). »It seems that the unification of love and hate, real and imaginary objects, is carried out in such a way that each step in the unification leads to a renewed splitting of imagos. But, as the adaptation to the external world increases, the splitting is carried out on planes which gradually become increasingly nearer and nearer to reality. This goes on until love for the real and the internalized objects and trust in them are well established« (Klein, 1935/1975, S. 288). »[Splitting] which is a safeguard against one’s own hate and against the hated and terrifying objects, will in normal development again diminish in varying degrees« (S. 287 f.). Unter bestimmten Umständen (z. B. nach extremen Traumatisierungen und kumulativen Verlusten oder wenn die prä-ödipalen Anteile der Persönlichkeit zu viel Einfluss nehmen) kann die Spaltung ein stabilisierender Faktor im Kampf gegen Fragmentierungs- und Vernichtungsängste sein. Für Menschen, die über eine längere Zeit unter besonders schwierigen Umständen leben mussten (z. B. in von Chancenlosigkeit geprägter Armut oder im Rahmen von massiven und wiederholten Traumatisierungen vor, auf sowie nach einer Flucht) oder unter extremen narzisstischen Wunden leiden (z. B. Bevölkerungsgruppen, die in der Geschichte immer wieder »aus dem Rahmen fallen« oder von Verfolgung bedroht sind; Menschen, die wiederholt in ihrem Leben missbraucht wurden; Familien, in denen es über Generationen hinweg zu Missbrauch und Vernachlässigung kam; Menschen, die besonders schwere historisch-kulturelle oder familiäre Erben in sich tragen usw.), kann die Konfrontation mit Fragmentierungs- oder Vernichtungsängsten so bedrohlich werden, dass im Erreichen einer (nicht durchlässigen) Spaltung (Petot, 1982: »clivage impermeable«, »clivage non-poreuse«) potenziell ein sicherer Hafen gefunden werden kann, der das Individuum gegen die Bedrohungen, die solche fundamentalen und fragmentierenden Ängste mit sich bringen, zunächst schützen kann.

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Rigide Spaltung als Abwehr gegen Fragmentierung und Annihilierung Die Fragmentierung oder Annihilierung wird von bestimmten Personen in bedrohlichen Situationen jedoch nicht unmittelbar als Angst erfahren, sondern vielmehr mit der Realität gleichgesetzt. Die drohende Wiederkehr des Abgespaltenen (z. B. die Angst vor einer Retraumatisierung, Reviktimisierung oder vor einem Wiedererleben des Traumas) führt dazu, dass rigid sich abzeichnende Spaltungen nicht gelockert oder losgelassen werden. Die Gefahr der Fragmentierung oder Vernichtung führt schließlich dazu, dass keine Ambivalenz erlebt und schon gar nicht toleriert werden kann und dass der Weg zu einer Integration verschlossen bleibt. Die Mechanismen der rigiden Spaltung verhindern dabei jegliche Integration von Negativität, weil sie nicht als Beimengung von Positivität erscheint, sondern sich als so machtvoll darbietet, dass sie im Versuch zur Integration und zur Nuancierung die positiven Vorstellungen von Selbst und Objekt völlig zu vernichten imstande ist. Die Spaltung wird dabei zu einer Art Schutzmaßnahme für die geschwächten positiven Bilder vulnerabler Personen unserer Gesellschaft. Im Rahmen dieser Spaltung können positive Vorstellungen aufrechterhalten werden, die sonst weiter vernichtet würden, wenn in die extrem idealisierten Vorstellungen ambivalente Aspekte integriert würden. Für Personen, deren Leben sich im Schatten von persönlichen, familiären oder geschichtlich-kulturellen Traumatisierungen abspielt, bietet die Spaltung – und das bis ins Extreme gehende Schützen sowie das weitere Ausbauen dieser Spaltungen – manchmal einen Schutz vor tiefer liegenden Fragmentierungs- und Vernichtungsängsten bzw. einen Schutz gegen das, was Rosenfeld (1962) als »confusional affective states« versteht: eine unerträgliche Kontaminierung der idealisierten Vorstellungen durch negative Aspekte. Diese Kontaminierung enthält die Drohung der Vernichtung der (geschwächten) positiven Vorstellungen, weshalb die Spaltung zusätzlich gestärkt werden muss. Innerhalb dieser extremen Form der Spaltung wird das gute Objekt noch stärker idealisiert und von potenziellen negativen Aspekten abgeschirmt. Umgekehrt wird das schlechte Objekt noch negativer vorgestellt, sodass mit der Vernichtung des schlechten Objekts schließlich eine ultimative Lösung imaginiert wird. Innerhalb dieses Weltbildes ist die Begeg-

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nung mit und Integration von negativen Vorstellungen des idealisierten Objekts undenkbar. Die negative Seite des Weltbildes muss immer weiter zementiert werden. Wenn sie jedoch näher zu kommen droht, wird sie anderen zugeschrieben und mit dem Anderen, dem Fremden bzw. mit dem Feind vernichtet. Der geschützte, positive Teil der Spaltung wird durch Idealisierung und radikale Verneinung jeglicher Realitäten, die das gespaltene Weltbild (mit ihren idealisierten Personen) infrage zu stellen drohen, zusätzlich verstärkt. Es kommt zu einer kritiklosen Akzeptanz von Vorstellungen, die diese Spaltung bekräftigen, auch wenn diese Vorstellungen lediglich auf sogenannten »Fake News« basieren. Lerner und Lerner (1977) beschreiben, wie bei diesen Personen das Erreichen einer stabilen Spaltung (»stable, rigid splitting«) als ein Ziel angesehen werden kann, das ihnen Halt bietet. Eine Perspektive, die Ambivalenz beinhaltet, kann dabei oftmals nicht erreicht oder toleriert werden, weil sie das Risiko der chaotischen Zersplitterung (»chaotic splitting«) in sich trägt und eine Fragmentierung bzw. Verwirrung zur Folge haben kann. In unseren Gesprächen mit sich radikalisierenden Jugendlichen (aus den Jahren 2015–2016), die gerade davor waren, nach Syrien abzureisen oder – sehr aktuell – mit nach Europa heimgekehrten Bräuten von getöteten IS-Kämpfern oder aber in Medieninterviews mit IS-Streitern, die bis heute in den kurdischen Gefangenenlagern in Syrien und im Irak untergebracht sind, wird diese Gefahr von Fragmentierung und Vernichtung besonders deutlich. Auch zeigen sich vor diesem Hintergrund Verzweiflung bzw. Verwirrung über den Verlust des idealisierten Weltbildes des Kalifats sowie Bemühungen, jenes Ideal wiederherzustellen (»Das Kalifat wird in Zukunft glorreich wiederhergestellt werden«). Extreme Abwertung des Selbst (»Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, damals nach Syrien zu gehen, ich war so dumm«) und extreme Verneinung des Verlustes des Ideals (»Das Kalifat wird bald wiederhergestellt«) deuten an, dass auch, wenn die letzten Fragmente des Kalifats in Syrien fallen, die Spaltungsmechanismen der verletzlichen Streiter nicht an Kraft eingebüßt haben – ganz im Gegenteil! Es handelt sich also zunächst weniger darum, radikalisierte Personen darin zu unterstützen, eine Ambivalenz(toleranz) und Integration zu entwickeln; vielmehr ist das Augenmerk darauf zu richten, ihnen neue Möglichkeiten der Idealisierung anzubieten und bestimmte Spal-

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tungen zu ermöglichen, die im Zeichen des nicht gewaltbereiten (und manchmal zur gleichen Zeit ambivalenten) Engagements innerhalb der Gesellschaft stehen. Hierbei ist die Frage, inwiefern man einer Person eine Idealisierung des Islam zugestehen kann, die auf dem Studium des Korans gründet und sich auf Frieden und einen interreligiösen Dialog hin ausrichtet. Hat der deutsche Direktor des Londoner »Institute on Islam and Radicalisation«, Peter Neumann, Recht, wenn er behauptet, dass die Deradikalisierung von bestimmten jugendlichen, islamischen IS-Anhängern eigentlich als Re-Radikalisierung zu verstehen sei, wenn sie radikal auf interreligiösen Frieden und interkulturellen Dialog hin ausgerichtet ist?

Ambivalenz als psychoanalytisches Kernkonzept: Beimengung der Aggression in der Liebe oder lidinöse Bindung der potenziell entbindenden Kräfte des Selbsterhaltungs- und Todestriebes Zunächst soll es hier um einen Teilaspekt der Geschichte des psychoanalytischen Ambivalenzkonzepts gehen. Dabei wird deutlich, dass Freud sich in seinen späten Schriften mehr und mehr Fragen hinsichtlich der Integration von Aggression in liebevolle Regungen gestellt hat, und zwar: Was geschieht, wenn die Destruktivität bei bestimmten Formen der Psychopathologie oder unter bestimmten kulturellen/gesellschaftlichen Umständen die libidinösen Bindungen/die Kulturarbeit vernichten können? Von diesem theoretischem Rahmen ausgehend, von diesem psychoanalytischen Wissens aus, betrachten wir im Anschluss verschiedene Formen des aktuellen islamischen Extremismus.

Ambivalenz: Von der Entdeckung der Schattenseite der Liebe und positiver Übertragung hin zur notwendig liebevollen Neutra­ lisierung einer potenziellen Destruktion der Zivilisation/Kultur Das Ambivalenzkonzept wurde 1910 von Eugen Bleuler eingeführt und von Freud im Jahr 1912 zum ersten Mal in seinem Text »Zur Dynamik der Übertragung« angewendet: Negative Übertragung findet parallel

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oder komplementär zur positiven Übertragung statt: »Bei den heilbaren Formen der Psychoneurosen findet sie [die negative Übertragung] sich neben der zärtlichen Übertragung oft gleichzeitig auf die nämliche Person gerichtet, für welchen Sachverhalt Bleuler den guten Ausdruck Ambivalenz geprägt hat« (Freud, 1912, S. 372). Die positive Übertragung steht bei Freud also im Zusammenhang mit freundlichen oder zärtlichen Gefühlen, wie Sympathie, Freundschaft und »ein sich dem Arzt anvertrauen«. Sind die Fortsetzungen dieser positiven Gefühle im Unbewussten mit Sexualität verknüpft, sorgen diese erotischen Regungen, zusammen mit dem Selbsterhaltungsstreben und damit einhergehender Zensur im Sinne von Ablehnung und Aggression, folglich für die negative Übertragung. Diese beiden Übertragungen (die positive und die negative) können die therapeutische Beziehung sehr wechselhaft beeinflussen. Wenn diese Wechselhaftigkeit die positive libidinöse Übertragung jedoch zu sehr überschattet und die beigemengte Ablehnung und Aggression nicht im Hintergrund gehalten werden kann, spricht man von ambivalenter Übertragung, der man oftmals im Zusammenhang mit psychoneurotischen Erkrankungen begegnet. Ambivalenz hat seit Freuds erster Verwendung des Konzepts die Bedeutung einer nicht gut integrierten Schattenseite der positiven, libidinösen Regungen: Die Beimengung bzw. Schattenseite tritt zu stark in den Vordergrund. Ursprünglich situierte Freud diese negative Schattenseite der positiven Übertragung in unbewusste oder verdrängte Sexualtriebe, die vom Selbsterhaltungstrieb zensiert worden sind. Im Jahre 1905 jedoch schreibt Freud zum ersten Mal, dass diese Beschreibung unzureichend ist: »Die Aufklärung dieser dem Sexualtrieb beigemengten Aggression ist keineswegs befriedigend gegeben. […] Wir dürfen annehmen, dass die grausame Regung vom Bemächtigungstrieb herstammt.« (Freud, 1905, S. 58, S. 93 f.). Das Phänomen der Ambivalenz hatte Freud schon sehr früh in seiner Arbeit erkannt (schon im Fall »Doras« führte er das Abbrechen der Analyse zurück auf diese negative Beimengung der Übertragung), ohne jedoch ein gutes Konzept dafür zur Verfügung zu haben. Bereits 1905 wusste er, dass die Theorie des inneren Konfliktes zwischen inkompatiblen Vorstellungen über die Sexualität es zwar zuließ, die hysterischen Neurosen zu verstehen und Träume zu deuten, aber auch, dass es noch andersartige Kontraste oder Konflikte zu geben schien.

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Die Theorie des psychischen Konfliktes zwischen inkompatiblen Vorstellungen (dargestellt in Freuds Brief an Fliess vom 31.5.1897; Freud 1887–1904/1954) – die eine Vorstellung bewusst, die andere unbewusst – führte zu Freuds Theorie des Ödipuskomplexes (Freuds Brief an Fliess vom 15.10.1897) und zur Formulierung der ersten Topik (Freud, 1900). Zur gleichen Zeit ahnte Freud, dass es noch andere Kontraste im psychischen Leben gibt: aktiv und passiv, männlich und weiblich (Freud, 1910: zur paranoider Affektumkehrung im »Schreber-Fall«), vor allem aber der Kontrast von Liebe und Aggression, der sich u. a. beim »kleinen Hans« (1909a) beobachten lässt, der mit seiner neurotischen Hemmung die Aggression und Rivalität zum Vater zu stark unterdrückte bzw. verdrängte, sodass er in der Folge mit seiner Ambivalenz nicht mehr in Kontakt bleiben konnte. Auch beim »Rattenmann« (Freud, 1909b) lässt sich dieser Kontrast in der Zwangsneurose beobachten, wobei eine starke Aggression eine Intensivierung der Liebe in einer Art Reaktionstransformation hervorrief, was zu einer ausgeprägten Ambivalenz führte, ein nebeneinander von sehr intensiver Liebe und Hass. »Wenn man eine Anzahl von Analysen von Zwangskranken überschaut, so muss man den Eindruck gewinnen, das ein solches Verhalten von Liebe und Hass wie bei unserem Patienten zu den häufigsten, ausgesprochensten und darum bedeutsamsten Characteren der Zwangsneurose gehört. Für diese Gefühlskonstellation ist später von Bleuler der passende Name ›Ambivalenz‹ geschaffen worden« (Freud, 1909b, S. 455 f., Fußnote S. 455). Von allen kontrastierenden Paaren ist es die affektive Ambivalenz, die in der Psychoanalyse schon bald als Prototyp der Ambivalenz verstanden wurde, ohne dass das Ambivalenzkonzept jedoch eindeutig auf diese affektive Bedeutung hin reduziert worden ist. Deutet Ambivalenz zwar meist auf Gefühlsambivalenz hin, tut sie dies nicht nur ausschließlich (Nagera, 1970; Laplanche u. Pontalis, 1973; Doron, 2000; Hodges u. Edgcumbe, 1990; Stein, 1991). Bestimmte Entwicklungen in Freuds Werken ab 1909 sorgten dafür, dass er die »Gestalten der Ambivalenz« auch im Zusammenhang mit den Neurosen beschrieben hat, wobei die aggressive Komponente der Ambivalenz viel deutlicher im Vordergrund steht als bei »Dora« oder beim »kleinen Hans«. In der Zwangsneurose beim »Rattenmann« und bei der narzisstischen Neurose »Schrebers« erscheint die Ambivalenz

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mehr im Vordergrund, genau wie im Vatermord, den Freud in »Totem und Tabu« beschrieben hat oder im Zusammenhang mit Depression/ Melancholie, wie in »Trauer und Melancholie« angedeutet. Die Verknüpfung der Ambivalenz mit Selbsterhalt war schon 1905 beschrieben, 1914 und 1917 folgte die Verbindung zwischen Ambivalenz und Narzissmus und narzisstischen Trauerprozessen in der Melancholie. In seinen Schriften über Triebe und Triebschicksale (Freud, 1915) sowie ab 1920 über den Todestrieb oder ab 1930 über die prä-ödipale Geschichte oder frühe Mutterbindung bekommt die Ambivalenz noch einmal größere Bedeutung. Diese Schritte in der Weiterentwicklung seiner Theorie brachten Freud dazu, der Aggression eine größere, mehr ursprüngliche/grundsätzliche/archaische und autonome Position in seiner Trieblehre zuzugestehen: nicht nur als Beimengung der Libido, sondern als autonomen Trieb neben der Libido; nicht nur als Äußerung eines Selbsterhaltungs­ strebens, sondern als potenziell destruktiven Trieb; nicht nur als Epiphänomen der Libido, das einen aus dem integrativen Modus in einen ambivalenten Modus zurückwerfen kann, sondern als eine möglicherweise eher im Leben wirksame Regung, die erst nachher durch die Libido gebunden, transformiert und neutralisiert werden kann. Ambivalenz ist dann weniger ein Zeichen einer Regression aus einer vorher besseren Integration heraus – eher äußert sie sich als eine anfängliche und noch nicht vollzogene Bindung von Thanatos durch Eros: Ambivalenz als Entwicklungsschritt oder Entwicklungsaufgabe: »Der Hass ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt von seiten des narzisstischen Ichs. […] Als Äußerung der durch Objekte hervorgerufenen Unlustreaktion bleibt er immer in inniger Beziehung zu den Trieben der Icherhaltung« (Freud, 1915, S. 230 f.). »Wo der ursprüngliche Sadismus keine Ermässigung und Bindung [durch die Lebenstriebe] erfährt, ist die bekannte Liebe-Hass-Ambivalenz […] hergestellt« (Freud, 1920, S. 58). Freud hat in seinen späteren Schriften immer mehr Platz für die sehr archaisch und tief verborgenen kontrastierenden Paarungen eingeräumt. Schien er deren Bedeutsamkeit bereits in seinen frühen Arbeiten geahnt bzw. angedeutet zu haben, räumte er ihnen jedoch anfänglich noch nicht die zentrale metapsychologische Bedeutung ein, die sie anschließend

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bekamen. Aus den kulturellen Schriften geht hervor, wie der Todestrieb letztendlich die potenziell destruktive Kraft besitzt, die Zivilisation und Kulturarbeit zu vernichten. In den klinischen Schriften ist er verbunden mit Grausamkeit und Hass, der in den sadistisch-oralen und analen Phasen zu wurzeln vermag und der wiederum mit Erfahrungen von Ohnmacht und Kontrollverlust verbunden ist. Ambivalenz wird dann mit Ohnmacht, narzisstischer Kränkung, paranoider Erkrankung, Trauma, Bedrohung der Selbsterhaltungsgefühle und überwältigenden Erfahrungen verbunden, wenn sie – wie die Psychoanalyse zu betrachten im Stande ist – mit Fragmentierungs- und Vernichtungsängsten verbunden sind, wie es auch bei primitiven Abwehrvorgängen typisch sich zeigt. Diese Evolutionen in Freuds Schriften lassen uns an einen Zusammenhang zwischen Spaltungen im rigiden extremen Weltbild radikalisierter Personen und den darunterliegenden, verborgenenen Ängsten denken, die sich als grundlegend für Prozesse der Fragmentierung, Zersplitterung und Annihilierung erweisen. Die wachsende Aufmerksamkeit für archaische Triebschicksale und damit verbundene Ambivalenzen, Ängste und Abwehrvorgänge bei Freud sind in der Post-Freud’schen Psychoanalyse detailreich ausgearbeitet. Freud hat uns bereits darauf hingewiesen, dass der Mensch in einer Gruppe Halt für sein (gespaltenes) Weltbild suchen kann. Gruppenmitglieder und -leiter bieten eine solche Festigung, weil die eigene Verantwortlichkeit für das nicht nuancierte oder moderierte Weltbild von sich selbst weggeschoben werden kann (Freud, 1921).

Post-Freud’sche Autoren zum Thema Ambivalenz: Divergente und konvergente Konflikte in der Ego-Psychologie von Anton Kris In der Freud’schen Psychoanalyse wird mit affektiver Ambivalenz eine gleichzeitige Anwesenheit von besonders intensiven, einander widersprechenden bzw. widerstrebenden Gefühlen und kontrastierenden Affekten beschrieben, die sich auf topisch unterschiedlichen Ebenen befinden können (der eine Affekt bewusst, der andere unbewusst). In der Ich-Psychologie spricht Anton Kris (1984) von divergenten Konflikten, um diese Ambivalenzkonflikte anzudeuten. Divergente Tendenzen motivieren eine Person in unterschiedliche Richtungen (z. B.

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Aktivität oder Passivität); konvergente Tendenzen dagegen weisen auf ein Verlangen und eine Angst rund um ein und dieselbe Strebung hin (die Sexualität, die verlangt wird und gleichzeitig beängstigend wirkt). Das Ich ist der »Pontifex oppositorum«, die psychische Instanz, die die unterschiedlichen Tendenzen überbrücken und zur Integration bringen kann. Verschiedene ego-psychologische Konzepte beschreiben diesen Prozess: Synthese, Bindung, Integration. Die Nicht-Integration wird angedeutet als Entbindung. Der alte psychiatrische Begriff »Spaltung« bekommt erst später eine spezifische Bedeutung in der Psychoanalyse.

Ambivalenz und der Kampf mit dem ursprünglichen Sadismus in Kleins Theorie der Depressiven und der Paranoid-Schizoiden Position Ab 1930 hat Melanie Klein unter dem Einfluss von Freuds Theorie der Lebens- und Todestriebe den affektiven Repräsentanzen dieser Triebe, in Form von Liebe und Aggression, mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Die Toleranz für Ambivalenz wird verbunden mit der depressiven Position. Ambivalenz erreichen und ertragen können, im Sinne einer Ambivalenztoleranz, bekommt in Kleins Arbeit eine durchaus positivere Bedeutung als sie dies in der bislang existierenden Perspektive auf das Ambivalentsein als neurotische Charakteristik erfuhr. Ambivalenz zu erreichen, ist ein Entwicklungsschritt (»a developmental milestone«), der dem Kind/dem Menschen einen Ausweg aus einer von Aggression, Paranoia und Rache charakterisierten Welt bietet. Sich ambivalent zeigen zu dürfen, ist ein Vorteil; nur dann kann das Kind in einer sicheren Umgebung lernen, diese Ambivalenz zu tolerieren und dadurch auch die Aggression in den Dienst der Liebe zu stellen, als einer Art von Assertivität, die der Liebe ihre Kraft gibt. Toleranz für Ambivalenz geht einher mit Akzeptanz von Ohnmacht, Unsicherheit, Nicht-­ Wissen und der Anerkennung, dass das Selbst und der/das Andere nicht in eins zu setzen sind. Die Spaltung, die Freud 1938 im Rahmen des Fetischismus be­schreibt, und die Spaltung, die Klein im Rahmen der paranoid-­ schizoiden Vorstufen der depressiven Position umreißt, unterscheiden sich deutlich voneinander. Sich zum Teil dem Realitätsprinzip unter-

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zuordnen und gleichzeitig die Welt des Lustprinzips zu verfolgen, ist eine andere Sache als die Abwehr gegen die affektiv peinliche Erfahrung, dass die liebevolle Sorgefigur dieselbe ist wie diejenige, die man aggressiv behandelt hat, und dass man daher nicht nur liebevolle Strebungen in sich hat, sondern auch aggressive oder hasserfüllte oder gar vernichtende, rücksichtslose Aspekte. Bei Klein ist Spaltung eine Abwehr gegen die Trauer und den psychischen Schmerz über die eigene affektive Ambivalenz und Unvollkommenheit, gegen die Verlustängste und, wie Klein in einem ihrer letzten Beiträge schreibt, gegen die Erfahrung von Einsamkeit, die durch die Erfahrung der Ambivalenz hervorgerufen werden. Die Toleranz für Ambivalenz ist ein zentraler Teil des Durcharbeitens der depressiven Position. So bekommt Ambivalenz zwei sehr unterschiedliche Bedeutungen in der Psychoanalyse: eine negative Bedeutung im Sinne von Wechselhaftigkeit oder Unentschiedenheit – wobei man von einem Extrem in ein anderes übergehen kann, was dann ein Zeichen der Nicht-­Integration oder der Pathologie ist – und eine positive Bedeutung: Dann toleriert man Ambivalenz und muss die Komplexität des Zusammenspiels von Kontrasten nicht reduzieren, sondern kann sie als Bereicherung erfahren. Bei Klein und später bei den meisten objektbeziehungsorientierten Autoren entsteht die Idee einer Entwicklungslinie von der Spaltung zur Integration über den Weg der Erfahrung von und Toleranz für Ambivalenz.

Kleins Erkundung des »Archaischen«: Der Streit um Fragmentierung und Annihilierung Es handelt sich aus dieser objektbeziehungsorientierten Perspektive um eine Entwicklungslinie von einer reduzierten Perspektive hin zu einer komplexeren Perspektive auf die Realität und auf Beziehungen. Im Kontext des von Anna Freud so genannten »widening scope of psychoanalysis« und im Kontext von Kleins therapeutischer Arbeit mit prä-neurotisch strukturierten Kindern wurde zudem deutlich, dass es Patienten gibt, die nicht zur stabilen Spaltung gelangen können und unter der psychologischen Drohung einer weiteren Fragmentierung leben. Lerner und Lerner (1977) haben diese Mechanismen als frag-

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mentierende oder chaotische Spaltung und auch Versplitterung beschrieben, was im Kontrast zur stabilen Spaltung steht. Bei der stabilen Spaltung werden die als positiv vorgestellten Personen oder Realitäten extrem idealisiert, damit jede negative Vorstellung über diese Objekte abgewehrt werden kann und die extrem idealisierte Person nicht mehr infrage gestellt wird; die entwerteten Personen wiederum können auch bei anderen, positiven Erfahrungen nur schwer anders vorgestellt werden. Diese Spaltung ist impermeabel und kann nur sehr schwierig transformiert werden. Der Weg zur Erfahrung der Ambivalenz ist versperrt, weil dieser Weg den Verlust der guten Objekte beinhaltet: Die guten Objekte überleben die Begegnung mit negativen Aspekten nicht. Die Folge wäre eine Fragmentierung, die nur verhindert werden kann durch rigide Spaltungsmechanismen. Alle Menschen können im Laufe ihres Lebens in Spaltungsmechanismen zurückfallen/hineingeraten: eine stark vereinfachte und in diesem Sinne extreme Vorstellung der Realität, auf die wir alle im Rahmen starker Bedrohung, bei großen Verlusten oder in sehr schwer zu ertragenden Situationen zurückgreifen können. In solchen Momenten können wir es uns psychologisch nicht oder nur wenig leisten, mit zwei kontrastierenden Kräften und mit Nuancierungen in Verbindung zu bleiben. Jedoch – Klein nennt diese Spaltung eine permeable Spaltung, gerichtet auf weitere Verarbeitung und Integration – kann die Spaltung Schritt-für-Schritt aufgehoben werden durch allmähliche Nuancierung und Verarbeitung. Bei bestimmten psychopathologischen Störungen oder in Situationen, die die narzisstische Stabilität bedrohen, ist die Spaltung jedoch sehr massiv, weil Toleranz für Ambivalenz nicht oder nur in sehr geringem Maße erreichbar ist. Spaltung ist in diesem Fall ein sicherer Hafen, der die unterliegende Drohung der Fragmentierung oder weiterer Versplitterung im Griff behält. Die Möglichkeit des Zurückfallens in sehr fragmentierte innere Welten kann nur mit radikalen Maßnahmen, wie extrem rigider Spaltung, abgewehrt werden. Wenn diese Abwehr der Fragmentierung nicht gelingt, kann man diese Aufgabe delegieren an eine Gruppe und/oder einen Gruppenleiter. In Zeiten von schnellen gesellschaftlichen Wandlungen in Kombination mit ungünstigen familiären Situationen und problematischen persönlichen Charakteristiken kann die Toleranz für Unsicherheit,

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Nicht-Eindeutigkeit und Ambivalenz signifikant abnehmen. In diesen Situationen wird zurückgegriffen auf ein Weltbild, das die unerträgliche Komplexität reduziert. Individuen können sich in einer sozialen Gruppe befreien von der Drohung der Fragmentierung, die aufgerufen wird durch Haltlosigkeit und Ängste, die von den Transformationsprozessen in Gesellschaften und Religionen ausgelöst werden. In diese Gruppe wird die Verantwortlichkeit für das stark vereinfachte Weltbild übertragen an andere, der idealisierte Leiter der Gruppe verkörpert die zentralen Ideen des Weltbilds und führt diese Ideen weiter bis ins Extreme. Die groteske Fälschung der Wahrheit, die daraus folgt, wird von bestimmten Personen begrüßt, weil die geschaffenen »alternativen Fakten« angstreduzierend wirken und die Illusion schaffen, nicht klein, minderwertig, ohnmächtig oder unverstanden zu sein. In der internationalen und nationalen Politik gibt es aktuell einige gute Beispiele für diese Dynamik.

Beispiel islamische Radikalisierung Wir kommen nun auf die islamische Radikalisierung zu sprechen als Beispiel für ein in bestimmten Gruppen geteiltes und extrem gespaltenes Weltbild, das die Gruppenmitglieder schützt gegen eigene Nichtigkeitsgefühle, Herabsetzungen, Einsamkeit und Ohnmacht. Das extreme Weltbild lässt auch zu, eigene Ambivalenzen und eigenes Unbehagen im Rahmen der Integration in eine westliche Gesellschaft oder im Rahmen der Transformationstendenzen des Islam in einer sich zunehmend globalisierenden Welt zu reduzieren. Islamische Radikalisierung kennt – laut Benslama (2017) – zwei Gesichter: –– Den (auf bewusster Ebene) gewaltbereiten islamischen Extremismus mit seinen Ideen von Rache für das große Unrecht, das die Muslime klein und ohnmächtig gemacht hat. In dieser Form des islamischen Extremismus geht das gute innere Objekt der Gesellschaft, in der man aufgewachsen ist, völlig verloren. –– Die (auf bewusster Ebene) Gewalt zurückweisende extreme Frömmigkeit mit ihren Ideen zur Unreinheit des Westens und zur Suche des idealen Islams wie zu Zeiten des Propheten. Inmitten der Gesell-

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schaft kommt es zu einem sich Einschließen oder Einmauern/Verbunkern gegen alle Ansprüche der westlichen Lebenswelt und gegen die Ambivalenzen, Unsicherheiten und die Einsamkeit, die mit einem Leben als Muslim in dieser Welt verbunden sind. Das gute innere Objekt geht nicht verloren, sondern wird verschoben auf ein anderes Idealbild (den/die Salafi).

Spaltung und Ambivalenz im Weltbild der islamischen Radikalisierung In seinem Buch »Der Übermuslim: Was junge Menschen zur Radikalisierung treibt« betrachtet Fehti Benslama (2017) die Radikalisierung als Symptom: einerseits als Symptom einer tiefen Wunde des Islams in seiner Beziehung zum Westen, zu anderen monotheistischen Religionen und zur Modernität, andererseits als Symptom der Tendenz im Islam, auf eigene Zwiespalte/Widersprüchlichkeiten, Unsicherheiten und Machtverluste mit einem Aufruf zur Säuberung des Selbst und der eigenen Glaubensgemeinschaft durch den »Jihad« zu reagieren. Dabei ist Jihad ein Wort mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen: z. B. Jihad als inneres Streben, den eigenen Glauben zu säubern und zu stärken; Jihad als Aufruf, den Glauben zu perfektionieren und sich als Gläubige(r) gegebenenfalls zu opfern für das Ideal des Salafi – seine vorherige Identität abzulegen und danach zu streben, zu werden wie der Prophet –; Jihad als Streit gegen Teilgruppen im Islam, die nicht als wahre Muslime angesehen werden, oder gegen Nicht-Muslime oder Ex-Muslime – also Jihad als Kampf gegen oder Vernichtung dessen, was nicht der eigenen (rigiden) Interpretation des Ideals entspricht.

Zwanghafte Idealisierung des Selbst und vernichtende Entwertung des Anderen als Antwort auf islamisches Unbehagen im Westen In meiner (PM) Arbeit als Psychotherapeut und präventiv tätiger Familienbegleiter bin ich in den letzten fünf Jahren mehreren muslimischen Familien begegnet, in denen man sich die Frage stellte, was in Gottes Namen los ist in dieser Welt, spezifischer: in der eigenen Religion, und

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wie man die eigenen Kinder vom Einfluss zunehmender Radikalisierungstendenzen fernhalten kann. Diese Frage ist in den letzten Jahren eine viel komplexere und dringendere geworden als vor den Terroranschlägen in Europa oder den vernichtenden Konflikten im Mittleren Osten.

Benslamas Konzept des »Übermuslim« Benslama (2017) stellt sich die Frage, warum es muslimischen Fundamentalisten/Extremisten aktuell so gut gelingt, auch mäßige Muslime unter Druck zu setzen mit dem Gedanken, sie seien nicht muslimisch genug und sollten noch viel mehr Eifer und Opferbereitschaft zeigen. Es entsteht also im Islam ein Druck in Richtung von Perfektionierung/Optimierung des Glaubens. Man begegnet diesen Tendenzen bei jungen Muslimen, die im Gesprächszimmer/Behandlungsraum ihre eigenen Eltern kritisieren wegen unzureichendem Glaubenseifer und die vom eigenen strengen Selbst behaupten, es sei noch lange nicht streng genug. Es handelt sich um Adoleszente und junge Erwachsene, die Kontakt suchen mit Organisationen und deren Predigern und die sich in Kontexten bewegen, in denen man einander antreibt und unterrichtet wird im »wahren« Islam. Beispiele aus meiner Praxis (Namen geändert): Mbark (22 J.): »Wenn ich an einer Party teilnahm, fragte ich mich anschließend, was ich da überhaupt zu suchen hatte. Vor einem Jahr war das noch anders: Ich postete Bilder auf Facebook und rief andere Jugendliche dazu auf, mit uns zu feiern. Jetzt hadere ich schon vorher mit mir selbst; versuche, nicht zu gehen, aber das gelingt noch nicht gut. Ich bin als Muslim geboren, habe mich aber vorher gar nicht als Muslim verhalten. Wie Bruder Housni (Prediger) sagte: Es ist jetzt auch wissenschaftlich bewiesen, dass Musik einen negativen Einfluss auf das Unbewusste hat – sowohl Musik zu machen als auch sie zu hören. Die Strafe im Islam ist streng. Ich bedauere meine frühere Arroganz und bete jeden Tag um Vergebung. Ich versuche jetzt, vor allem den Gesängen des Korans zuzuhören. Und ich weiß, was ich in der Vergangenheit verpasst habe. Ich weiß, das kann ich wiedergutmachen, aber nur, wenn ich mich radikal ändere, womit ich mich jeden Tag, jeden Moment beschäftigen muss, wofür ich kämpfen muss, damit ich nicht in alte Muster zurückfalle.« Malika (23 J.): »Ich war am vorigen Wochenende bei einer Vorlesung von Bruder Housni. Ich höre ihm jeden Tag im Internet zu. Unter dem Einfluss dessen, was ich da gehört habe, habe ich angefangen, mich ganz anders zu kleiden und bete jetzt auch fünfmal täglich; ich suche keine Ausflucht oder Ablenkung

Die Anziehungskraft des Extremen71 mehr in meiner Arbeit. Ich habe seit einem Jahr sehr viel an mir vorüberziehen lassen, damit ich mich mit dem Glauben beschäftigen konnte. Ich habe eigentlich Mode und Design studiert, aber die Kleidung, die ich vor einem Jahr noch zauberhaft fand, passt nicht zum Islam. Ich habe daher mein Studium aufgegeben. Ich bin noch nicht weit genug auf meinem Glaubensweg, 20 %, nein, vielleicht erst 5 %, aber ich möchte mich 100 % in dieser Richtung entwickeln, vor allem was meine Kleidung angeht (man sieht noch immer meine weiblichen Formen), oder in der Frage, in welchem Land ich leben kann, hier oder im Kalifat. Ich möchte versuchen, 100 % so zu leben, wie es die Propheten damals vorgeschrieben haben, als eine Salafi.« Diese Version des Islams spricht vor allem Jugendliche und junge Erwachsene an, deren Identität im Umbruch ist und die in den gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven, die sie bisher angeboten bekommen bzw. sich erarbeitet haben, keine wirkliche Perspektive für sich sehen. Jedoch ist diese Version des Islams auch Zeichen des Umbruchs, derart, dass sich der Islam in einer globalisierten Welt und einer sehr diversifizierten/pluralistischen Gesellschaft zu verorten sucht.

Volkans Konzept des »auserwählten Traumas« und der »Karawane des Dschihads« In ihrem Buch über Dschihadkämpfer beschreiben der belgische Forscher mit palästinensischen Wurzeln Montasser AlDe’emeh und Pieter Stockmans (2015) Prozesse der Radikalisierung. Wir lesen bei ihnen nicht nur eine aus einem reifen Auf-Distanz-Gehen geschilderte Einordnung des radikalen Gedankenguts, sondern auch den inneren Kampf, der sich in der Psyche anfälliger muslimischer Jugendlicher abspielt: die innere Wut wegen des Gefühls eines großen Unrechts neben der Stimme der Versöhnung, der Wunsch, in eine sich einige/homogene Gruppe aufgenommen zu werden neben der Angst vor großer Einsamkeit. Das Buch und sein Deradikalisierungsprojekt finden in Belgien und anderen Ländern großen Anklang, gerade weil AlDe’emeh selbst durch den Weg des Hasses ein ganzes Stück weit verführt wurde und daher persönlich weiß, wie schwierig es ist, die guten inneren Objekte über die zerstörerischen Kräfte hinweg wiederzufinden: »Dieser Aufruf, sich der Karawane der Dschihadisten anzuschließen, sprach mich in einer Zeit an, in der Traurigkeit, Einsamkeit und Tränen des Verlustes stark in mir lebten. Mein Vater und meine Onkel erzählten von dem Land, aus dem sie in Palästina vertrieben worden waren. Die Hingabe Jugendlicher wie

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mir an einen Anführer und die Idee der Aufopferung gaben meinem Leben einen Sinn. Die Bilder des Dschihadisten als Schwert des Islams, des Dschihadisten, der im Kampf zum Löwen wird und zu einer höheren Bewusstseinsebene kommt, die Ehre aller Moslems, die in dem Kampfnamen verteidigt wird, den wir zugewiesen bekamen, und der aus uns eine andere Person machte, uns eine Kämpfer­ identität gab. Zu jener Zeit sah ich Bilder von Brüderlichkeit und Kampf, von Kämpfern, die allen Reichtum zurückließen, einander brüderlich umarmten und gemeinsam in Flüssen schwammen und wie kleine Jungen herum­tollten. Wie gern wollte ich Teil dieser Gruppe von Kämpfern sein. Hätte ich nicht das Glück gehabt, einen oder mehrere Lehrer zu haben, die durch meine Angeberei hindurchsahen, hätte ich den Weg der Versöhnung womöglich nicht wiedergefunden.« (AlDe’emeh u. Stockmans, 2015, S. 61–63; Übers. P. M.)

Die Terroranschläge in Europa sind das Werk von Heranwachsenden, die bereits seit Jahren dabei waren, aus der westlichen Gesellschaft wegzugleiten. Integration, verbunden mit bikultureller oder mehrfacher Identität und mit der Erfahrung der eigenen Unsicherheit und von Minderwertigkeitsgefühlen, wurde von ihnen abgelehnt. An deren Stelle trat die Verherrlichung einer einseitigen Identität und des Kampfes gegen alles, was dieser reinen Identität im Weg steht. Die Attentäter haben in ihren Jugendjahren schwerwiegende Verhaltensprobleme gezeigt; die meisten hatten zuvor bereits früh die Schule abgebrochen. Als Heranwachsende begingen sie Straftaten, für die sie Strafen im Gefängnis verbüßten bzw. aus dem sie vorzeitig und unter Auflagen freigelassen worden waren – Auflagen, deren Einhaltung von den Behörden und Sozialdiensten jedoch nicht oder zu wenig überprüft wurden. Im Gefängnis haben sie sich radikalisiert, und nach ihrer Freilassung unter Auflagen einen gänzlich anderen Lebensstil angenommen als zuvor. Dieser Prozess der Identitätsveränderung bei bestimmten Jugendlichen geht immer schneller vonstatten. Zudem ist es zwar so, dass derzeit bei einer Mehrzahl der Dschihadisten eine Verbindung zu familiärer Nicht-Integration, Bruchlinien im Familienverband, schulischem Misserfolg, Arbeitslosigkeit und Versagen hergestellt werden kann, doch das Profil der Radikalisierung ändert sich in raschem Tempo: In den letzten Monaten radikalisierten sich auch hoch qualifizierte Jugendliche und Erwachsene aus Westeuropa und auch viele Frauen. Wo früher vor allem bestimmte salafistische Moscheen beobachtet werden mussten, muss man heutzutage außer diesen Orten auch besonders das Internet im Auge behalten: Dort können die Botschaf-

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ten noch viel versteckter und anonymer verbreitet werden, und das in sehr großem Umfang. Die Propaganda des heiligen Kriegs basiert zum Großteil auf schambesetzten Ereignissen der muslimischen Geschichte, Momenten von Erniedrigung und Sich-Besiegt-Fühlen, Geschichten, die von Jihadis so vorgestellt werden, dass sie zu sehr selektiven/manipulierten Geschichten werden: ein »auserwähltes Trauma« (Chosen Trauma). Es handelt sich um Aspekte der Geschichte, die selektiv ausgewählt und aufgebauscht werden, sodass der eigene Anteil oder die eigene Verantwortlichkeit für die Geschichte verleugnet werden kann und das Gefühl entsteht, ein Anrecht darauf zu haben, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und den als Feind vorgestellten Anderen büßen zu lassen. Ab dem 17. Jahrhundert hat die westliche Moderne viele Entwicklungen ermöglicht, zugleich ging in der islamischen Welt Macht und Prestige verloren, dabei war das muslimische Reich im 16. Jahrhundert das größte der Welt, von Südostasien bis zu den Pyrenäen. Ab dem 18. Jahrhundert wurde das besiegte islamische Reich durch westliche Machthaber kolonialisiert, z. B. kam es zur Kolonialisierung von Ägypten 1798. In den Jahren 1917–1928 wurde dieser Prozess beschleunigt: die Verteilung der arabischen Welt unter den Kolonialmächten im Sykes-Picot Vertrag von 1916, der erste Arabische feministische Kongress 1923 (mit dem Thema »Gegen die Verschleierung der Frau«), das Aufheben des Kalifats durch Atatürk 1924 sind Ereignisse, die für die islamische Welt nur schwer zu akzeptieren sind. Die islamische Welt verlor ihre Autonomie, ihr Kalifat und sah die Position der Frau infrage gestellt, der Frau, deren Position die Umma (die islamische Gemeinschaft) erst möglich macht. Diese Ereignisse fanden in einer Zeit statt, in der die westliche Welt vor allem mit sich selbst beschäftigt war (die Zerstörungen im Ersten Weltkrieg, das Aufblühen des Kommunismus, die Nachwehen des Ersten Weltkriegs, der Anfang des Faschismus, der Börsencrash an der Wall Street). Dadurch bemerkte der Westen nicht, dass die beschriebenen Prozesse in der islamischen Welt zu einer Gegenreaktion führen mussten, und zwar zu der Gründung der Muslimbruderschaft 1928. ­Benslama (2017) verortet darin die Urszene des Islamismus. Der Wunsch einer Rückkehr zur reinen (perfekten) islamischen Identität, verknüpft mit

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einem Groll bzw. Hass gegen den Westen, wurde im Rahmen der Bruderschaft als Ideologie konzipiert – eine Ideologie, die später von anderen Gruppen übernommen und radikalisiert wurde. Diese Vorstellung eines Ideals (der Traum des Kalifats) und des Kampfes gegen das Böse (den Westen) spielt auch heute in den Vorstellungen der Jihadis eine wichtige Rolle. Diese Ideologien wurden zwar ab 1930 lange Zeit durch nationalistische Machthaber unterdrückt, werden jedoch heute von Befreiungsbewegungen in arabischen Ländern wieder aufgegriffen und verbreitet und finden natürlich auch im Internet weite Verbreitungsmöglichkeiten, die es zuvor so nicht gab. Der türkisch-amerikanische Psychoanalytiker Vamik Volkan (2001) beschreibt, wie heutzutage in radikalisierenden islamischen Gruppen über massive Traumata, Wunden und Verletzungen berichtet wird, die durch den (christlichen, westlichen) Feind zugefügt wurden. Die Mitglieder der Gruppe können diese Verletzungen und empfundenen/erlebten Abwertungen nicht verarbeiten. Das Gefühl herrscht vor, sich auf sozialer oder politischer Ebene nicht in genügend adaptiver bzw. kon­ struktiver Weise damit auseinandersetzen zu können, wodurch oft nur ein Gefühl von hilfloser Wut und idealisiertem Masochismus internalisiert werden kann, abgewechselt von sadistischen Ausbrüchen. Infolge solch historischer Traumata ist die psychologische Trauerarbeit und die Verarbeitung des Verlustes nicht wirklich zu vollbringen. Und so wird diese Aufgabe auf die Kinder und die nächsten Generationen übertragen. Durch eine solche intergenerationelle Übertragung kann es dazu kommen, dass die geteilten Vorstellungen des historischen traumatischen Ereignisses sich zu dem erwähntem »auserwählten Trauma« (Chosen Trauma) weiterentwickeln. Der Verlust wird als Trauma dargestellt, das Trauma wird vergrößert, die gemeinsame Geschichte, der christlichen und der islamischen Welt wird geschmälert, die Geschichten gelungenen Dialoges werden geleugnet, weil auch die Identität des Traumatisierten auf Opferaspekte beschränkt wird. Das Trauma definiert somit die Identität einer großen Gruppe von Glaubensgenossen, die einer extremen Ideologie anhängen und überzeugt sind, dass Muslime das Recht haben, sich durch Taten (auch Rachetaten) zur Wehr zu setzen. Solche »Chosen-Trauma«-Theorien liefern oftmals den Nährboden für eine gewaltorientierte Radikalisierung.

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Gespaltenheit innerhalb des Islams und der Aufruf zum Dschihad Extreme Ausformungen des Islams, innerhalb derer sich auch die Radikalisierung westlicher islamischer Jugendlicher vollzieht, lassen sich zwar vor dem Hintergrund der Niederlage gegen die christlichen Heere ab dem 16. und 17. Jahrhundert und die späteren westlichen Kolonialmächte finden, sie sind jedoch ein Phänomen, das weiter in die Vergangenheit zurückreicht, genau genommen bis ins erste Jahrhundert des Islams. Das im 7. und 8. Jahrhundert entstandene »Charidschjitentum« (»kharidjismus«) ist eine Strömung innerhalb des Islams, die die Religion als einzige Quelle der Gesetzgebung und gesellschaftlichen Ordnung betrachtet. Diese Strömung ist eine intra-islamische Antwort auf die Schwächung der Position des Islams, die durch Auseinandersetzungen innerhalb des Islams hinsichtlich des Nachfolgers des Propheten zustande kam. Die charidschjitische Lesart des Korans schließt jegliche Exegese wie auch jede Interpretation oder Hermeneutik aus, die von der wörtlichen abweicht: In der wörtlichen Lesart des Texts des 7. Jahrhunderts werden demnach Lösungen gesucht für Fragen des 21. Jahrhunderts. Im Koran seien die Antworten schon verborgen; vom Gläubigen wird somit eine eifrige Suche erwartet, um in diesem Text aus dem 7. Jahrhundert die Antworten auf seine heutigen Fragen zu finden. Der Text des Korans gilt als perfekt; wenn der Gläubige die Antwort auf seine Fragen nicht findet, dann liegt das daran, dass er nicht eifrig genug gesucht und sich nicht genug mit seiner eigenen Unwissenheit auseinandergesetzt hat. Diese Auseinandersetzung wird wie gesagt »Dschihad« genannt. Die extreme Frömmigkeit der Charidjiten im 7. und 8. Jahrhundert war schon ein Versuch, innerhalb des Islams eine Einheit wiederherzustellen, nachdem es im Islam von Beginn an zu Spaltungen kam (»schia« und »sunna«). Laut Benslama (2017) zeigt sich heute eine sehr ähnliche Reaktion als Antwort auf Unsicherheiten von Muslimen in der westlichen Welt: Nur, wenn wir als Muslime so rein wie der Prophet leben, kann die Stärke des Islams wiederhergestellt werden. Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit sich selbst, den Dschihad. Spaltungen und Verlust von Machtpositionen gab es somit schon sehr früh in der islamischen Geschichte; die Reaktion war nicht selten eine Auseinandersetzung mit sich selbst, ein Versuch, sich als Gläubige

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zu optimieren, das Streben nach einem hohen Ich-Ideal. Die Ursache der Spaltungen und des Machtverlusts wurde in der eigenen Unperfektheit gesucht, der Unfähigkeit, den Idealen des Propheten zu folgen; der Dschihad, also der Kampf mit eigenen Unperfektheiten, wurde dann als Lösung gesehen. Aktuell gibt es in westlichen Ländern von Predigern geleitete islamische Gruppierungen, die Zusammenkünfte organisieren, bei denen Gläubige einander anfeuern, ihr Leben oder ihr Selbst für dieses höhere Ideal des »Salafis« zu opfern. In diesen Gruppentreffen bespricht man miteinander, was dem Ideal im Wege steht (z. B. Hört man noch Musik? Kleidet sich als Frau noch nicht ganz verschleiert? usw.) und wie man diese Hindernisse überwinden kann. Im Diskurs dieser Gläubigen hört man nicht nur die Angst, das Ideal nicht erreichen zu können, heraus oder die Angst vor einem strengen Gottesurteil, sondern auch eine Distanzierung zur westlichen Gesellschaft (»Es gibt ein höheres Glück in Gott«) und eine moralische Überlegenheit (»Wir haben eine tiefere Einsicht als die Anderen«), ein »sich nicht mehr oder nur wenig Einlassenwollen« auf weltliche, westliche Aspekte. Der Dschihad wird wie gesagt nicht nur auf der Ebene der persönlichen Reinigung (Säuberung) geführt, sondern auch in der Auseinandersetzung und Konfrontation mit Andersgläubigen, die es sowohl im Islam als auch in anderen Religionen gibt. In der Vorstellung, dass andere die Schuld an der gespaltenen Situation der Umma haben, wird der Dschihad nach außen gerichtet, z. B. in der Propaganda oder im bewaffneten Kampf gegen diese Gegner. So kommt es zum gewalt­ bereiteten Extremismus, dem Dschihad, wie man ihn von Gruppierungen wie Al Quaeda, Islamischer Staat, Sharia for Europe usw. kennt. Laut Benslama (2017) sind die meisten Anhänger dieser Säuberungsversuche und des bewaffneten Kampfes gegen die Feinde des Islams Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 15 und 25 Jahren. Es stellt sich die Frage, warum das Extreme gerade in diesem Lebensabschnitt eine solch große Anziehungskraft hat.

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Die Anziehungskraft des Extremen für Jugendliche und junge Erwachsene Das Erkunden von Extremen als Teil der Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz Erikson (1968) und Lacadée (2007) beschreiben die Adoleszenz als Lebensphase, in der das Neudenken der Identität eine zentrale Entwicklungsaufgabe ist. Psychoanalytische Theorien beschreiben, wie dies zu einer inneren Krise führt, vor allem dadurch, dass die (bisherigen) Bindungsrepräsentationen des Kindes gegenüber den Eltern unbrauchbar werden (Der/die Jugendliche will nicht länger als Kind angesehen werden). Die (eventuell) sichere Bindung aus der Kindheit ist zwar nicht verschwunden, doch sie ist als solche vorübergehend unbrauchbar. Erst nach einiger Zeit wird die Bindung an die Eltern in einer neuen Weise wiedergefunden. Bis dahin werden sie von ihren pubertierenden Kindern auf Distanz gehalten, entmythologisiert, sozusagen vom Sockel geholt. Die Kinder begeben sich auf die Suche nach anderen Identifikationsfiguren als die Eltern. In dieser Phase haben das Umfeld, die Kultur, die Subkultur, die Altersgruppe, die Medien, das Internet usw. einen großen Einfluss auf Jugendliche. Die Adoleszenz wird in der psychoanalytischen Literatur auch als zweite Separation bzw. Individuationsphase (Blos, 1967) bezeichnet: Man löst sich von der Familie der Kindheit, um eine stärker persönliche Identität aufzubauen. In der Zwischenphase der Adoleszenz herrscht ein Moratorium (Erikson, 1968), eine Phase des Werdens (Frankel, 1998), eventuell mit Momenten großer Unsicherheit und einem »Down-Gefühl und großem Aufgewühltsein« (Winnicott, 1969; eigene Übers.). Es gibt neben Momenten der Eitelkeit/Überlegenheit und des Besserwissens sowie von Gefühlen der Unsterblichkeit solche von Nichtigkeit. Sowohl die Tatsache, dass die Eltern stark sein müssen, damit ihre jugendlichen Kinder sich trauen, sie zu kritisieren, und dass die Kultur oder Religion diese Kritik gegenüber den Eltern zulassen muss, als auch, dass die Außenwelt alternative Ideale bzw. Idole bereitstellen muss, in denen Jugendliche sich wiedererkennen können, kann für Probleme bei Heranwachsenden in einer islamischen Familie mit Migrations-

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hintergrund sorgen. Zu viele muslimische Jugendliche schweigen zu Hause, geraten aber in der Außenwelt in Schwierigkeiten, in Konflikt mit Lehrkräften, Autoritäten, der Gesellschaft, der Polizei, der Schule usw., oder erfahren eine große innere Einsamkeit. Auch wenn Inte­ gration angestrebt wird und man sich in dieser westlichen Welt zeigen will, droht das Gefühl, einsam und auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Gerade Kompetenz, Stolz und Eigenwille werden in Interviews mit Jugendlichen, die angeben, Integration anzustreben, als Ursache ihrer Einsamkeit benannt (Meurs, 2015).

Interviews zum Thema Integration, Ambivalenz und Radikalisierung Für muslimische Jugendliche mit Migrationshintergrund kann die Zuwendung zur westlichen Gesellschaft mit großen Ambivalenzen und Gefühlen der Einsamkeit einhergehen. Vorgestellt werden nachfolgend Interviewauszüge mit muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen (alle Namen geändert), die verschiedene, diesbezüglich bedeutsame Aspekte zur Sprache bringen. Emine (18 J.): Vor kurzer Zeit lief eine Dame im vollen Stadtbus in Brüssel gegen mich. Ich sagte noch, dass ich auch meinen Sitzplatz abgegeben hätte, wenn sie nur gefragt hätte. Dann fragte die Dame ganz unerwartet, woher ich komme und wo ich so gut Flämisch gelernt hätte. Interviewer: Was hast du darauf geantwortet? Emine:

Ich traute mir nicht zu, zu antworten. Ich fing dann an, selbst Fragen zu stellen: Warum sie denn wohl dachte, dass ich Ausländerin sei? Daraufhin musste sie über sich selbst lachen. Sie merkte, dass sie uns alle durch dieselbe Brille wahrnimmt, weil wir Muslime sind und ein Kopftuch tragen.

Interviewer: Und, hast du selbst dann noch was dazu gesagt, wo du so gut Flämisch gelernt hast? Emine:

Nein, eigentlich nicht. Ich dachte die ganze Zeit, ich möchte ihr erzählen, dass ich hier aufgewachsen bin und hier in die Schule gegangen bin, und dass ich Flämisch spreche, weil ich Flämin bin, aber ich traute mich nicht, ihr das zu sagen.

Interviewer: Warum eigentlich nicht?

Die Anziehungskraft des Extremen79 Emine:

Tja, ehrlich gesagt, ich weiß es selbst nicht. Wir halten den Mund. Ich zum Beispiel, weil ich denke, dass ich sehr schnell frech werde und auch, wenn viele Leute im Bus sind, oder wenn es böse Blicke gibt und ich nicht weiß, was andere darüber denken, wenn ich überhaupt einen Platz einnehme. Am liebsten wäre ich dann unsichtbar oder würde keinen Platz beanspruchen. […] Diese Frau sagte noch, dass, wenn sie mich nicht sehen würde und mein Kopftuch nicht gesehen hätte, sie überhaupt nicht gedacht hätte, dass ich Muslima sei.

Interviewer: Was dachtest du? Emine:

Ich denke dann: Ich spreche so gut Flämisch, weil ich Flämisch bin, aber auch: Na, was denkst du denn, dass wir mit Kopftuch alle dumme Muslime sind?

Interviewer: Eine Idee, warum du dann nichts davon sagst? Emine:

Eigentlich nicht. Und trotz allem bin ich innerlich sehr stolz. Aber nach außen kann ich das nicht zeigen, weiß nicht warum. Ich wollte sagen: »Ich bin eine von euch, ein Teil eurer Gesellschaft! Ich kann hier auch viel dazu beitragen. Aber ich habe dann Angst, allein dazustehen.«

Interviewer: Wieso? Emine:

Meine Freundinnen, Eltern, Geschwister denken manchmal, dass ich mir zu viel zutraue und mich von ihnen entferne. Und ich fürchte auch, dass andere glauben, dass ich einfach nicht modern sein kann, weil ich ein Kopftuch trage. In solchen Momenten steht man richtig alleine da. Das spürt man manchmal, wie im Bus. Manche ertragen diese Einsamkeit nicht, tauchen ab und suchen sich eine Antwort im Internet. Das ist keine Lösung, das weiß ich, aber ich verstehe es, manchmal suche ich da auch nach Antworten und manchmal glaube ich dann auch, dort die Antworten zu finden. Aber bei meinen Eltern habe ich gelernt, dass ich selbst suchen muss, statt die Antwort außerhalb meiner selbst zu suchen. Das ist, was mein Vater, der Lehrer ist, mir immer gesagt hat.

Integration ist im Narrativ der 18-jährigen Emine stark verknüpft mit der Angst, sich von der eigenen Familie zu entfernen und von dieser, genau wie von der Gesellschaft, nicht verstanden zu werden, und mit der Angst, nicht wirklich von der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Emine erzählt auch, dass junge Muslime dieser schwierig zu ertragenden Einsamkeit zu entkommen versuchen, indem sie Orientierung bzw. Antworten auf ihre Fragen im Internet suchen. Sie beschreibt darüber hinaus, wie wichtig es ist, dass ihre Eltern gegensteuern und ihr Kind nicht allein lassen: Die Antworten auf seine Fragen muss man

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zwar selber finden, aber man braucht andere, die eine/n Adoleszente/n im Blick behalten. Das Flirten mit extremen Ideen an sich ist in dieser Lebensphase nichts Ungewöhnliches. Unter normalen Umständen unterstützen die Eltern und die Gesellschaft Jugendliche darin, ein Gleichgewicht zu finden, indem sie sie nicht zu rasch zurechtweisen, sondern dazu anhalten, ihre extremen Ideen und Handlungen zu mäßigen bzw. damit nicht zu übertreiben. Allerdings haben zahlreiche allochthone Jugendliche ein sehr fragiles Selbstbild, und gerade bei dem Schritt zum Erwachsenwerden werden diese anfälligen Heranwachsenden von ihren Eltern oder der Gesellschaft oftmals nicht ausreichend unterstützt oder gemäßigt. Das Gefühl, von den Eltern und der Gesellschaft nicht verstanden zu werden, was ohnehin Teil der Adoleszenz ist, kann ebenfalls für Ambivalenzen sorgen, und zwar, wie im folgenden Fallbeispiel, für intergenerationelle Ambivalenzen innerhalb einer Familie. Aïcha (17 J.): Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meiner Mutter, als ich anfing, ein Kopftuch zu tragen, um zur Schule zu gehen. Sie sagte, ein Kopftuch sei nicht erlaubt und dass der Direktor sich gegen uns stellen würde, wenn ich es trage. Interviewer: Und was hast du dann gesagt? Aïcha:

Macht mir eigentlich nichts aus. Es ist auch immer was mit uns in der Schule. Und meine Mutter sollte nicht zu viel darüber sagen, sie kennt sich gar nicht aus mit meinem Kopftuch. Sie weiß nicht, was ich hier erlebe, sie hat niemals ein Kopftuch tragen wollen.

Interviewer: Ja? Aïcha:

Sie hat sich niemals mit jemandem darüber auseinandersetzen müssen; meine Großmutter trug ein Kopftuch. Meine Mutter sagte, dass ihre eigene Mutter das damals zugelassen hatte, dass sie kein Kopftuch trug. Also, warum interessiert meine Mutter sich dafür? Sie hat gut reden, aber sie weiß nicht, warum wir jetzt unser Kopftuch tragen wollen. Sie versteht das ganz einfach nicht.

Interviewer: Versteht deine Großmutter diese Dinge denn besser? Aïcha:

Ich habe niemals darüber mit ihr gesprochen. Meine Mutter erzählte noch vor eine Woche, dass meine Großmutter sagte, meine Mutter müsse mir die Zeit zum Suchen geben. […] Großmutter kann allerdings auch sehr harte Kommentare über die Mädchen von heute abgeben; sie denkt, dass ich eine große Klappe habe.

Interviewer: Mit wem sprichst du darüber, wenn es zu Hause nicht gut geht?

Die Anziehungskraft des Extremen81 Aïcha:

Vor allem mit Freundinnen, die sich auch für ein Kopftuch entschieden haben. Wir fühlen uns gut miteinander, als ob wir Geschwister sind. Wir fühlen uns gut beieinander. Nur meine Schwester ist ganz anders. Manchmal lacht sie mich aus, aber das ist kein Problem. Wir treffen uns mit mehreren Mädchen. Gemeinsam suchen wir noch andere Mädchen als Mitstreiterinnen. Wenn wir das machen, fühlen wir uns wieder mächtig und auch rein im Herzen, aber auch als Vorbilder in dieser Gesellschaft, denn unser Verhalten zeigt, dass wir im Recht sind. Mit unserem Verhalten zeigen wir, dass wir Teil von etwas viel Wichtigerem, dem Islam, sind, der viel größer ist als die Gesellschaft. Und meine Freundinnen suchen dann im Internet die Bestätigung für unseren Lebenswandel, in Facebook-Gruppen, wo wir einander unterstützen und in unserer Gedankenwelt bestärken. Ich werde mich bald auch dieser Gruppe anschließen, damit ich mich weniger allein fühle.

Damit sie sich weniger allein fühlt und sich als guter und reiner Mensch fühlen kann, sucht Aïcha die Solidarität einer Gruppe von Mädchen, in der diese sich moralisch überlegen (»im Recht«) fühlen und in der die Religion wichtiger als die Gesellschaft erscheint. Die Minderung von Einsamkeit, die einhergeht mit der Suche nach Identität als Muslima in der westlichen Welt, spielt bei Aïcha eine große Rolle. Sie spricht von Gefühlen der moralischen Überlegenheit und indirekt von der Gefahr, dass diese Mädchen gerade im Kontext dieser entwicklungsbedingten Gefühle dazu getrieben werden, in den Einfluss von Predigern zu geraten. Was fehlt, sind Erfahrungen der Verbindung, aber auch der Anerkennung (Honneth, 1992) und ein Gefühl, einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten/leisten zu können (»contributing in«: Winnicott, 1963). Rachid (17 J.): Vor einem Monat wollte ich dem Lehrer bei einigen Vorfällen zwischen verschiedenen Gruppen in der Schule helfen. Ich war enttäuscht, als er sagte, dass ich das nicht könne. Ich war überrascht, als er sagte, dass ich das nicht tun könnte. Interviewer: Und wie ist es weiter gelaufen? Rachid:

Eigentlich gar nicht mehr. Ich dachte noch: Jetzt müssen die Lehrer es selber mal klären, wenn sie unsere Hilfe nicht wollen.

Interviewer: Was hast du denn befürchtet, als er das so sagte? Rachid:

Ja, hey, ich wollte etwas für die Schule tun und dann wollen die das nicht. Es ist immer das Gleiche!

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Interviewer: Wie kommt es, dass du dich dann so zurückziehst, also nach der Reaktion des Lehrers? Rachid:

Wir möchten gerne helfen, das ist nicht das Problem. Aber die Lehrer sehen das nicht. Die denken niemals an uns, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Ja, und dann tue ich nichts mehr.

Interviewer: Höre ich Zorn? Rachid:

Zorn? Ich? Niemals! Aber ängstlich bin ich schon.

Interviewer: Angst wovor denn? Rachid:

Das wir niemals ein Gefühl haben werden, hier etwas beitragen zu können. Ich würde das schon gut finden, wenn wir das könnten, aber ich denke, dass wir in euren Augen niemals etwas bedeuten werden. Ich weiß, dass das nicht stimmt, aber ich empfinde es manchmal so und fürchte dann: Wir sind nichts wert.

Im nächsten Interview beschreibt Soumaya eine »doppelte Einsamkeit«, die Erfahrung einer unsichtbaren Kluft für Jugendliche mit Migra­ tionshintergrund und der Illusion der Rückkehr in die Vergangenheit. Interviewer: Was würdest du von deinen Eltern brauchen, damit du in dieser Lebensphase deinen Weg finden kannst? Soumaya (22 J.):

Dazu sollten meine Eltern uns zur Seite stehen, uns verstehen und uns unterstützen. […] Ich weiß natürlich, dass unsere Eltern uns lieben, aber ab einem bestimmten Punkt stehen wir alleine da. Und das ist manchmal schwer zu ertragen, gerade in solchen Momenten, wo man sich Unterstützung wünscht.

Interviewer: Sind Jugendliche und junge Erwachsene ohne Migrationshintergrund denn weniger alleine? Soumaya:

Allein sind die schon auch, aber für uns ist das noch schwerer. Weil wir noch stärker alleine dastehen, mit weniger Halt der Eltern, um diese Kluft überbrücken zu können.

Interviewer: Kluft? Soumaya:

Tja, als Kind in einer Migrantenfamilie – das ist eine Kluft, die man nicht sehen kann. Als Kind von Migranten wird man oder fühlt man sich mehr auf sich allein gestellt. Unsere Eltern, die davon etwas merken, kennen dieses Gefühl aus eigener Erfahrung nicht, weil deren Kampf ein anderer war. Sie kämpften darum, überhaupt hier bleiben zu können. Wir aber, die Kinder, sind hier geboren, aufgewachsen, in die Schule gegangen – und nichtsdestotrotz sind wir nicht ganz von hier. Und unsere Eltern ziehen sich auch öfter in die Vergangenheit zurück.

Die Anziehungskraft des Extremen83 Viele aus unserer Generation möchten vorankommen, aber es gibt auch junge Erwachsene, die sich auf eine andere Art und Weise in die Vergangenheit zurückziehen, wenn sie noch reiner sein möchten oder einer reineren Lehre des Glaubens anhängen wollen als ihre Eltern und Großeltern. Dann werden die zu Extre­misten, unerträglichen Radikalen, zum Glück ist das nur eine sehr kleine Anzahl. Die Mehrheit der jungen Muslime haben eine positivere Einstellung, wollen nicht auffallen und wollen hier einen Schul­ abschluss machen, wollen hart arbeiten. Wir teilen mit unseren Eltern dieselben Familiengeschichten, aber unsere Eltern wollen das auf eine andere Art und Weise zeigen als wir. So kommt es dazu, dass Eltern und Kindern sich nicht verstehen, genau wie ihr uns nicht versteht. Daher die Angst, eine Fremde zu werden in der eigenen Familie und Gesellschaft – dann kann man sich extrem einsam fühlen.

Soumaya macht deutlich, dass Integration und Vorankommen in dieser Gesellschaft auch Ambivalenzen und Einsamkeit mit sich bringen und dass bestimmte Jugendliche eine Alternative darin suchen, sich zurückzuziehen. Die Einsamkeit hängt damit zusammen, dass die Eltern (und die Nicht-Migranten) im Vergleich zu den Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine andere Position im Leben haben, eine Erfahrung, die eng mit der Angst verbunden ist, sich fremd in der eigenen Gesellschaft und in der eigenen Familie zu fühlen. Interviews dieser Art liefern einen wichtigen Einblick in Themen, die Jugendliche mit Migrationshintergrund beschäftigen und die in entsprechenden Jugendgruppen, wie wir sie im Rahmen unseres in Belgien und Deutschland durchgeführten Präventionsprogramms »Youth Steps« anbieten, besprochen werden können. Die tiefe Einsamkeit von bestimmten muslimischen Jugendlichen macht einen Rückzug in einen sehr frommen Lebensstil attraktiv. In diesem, mit anderen geteilten Lebensstil wird die Einsamkeit aufgehoben und man fühlt Verbundenheit. Die Kluft zur Gesellschaft rückt in den Hintergrund, die eigenen ambivalenten Gefühle zur Gesellschaft werden scheinbar unwichtig.

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Der steinige Weg zurück aus dem Kalifat In Gesprächen mit jungen Erwachsenen, die vor fünf Jahren nach Syrien gegangen sind und sich dort mit Dschihadisten verheiratet und mit ihnen Kinder bekommen haben, werden andere Aspekte deutlich; Sunia (Name geändert) ist 24 Jahre alt, Mutter von vier Kindern. Sie kommt im Rahmen ihres Re-Integrationsprozesses in die therapeutische Sprechstunde. Sie hatte gebeten, gemeinsam mit ihren Kindern nach Belgien zurückkehren zu dürfen und wird seitdem von den belgischen Behörden engmaschig kontrolliert. Ihre Kinder sind bei ihren Eltern in Pflege. Aus der Distanz, im Flüchtlingslager in Kurdistan, wollte sie zurück in die belgische Gesellschaft, hier in Europa wechselt ihre Haltung jede Sitzung zwischen distanzierter Freundlichkeit und massiver Wut. Sie fühlt sich sehr verwirrt, macht (sich, anderen?) Vorwürfe darüber, dass sie wieder heimkehren konnte, schimpft und schreit.

In diesen Vorwürfen höre ich etwas, das ich auch oft von Jugendlichen gehört habe, die unmittelbar vor ihrer Abreise ins Kalifat festgenommen wurden: eine schier unbegrenzte Wut. Oftmals wird eine große Hoffnungslosigkeit deutlich, wenn Sunia nach diesen Wutausbrüchen völlig erschöpft ist. Nicht im »face à face« der therapeutischen Begegnung, aber in einem Brief schrieb sie: »Ich muss meine Frustration und Raserei irgendwo zeigen. […] Ich kenne nur eine Person, bei der ich das tun kann, und das bist du. Es tut mir leid, dass ich dich dann wegschiebe, bitte, sei weiterhin für mich da, denn ich kenne niemanden, der diese Anteile von mir ertragen könnte. Sunia.«

Auf einen kurzen Moment des Durchbrechens der paranoid-­schizoiden Position folgen jedoch immer wieder lange und heftige Episoden von Ablehnung und Wut, einhergehend mit Phantasien von Rache und Vernichtung. Bei Sunia ist es, als ob jede Hinwendung zum Therapeuten die Angst und den Groll noch steigern würde. Wenn eine Psyche sich einmal in diese abgespaltene Welt des Kalifats zurückgezogen hat, droht mit dem Fall oder der Vernichtung dieses (inneren) Kalifats auch die Fragmentierung oder Zersplitterung der individuellen Psyche. Der Weg zurück aus dem Kalifat, aus dem abgespaltenen Ideal in die Realität, ist ein sehr langer Weg, bei dem jeder Moment der Öffnung unmittelbar wieder vernichtet werden kann; die geringste Spur von Ambivalenz ist zunächst völlig unerträglich; der Rückzug in eine

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abgespaltene idealisierte Welt zugleich unmöglich, die Konfrontation mit der eigenen Zersplitterung ebenfalls fast unerträglich. Hoffnungsvoll stimmt jedoch, dass die Patientin die Möglichkeit, aus diesem Leben auszusteigen, ablehnt, und auch Mitteilungen wie die folgende: »Meine Kinder dürfen mich jetzt so nicht sehen; später werde ich hoffentlich wieder eine Mutter sein können.« Bei heimkehrenden IS-Müttern wie Sunia ist die Rückkehr ein sehr schwieriger innerer Kampf gegen Zersplitterung und Vernichtungsgefühle, wobei jeder kleine Schritt in Richtung Ambivalenz und Re-­ Integration von Scham, Selbstvorwürfen und Wut verhindert werden kann. Es sind solche Fälle, die uns verdeutlichen, wie schwer der Weg zur Re-Integration sein kann, wenn man mit dem Abgrund der Zersplitterung und der Fragmentierung konfrontiert ist.

Fazit Wie schon in der Einleitung angedeutet, hat Radikalität (gerade auch in religiöser Hinsicht) ihre konstruktiven und/oder erfüllenden, verbindenden und adaptiven Formen. Es gibt in Bezug auf Radikalität jedoch oft auch sehr problematische Schattenseiten, genau wie jede Religion ihre Schattenseiten hat – im katholischen Christentum tritt sie z. B. im Kindesmissbrauch durch Priester in Erscheinung. In Bezug auf den Islam haben wir zwei Formen dieser Schattenseiten beschrieben: Erstens: die neurotisch zwanghafte Form der radikalen Reinigung des Selbst. Die Aggressionen, die sich auf andere richten, werden meistens verkannt und bleiben unbewusst (»Wir haben an sich nichts gegen die westliche Gesellschaft; sie hat jedoch für uns nur eine sekundäre Bedeutung«). Der Gläubige »muss« sich dermaßen mit sich selbst und seiner Religion beschäftigen, dass die Frage des »Selbst in der Gesellschaft« in den Hintergrund gerät. Zweitens gibt es den gewaltbereiten Dschihadismus, in welchem der Groll und Hass gegen den anderen mehr an die Oberfläche tritt, z. B. in Rachephantasien (kognitive Radikalisierung) oder in der Hinwendung zu Gewalt und Krieg (aggressive verhaltensorientierte Radikalisierung). Spaltungen im Weltbild findet man in beiden Ausformungen der islamischen Radikalisierung. In der zwanghaften Reinigung wird Aggres-

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sion in der Form einer sehr kritischen Selbstevaluation gegen sich selbst und in der Form von Überlegenheitsgefühlen und einem Sich-Zurückziehen aus der Gesellschaft gegen den Westen gerichtet. Die positive Seite der Spaltung findet sich in der Idealisierung des Salafis wieder, einem Ideal, dem mit immer größerem Glaubenseifer nachgestrebt werden muss. Die negative Seite der Spaltung findet sich in einer kritischen Haltung sich selbst gegenüber (mit einem beängstigenden Gottesbild) und in der Distanzierung gegenüber der westlichen Gesellschaft wieder. Der »furios strebende Muslim« – »le furieux désir du sacrifice«, Benslama (2017) fühlt sich erhaben. Integration wird gedacht als ein Verringern der Kluft zwischen der Realität des Gläubigen und dem Ideal des Salafis, jedoch nicht im Sinne eines sich Annäherns an die (westliche) Gesellschaft. Bei den gewaltbereiten Kämpfern handelt es sich um eine andere Art der Spaltung. Dschihadisten identifizieren sich mit einem verletzten und zornigen Gott. Aggression wird im Namen Gottes ausgeübt. Nicht der Konflikt mit sich selbst steht im Mittelpunkt des religiösen Lebens, sondern die Auseinandersetzung mit der westlichen Gesellschaft. Die Ambivalenz ist in einem solchen Fall auch viel ausgeprägter und bewusster. Die zwanghafte radikale Reinigung dient letztendlich einer Identifikation mit einem guten Ideal; die Ambivalenzen werden gegen sich selbst (»Ich bin nicht gut genug, noch lange nicht ideal genug«) oder gegen die Gesellschaft (»Was die Gesellschaft wichtig findet, hat für mich keinen Wert«) gerichtet. Solche Ambivalenzen bleiben meistens latent oder im Hintergrund, sind aber gerade dadurch sehr einflussreich. Der gewaltbereite radikale Kampf identifiziert sich mit einem streitbaren Ideal. Die Ambivalenzen (»Ich bin großartig im Kampf gegen die Ungläubigen« oder »Die Gesellschaft ist dasjenige, was mich und meinen Glauben vernichtet; deshalb muss ich vernichten, was uns vernichtet«) stehen im Vordergrund und sind manifest; der Kampf gegen die Gegner des »wahren Islam« wird dann bei dieser Subgruppe von Radikalisierten das einzige Leitmotiv. Diese zwei radikalen Positionen sind Symptome der Schattenseite der muslimischen Religion. Diese Schatten- und Kehrseite hat sich im Islam schon sehr früh im Umgang mit Ohnmacht und Verlusten der Glaubensgemeinschaft gezeigt. Die Konfrontation mit dieser unbewussten Schattenseite des eigenen Glaubens ist später, ab dem 9. Jahr-

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hundert, bei manchen Muslimen in den Hintergrund geraten, weil der Kampf mit sich selbst gegen andere gerichtet wurde. Aktuell sieht man bei islamischen Philosophen, Theologen und Imamen, die den interreligiösen Dialog wichtig finden, die Bereitschaft, sich mit dieser Schattenseite des eigenen Glaubens auseinanderzusetzen. Solche Prozesse, sich der Schattenseite des eigenen Glaubens anzunähern, erfordern fast eine psychoanalytische Haltung. Es bleibt zu hoffen, dass diese (psychoanalytisch inspirierte) Reflexion neue Chancen zum Dialog und Möglichkeiten bietet, um an die positiven und kreativen Zeiten des Austauschs zwischen Westen und Orient, Christentum und Islam wieder anzuknüpfen, die es in der Geschichte bereits gegeben hat (Frankopan, 2016).

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Ambivalenzfähigkeit: Eine neue Herausforderung in Therapie und Gesellschaft?

Zusammenfassung Mein Beitrag ist ein Versuch, das wertvolle psychoanalytische Konzept der Ambivalenzfähigkeit wieder stärker in Erinnerung zu bringen. Die Fähigkeit zur Ambivalenz ist eine Forderung sowohl in der Psychotherapie als auch in einer modernen komplexen Gesellschaft. Ambivalenz impliziert, dass das Subjekt sich der miteinander in Konflikt liegenden aggressiven, rivalisierenden, selbstbehauptenden, liebenden und abhängigen Anteile seines Selbst und des anderen bewusst wird. Dies versetzt ein Subjekt in die Lage, Verantwortung für die eigenen Aggressionen, Ängste und Wünsche zu übernehmen. Ambivalenzfähigkeit ist eine Voraussetzung dafür, Ängste und konflikthafte Widersprüche zu erleben, zu verstehen und mit dem anderen in Beziehung zu treten. Anhand der Fallstudie eines türkischen depressiven Patienten, der multiplen Migrationsbewegungen ausgesetzt war, wird das Ringen um Ambivalenzfähigkeit sowohl auf Patientenseite als auch auf Therapeutenseite dargestellt. Patient und Therapeutin drohten immer wieder in Spaltungen, kulturellen Verstrickungen und narzisstischen Kränkungen zu versinken. Es werden die Begegnungen und Affekte im intersubjektiven Raum dargestellt, die zunächst die therapeutische Arbeit bedrohten und später einen gemeinsamen Prozess ermöglichten, bei dem die Ambivalenzfähigkeit auf beiden Seiten (wieder)hergestellt wurde.

Was ist und wozu dient Ambivalenztoleranz? Ambivalenz vs. Spaltung Ambivalenztoleranz kann als die Fähigkeit definiert werden, das be­­ wusste Wahrnehmen des Konflikthaften auszuhalten. Ein Gefühl von Am­bivalenz impliziert, dass das Subjekt sich der miteinander in Konflikt liegenden aggressiven, rivalisierenden, selbstbehauptenden, liebenden und abhängigen Anteile seines Selbst und des Objekts bewusst wird. Widersprüchliche Motive sollen nicht länger abgespalten, projiziert, verleugnet oder verdrängt werden. Dies versetzt ein Subjekt in

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die Lage, Verantwortung für die eigenen Aggressionen, Ängste und Wünsche zu übernehmen. Ambivalenzfähigkeit ist eine Voraussetzung dafür, Ängste und konflikthafte Widersprüche zu erleben und zu verstehen. Ambivalenz beinhaltet ein Sowohl-als-auch. Sowohl Ambivalenz als auch Ambiguität sind Begriffe »für alle Phänomene der Mehrdeutigkeit, der Unentscheidbarkeit und Vagheit, mit denen Menschen fortwährend konfrontiert werden« (Bauer, 2018, S. 13). Der Begriff Ambiguität bedeutet Mehrdeutigkeit (Doppelsinn). Das Konzept der Ambiguitätstoleranz bezeichnet zunächst vereinfacht gesagt, die Fähigkeit, Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können. Der Begriff Ambivalenz geht auf das lateinische ambo = beide sowie valencia = Stärke zurück. Das Konzept der Ambivalenz wurde 1911 von dem Schweizer Psychiater Bleuler geprägt, er beschrieb damit die Zustände seiner Patienten in Form einer widersprüchlichen Verknüpfung von liebevollen und aggressiven Impulsen, bezogen auf ein und dasselbe Objekt. Lange lebten wir in einer Gesellschaft, in der Anpassung an ein äußeres System, also Triebverzicht, bisher die Basis für Gelingen war. Da wurden Fähigkeiten wie Differenzieren, Aushalten und Annehmen von Widersprüchen nicht so benötigt. Brauner (2018, S. 168) betont, »dass noch zu Freuds Zeiten die Kultur das Individuum zur Räson, während heute das Individuum die Kultur zur Resonanz zu bringen sucht«. Unser Rendezvous mit der Globalisierung erfordert neue Fähigkeiten. Eine globalisierte Welt mit ihren Entgrenzungen braucht die Fähigkeit, Ohnmacht zu regulieren, Differenz anzuerkennen und Spannungen auszuhalten. Das bedeutet eben auch, Ambivalenz handhaben zu können. Das Komplizierte an der Gegenwart ist die Widersprüchlichkeit. Schon Erik Erikson (1988) beschrieb in seiner Entwicklungspsychologie das Individuum bei der Bewältigung des Konflikthaften. In und mit Widersprüchen leben, ohne zu verzweifeln oder zu verdammen, das nennt man wohl Entwicklungsaufgabe. Und diese ist schwer! Es scheint so, als seien Menschen per se eher ambivalenzintolerant. Erinnern wir uns: Wahrscheinlich kennen Sie alle das Video, in dem ein Chemnitzer Einwohner, wahrscheinlich neonationalsozialistischer

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Gesinnung, einen Ausländer verfolgen will. Die geplante Jagd auf diesen Fremden wird jedoch durch die Videografin mit den Worten »Hase, du bleibst hier! Du bleibst hier!« gestoppt. Diese Szene hat neben Entsetzen auch für viel Gelächter gesorgt. Der vermeintliche »Hase« war augenscheinlich nach Videobeweis ein bulliger Kahlkopf, der mit flatternden Händen an der Bordsteinkante nervös auf seinen Einsatz wartete – und nur durch Beschwörung seiner Dompteurin vom Jagdfieber abgehalten werden konnte. Immerhin kommt er zur Umarmung der Allerwertesten zurück. Diese Szene wurde zum Gegenstand von Kabarett und Comedy – zu Recht. Aber lassen Sie uns doch auch mal darüber nachdenken, wie viel gewonnen wäre, wenn der kahlköpfige Hase diese Stimme in sich trüge, wenn er selbst ambivalent werden könnte. Mein Beitrag ist ein Versuch, das wertvolle psychoanalytische Konzept der Ambivalenzfähigkeit wieder stärker in Erinnerung zu bringen: »Toleranz gegenüber Ambivalenz im Sinne einer Fähigkeit, Spannungen und Widersprüche wahrzunehmen, auszuhalten und sich von ihnen zu Weiterentwicklungen anstoßen zu lassen, galt in der Psychoanalyse stets als Zeichen reifen, angemessenen Umgangs mit der Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit sowohl der äußeren wie der inneren Welt« (Waldvogel, 2000, S. 55). Ambivalenztoleranz war und ist ein primäres Therapieziel und eine Forderung an den Psychoanalytiker, um arbeitsfähig sein zu können. Erreicht wird diese Ambivalenzfähigkeit dadurch, dass Unerträgliches in Symbolisierbares verwandelt wird, also durch Mentalisierung. Für Ambivalenztoleranz müssen wir reif sein. Wir benötigen also mehr denn je reife Individuen, die sich nicht im Kampf mit primitiven Abwehrmechanismen befinden. Reife Abwehrmechanismen sind solche, die auf Verdrängung zurückgreifen, um eine innere Realität zu bewältigen. Dies sind adaptive und flexible Copingstrategien. Insbesondere Alfred Adler (2007– 2010) hat immer wieder betont, dass Abwehrmechanismen immer auch Sicherungsmechanismen sind. Unterdrückung, also die eigentliche Form der Verdrängung, gehört dazu. Es ist eine positive Qualität, das zu können. Andere reife Abwehrmechanismen sind Sublimierung, Antizipation, Humor, Selbstbehauptung, Selbstbeobachtung, Altruismus und Affiliation (Beigesellung).

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Unreife Abwehrmechanismen sind solche, die auf Spaltung beruhen: Idealisierung und Entwertung, Verleugnung, Verschiebung, Affektualisierung, Projektion und Regression gehören dazu. Diese Abwehrmechanismen versuchen, widersprüchliche Affekte abzuspalten, sie zum Verschwinden zu bringen. Dadurch entstehen grobe Verzerrungen. Die Spaltung steht der Ambivalenzfähigkeit entgegen. Prozesse, die zur Ambivalenztoleranz führen, sind die Aufhebung von Verdrängung und Spaltung und die Fähigkeit des Betrauerns. Dabei toleriert der Mensch das bewusste Erleben von konflikthaften Objektbeziehungen und exploriert die damit einhergehenden Ängste und Fantasien. Melanie Klein hat dies in ihren Konzepten der paranoiden und depressiven Position deutlich illustriert (Klein, 1996). Klein beschreibt dabei die innere Welt nicht als Reproduktion der Außenwelt, sondern als Ergebnis von Introjektion und Projektion. Internalisierungsprozesse spielen dabei eine maßgebliche Rolle. Kernberg (1997) betont die Bedeutung der Objektbeziehungen bei den Internalisierungsprozessen von Inkorporation, Introjektion, Identifizierung und Ich­­-Identität. In Objektbeziehungen werden Funktionsmodi entwickelt. Dazu gehören unter anderem basale Spannungsregulation, Selbstorganisation, Affektkontrolle, Realitätsprüfung und Symbolisierungsfähigkeit, intrapsychische Konfliktlösung und Integration. Heute sind Individuen über alle Kulturen hinweg mehr denn je auf psychische Strukturen angewiesen, die die Fähigkeit zur Differenz und Ambivalenz besitzen. Die Geschichte der Ambivalenztoleranz ist wechselhaft (Bauer, 2018). Nach Bauer gibt es einen regen Wechsel von ambivalenztoleranten und -intoleranten Epochen. Ambivalenz­ tolerante Phasen wie Renaissance, Humanismus und Barock wechselten mit intoleranten Epochen, wie die Religionskriege, die Französische Revolution und das Zeitalter der Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts. Intolerante Phasen sind durch Fundamentalismus geprägt. Jedem Fundamentalismus liegt eine Ambivalenzintoleranz zugrunde, deren primärer Abwehrmechanismus der der Spaltung ist. Spaltungen dienen dazu, Angst zu bewältigen und subjektiv un­­ er­träg­lichen Schmerz zu vermeiden. Dies kann zu pathologischen Abwehrformationen führen, die potenziell bei jedem Menschen möglich sind. So eine Fehlentwicklung wäre zum Beispiel ein Zustand, in dem sich der Mensch in einer pathologischen Organisation befindet,

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wie wir es aus der Arbeit mit Borderlinepatienten und narzisstischen Neurosen kennen. Ambivalenzfähigkeit, also die Fähigkeit, Menschen, sich selbst und andere, in ihren guten und negativen Eigenschaften wahrzunehmen, Konfliktfähigkeit und die Fähigkeit zum Containment von Differenz stellt wohl eine der größten aktuellen Herausforderungen an die Gesellschaft und das Individuum dar. Die innere Fähigkeit zum Ambivalenzkonflikt wird in der psychischen Entwicklung in der Kindheit angelegt, gelangt unter guten Bedingungen zur Reife und stabilisiert sich bis ins hohe Alter. Ambiguitätstoleranz verweist auf die Art und Weise, wie ein Individuum oder auch eine Gruppe Informationen über vieldeutige Situationen angesichts ungewohnter, komplexer oder widersprüchlicher Hinweise wahrnimmt und verarbeitet. Eine notwendige Bedingung dafür ist die Mentalisierungsfähigkeit. Für das Bewältigen von Ambivalenzen sieht man in erster Linie die frühen Beziehungserfahrungen eines Menschen als maßgeblich an. Wir wissen, dass wichtige Bezugspersonen im Individuum abwechselnd sehr negative, aber auch sehr positive Erlebnisse auslösen. So entsteht die Neigung, wichtige Bezugspersonen gleichzeitig zu lieben und zu hassen. Adäquate Beziehungserfahrungen können die Ambivalenzfähigkeit vergrößern, gelingt jedoch ihre Ausbildung nicht, kommt es zur Spaltung in Gut und Böse. Ambivalenz auszuhalten, scheint ein Grundstein einer gesunden psychischen Entwicklung zu sein mit den Möglichkeiten zur Affektregulation und zur Entwicklung reifer Abwehrmechanismen. Im Gegensatz zur Ambiguität, die sich auf die Wahrnehmung von Dingen bezieht, also die Vieldeutigkeit im Vordergrund sieht, beschreibt Ambivalenz die Stärke von Affekten. Seelische Gesundheit meint eben die Fähigkeit, Widersprüche und Spannungen nicht nur wahrzunehmen, sondern sie auch aushalten zu können und sie als Entwicklungsforderungen zu verstehen. Die psychische Reife eines Menschen zeigt sich in der Fähigkeit zur Ambivalenztoleranz und damit in der Fähigkeit, reife Abwehrmechanismen zu benutzen. Denkt und spürt jemand über mentale Zustände bei sich oder einem anderen nach, so bezeichnen wir dies als Mentalisierung. Dies bedeutet, die Fähigkeit zu besitzen, ein Gefühl zu haben und gleichzeitig darüber nachdenken zu können. Es ermöglicht einen Perspektivenwechsel

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und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen. Diese Fähigkeit ist verbunden mit emotionaler Intelligenz und Selbstregulation. Verschiedene psychoanalytische Theoriekonzepte beschreiben Aspekte, die zur Entwicklung dieser Fähigkeit führen, zum Beispiel Bowlbys Bindungstheorie, Bions Containermodell und Winnicotts Modell von Holding und Spiegelung.

Die Bedeutung der Ambivalenzbejahung für die moderne Gesellschaft Kurt Lüscher hat eine menschenbildliche Vorstellung zur Diskussion gestellt, nämlich jene des »homo ambivalens«, womit er die Fähigkeit des Menschen hervorheben wollte, Ambivalenzen zu erfahren und zu erleben (Lüscher, 2011). Ambivalenzfähigkeit ist eine große Errungenschaft der Psyche und signalisiert ein starkes Ich. Dieses Ich muss entwickelt werden: in der kindlichen Entwicklung, in der Erziehung, in der Therapie und in der Gesellschaft. Wir benötigen eine affektbeherrschte Zivilisiertheit und diese ist nur zu erreichen, wenn wir Ambivalenz zulassen und Ambivalenzfähigkeit fordern und fördern. Wenn dies nicht gelingt, sind die Individuen in unserer hyperkomplexen Gesellschaft zur Ignoranz und Spaltung verurteilt. Wenn uns dies nicht gelingt, ist unsere demokratische Kultur verloren. Okropiridze (2018) hebt hervor, dass für die Bildung einer Identität heute die Ausbildung von Äquivalenz und Differenz maßgeblich sind. Äquivalenz wäre in unserem Verständnis das Erleben von Gemeinsamkeit und Ähnlichkeit im Sinne des Gemeinschaftsgefühls. Unter Differenz versteht er das Erleben von Unterschiedlichkeit. »Differenz bedeutet, dass, wie stark auch immer die Gruppe sein mag, die das ›Wir‹ stiftet, sie doch stets aus Individuen zusammengesetzt ist, die sich voneinander unterscheiden« (Okropiridze, 2018, o. S.). Die Hinwendung zu autoritären Gedanken und Ideologien ist ein Ausdruck von Ambivalenzunfähigkeit. Bei diesen Ideologien hat die Spaltung Priorität. Wir können in unseren westlichen Gesellschaften eine Entwicklung zum Autoritären beobachten. Diese Entwicklung ist begründet in einer Unfähigkeit, mit Ängsten und Unsicherheit umzugehen. Lieber Repression und Regression als Chaos. Das Autoritäre

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repräsentiert die Unfähigkeit, mit Ambivalenz umzugehen. Okropiridze (2018, o. S.) beschreibt dabei die rasante Zunahme sozialer Echokammern: »Das sind – nochmals abstrakt formuliert – relativ kleine Gefüge von Vorstellungswelten, die Informationen praktisch nur im Innern ihrer selbst zirkulieren lassen und jeden Außenreiz sofort als Bestätigung der bereits vorliegenden Annahmen über die Welt interpretieren. […] Die sozialen Echokammern leisten Schadensbegrenzung am fragmentierten ›Ich‹ und stabilisieren kurzfristig kollektive Identitäten, wenn auch um einen hohen Preis. Das feste Äquivalenzverhältnis mit einem starken ›Wir‹ dient nicht etwa der affirmativen Bejahung der Gruppe, sondern der Kaschierung eines schwachen ›Ich‹«. Der Soziologe Ralf Dahrendorf stellte schon in den 90er Jahren fest, dass die Globalisierung den autoritären Verfassungen helfe und nicht den demokratischen. Die rechte Autokratie verspricht die Befreiung von der Befreiung. So braucht es auch nicht mehr der Entwicklung anstrengender psychischer Regulationsmechanismen und Kernkompetenzen. Kindliche Irrationalität und Regression ersetzen Affekt­kontrolle und Ambivalenzfähigkeit. Guignard (2016) erkennt in der heutigen kindlichen Entwicklung das Verschwinden der Latenzphase. Es gäbe keine »Cool-down«-Phase mehr, der Mensch bleibe ständig erregbar wie in der ödipalen Phase. Erregte Menschen bevorzugen zur Regulation Spaltungsmechanismen: Gut und Böse, Wir und die Anderen … Carlo Strenger hat dagegen in einem Essay den Begriff der »zivilisierten Verachtung« geprägt, womit er die Fähigkeit beschreibt, in globalisierten Zeiten eine Ambivalenzfähigkeit zu entwickeln, die eine Kritik der Kulturen ermöglicht. Zivilisierte Verachtung sei die Fähigkeit, fremde und eigene Werte infrage stellen zu dürfen und zu müssen, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren. Ambivalenzfähigkeit sei notwendig, da wir alle in einer kosmopolitischen Gesellschaft damit konfrontiert werden, Kränkungen auszuhalten. »Alle Menschen und Gruppen sind tief in ihrer jeweiligen Kultur verwurzelt, die ihre Identität konstituiert und in der religiöse, nationale, ethnische und politische Aspekte zusammenfließen. Nicht gekränkt zu sein, wenn Säulen der eigenen Kultur attackiert werden […], ist für uns alle schwierig« (Strenger, 2015, S. 77). Es brauche die Kraft, den Spaltungen zu widersprechen, indem man aktiviert, was der Spaltung abgeht: genaues Beobachten,

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die Fähigkeit zum Selbstzweifel, eine nicht nachlassende Differenzierung und zivilisierte Selbstbehauptung. Marcuse (1965/1984) wünscht sich ganz ähnlich eine »befreiende Toleranz«, die den Streit sucht und ermöglicht, damit am Ende Frieden herrscht.

Psychoanalyse als Modell für die Entwicklung von Ambivalenzfähigkeit Hier zeigen sich zentrale Aufgaben, mit denen wir immer wieder konfrontiert werden in unserem Alltag und in unseren Psychotherapien, nämlich die Entwicklung der Kompetenz, mit Zweifel, also mit Kränkungen, die Fähigkeit, mit Differenz. also letztendlich mit Ambivalenz umzugehen. Die Psychoanalyse kennt diese Aufgabe schon lange im zentralen Konzept des Narzissmus. Und Ziel jeder Psychoanalyse ist, Unerträgliches in Symbolisierbares zu verwandeln. Auch so entsteht Ambivalenzfähigkeit und Ambiguitätsfähigkeit. Die psychoanalytische Behandlungsmethode bietet auch ein Modell für die Entwicklung von Ambivalenztoleranz. Die analytische Methode ist eine rezeptive. Diese Rezeptivität ist in der inneren Verarbeitung (im Mind) des Analytikers mit einer Regression verknüpft, die ihn in besonderer Weise für die Äußerungen des Unbewussten des Patienten öffnet. Das schließt auch die Fähigkeit ein, Momente zu ertragen, in denen nicht verstanden wird, was im Rahmen des therapeutischen Geschehens vor sich geht. Sowohl der Patient als auch der Psychoanalytiker müssen mit Beschränkungen leben. Die Abstinenzfähigkeit des Psychoanalytikers und des Patienten korrespondiert mit der Abstinenzregel und der Neutralitätsregel: –– Die Abstinenzregel besagt, dass die psychoanalytische Behandlung so geführt werden soll, dass der Patient die geringst mögliche Ersatzbefriedigung für das Symptom findet. Für den Psychoanalytiker bedeutet es, auf die heimliche Durchsetzung eigener (Trieb-) wünsche zu verzichten. Dies führt zum Erhalt eines Spannungspotenzials, das den psychoanalytischen Prozess in Gang setzt. Vom Patienten und vom Psychoanalytiker wird Verzicht verlangt. Die Fähigkeit dazu ist abhängig vom Strukturniveau.

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–– Die Neutralitätsregel hingegen verlangt allein Verzicht vom Psychoanalytiker, Verzicht auf die Verfolgung eigener Ansichten und Vorurteile, Verzicht auf suggestive Techniken (d. h. Verzicht auf psychotherapeutischen Ehrgeiz), Verzicht auf die Verfolgung eigener Werte. Der Therapeut sollte einen gleichmäßigen Abstand zum Es, Ich und Über-Ich des Patienten halten, er sollte für keine Seite des Patientenkonfliktes Partei ergreifen. Sowohl Unsicherheit, Alleinsein und Fremdsein als auch Warten und Bedürfnisverschiebung scheinen die entwicklungspsychologische Anforderungstrias an den Psychoanalytiker zu sein und auch an den modernen Menschen an sich. In Begegnungen sind wir gefordert, sowohl stabil als auch ständig in Bewegung zu sein. Ambivalenz­ toleranz ist dafür eine notwendige Bedingung. Dazu gehört Reserviertheit, eine gewisse Fähigkeit zu schweigen, eine Art Passivität, sozusagen eine abwartende Haltung und gleichschwebende Aufmerksamkeit. Der Verlust von Ambivalenztoleranz, die Unfähigkeit, Differenz auszuhalten, führt zu Spaltungen, die Einfühlung, Mentalisierung, Akzeptanz, Kooperation und Begegnung verunmöglichen. Der Verlust von Ambivalenztoleranz verunmöglicht therapeutisches Arbeiten. Mit meinem Fallbeispiel möchte ich mein Ringen um Ambivalenz­ toleranz darstellen.

Falldarstellung Ich möchte Szenen einer Therapie aus der psychoanalytischen Behandlung eines 45-jährigen türkischen Patienten mit einer schweren Depression auf dem Boden einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur darstellen. In der Behandlung gelang es, sowohl die schweren depressiven Symptome als auch die frühen Verletzungen und daraus resultierenden Selbst- und Selbstwertstörungen zu bearbeiten. Es gelang in einem intersubjektiven Rahmen, den Empathie- und Resonanzmangel zu verstehen und auch ein Stück zu kompensieren. Es gelang zunehmend, seine Wünsche nach und seine Ängste vor Nähe zu bearbeiten. Aber warum muss ich vorneweg so viel vom Gelingen erzählen?

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Mit meinem Fallbeispiel möchte ich in der Begegnung mit dem Fremden mein Ringen um Ambivalenztoleranz darstellen. Und mich so zu zeigen, ist natürlich hoch ambivalent besetzt. Spaltungen, Projektionen und Ambivalenzunfähigkeit waren nämlich die andere Seite der Therapie, die Ambivalenzunfähigkeit der Therapeutin. Man könnte sich nun darauf zurückziehen, dass auch dies, also meine Ambivalenzunfähigkeit, eine Projektion des Patienten­materials war. Aber das glaube ich nicht. Ich möchte Ihnen den Verlust meiner Ambivalenzfähigkeit darstellen und meinen Kampf um meine Ambivalenzfähigkeit – und damit einen Raum öffnen. Das Ringen um Ambivalenz betrifft uns alle. Es gibt nicht die Aufteilung in diejenigen, die es immer können, und in diejenigen, die es nie schaffen. Davids beschreibt in seinem Konzept des »inneren Rassismus« die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den unbewussten Internalisierungsprozessen rassistischer Inhalte und Einstellungen. Er postuliert ein universelles unbewusstes rassistisches Abwehrsystem, das sich aus individuellen und kulturellen Bildern zusammensetzt und vor frühen Verfolgungsängsten schützen soll. Dieses universelle unbewusste Abwehrsystem vermindert einerseits die Angst in der Begegnung mit dem anderen, Fremden und wird andererseits bei Krisen manifest und äußert sich dann im Kontakt in Form von Spaltungen. »Wenn wir im Rahmen unserer Arbeit einer Person aus einem anderen Kulturkreis begegnen, versetzt uns diese Begegnung auf das geistige Gelände einer pathologischen Organisation. Die dabei mobilisierten Ängste sind so stark, dass sie unsere berufliche und alltägliche Funktionalität vollkommen paralysieren« (Davids, 2016, S. 794). Doch zurück zu meinem Fall: Im besonderen Sinn ist mein Patient ein sogenanntes »Kofferkind« (Wilhelm, 2011). Dies sind Kinder der zweiten Generation, die häufigem transnationalem Wechsel ausgesetzt waren. Der Patient stammt aus einer türkischen Familie und wurde in Deutschland geboren. Er hat drei Schwestern (+ 6, + 1, – 9 Jahre). Als Sohn war er in der Familie privilegiert. Er durfte als einziger den Kindergarten und das Gymnasium besuchen. Andererseits habe er auch hohe Anforderungen erfüllen müssen. Nach der Schule und den Hausaufgaben musste er den Koran auswendig lernen, da der Vater für den

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Sohn plante, in der Türkei Imam zu werden. Kindliche Wünsche, mit Freunden zusammen zu sein oder Fußball zu spielen, wurden zurückgewiesen. Die Mutter beschreibt der Patient als zugewandt, liebevoll, aber auch ängstlich und hilflos. Morgens habe sie nur ihm vor dem Beten heiße Milch ans Bett gebracht. Sie (+ 28) sei abhängig und unterwürfig, noch heute schlage der Vater sie manchmal. Der Vater (+ 31) sei gewalttätig und dominant. Der Patient versuchte, sich anzupassen und dem Vater Freude zu machen. Seine Kindheit sei von Druck und Angst geprägt gewesen. Er erlebte sich ausgeschlossen, nie einer Gruppe ganz zugehörig. In der Identifikation mit der Mutter unterwarf der Patient sich dem aggressiven Vater und sicherte sich über die Entwicklung eines narzisstischen Größenselbsts. So konnte er nur ein brüchiges Selbstwertgefühl entwickeln. Die damit verbundene Ohnmacht, Unsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle versuchte er durch Überkompensation abzuwehren. Emotionale Bedürfnisse nach Nähe, Zuwendung und Beziehung waren auf diesem Hintergrund bedrohlich und wurden abgespalten. Als der Patient 12 Jahre alt war, wurde er ohne Vorbereitung in die Türkei zurückgeschickt, um dort in einem Internat auf die Ausbildung zum Imam vorbereitet zu werden. Als der Vater erfuhr, dass türkische Kinder aus Deutschland gute Chancen hätten, eine universitäre Karriere zu machen, meldete er den Patienten auf einer anderen Schule an, ließ ihn weiterhin allein in der Türkei zurück und erwartete von ihm zu studieren. Der Patient ist bis heute fassungslos, dass niemand seine Trauer und Verlorenheit bemerkte, aber er habe sich nicht getraut, zu protestieren. Der Patient lebte bei der Familie einer Cousine, machte sein Abitur und begann 1994 mit dem Medizinstudium in Istanbul. Obwohl die Eltern 1993 aus Deutschland in die Türkei zurückkamen, hatte er kaum Kontakt zu ihnen. In der deutschen Schule war er durch den Druck des Vaters Außenseiter und im türkischen Internat war er der Fremde. Innere Objekte entwickeln und verändern sich ein ganzes Leben lang. Das dialektische Wechselspiel zwischen inneren und äußeren Objekten setzt sich fort, wenn das Subjekt auf Institutionen trifft. Schule und Universität formen und beeinflussen das Identitätsgefühl (Schulze, 2018).

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Die Objekte und Institutionen meines Patienten unterlagen kulturellen Brüchen. Ein sicheres Identitätsgefühl konnte sich so nicht entwickeln. Auch in der Pubertät und Adoleszenz konnte er durch den Mangel einer unterstützenden Peergruppe seine Selbst- und Objektbilder nicht prüfen und anpassen. Den Kulturwechsel versuchte er zu ignorieren. 2003 heiratete der Patient eine Kommilitonin. Er habe nichts für sie empfunden, fühlte sich aber aus Tradition verpflichtet, sie zu heiraten, weil sie schon mehrere Jahre eine Beziehung hatten. Nach der Hochzeit sei er depressiv geworden, suchte therapeutische Hilfe und trennte sich 2007 von seiner Frau. Er wirft sich bis heute vor, sie unglücklich gemacht zu haben. 2008 begann er eine neue Beziehung zu einer Frau, die er selten sah, weil er im Militärdienst war. Auch zu ihr habe er kaum inneren Kontakt gefunden. In der Türkei arbeitete er in verschiedenen Krankenhäusern und spürte den Druck des Vaters, sich selbstständig zu machen, was ihn überfordere, da er viele Schwierigkeiten habe, in Kontakt zu gehen. Um dem auszuweichen, entschied er sich, nach Deutschland zu gehen. Kristeva (2001) betont, dass das Verlassen der Eltern von Migranten oft als Ausgangspunkt der Freiheit erhofft wird. Das Exil sei selbst zunächst nichts weiter als Trotz gegen die elterliche Prägung. Bei meinem Patienten gab der Vater den Auftrag, etwas Besseres zu werden, und gleichzeitig das Verbot, sich von ihm zu lösen und anders zu sein. Einerseits sollte der Patient nach Überlegenheit und Omnipotenz streben, andererseits sollte er in Abhängigkeit von der väterlichen Welt bleiben. Gogolin (2017) beschreibt, dass das freiwillige Exil häufig die gleiche kulturelle Gruppe und die Muttersprache benötigt. Das war in bei meinem Patienten so nicht der Fall. Der Patient begann auch in Deutschland, als Arzt im Krankenhaus zu arbeiten, isolierte sich und wurde depressiv, arbeitsunfähig und suizidal. Viele Menschen migrieren mit der Illusion, in eine konfliktfreie Zone zu kommen (White, 2017). Häufig ist bei Patienten zu beobachten, dass sie das Gefühl haben, in der Fremde besser verstanden zu werden. Statt sich den inneren Konflikten zu stellen, begibt man sich in die Fremde mit der Fiktion, dort verstanden zu werden. Dies ist häufig verbunden mit der Vorstellung, in der Fremde das eigene Selbst zu entwickeln.

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Das stellt eine hohe Herausforderung an die Therapie und auch eine hohe Idealisierung der Psychoanalyse dar. Mein Patient wollte lebendig werden, sich spüren und verbunden fühlen. Er war sehr belesen, kannte die psychoanalytische Literatur und war erschrocken über seine Depression, seine Suizidalität und seine nar­zisstische Neurose.

Vignette 1 Der Patient berichtet von seiner Suche nach einem Psychoanalytiker und erzählt, dass er in der Türkei schon eine Psychotherapie gemacht habe. Nun sei er beruflich in Deutschland und wolle sich weiterentwickeln. Auf die Frage, ob er nicht eine muttersprachliche Psychotherapie suche, antwortet er, dass er nichts Passendes habe finden können. Zu Beginn einigen wir uns auf eine Kurzzeittherapie. Noch sind wir unsicher, ob wir zusammen arbeiten können. Er spricht nur gebrochen Deutsch, und ich bin unsicher, ob die Verständigung klappt, was ich auch als Gegenübertragungssignal verstehe. Ich bin die Vertreterin der deutschen Kultur. Dies führte zu Fremdheit, aber auch zur Reinszenierung von Fremdheit. Darin äußerte sich auch der Identitätskonflikt des Patienten. Wir sind noch nicht im Kontakt. Er nennt mich seinen »Therapöööten« und ich ärgere mich, dass er das nicht richtig aussprechen kann. Gogolin beschreibt als Merkmal einer Psychotherapie mit fremden Kulturen einen Zustand ähnlich dem Mythos von Babel: Es herrsche ein Mangel an Verstehen. Um uns zu entwickeln, müssen wir uns auf ein Verstehen einlassen und Differenz akzeptieren. Wie aber gehen wir mit den Grenzen des Verstehens um? Nach einer Sequenz in einer der ersten Stunden, in der er einen Arbeitsplatzkonflikt beschreibt, benenne ich ein Gefühl von ihm: »Da waren Sie überrascht.« »Was heißt überrascht?« »So was wie erstaunt. Aber eigentlich ist es affektvoller als erstaunt. Haben Sie ein Wörterbuch auf Ihrem Handy?« Er nimmt sein Handy und beginnt zu tippen, steht auf, fragt noch mal nach dem Wort und zeigt mir sein Handy, währenddessen auch

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ich aufstehe, das Wort wiederhole und auf sein Handy schaue, worauf er es wieder wegzieht. Er hat überrascht mit einem »r« und am Ende mit »ed« geschrieben. Er: »Das haben Sie nicht gesehen!« Ich: »Doch, hab ich wohl! Sie haben es mit ›ed‹ geschrieben!« Er schaut beschämt und erleichtert zugleich. Ich denke, um Gottes Willen, wie peinlich, wie du hier rumgetanzt bist und aufs Handy schaust, das macht man nicht als Therapeut, gleichzeitig erlebe ich mich zum ersten Mal in Kontakt. Jetzt befinden wir uns beide in der Ambivalenz. Wir setzen uns, schauen betreten, lachen verlegen und reden weiter. Er sagt zu mir: »Wir müssen auch über Scham sprechen.« Und ich sage: »Und über Tabus.« Wir sind uns begegnet. Beide brauchten wir aber dafür eine Toleranz für das Nichtwissen. Beide mussten wir das Risiko von Kränkung eingehen. Beide benötigten wir eine Toleranz für das beharrliche Fremdbleiben des Fremden (vgl. Halm, 2015).

Vignette 2 Der Patient berichtet, dass er zu Beginn der Therapie häufig zwei Stunden mit seiner Mutter telefonierte, um dort seine Wut auf die Eltern, über die Benachteiligungen, geringe Wertschätzung, die Druckausübung und Willkür des Vaters zu äußern. Er wisse nun, dass die ersten zwei Jahre Lebensjahre sehr wichtig seien und von daher habe er auch heftige Vorwürfe an die unsichere, gehemmte Mutter. Er habe viel Literatur gelesen, und damit sei die emotionale Unterversorgung durch seine Eltern noch deutlicher geworden. Der Patient berichtet, wie er von seinem Vater gezwungen worden sei, nach der Grundschule täglich stundenlang Korantexte auswendig zu lernen. Ich frage den Patienten, ob er noch eine dieser auswendig gelernten Texte in Erinnerung habe. Ich fordere ihn auf, eine Textpassage von früher zu zitieren. Ich höre arabische Worte, Melodien und Töne. Als er endet, frage ich ihn nach der Bedeutung, worauf der Patient antwortet, die wisse er nicht. Er betont, der Koran sei auf Arabisch und seine Sprache Türkisch. Hier verschwindet meine Neutralitätsattitüde: Mir entgleisen meine Gesichtszüge, erstaunt gucke ich ihn an, frage

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nach, ob er keinen der Texte verstehe. Er kenne keinen der Inhalte, worauf sich in meinem Gesicht Fassungslosigkeit widerspiegelt, was den Patienten nun wiederum irritiert. Er erklärt mir, dass dies so üblich sei, worauf ich zur Diskussion stelle, ob nicht auch die Inhalte und das Verstehen für ihn wesentlich seien. Ich merke eine kulturelle Grenze in mir, als Kind der westlichen Emanzipation bin ich entsetzt über diese Handhabung, Einengung und über das Nichtwissen(wollen). Ich bin auch entsetzt über die blinde Gefolgsamkeit. Was sagt dies über mein Angst- und Toleranzlevel aus? Die Neutralität beginnt zu bröckeln, ich bemühe mich, aber es will mir nicht richtig gelingen. Parallel zu dieser Therapiephase entstehen die politischen Radikalisierungen – in der Türkei mit Verhaftungen von Journalisten etc. Ich bemerke, dass mich dies beeinflusst.

Vignette 3 Zur Zeit des Volksreferendums Erdogans kommt der Patient – der in der Therapie auch von Erdogan schwärmte – in eine Therapiestunde, obwohl er sehr erkältet ist. Er weist darauf hin, dass er krank sei und er mir deswegen die Hand nicht geben werde. Zur Begrüßung hebt er die Hand ein bisschen über Schulterhöhe. Er lacht dabei verlegen und sagt: »Immer mit abgewinkeltem Arm, nicht mit gestrecktem!«, womit er den Hitlergruß meint. Worauf ich antworte: »In Ihrem Land ist es ja bald soweit!« Hier scheitere ich daran, einen rezeptiven Raum zu wahren. Es gibt in der Gegenübertragung das Bedürfnis, Position zu beziehen, Grenzen zu ziehen, sich nicht vernichten zu lassen, aber auch das Bedürfnis, Einfluss zu nehmen. Wie kann es mir gelingen, die Neutralitäts- und Abstinenzregel wiederzufinden? Ich gehe natürlich als Ambivalenzsuchende und -sichernde sofort in Supervision. Der Supervisor sagt: »Wenn Sie da nicht rauskommen, können Sie nicht therapieren.« Ich verstehe den Supervisor und bin doch wütend auf ihn!

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Vignette 4 Der Patient ist für einige Tage in die Türkei gereist. Als er zurückkehrt, berichtet er in der ersten Therapiestunde, dass er versucht habe, seine frühere Therapeutin zu kontaktieren, weil er ihr von Deutschland und seiner Psychoanalyse erzählen wollte. Die türkische Psychoanalytikerin habe ihn gefragt, ob er nun in der Türkei bleibe und seine Therapie dort wieder aufnehmen wolle, was er verneinte. Daraufhin habe sie ihm gesagt: »Dann wollen wir doch Ihre Therapie nicht verschmutzen!«, und ihm erklärt, dass sie ihm keine Therapiestunde anbieten wolle, wenn er sich in einer anderen Therapie befinde. Er könne aber ohne Bezahlung zu ihr auf eine Tasse Tee vorbeikommen. Über dieses Angebot an den Patienten bin ich sehr irritiert, was er bemerkt, und mich daraufhin anspricht. Ich erkläre ihm, dass dies im Verständnis meiner psychoanalytischen Community wohl ein Grenzverstoß wäre und ich dieses Angebot nie gemacht hätte. Darüber ist der Patient sehr befremdet. In den anschließenden Überlegungen machen wir die Erfahrung von Differenz: Für einen türkischen Patienten wäre die Nicht-­Einladung ein Empathieversagen und eine Zurückweisung, so gesehen ein therapeutischer Fehler. Ich bemerke bei mir Interesse und Verständnis, fast eine Lust, einen ähnlichen Spielraum zu besitzen. Verunsicherung kann auch eine mögliche Befreiung sein, eine Befreiung von Denkmustern. Kristeva drückt es so aus, dass die »Begegnung als wechselseitige Anerkennung ihr Glück aus dem Provisorischen« bezieht (Kristeva, 2001, S. 20).

Vignette 5 Der Patient schaut ein deutsches Wort auf seinem Handy nach und betont, dass er versuche, Deutsch zu üben mit BABBLE, worauf ich antworte, diese App zu kennen, und auf Nachfrage erkläre ich, ich nutzte sie, um mein Französisch zu verbessern. Eine Stunde später berichtet der Patient, dass er nun auch Französisch lerne und schon 21 Kapitel hinter sich habe. Ich bin beeindruckt und auch neidisch, dass er mich überholt hat, deute es jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht bezüglich seines narzisstischen Konfliktes. In der folgenden Stunde begrüßt der

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Patient mich auf Französisch und ich antworte auf Französisch. Wir sind beide unbeholfen (Schamkonflikt), aber schlagen uns ganz wacker (gemeinsames Gelingen). Nach dieser Sequenz entsteht etwas Neues. Der Patient berichtet im Folgenden von seiner Ambivalenz, wo er leben soll, in Deutschland oder in der Türkei. Er vermisse das Klima, das Essen, die Sprache, aber er sei auch besorgt über die politische Entwicklung, auch gefalle ihm das aggressive Verhalten in der Türkei nicht, z. B. beim Autofahren. Was machen wir mit der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit? Wir beide beginnen sie zu tolerieren (Zwiebel, 2007). Der Patient erinnert, dass er in Deutschland ursprünglich einen türkischen Psychoanalytiker aufgesucht habe. Es sei ihm aber nicht gelungen den männlichen Psychoanalytiker zu erreichen, weder über E-Mail noch Telefon, der Kollege habe sich nicht gemeldet. Wir fantasieren, dass er den Versuch machte, sich seiner eigenen Kultur zu nähern, dabei hoch ambivalent war und sich auch von dieser Kultur entfernen wollte, also auch psychoanalytisch gesehen migrieren wollte. Danach habe er mit einer türkischen Psychologin Kontakt aufgenommen, die ihn nicht angenommen habe, sie habe ein unklares Beziehungsangebot gemacht, bei dem für den Patienten undeutlich war, wann eine Therapie möglich sei. Auch hier vermuten wir eine Ambivalenz von ihm. Nach diesen zwei Versuchen wendete der Patient sich an mich, bekam sofort Kontakt und konnte innerhalb kürzester Zeit eine Therapie beginnen, die zunächst einstündig blieb aufgrund der Arbeitssituation des Patienten und meiner Zeitstruktur. Als der Patient nach einem Konflikt am Arbeitsplatz kündigte, stellte er seine Zeit ganz der psychoanalytischen Behandlung zur Verfügung und kam dreistündig. Durch die Erhöhung der Frequenz konnten die gespaltenen Objektwelten des Patienten fühlbar und verstehbar werden. Er berichtet, dass er schon zu Beginn am Telefon meine Stimme ansprechend fand und deswegen sich angenommen fühlte (Empathie). Er sagt auch, es sei auch wohl für mich sofort spürbar geworden, in welcher großen Not-Leere und Suizidalität er war, und ich hätte sofort reagiert (Resonanz). Der Patient suchte zunächst das Vertraute, um seine Furcht vor Objektverlust zu bewältigen. Das Unvertraute, also die Beziehung zu mir, wurde danach aufgesucht, auch um die eigene Dissonanz in Szene

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zu setzen. Dies führte zu Unsicherheit, Zweifel und Verwirrung, Angst – mit Spaltung und Projektion auf beiden Seiten. Das Erleben von Differenz und der Versuch, Ambivalenzfähigkeit jedes Mal wieder neu herzustellen, ermöglichte dann aber auch Beziehung und vielleicht auch Bindung zu mir. »Die Begegnung bietet einen Ausgleich für die Odyssee. In ihr wird der Fremde empfangen, ohne fixiert zu werden, und sie gibt dem Gastgeber die Chance, sich seinem Gast zu öffnen, ohne sich zu verpflichten« (Kristeva, 2001, S. 20). Ich meine, analog zu Kristeva, dass die Begegnung ihr Glück aus der Ambivalenzfähigkeit bezieht. Nun wurde sichtbar, dass wir beginnen konnten, an der Neurose analytisch zu arbeiten. »Was zur Sprache kommt, was aufgegriffen wird, wie darüber gesprochen wird, wie das Material organisiert, contained und verarbeitet wird – all das ist abhängig von Interaktionen, welche sich zwischen den beiden [Psychoanalytiker(in) und Patient] entwickeln und mit denen sie Einfluss aufeinander nehmen, im Wesentlichen also von der intersubjektiven Übertragungsdynamik, die sich zwischen beiden entfaltet« (Ermann, 2016, S. 58). In der 170. Stunde sagt der Patient, der nicht mehr depressiv und suizidal ist und nun Bindungswünsche formulieren kann – im Gegensatz zu Therapiebeginn, wo er seine Bindungsangst durch Klagen über seine Unfähigkeit, in Bindung zu gehen, abwehrte –, er habe seiner Schwester von seiner Therapie erzählt. »Ich habe ihr geraten, sich auch einen Therapöten zu suchen. ’Schuldigung – einen Therapeuten. Meine Nichte hat gesagt, dass ich es falsch ausspreche!«

Fazit »Können wir innerlich und subjektiv mit den anderen, können wir die anderen (er)leben? Ohne Ächtung, aber auch ohne Nivellierung?«, fragt Kristeva (2001, S. 11) in ihrem Buch »Fremde sind wir uns selbst«. Im Rahmen der Weltenbewegungen scheint Kristevas Aufforderung wesentlich, Spaltungen zu überwinden, indem man Mentalitäten entwickelt, die das Recht auf Respekt vor der eigenen Fremdheit und der Fremdheit des anderen beinhalten. So kann »eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als

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Fremde erkennen« (S. 213) entstehen. Es geht also nicht mehr allein um die Aufnahme des Fremden, des anderen, sondern um ein Zusammenleben des Fremden, in dem wir erkennen, dass wir alle fremd sind. Dass wir alle Differenz und Äquivalenz benötigen, Individualität und Gemeinschaftsgefühl. Vielleicht ist das psychoanalytische Modell der Ambivalenztoleranz ein Modell, das wir als Handhabe für den gesellschaftlichen Kontext anbieten können. In seinem Aufsatz »Warum die Psychoanalytiker so ungern zu brennenden Zeitproblemen Stellung nehmen« (1978) weist Parin darauf hin, dass die Kaste der Analytiker immer weniger mit den Mitteln ihrer Lehre den Zeitproblemen begegnet. Das wird aber immer nötiger. Jede Demokratie ist auf ein relativ hohes Maß an Ambivalenztoleranz angewiesen (Bauer, 2018). Wir benötigen Individuen mit Ambivalenzfähigkeit und Angsttoleranz, mit Fremdheitsakzeptanz und Gemeinschaftsgefühl. Wir brauchen Menschen mit zivilisierter Selbstbehauptung und reifen Abwehrmechanismen. Wir brauchen Menschen jenseits von Spaltung, jenseits von Idealisierung und Entwertung. Wir brauchen Menschen mit Mentalisierungsfähigkeit, die sich nicht in einer Regression auf den Äquivalenzmodus befinden, sodass die eigenen Vorstellungen für real gehalten werden und nicht mehr hinterfragt werden. Die Herausbildung von Mentalisierungsfähigkeit hat eine große Relevanz für die Emotionsregulation, nur über Mentalisierung lassen sich angstvolle und aggressive Affekte regulieren. Es gibt eine reife psychische Identität, die wir entwickeln können. Es gibt eine reife Stufe des Als-ob-Modus, in dem die inneren Beweggründe anderer in Überlegungen miteinbezogen werden können. Diese Gesellschaft wird in zukünftigen Auseinandersetzungen Überlegungen entwickeln müssen, wie sich mentalisierende Selbstreflexion und Ambivalenztoleranz stärken lassen. Dann gibt es auch eine reife gesellschaftliche Identität, die wir wählen können. Eine Identität, die nationen- und religionsunabhängig sein kann. Barack Obama hat bei seinem Abschied gesagt: »For all our outward differences, we in fact all share the same proud title … Citizen« – Bürger! Als Kind der demokratischen Nachkriegsgesellschaft bin ich davon überzeugt, »dass es keine andere politische Ordnung gibt, die der Würde

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und der Freiheit des Menschen derart Rechnung trägt wie die demokratische Bürgergesellschaft« (Gauck, 2018, S. 9). Diese Gesellschaft ist auf eine Haltung angewiesen, in der Verschiedenheit und Gemeinsamkeit formuliert werden kann. Dafür brauchen wir ein reifes Ich, das in der Lage ist, auf eine illusionäre Einheit mit einem versorgenden, omnipotenten (mütterlichen oder väterlichen) Objekt zu verzichten. Wir brauchen Individuen, die Differenz handhaben und auf Spaltung verzichten. Die psychoanalytische Haltung und die individualpsychologische Sichtweise bieten dazu Entwicklungsräume. Dies sichtbar zu machen, sollte eine Herausforderung sein, derer sich Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen annehmen. Paul Parin mahnte schon 1978 (S. 398) an: »Die Vertiefung in das Seelenleben des Analysanden bringt es unweigerlich mit sich, daß man die eigenen unbewußten Regungen bewußt macht und die eigene ›zweite Natur‹ in Frage stellt. Bei dieser Berufstätigkeit des Psychoanalytikers, die geeignet ist, sein Selbstgefühl einer harten Beanspruchung auszusetzen, ist die Zustimmung der Zunft eine starke Stütze. Unsere Überlegungen mögen gezeigt haben, daß er riskiert, die Achtung und Unterstützung seiner Gruppe zu verlieren, wenn er zu brennenden Zeitfragen Stellung nimmt. Damit geriete er in soziale Isolation. […] Diejenigen, die eine Zeitkritik noch leisten können und die soziale Isolation in ihrer Gruppe ertragen, machen sich vielleicht nur ›ungern‹ ans Werk. Wir verlieren damit die Illusion, daß wir zu brennenden Fragen der Zeit schon zureichend Stellung nehmen, wenn wir lediglich ihren schädlichen Folgen im Seelenleben unserer Analysanden begegnen. Dort finden wir sie vor. Wir können jedoch nicht viel gegen sie unternehmen, solange wir die gesellschaftliche Realität nicht anschauen dürfen und sie mit unserer Kritik verschonen.«

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Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer

Wer sind wir innerhalb der DGIP – und wenn ja, wie viele?

Zusammenfassung Die Geschichte der DGIP ist auch eine Geschichte von Abspaltungen, Ambivalenzen und Integrationsbemühungen. Unser Beitrag soll die hinter diesen Prozessen verborgenen Ängste, Hoffnungen und Kompensationsversuche beleuchten. Er ist das gemeinsam erarbeitete Ergebnis eines regen Gedankenaustausches zwischen einer individualpsychologischen Beraterin und angehenden Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Fiona Kosovac), einer analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin (Susanne Freund) sowie einer Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (Anna Mayer). Dabei entstand die Idee, die DGIP quasi in die psychotherapeutische Sprechstunde einzuladen. In Teamarbeit entwickelten wir nach und nach den vorliegenden Bericht: Fiona Kosovac erhob zunächst den psychischen Befund, sodann ermittelte Susanne Freund die Anamnese und stellte Überlegungen zur Psychodynamik an, und schließlich fand Anna Mayer in Adlers Konzept des Gemeinschaftsgefühls Anregungen zu einem Behandlungsplan für die DGIP.

Vorbemerkung Anna Mayer: Sehr herzlich begrüßen wir Sie1 zu unserem kleinen Gedankenaustausch bezüglich der Frage, die uns alle mehr oder weniger oft – oder vielleicht auch nicht – umtreibt: Wer sind wir innerhalb der DGIP, und wenn ja – wie viele? Gedankenaustausch insofern, als wir hier auf dem Podium über dieses Thema nachdenken, aber auch im Anschluss mit Ihnen gemeinsam darüber diskutieren wollen. »Wir und die DGIP?« – Susanne, sehr spontan und begeistert haben Fiona und ich gleich zugesagt, als du uns fragtest, ob wir mit dir zusam1 Die Schriftfassung des Beitrags versucht, die gewählte Vortragsform abzubilden.

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men einen diesbezüglichen Vortrag halten würden. Mich sprach das Thema wohl deshalb besonders an, weil dein vorgeschlagener Titel ein Kernthema der Individualpsychologie betrifft: das Thema des Gemeinschaftsgefühls. Zunächst scheint es ein so einfach erscheinender Begriff zu sein, befassen wir uns näher mit ihm, wird er aber immer sperriger und immer weniger zu fassen. Fiona Kosovac: Ich fand das Thema für mich reizvoll, da ich mich selbst im Spannungsfeld der verschiedenen Rollen befinde. Zum einen als individualpsychologische Beraterin und Supervisorin, zum anderen als angehende Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Schon lange fand ich die unterschiedlichen Rollen und die Menschen, die sie ausfüllen, sehr interessant. Auch wollte ich der Frage nachgehen, warum dieses Thema überhaupt ein Thema ist und wie uns die Integration der ungleichen Gruppen innerhalb der DGIP gelingt. Aber nun sind wir sehr neugierig, warum du, Susanne, dich diesem Thema widmen wolltest. Susanne Freund: Vor einem Jahr kam ich ausgesprochen inspiriert aus Düsseldorf von der letzten DGIP-Jahrestagung zurück: Dort wurden vielfältige spannende Fragen nach unserer Identität und unserer sozialen Bezogenheit gestellt (Wahl, 2018). Und mir fiel auf, dass unter den Teilnehmenden relativ wenige Kinderanalytiker oder Kinderanalytikerinnen waren. Danach bewegte mich persönlich insbesondere auch die Frage nach der Bedeutung der DGIP für uns als Individuen, als Gruppe bzw. Teilgruppe der DGIP. Wem fühlen wir uns zugehörig? Wo fühlen wir uns ausgegrenzt? Wie steht es um die Integrationsfähigkeit der DGIP? Und ich dachte, es wäre doch sinnvoll, wenn sich die Mitglieder unserer drei Fachgruppen, also die der Beratung, der Erwachsenenpsychotherapie sowie der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie über diese Fragen einmal austauschen würden. Fiona Kosovac: Von Anfang an war klar, dass es auf unsere Fragen keine eindeutigen und einfachen Antworten geben wird. Die Zeit für die Anmeldung dieses Beitrags drängte aber. So kam unser Titel mit dem sprachlichen Bruch dann eher intuitiv zustande, frei nach dem

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Bestseller von Richard David Precht2: »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« (Precht, 2012). Anna Mayer: Dann wollen wir doch versuchen, zu überprüfen, wer wir sind, was uns verbindet, was unsere Identität ausmacht, was jeder Einzelne von uns für die Gemeinschaft der DGIP beiträgt und was die DGIP als Ganzes darstellt. Begeben wir uns in die psychotherapeutische Sprechstunde, in der zu klären ist, ob überhaupt Behandlungsbedarf besteht.

Wer sind wir in der DGIP? – psychischer Befund Fiona Kosovac: Als Bild oder Metapher für unsere Patientin, die DGIP, haben wir einen Baum (siehe Abbildung 1) gewählt. Man könnte sagen, dass die Wurzeln der Psychoanalyse entsprechen. Der Stamm, aus dem die Äste und Zweige wachsen, stellt die DGIP dar. Die Äste könnten für die verschiedenen Rollen und Funktionen der Einzelnen stehen. An unserer Sprechstunde sind natürlich auch Sie, das Publikum, mit Ihren unterschiedlichen Rollen beteiligt. Vielleicht verschaffen wir uns gemeinsam einen Überblick und es erheben sich die jeweils Angesprochenen: Wer gehört zum Ast der Psychologischen Psychotherapeuten und -therapeutinnen? (Es stehen etwa dreißig Anwesende auf.) Wer gehört zum Ast der Ärztlichen Psychotherapeuten und -therapeutinnen? (Dazu stehen etwa fünf auf.) Wer ist der Gruppe der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -therapeutinnen zugehörig? (Hier sind es etwa 25 Personen, die aufstehen.)

2 Richard David Precht (* 8. Dezember 1964 in Solingen) ist ein deutscher Philosoph und Publizist. Er ist Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg und Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit dem großen Erfolg von »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« wurden auch seine weiteren Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen Bestseller.

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Abbildung 1: Der »Stammbaum« der DGIP

Dann haben wir noch den Beratungs- und Supervisionsast. (Es stehen etwa zwanzig Personen auf.) Nun möchten wir einmal die Gruppe aller DGIP-Mitglieder sehen. (Hier stehen fast alle Anwesenden auf.) Und zu guter Letzt: Wer fühlt sich keiner dieser Gruppen zugehörig? (Niemand steht auf.) Susanne Freund: Nun, viele scheinen wir auf jeden Fall zu sein. Aber: Sind wir das? Was verbindet uns eigentlich? Sind die verschiedenen Anteile, die wir hier sozusagen als psychischen Befund eruiert haben, auch integriert bzw. integrierbar in ein Ganzes? Um dies zu beantworten, ist es sinnvoll, auch zu fragen: Wo kommen wir her und wo wollen wir hin? Anna Mayer: Ich schlage vor, dass wir uns nach dieser ersten Befunderhebung der Anamnese zuwenden, die du, Susanne, ausführlich erhoben hast.

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Bei der Vorbereitung ist uns klargeworden, dass es, wenn wir unsere Identität innerhalb der DGIP besser verstehen wollen, wichtig ist, einen Blick in die Geschichte und die Entwicklungsprozesse der DGIP und ihr Verhältnis zur Psychoanalyse seit ihrer Gründung in den 1960er Jahren zu werfen. Wenn wir nun gemeinsam zurückschauen, so wollen wir dies unter dem Aspekt der Gegenwart betrachten: Wo wir gegenwärtig stehen, und was die Vergangenheit für uns bedeutet. Ich möchte in diesem Zusammenhang an den Gustav Mahler3 zugeschriebenen Satz erinnern: »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.«

Entwicklungsgeschichte der DGIP und ihr Bezug zur Psychoanalyse – Anamnese Susanne Freund: Man kann die Entwicklung der DGIP aus meiner Sicht in drei Phasen unterteilen und sie mit den drei Begriffen unseres Tagungsthemas überschreiben: Die Phase der Spaltung, die der Ambivalenz und die der Integration (sehen Sie sich dazu Tabelle 1 an). Tabelle 1: Entwicklungsprozesse in der DGIP und ihr jeweiliger Bezug zur Psychoanalyse seit den 1960er Jahren Pha­se

Thema

Bezug zur Psychoanalyse

Zeitspanne

1.

Trennung, Abgrenzung, Spaltung

Wir sind Adlerianer

von 1962 (Gründung der AlfredAdler-­Gesellschaft, 1970 umbenannt in DGIP) bis etwa Mitte/ Ende der 1970er Jahre

2.

Ambivalenz, Annäherung

Wir sind analytische Individual­ psychologen

ab Mitte/Ende der 1970er Jahre bis etwa Anfang der 1990er Jahre

3.

Integration

Wir sind Teil der psychoanalytischen Gemeinschaft

ab Anfang der 1990er Jahre bis heute

3 Gustav Mahler (* 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen; † 18. Mai 1911 in Wien) war ein österreichischer Komponist im Übergang von der Spätromantik zur Moderne.

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Phase 1: Trennung, Abgrenzung, Spaltung Anna Mayer: Die Zeit nach der Gründung der Alfred-Adler-Gesellschaft 1962 – einer Vorläuferin der DGIP – kann als Wiederauferstehung der organisierten Individualpsychologie im deutschsprachigen Raum angesehen werden. In dieser Phase wurden die Unterschiede zur Freud’schen Psychoanalyse betont, die Getrenntheit und Andersartigkeit der »Schulen« und die Eigenständigkeit der Adlerianer hervorgehoben. Man könnte diesen Zeitraum als Phase der Unverbundenheit und der Spaltung bezeichnen. Nachdem im Nachkriegsdeutschland die verschiedenen tiefenpsychologischen Schulen zunächst noch unter einem Dach vereint waren – auch ein Relikt aus dem Nationalsozialismus –, wurde jetzt großer Wert auf die Unterschiede und die Trennungslinien zwischen Freud, Adler und Jung gelegt. Insgesamt war die tiefenpsychologische und psychoanalytische Landschaft seinerzeit, wie die gesamte Gesellschaft, geprägt durch massive Abwehr von Scham- und Schuldgefühlen, insbesondere auch wegen des Verrats an den jüdischen Gründervätern und jüdischen Kolleginnen und Kollegen (Bauriedl, 2008; Brundke, 2008). Als man in den 1960er Jahren begann, sich bewusster mit der NS-­ Vergangenheit auseinanderzusetzen, kam es häufig zu gegenseitigen Schuldzuschreibungen, Entwertungen, Projektionen und zu Spaltungsprozessen – auch innerhalb der tiefenpsychologischen Community (Stadler, 2012). Andererseits besannen sich Freudianer, Adlerianer und Jungianer wieder auf ihre Wurzeln und gründeten eigene Institute und Fachverbände. Die so gesuchte neue Identität der Individualpsychologinnen und -psychologen war allerdings auch mit Opfern und neuen Spaltungsprozessen verbunden: In München zum Beispiel überließ man die Ausbildung der Psychagogen – so wurden die Kindertherapeutinnen und -therapeuten damals genannt – bis 1976 dem Institut der Freudianer (Brundke, 2008). Das war erstaunlich, weil gerade die Individualpsychologie auf eine lange Erfolgsgeschichte der Erziehungsberatung und Kindertherapie in den 1920er Jahren4 zurückblicken kann (Gröner, 2008; Diepold, 1995). 4 Im Gegensatz zu den kinderanalytischen Errungenschaften und der Tradition der Laienanalyse in der 1920er Jahren umfasste die Weiterbildung zum Psychagogen für Erziehende und Pädagogen eine dreijährige »Schmalspurweiterbildung« ohne Berechtigung zur Krankenbehandlung.

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Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer

Später (in Phase 2 und 3) wurde dann die gesamte Berufsgruppe der Beraterinnen/Berater gewissermaßen abgespalten: Nach erfolgter bundesweiter Kassenanerkennung der individualpsychologischen Psychotherapieaus- und -weiterbildungen – Mitte der 1980er Jahre5 – wurde die Beraterweiterbildung von der Psychotherapieaus- und -weiterbildung abgekoppelt (Stadler, 2012). Durch diese Trennung ging – bei vielen Vorteilen für die Teilnehmenden der Psychotherapieaus- und -weiterbildung – die Vielfalt der Perspektiven unterschiedlicher Berufs- und Tätigkeitsfelder sowie deren wechselseitige Bereicherung weitgehend verloren. Soweit die in diesem Rahmen notwendigerweise verkürzte Anamneseerhebung zur frühen Entwicklung eines »Nachkriegskindes«. Fiona Kosovac: Dazu assoziiere ich viele Beispiele aus der Sicht der Beraterinnen und Berater. Bis heute, so glaube ich, wirken die damaligen Spaltungsprozesse noch nach und die Symptome und Folgen dieser Geschehnisse sind immer noch deutlich spürbar und erfahrbar. Susanne Freund: Analog hierzu fällt mir ein persönliches Erlebnis ein: Zu Beginn meiner Ausbildung am Alfred Adler Institut München nahm ich erstmals an einer Jahrestagung der Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut(inn)en (VAKJP) teil. Dies schien mir naheliegend, befand ich mich doch in Ausbildung zu diesem Beruf. Was ich damals nicht wusste, war, dass mein Institut zu diesem Zeitpunkt (ca. 1990) noch nicht von der VAKJP anerkannt war. Das kam erst ca. fünf Jahre später. Also war ich sehr verwundert, dass ich auf dieser Tagung niemanden meines Instituts traf, weder Supervisorinnen oder Dozenten noch andere Ausbildungskandidatinnen. Und ich war auch ziemlich irritiert, als ich mit einer anderen, sehr freundlichen Tagungsteilnehmerin ins Gespräch kam und diese deutlich abwertend auf meine Institutszugehörigkeit reagierte. Anna Mayer: Ganz Ähnliches, vielleicht abgeschwächter, erleben wir in der einen oder anderen Form auch heute noch gelegentlich auf Tagungen anderer psychoanalytischer Fachgesellschaften. Aber bevor wir 5 In Bayern arbeitende Kolleginnen und Kollegen konnten bereits in den späten 1970er Jahren eine Kassenzulassung bekommen.

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uns dem Entwicklungsschritt der Integration zuwenden können, gilt es, sich der Phase der Ambivalenz zu widmen.

Phase 2: Ambivalenz und Annäherung Susanne Freund: Die zweite Phase in der Entwicklung der DGIP könnte man als Phase der Ambivalenz und Annäherung bezeichnen und mit der Überschrift versehen: Wir entwickeln uns zu bzw. werden analytische Individualpsychologinnen bzw. -psychologen. Für Kindertherapeutinnen war es erst in dieser Phase möglich, in psychoanalytische Institutsvereine aufgenommen zu werden, auch, weil deren Weiterbildung (zur »Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin«) inzwischen der der Erwachsennenpsychotherapeuten angeglichen worden war. Den Beginn dieser Phase kann man inhaltlich in eine Zeit verorten, in der einige der damals führenden Adlerianer(innen) zunehmend erfolgreich für eine Neubewertung des Unbewussten, die Anerkennung der vor allem von Anna Freud beschriebenen Abwehrmechanismen, die Aufnahme des Konzepts der Übertragung und Gegenübertragung sowie der Regression in die psychodynamische Betrachtungsweise warben bzw. sich für die Einbeziehung dieser Konzepte in die praktische psychotherapeutische Arbeit einsetzten. Gleichzeitig betonten diese Kollegen in der Fachöffentlichkeit weiterhin den Wert der individualpsychologischen Konzepte: Die Bedeutung des Zärtlichkeitsbedürfnisses des Kindes – also die sozialen Bezogenheit des Säuglings –, die Zielgerichtetheit menschlichen Verhaltens als zentraler Entwicklungsfaktor, das Streben des Menschen nach Überwindung der ihm immer wieder begegnenden Mangellagen und das Gemeinschaftsgefühl. Die für Adlerianer(innen) seinerzeit neuen Sichtweisen führten zu zahlreichen Konflikten innerhalb der deutschsprachigen und mit Vertretern der europäischen und amerikanischen Individualpsychologie, etwa auf dem Internationalen Individualpsychologischen Kongress in Montreal 1985 (»Zukunft der Individualpsychologie«), 1987 in Münster und zuvor in den Diskussionen der Kolleginnen und Kollegen, die Anfang, Mitte und Ende der 1970er Jahre die individualpsychologisch

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orientierten Institute in München, Aachen und Düsseldorf – und später in Delmenhorst, Berlin und Mainz – gründeten sowie – ab 1980 – auf den Delmenhorster Fortbildungstagen, den Vorläufern der Jahrestagungen für Individualpsychologie. In den späten 1970er und 1980er Jahren war die individualpsychologische Identität also so weit gefestigt, dass man sich den anderen tiefenpsychologischen Schulen wieder öffnen, eigene Begrenztheiten infrage stellen und Ambivalenzen zulassen konnte. Die deutschsprachigen Adlerianer(innen) besannen sich wieder ihrer analytischen Grundgedanken und grenzten sich zunehmend von einer eher pädagogisch orientierten Individualpsychologie ab, wie sie sich vor allem in den USA entwickelt bzw. wie sie dort überdauert hat. Einerseits wurde in dieser Zeit bisweilen noch etwas abwertend über die sogenannte Mainstream-Psychoanalyse gesprochen, andererseits fanden und finden seither und heute neuere psychoanalytische Theorien und Strömungen – die der Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie, der Bindungstheorie, die Ergebnisse der empirischen psychoanalytischen Säuglingsforschung sowie später die ersten Theorieentwürfe zur sog. »intersubjektiven Sichtweise« bzw. zur relationalen Psychoanalyse – großes Interesse. Diese Ansätze wurden und werden sehr ernsthaft, ja geradezu leidenschaftlich diskutiert. Den Rahmen dafür lieferten u. a. die oben erwähnten Delmenhorster Fortbildungstage, später die Jahrestagungen der DGIP und die Zeitschrift für Individualpsychologie (ZfIP). Nachdem 1991 die DGIP als 5. Fachgesellschaft in den Berufsverband der »Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT)« aufgenommen worden war, kam auch in den Bereich der Kinder- und Jugendlichen­ psychotherapie Bewegung und den individualpsychologisch ausgerichteten Instituten, die eine Ausbildung in diesem Bereich anboten, wurde in der Folge die ordentliche Mitgliedschaft in der VAKJP möglich. Ab Mitte der 1980er Jahre traf sich auch eine engagierte Gruppe von Individualpsychologen alle zwei Jahre in Bernried zur »Werkstatt für analytische Individualpsychologie«6. Die hier stattfindenden, inten6 Vgl. den Beitrag »Menschen in der DGIP – Interview mit Gisela Eife« in diesem Band, S. 214–239.

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siven Reflexions- und Erneuerungsprozesse leisteten einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung der Individualpsychologie. Fiona Kosovac: Psychoanalytisch sind wir also auch. Ganz konkret zeigt sich das auch heute in den Veranstaltungen des »Psychoanalytischen Forums München (PFM)«, einem Zusammenschluss der analytischen Ausbildungsinstitute hier am Ort, in denen Mitglieder der DGPT und der VAKJP eng und produktiv zusammenarbeiten. Die Veranstaltungen dieses Forums können alle Ausbildungsteilnehmenden der vier Münchner Psychoanalytischen Institute besuchen. In den Seminaren dort begegnen wir uns gleichberechtigt unter einem Dach – auch wenn Unterschiede bestehen und spürbar bleiben. Auch hierzu ein persönliches Erlebnis: Ich erinnere mich an mein erstes PFM-Seminar – zum Thema Verhaltenstherapie. Als ich in den Raum kam, begrüßten mich meine Kolleginnen und mein Kollege aus dem Alfred Adler Institut und wir waren sogleich in ein lebendiges Gespräch vertieft. Ich fühlte mich wohl, obwohl wir uns noch nicht lange kannten – zugehörig und aufgehoben in meiner Ausbildungsgruppe. Die anderen Teilnehmer beäugten uns fast schon misstrauisch. Tatsächlich sprach uns die Ausbildungsteilnehmerin eines anderen Instituts schließlich an: »Von welchem Institut seid ihr denn?!?« Meine Kollegin antwortete: »Wir kommen von Alfred Adler und leben das Gemeinschaftsgefühl.« Genau das fühlte ich in diesem Moment. Anna Mayer: Also ein aktuelles Erlebnis, an dem du, Fiona, uns hast teilhaben lassen, was mich auch schmunzeln lässt, da es unser aller narzisstischen Seite Nahrung gibt. Es ist aber auch ein Beispiel dafür, dass unsere eigene Ambivalenz immer wieder aufflackert.

Phase 3: Integration Fiona Kosovac: Die zunehmende Anerkennung der Individualpsychologinnen und -psychologen in der gesamten psychoanalytischen Szene wurde zu Beginn der 1990er institutionell verankert, indem nun auch die Aufnahme in die DGPT und VAKJP möglich wurde.

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Das Psychotherapeutengesetz – in dem es zwar nicht um die inhaltliche Integration bzw. Abgrenzung verschiedener tiefenpsychologischer bzw. analytischer Behandlungsmethoden bzw. Schulen, wohl aber um die Berechtigung zur eigenständigen Ausübung der Heilkunde im psychotherapeutischen Bereich (also zu der Möglichkeit des Erwerbs einer Approbation) ging – führte 1999 auch zu einer rechtlichen Gleichstellung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten mit den Ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten. Die alten Hierarchien unter den Psychoanalytikern, d. h. zwischen den einzelnen Berufsgruppen wie auch zwischen Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten waren damit quasi nun auch per Gesetz abgeschafft bzw. aufgehoben – auch wenn die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten heute noch nicht in allen Fragen die gleichen Rechte haben (siehe unten). Gleichzeitig gewann die Verhaltenstherapie zunehmend an Einfluss und drohte die Psychoanalyse abzuhängen, sodass psychoanalytische Überlegenheitsphantasien nicht mehr so leicht zu halten waren. Auch auf diesem Hintergrund sah sich die aufgesplitterte tiefenpsychologische und analytische »Landschaft« gezwungen, enger zu kooperieren und die alten wechselseitigen Vorurteile aufzugeben und stattdessen zu betonen und zu empfinden, dass wir alle Teil einer psychoanalytischen Gemeinschaft sind. In München, Düsseldorf, Berlin und in anderen Städten kam es zu einer engen Zusammenarbeit verschiedener analytischer Institute. In den psychoanalytischen Berufsverbänden erlebt man inzwischen kaum mehr gegenseitige Diskriminierung und Abwertung. Anna Mayer: Wir sind also in der Gegenwart angekommen. Hierzu möchte ich ein weiteres Beispiel, eine Begebenheit aus der jüngeren Vergangenheit berichten, das nicht nur die Bedeutung integrativer Prozesse betont, sondern auch den Wert der Bewahrung der eigenen Herkunft und Identität: 2011, beim 25. Internationalen Kongress der Individualpsychologie in Wien, hat mich ein Programmpunkt auf besondere Weise berührt: Es war ein Ausflug an den »Ottakring« organisiert worden zur dortigen Volkshochschule, die zu Adlers Zeiten »Volksheim« genannt wurde. Im Vortragssaal schien es noch wie vor hundert Jahren zu riechen: nach Linoleum und Bohnerwachs. Wir saßen auf knarzigen, uralten, schmalen hölzernen Klappstühlen. Unten sahen wir das Lese-

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pult. Dort hat Alfred Adler vor hundert Jahren seine Vorträge gehalten: einerseits über die Menschenkenntnis, die Adler als lebensnotwendig ansah. Auf der anderen Seite widmete er sich ganz den praktischen Fragen der Zuhörerschaft, auch jungen Müttern, deren Fragen sich oft auf den pädagogischen, erzieherischen und einfühlsamen Umgang mit Kindern bezogen. Seine Vorträge, die er im Rahmen eines festen Kurses hielt, waren berühmt. Meist kamen bis zu fünfhundert Zuhörer, manchmal konnte der Raum gar nicht alle Interessierten aufnehmen. Adler gelang es, in sich sowohl den Arzt, den Tiefenpsychologen, den Pädagogen wie auch den einfach menschlich Zugewandten zu inte­ grieren und darüber hinaus die Zuhörerschaft – pädagogisch, medizinisch und philosophisch Interessierte, Mütter und Väter, die über ihren Umgang mit den Kindern nachdenken und Impulse bekommen wollten – anzusprechen und mitzureißen. Und hier durfte ich nun sitzen, den damaligen Geist im wahrsten Sinne des Wortes einatmen und mit nach Hause nehmen. Ich denke, das kann neben der entwickelten Dialog- und Integra­ tionsbereitschaft auch als Beispiel für die Verbundenheit mit der Geschichte der Individualpsychologie, mit Alfred Adler und für den Erhalt der eigenen, besonderen Identität verstanden werden. Susanne Freund: Deine Erzählung, Anna, gibt uns einen wirklich lebendigen Eindruck davon, was mit Gemeinschaftsgefühl gemeint sein könnte. Ich denke, wir können sagen, dass inzwischen, also in der jetzigen Zeit, die wir die Phase der Integration genannt haben, die interpersonalen Konflikte zwischen den psychoanalytischen Schulen besser gestaltet werden können. Die Zeit der Kontaktabbrüche scheint vorbei zu sein.

Baustellen und Probleme – Symptomatik Aber wie steht es nun mit den »intrapsychischen« Konflikten, mit den Problemen innerhalb der DGIP? Fiona Kosovac: Ringen wir selbst innerhalb der DGIP nicht ständig um unsere Individuation? Ob es sich nun um Unterschiede zwischen den

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verschiedenen Adlerinstituten handelt oder um unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Institute, um die Abhängigkeit der Kandidaten und Kandidatinnen von ihren Lehranalytikerinnen, Supervisoren oder den Staatsvorgaben? Die Beratenden ringen um eine angemessene Wertschätzung, die Kinder- und Jugendlichentherapie Supervisorinnen um die Anerkennung als Lehranalytiker, die Lehranalytiker(innen) auf ihren Tagungen um ihre individualpsychologische Identität, die deutsche und österreichische Individualpsychologie um ihren psychoanalytischen Schwerpunkt innerhalb der Internationalen Adler-Vereinigung, der »International Association of Individual Psychologie (IAIP)«. Anna Mayer: Ein Beispiel hierzu: Auf dem Internationalen Individualpsychologischen Kongress in Wien wurde mir von einem amerikanischen Teilnehmer in einem Workshop, in dem wir Fälle diskutierten, heftig entgegengehalten: »There is no unconscious!« – Es gibt kein Unbewusstes! Allerdings ist auch hier ein einsetzender Integrationsprozess zu beobachten. Auf dem Internationalen Individualpsychologischen Kongress 2017 in Mineapolis gab es beeindruckende Fallvorstellungen, in welchen das Unbewusste, der unbewusste Lebensstil, eine bedeutende Rolle spielte. Aber kommen wir zurück nach Deutschland: Es gibt noch viele Baustellen innerhalb der DGIP, und es wird sie immer geben. Was sind die Baustellen in Sachen Integration, mit welchen Problemen und welcher Symptomatik haben wir noch zu tun? Fiona Kosovac: Wie ist es mit der Integration und Wertschätzung der Berater(innen) in der DGIP bestellt? Die Beraterweiterbildung ist offen für eine Vielzahl unterschiedlicher Grundberufe. So haben in den letzten Jahren Kaufmänner und -frauen, Seelsorgerinnen, Heilpädagogen, Lehrerinnen, aber auch Pädagogen und Psychologinnen unsere Beraterweiterbildung in München besucht. Aber auch Menschen aus ganz anderen Berufsgruppen bereichern an dieser Stelle die DGIP: eine Juristin, Floristin, Hauswirtschafterin oder beispielsweise ein Landwirt interessieren sich für die Individualpsychologie in Theorie und Praxis. Das verbindende Element an dieser Stelle ist für alle die Lehre Alfred Adlers und seine Individualpsychologie. Ich erfahre auch immer wieder von Kollegen oder Kolleginnen, die in der Wirtschaft tätig sind,

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dass Alfred Adler dort ein durchaus bekannter Name ist (was an den Universitäten nicht immer der Fall zu sein scheint). Die Lehre und die Schriften Alfred Adlers nehmen nach wie vor einen wichtigen Platz in der Beraterweiterbildung ein, Beratende verfügen über gute Kenntnisse der individualpsychologischen Literatur. Susanne Freund: Was die Gleichberechtigung zwischen den Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und der Erwachsenenpsychotherapeutinnen angeht, so ist – im Vergleich zu anderen psychoanalytischen Fachverbänden – in der DGIP schon viel erreicht worden. Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen nennen sich jetzt auch Psychoanalytikerinnen und bezahlen den gleichen Mitgliedsbeitrag. In zweierlei Hinsicht würde ich mir aber noch mehr Emanzipation wünschen: Zum einen wäre es an der Zeit, dass wir unseren Nachwuchs ganz selbstständig ausbilden können, auch was die Selbsterfahrung betrifft. Zum anderen halte ich es angesichts der gleichen Ausbildungsanforderungen für alle Fachbereiche der Psychotherapie nicht mehr für stimmig, dass der oder die Vorsitzende der DGIP satzungsgemäß Lehranalytiker(in) sein muss.7 Anna Mayer: Wir haben nun einige spezifische Probleme herausgestellt. Wie wir am Bild der Baustelle sehen, gibt es viele sogenannte Mängel, ich würde aber lieber von Lebensaufgaben sprechen, an denen wir arbeiten und die wir bewältigen müssen, aber auch dürfen und wollen. In diesem Sinne hoffen wir auf eine lebendige Diskussion im Anschluss an diesen Vortrag und auf eine offene Auseinandersetzung in allen mit diesen Fragen befassten Gremien.8 Susanne Freund: Nun, obwohl wir alle in die DGIP integriert sind, entsteht bei mir dennoch der Eindruck, dass unsere vorher beschriebenen Baustellen zumindest stellenweise auf ein latentes Oben und Unten hinweisen. Wie könnten wir dies psychodynamisch verstehen? Welche Ängste, Wünsche und Kompensationsversuche könnten dahinterstecken? 7 Auf Antrag des Bundesvorstands beschloss die Delegiertenversammlung der DGIP am 17.11.2018, diese Regelung aus der Satzung der DGIP zu streichen. 8 Ein Beispiel für eine der gewünschten Veränderungen ist in Fußnote 7 beschrieben.

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Ängste, Wünsche und Kompensationsversuche – Psychodynamik Minderwertigkeitsgefühl Anna Mayer: Dazu müssen wir uns wieder der frühen Kindheit der DGIP zuwenden. Nach der Trennung der Gründungsväter und -mütter der DGIP von ihrer großen, schulenübergreifenden »Herkunftsfamilie« wurde die eigene Fachgesellschaft geboren. Dies war womöglich nicht nur aus Gründen der Identitätsfindung verstehbar, es war auch wahrscheinlich mit der unbewussten Fiktion verbunden, eine bessere Familie zu gründen. Wie die anderen tiefenpsychologischen »Nachkriegskinder« ist ja auch die DGIP mit einer »Erbsünde« belastet: auch sie war betroffen von Scham über die Mitschuld ihrer Väter und Mütter am Verrat an ihren jüdischen Geschwistern und ihrem Gründungsvater Alfred Adler. Welches fiktive Ziel könnte die DGIP als Antwort auf diese Umstände gefunden haben?

Finalität Fiona Kosovac: Womöglich könnte man die Lebensbewegung der DGIP so zusammenfassen, dass sie von Anfang an den unausgesprochenen Auftrag und das Ziel hatte, die Schmach ihrer Elterngeneration zu überwinden, das Erbe ihres Großvaters Alfred Adler anzutreten und als Antwort auf die Barbarei des Nationalsozialismus eine zutiefst menschliche Form der Psychotherapie und Beratung weiterzuentwickeln, beseelt vom fiktiven Ziel, den Menschen zu mehr Gemeinschaftsgefühl zu verhelfen. Aber: Wie lassen sich dann unsere Baustellen erklären?

Kompensation Susanne Freund: Ich versuche hier eine Deutung, die nicht nur die DGIP betrifft: Vielleicht waren in der Nachkriegszeit unbewusste Abwehrmechanismen im Spiel, um die oben beschriebenen latenten Scham-

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und Schuldgefühle zu verdrängen. Ich möchte die These wagen, dass im Sinne von Adlers frühem Konzept des »Männlichen Protests« das eigene, (vermeintlich) Minderwertige, das (angeblich) im Weiblichen verkörpert ist, abgespalten wurde, indem man das, was vor dem Trauma des Nationalsozialismus eine Einheit war, voneinander trennte: nämlich all die verschiedenen Anwendungsformen der adlerianisch geprägten Tiefenpsychologie (Erwachsenenpsychotherapie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Pädagogik, Beratung). So könnte man verstehen, warum ausgerechnet und nur hierzulande »minderwertige« tiefenpsychologische Berufe geschaffen wurden – ich nenne hier in erster Linie den Beruf bzw. die Berufsbezeichnung des »Psychagogen«. Die Tätigkeit und die Arbeit der daraus hervorgegangenen Berufsgruppe der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten ist ja nicht tatsächlich weniger wertvoll, sie ist aber faktisch in ihren Möglichkeiten noch immer eingeschränkt und in mancherlei Hinsicht den Erwachsenenpsychotherapeuten nicht gleichgestellt. Besonders deutlich wird dies in der Regelung, dass Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen nicht Lehranalytikerinnen werden und sich somit nicht selbstständig »fortpflanzen« können (Molitor, 2009; Wittenberger, 2014). Etwas zugespitzt könnte man folgenden Vergleich ziehen: Kinderarbeit (Arbeit mit Kindern) ist gleich Frauenarbeit ist gleich minderwertige Arbeit – Arbeit mit Kindern, überwiegend geleistet von Frauen, ist weniger wert als die (früher!) überwiegend von Männern geleistete, die mit Erwachsenen arbeiten. Könnte es sein, dass sich hier (unbewusst?) die vermeintlich Überlegenen gegen tief verborgene Schamund Schuldgefühle zu sichern versuchen? Auch vermeintlich Schwache können sich durch Identifikation mit vermeintlich Starken wertvoll und von der »Erbsünde« befreit fühlen. Unsere oben beschriebenen Baustellen würde ich auf dem Hintergrund dieser Überlegungen und Deutungen als Restsymptomatik aus der Phase der Spaltung interpretieren, an die man sich irgendwie gewöhnt hat und die ihre Wurzeln in einem Generationen übergreifenden Selbstwertkonflikt hat, der in die Zeit des Nationalsozialismus zurückreicht.

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Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer

Integration und Gemeinschaftsgefühl – Behandlungsplan Fiona Kosovac: Nachdem wir uns nun mit dem Befund, der Anamnese, den Problemen und der Psychodynamik der DGIP befasst haben, wäre es an der Zeit, in die Zukunft zu blicken: Wie könnte denn der Behandlungsplan für die DGIP aussehen, um in Sachen Integration noch weiter zu kommen? Anna, du hast dich eingehend mit dem Begriff des Gemeinschaftsgefühls beschäftigt, der hier vielleicht eine zentrale Rolle spielen könnte. Anna Mayer: Bezüglich unserer Anamnese könnten wir mit Adler sagen: »Was wir vorfinden, wenn wir in unser Leben eintreten, ist immer der Beitrag unserer Vorfahren; schon diese eine Tatsache könnte uns darü­ ber aufklären, wie das Leben weiterrollt, wie wir uns einem Zustand größerer Beiträge nähern, größerer Kooperationsfähigkeit, wo sich jeder Einzelne mehr als bisher als ein Teil des Ganzen darstellt« (Adler, 1933/2010, S. 556). Susanne Freund: Aber hat sich unsere westliche Gesellschaft nicht in eine ganz andere Richtung entwickelt? Ist nicht gerade das Überlegenheitsstreben und der Anspruch, irgendwie besonders zu sein, der soziale Wert der Spätmoderne? Soziologen sprechen heute von einer »Gesellschaft der Singularitäten« (Reckwitz, 2017). Könnte da die Individualpsychologie mit ihrem Konzept des Gemeinschaftsgefühls nicht eine Gegenposition beziehen? Fiona Kosovac: Unbedingt! Gerade im Bereich der Beratung und Supervision ist das ein absolut zentrales Thema. Bei vielen Menschen, die uns in unserer Arbeit begegnen, ist der tiefe Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft spürbar – quasi als Gegenpol zur »Gesellschaft der Singularitäten«, die du, Susanne, vorhin beschrieben hast. Aber sag mal, Anna, kann man das Konzept des Gemeinschaftsgefühls nun wirklich auf unseren Verein, auf die DGIP, übertragen? Anna Mayer: Nein, das wäre ziemlich naiv und überhaupt nicht im Sinne Alfred Adlers. In der dritten und letzten Ausarbeitung des Begriffes hat er 1933 verdeutlicht, dass es ihm gerade nicht um einen Privatzirkel geht

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oder um einen »größere[n] Kreis, dem man sich anschließen müsse« (Adler, 1933/2010, S. 555). Es gehe um die Anerkennung der Tatsache, Teil eines größeren Ganzen zu sein, somit um die Lebensform der Einfühlung, der Kooperation zum Zwecke des Nutzens für das Ganze. Susanne Freund: Was bedeutet das nun für uns, für die verhältnismäßig kleine Gruppe der DGIP? Birgt nicht jegliche menschliche Gemeinschaft zugleich die Gefahr, dass andere ausgegrenzt werden? Aber vielleicht ist gerade dies unser täglich Brot: dass wir nicht den Mut und die Motivation verlieren dürfen, uns für das humanistische Menschenbild der Individualpsychologie eben gerade auch im Kleinen einzusetzen. Und dieses Menschenbild beinhaltet ja auch die Vorstellung von Veränderung, also von Leben als Bewegung. Anna Mayer: Da sprichst du mir aus der Seele. Das würde heißen, dass wir die DGIP nicht als Form betrachten dürfen, als eine feste Form, gegen die jede und jeder von uns als Einzelne und Einzelner immer wieder meint ankämpfen zu müssen, sondern dass jede und jeder Einzelne von uns versuchen sollte, die Form immer wieder in Bewegung aufzulösen. Wozu arbeiten, kämpfen, streiten – und feiern – wir in unseren Institutionen wirklich? Doch auch mit dem Ziel, eine Vollkommenheit zu erreichen, wohl wissend, dass wir diese niemals erreichen werden. Wenn ich gelegentlich gefragt werde: »Warum tust du dir das denn alles an, diese ehrenamtliche Tätigkeit?«, so denke ich an ein weiteres Adlerzitat (S. 554): »Wenn einer vielleicht das Ziel der Vollkommenheit darin findet, die Aufgaben des Lebens ungelöst zu lassen, um nicht sichere Niederlagen zu erleiden, die das Gegenteil des Ziels der Vollkommenheit wären, so erscheint uns auch dieses Ziel durchaus ungeeignet, obwohl es vielen Menschen als annehmbar erscheint.« Übersetze ich dies in die Umgangssprache, reagiere ich innerlich mit der Gegenfrage: »Soll ich mich lieber gar nicht engagieren, weil es mir vielleicht zu viel werden könnte oder weil ich dabei Fehler machen könnte?« Fiona Kosovac: Eigentlich geht es doch um unser tiefes Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und Begegnung. Interessierte bei Infoabenden, oder Kolleginnen, die ein Semester bei uns schnuppern, spüren oft eine besondere Atmosphäre in unserem Institut. Ich habe es selbst erlebt und

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Susanne Freund, Fiona Kosovac und Anna Mayer

Ausbildungskollegen auch: Es ist das Gefühl, dass der oder die Einzelne gesehen wird – was allerdings auch Angst machen kann, wenn so viel Aufmerksamkeit auf einem liegt. Das ist vielleicht eine Erklärung, warum wir uns, zumindest in München, bei dieser intensiven Konkurrenz mit anderen Instituten mit der Rekrutierung von Kandidaten in vorherigen Jahren manchmal schwergetan haben. Susanne Freund: Ich glaube, man kann sagen, wir bemühen uns sehr um demokratische Begegnungen auf Augenhöhe zwischen den Kandidaten und den Dozentinnen, zwischen den Supervisoren und den Lehranalytikerinnen, zwischen den Institutsmitgliedern und dem Vorstand, zwischen den einzelnen Adlerinstituten und all den unterschiedlichen Mitgliedern der DGIP. Gelegentlich ergeben sich dabei ganz besondere Augenblicke, in denen sich das Oben und das Unten völlig aufzulösen scheint. Deshalb könnte man vielleicht bei Begegnungen innerhalb von Gruppen, wie auch in gelingenden Psychotherapien, von »Now Moments« sprechen (Stern, 2005; vgl. auch Eife, 2016). Anna Mayer: In diesen Momenten, in welchen jede und jeder Einzelne von uns ihre Gefühle der Minderwertigkeit, die daraus resultierende Angst und ihr Geltungsstreben begreifen, auflösen und unsere eigenen Ohnmachtsgefühle überwinden können, werden wir uns innerhalb unserer Gesellschaft angstfrei begegnen. Oft ist diese Begegnung ein Gefühl, Adler sprich ja eben von Ge­­ mein­schaftsgefühl. Es ist schlecht in Worte zu gießen. So möchte ich uns am Ende unserer Überlegungen mithilfe von bewegten Bildern etwas zeigen, das man mit Worten allein nicht umfassend ausdrücken kann (Hofmann, 2018). Ich möchte alle hier im Saal für vier Minuten Teil haben lassen an einem im Film dokumentierten Gemeinschaftserlebnis, das über die Worte hinausgeht. Die Vorgeschichte: Im März dieses Jahres gab es eine unscheinbare Anzeige in einem Liverpooler Tagblatt. Es wurden fünfzig Zuschauer für die Teilnahme an dem »Gig«9 eines bekannten Künstlers gesucht. Wer 9 Als Gig (aus englisch »engagement«) wird im Jargon der Musiker ein einzelner Auftritt bezeichnet, vor allem ein solcher außerhalb von längerfristigen Verpflichtungen.

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es sein würde, wussten die Menschen nicht, die sich dafür bewarben. So saßen sie also im Pub und warteten, mehr oder weniger gelangweilt. Der Ausschnitt, den wir gleich sehen werden (McCartney u. Corden, 2018, YouTube 15:44–20:13), setzt ein, nachdem im Film eine Tour des Moderators James Corden mit Paul McCartney durch Liverpool gezeigt worden war, eine kleine Rundreise, die an verschiedenen Erinnerungsorten Halt machte und während derer der Moderator den Künstler von seinem Leben erzählen ließ, beide zusammen sangen, um zuletzt an der Bar anzuhalten. Corden spielt dort zunächst den unwissenden Barkeeper und ermutigt eine junge Frau, die Jukebox auszuprobieren. Es geht aber nicht wie erwartet die Jukebox an, sondern ein Vorhang hebt sich. Völlig überraschend steht Paul McCartney mit seiner Band auf der kleinen Bühne und spielt verschiedene Songs: »A Hard Day’s Night«, »Love Me Do« und »Back In The USSR«. Bewegend sind die Reaktionen der Zuschauer: Ob Mann oder Frau, alt oder jung, schwarz oder weiß, jede und jeder ist auf seine besondere, eigene Weise verblüfft, begeistert, berührt. Es entsteht in der Bar augenblicklich ein Gemeinschaftsgefühl, das über ein organisiertes Miteinander weit hinausgeht. Der Ausschnitt endet, als ein Bier über alle Köpfe hinweg von einem zum anderen bis zur Bühne nach vorne gereicht wird. »Ich denke, das ist ein Tag, den niemand von uns je vergessen wird«, sagt der Moderator am Ende (20:08–20:13).

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Insa Fooken

Spaltung, Integration oder: Die »Kraft der Unklarheit« und »Sensibilität gegenüber dem Ambivalenten«?

Zusammenfassung Der Begriff Ambivalenz geht im alltagssprachlichen Verständnis oft mit der Zuschreibung einer leicht negativ konnotierten Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit einher. Als (Aktions-)Künstler vertraute Christoph Schlingensief hingegen auf die »große Kraft der Unklarheit« als Inspirationsquelle für kreative Handlungsfähigkeit und eine fundamental-positive Haltung zum Leben. In ähnlicher Weise spricht auch der Soziologie Kurt Lüscher von der Ambivalenzfähigkeit der Menschen, die von daher gut beraten sind, ihre Sensibilität gegenüber »dem Ambivalenten« auszuloten, anzunehmen und kreativ zu nutzen. Unter Bezugnahme auf das Ambivalenzkonzept von Lüscher werden in diesem Beitrag zwei (empirische) Fragestellungen bzw. Forschungsfelder ausgeleuchtet: Die Vatersehnsucht bei kriegsbedingt vaterlos aufgewachsenen Frauen im Alter und der Umgang mit der Frage nach »Gehen oder Aushalten?« in langjährigen Beziehungen. Der Text schließt mit dem Plädoyer, Lösungsansätze weniger an der erhofften heilenden Kraft einer Integration zur Überwindung von Spaltungen auszurichten als an der Fähigkeit, mit Ambivalenzen umgehen zu können und zu wollen.

Einleitung – Ambivalenz als »sensibilisierendes Konstrukt« Spaltung, Ambivalenz, Integration – die Reihenfolge dieser drei programmatisch vorgegebenen Figuren psychischer Verarbeitungsmechanismen lässt vermuten, dass Spaltung und Ambivalenz als zu überwindende Etappen auf dem Weg zur Integration gewertet werden, und Integration dann am Ende für eine gelingende seelische Konfliktverarbeitung steht. In leicht salopper Abwandlung des biblischen ersten Korintherbriefs, Kapitel 13, Vers 131, soll hier ein etwas anderer Akzent

1 »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.«

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gesetzt werden: »Nun aber bleiben: Spaltung, Integration, Ambivalenz, diese drei: Aber die Ambivalenz ist die größte unter ihnen.« In einem ersten Schritt wird das Konzept der Ambivalenz vorgestellt, das sich im Wesentlichen auf Arbeiten des Schweizer Soziologen Kurt Lüscher bezieht. Lüscher bezeichnet Ambivalenz als ein »sensitizing construct« (Lüscher, 2011a), also ein »sensibilisierendes Konstrukt«, das auf viele Lebensbereiche angewandt werden kann und sich gut eignet, neue Perspektiven zu eröffnen, z. B. bei Re-Analysen von vorliegendem Forschungs- oder Fallmaterial. Der im Jahr 2011 mit anderen von Lüscher gegründete »Interdisziplinäre Arbeitskreis Ambivalenz (IAA)« stellt mit seinen jährlichen Werkstattgesprächen einen guten Diskussionsrahmen dar, der auch für die hier vorzustellenden Themenschwerpunkte genutzt wurde, um vorhandenes Fallmaterial noch einmal neu aus der Ambivalenzperspektive aufzubereiten. Es handelt sich dabei zum einen um ein empirisches Projekt über »kriegsbedingt vaterlos aufgewachsene Töchter« im Alter und zum anderen um den Fall einer seit mehr als fünfzig Jahren verheirateten Frau, die sich seit vierzig Jahren mit Trennungsabsichten auseinandersetzt.

Ambivalenzen – Spielräume angesichts von Ungewissheit Ambivalenzen sind Erfahrungen, die im Kontext von Ambiguität entstehen, d. h. im Umfeld widersprüchlicher Mehrdeutigkeit in den verschiedensten gesellschaftlichen und privaten Lebensverhältnissen. Dabei hat das Kunstwort Ambivalenz zwei Wurzeln: In der ersten verweist das lateinische Präfix »ambi« auf ein dynamisches, mit Bewegung verbundenes Geschehen, das »beides zusammen«, »herum«, »umher«, »von zwei Seiten« oder »doppelsinnig« bedeutet, während sich die zweite Wurzel auf »valens« bezieht, abstammend vom lateinischen Verb valere, in der Bedeutung von »stark sein«, »Macht und Einfluss haben« (Lüscher, 2016, S. 123). Ist das Phänomen der Ambivalenz einerseits uralt und findet sich dementsprechend in zahlreichen antiken Mythologien und Sagen, in biblischen Geschichten, in der Literatur der Klassik und Romantik, in der Kunst etc., so ist der Begriff im wissenschaftlichen Kontext erstaunlich jung.

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In seiner diesbezüglichen Spurensuche nennt Lüscher (2012, S. 12) den Schweizer Psychiater Eugen Bleuler, der 1910 erstmals den Begriff verwendete und drei Formen unterschied: die affektive Ambivalenz, gemeint als Gleichzeitigkeit von positiven und negativen Gefühlen gegenüber einem Objekt; die voluntäre Ambivalenz im Sinne eines gleichzeitigen Wollens und Nicht-Wollens oder Anders-Wollens und die intellektuelle Ambivalenz als eine zugleich positive und negative Bewertung einer Vorstellung. Die Rezeption der Ausführungen von Bleuler durch Sigmund Freud und Carl Gustav Jung fiel damals positiv und anerkennend aus. Von Alfred Adler ist hierzu nichts bekannt. Lässt sich einerseits vermuten, dass alles, was in Richtung Wankelmütigkeit geht, bei Adler tendenziell eher moralisierend als negativ bewertet wird, so lassen sich andererseits bei ihm aber auch Anklänge an eine möglicherweise tiefer gehende Auseinandersetzung mit Ambivalenzerfahrungen und den Umgang hiermit finden, wenn man sich die Idee der doppelten Dynamik im Zusammenhang mit der Bedeutung von Bewegung vergegenwärtigt, so wie dies von Gisela Eife herausgearbeitet wurde (Eife, 2011). Auch Freuds kurzer Text über den Gegensinn der als Urworte bezeichneten Oppositionsworte gehört hierher (Freud, 1910). Freud beschreibt das Phänomen, dass zwei Bedeutungsgegensätze in einem Wort vereint sind, wie beispielsweise beim lateinischen Wort »altus«, das »hoch« und zugleich »tief« bedeutet. Dabei ist die Idee, dass jedes Wort ursprünglich immer aus zwei gegensätzlichen, reflexiv aufeinander bezogenen Bedeutungen bestand, eine reizvolle Vorstellung. Und wenn wir schon einmal beim Thema Ambivalenz und Sprache sind, möchte ich kurz eine frühe Individualpsychologin erwähnen: Alice Rühle-Gerstel, die noch in ihrem Prager Exil Mitte der 1930er Jahre den Roman »Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit« (Rühle-Gerstel, 1984) begonnen hatte. Der Umbruch, der ambivalenzträchtig sowohl Freiheit und Aufbruch als auch Abbruch und Absturz bedeuten kann, charakterisiert hier das ambivalente Lebensgefühl der Protagonistin Hanna. Hanna, Alter Ego von Alice Rühle-Gerstel und Mitarbeiterin bei der Zeitschrift »Svobóda« (Freiheit), hat dort eine Geschichte über bi-polare Worte geschrieben. »Sie handelte von jenen seltsamen Worten aus alten Sprachen, die gleichzeitig das Positive und das Negative eines Zustands bedeuten, gleichzeitig heiß und kalt, schön und häß-

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lich, grausam und mild, heilig und verrucht [waren]. […] Alle Worte sind bipolar, nichts ist so, alles ist so und anders, und erst später, als […] [die Worte] schon aus der Allfalt des Seins aufgestiegen waren zu schneidendem Entweder-Oder, haben die Menschen die Gegensatzworte dazu erfunden«. Hannas Chef erinnert sie hier »an das selten gebrauchte tschechische Wort ›nabažiti se‹, das gleichzeitig ›sich sehnen‹ und ›sich sattgesehnt haben‹ bedeute« (Rühle-Gerstel, 1984, S. 99). Alfred Adler ist da gar nicht so weit entfernt mit dem Spiel und der Lust an der Doppeldeutigkeit der Begriffe und der ihm zugeschriebenen Maxime: »Alles kann auch anders sein« (vgl. Dennis, 1970, S. 5). Zurück zu Lüschers Standortbestimmung des Ambivalenten. Auch hier geht es um gleichwertige, gleichursprüngliche, in gewisser Weise aufeinander bezogene, dabei aber zweideutige und zwiespältige Erfahrungen, die dabei aber immer »mit der [grundsätzlichen] Befähigung als Subjekt zu handeln einhergehen« (Lüscher, 2011b, S. 374). Anders als die eher negativ konnotierte Gesellschaftsdiagnose »Ambivalenz«, wie sie beispielsweise von Zygmunt Bauman (1995) für unsere postmodernen Zeiten formuliert und in Zusammenhang mit Prozessen globalisierter Verunsicherung und dem Verlust einer absichernden Eindeutigkeit gebracht wird, betont Lüscher (2012), dass Menschen als »homines ambivalentes« prinzipiell ambivalenzfähig sind: Ambivalenzen fordern heraus. Damit kann man umgehen, auch wenn sich Menschen in ihrer diesbezüglichen Bereitschaft und Fähigkeit voneinander unterscheiden. Als Beispiel für ein höchst ambivalenzträchtiges Feld nennt Lüscher die komplexe Dynamik von Generationenbeziehungen. Hier kritisiert er die stark normativ ausgerichtete amerikanische Familien- und Generationensoziologie der späten 1990er Jahre, die den Blick fast ausschließlich – normativ – auf das Ausmaß der Generationensolidarität richtete, ohne sich mit den diesen Beziehungsstrukturen fast immer innewohnenden Ambivalenzen zu befassen. In Lüschers eigenen empirischen Arbeiten erwies sich hingegen der Umgang mit der Erfahrung von Generationenambivalenz als der zentrale Faktor, der die Chancen und Risiken von Generationenbeziehungen wesentlich bestimmte (Lüscher, 2012). Sein Resümee: Die Realisierung der Gleichzeitigkeit von Gegensätzen, beispielsweise in den Bedürfnissen nach Nähe und Distanz, nach Beibehaltung und Veränderung, eröffnet die Chance für Klärungsprozesse. Ambivalenzerfahrungen können dann als Potenzial

Spaltung, Integration oder: Die »Kraft der Unklarheit« 137

genutzt werden, wenn mit Widersprüchlichkeit und Zwiespalt so umgegangen wird, dass weder eine Seite dauerhaft abgespalten wird oder Widersprüche durch eine normativ-forcierte Integration vorschnell und nivellierend vereinheitlicht werden. In der Weiterentwicklung seines Ambivalenzmodells hat Lüscher vor allem die Such- und Auseinandersetzungsprozesse mit ambivalenzträchtigen Lebenslagen gezielt in den Fokus genommen und dabei auch in Zusammenhang mit der Identitätsentwicklung gebracht (Lüscher, 2016). Das nachfolgende Diagramm bezeichnet er selbst als eine »heuristische Zwischenbilanz« des Ambivalenten (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Diagramm des Ambivalenten (aus Lüscher, 2016, S. 130)

Die im Kreisinneren genannten vier Ambivalenzdimensionen – Differenzieren, Vaszillieren, Signifizieren und Praktizieren – verweisen

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in gewisser Weise auch auf Spaltungs- und Integrationsprozesse als Facetten der Ambivalenzdynamik. Dabei stellen diese vier Dimensionen keine zwingend aufeinanderfolgende Sequenz dar, auch wenn das hier angedeutete Ablaufmuster durchaus plausibel erscheint. Zu Beginn der Auseinandersetzung mit seelischen Konflikten und ihrer Ambivalenzträchtigkeit spielen oft Prozesse des Differenzierens, das Erkennen möglicher Differenzen und das Herausarbeiten des Entstehungsumfelds von Differenz eine wichtige Rolle. Gerne wird postuliert: Es ist entweder »so« oder »so«. Der Blick ist geschärft für die Wahrnehmung von Dualität und Polarität. Es findet eine Zuspitzung statt auf sich scheinbar ausschließende Alternativen: Gehen oder Bleiben, sich Verweigern oder sich Einlassen, sich Anpassen oder Widerstand zeigen, trauern oder weiterleben, alles oder nichts. Oft kommen moralische Empfindungen ins Spiel, Empörung über soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, strukturelle Differenzen wie auch immanente Dualitäten. Die Aufmerksamkeit ist erhöht für die hier verwendete Sprache und die Schlagworte, in denen widersprüchliche Diskurse und Rhetoriken von Diversität und Differenz aufbereitet werden und ihre Macht entfalten. Das alles gilt für die gesellschaftliche Ebene, für die fiktiven Bereiche von Literatur, Kunst und Musik wie auch für den individuellen Umgang mit Ambivalenz. Diese zugespitzte Sicht eines »Entweder-oder« reduziert Ambiguität und Komplexität, sie setzt einen Anker, auch wenn das oft erst einmal Spaltung bedeutet im Sinne der Entscheidung für die eine Variante auf Kosten der Abwehr und Abwertung der anderen. Spaltung kann kurzfristig befrieden, in der Regel aber nicht dauerhaft – meist fängt es von einem bestimmten Zeitpunkt an »zu rumoren«. So kann in der Auseinandersetzung mit solch einer Zuspitzung ein anderer Prozess in Gang kommen, den Lüscher als Vaszillieren bezeichnet. Die zuvor forcierte Vereindeutigung wird wieder aufgehoben und das Verhältnis zwischen den Gegensätzen wird wieder dynamisch und geht über in eine offene Dialektik. Warum die Verwendung dieses im Deutschen ungebräuchlichen Wortes »vaszillieren«? Mit diesem aus dem Englischen »to vacillate« abgeleiteten Begriff sind sowohl oszillierende Suchbewegungen gemeint – hin und her, vor und zurück, auf und ab – wie auch Modi der Zeitlichkeit, in der diese Prozesse ablaufen können. Übersetzt heißt

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»to vacillate« schwanken, wanken, zaudern, stolpern, zögern, zweifeln, warten, innehalten – es sind also vor allem Prozesse der Verlangsamung, der Ausdehnung von Gegenwärtigkeit. Nach Lüscher (2018) ist damit auch so etwas gemeint wie ein Zurückweichen, um dann zum Sprung anzusetzen. Die hier beschriebene Dynamik entspricht insofern einer pragmatischen Definition von Ambivalenz und dem Umgang damit: Es sind die »Erfahrungen des Vaszillierens zwischen entgegengesetzten Polen des Fühlens, Denkens, Wollens und sozialer Strukturen in der handlungsrelevanten Suche nach dem Sinn sozialer Beziehungen, […] die für Entfaltung und Veränderung von Facetten persönlicher und kollektiver Identitäten bedeutsam sind« (Lüscher, 2016, S. 124). Im Verlauf dieser Zuspitzungs-, Abwehr- und Suchprozesse kommt es dann (immer wieder) zu neuen Verortungen und Bedeutungs­ zuschreibungen. Lüscher spricht in diesem Zusammenhang von Signifizierungen als einer weiteren zentralen Ambivalenzdimension. Themen und Dinge, um die es geht, unterliegen einem Wandel, sie können ihre Bedeutung verändern und werden in einem gewissen Sinn wieder neu festgelegt oder in ihrer alten Bedeutung bestätigt. Nicht zuletzt hat die Art und Weise des Umgangs mit dem Ambivalenzpotenzial der anstehenden Themen – seien sie abgewehrt oder zugelassen oder neu reflektiert – Konsequenzen für das nachfolgende Handeln. Es finden Formen des Praktizierens statt, wie Lüscher es nennt, Formen von Lebenspraxis, in denen sich Handlungsfähigkeit ausdrückt. Auch hier lässt sich ein Bezug zur Identität herstellen, denn in diesem Handeln schlägt sich die Erfahrung von Veränderung nieder bei gleichzeitigem Erleben von Kontinuität. Das wiederum stellt eine Form gelingender Identitätsentwicklung dar. Insofern wird hier noch einmal deutlich, dass nicht die Abwehr der Ambivalenz Menschen befähigt, mit Ungewissheit klarzukommen oder umzugehen, sondern die Sensibilität gegenüber dem Ambivalenten – auch zu verstehen als Bereitschaft, sich wissentlich auf Ungewissheit einzulassen. Im Bereich von Psychotherapie und Beratung wäre die Entwicklung einer solchen Sensibilität ein sinnvolles Therapieziel, denn sie öffnet den Raum für kreativ-spielerische Selbsterkundung. So wundert es letztlich auch nicht, dass Ambivalenzerfahrungen eine inspirierende Quelle für Kunst sind – sei es in der Musik, in der

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Literatur, in den Bildenden Künsten, im Theater, Tanz, Film etc. Hierzu passt das leidenschaftliche Plädoyer des Aktionskünstlers Christoph Schlingensief (2006/2011, S. 238): »Die große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern Transformationen und Formveränderungen […], das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum Leben.«

Transformationen von Ambivalenznarrativen im Lebensverlauf – das Beispiel kriegsbedingt vaterloser Töchter Innerhalb der verschiedenen Aktivitäten und Projekte der Arbeitsgruppe »Kinder des Weltkriegs« (w2k) (Radebold, Heuft u. Fooken, 2006) war ich an einem Projekt der Zeithistorikerin Barbara Stambolis zu kriegsbedingt vaterlos aufgewachsenen Töchtern mitbeteiligt (Stambolis, 2012, 2013). Das in diesem Zusammenhang von mir analysierte »Fallmaterial« bestand aus etwa hundert autobiografischen Skizzen von vaterlosen Töchtern, die Fragen zu insgesamt neun Themenkreisen schriftlich beantwortet hatten (Fooken, 2012, 2013, 2014). Die meisten dieser Frauen waren im Zweiten Weltkrieg in den Kriegsjahren zwischen 1939 und 1945 geboren und hatten entweder keine oder nur wenige konkrete Erinnerungen an den Vater. In allen Berichten – tatsächlich in allen – findet sich ein höchst ambivalenzaffines Thema, das viele der Frauen von der Kindheit an bis zur Lebenssituation im Alter begleitet hat: Es ist das Thema der Sehnsucht, der Sehnsucht nach der konkreten Person des Vaters und nach dem, was »Vater« und »Väterlichkeit« jeweils subjektiv für die befragten Frauen repräsentieren. Die dauerhafte Abwesenheit des Vaters ist häufig ein »ambiguous loss« gewesen, wie Pauline Boss (2000, 2006) es nennt, ein ambiguer, uneindeutiger Verlust des Vaters, eingebettet in eine oft gegebene hohe Ambiguität der Lebensverhältnisse in Kindheit und Jugend. Auch wenn die Schilderungen der Frauen nur schriftlich vorliegen, spiegelt sich dennoch in diesen Skizzen die lebenslange Auseinandersetzungs­ dynamik mit dem Vaterverlust intensiv wider. Dabei erweist sich die Ambivalenzheuristik von Lüscher hier als ein hilfreicher Referenzrahmen: Alle drei der im Beitragstitel programmatisch angesprochenen Mechanismen werden in den Texten angesprochen, sowohl die par-

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tielle Abwehr und Spaltung als auch eine signifizierende Integration, die eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Verlusterfahrung oft abblockt. Durchgängig zeigt sich aber auch das immer wieder neu zugelassene Sich-Einlassen auf das Spannungsfeld der Ambivalenz. Wie lässt sich die Situation der Frauen in der Kindheit beschreiben? Man muss sich klar machen, dass die Todeskonzepte der damals jungen Kinder zumeist noch unklar waren, sodass sie sich der Irreversibilität und Endgültigkeit des Vaterverlustes nicht bewusst waren, selbst wenn es eindeutige Todesnachrichten gab. Noch schwieriger war es, wenn es hieß, dass der Vater »vermisst« sei oder gar keine Nachrichten von ihm mehr eintrafen2. Für die damaligen Kinder waren schon allein sprachliche Formulierungen, wie der Vater sei »gefallen« oder »vermisst«, verwirrend und lösten vielfältige kindliche Fantasien über die Existenzform des Vaters aus. Denn, auch wenn der Vater nicht da war, sondern irgendwo draußen, »im Krieg« oder »im Feld« – was auch immer das hieß –, war er ein höchst präsenter Abwesender. Er war nicht da und doch da. Er hing als Foto an der Wand, in schmucker Uniform, in Feldpostbriefen berichtete er, fragte und ermahnte (»Mach Mutti keinen Kummer!«) und seine Rückkehr wurde – manchmal ganz allein, manchmal gemeinsam mit Mutter und/oder Geschwistern – in abendlich praktizierten Ritualen beschworen. Da es selbst Jahre nach dem Kriegsende immer noch spät heimkehrende Väter gab, bewegte sich die hoch ambivalente Gefühlslage zwischen Hoffnung auf Wiederkehr des Vaters, verzehrender Sehnsucht nach dem dann zumeist höchst idealisierten Vater und – irgendwo ganz tief drinnen – auch oft tiefer Traurigkeit und Gewissheit um den endgültig verlorenen Vater. Uneindeutige Verluste verhindern in der Regel die Trauerarbeit. Viele der Frauen berichten davon, sich »ganz alleine auf der Welt« gefühlt zu haben, manchmal verbunden mit der Fantasie, »wenn Vati da gewesen wäre«, dann hätte er der Tochter die Welt und die Verhält2 Hier sei kurz angemerkt, dass die sogenannte Deutsche Dienststelle, die frühere Wehrmachtauskunftstelle für Kriegerverluste und Kriegsgefangene (WAST), davon ausgeht, dass heute noch ca. eine Million deutsche Soldaten des Zweiten Weltkriegs als vermisst gelten. Mediale Ereignisse, wie beispielsweise der 2013 im ZDF gezeigte Dreiteiler »Unsere Mütter, unsere Väter« führen regelmäßig zu einem plötzlichen Anstieg von Suchaufträgen bei der Dienststelle (Orlowski, Klauer, Freyberger, Seidler u. Kuwert, 2015).

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nisse erklärt. So aber gab es kaum Unterstützung durch Erwachsene, kaum Trost. Mütter waren oft kein hilfreiches Vorbild für Trauer und wurden nicht selten als psychisch nicht erreichbar beschrieben. Hinzu kamen Ausgrenzungserfahrungen im sozialen Umfeld, beispielsweise als Flüchtlingskind. Die Situation war somit oft höchst ambivalent, aber es fand keine in Sprache gebrachte Auseinandersetzung mit der Ambivalenz und Ungewissheit statt. So wehrten manche Kinder die Sehnsucht ab, andere hingegen bannten sie in einem Gedanken, Bild oder Ritual. So finden sich Äußerungen wie diese: »Der Schmerz um den Verlust des Vaters und die Sehnsucht des kleinen Mädchens blieben unbemerkt: ›Kleine Kinder spielen das so weg‹, sagte meine Mutter. Das blieb nicht ohne Wirkung. Wenn ich später gefragt wurde, ob ich meinen Vater nicht vermisste oder wie es sich anfühlt, vaterlos aufzuwachsen, antwortete ich: ›Ich habe ihn nicht gekannt, also vermisse ich ihn auch nicht. Was ich nicht gehabt habe, kann ich auch nicht vermissen.‹« Häufiger wurde aber mit dieser Lücke im familialen Netz anders umgegangen. Viele Frauen fantasierten sich eine exklusive, eine mit Präsenzerleben einhergehende Vater-Tochter-Bindung, auch wenn die beiden sich real nie begegnet sind: »Er hat meine Geburtsanzeige noch einen Tag vor seinem Tod erhalten.« Das ist eine Vorstellung, die die immer wieder aufflammende Sehnsucht ein Stück zu beruhigen vermag, die partiell Trost, Halt und Identität gibt. Für andere Frauen trifft eher das Gegenteil zu – die Tatsache der real nie stattgefundenen Begegnung ist eine nie heilende Wunde, Ursache für erlebte psychische Unvollständigkeit, die in der Regel eine unstillbare Sehnsucht nach Heilung und Ganzwerdung im Gefolge hat: »Das ist etwas, was mich heute noch sehr berührt, den eigenen Vater nie kennen gelernt zu haben, ihn mir nie zu eigen machen zu können, ihn nie erlebt zu haben, weil ich nie das Leben mit ihm teilen konnte, auch nicht wenigstens für eine kurze Zeit, sodass ich eine eigene Erin-

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nerung an ihn haben könnte. Ich würde auch heute noch ein paar Jahre meines Lebens dafür geben, wenn ich meinen Vater sehen, sprechen und umarmen könnte, um zu erfahren, welch ein Mensch er war und wie er als Vater gewesen wäre.« In vielen Schilderungen wird deutlich, dass über eine lange Zeit Ambivalenz in Form der Sehnsucht nach dem Vater intensiv erlebt wurde, aber nicht hilfreich in Sprache und Reflexion gebracht werden konnte. Der Vater wurde als (irgendwo) präsent fantasiert und gleichzeitig »wusste« man um die Endgültigkeit des Verlustes. So wird letztlich oft Verhalten beschrieben, das manchmal wie ein stoisches Erdulden und Funktionieren wirkt. Es wird ein normativ ausgerichtetes Leben gelebt, denn es gilt: Unauffällig sein, alles richtig machen, heiraten, Kinder bekommen – die ungestillte Sehnsucht nach der Errettung aus diesem Zustand richtet sich auf den idealisierten, ewig jung bleibenden Vater und bleibt oft abgekapselt von den gegenwärtigen Emotionen und Erfahrungen. Die geballte Konfrontation mit diesem Material und seiner starken Fokussierung auf das ambivalenzaffine Thema der Sehnsucht machte es auch für mich zunehmend schwierig, mich eher sachlich distanziert auf eine Analyse und »Auswertung« des Datenmaterials einzulassen. Auch in mir wurde viel Ambivalenz ausgelöst, ob und wie ich mich einlassen konnte und wollte. Es war so, als ob eine Art Gegenübertragungsraum entstanden war, in dem auch ich mächtig ins »Vaszillieren« kam. Ich hatte mich etwa zwei Wochen allein in ein Ferienhaus zurückgezogen, um das Material zu bearbeiten. Nachdem ich (gefühlt) zum fünfzigsten Mal bei den Antworten auf die Frage nach den Todesumständen des Vaters gelesen hatte: »Bauchschuss«, »vermisst in Stalingrad«, »Lungensteckschuss«, »beim Untergang der Steuben ertrunken« etc., schossen mir plötzlich Tränen in die Augen und ich verlor völlig die Fassung, hämmerte auf den Tisch und sah vor meinem inneren Auge einen Zug von kleinen Mädchen, die wie Lämmer irgendwohin geführt wurden und dabei ständig repetierten: »Bauchschuss«, »vermisst in Stalingrad«, »Lungensteckschuss«. Gleichzeitig entstand aber auch eine Art Gegenbewegung in mir, durchaus mit dem ambivalenten Gefühl verbunden, ob mir das überhaupt zustehe. So hatte ich den Eindruck, dass sich viele Frauen in dem

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Sehnsuchtsthema irgendwie »eingerichtet« hatten, und ich fragte mich, warum das über so eine lange Zeit »funktionierte«. Die Ambivalenz der Vaterlosigkeit schien diese Personen eher nicht mehr herauszufordern, sondern eher zu einer »Signifizierung« des lebenslangen Sehnsuchtsthemas zu führen, die nicht öffnete, sondern verschloss. Mein Assoziationskarussell im Kopf drehte sich und blieb an der für mich irritierenden Koinzidenz hängen, dass der Schlager »Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga« von Alexandra im Jahr 1968 die Hitparaden erklomm. Merkwürdig, wie im Jahr 1968 einerseits radikale Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und andererseits romantisch verklärte Taigasehnsucht in der bundesrepublikanischen Wohlstandgesellschaft parallel nebeneinander existierten! Die meisten der vaterlosen Töchter lassen das Bild des guten Soldatenvaters intakt. Nur: Gab es wirklich so viele liebevolle, warmherzige, musisch interessierte Soldatenväter, wie sie von den vaterlosen Töchtern beschrieben wurden? Sind »die Guten« im Krieg geblieben und »die Bösen« zurückgekommen oder im Krieg »böse« geworden? Bei etwa einem Viertel der Frauen werden Ambivalenzgefühle in Bezug auf den Vater im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Vaterverlust noch einmal in einen anderen Zusammenhang gestellt: Warum ist der Vater überhaupt in den Krieg gezogen? Was hat er im Krieg gemacht? Ist wirklich alles erzählt worden? Was wurde verschwiegen? Und: Will man, will ich das wissen? »Ich habe gelernt, die Ambivalenz auszuhalten zwischen einerseits der grausamen Tatsache, dass er Nazi war und ich ihn deshalb ablehne, und der Sehnsucht nach Liebe zu ihm.« Bei vielen der Frauen finden etwa ab der Lebensmitte und im Zuge des Älterwerdens noch einmal neue bzw. neu ambivalenzträchtige Auseinandersetzungen statt – mit dem Vater, dem Vaterverlust, mit der Tatsache, eine vaterlose Tochter zu sein und mit den eigenen Lebens­ ansprüchen an Liebe, Partnerschaft, Kinder und an sich selbst. In der Gruppe der Befragten ist die Scheidungsrate, auch nach langen Ehen, erstaunlich hoch: Der Partner als Vaterersatz, das Hänsel- und Gretelgefühl, wenn auch der Partner vaterlos aufwuchs, die Sehnsucht nach Liebe – all das sind keine guten Voraussetzungen für tragfähige

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Beziehungen. Vielen gelingt aber eine nachfolgende Beziehung, oft auf der Grundlage einer stärkeren Selbstreflexion. Die Unsicherheit darüber, ob man als »unvollständiges Kind« überhaupt eine gute Mutter sein kann, nimmt allmählich ab, vor allem dann, wenn die eigenen Kinder und Enkel das Muttersein-Können validieren. Zwischen den Zeilen deutet sich dann so etwas wie ein verhaltener Stolz auf die eigene Lebensleistung an. Eine veränderte Form der zugelassenen Ambivalenzsensibilität öffnet den seelischen Raum noch einmal neu. Träume und Handlungen verändern sich, manches wirft neue Facetten auf, anderes schließt sich stimmig. Als Illustration hierzu zunächst ein Traum, fünfzig Jahre nach dem Kriegsende: »Mir wird mitgeteilt, mein Vater sei endlich doch noch heimgekehrt. Ich könnte ihn an einem bestimmten Ort treffen und abholen. Ich trete in einen großen, hohen Raum, einer Turnhalle ähnlich, nur etwas kleiner. An der langen Wand der Tür gegenüber steht eine Schwebebalken-Bank. Dort sitzt ein hagerer alter Mann, ganz klein und alleine, ein Häufchen Elend. Ich weiß nicht mehr, ob er mich ansah oder nur vor sich hinguckte. Jedenfalls blieb er reglos sitzen. Während ich auf ihn zugehe, überlege ich, mit welchen Worten wir uns vorsichtig wieder›erkennen‹ können. Bevor ich ihn erreiche, wache ich zutiefst erschüttert auf.«

Eine andere Variante der Suche nach Klärung, Signifizierung und in gewisser Weise Integration des Vaterverlustes: »Seit ein paar Jahren aber habe ich erneut die intensive Spurensuche aufgenommen, und sie hat mich nicht mehr losgelassen. Im letzten Sommer war ich in Russland und habe das Grab meines Vaters gesucht. Nach schwierigen Recherchen habe ich es gefunden. Ich habe das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Es schließt sich für mich ein Kreis, der zu Beginn meines Lebens begonnen hat.«

In seiner psychologischen Phänomenologie der Sehnsucht geht Baltes (2008) davon aus, dass der Sehnsucht vor allem die Funktion zukommt, »eine imaginierte und idealisierte Alternative gegenüber einer als unvollkommen erlebten Gegenwart« (S. 80) aufzubauen. Das heißt, Menschen als »homines ambivalentes« erweisen sich auch als sehnsuchtsfähig, ohne Sehnsucht nur passiv zu erleiden. Empfundenes Leid kann – zumindest partiell und punktuell – durch zugelassene Ambivalenz überwunden werden. Allerdings: Der Mangel, die

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Unvollkommenheit, die Einsamkeit, die reale Unverbundenheit mit dem geliebten (Vater-)Objekt können sich in der Sehnsucht nach dem idealisierten Objekt auch partiell aufheben und sie können diese wieder neu und schmerzlich verstärken. »Die Sehnsucht kann trösten und quälen zugleich«, konstatiert Hantel-Quitmann (2011, S. 219). Die Fantasie darüber, was idealiter hätte sein können, bleibt janusköpfig, aber die Sensibilität gegenüber den ambivalenzträchtigen Facetten des Themas Sehnsucht scheint spätestens im Alter Verkrustungen aufgehoben zu haben. Möglicherweise hat Rainer Maria Rilke (1899/1966, S. 147) das Ambivalente einer solchen Situation eingefangen: »Initiale Aus unendlichen Sehnsüchten steigen endliche Taten wie schwache Fontänen, die sich zeitig und zitternd neigen. Aber, die sich uns sonst verschweigen, unsere fröhlichen Kräfte – zeigen sich in diesen tanzenden Tränen.«

Erarbeitete Ambivalenzsensibilität – Klärungsprozesse in einer langjährig verwickelten Partnerbeziehung Mein zweites Anwendungsbeispiel der Ambivalenzheuristik bezieht sich auf einen »Fall«, bei dem es um die Ambivalenz eines nicht realisierten, aber immer wieder hoch virulenten Trennungsbedürfnisses in einer mittlerweile seit 55 Jahren bestehenden Ehe geht. Das Fallmaterial besteht aus insgesamt sieben E-Mail-Kontakten zwischen mir und einer zu Beginn der Korrespondenz 68-jährigen Frau im Zeitraum zwischen April 2013 und Dezember 2017. Sie hatte einen Fernsehbericht über »späte Scheidungen« gesehen, in dem ich als Expertin interviewt worden war, schilderte mir ihren »Fall« und fragte um Rat. Ich beantworte solche Post in der Regel, mache dabei gleichzeitig klar, dass ich keine Psychotherapeutin bin, mich aber das Thema als forschende Wissenschaftlerin interessiert. Beim Thema »späte Trennungen« liegt es nahe, zu vermuten, dass viel Ambivalenz im Spiel ist.

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So war es auch hier. Im Übrigen nicht nur bei Frau A. (Initiale geändert), sondern – schon beim ersten Lesen der Mail – auch bei mir. Es liefen eine ganze Reihe von Gegen- und Eigenübertragungsprozessen bei mir ab. Frau A., seit 51 Jahren verheiratet, schreibt: »Dreimal habe ich bereits angefangen, Ihnen eine Mail zu schreiben … Seit 40 Jahren will ich gehen«, aber »durch viele Gründe wurde ich zum Bleiben veranlasst«. Sie skizziert ihre Partnerschaftsbiografie: Mit 17 Jahren »Mussehe«, aus der drei Kinder hervorgingen; ihr Mann sei ein »toller Typ« gewesen, heiß begehrt und immer noch ein »drahtiger Kerl«. Über seine außerehelichen Affären »habe ich drüber weg gesehen«; schließlich führte aber eine lange Affäre trotz anschließender Treueschwüre dazu, dass »ihre Liebe völlig erkaltete«. Nur wegen des Zusammenhalts der Familie und aus finanziellen Gründen sei sie nicht »gegangen«. Er sei jetzt 76 Jahre und habe schon lange einen (abgewehrten) Waschzwang; sein ununterbrochener Kontrollzwang richte sich vor allem gegen sie. »Nur so viel: von morgens bis abends habe ich in meinem Kopf: ›Ich halte es nicht mehr aus, ich muss gehen, sonst werde ich verrückt!!!!‹ Aber nach 51 Jahren denkt man nicht mehr an Gehen – oder doch??? Was soll ich tun?« Schon prophylaktisch werde ich gewarnt: »Sagen Sie nicht, eine Therapie wäre gut! Das hatten wir schon.« Warum auch immer, als Erstes fällt mir auf, dass Frau A. ihre E-Mail in der Schrifttype »Comic sans« verfasst hat. Comic sans, das ist die Schrift, die ein bisschen an Handschrift erinnert. Ich nenne sie gelegentlich schon mal die »Wir-haben-uns-alle-lieb-Schrift«, eine Schrift ohne Ecken und Kanten. Spätestens, als ich bei dem Satz »Ich halte es nicht mehr aus, ich muss gehen!!!!« ankomme, denke ich: Nein, dieser Satz sollte nicht in Comic sans geschrieben sein, der gehört mindestens in Arial gemeißelt. Ansonsten stolpere ich über den positiv konnotierten »drahtigen Kerl«, denn einen drahtigen Kerl hätte ich nicht gerne in meiner Nähe. Ich höre einen hohen moralischen Ton, in der eine Opfergeschichte berichtet wird, nehme aber auch Verzweiflung wahr und das Festgefahrensein in dieser zugespitzten Polarität »will gehen – muss bleiben«. Sinngemäß rate ich Frau A., sich auf einen ergebnisoffenen Klärungsprozess einzulassen – nach Möglichkeit mit einem Menschen,

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der gut zuhören kann –, Ambivalenzgefühle zuzulassen und alles in alle Richtungen hin auszuloten. Mir ist klar, dass sie ein Kriegskind ist und denke spontan: Bestimmt ist sie vaterlos aufgewachsen. Als eine Leseempfehlung lege ich ihr einen Text von Regine Alegiani bei, einer Autorin, die im Alter von 72 Jahren eine Psychoanalyse begonnen und darüber geschrieben hat und ebenfalls Kriegskind ist (Alegiani, 2013). Zwei Tage später kommt die zweite Mail: »Sie haben mich doch sehr ermutigt, mir Gedanken über mich selbst zu machen. Das bedeutet nicht, dass ich mich trenne, obwohl ich es mir eigentlich wünsche.« Frau A. beschreibt ausführlich und elaboriert ihre hoch komplexe alltägliche Lebenslage. Ein Stück scheint sie ins »Vaszillieren« gekommen zu sein. Dann wechselt sie das Thema und konstatiert, dass die von mir empfohlene Autorin »wirklich Schlimmes erlebt« habe, was bei ihr ja nun nicht der Fall sei. »Meine Kindheit und Jugend waren schön und ich bin meiner Mutter, die mit meiner Schwester und mir aus Schlesien geflüchtet ist, ewig dankbar. Nur, sie konnte auch keine Liebe oder Gefühle uns Mädchen gegenüber zeigen.« Und dann bricht auf einmal etwas anderes aus ihr heraus: »Unsere Mutter hat 1952 einen Kriegsheimkehrer kennengelernt, der bis zu seinem Tod 2005 unser Ersatzvater war (Onkelehe hieß das), der mich allerdings als Mädchen von 7–10 Jahren ständig ›befummelte‹ und ich ihn. Ich habe nie mit meiner Mutter darüber gesprochen, weil ich diese ›Familie‹ nicht kaputt machen wollte. Sie sehen, ich war schon früher so. Es war schrecklich, über 50 Jahre dieses Wissen in mir zu haben und meinem ›Stiefvater‹ jeden Tag zu begegnen. Bis heute habe ich – und Sie sind die Erste, der ich das mitteile – darüber geschwiegen. Vielleicht, weil ich nur schriftlich mit Ihnen kommuniziere und nicht gegenübersitze?!« Ich antworte ihr zwei Wochen später und ermutige sie, die gegensätzlichen Empfindungen und all das scheinbar Widersprüchliche für sich durchzudenken. Gleich am nächsten Tag kommt die dritte Mail, der Frau A. ein Bild von sich und ihrem Mann als Paar bei ihrer Goldenen Hochzeit beilegt: »Ich möchte, dass Sie sehen, dass wir eigentlich beide nicht ›vergrämt‹ aussehen.« Ich hingegen traue meinen Augen kaum, denn ich habe das Gefühl, meine Klassenlehrerin der Abiturklasse schaut mich an. Klein, eisern, vordergründig charmant. Ihr Motto: »Selbstdisziplin

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ist das wichtigste im Leben, meine Damen!« Auf Klassentreffen, auch fünfzig Jahre nach dem Abitur, sind die durch sie erfahrenen Demütigungen und Entwertungen immer wieder noch ein Thema. Ich muss aufpassen, dass ich bei Frau A. bleibe! Frau A.s seelischer Raum hat sich aber geöffnet. Die Perspektive der Kinder wird einbezogen, der Blick auf den Mann erweitert sich, ihre Selbstexploration kommt in Gang. Es wird ihr klarer, dass die Tatsache, dass »aus unserer näheren oder weiteren Verwandtschaft/Bekanntschaft niemand etwas von unseren Problemen weiß« auch bedeutet, dass sie vielen Menschen etwas vorgespielt hat und vorspielt und bewusst die Fassade der heilen Familienharmonie vor »den anderen« aufrechterhält. Sie wolle ihren Mann aber nicht »vorführen«, das »hat er nicht verdient, da wir auch viele gute Jahre miteinander hatten«. Der letzte Satz lautet: »Aber wie schon gesagt, ich werde nachdenken und Ihnen irgendwann berichten, wie ich dieses Leben weiterlebe.« Ich bewerte das als Ausdruck einer zunehmenden Ambivalenzfähigkeit und habe das Gefühl, wir beide können diesen Kontakt nun gut abschließen. Etwas mehr als drei Jahre später bekomme ich wieder Post von Frau A. Sie rekapituliert unsere Korrespondenz, aber es ist ihr und der Partnerschaft nicht gut gegangen. Ihr Fazit der letzten drei Jahre: »Seine Sucht hat sich noch verstärkt [Die ›Sucht‹ besteht in einem verstärkten Wasch- und Kontrollzwang sowie in aggressiven Ausbrüchen] und ich habe inzwischen oft den Gedanken, dass wir beide nicht mehr leben sollten!« Ist das eine suizidale Fantasie, ein Signal an mich? Ich lese weiter, zunehmend leicht verärgert, weil ich mich fehlinterpretiert fühle. Frau A. bezieht sich zwar auf meine angedeutete Empfehlung, viele der sie belastenden Dinge für sich zu klären, und schreibt insofern: »Ich habe viel unternommen.« Konkret heißt das aber, dass sie diverse Termine bei Ärzten und in Kliniken für ihren Mann organisiert hat, der sich dann aber jeweils immer nur kurzfristig auf Behandlungen und Verschreibungen von Tabletten eingelassen hat und sich dann immer wieder mit aggressiven Schuldzuweisungen an andere, vor allem an die Ärzte, entzog. Ihre von mir anfänglich als Vaszillieren und Suchbewegungen wahrgenommene Auseinandersetzungsbereitschaft scheint in ein Agieren umgeschlagen zu sein mit einem nicht unbeträchtlichen Kontrollbedürfnis gegenüber ihrem Mann. Die Not ist nun aber dennoch groß, zumal Frau A.

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einem Umzug in eine Alten-Service-­Wohnung zugestimmt hat und nun aus Angst vor den Folgen dieses Entschlusses nicht aus noch ein weiß. Ich schreibe schnell zurück, mache aber deutlich, dass ich meine Anmerkungen anders gemeint habe und bringe die Frage ins Spiel, ob nicht nur bei ihrem Mann, sondern auch bei ihr das Bedürfnis nach Kontrolle es so schwer macht, loszulassen und sich auf Veränderungen, neue Entscheidungen oder Alternativen einzulassen. Diesmal lässt sich Frau A. mit ihrer Antwort etwa zweieinhalb Monate Zeit. Der Suizid eines Mitglieds ihres Tanzkreises und ein nachfolgendes Gespräch mit der hinterbliebenen Partnerin hat sie zutiefst beunruhigt. Als sie der Freundin kondolieren wollte, sagte die: »Vielen Dank, aber das brauchst du nicht; ich bin jetzt endlich frei!« Ihr Mann habe sie seelisch kaputt gemacht mit seiner Kontrolle über sie. Niemand habe davon gewusst. Für Frau A. bedeutet das eine enorme Konfrontation mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Lebenstechniken. Sie fängt noch einmal neu an, zu sortieren, was sie für sich, für die Familie und auch für ihren Mann wirklich möchte. »Als ich den letzten Brief schrieb, war ich tatsächlich fast ›unten‹. Heute habe ich mich gefangen, habe mir Einiges vorgenommen, das ich auch unbedingt so machen will, damit unser beider Leben einigermaßen bis zum Ende zufriedenstellend verläuft. Das ist mein fester Wille!« Fast ein halbes Jahr später bekomme ich wieder Post. Die Entscheidung, die Probleme der Partnerschaft partiell gegenüber ein paar Menschen – der Tochter, einer Freundin – offen zu machen, und auch die Entscheidung, zu handeln und sich bewusst auf dieses ungern konzedierte neue Wohnumfeld einzulassen und umzuziehen, hat alte Strukturen förmlich geknackt, den konkreten Lebensalltag entspannt und sowohl den innerseelischen Raum als auch den äußeren sozialen Radius geöffnet. Am 21. Dezember 2017 schreibt Frau A.: »Die vor einem Jahr berichteten Veränderungen in der neuen Wohnung haben Bestand. Das Leben ist gut und lebenswert. Ich kann mich nicht beklagen!« Auch ich, die nicht zuletzt viel Ambivalenz erlebte in Anbetracht der Frage, ob es richtig und auch verantwortbar war, sich auf diese Korrespondenz einzulassen, die für mich eine Art Grauzone zwischen relativ neutraler Kommentierung und ansatzweise psychotherapeutischen Anmerkungen darstellte, habe den Eindruck, dass die Idee der Ambivalenzsensibilität und die hier genutzte Ambivalenzheuristik mir

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einen guten Rahmen geboten haben, um das, was sowohl bei Frau A. als auch bei mir an innerseelischen Prozessen ablief, abzubilden und zu reflektieren. Für mich vermag die folgende Passage aus einem Brief von Rainer Maria Rilke an »einen jungen Dichter«, die in dieser Fallgeschichte beschriebene ambigue und ambivalenzaffine Beziehungsgestalt zwischen Frau A. und mir sowie das komplizierte Verhältnis zwischen bedrängenden Fragen und eher verhaltenen Antworten in einer bemerkenswert weiterführenden Weise aufzuheben: »[I]ch möchte Sie […] bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben können. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.« (Rilke, 1929, S. 21)

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Sicht. In B. Stambolis (Hrsg.), Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema (S. 86–114). Weinheim u. München: Beltz Juventa. Fooken, I. (2014). Das Echo des toten Kriegsvaters im Lebensverlauf der Töchter – eine thematische Gemengelage. In I. Fooken, G. Heuft (Hrsg.), Das späte Echo von Kriegskindheiten. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Lebensverläufen und Zeitgeschichte (S. 17–27). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Freud, S. (1910). Über den Gegensinn der Urworte. Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, 2 (1), 179–184. Hantel-Quitmann, W. R. (2011). Sehnsucht. Das unstillbare Gefühl. Stuttgart: Klett-Cotta. Lüscher, K. (2011a). Ambivalence: A »Sensitizing Construct« for the Study and Practice of Intergenerational Relationships. Journal of Intergenerational Relationships, 9, 191–206. Lüscher, K. (2011b). Ambivalenz weiterschreiben. Forum der Psychoanalyse. Zeitschrift für klinische Theorie und Praxis, 24 (7), 373–393. Lüscher, K. (2012). Menschen als »homines ambivalentes«. In D. Korczak (Hrsg.), Ambivalenzerfahrungen (S. 11–32). Kröning: Asanger. Lüscher, K. (2016). Sozialisation und Ambivalenzen. Bausteine eines Vademekums. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 36 (2), 118–136. Lüscher, K. (2018). Ambivalenzen fordern heraus. Herder Korrespondenz, 9, 39–42. Orlowksi, H. V., Klauer, T., Freyberger, H., Seidler, G., Kuwert, P. (2015). Befragung von Hinterbliebenen vermisster Kriegsteilnehmer des 2. Weltkriegs. Exemplarische Schilderungen der Schicksale von Betroffenen und ihr Umgang mit dieser lebensbegleitenden Ungewissheit. Trauma & Gewalt, 9 (4), 286–293. Radebold, H., Heuft, G., Fooken, I. (Hrsg.) (2006). Kindheiten im zweiten Weltkrieg. Kriegserfahrungen und deren Folgen aus psychohistorischer Perspektive. Weinheim: Juventa. Rilke, R. M. (1899/1966). Werke in drei Bänden, Band 1: Gedicht-Zyklen (S. 147). Frankfurt a. M.: Insel. Rilke, R. M. (1929). Briefe an einen jungen Dichter. Frankfurt a. M.: Insel. Rühle-Gerstel, A. (1984). Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit. Roman. Mit einer Einleitung von I. Herbst und B. Klemm und einem Nachwort von S. S. Kalmar. Frankfurt a. M.: Fischer. Schlingensief, C. (2006/2011). »Ein ganz großes Ja zum Leben«. FAZ, 14.1.2006. www.schlingensief.com/weblog/?p=70 (14.10.2018) / Deutscher Pavillon. 54. Biennale. In S. Gaensheimer (Hrsg.), Internationale Kunstausstellung. La Biennale Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Stambolis, B. (2012). Töchter ohne Väter: Frauen der Kriegsgeneration und ihre lebenslange Sehnsucht. Stuttgart: Klett-Cotta. Stambolis, B. (2013). Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten. Beiträge zu einem historischen und gesellschaftlichen Schlüsselthema. Weinheim u. München: Beltz Juventa.

Anna Zeller-Breitling

Zwischen zwei Identitäten – auf der Suche nach Integration

Zusammenfassung Der Beitrag handelt von der psychotherapeutischen Arbeit mit einer immigrierten somalischen Patientin, deren Lebensgeschichte den langwierigen psychodynamischen Prozess von der Spaltung zur Ambivalenz sowie ihren unermüdlichen Kampf um Integration beschreibt.

Vorbemerkung Die Patientin befand sich etwa sieben Jahre in meiner therapeutischen Behandlung, zunächst mit dem Anliegen, die schlimmen traumatischen Erlebnisse aus ihrer Heimat Somalia aufzuarbeiten und eine daraus resultierende Aggressionsproblematik zu überwinden. Bereits im ersten Behandlungsabschnitt stellte sich jedoch heraus, dass die Biografie und Identität der jungen Frau von ihr erfunden worden waren, da ihre wahre Geschichte und ihr wahres Selbst zu diesem Zeitpunkt für sie noch kaum bis gar nicht zu ertragen waren. Im Laufe der Behandlung wurde es jedoch möglich, die Abwehr der Spaltung zu durchbrechen. Es gelang ihr schließlich zunehmend, die Ambivalenz innerer Objekte sowie die damit verbundenen Gefühle aushalten. Dennoch blieb neben der innerpsychischen insbesondere auch die gesellschaftliche Integration erschwert, da die Patientin weiterhin unter falschem Namen in Deutschland lebte und ich, abgesehen von meiner damaligen Supervisorin, als Einzige von ihrer wahren Identität wusste. Im letzten Abschnitt der Psychotherapie wurde die Patientin Mutter einer Tochter, was ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit noch mehr verstärkte. Obgleich sie unerbittlich an ihrer inneren und äußeren Integrationsfähigkeit arbeitete, war ein heilsames Aufdecken ihrer wahren Identi-

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tät zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich, da ihr Selbst bestimmte Anteile ihrer Persönlichkeit noch nicht vollständig zulassen konnte. Ich musste mich folglich damit abfinden, lediglich die Spaltung insofern bearbeitet zu haben, dass Ambivalenz ermöglicht wurde, und respektierte den Wunsch der Patientin, weiterhin in ihrer Scheinidentität zu leben, zumal eine Offenbarung bei den Behörden mit erheblichen rechtlichen Konsequenzen einhergegangen wäre. Seit Beendigung der Therapie sind inzwischen über drei Jahre vergangen. Die Patientin kam noch sporadisch zu Beratungsgesprächen, die nach wie vor ihre Integrationsproblematik, aber auch eine wachsende Furcht, dass ihr illegaler Aufenthaltsstatus aufgedeckt werden könnte, beinhalteten. Schließlich suchte sie mich erneut auf und teilte mir mit, dass sie eine Fachanwältin für Ausländerrecht aufgesucht hatte, um mit dieser eine Selbstanzeige vorzubereiten. Sie brauche hierfür einen Bericht über den Verlauf der psychotherapeutischen Behandlung, welcher zusätzlich die innerpsychischen Beweggründe ihres Identitätsbetrugs erklären und sie somit vor entsprechenden Sanktionen bewahren sollte. Da eine Falldarstellung über diese Patientin das Risiko einer möglichen Offenlegung ihres Identitätsgeheimnisses bedeutet hätte, stand es für mich bis dahin außer Frage, über sie zu berichten. Diese Tabuisierung war jedoch nun aufgehoben, und die Patientin reagierte auf meine Anfrage, ob ich ihren einzigartigen Fall auf der diesjährigen DGIP-Jahrestagung vorstellen dürfte, zustimmend und voller Stolz, zumal eine Veröffentlichung ihrer Geschichte für sie einen weiteren Schritt zur inneren und äußeren Integration bedeutet.1

Muhim erzählt ihre Geschichte Der erste Kontakt mit der nach eigenen Angaben 18-jährigen Muhim kam durch ein Telefonat zustande, in dem sie mir mitteilte, dass sie seit knapp zwei Jahren in Deutschland lebe und aufgrund ihrer Lebens­ 1 Die in diesem Beitrag genannten Namen und Orte wurden von der jungen Frau selbst verändert, wodurch sie den vorliegenden Text auch aktiv mitgestaltete.

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geschichte sowie der Flucht aus Somalia aktuell an eine Trauma­ ambulanz für Flüchtlinge angebunden sei. Dort habe man ihr aufgrund ihrer psychosomatischen Beschwerden und ihrer ausgeprägten Aggressionsproblematik eine regelmäßige ambulante Psychotherapie zur Traumaverarbeitung und Alltagsbewältigung empfohlen. Muhim litt zu diesem Zeitpunkt unter ständigen Kopfschmerzen sowie Schlaflosigkeit und verspürte eine stetige Unruhe, was ihrem Empfinden nach ein Eingliedern in »die komplizierte deutsche Welt« zusätzlich erschwerte. Außerdem neigte sie zu aggressiven Impulsdurchbrüchen, weshalb es sowohl in ihrem Mädchenwohnheim, in dem sie zu diesem Zeitpunkt lebte, als auch in der Schule wiederholt zu, teilweise auch körperlichen, Auseinandersetzungen kam. Da ich mich damals noch in der Ausbildung befand und mit einer Aufarbeitung von Kriegserlebnissen und entsprechend heftigen Traumatisierungen überfordert sah, zögerte ich zunächst, ihr einen Erst­ gesprächstermin zu geben. Nach Rücksprache mit meiner Supervisorin entschied ich mich dann aber doch, mit Muhim zumindest probatorische Sitzungen durchzuführen, auch, um beurteilen zu können, ob ein psychodynamisches Verfahren überhaupt passend für sie sei. Muhim kam schließlich zum Erstgespräch mit den Worten »Ich bin so froh, endlich jemandem meine Geschichte erzählen zu dürfen«. In unseren ersten Gesprächen gab die Patientin an, dass sie »irgendwann« im Winter in Mogadischu geboren wurde – hierüber gäbe es keine Aufzeichnungen oder Dokumente, da Geburten in Somalia damals noch nicht registriert worden wären. Ihr Vater, der einem einflussreichen Clan angehörte, sei als Soldat im Bürgerkrieg erschossen worden. Da sie damals noch ein Kleinkind gewesen sei, habe sie kaum Erinnerungen an ihn. Die ebenfalls in Somalia geborene Mutter sei Verkäuferin auf dem Markt gewesen und bei einem Anschlag auf die Hütte der Familie ums Leben gekommen, als sie ca. 16 Jahre alt war. Um den Verlust der Mutter trauere sie nicht, da sie eine »böse Hexe« gewesen sei. Sie habe sie aus Strafe mehrmals beschneiden lassen, ständig geschlagen, bereits als Kleinkind zum Arbeiten geschickt und nie »wirklich« mit ihr gesprochen, da sie ständig unter dem Einfluss der Khat-Droge stand. Zu ihrer etwa fünf Jahre jüngeren Halbschwester hätte sie kein gutes Verhältnis, da diese von der Mutter stets bevorzugt wurde. Ihr etwa zwei

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Jahre älterer Bruder, an den sie sich auch kaum erinnere, sei kurz nach dem Tod des Vaters gestorben, und sie vermute, dass er aufgrund der Clanfehden ermordet worden sei. Muhim berichtet, dass sie »immer einen großen Mund« hatte und sich »nicht allem beugte«, weshalb es zu zahlreichen Streitereien mit der Mutter kam, bis hin zu einer heftigen körperlichen Auseinandersetzung, in der sie von ihr mit einem Messer bedroht wurde. Daraufhin zog sie mit ungefähr elf Jahren zu ihrer Großmutter – zu ihr hatte sie schon immer eine gute Beziehung. Die Zeit mit ihr schildert sie als »die schönste meines Lebens«. Die Großmutter beschreibt sie als »wunderbare und gütige Frau«, die ihr »immer eine Antwort auf alle ihre Fragen« gab und sie stets »eine starke Kämpferin« nannte. Dann aber, als ihre Großmutter sehr krank geworden war nach drei Jahren, musste sie zurück »in die Hölle: zur Mutter«. Anschließend ging sie zwei Jahre in eine muslimische Schule, in der ihr »nur der Koran vorgelesen« wurde – deshalb habe sie erst in Deutschland Lesen und Schreiben gelernt. Ihr Leben in Somalia beschreibt sie als »ständigen Überlebenskampf«, in dem es insbesondere für unverheiratete Mädchen keine Rechte gebe – weshalb Vergewaltigungen häufig vorkämen und geradezu selbstverständlich seien. Auch sie hätte damit zahlreiche Erfahrungen gemacht, sich jedoch, je älter sie wurde, gegen die Übergriffe gewehrt. Nach dem Tod der Mutter sollten sie und ihre Halbschwester zu einer Tante ziehen, die wegen Muhims Temperament aber nur die Halbschwester aufnehmen wollte. Da sie sich damals darüber bewusst gewesen wäre, dass ein Leben als alleinstehendes Mädchen in Somalia zu gefährlich sei, flüchtete sie allein nach Kenia. Dort lernte sie eine Frau kennen, die ihr signalisierte, dass sie auch dort aufgrund ihres oppositionellen Wesens nicht sicher sei. Sie bot ihr an, sie gegen Bezahlung nach Europa zu bringen. Um das Geld zu beschaffen, beteiligte sie sich an einem medizinischen Versuchsprojekt, bei dem das Einsetzen von Kupferspiralen an jungen Frauen getestet wurde. Sie war erleichtert, dass sie dafür genug Geld bekam, um die Flucht zu finanzieren – aber sie hatte nach dem Eingriff oft Blutungen und starke Unterleibsschmerzen. Nach zweimonatiger Reise kam sie schließlich in Deutschland an, wo sie sich bei der Polizei meldete. Man brachte sie zunächst in einem

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Asylbewerberheim unter und schätzte ihr Alter auf 16 Jahre. Anschließend kam sie in eine Inobhutnahmeeinrichtung für Jugendliche und anschließend in ein Mädchenwohnheim für Migrantinnen. Hier lebte sie zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnung bereits seit einem Jahr. Da die Blutungen und Unterleibsschmerzen immer noch andauerten, bemerkten auch die Betreuerinnen Muhims schlechten Gesundheitszustand. Schließlich wurde sie während eines zweiwöchigen Klinikaufenthalts gynäkologisch versorgt und, da man enorme Verwachsungen festgestellt hatte, musste die Spirale operativ entfernen werden. Die körperlichen Blutungen und Schmerzen hörten dann auf, nicht aber »das Gefühl, innerlich noch immer zu bluten«. All diese schrecklichen und belastenden Ereignisse wurden von der Patientin in der probatorischen Phase der Behandlung auffallend affektlos dargestellt und trotz der geschilderten dramatischen Biografie war bemerkenswert, dass bei mir kaum Gegenübertragungsgefühle aufkamen, was ich zunächst als mein eigenes schützendes Abwehrverhalten wertete. Dennoch beeindruckte und berührte mich die junge Frau, zumal von ihr eine enorme Willenskraft auszugehen schien und sie mich irgendwie davon überzeugte, dass sie von der von mir praktizierten Form der Psychotherapie und mir als Therapeutin profitieren würde. Schließlich entschloss ich mich, mit ihr eine tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit dem Fokus auf Aggressions- und Trauma­ bewältigung zu beginnen.

Der erste Therapieabschnitt – Flucht in die Spaltung Muhim kam gerne und regelmäßig zu den Sitzungen. Es entstand schnell ein Vertrauensverhältnis zwischen uns, was mich darauf schließen ließ, dass sie trotz ihrer traumatischen Lebensgeschichte und den tragischen Beziehungserfahrungen bindungsfähig war. Ich fragte mich hierbei des Öfteren, woher die dazu notwendigen, guten inneren Objekte stammten und sah diese schließlich in der Beziehung zu ihrer geliebten Großmutter, aber auch in der afrikanischen Großfamilienstruktur, in der laut Muhim »immer jemand da ist«. Die Sitzungen mit der jungen Erwachsenen waren stets spannend, aber auch enorm fordernd. Sie sprach meist konfus, in unaufhaltsa-

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mem Redefluss und sprang thematisch wahllos zwischen Erlebnissen in Somalia und Deutschland hin und her. Der Umfang ihres intrapsychischen und interpersonellen Konflikts stellte sich schnell als ausgeprägt und facettenreich dar, und es wurde deutlich, dass Muhim nicht in der Lage war, zwischen ihren realtraumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit und gegenwärtigen Konflikten zu unterscheiden. Es war daher erforderlich, die Sitzungen auf zweimal wöchentlich zu erhöhen, um Differenzierung sowie Realitätsspiegelung zu ermöglichen und damit den ständigen, ausufernden Konfliktsituationen ihres Alltags entgegenzuwirken. Sie profitierte zunächst von der dichteren Begegnungshäufigkeit und die damit verbundene größere emphatische therapeutische Präsenz, und es konnten bei ihr erstmals Gefühle von Wahr- und Angenommensein spürbar werden. Dennoch ergaben sich weiterhin heftige und teilweise körperliche Auseinandersetzungen mit Mitschülerinnen, Mitbewohnerinnen und Betreuerinnen, weshalb es zu diversen Abmahnungen in Schule und Wohnheim kam. Muhim beteuerte, sich in solchen Situationen stets »hintergangen«, »im Stich gelassen«, »belogen« und »bedroht« zu fühlen, weshalb sie dann »einfach rot sehen« würde. Bei den Besprechungen solcher Vorfälle kristallisierte sich jedoch heraus, dass sie die Situationen häufig dramatisierte und ihr erst nach einer gewissen »Entladung« eine realistischere Betrachtung möglich wurde. Hierbei wurde es notwendig, vermehrt Hilfs-Ich-Funktionen zu übernehmen, um adäquate Lösungen für die Bewältigung von zwischenmenschlichen Problemen zu erarbeiten, was dazu führte, dass es ihr teilweise gelang, Konflikte diplomatischer auszutragen. Trotz der neu gewonnenen Fähigkeiten kam es zu weiteren zwischenmenschlichen Problemen, u. a. mit einer von Muhim bis dahin idealisierten Betreuerin, von der sie sich Unterstützung in dringenden administrativen Aufgaben erhoffte hatte. Diese verwehrte ihr gelegentlich die sofortige Hilfe und warf ihr vor, »unorganisiert und selbst schuld zu sein«, da sie sich um ihre Angelegenheiten stets zu spät kümmere. Daraufhin rastete Muhim völlig aus, schleuderte einen Stuhl durch das Zimmer, trat die Tür ein und war – so die Betreuerin – nicht mehr zu »bändigen«. Tränenüberströmt kam die junge Erwachsene zur nächsten Sitzung, in der sie immer wieder beteuerte, »unendlich enttäuscht« zu sein, sich

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»völlig alleine« zu fühlen und dieser »Hexe von Betreuerin nie wieder vertrauen« zu können. Auch in der Stunde war die Patientin kaum zu beruhigen. Es bedurfte viel Containments und behutsamer Spiegelung, bis sie erkannte, dass es sich in dem Konflikt um eine Retraumatisierung ihrer Erlebnisse mit einer nicht Schutz gebenden und strafenden Mutter handelte. Um die realen Traumatisierungen überleben zu können, schützte sie sich nach wie vor mit hoch aggressiver Energie und der Flucht in die Spaltung. Auch konnte sie ihre Emotionen in diesen Momenten kaum mentalisieren, stattdessen wirkten ihre Darstellungen weiterhin wie inszenierte Dramen, weshalb auch eine Realitätsprüfung nur schwer möglich war. Es war offensichtlich, dass dieser Mechanismus in Konfliktsituationen, die mit Gefühlen von Selbstfragmentierung und Objektverlust einhergingen, aktiviert wurde und in Muhims innerpsychischem Erleben die einzige Lösung zu sein schien. Wir arbeiteten daher in den nächsten Sitzungen weiter an der Bewältigung von alltäglichen und zwischenmenschlichen Konflikten sowie der Förderung ihrer progressiv-konstruktiv-aggressiven Ich-Funktionen bei gleichzeitigem Containen ihrer destruktiv-aggressiven Anteile. Während Muhim in nahezu allen ihr gegenüber weisungsbefugten Personen die strafende und verfolgende Mutter sah, internalisierte sie mich als annehmendes und haltgebendes Objekt, sodass kritische Deutungen ihres Verhaltensmusters zunehmend möglich wurden. Aggressive Emotionen konnten mittels Realitätsprüfung aktueller Situationen mehr und mehr reflektiert werden, wobei wir stets einen Bezug zu ihrer traumatischen Geschichte fanden und die junge Erwachsene zunächst von diffus erlebten Emotionen entlastet zu sein schien. Nachdem sich Muhim sichtlich stabilisierte und angemessenere Ich-Funktionen zur Bewältigung des Alltags sowie soziale Kompetenzen entwickelt hatte, schien der Weg einer positiven Eingliederung in die Gesellschaft geebnet zu sein. Dennoch traten körperliche Beschwerden wie starke Kopfschmerzen sowie innere Unruhe plötzlich erneut auf. Hinzu kamen Schlaflosigkeit, Albträume sowie eine fortschreitende Antriebslosigkeit. Muhim wirkte regelrecht geschwächt. Da sie die Symptome vehement mittels rationeller Gründe wie Alltagsstress erklärte, entstand in der Gegenübertragung das Gefühl, dass sie aufkommende depressive sowie regressive Gefühle abwehren und verschweigen wollte. Zudem wurde eine

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massive Angst vor der Überflutung abgewehrter schmerzhafter Erlebnisse spürbar, weshalb ich es als notwendig betrachtete, erst einmal mit ihrem Widerstand mitzugehen, um die neugewonnenen strukturellen Fähigkeiten nicht zu gefährden. Das Übertragungsgeschehen sollte sich dennoch bestätigen mit einem Anruf Muhims, in dem sie weinend gestand, mich »die ganze Zeit nur belogen« zu haben, weshalb sie es »nicht verdienen« würde, die Behandlung bei mir als »einem der wenigen guten Menschen« fortzusetzen. Hier wurde mir nochmals bewusst, dass ich ausschließlich für das gute Großmutter-Objekt stand, das sie im Gegensatz zu den mütterlichen Objektbeziehungen nicht zerstören wollte.

Samsam erscheint aus dem Nichts Mittels telefonischer Krisenintervention war es möglich, die junge Erwachsene soweit zu halten und zu stabilisieren, dass sie sich auf die Fortführung der Behandlung einlassen konnte. Selbstanklagend und beschämt gestand sie mir nun, dass sie auch mir gegenüber bislang eine andere Identität mit falschem Namen, Alter und falscher Biografie sowie eine Lügengeschichte für ihre Flucht aus Somalia vorgegeben hat. Ihr Name wäre in Wahrheit Samsam, sie sei bald 21 Jahre alt, käme aus Dordrecht in Holland und sowohl ihre Mutter als auch ihr Bruder lebten noch. Sie berichtet nun, dass ihre Mutter Anfang 1991, als sie selbst etwa vier Monate alt war, aus Somalia nach Holland geflohen ist und sie und ihren Bruder mit der Absicht, beide schnellstmöglich nachzuholen, dort zurückgelassen hat. Gründe für ihre Flucht waren der Bürgerkrieg, aber auch die somalischen Lebensumstände und die unglückliche Ehe mit Samsams konservativem und gewalttätigem Vater. Während ihr zwei Jahre älterer Bruder in der Familie des Vaters blieb und zu einem Soldaten des Clans erzogen wurde, kam Samsam in die Familie der Mutter, wo sie mit ihrer Großmutter, einer Tante und deren zwei Töchtern lebte. Obgleich sie von der Existenz ihres Bruders und Vaters wusste, hatte sie zu diesen wenig Kontakt, zumal die Familie der Mutter sich von deren Machenschaften und den Clan­ fehden distanzieren wollte.

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Samsam wuchs in dem Glauben auf, ihre Großmutter sei ihre Mutter. Erst mit etwa sechs Jahren erfuhr sie, dass ihre leibliche Mutter in Holland lebte und sie eines Tages zu sich holen wolle. Da sie ihrer Erinnerung nach mit dieser Vorstellung »völlig überfordert« war, schob sie die Aussicht, ihre Großmutter einmal verlassen zu müssen, »einfach beiseite«. Sie sah diese stattdessen weiterhin als ihre Mutter an, zumal es auch keine weiteren Erzählungen oder Bilder ihrer leiblichen Mutter gab. Sie beschreibt nun dieses frühere Leben in Somalia als »glückliche Zeit«, trotz Krieg, Menschenrechtsverletzungen und niedrigem Lebensstandard, da sie bei ihrer Großmutter viele Freiheiten hatte und im Gegensatz zu anderen Mädchen »selbstbewusst« erzogen wurde. Auch hatte sie durch ihren einflussreichen Vater stets einen gewissen Schutz, weshalb sie weder sexuelle noch körperliche Gewalterfahrungen machte. Die in Somalia übliche Beschneidung hätte tatsächlich stattgefunden, was sie rational durchaus als Körperverletzung betitelte, aber gleichzeitig als »am wenigsten traumatisch« in ihrem Leben empfand. Als Samsam etwa 13 Jahre alt war, begann die Mutter, die in der Zwischenzeit neu verheiratet war und eine 8-jährige Tochter hatte, für sie und ihren Bruder die Ausreise nach Holland zu organisieren. In Mogadischu gab es ein großes Fest, auf dem Samsam schließlich erfuhr, dass sie in den nächsten Wochen zu ihrer leiblichen Mutter in das »goldene Land« reisen dürfe. Das war für sie ein »absoluter Schock« – sie weinte bitterlich, flehte ihre Großmutter an, bei ihr in Somalia bleiben zu dürfen – ohne Erfolg. Mit ihren Gefühlen stieß sie auf Unverständnis, musste sich stattdessen immer wieder anhören, was ihre Mutter »alles auf sich genommen« habe, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Schließlich gab sie den Kampf um ihr Bleiben auf, weil sie die eigene Machtlosigkeit spürte. Samsam und ihr Bruder kamen zunächst für drei Monate zu einer Tante nach Kenia, wo von der dort ansässigen holländischen Botschaft zunächst DNA-Testungen für die behördlich begleitete Familienzusammenführung veranlasst und durchgeführt wurden. Die Patientin erlebte diese Zeit als eine Art Vakuum, in der sie »nichts spüren wollte«, zumal sie innerlich ahnte, dass sie ihre Großmutter nicht mehr wiedersehen würde. Zeitgleich begann ihr Bruder damit, sie zu demütigen und körperlich zu attackieren.

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Als die Geschwister nach anstrengender Reise, während der sich Samsam stundenlang übergeben musste, in Dordrecht angekommen waren, empfing sie neben Presse und Menschenrummel »eine völlig fremde Frau«. Die junge Erwachsene beschreibt mir diesen Moment als »Schock«, zumal ihre Mutter aufgrund ihres westlichen Erscheinungsbilds – offene Haare, kurzer Rock und lackierte Nägel – der streng muslimisch erzogenen und Kopftuch tragenden Samsam »wie eine Nutte« vorkam. Auch erzählte sie, während der Begrüßungszeremonie »wie ferngesteuert« die erwartete Freude gezeigt zu haben, aber gleichzeitig von dem Gefühl überflutet wurde, im »Nichts« angekommen zu sein. Samsam berichtete, in den Jahren nach ihrer Ankunft in den Niederlanden »in der Hölle gelebt« zu haben, da ihre Mutter alles Somalische sofort unterbunden hätte, ihre traditionelle Tracht und ihre Kopftücher entsorgte sowie den Geschwistern verbot, ihre Muttersprache zu sprechen. Gleichzeitig versuchte sie, ihre Kinder zu nötigen, alles Europäische bzw. Westliche bedingungslos anzunehmen. So hätte die Mutter zum Beispiel nicht nachvollziehen können, dass sie selbst Pferde nur als Nutztiere kenne und ansehe, nicht auf einem Pony reiten wollte, lieber barfuß als in Nike-Turnschuhen herumlief und einfachen Reis dem »Happy Meal« bei McDonalds vorzog. Sie hätte auch kein Verständnis dafür gehabt, dass Samsam ihr neues Umfeld mit der bis dato unbekannten Technologie wie Aufzüge, Rolltreppen, Computer, Handy etc. zunächst als bedrohlich ansah und lieber zurück in das trotz des Krieges als weniger gefährlich empfundene Somalia wollte. Immer wieder äußerte Samsam weinend den Wunsch, wieder bei der Großmutter zu leben. Die Mutter warf ihr dann vor, undankbar und boshaft zu sein – und behauptete, sie sei ohne sie »ein Nichts«. Das zog sich in den folgenden Jahren wie ein roter Faden durch ihre Beziehung. Erschwerend kam hinzu, dass sich Samsam zu einem kränkelnden und förderbedürftigen Teenager entwickelte. Die Mutter fühlte sich durch die häufigen Arztbesuche und Ergotherapien sehr beansprucht und verachtete ihre Tochter regelrecht für ihre Probleme und ihre Schwäche. Der Jugendlichen wiederum gelang es nicht, den zahlreichen Erwartungen der Mutter zu entsprechen, z. B. ihr eine wirksame Hilfe im Haushalt zu sein – einen Wunsch, dem Samsam auch deshalb nicht nachkommen wollte, weil sie nicht einsah, im Gegensatz zu ihrer Halbschwester und ihrem Bruder immer wieder »kochen und putzen« zu müssen.

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Samsam beschrieb mir, wie sich immer mehr eine oppositionelle Haltung in ihr herausbildete und festigte, da sie sich »einfach nicht« in die Welt der Mutter eingliedern wollte, zumal sie sich von ihr regelrecht »gekidnappt« und in ihrer eigenen Identität weder angenommen noch geliebt fühlte. Immer wieder erwähnte sie, metaphorisch in der Hölle gewesen zu sein und in der Schule ein Bild gemalt zu haben, auf dem sie inmitten von lodernden Flammen stand. Dieses Bild hätte viele beeindruckt, nur habe ihr keiner geglaubt, dass die Hölle nicht Somalia, sondern das Zuhause mit ihrer Mutter war, zumal sich diese nach außen stets als fürsorglich und aufopferungsvoll dargestellt hätte. Samsam fühlte sich generell sehr einsam, hatte wenig Freunde und wurde gegenüber Mitschülern und Lehrern immer aggressiver. Es kam zu zahlreichen weiteren Auseinandersetzungen mit der Mutter, in denen sie von ihr immer wieder als »nutzloses Nichts« betitelt wurde und ihr prophezeit wurde, »nicht alleine überleben« zu können. Als Samsam 15 Jahre alt war, erfuhr sie vom Tod ihres Vaters. Er war tatsächlich im somalischen Krieg erschossen worden. Im Gegensatz zu ihrem Bruder berührte sie dies aber wenig – was ihn dazu veranlasste, ihr wegen ihrer geringen Trauer so hart auf das Knie zu schlagen, dass es brach. Heute noch leidet sie unter Schmerzen. Die Mutter wiederum bestrafte ihren Bruder nicht – während Samsam selbst von ihr ständig bestraft wurde, insbesondere, wenn sie Streit mit ihrer Halbschwester hatte. Anders als der Bruder verachtete die Halbschwester sie nicht, aber es gelang den beiden auch nie, ein wirklich gutes Verhältnis zueinander aufzubauen. Vielmehr fühlte sich Samsam in der Familie stets »wie das Aschenputtel« und konnte die erlebte ständige Bevorzugung der Schwester durch die Mutter kaum ertragen. Mit 16 kam es wieder einmal zu einem heftigen Konflikt mit der Halbschwester, in dessen Verlauf die Mutter Samsam, ohne sich ihren Standpunkt angehört zu haben, aus dem Haus warf und dem Jugendamt übergab. Trotz der Demütigung war sie erleichtert, da sie jetzt eine Chance sah, sich aus dem »Bann der Hexe« zu befreien. Der Wunsch erfüllte sich jedoch nicht, da die Mutter weiter in ihr Leben eingreifen konnte – sie war ja noch minderjährig. Dabei stellte sie, die Erziehungsberechtigte, sich gegenüber Ämtern und der Schule als selbstlos und kooperativ dar, Samsam hingegen als das »verwahrloste somalische Kind«.

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Die junge Frau erzählt mir, wie sie in den folgenden zwei Jahren diese Zuschreibung immer mehr annahm und trotzig dieser Verschreibung »gerecht zu werden« versuchte, indem sie aggressive Auseinandersetzungen regelrecht provozierte und begann, Fahrrad- und Ladendiebstähle zu begehen. Im Alter von 18 bekam sie schließlich vom Jugendamt, das sie, wie viele andere Institutionen, als von der Mutter beeinflusst erlebte, die Auflage, sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln zu lassen. Hiergegen wehrte sie sich vehement – kam der Auflage nicht nach und verlor daraufhin den Anspruch auf Jugendhilfe. Jetzt war sie ganz auf sich allein gestellt. In dem Versuch, ihr Leben in den Griff zu bekommen, lebte sie zunächst bei einer Freundin und versuchte, ihren Realschulabschluss nachzuholen. Um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren, arbeitete sie neben der Schule weiter in dem Altenheim, in dem sie seit ihrem 16. Lebensjahr als Aushilfe tätig war. Ihre Mutter hatte dort eine leitende Position – weshalb Samsam sich auf dieser Arbeitsstelle sicher fühlte. Entsprechend erschüttert traf sie die plötzliche, von der Mutter forcierte Kündigung. Aus Angst vor deren offensichtlicher Macht zog sie daraufhin in eine andere Stadt und begann dort eine Ausbildung zur Altenpflegerin. Diese brach sie jedoch bereits nach dem ersten Lehrjahr ab – auch hier fühlte sie sich schlecht behandelt. Sie kehrte zurück nach Dordrecht, wo sie zumindest Freundinnen hatte, die ihr immer wieder Mut zusprachen, Halt gaben und außerdem von ihrem Identitätsbetrug wussten. Erneut fasste sie den Entschluss, ihren Realschulabschluss und das Abitur nachzumachen, in der Hoffnung, einmal im Ausland »ganz weit weg« von der Mutter, studieren zu können. Aber auch dieses Vorhaben scheiterte, zumal Samsam durch den Umzug nach Amsterdam und diverse Ausbildungs- und Jobabbrüche mittlerweile hoch verschuldet und mit ihrer Alltagssituation völlig überfordert war. Ihr wurde bewusst, dass die Aussage der Mutter: »Du bist nichts ohne mich, du wirst immer ein Nichts bleiben«, einer selbsterfüllenden Prophezeiung glich, damals empfand sie das jedoch nur »wie einen Fluch«. Um sich aus ihm befreien zu können, sah sie nur den einen Ausweg: ihre Identität als »verfluchte holländische Samsam« aufzugeben und als 16-jährige somalische Muhim in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.

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Der zweite Therapieabschnitt mit Samsam – die schmerzhafte Ambivalenz Ich ging davon aus, dass Samsam durch die Inszenierung einer anderen Identität und Biografie zum einen selbstfragmentierende traumatische Erlebnisse ungeschehen zu machen versuchte sowie zum anderen »böse« Anteile ihres Selbst abgespalten hatte, um eigene Schuldgefühle abzuwehren. Samsam nutzte allgemein anerkannte Gründe, wie Beschneidung, Vergewaltigung und Krieg in Somalia, um ihre Flucht nach Deutschland vor den Behörden, aber auch vor sich selbst zu rechtfertigen. Unterleibsschmerzen und Verwachsungen durch eine falsch eingesetzte Spirale bestanden tatsächlich, nur dass ihr diese nicht als Versuchsobjekt in Kenia, sondern als Verhütungsmittel in Holland eingesetzt worden war – was Samsam zur erneuten Lüge »zwang«. Den schmerzhaften Verlust der geliebten Großmutter und deren bedingungsloses Fortschicken sowie Loslassen rechtfertigte sie, indem sie diese krank und damit nicht mehr versorgend werden ließ. Gleichzeitig verwendete sie deren Nachnamen für ihre Scheinidentität, um einerseits den verabscheuten Namen der Mutter abzulegen und andererseits den Schmerz des verlorenen Großmutter-Objekts zu kompensieren. Die manipulativen Machenschaften, die seelischen Misshandlungen und ungerechtfertigten Bestrafungen ihrer Mutter verlagerte sie in die Geschichten über Kinderarbeit, deren ständige Prügel unter Drogeneinfluss und die mehrmaligen Beschneidungen. Die körperlichen Misshandlungen des Bruders, denen sie schutzlos ausgeliefert war, schilderte sie in den Erzählungen der zahlreichen Vergewaltigungen als alleinstehendes Mädchen in Somalia. Ihre Strukturlosigkeit und ihre kriminellen Handlungen als Jugendliche in Dordrecht stellte sie als »ständigen Überlebenskampf« im Kriegsgebiet Mogadischu dar. Im Zuge dessen wurden Mutter sowie Bruder als verstorben erklärt und somit abgespalten, um nicht mehr mit ihrer wahren Identität und den tatsächlichen Traumata konfrontiert zu werden. Der erfundene Tod des Vaters, welcher sich nicht in Samsams Kindheit, sondern erst in ihrer Jugend ereignete, war zum einen für eine schlüssigere Gesamtgeschichte notwendig, spiegelte aber andererseits auch die nie vorhandene Bindung zu diesem wieder. Lediglich die Existenz der Halbschwester durfte im Narrativ bestehen bleiben, da diese laut

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Samsam ihr »am wenigsten angetan« hatte und für sie wenigstens »ein winziger Teil von Familie« war. Aufgrund der nun durchbrochenen Spaltung und der ohnehin fortschreitenden regressiven Symptomatik beschloss ich in Absprache mit meiner Supervisorin, die bis dahin tiefenpsychologisch fundierte Therapie in eine analytische Psychotherapie umzuwandeln. Samsam sollte es dadurch ermöglicht werden, auch in ihrer wahren Identität sowie mit ihrer wahren Geschichte angenommen zu werden und durch eine Intensivierung von Übertragung und Gegenübertragung emotionale und strukturelle Nachreifung zu erfahren. Hierbei stand eine Wiederherstellung ihrer Kindheitssituation in Somalia wie auch die Erfahrungen in Holland im Vordergrund, in der verdrängte Gefühle von Ohnmacht, Trauer und Angst aufkommen würden. Somit sollte eine Integration der Ambivalenz ihrer »guten und bösen« Anteile ermöglicht werden, um die damit verbundenen heftigen Schuldgefühle zu containen. Auch wenn Samsam ihren Alltag zu diesem Zeitpunkt noch kaum bewältigen konnte und es zu diversen Schul- und Ausbildungsabbrüchen sowie erneuten Schulden kam, wagten wir schließlich den Schritt in die schmerzhafte Ambivalenz und damit in die forcierte Regression. Obgleich die junge Erwachsene deutlich erleichtert war, mich neben ihren zwei Freundinnen als Mitwissende ihrer wahren Identität zu haben, fiel es ihr enorm schwer, insbesondere über den Abschnitt ihrer Geschichte zu sprechen, in welchem sie versucht hatte, ein von der Mutter unabhängiges, autonomes Leben zu führen. Hierzu erklärte sie, die damalige Samsam selbst kaum ertragen zu können, da diese »verloren und verflucht« gewesen sei, nichts zustande gebracht und nur Probleme gemacht hätte. Aufgrund ihrer spürbar werdenden Angst vor den eigenen destruktiven Anteilen war es notwendig, die hiermit in Zusammenhang stehenden Schuldgefühle immer wieder zu containen und ihr damaliges Verhalten mit einem hochgradigen Migrationstrauma zu erklären. Dieses wurde zweifellos durch das unfreiwillige und plötzliche He­ rausreißen aus ihrer Heimat und den existenziellen Verlust des guten Großmutterobjekts verursacht. Hinzu kam das anschließende konflikthafte Verhältnis zu ihrer Mutter, deren narzisstische Erwartungen von Dankbarkeit und Bewunderung Samsam nicht erfüllte. Zur Mutter hatte die Patientin aufgrund des frühen Beziehungsabbruchs im Säuglingsalter keine ausreichend stabile Bindung entwickeln können – und nach

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der späten Familienzusammenführung hatte die Mutter, statt ihrer Tochter in der fremden Welt zur Seite zu stehen, immer wieder mit Ablehnung und Bestrafung reagiert. Im Verlauf der therapeutischen Behandlung bezog ich mich immer wieder auf Samsams Begriff des Kidnappings, der ihre Gefühle von Verlust, Wut, Angst und Ohnmacht treffend ausdrückte und auch erklärte, warum eine gelungene soziale Integration in Holland praktisch unmöglich war. Um zu überleben und ihr Selbst zu schützen, blieb Samsam folglich nur als Abwehr die Spaltung, in der alles »Holländische« sowie von der Mutter Kommende kategorisch abgelehnt und damit die Fähigkeit unterbunden wurde, eine Ambivalenz von Gut und Böse aushalten zu können. Das Trauma der zahlreichen Erlebnisse mit einer strafenden und nicht schützenden Mutter versuchte sie mit aggressivem und delinquentem Verhalten zu bekämpfen, was das mächtige Mutterobjekt symbolisch zerstören sollte. Als unangepasstes Problemkind erlebte die Patientin zahlreiche Niederlagen und Ablehnung, was ihr Selbstwirksamkeitserleben prägte und somit eine altersentsprechende Strukturbildung und Autonomieentwicklung behinderte. Im Zuge dessen etablierten sich negative Selbstrepräsentanzen und ein strafendes, unnachgiebiges Über-Ich, das Samsam schließlich mit der Spaltung in die Identität von Muhim zu besänftigen versuchte. Auch wurde nun deutlich, warum sich Samsam bei ihrer Ankunft in Deutschland als 16-jährige Jugendliche ausgegeben hatte: Sie konnte so die in Holland verlorene Jugendhilfe wiedererlangen. Außerdem erhoffte sie sich eine »Wiedergutmachung« vertaner Chancen und glaubte, auf diese Weise ihre strukturellen Entwicklungsdefizite ausgleichen zu können. Samsam konnte die ihrer Symptomatik zugrunde liegenden psychodynamischen Zusammenhänge schnell erkennen und setzte sich im Weiteren zunehmend mit dem Verhältnis zu ihrer Mutter auseinander, sodass allmählich ein Zugang zu verdrängten Gefühlen möglich wurde. Im Zuge dessen konnte sie nach und nach ihre verschüttete Trauer über die schmerzhaften Erlebnisse ihrer Kindheitssituation zulassen. Dennoch fiel es ihr nach wie vor schwer, eigene Anteile an ihrer delinquenten Vergangenheit und der problematischen Beziehung zu ihrer Mutter zu erkennen und anzunehmen: Sie gab offen zu, diese

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nur als die »böse Hexe« sehen zu wollen, von welcher sie »verflucht und gebrochen« worden wäre, weshalb die »Schuldfrage geklärt« sei. Da Samsam in dieser Phase nächtliche Albträume entwickelte, in denen sie selbst als Hexe in einem brennenden Haus eingeschlossen war, wurde in der Besprechung dieser Traumbilder einerseits die unbe­wuss­te Identifikation mit der Mutter deutlich, andererseits wurde erkennbar, dass die Patientin noch immer unter enormen Strafängsten sowie Schuldgefühlen litt. Aufgrund ihrer noch instabilen Ich-Struktur wäre das Bewusstmachen ihrer eigenen bösen mütterlichen Anteile vermutlich mit Selbstfragmentierung einhergegangen, weshalb sie dieses weiterhin mit Spaltung abwehren musste. Unter Berücksichtigung dieser – längere Zeit weitgehend unbewussten – innerseelischen Dynamik wurde nun eine lange, intensive, aufdeckende Arbeit notwendig, in der einzelne Situationen, insbesondere mit der Mutter, immer wieder durchgearbeitet und beleuchtet wurden. Hierbei stand ich der jungen Erwachsenen als haltendes Objekt zur Verfügung, indem ich ihr das eigene Beziehungsverhalten einerseits kritisch widerspiegelte, sie andererseits von ihren diffusen Schuldgefühlen zu entlasten suchte. Schließlich konnte Samsam erstmals negative eigene Anteile zulassen und sich eingestehen, dass die Mutter sich anfangs durchaus Mühe gegeben hatte, eine Beziehung zu ihr aufzubauen, und dass sie selbst deren Angebote aufgrund der Wut über die »Entwurzelung« aus Somalia und die »Zwangsverpflanzung« nach Holland nicht annehmen wollte und konnte. Jetzt berichtete sie unter Tränen, dass ihre Mutter immer wieder bedauernd von »einem großen Loch« zwischen ihnen gesprochen hatte – weshalb sie sich aber noch mehr von ihr distanziert hätte. Sie erzählte, dass sie seinerzeit nur noch den Drang verspürte, ihre Mutter »zu bestrafen und zu quälen«, weshalb sie auch dieses teilweise kriminelle und unstete Leben begann und jegliche Kontaktangebote ihrer Mutter zurückwies. Um Samsam die notwendige korrigierende Beziehungserfahrung zu ermöglichen, war es wichtig, eine Übertragungssituation zu schaffen, in der ich nicht weiter (nur) das idealisierte Großmutterobjekt blieb. Vielmehr war es notwendig, nun auch zu einem verwendbaren mütterlichen Objekt zu werden, welches sie gewissermaßen mit ihren Taten zerstören konnte und das ihr gleichzeitig die Gewissheit vermittelte, dass es überleben würde.

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Samsam profitierte von der neuen Objektbeziehung und der aufdeckenden Arbeit, sodass nach einer adäquaten Trauerphase über ihre »verlorene Jugend« emotionale Nachreifung stattfinden konnte. Obgleich sie nach wie vor angab, ihre Mutter »trotzdem zu hassen«, wurden Aggressionen weit weniger externalisiert, und sie war in der Lage, eigene Anteile an aktuellen zwischenmenschlichen Konflikten anzunehmen und diese ohne zerstörerische Wutanfälle sowie Dramatisierungen zu bewältigen. Es entstand das Gefühl von Zuversicht, da es neben einer nun wachsenden Ambivalenzfähigkeit zu einem Rückgang ihrer depressiven Symptome kam. Auch konnte sie ihre aggressiven Impulse inzwischen progressiv als Ressource zur Verwirklichung autonomer Ziele nutzen, indem sie sich eine eigene Wohnung suchte und nach erfolgreichem deutschen Hauptschulabschluss eine Ausbildung zur Sozialhelferin begann. Es schien, als könne der therapeutische Prozess nun in den letzten Behandlungsabschnitt gehen, zumal Samsam erstmals eine funktionierende Alltagsstruktur hatte, welche sie allerdings noch ausschließlich den neugewonnen Fähigkeiten ihrer Identität als Muhim zuschrieb. Der Behandlungsplan war folglich weiter auf Integration der nach wie vor negativ besetzten Samsam ausgerichtet, bis die junge Frau mir schließlich mit nahezu manischer Freude eröffnete, schwanger zu sein.

Zwei Mütter für Azura Es wurde schnell deutlich, dass sich Samsam über die Konsequenzen ihrer Schwangerschaft in Bezug auf ihre finanzielle Lage und die gerade erst begonnene Ausbildung nicht bewusst werden wollte. Sie berief sich hierzu stets auf ihren Aufenthaltsstatus, der sich nun verbessern könnte, da der Vater des Kindes ein Deutscher sei. Zu diesem brach sie jedoch kurz darauf den Kontakt ab, da er von ihr verlangt hatte, abzutreiben, und angab, sich anderenfalls nicht um das Baby zu kümmern. Samsam, für die ein Schwangerschaftsabbruch nicht infrage kam, betrachtete ihre Lage als zukünftige alleinerziehende Mutter als »Fügung des Schicksals«, weshalb sie die Trennung vom Kindsvater ohne Weiteres akzeptierte und auf jegliche Unterhalts­ansprüche verzichtete.

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Aufgrund der aktuellen Lage musste die regressionsfördernde analytische Behandlung modifiziert werden, da der Fokus nun auf Samsams Schwangerschaft und Alltagsbewältigung lag. Es wurde nun notwendig, mit der jungen Erwachsenen realistische Möglichkeiten zu erarbeiten, inwiefern sie ein Leben und eine Ausbildung mit Kind vereinbaren und welche finanziellen sowie pädagogischen Hilfsangebote sie hierbei in Anspruch nehmen könnte. Samsam lehnte jedoch jegliche äußere Unterstützung ab, wollte den Kindsvater als unbekannt angeben und hätte damit sowohl den sichereren Aufenthaltsstatus als auch die bessere staatliche Förderung verspielt. Es bedurfte schließlich einer kritischen Spiegelung ihres Abwehrverhaltens, wodurch sie ihre Größenphantasien erkannte, als kämpferische Muhim völlig autark handeln zu können, um damit den Teil ihrer Identität als strukturlose Samsam weiterhin zu verleugnen. Es gelang ihr, ihre kritische und unfreie Situation insofern einzusehen, dass sie sich trotz ihrer Angst der erneuten Abhängigkeit von Institutionen mithilfe des Jobcenters eine größere Wohnung besorgte und sich um sämtliche Unterstützungsangebote des Jugendamts kümmerte. Obgleich Samsam hierbei durchaus organisiert wirkte und bereits jegliche Grundversorgung gesichert hatte, fiel es ihr mit wachsendem Bauch zunehmend schwer, über die Gefühle bezüglich ihrer Mutterschaft zu sprechen. Die anfänglich idealisierten Vorstellungen wichen inzwischen enormen Insuffizienzgefühlen, insbesondere als sie erfuhr, ein Mädchen zu bekommen. Es schien zu einer Retraumatisierung durch die eigenen Beziehungserfahrungen mit ihrer Mutter zu kommen, zumal sie beständig angab, »nicht genug« für ihr Baby zu spüren und Sorge hatte, keine Bindung zu diesem aufbauen zu können. Hierbei versuchte ich Samsam erneut als haltendes Objekt zur Verfügung zu stehen, indem ich ihr mein Zutrauen in ihre Bindungs- und Fürsorgefähigkeit signalisierte. Die werdende Mutter gab beispielsweise im Gegensatz zu ihrer Mutter das Rauchen in der Schwangerschaft auf, was ihr als starke Raucherin enorm schwerfiel, sie diese Einbuße aber selbstverständlich zum Schutz ihres Ungeborenen hinnahm. Auch beleuchteten wir immer wieder ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrer Großmutter, in der sie durchaus liebevolle Subjekt-Objekt-Erfahrungen gemacht hatte, die stabil in ihr Selbst integriert waren und welche sie an ihre Tochter, die sie Azura nennen wollte, weitergeben würde.

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Samsam konnte meine therapeutischen Interventionen und HilfsIch-­Angebote schließlich annehmen, ebenso wie die guten Anteile der kindlichen Samsam, welche sie zu einer liebevollen und beziehungsfähigen Mutter machen sollten. Die junge Erwachsene hatte jedoch trotzdem große Angst vor dem Jugendamt, da dies der Ansicht sein könnte, dass sie ihr Kind nicht »gut genug versorgen« würde und sie aufgrund ihrer erneut angehäuften Schulden und der nicht abgeschlossenen Berufsausbildung kein adäquates Vorbild sei. Es war zu befürchten, dass das rigide Über-Ich noch mächtiger werden würde, da Strafängste und Schuldgefühle stärker wurden, sie erneut mit depressiven Symptomen zu kämpfen hatte und wieder den Gedanken entwickelte, dass der Fluch der Mutter, ein Nichts zu sein, fortbestünde. Auch kamen wieder regressive Fluchtimpulse auf, indem sie angab, »am liebsten nach Australien auszuwandern«, um von dort aus »noch einmal ein ganz neues Leben, ›noch weiter weg‹ von der Mutter«, zu beginnen. Aktuell sah sich Samsam auch in Deutschland nicht mehr sicher und gab an, sich regelrecht heimatlos zu fühlen, da sowohl Holland als auch Somalia kein Zuhause mehr für sie wären. Zudem habe sie aufgrund der bevorstehenden Geburt ihres Kindes ein immer größer werdendes Problem mit ihrem Identitätsbetrug, zumal sie – abgesehen von der begangenen Straftat – auch ihre Tochter belügen und sogar deren Nachname auf einer Unwahrheit basieren werde. Hierzu gab sie immer wieder an, sich inzwischen »nur noch zerrissen« zu fühlen, da sie zwar als Muhim viel erreicht habe und auch glaube, eine versorgende Mutter werden zu können, aber dennoch immer wieder die labilen Samsam-­ Anteile durchkämen, weshalb sie nun erneut vor einem Schuldenberg und Erwerbslosigkeit stehe. Sie habe nun das Gefühl, tatsächlich in zwei verschiedenen Identitäten zu leben, was für sie kaum noch auszuhalten sei, da »Azura nicht mit zwei Müttern aufwachsen« solle.

Der dritte Therapieabschnitt mit Muhim und Samsam – Sehnsucht nach Integration Die ausgeprägte Konfliktproblematik und das damit verbundene neurotische Entwicklungsdefizit erforderten eine intensive Nachreifungs-

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phase, weshalb das Stundenkontingent einer Jugendlichenpsychotherapie von 180 Stunden nicht ausreichte. Da Samsam zudem unter massiven Insuffizienzgefühlen sowie Ängsten vor einer Wiederholung ihrer eigenen Kindheitssituation litt und die Gefahr einer akuten Dekompensation bestand, begründete ich entsprechend ihren Antrag auf Übernahme der Kosten bei der Krankenkasse für weitere fünfzig Stunden, um sie in ihrem ersten Jahr als Mutter noch begleiten zu können. Zudem bedurfte es einer weiteren Bearbeitung der noch notwendigen Reifungsschritte, um den therapeutischen Prozess anschließend mit einer adäquaten Ablösungsphase abschließen zu können. Azura wurde schließlich geboren, was mir Samsam noch am gleichen Tag telefonisch mitteilte. Die Geburt endete aufgrund der tatsächlichen Verwachsungen in ihrem Bauch in einem Notkaiserschnitt, was die junge Mutter jedoch nicht von ihrer auch durch das Telefon spürbaren Freude abhielt. Sechs Wochen später kam Samsam zur nächsten Sitzung, bei der ich Azura kennenlernte, die sie in einem afrikanischen Tuch um sich gebunden hatte. Das Bild, das sich mir bot, war neben aufrichtiger mütterlicher Liebe und Fürsorge geprägt von Nähe und Bindung zwischen Mutter und Tochter, was auch bis heute, nach vielen weiteren Stunden, in denen Azura dabei war, bestehen blieb. Obwohl ich keine Zweifel an Samsams Beziehungsfähigkeit und Mütterlichkeit hegte, hatte ich aufgrund der genannten Insuffizienzgefühle dennoch Sorge vor einer möglichen postnatalen Depression, weshalb ich erleichtert war, einer zumindest in ihrer Mutterrolle selbstsicheren und glücklichen Samsam gegenüberzustehen. Nach weiteren Sitzungen, in denen es wieder um die Bewältigung ihrer nun noch erschwerteren Alltagssituation als alleinerziehende Mutter ging, kamen in der jungen Erwachsenen Zweifel auf, ob ihre Flucht aus Holland vielleicht völlig umsonst gewesen sein könnte, wenn sie den gesellschaftlichen Erwartungen auch in Deutschland »nie gerecht werden und damit wieder versagen« würde. Entsprechende Deutungen meinerseits, dass ihr zum Zeitpunkt des Fortgangs innerpsychisch vermutlich kein anderer Ausweg geblieben war, als tatsächlich aus Holland und in die Identität Muhims zu flüchten, konnten von ihr angenommen werden, zumal sie verstand, dass die Zerstörungswut Samsams damals nicht mit ihrem Selbst vereinbar war.

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Gleichzeitig war es notwendig, der jungen Frau ihre Entwicklungsnachreifung immer wieder bewusst zu machen, welche sie zwar im Außen in ihrer Identität als Muhim erreicht hatte, aber im Inneren war es dennoch Samsam, die unermüdlich an ihren strukturellen Defiziten sowie Aggressionen arbeitete und bereits etliche innere Widerstände überwunden hatte. Hierzu erklärte sie, gewissermaßen »stolz« auf ihre bisher bewältigten Entwicklungsschritte zu sein, sich jedoch durch die negativen Introjekte weiterhin »blockiert« und dadurch noch oft »als Versagerin« zu fühlen. Ich verdeutlichte ihr, dass dies kein Rückschlag, sondern eine enorme Reifeleistung ihrer Ich-Struktur sei, da sie nun in der Lage sei, zu mentalisieren und ihren Ambivalenzkonflikt auszuhalten. Da ich sie inzwischen für ausreichend stabil und wieder regressionsfähig hielt, widmeten wir uns noch einmal der Beziehung zu ihrer Mutter. Wir erkannten, dass diese sozusagen auch in eine andere Identität geflüchtet war, indem sie nicht nur Somalia, sondern ihr komplettes bisheriges Leben sowie ihre Kinder verließ und diese viele Jahre nicht einmal von ihrer Existenz wussten. Auch dies kann als Spaltung verstanden werden, zumal die Mutter ihre Verantwortung für das Migrationstrauma und die Bindungsstörung zu ihrer Tochter nicht erkennen konnte, sondern vielmehr die eigene, verhasste somalische Identität in diese projizierte und zu zerstören versuchte. Obgleich Samsam sogar die Beweggründe ihrer Mutter, aus einem gewalttätigen Land und einer Ehe mit einem gewalttätigen Mann zu fliehen, verstand, gab sie erneut an, ihr »immer noch nicht verzeihen« zu wollen. Da sie nun selbst Mutter sei, könne sie »niemals akzeptieren«, dass ihre Mutter sie mit vier Monaten allein, noch dazu in einem Kriegsgebiet, zurückgelassen und die Trennung von ihrem Baby einfach so hingenommen hätte. Meine vorsichtige Deutung, dass ihre Mutter den Trennungsschmerz aufgrund der Vehemenz vermutlich auch abgespalten haben könnte, wollte und konnte Samsam zu diesem Zeitpunkt nicht annehmen. Sie hielt daran fest, ihrer Mutter trotzdem an all ihrem »Übel« die Schuld zu geben, zumal diese sie »innerlich fast umgebracht« und sie deswegen regelmäßig geträumt hätte, diese eines Tages »selbst zu vernichten«. Auch wenn diese rigide Schuldzuweisung wieder spaltenden Charakter hatte, war sie vermutlich noch notwendig, da die junge Erwach-

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sene der jugendlichen Samsam ihre Zerstörungswut zunehmend verzeihen und dieser sogar zugestehen konnte, eine enorme Stärke zu haben, das Böse in sich bekämpfen zu wollen. Auch sprach sie ihr bzw. sich damit die Fähigkeit zu, ihr Kind im Gegensatz zu ihrer Mutter immer beschützen und bedingungslos lieben zu können. Im Zuge dessen kam sie zu der Erkenntnis, Azura nicht weiter den Vater vorzuenthalten, so wie sie es selbst durch ihre Familie erfahren hatte. Sie nahm den Kontakt zu diesem deshalb wieder auf, bemühte sich darum, dass er seine Tochter regelmäßig besuchen kam, gab ihn beim Standesamt nun doch als Vater an und schaffte es, dass dieser die Vaterschaft sogar anerkannte. Dies bewirkte, dass nicht nur Azura einen deutschen Pass, sondern auch Samsam einen sichereren Aufenthaltsstatus und höhere staatliche Bezüge bekam. Abgesehen von der Beziehung zu ihrer Tochter wirkte es dennoch, als seien die Samsam-Anteile in ihrem Selbstbild, ähnlich wie ihre frühere Aufenthaltserlaubnis, lediglich »geduldet«. Dies spiegelte sich auch in ihrer gesellschaftlichen Integration wieder, da sie sich immer wieder beobachtet, verfolgt sowie diskriminiert fühlte und die Angst fortbestand, vor den Behörden zwar als liebevolle, aber nicht als ausreichend versorgende Mutter dazustehen. Folglich durfte Samsam zwar existieren, konnte aber noch immer nicht vollständig in ihr Selbst integriert werden, weshalb es in ihrem Erleben wieder Muhim war, der es im Folgenden gelang, sich ihren Problemen wie Schuldenabzahlung zu stellen und ihr Leben in puncto Schul- und Berufsausbildung wieder neu zu strukturieren. Aufgrund von auf andere und die Gesellschaft projizierten eigenen Angst- und Insuffizienzgefühlen kam es immer wieder zu Konflikten mit Nachbarn, Behörden und insbesondere anderen Müttern, in denen sich Samsam zwar über den Way of Life der Deutschen aufregte, aber doch auch ihre eigenen Wünsche deutlicher spürte, von diesen angenommen zu werden und damit endlich dazuzugehören. Hierzu äußerte sie schließlich, sich, um akzeptiert zu werden, immer verstellen zu müssen. Deshalb habe sie oft das Gefühl, nur die brave, angepasste Muhim sein zu dürfen und die ehrliche, meinungsstarke Samsam gewissermaßen »ausblenden« zu müssen. Es war offensichtlich, dass es sich hierbei nicht nur um eine Sehnsucht nach gesellschaftlicher, sondern nun auch nach einer inneren

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Integration handelte, in der sie in ihrer wahren Identität mit guten und bösen Anteilen sie selbst sein durfte. Nachdem ich der Patientin ihre Wünsche als weitere Reifeleistung ihres Ichs deutete, kamen in ihr erstmals Gedanken auf, ihren Identitätsbetrug selbst aufzudecken, zumal ihre Sorge, »irgendwann aufzufliegen«, stetig wuchs, und sie sich zudem auch »selbst nicht weiter belügen« wollte. Allerdings wurde ihr bewusst, dass dies mit erheblichen rechtlichen Konsequenzen verbunden wäre, weshalb sie das Vorhaben schließlich wieder verwarf, zumal enorme Ängste bestanden, dadurch ihre Tochter zu verlieren. Da das zusätzlich bewilligte Stundenkontingent inzwischen auch fast aufgebraucht war, beschloss ich, Samsam nicht weiter von der notwendigen öffentlichen Offenbarung überzeugen zu wollen, zumal ich ihre Sorgen teilweise nachvollziehen konnte und ihr eine adäquate Abschiedsphase aus der langjährigen Psychotherapie ermöglichen wollte. Dennoch war ich erleichtert, als Samsam mein Angebot einer Nachbehandlung in Form von einzelnen Beratungsterminen annahm.

Der letzte Baustein Samsam kam zunächst noch regelmäßig einmal pro Monat und anschließend sporadisch zu beratenden Gesprächen, in denen das Thema Integration nach wie vor präsent war. Hinzu kam die große Sorge um die inzwischen 4-jährige Azura, die zunehmend unter diffusen Ängsten litt, welche Samsam selbst als eigene, in ihre Tochter übertragende Verlustund Strafängste erkannte. Gleichzeitig bestanden weiter wachsende Schuldgefühle, Azura aufgrund ihrer Lebenslüge zu schaden, weshalb Samsam immer wieder angab, mit ihrem Leben »aufräumen« zu müssen. Sie habe inzwischen keine Angst mehr davor, sich den Behörden zu stellen sowie alle rechtlichen Sanktionen bis hin zu einem Gefängnisaufenthalt zu tragen, allerdings hielt sie die Befürchtung, dadurch von ihrem Kind getrennt zu werden, nach wie vor von diesem Schritt ab. Obgleich ich Samsams Entscheidung akzeptiert hatte, weiterhin in ihrer Scheinidentitiät zu leben, sah ich es nun als notwendig an, sie zu motivieren, sich rechtlich beraten zu lassen. So konnte sie zumindest Informationen über die Modalitäten und Vorteile einer Selbstanzeige

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erhalten und es bestand die Chance, dass ihr – eventuell unbegründete – Ängste genommen wurden. Samsam wandte sich tatsächlich an einen von meiner Supervisorin genannten Rechtsanwalt, der ihr mitteilte, dass es im Falle einer Selbstanzeige zwar eine strafrechtliche Verfolgung ihres Falles geben werde, ihr jedoch weder ihre Tochter noch ihr Aufenthaltsstatus ohne Weiteres entzogen werden könnten. Samsam wirkte erleichtert, dennoch wurde spürbar, dass sie der rechtlichen Aufklärung zwar Glauben schenkte, aber aufgrund ihrer bekannten Strafängste nicht darauf vertrauen konnte, dass die schuldbeladene Samsam mit mildernden Umständen davonkommen würde. Stattdessen erwartete sie – so wie sie es in Holland erlebt hatte –, für ihre Taten schwer bestraft zu werden. Als sich Samsam schließlich circa ein Jahr nicht meldete, stellte ich mir wiederholt die Frage, ob sie sich inzwischen tatsächlich den Behörden gestellt und sich damit trotz der Konsequenzen ein Stück mehr Integration ermöglicht hatte oder ob sie aufgrund ihres Ambivalenzkonfliktes erneut in spaltende Abwehr verfallen und eventuell sogar aus Deutschland geflüchtet sein könnte. Umso mehr freute es ich mich, als ich schließlich im Juli dieses Jahres einen Anruf von der jungen Frau erhielt, in dem sie mir mitteilte, »nun bereit« zu sein, ihr wahres Dasein offenzulegen und Samsam damit »zum Leben zu erwecken«. Auslöser, diesen Schritt nun doch zu gehen, sei noch immer die Sorge um das Wohlbefinden ihrer Tochter, der sie im Gegensatz zu sich selbst eine gelingende Integration nicht weiter verwehren möchte. Zudem gebe es noch einen anderen Grund, der ihr bewusst gemacht hätte, dass sie nicht weiter als Muhim leben und Samsam verleugnen möchte: Als sie vor neun Jahren aus Holland geflohen sei, habe eine Bekannte der Mutter eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Diese komme nach zehn Jahren als »geschlossen« in ein Aktenarchiv der Polizei, womit Samsam theoretisch für tot erklärt werden könnte. Obgleich die junge Frau wusste, dass sie in Holland als vermisst gemeldet gilt, erfuhr sie erst jetzt von der Tatsache, dass ihre »wahre Existenz« nächstes Jahr eventuell komplett erlöschen würde, was ihre bisherigen Widerstände brechen ließ. Sie gab hierbei an, Samsam und ihre Vergangenheit »nicht einfach so sterben lassen« zu wollen, da diese ein Teil von ihr sei, ebenso wie

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ihre Mutter, der sie inzwischen auch nicht mehr die alleinige Schuld gebe. Auch wenn Samsam hierbei erwähnte, weiterhin keinen Kontakt mehr zu dieser haben zu wollen, wurde ihre enorme Integrationsleistung offensichtlich, indem sie beteuerte, ihrer Mutter und damit auch den eigenen bösen Anteilen, die sie in diese projiziert hatte, zu verzeihen. Auch erkannte sie, dass sie sich mit der Aufhebung der äußeren Spaltung selbst einen Weg eröffnete, indem sie nicht nur Ambivalenz aushalten, sondern vielmehr Integration zulassen konnte, da sie nun bereit war, sich nicht nur den Behörden, sondern auch ihrem wahrem Selbst zu stellen. Hierbei erwähnte Samsam erstmals, Deutschland als ihre Heimat anzusehen, wo sie und ihre Tochter Sicherheit und Stabilität erfahren hätten, welche sie nicht weiter durch die »Flucht vor den eigenen Fehlern« gefährden wollte. Aufgrund dessen habe sie nun eine auf Ausländerrecht spezialisierte Rechtsanwältin aufgesucht, mit welcher sie nun sämtliche Vorbereitungen für eine Selbstanzeige treffen werde. Auch habe ihr diese die jahrelange Psychotherapie nicht als Stigma ihrer früheren psychischen Instabilität, sondern vielmehr als Reife und Verantwortungsfähigkeit ihrer jetzigen Persönlichkeit zugesprochen. Deshalb könne ein ausführlicher Bericht meinerseits, über eine erfolgreich abgeschlossene Behandlung durchaus strafmildernde Auswirkungen haben und sie vor folgenschweren Sanktionen bewahren. Samsam äußerte jetzt die große Hoffnung, dass nicht nur sie selbst, sondern auch die zuständigen Ämter ihr »vergeben« könnten, womit sich ihre jahrelange Sehnsucht nach Zugehörigkeit, Akzeptanz und gesellschaftlicher Integration erfüllen würde. Für die Vorbereitung dieses Therapieberichts fanden noch einmal intensive Gespräche mit meiner Patientin statt, die für sie erneut therapeutischen Charakter hatten, da die Anteile von Muhim und Samsam nun endlich miteinander existieren durften. Nun begann sie, sich auch anderen Bezugspersonen in ihrer wahren Identität zu offenbaren. Bei uns beiden entstand das Gefühl, als hätten wir nun den letzten bisher noch fehlenden Baustein unserer gemeinsamen Arbeit hinzufügt – weshalb wir uns nach Erstellung des Gutachtens schließlich nach über sieben Jahren aus der therapeutischen Beziehung verabschiedeten.

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Samsam zeigte mir hierbei ihr frisch gestochenes, selbst entworfenes Tattoo: eine Landkarte Afrikas. Von hier fliegen zwei Vögel in entgegengesetzte Richtungen. Ergänzt werden soll diese Abbildung noch durch einen Schriftzug mit den Worten: »I was a lost long wandering soul, trying to find out, where I belong, looking for a place, where it can be right to be wrong.«

Reiner Winterboer

»Ich schiebe Sie mal an« – zur Integration von agierten Gegenübertragungsimpulsen: Abstinent sein und doch handeln

Zusammenfassung Über den verbalen therapeutischen Austausch hinaus ereignen sich zwischen Psychotherapeuten und Patienten permanent interaktive Szenen, die wir als Enactments zu fassen versuchen. In ihnen schlagen sich beider Lebensstile mit den jeweiligen interpersonellen Erfahrungen nieder. Das Bemühen um Abstinenz und die Unvermeidlichkeit sich entwickelnder Handlungsdialoge bilden in der psychotherapeutischen Arbeit ein permanentes Spannungsverhältnis. Es ist für Psychotherapeuten nicht möglich, nicht zu handeln. Ihre bewussten wie unbewussten Handlungsbeiträge können als solche heilsame wie auch kränkende Wirkung entfalten. So sind psychodynamische Psychotherapeuten immer wieder neu herausgefordert, die für das Verstehen und die Entwicklung eines Phantasieraumes erforderliche Zurückhaltung mit der von Patienten benötigten emotionalen und handelnden Resonanz auszubalancieren. Am Beispiel von agierten Gegenübertragungsimpulsen im Rahmen einer psychoanalytischen Psychotherapie wird deren Reflexion und nachträgliche Integration in den verbalen Austausch als therapeutische Chance beschrieben.

Vorbemerkung: Der Therapeut als Objekt der reflektierten Neuerfahrung Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in individualpsychologischer Tradition fühlen sich durch die Entwicklungen der letzten vierzig Jahre im Mainstream der Psychoanalyse bestätigt, die durch einzelne Vertreter der Objektbeziehungstheorie (wie Winnicott, Balint, Bauriedl), der Ich-Psychologie (Thomäs Konzept des aktiven Analytikers), durch die Selbstpsychologie, die Bindungstheorie, das Mentalisierungskonzept und durch interpersonelle, intersubjektive und relationale Ansätze angestoßen wurden (Ermann, 2017a). »In dieser modernen Psychoanalyse findet sich sehr vieles von Adlers Denken, auch wenn kein Bezug zu ihm hergestellt wird« (Bruder-Bezzel, 2007, S. 21). Hinsichtlich der

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Theorien zur Ätiopathogenese lässt sich u. a. auf das schon durch Adler hervorgehobene Angewiesensein auf frühe empathische Resonanz und Fürsorge (Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes), auf den reaktiven Charakter der Aggression, auf die Bedeutung der Kompensation von Schädigungen in der Selbstwertentwicklung und die grundsätzliche soziale Bezogenheit und existenzielle Hilflosigkeit des Menschen hinweisen, wobei diese Aufzählung bei Weitem nicht vollzählig ist. »Niemand will Objekt sein« (Adler, 1918, zit. nach Antoch, 2000, S. 15). Auch in Bezug auf die Frage der Behandlungstechnik findet sich in der aktuellen psychoanalytischen Diskussion manches, was bereits bei Adler angedacht war. Von ihm gingen u. a. eine subjektorientierte Erkenntnishaltung sowie ein Selbstregulationsparadigma aus (P. Heisterkamp, 1996; Tenbrink, 1998; Antoch, 2000). »Auch wenn er selbst diese Begrifflichkeit nicht verwendet hat, so hatte er doch immer großes Interesse an Enactments und der inszenierenden Aktion, der Interaktion« (Heisterkamp in Wahl u. Heisterkamp, 2018, S. 257). Adler sah den Therapeuten als einen aktiven, dabei authentischen, die Gleichwertigkeit von Therapeut und Patient betonenden, sich um Feinfühligkeit in der Einfühlung bemühenden Part in der therapeutischen Beziehung. Vieles von dem findet seine Entsprechung in der aktuellen psychoanalytischen Diskussion, etwa wenn Ermann »den Analytiker als Objekt der Neuerfahrung durch einen entwicklungsfördernden und empathischen Umgang mit der therapeutischen Beziehung« (Ermann, 2017a, S. 112) sieht oder eine »›antiautoritäre Position‹ des Analytikers« fordert, bei der »eine Paradoxie von Symmetrie und Asymmetrie in der Behandlungssituation« bestehe (S. 112); um nur zwei Themenbereiche aufzugreifen. Auch im Bereich der Kinderanalyse lässt sich eine ähnliche Entwicklung beobachten. Während bis in die 1990er Jahre hinein durch den Einfluss Melanie Kleins eine sehr starre, distanzierte und überbetont abstinente Haltung propagiert wurde, hat sich auch hier im Mainstream das Verständnis der Kinderanalytikerin als Entwicklungsobjekt durchgesetzt. »Der Zugang zu unbewussten Themen stellt sich nur in einer authentischen und lebendigen Beziehung her, und genau darauf sind die Kinder und Jugendlichen angewiesen, um ihr Entwicklungspotenzial zu nutzen« (Lang-Langer, 2014, S. 268).

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Zum Handeln in der Psychotherapie – eine Annäherung Ausgehend von den Arbeiten Argelanders (1970) und Lorenzers (1970, zit. nach Antoch, 2006) zum szenischen Verstehen haben psychodynamische Psychotherapeuten gelernt, ihre Aufmerksamkeit über das Gespräch hinaus auf das zu richten, was von Patienten handelnd in Szene gesetzt wird. Der therapeutische Leiter einer Suchtklinik berichtete mir folgende Episode: Einige Zeit schon waren Zufahrt und Parkplatz der Klinik von tiefen Schlaglöchern verunstaltet. Der Hausmeister hatte zwar vor längerer Zeit einen Haufen Schotter anfahren lassen, aber seither war nichts mehr geschehen. Als nun der therapeutische Leiter in einer Pause etwas aus seinem Auto holen wollte, bemerkte er einen Patienten der Klinik, der sich Schubkarre und Schaufel besorgt hatte und die Schlaglöcher mit Schotter füllte. Wie war dessen Aktion zu verstehen? Gelang es dem Patienten so, innere Spannungen zu sublimieren und konstruktiv umzusetzen? Half ihm die Arbeit, dem Schamerleben zu entrinnen, hier Patient zu sein? Agierte er einen Widerstand, floh quasi vor der geforderten therapeutischen Selbstauseinandersetzung? Bewältigte er einen unbewussten Versorgungskonflikt, indem er indirekt die Klinikmitarbeiter versorgte? Externalisierte sich dabei ein latenter Vorwurf, dass er sich in der Klinik ähnlich schlecht versorgt fühlte, wie der Parkplatz unversorgt war? Oder war das Ganze eine provokative Grenzüberschreitung, mit der er symbolisch die Kontrolle und die Oberhand gewann? Die Liste der möglichen Hypothesen zur Psychodynamik des Patienten ließe sich noch erweitern. Doch soll hier im Sinne eines inter­ aktionellen Verständnisses die Aufmerksamkeit auf den therapeutischen Leiter als Mitakteur der Szene gelenkt werden. Durch sein Auftauchen wird er zum handelnden Interaktionspartner, ob er will oder nicht. Auch wenn er nichts tut, handelt er. »Nicht-Kommunikation ist ein kommunikativer Akt, der von anderen wahrgenommen und interpretiert wird« (Bettighofer, 2016, S. 60). In diesem Sinne ist auch das Bemühen, passiv, neutral und abstinent zu bleiben, eine Form des Handelns, welches Einfluss auf den Patienten und seine Übertragung ausübt (Bettighofer, 2016). Der therapeutische Leiter hätte den Patienten also u. a. ignorieren, loben, tadeln, begrenzen oder auch sein Verhalten deuten können. Stattdessen reagierte er unorthodox: »Ich hole mal mein Auto, dann

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können wir den Schotter verdichten.« So haben die beiden dann gemeinsam Schlaglöcher ausgebessert. Obwohl sie später nicht wieder darüber sprachen, hatte der therapeutische Leiter den Eindruck, dass sich über die Interaktion eine besondere Verbundenheit hergestellt hatte. Möglicherweise hatte sich durch die unerwartete und feinfühlige »Antwort«, die den Patienten gleichwertig behandelte, ein Begegnungsmoment im Sinne Sterns (vgl. Tiedemann, 2010) ergeben. Dies können wir jedoch nicht wissen, solange wir nicht gemeinsam mit dem Patienten sein Erleben validiert haben. Heisterkamp spricht – bezogen auf aus sich heraus wirksamen, entwicklungsförderlichen Handlungsdialogen – von »unmittelbarer Wandlungserfahrung« (Heisterkamp, 1982, S. 52). In der Psychotherapie kommt der unmittelbaren Reaktion von Therapeuten in unerwarteten Situationen aus Sicht der Patienten besondere Relevanz bezogen auf die Authentizität der therapeutischen Haltung zu. Darüber hinaus stellt die empathische Resonanz auch auf nicht-­ sprachlicher Ebene einen bedeutenden Wirkfaktor dar. Patienten benötigen eine spürbare persönliche Verwicklung des Therapeuten (Klüwer, 2001). Die bewussten wie unbewussten Handlungsbeiträge der Therapeuten wirken häufig aus sich heraus. Sie können heilsame, jedoch auch kränkende Wirkungen entfalten (Heisterkamp, 2002, 2003).

Handlungsdialoge/Enactments »Wenn wir verstehen wollen, was hilfreich ist, dann müssen wir uns mit dem beschäftigen und auseinandersetzen, was wir wirklich in unseren Praxen tun, und nicht nur mit dem, was wir glauben, dort tun zu müssen oder getan haben wollen« (Pflichthofer, 2012, S. 100). Was machen Therapeuten und Patienten, »wenn sie das machen, was sie machen bzw. das lassen, was sie lassen« (Heisterkamp, 2002, S. 9)? Über den verbalen Austausch hinausgehende interaktive Szenen zwischen Psychotherapeuten und Patienten ereignen sich permanent. In ihnen schlagen sich der Lebensstil und interpersonelle Erfahrungen von beiden nieder. Um eine Abgrenzung vom negativ konnotierten Begriff des Agierens zu ermöglichen, sprechen wir im Zusammenhang des interpersonell verschränkten, nicht vorrangig verbalen Austauschs von Enactments (von Jacobs 1986 eingeführt, zit. nach Streeck, 2009)

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bzw. Handlungsdialogen (Klüwer, 1983). Das Enactment-Konzept lässt sich angelehnt an Streeck (2000, S. 48 ff.) folgendermaßen zusammenfassen: Patient und Psychotherapeut behandeln sich gegenseitig mit allem, was sie tun und wie sie das tun. Das Sprechen selbst ist Handeln und kann für das Gegenüber manchmal viel mehr Behandlung sein als inhaltliche Mitteilung. Der Begriff Enactments steht »für die gemeinsamen Inszenierungen, die sich durch das Handeln des Patienten und des Analytikers herausbilden und insbesondere durch die ›nichtsprachliche‹ Kommunikation zustande kommen« (Heisterkamp, 2003, S. 257). Im intersubjektiven Ansatz wird davon ausgegangen, dass in Enactments implizites Beziehungswissen zum Vorschein kommt, welches im prozeduralen Gedächtnissystem kodiert ist. Durch korrigierende, unerwartete Neuerfahrungen mit einem empathischen, feinfühligen, engagierten, authentischen, präsenten und unmittelbar antwortenden Therapeuten werde eine Umstrukturierung des impliziten Beziehungsgedächtnisses möglich (Ermann, 2017b). Die besondere therapeutische Haltung, die psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie kennzeichnet, ermöglicht die nachträgliche Reflexion und Integration entsprechender Begegnungen im verbalen Austausch. Entwicklungsförderliche Handlungsdialoge sind immanent und unmittelbar wirksam, nachträglich mit besonderem Tiefgang reflektier- und verstehbar. Die mit entwicklungshinderlichen Verstrickungen und Kränkungen verbundenen Spannungen müssen ausgehalten und auf ihren latenten Sinn hin analysiert, durchgearbeitet und im günstigen Fall aufgelöst werden (Heisterkamp, 2002, 2003; Weiß, 2018; Bettighofer, 2016). In der Literatur findet sich inzwischen eine ganze Fülle von beschriebenen Handlungsepisoden aus Psychotherapien (z. B. Streeck, 2000; Heisterkamp, 2002, 2003; Weiß, 2018; Tiedemann, 2010). Auch wenn im theoretischen Verständnis je nach Provenienz der Autoren im Detail deutliche Unterschiede auszumachen sind, so findet sich bezogen auf den behandlungspraktischen Umgang überwiegend eine große Übereinstimmung. »Ich halte die Formulierung, dass der Analytiker das eigene Handeln und Mithandeln möglichst so gestalten sollte, dass es für den Patienten entwicklungsförderlich ist, für programmatisch« (Heisterkamp, 2003, S. 260). Nur: »Wie kriegen wir es hin, daß das, was wir tun, unseren Analysanden guttut?« (Tenbrink, 1991, S. 40)

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Ein von Stern et al. (2002, S. 997) publiziertes Fallbeispiel zeigt, dass Handlungsdialoge sich auch problematisch entwickeln können. Ein junger Mann kam auf eine schwere Verbrennung zu sprechen, die er sich als Kleinkind zugezogen hatte. Eine entstellende Narbe am Oberkörper, die zurückgeblieben war, machte ihn sehr befangen und diente als Fokus für Probleme, die sich auf seinen Körper konzentrierten. Als der Patient spontan den Saum seines Hemdes hochziehen wollte mit den Worten: »Hier, ich zeig’s Ihnen. Dann verstehen Sie mich besser«, unterbrach ihn sein Analytiker abrupt: »Nein! Halt, das ist nicht nötig!« Interpretiert wird diese Sequenz im Sinne einer verpassten Chance. Der Analytiker poche in diesem sehr dichten Moment auf seine Neutralität und verpasse bzw. verhindere so einen potenziellen Moment der Begegnung. Verbreitete Lesart ist, dass es in diesem Handlungsdialog zu einer ungünstigen Verwicklung kommt, weil der Analytiker sich an seinem Regelwerk festhält, statt authentisch zu reagieren (so z. B. Tiedemann, 2010). Allerdings bietet sich auch eine andere Interpretation an: Möglicherweise ist die Reaktion des Therapeuten gar nicht vorrangig regelgeleitet, sondern in ihrer ängstlich abwehrenden Ausprägung unbeabsichtigt authentisch, darin jedoch weder abstinent noch empathisch und feinfühlig auf den Patienten bezogen. Anregend wie amüsant ist die von Heisterkamp (2002, S. 68) be­­ schriebene Situation, in der ein Therapeut plötzlich mit seinem Patienten vor der durch einen Windstoß zugeschlagenen Praxistür steht. Der sonst auf Distanz bedachte Patient schlägt dem Therapeuten vor, per Räuberleiter über ein offenes Fenster in die Praxis zu gelangen und die Tür zu öffnen. Stellen Sie sich als Leserin und Leser die Situation vor – wie würden Sie handeln? Egal, wie Sie handeln, ob Sie das Angebot annehmen, ablehnen oder zunächst mit Ihrem Supervisor telefonieren: Ihre Reaktion wird auch ihre eigene Persönlichkeit und situative Verfasstheit widerspiegeln und kommunikativ wie emotional innerhalb der therapeutischen Beziehung bedeutsam werden. Gleichzeitig realisiert sich im Enactment unbewusst der Lebensstil des Patienten. Sonst auf Distanz bedacht, bietet dieser in der Beispielsituation die körperliche Nähe der Räuberleiter gerade in einem Moment an, in dem der Therapeut in eine Notlage gerät, die sonst bestehende Asymmetrie ihrer Beziehung also aufgehoben ist.

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Abstinenz und Handeln: Das Paradox fruchtbar machen »Es ist ganz zweifellos so, dass elementare Regeln von Alltagsbeziehungen in allen Psychotherapien außer Kraft gesetzt werden müssen. Die Anfängerstudenten haben große Mühe, das anzuerkennen, weil sie Gott sei Dank gelernt haben, ›nett und höflich‹ zu sein. In Alltagsbeziehungen ist es zum Beispiel grob unhöflich, selbst nichts dazu beizutragen, ein Gespräch am Laufen zu halten. Wenn sich Patienten nicht äußern, ist es aber in den meisten Fällen angebracht, ebenfalls den Mund zu halten. Auf keinen Fall können wir einen netten Schwatz über die Kinder oder das Wetter anbieten. Psychotherapeuten, die nicht schweigen können, mögen nette Menschen sein, aber ihr Handwerk beherrschen sie nicht« (Krause, 2012, S. 47). Das Ringen um Abstinenz und die Unvermeidbarkeit des Handelns bilden ein permanentes Spannungsverhältnis. Wie andere Begriffe der Tiefenpsychologie hat der Begriff Abstinenz eine sehr wechselvolle Geschichte. Ursprünglich kennzeichnete sie eine Forderung an die Patienten (nicht an die Therapeuten). Abstinenz zielte in dieser Zeit darauf ab, dass Patienten auf »Ersatzbefriedigungen« verzichten, ihnen Nebenwege der Wunscherfüllung versperrt werden sollten (Resch, 2013). Erst im weiteren Verlauf wurde der Analytiker in die Abstinenz einbezogen. Neben einem behandlungsmethodischen rückte nun das normative Motiv in den Vordergrund, Patienten oder Patientinnen nicht zu eigenen sexuellen, wirtschaftlichen und auch nicht zu narzisstischen Zwecken zu missbrauchen. Von den frühen Analytikern hatten nicht wenige »die Übertragungsphantasien als alltägliche Beziehungsangebote missverstanden und waren auf sie eingegangen« (Körner, 2014, S. 2). Beachtenswert ist, dass bis in aktuelle Veröffentlichungen hinein (z. B. Körner, 2014) die Darstellung der Entgleisung therapeutischer Prozesse darauf abhebt, dass die Analysandinnen mit ihren Beziehungswünschen ihre Analytiker verwickelten. Die Möglichkeit, dass die Analytiker aktiv ihre Analysandinnen aus eigener Bedürftigkeit heraus verführen, bleibt trotz intensiver Diskussion von sexuellem Machtmissbrauch in der Psychotherapie scheinbar unaussprechlich. In normativer Hinsicht ist Abstinenz heute »eine Schutzregel für Patienten geworden« (Resch, 2013, S. 75), die in Ethikleitlinien festgelegt und hinsichtlich sexueller Übergriffe in der Psychotherapie seit 1998 auch strafrechtlich normiert ist.

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Die Umsetzung des berufsethischen Prinzips der Nichtschädigung von Patienten ist von herausragender Bedeutung. Daneben gilt es jedoch, die Abstinenz als Mittel der Behandlungsmethodik im Blick zu behalten. Freud und Adler stimmten in der Forderung überein, dass die Äußerungen von Patienten aus deren Perspektive heraus verstanden werden sollten; anders als Adler legte Freud in seinen Schriften jedoch sehr viel Wert darauf, dass der Analytiker sich wertender, erzieherischer und tröstender Interventionen enthalten sollte (Mertens, 1992, S. 1). In Berichten von Zeitzeugen wird Freud demgegenüber weniger zurückgenommen geschildert (Pflichthofer, 2012; Resch, 2013). Pflichthofer (2012) macht darauf aufmerksam, dass Freud auch den Begriff Erziehung durchaus im Zusammenhang mit der psychoanalytischen Therapie nutzte: »Der Analytiker soll aber bei allen seinen Bemühungen zu bessern und zu erziehen die Eigenart des Patienten respektieren. Das Maß von Beeinflussung, dessen er sich in legitimer Weise getraut, wird durch den Grad der Entwicklungshemmung bestimmt werden, den er bei dem Patienten vorfindet« (Freud, 1940, zit. nach Pflichthofer, 2012, S. 230). »Freud plädiert hier mit der Erfahrung des hohen Alters dafür, Beeinflussung und Aktivität des Therapeuten von dem Maß der Entwicklungsstörung des Patienten abhängig zu machen, ›natürlich‹ ohne an Adlers frühe Hervorhebung einer aktiven therapeutischen Haltung anzuknüpfen« (Winterboer, 2018, S. 138). Die Forderung, Analytiker(in) und Analysand(in) sollten einander in der Behandlungssituation nicht zur Befriedigung ihrer Beziehungswünsche gebrauchen, wurde von Freud mit der Verpflichtung gepaart, in der Arbeit zu sprechen, aber nicht zu handeln (Körner, 2014). Als Motto galt: »Sie können sich alles von mir wünschen und ganz sicher sein, dass es nicht erfüllt werden wird.« Ziel der Abstinenzregel war es, einen Rahmen zu sichern, der Regression und die Arbeit an unbewussten Beziehungsphantasien ermöglichte. Als Teil einer psychoanalytischen Haltung ist das Bemühen um Abstinenz meines Erachtens notwendig. Mit ihrer Hilfe kann sich die therapeutische Beziehung so entwickeln, dass sie Grundlage für das Verstehen der inneren Konflikte und Muster der Patienten werden kann (Weiß, 2018). Allerdings entwickelte sich aus der Abstinenzforderung in den 1940er bis -80er Jahren ein rigider Verhaltenspurismus, welcher der Psychoanalyse zu Recht den Vorwurf einbrachte, Patienten teilweise

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mit Kälte und Ablehnung, letztlich emotionaler Gleichgültigkeit und Vernachlässigung zu begegnen. Einen Gegenpol markierte u. a. Kohut (1987), der »unter dem Begriff der Responsivität die Notwendigkeit eines grundlegenden menschlichen Beantwortens von Bedürfnissen« (Resch, 2013, S. 76) hervorhob. Innerhalb der interpersonellen, intersubjektiven oder relationalen Ansätze ist an die Stelle von (verbietenden) Verhaltensregeln insbesondere die Forderung eines permanenten selbstreflexiven Engagements getreten. Ziel muss eine Integration beider Pole sein, eine Balance zwischen emotionaler Responsivität und der Erhaltung des Phantasieraums. »In der gelungenen Abstinenz, in der die […] [Grundbedürfnisse] optimal beantwortet werden und der Patient nicht zum Opfer der Bedürfnisse oder der Gleichgültigkeit des Therapeuten wird, beginnt der emotionale Dialog, der zu einer neuen Beziehungserfahrung und einem neuen Verstehen führen kann« (Resch, 2013, S. 93).

Wir können nicht nicht handeln Arbeiten über Enactments gewinnen häufig ihre besondere Spannung aus der Darstellung außergewöhnlicher Situationen. In Beispielen wird das Besondere der Interaktionsverstrickung, das therapeutische Handeln an der Grenze des vermeintlich Verbotenen hervorgehoben (z. B. Heisterkamp, 2002, 2003; Marx, 2010). So bereichernd entsprechende Beispiele sind – sie täuschen doch leicht über das Unvermeidliche, das Alltägliche von Enactments hinweg. Diese finden nicht nur in besonderen Situationen, sondern zumeist unbemerkt, im Kleinen und Nebensächlichen statt. Untersuchungen zum mimischen Interaktionsverhalten in therapeutischen Situationen z. B. belegen, dass eine gegenseitige Beeinflussung des affektiven mimischen Ausdrucks sich innerhalb von Millisekunden ereignet, ohne dass dies den beobachteten Patienten und Therapeuten bewusst gewesen wäre (Krause, 2012). In Begrüßungen und Verabschiedungen offenbart sich die therapeutische Beziehung im Übergang zwischen therapeutischer Sitzung und Alltagsrealität (Streeck, 2002). Marx (2010, S. 241) beschreibt mit einer salutierenden Therapeutin ein wunderbares Beispiel einer Verabschiedung. In Wirklichkeit ist jede Begrüßung und Verabschiedung ein kleines Enactment. Ich habe

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Psychoanalytikerinnen kennengelernt, die hielten es für besonders abstinent, die Bezahlung für die Sitzung nicht persönlich entgegenzunehmen. sondern ihre Patienten und Ausbildungskandidaten zu bitten, das Geld zum Ende der Sitzung auf die Couch zu legen. Ihnen war nicht bewusst, dass gerade diese vermeintliche Abstinenz sie eine Szene mit einer gewissen assoziativen Nähe zu einem Bordellbesuch arrangieren ließ. Die meisten Handlungsdialoge dringen erst ins Bewusstsein, wenn es zu Brüchen, Widersprüchen, Überraschungen oder zumindest unerwarteten Ereignissen oder Reaktionen kommt. Ein Beispiel referiert Weiß (2018): Als er einen Termin absagen muss, bietet er der Patientin einen Ersatztermin an. Diese reagiert unerwartet. Sie wolle nicht zum Ersatztermin kommen, nur damit er sich nicht schuldig fühle wegen der ausgefallenen Sitzung. »Wenn sie einmal eine Sitzung ausfallen lassen müsse, bekomme sie […] ja auch keinen Ersatztermin« (Weiß, 2018, S. 299). Die Patientin erlaubt hier also dem Analytiker nicht, »erst eine Stunde kurzfristig abzusagen und dann auch noch als der fürsorgliche Therapeut dazustehen« (Weiß, 2018, S. 299). Dabei ermöglicht ihm die Störung im Handlungsablauf, besser zu verstehen, wie die Patientin die Ungleichheit in der Beziehung erlebt.

Vignette aus der Behandlung von Frau L.1 Frau L. war bei Aufnahme ihrer Behandlung noch jung und mit fast 140 kg stark übergewichtig. Sie hatte zwei stationäre Behandlungen wahrgenommen, in denen ein breites Störungsspektrum diagnostiziert worden war: –– emotional instabile Persönlichkeitsstörung (Borderline-Typus), –– Panikstörung, –– mittelgradige depressive Episode, –– abhängige Persönlichkeitsstörung, –– Körper-Dissoziationsstörung, –– Binge-Eating-Störung, –– Adipositas. Frau L. berichtete, sie hasse ihren Körper, könne überhaupt wenig an sich ausstehen. Sie könne sich zu nichts aufraffen, könne in einem fort schlafen, ver1 Ich danke der Patientin für ihre Zustimmung, Aspekte der Behandlung in dieser Arbeit zu verwenden. Die Daten – auch die Initiale – wurden anonymisiert, um eine Identifizierung zu erschweren.

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bringe mehr als 20 Stunden am Tag im Bett. Auf dringendes Anraten der Klinik hin sei sie nach der stationären Behandlung in eine eigene Wohnung und nicht wieder zum Vater gezogen. Obwohl sie ihren Hund sehr liebe, erschrecke sie über einschießende Impulse, diesen zu verletzen. Ihren ersten Geschlechtsverkehr habe sie mit 13 Jahren gehabt, danach sich von wechselnden Partnern häufig ausnutzen lassen. Ihrem letzten, gewalttätigen Freund sei sie quasi hörig gewesen. Zurzeit lebe sie bewusst sexuell abstinent, da sie fürchte, sonst schnell in alte Muster zu rutschen. »Ich kann in jeder Hinsicht nur ›ganz oder gar nicht‹. Wenn ich etwas mache, dann will ich es auch besonders gut machen.« Auffallend war, wie desaströs und doch kaum anklagend Frau L.s Beschreibung der familiären Bedingungen ausfiel. Ich will die Anamnese hier nicht vertiefen. Obwohl Frau L. weiß, wie rar psychotherapeutische Behandlungsplätze in ihrer Region sind, macht sie sich mit ihren ersten Angaben wahrlich nicht »schick« für mich. Und so ist sie überrascht, dass ich sie, die stark adipöse junge Frau in Behandlung nehme, die eingenässt hat, bis sie 13 war. Natürlich wird meine eigene Empfänglichkeit für Bedürftigkeitsthemen dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie eine stellvertretende Wut und ein gewisser narzisstischer Ehrgeiz bei dem (nüchtern betrachtet) boden- und aussichtslos erscheinenden Fall. Frau L. freut sich sehr. Es erscheint, als habe sie in unserer Interaktion unbewusst bereits zu Beginn geprüft, ob sie wirklich willkommen ist. Wie in jeder Therapie waren auch bei Frau L. Handlungselemente schon in der Vereinbarung der Rahmenbedingungen enthalten. Der therapeutische Rahmen sollte dynamisch als etwas verstanden werden, was die Entwicklung einer therapeutischen Beziehung und die Aufrechterhaltung einer verstehenden Haltung ermöglicht (Weiß, 2018). Das Aushandeln der Rahmenvereinbarungen wird zum destruktiven Agieren, wenn es nicht reflektiert bezogen auf diese Funktion erfolgt. Zum Beispiel gab ich Frau L. Termine jeweils am späten Vormittag, dabei halb bewusst sicherlich von einem pädagogischen Impuls mit geleitet, sie dadurch aktivieren zu wollen. Nachträglich bin ich froh, dem sadistischen Impuls widerstanden zu haben, ihr schon frühmorgendliche Termine vorzuschlagen. Obwohl ich sonst durchaus in einem entsprechenden Setting arbeite, habe ich Frau L. nicht ein Liegen auf der Couch vorgeschlagen. Bei 20 Stunden, die sie täglich im Bett zubrachte, wäre diese Form eines Regressions­ angebotes nicht hilfreich gewesen. Auch die Vereinbarung eines Ausfallhonorars wäre aus meiner Sicht bei der Patientin ethisch kaum zu rechtfertigen und von der Beziehungsdynamik her erniedrigend gewesen. Da ich überzeugt war, dass von der Psychogenese her bei Frau L. Zustände realer und tiefgreifend erlebter Verlassenheit in sie affektiv überfordernden und überflutenden Situationen bedeutsam waren, gehörte zum vereinbarten Setting auch, dass ich für sie auch außerhalb der Sitzungen zumindest indirekt erreichbar war, was sie nur sehr selten in Anspruch nahm. In der 9. Sitzung sprachen wir u. a. über ihre Kleinheitsgefühle angesichts ihres überhöhten Ich-Ideals sowie über die Maßlosigkeit ihrer Hilfsbereitschaft, in der sie sich wiederkehrend ausgenutzt fühlte. Da es an diesem Tag überraschend schneite, hatte sich Frau L. das Auto ihrer Schwester geliehen, um zur Sitzung zu kommen. Als ich nach der Sitzung

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vor meiner Mittagspause zum Briefkasten ging, sah ich aus dem Augenwinkel, dass Frau L. sich mit dem Auto im Schnee festgefahren hatte und versuchte, aus der Parkbucht zu kommen. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich draußen nicht bemerkt hatte. Natürlich hätte ich vor der Tür zunächst einfach abwarten und beobachten oder auch zurück in die Praxis gehen und warten können, ob Frau L. mich wohl um Hilfe bitten würde. Oder ich hätte meinerseits zu ihr gehen und sie fragen können, ob sie Hilfe benötige. Ich hätte aber auch einfach in meine Pause gehen und sicherstellen können, dass sich der therapeutische Kontakt nicht über die Sitzung hinaus in den informellen Bereich ausdehnt. Es hätte viele weitere Handlungsoptionen gegeben. Tatsächlich klopfte ich an ihre Scheibe und sagte: »Ich schiebe Sie mal an!« Frau L. fuhr mit meiner Hilfe los, wirkte auf mich guter Dinge, und auch ich ging zufrieden in die Pause. Im Nachgang erschien Frau L. mir in diesem Moment wie ein auf den Rücken geratener, hilfloser Käfer, bei dem schon ein kleiner Schubs hilft, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Zumindest in diesem Moment fühlte ich mich wirkmächtig. Ich erinnere auch noch, dass ich wütend war, dass sie im Schnee mit abgefahrenen Sommerreifen unterwegs war – dabei richtete sich meine Wut jedoch nicht auf sie, sondern auf die mir unbekannte Schwester, die ihr ein Auto in diesem Zustand lieh. Das Ganze erschien mir wie eine Symbolisierung der auch sonst in jeder Hinsicht unübersehbaren Mangelversorgung von Frau L. In der folgenden Sitzung wartete ich zunächst, ob die Patientin das Geschehen von sich aus ansprechen würde, was jedoch nicht erfolgte. Etwa nach der Hälfte der Sitzung fragte ich sie, wie es ihr mit der Situation gegangen sei. Frau L. äußerte sinngemäß, dass sie ja vorher schon gewusst habe, an was für einen tollen Therapeuten sie geraten sei. Durch diese Erfahrung sei ich in ihrem Ansehen nochmals gestiegen. Ich gab ihr in dem Moment zurück, dass sie mir nun mitgeteilt habe, wie sie mich sehe. Aber ich wollte ja gerne wissen, wie die Situation für sie gewesen sei. »Für mich war das ganz schrecklich! Ich musste an der Ecke zunächst stehen bleiben, weil ich weinen musste wie ein Schlosshund. Ich habe mich so geschämt, bin mir so dämlich vorgekommen.« Sie habe die Weiterfahrt lange Zeit gar nicht antreten können, da sie so heftig habe weinen müssen. Im weiteren Verlauf der Sitzung brachen Aspekte von Selbstverachtung aus ihr heraus, die sich zum Teil an körperlichen Details festmachten. Sie beschrieb, wie bewusst ihr die Begrenztheiten ihrer Herkunftsfamilie sind, für die sie sich schämt und zu der sie sich dennoch zugehörig fühlt; wie sehr sie sich wünscht, zu lieben und sich zu binden, und wie viel Angst sie hat, abhängig zu werden, sogar bei ihrem Hund. Auch wenn ich ahnte, dass ihr Weinen auch aus ihrem Berührtsein durch die Erfahrung einer Fürsorge erwuchs, deutete ich nicht, dass es auch um ihren Wunsch und ihre Angst ging, sich mit mir zu verbinden. Ich wollte sie in diesem Moment nicht überfordern. Stattdessen versuchte ich, mit ihr auszuhalten, was an Bitterkeit, Verlorenheit und Selbsthass aus ihr herausquoll. Und ich versuchte für mich mit dem Erschrecken fertigzuwerden, wie sehr mein Anschieben sie auch beschämt, wie auch erniedrigend sie meine Hilfe erlebt hatte. Die Phantasie vom auf dem Rücken liegenden Käfer offenbarte

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die unerträgliche Asymmetrie ihrer Ohnmacht und meiner scheinbaren Macht, die Asymmetrie ihrer subjektiven Wertlosigkeit und meiner narzisstischen Erhöhung im Anschieben.

Die individualpsychologischen Betonung eines Klimas der Gleichberechtigung und der Gleichwertigkeit in der Therapie (Antoch, 1985; Eife, 2011) spiegelt sich in aktuellen interaktionellen Ansätzen im Bemühen um die Aufhebung einer asymmetrischen Kommunikationsstruktur und die Betonung des intersubjektiven Einverständnisses (Tenbrink, 1991) wider. Dies sollte jedoch nicht dazu verleiten, die grundlegende Asymmetrie zu verleugnen, die mit der »ungleichen Verteilung von Bedürftigkeit« (Weiß, 2018, S. 297) zu tun hat. Ein Patient kommt, »weil er sich in Not befindet und auf jemanden angewiesen ist, der ihm hilft, diese Not zu überwinden« (Weiß, 2018, S. 297).

Gegenübertragungseuphorie und therapeutische Ich-Spaltung Auch das Konzept der Gegenübertragung hat eine sehr wechselvolle Begriffsgeschichte mit der »Verwandlung vom Aschenputtel zur strahlenden Prinzessin« (Thomä u. Kächele, 1989, S. 88) absolviert, die hier nicht nachgezeichnet werden kann. Mit Bezugnahme auf Thomä und Kächele sprechen Boll-Klatt und Kohrs (2018, S. 564) von einer »Gegenübertragungseuphorie« an deutschen psychoanalytischen Ausbildungsinstituten. Ausgehend von der erstmals 1950 von Heimann vertretenen ganzheitlichen Auffassung der Gegenübertragung, nach der sämtliche Reaktionen des Analytikers auf seinen Patienten als diagnostisches Instrument genutzt werden sollen, wurde die Gegenübertragungsanalyse zum zentralen Element. »Besonders beliebt ist es heutzutage, in den Phantasien von Teilnehmern behandlungstechnischer Seminare Spiegelungen des Unbewussten des Patienten zu sehen« (Thomä u. Kächele, 1989, S. 92). »Dass dabei häufig hocherfreut überwiegend selbstversteckte Ostereier gefunden werden, dürfte offensichtlich sein« (Boll-Klatt u. Kohrs, 2018, S. 564). Heimann (1950) vertrat zudem die Auffassung, die Gegenübertragung, also sämtliche Reaktionen des Analytikers, sollten grundsätzlich als Schöpfung des Patienten angesehen werden. Auch wenn sie sich selbst später von dieser Auffassung distanzierte (Thomä u. Kächele,

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1989), gewann diese Auffassung großen, meines Erachtens problematischen Einfluss, insbesondere in der Schule Melanie Kleins (Reich, 2014). Im Zusammenwirken mit dem von Klein und Bion entwickelten Konzept der projektiven Identifikation konnte so nahezu jegliches Erleben und Handeln des Therapeuten als durch den Patienten induziert verstanden werden. Die englische Analytikerin Hanna Segal kritisierte die Anwendung des Konzeptes als »Pseudo-Erklärung« (zit. nach Reich, 2014, S. 748). Sie kommentierte die Entwicklung: »M. E. ist die Vorstellung von der Gegenübertragung ein wenig zu bequem geworden. Zum Beispiel wird sie oft als Ausrede für ein Agieren gebraucht. Ein Analytiker sagt zum Beispiel, ›der Patient hat das in mich hineinprojiziert‹. […] Klinische Beispiele führen vor Augen, wie sehr die Gegenübertragung […] als Schlüssel zum Verstehen des Patienten dienen kann, wie sehr sie andererseits aber auch in die Irre führen kann« (Segal, 2008, S. 17, 20). Frau L. im Fallbeispiel hat mich in einen Handlungsdialog verwickelt – und ich sie! Möglicherweise waren in meinem »Anschieben« auch projektiv verschobene Anteile ihrer sie ängstigenden Expansivität und Progression enthalten. Aber sicher nicht nur. Die häufig anzutreffende Formulierung, der Therapeut werde vom Patienten in entsprechende Enactments verwickelt, greift meines Erachtens zu kurz. Er wird verwickelt, aber er bringt auch eigene Eigenheiten ein. »Wir sind nicht nur Projektionsflächen, und je wahrhaftiger wir […] uns selbst einbeziehen, desto mehr haben wir die Chance, analytisch zu handeln und zu verstehen« (Marx, 2010, S. 248). Ebenso wie »Abstinenz« kennzeichnete auch der Begriff »therapeutische Ich-Spaltung« ursprünglich eine Forderung an die Patienten. Mertens kennzeichnet sie folgendermaßen: »Auf der einen Seite muss es dem Analysanden möglich sein und ermöglicht werden, sich dem psychoanalytischen ›Als-Ob‹ zu überlassen, d. h. Gefühle von Scham, Zweifel, Enttäuschung gegenüber der als vordergründig zunächst als verläßlich eingeschätzten Therapeutenperson in einer zumeist übertragungsmäßig bedingten Konstellation zu erleben; auf der anderen Seite darf das ›analysierende Ich‹ des Patienten nicht von diesen Leidenschaften überrannt werden, damit seine selbstreflexiven Ich-­Funktionen nicht zum Erliegen kommen« (Mertens, 1992, S. 29). Vereinfacht ausgedrückt soll die therapeutische Ichspaltung dem Patienten ermögli-

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chen, quasi mit einem Ich-Anteil frühere wie auch aktuelle Gefühle in der Therapie intensiv zu erleben. Zugleich oder zeitversetzt soll ein anderer Ich-Anteil insoweit einen Abstand herstellen können, dass das Erlebte reflektiert und verstanden werden kann. Die Fähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung wurde ehemals als Voraussetzung für eine Psychoanalyse-Indikation gesehen. Aus heutiger Perspektive überrascht nicht, dass ein auf dieser Basis hergestelltes Arbeitsbündnis als guter Prädiktor für den Therapieerfolg galt (Mertens, 1992), da die Fähigkeit zur therapeutischen Ich-Spaltung in diesem Verständnis einen hohen Grad der Affekt- und Impulssteuerung voraussetzt, der es ermöglicht, einen selbstreflexiven Abstand zum Erleben einzunehmen. Realistisch kann man dies aber im Rahmen der Krankenbehandlung sicherlich häufig kaum voraussetzen, sondern allenfalls als Therapieziel anstreben. Hilfreicher erscheint mir das Konzept der therapeutischen Ich-­ Spaltung, wenn es (wie bei der Abstinenz) als Forderung nicht auf die Patienten, sondern auf die Therapeuten gerichtet wird. Von diesen ist genau diese Gleichzeitigkeit gefordert, sich auf die Bezogenheit mit dem Patienten einzulassen, gleichzeitig die Fähigkeit zur Reflexion des Beziehungsgeschehens zu entwickeln und letztlich das Verarbeitete und Verdaute in der eigenen Reaktion/Verbalisierung für den Patienten nutzbar zu machen. Möglicherweise meint Krause (2012, S. 52 f.) Ähnliches, wenn er zur therapeutischen Empathie schreibt: »Empathie hat […] auch einen kognitiven und einen prosozialen Handlungsanteil, der mindestens ebenso bedeutend wie der affektive ist. Das Zusammenspiel dieser kognitiv-affektiven Handlungsprozesse in einer Beziehung können wir als den Kern des psychotherapeutischen Geschehens betrachten. […] Der professionelle Vorgang der Empathie fordert […] vom Therapeuten […] eine Art Spaltung der eigenen Person in einen erlebenden, beobachtenden und handelnden Anteil. Ist nur einer davon schlecht entwickelt, oder geht durch die Schwierigkeiten, die das Geschehen häufig mit sich bringt, im Funktionieren zurück, ist der Therapeut in Schwierigkeiten. Nur noch erleben zu müssen bedeutet den Verlust der Steuerung. […] Nur zu beobachten macht den Patienten zum Objekt. […] Nur zu handeln verhindert das Verstehen, und gar nicht zu handeln ist steril […]. Wir alle geraten fortlaufend und ziemlich regelhaft in verschiedene Extreme hinein, um dann aber auch hoffentlich wieder aus ihnen herauszufinden. Da ein Zustand gewissermaßen als Abwehr

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gegen die anderen benutzt werden kann, sollte man als Therapeut innerlich sehr alarmiert werden, wenn man plötzlich nur mehr fühlt oder nur mehr beobachtet, denkt und handelt.«

Behandlungsstil und Therapeutenpersönlichkeit »Von der Persönlichkeit des Therapeuten wird es abhängen, unabhängig von welcher Schule er kommt, unabhängig auch von der Diagnose, welche Methoden und Techniken er bevorzugt. Er wird immer auch gemäß seiner eigenen inneren Struktur handeln« (Bogyi, 1997, S. 195). Interaktionsbeiträge des Therapeuten wurden bereits beschrieben, lange bevor das Schlagwort von der »Zwei-Personen-Psychologie« (Bettighofer, 2016, S. 42) populär wurde. Eindrücklich, wenn auch sehr schematisch, hat bereits Riemann (1959/1998, 1964/1998) typische Interaktionsprobleme zwischen Therapeuten und Patienten in Abhängigkeit von der psychischen Struktur beider Interaktionspartner beschrieben. Mit ihm bin ich überzeugt, dass der individuelle Therapiestil (zu Nähe einladend oder distanzierter bleibend, stärker die affektiven oder die kognitiven Anteile fokussierend, eher aktiv oder eher zurückgenommen agierend usw.) vorrangig von der Therapeutenpersönlichkeit und erst in zweiter Linie von sachlichen oder wissenschaftlichen Überlegungen bestimmt ist. Leicht finden wir im Pluralismus der Psychotherapietheorie die zu unserer Struktur passenden Überlegungen und Argumente, von denen wir dann glauben, sie würden uns leiten: »In der Psychotherapie gilt, dass persönlich motivierte Indikationen für ein bestimmtes therapeutisches Vorgehen oft mit scheinobjektiven Argumenten rationalisiert werden« (König, 1994, S. 127). Therapeutenpersönlichkeiten, die auch sonst in ihrem Leben eher zum Schweigen tendieren, werden vermutlich in ihrer Therapietechnik eher das Schweigen perfektionieren (bzw. eine Therapiemethode wählen, in der sie viel schweigen dürfen). Analytiker mit zwanghaften Strukturanteilen werden möglicherweise der Widerstandsanalyse eine besondere Bedeutung zuweisen, ohne zu ahnen, dass möglicherweise ihre eigene Rigidität entsprechende Widerstände erst hervorruft. Und natürlich »ist es z. B. einem depressiv strukturierten Therapeuten

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ohne weiteres möglich, seine eigenen unbewussten Ängste vor Verlassenwerden und Konfrontation zu vermeiden, indem er einen schwerpunktmäßig empathischen Behandlungsstil entwickelt und für dessen Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit auch entsprechende gute Argumente finden kann« (Bettighofer, 2016, S. 65). »Es bleibt natürlich jedem vorbehalten und anheim gestellt, sich für so gut analysiert zu halten, dass er über diesen Struktureigenschaften steht in seinen eigenen Augen« (Riemann, 1964/1998, S. 127). Trotz Lehranalyse und Selbsterfahrung erscheint auch bei Psychotherapeuten die Charakterstruktur relativ stabil. Sie kann im Rahmen der Entwicklung in der Regel zwar abgemildert oder erweitert werden, bleibt in ihren Grundzügen aber wohl doch erhalten. Umso wichtiger ist aber die Entwicklung des Wissens und der Reflexion der eigenen Eigenheiten. Letztlich ist es fruchtbarer, seine Persönlichkeit selbstreflexiv in die Therapie einzubeziehen, als sie hinter der Methode zu verbergen. Es hat also »keinen Sinn, den Einfluss der Person des Therapeuten auf den Patienten vermeiden zu wollen. Es kann behandlungstechnisch nur darum gehen, diesen Einfluss vorauszusetzen, ihn ernst zu nehmen und seine konkrete Wirkung auf den Patienten systematisch zu untersuchen, um ihn für das Verstehen der gesamten Übertragungssituation fruchtbar zu machen« (Bettighofer, 2016, S. 60).

»Ich schiebe Sie mal an!« – Fortsetzung Bei Frau L. prägte der Impuls des Anschiebens meine Gegenübertragung wiederkehrend. Trotz einer grundsätzlich positiven Entwicklung, in der sie mehr Zutrauen in ihre eigenen Kompetenzen entwickelte, wurde ich latent ungeduldig. Immer mal wieder war ich nicht ganz zufrieden, wollte mehr. Ihre emotionalen und körperlichen Reaktionen zeigten dann die Überforderung an. Dabei blieb Frau L. in ihrer eigenen Verfassung sehr auf meine Resonanz bezogen, wobei allein stimmliche Variationen sie verunsichern konnten. Therapiepausen, mehr noch gespürte Tendenzen von Ungeduld ebenso Sitzungen mit konfrontierenden und fordernden Interventionen lösten häufig Unsicherheit, ängstliche Spannung bis zur Panik aus in der Phantasie, vom Therapeuten jetzt abgelehnt oder weggeschickt zu werden. Beispielsweise reichten anfänglich die konkrete Nachfrage nach der Umsetzung einer in einer vorangegangenen Sitzung geäußerten Absicht und die Deutung des »Vergessens« im Sinne einer Vermeidung, um bei ihr im Anschluss an die Sitzung ein Überschwemmtwerden mit Verlustängsten, Zittern und diffusen Ängsten auszulösen.

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Mir fiel auf, dass ihre Stimme im Sitzungsverlauf jedes Mal neu von einer piepsigen zu einer festeren Stimme wechselte. Ich griff Körperausdruck und Vokalität der Begrüßungsszene auf und die Assoziationen führten uns zu dem Bild, als müsse sie jedes Mal neu zunächst sagen: »Ich bin klein, tu mir nichts!« Ihre große Angst, ausgeschimpft und bestraft zu werden, konnten wir biografisch mit dem Schlagen und Brüllen des Vaters verbinden, nur langsam konnte sie die Möglichkeit wohlwollender Reaktion auf Fehler überhaupt wahrnehmen und beginnen zu internalisieren. Frau L. beschrieb die von ihr verlässlich wahrgenommenen Sitzungen überwiegend als sehr unterstützend. Dennoch fühlte sie sich manchmal emotional so aufgewühlt, dass vorübergehend die Menge der Burger, mit denen sie sich im Anschluss an die Sitzungen bei McDonalds »abstopfte« zum Quasi-Gradmesser der sonst nicht beherrschbaren Beunruhigung wurde. Dabei gelang es Frau L., dieses Agieren in späteren Sitzungen aufzugreifen und eine Sprache für ihr Erleben zu finden. Sie suchte den Kontakt und die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter, der sie sehr übel nahm, dass sie ihr einen sexuellen Übergriff durch den Stiefvater im Alter von 14 Jahren nicht geglaubt hatte. Sie verzweifelte an der Reaktion ihrer Mutter, die den Vorfall zwar einräumte, aber damit abtat, der Stiefvater habe eben betrunken Mutter und Tochter verwechselt. Auch hier hätte ich sie gerne zu einer konsequenteren Ablösebewegung »angeschoben«. Doch irgendwann konnte ihr Widerstand auch Worte finden. »Ich kann keine weiteren Enttäuschungen mehr ertragen und doch brauche ich meine Familie einfach!« Warum ließ der Impuls nicht nach, »anschieben« zu wollen? Über meine Eigenanteile hinaus hielt ich es behandlungstechnisch für notwendig, fühlte mich darin auch etwa von H. E. Richter bestätigt, wenn er bezogen auf Ängste schrieb: »Deshalb ist Psychotherapie dann am erfolgreichsten, wenn sie mit dem Analysieren beharrliches Anspornen verbindet« (Richter, 1992, S. 106). Ich war einerseits begeistert von Frau L. und ihren erkennbar werdenden Ressourcen. Andererseits forderten ihre Verharrungstendenz und die Schwerfälligkeit der Entwicklung meine Geduld erheblich heraus. Sie konnte die Notwendigkeit einer Aktivierung und Tagesstrukturierung als Voraussetzung für eine weitere psychische Stabilisierung akzeptieren. Gleichzeitig lösten perspektivische Überlegungen große Versagensängste bei narzisstisch überhöhten Selbstansprüchen aus. Als sie nach vielen Zwischenstufen eine ungelernte Vollzeittätigkeit aufnahm, Erfolge erlebte und finanzielle Unabhängigkeit erreichte, freute ich mich mit ihr, hätte mir gleichzeitig aber mehr gewünscht. Und auch als sie sich langfristig für einen Partner entschied, war ich mit ihrer Wahl nicht wirklich einverstanden. Ich sagte es natürlich nicht, aber ich glaube, sie merkte es doch. »Er macht mir keine Angst«, sagte sie und erklärte mir, dass nach ihren gewaltsamen Erfahrungen mit Männern sie vielleicht gerade ein Überlegenheitsgefühl benötigte, um sich auf eine Partnerschaft einlassen zu können.

Natürlich ist es in diesem Rahmen nicht möglich, auch nur andeutungsweise den Behandlungsverlauf dieser insgesamt über sieben Jahre geführten modifizierten psychoanalytischen Psychotherapie zu beschrei-

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ben. Ich hoffe, dass die Vignetten dennoch die Verschränkung von Handeln und Erleben in der Therapie zumindest andeuten können. Frau L.s Rück- und Neueroberung der Fähigkeit zu Wachstum und Entwicklung wäre ohne »Anschieben« nicht möglich gewesen. Gleichzeitig benötigte dieses Anschieben der permanenten Regulation, Reflexion und feinfühligen Abstimmung in der therapeutischen Beziehung. Dabei galt es, immer wieder zwischen den tatsächlichen Entwicklungsbedürfnissen der Patientin und meinem therapeutischen Ehrgeiz zu differenzieren. Alfred Adlers Postulat, die eigene »Sache auf nichts zu stellen« (Adler, 1928/2010, S. 323), beschreibt meines Erachtens eine anzustrebende Haltung, um die immer wieder gerungen werden muss. Und auch seine Forderung, »sich niemals über seinen Erfolg Gedanken [zu] machen« (Adler, 1929/2010, S. 344), muss meines Erachtens differenziert werden. Wie jeder Chirurg und Handwerker sollten wir erfolgreich sein wollen. Dafür werden wir bezahlt und unsere Patienten erwarten zu Recht, dass wir uns mühen, erfolgreich zu sein. Jedoch sollten wir für uns den Erfolg nicht so sehr benötigen, dass wir darüber nötigend würden.

Schluss: Die Kunst, ein Arbeitsbündnis zu schmieden und zu erhalten »Die Ergebnisse der Therapieforschung haben in aller wünschenswerten Klarheit gezeigt, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung entscheidend ist für die Prognose jeder Form der Psychotherapie, auch der Psychoanalyse.« (Küchenhoff, 2010, S. 91) »Der originäre und emanzipatorische Beitrag der Psychoanalyse zur Gestaltung einer hilfreichen Beziehung zwischen Therapeut und Patient [besteht] nicht in der gezielten Beeinflussung, sondern in der Reflexion und im Verstehen dessen, was in der Begegnung zwischen ihnen geschieht und über den Vorgang der Externalisierung innerer Konflikte in Szene gesetzt wird.« (Bettighofer, 2016, S. 15)

Der Therapeut muss immer wieder ein Arbeitsbündnis herstellen, in dem es gelingt, die unmittelbaren Beziehungserfahrungen und die Reflexion darüber miteinander zu integrieren. Sowohl verbale Interaktionen wie auch die unmittelbaren Begegnungen in Handlungs­dialogen

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können sich entwicklungsfördernd, aber auch entwicklungshemmend bis -zerstörend auswirken. Nur über den gemeinsamen Austausch und die gemeinsame Reflexion kann es gelingen, zu verifizieren, wie das entsprechende Handeln oder Intervenieren sich im Erleben des Patienten abbildet. Dabei wird es darauf ankommen, den Sinn solcher Sequenzen u. a. vor dem Hintergrund der Biografie und des Lebensstils (des Patienten und des Therapeuten) zu verstehen und durch sprachliche Symbolisierung auch für den Patienten verstehbar zu machen (Ermann, 2017a). Dies setzt voraus, »dass der Therapeut die Fähigkeit bewahrt, über seine Art des sogenannten Enactment bzw. des Mitagierens in der Gegenübertragung selbstkritisch nachzudenken« (Boll-Klatt u. Kohrs, 2018, S. 186). Ich stimme Weiß (2018) zu, dass das Wesentliche einer psychoanalytischen Behandlung in der analytischen Haltung liegt, in jener inneren Haltung, die gleichzeitiges Betroffensein und Nachdenken beinhaltet und die dadurch gesichert wird, dass der Therapeut einen Rahmen schafft, der diese Gleichzeitigkeit ermöglicht. Sich auf emotionale Verwicklungen mit Patienten einzulassen, darin die Heftigkeit ihrer Not und ihrer wie auch der eigenen Affekte zu spüren, auf sie mit feinfühliger Resonanz zu reagieren und doch eine nicht verschmolzene, getrennte, verstehende und reflektierende Haltung aufrechtzuerhalten und zur Verfügung zu stellen – das macht meines Erachtens die Kunst und das Handwerk psychodynamischen Arbeitens aus.

Literatur Adler, A. (1928/2010). Psychologie und Medizin. In G. Eife (Hrsg.), Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937). Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3 (S. 321–330). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1929/2010). Problems of Neurosis (Neurosen: Zur Diagnose und Behandlung). In G. Eife (Hrsg.), Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1913–1937). Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3 (S. 336– 345). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Antoch, R. F. (1985). Psychotherapie. In R. Brunner, R. Kausen, M. Titze (Hrsg.), Wörterbuch der Individualpsychologie (S. 351–353). München u. Basel: Ernst Reinhardt. Antoch, R. F. (2000). Adlers Erbe. Zeitschrift für Individualpsychologie, 25 (1), 6–19.

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Norbert Winkler

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität Bedeutung der Interpersonellen Neurobiologie für die Psychoanalyse

Zusammenfassung Die Interpersonelle Neurobiologie (Interpersonal Neurobiology) begreift die Psyche als komplexes System, das unter bestimmten Bedingungen Zustände von Harmonie hervorbringt und ansonsten in Chaos oder Rigidität verfällt. Spaltung wird in dieser Sichtweise als Versuch verstanden, trotz schwieriger Bedingungen einen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Durch eine Fallvignette werden die Notwendigkeit von Spaltungen und Möglichkeiten ihrer Integration aufgezeigt. Abschließend wird ein Vorschlag für ein erweitertes Behandlungsprinzip in der psychodynamischen Therapie/Psychoanalyse gemacht.

Vorbemerkung Kurz nach meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker am Alfred Adler-Institut in Mainz 2007 begann ich dort als Dozent zu arbeiten und bereitete u. a. auch die Seminare zur Einführung in die Hirnforschung vor. In dieser Zeit fiel mir das Buch »Das achtsame Gehirn« von Daniel Siegel (2007) in die Hände, das mich beim Lesen sofort in seinen Bann zog und dazu bewog, mich in die weitere Literatur des Autors einzuarbeiten. Fasziniert hatte mich daran besonders, dass es dem Autor gelang, aus der Fülle von Einzelergebnissen der Hirnforschung einfache Prinzipien herauszukristallisieren, die für mich als Psychotherapeuten von praktischem Belang sind. Zugleich erlaubte mir die Interpersonellen Neurobiologie einen triangulierenden Blick von außen auf das psychoanalytische Theoriegebäude. Wie ich zeigen möchte, kann dies wie eine integrierende Klammer um die oft sehr heterogenen Teiltheorien der Psychoanalyse fungieren.

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität203

Die Interpersonelle Neurobiologie Begründet wurde die Interpersonelle Neurobiologie von Daniel J. Siegel. Er ist Psychiatrieprofessor an der School of Medicine der University of California in Los Angeles (UCLA) und auch in eigener Praxis mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen tätig. Ein weiterer wichtiger Wegbereiter ist Allan N. Schore, ebenfalls Psychiatrieprofessor, Psychoanalytiker in eigener Praxis und u. a. Verfasser von »Affektregulation und die Reorganisation des Selbst« (Schore, 2009). Die Interpersonelle Neurobiologie versteht sich als ein interdisziplinärer Ansatz und verbindet so unterschiedliche Wissensgebiete wie u. a. die Anthropologie, Psychologie, Neurowissenschaften, Psychiatrie, Soziologie. Das zentrale Merkmal der Interpersonellen Neurobiologie ist für mich, die Welt, den Menschen und insbesondere seinen Geist (Mind) als komplexe, selbstorganisierende Systeme zu begreifen. Solche Systeme bestehen aus Elementen, die im Miteinander eine Funktionseinheit bilden, die wiederum mehr als nur die Summe der Teile darstellt. Der Geist entsteht für Siegel in diesem Sinne nicht einfach im Gehirn, er ist auch kein »Ding an sich«, sondern ist Teil eines verkörperten und interpersonellen Prozesses (Siegel, 2017). Bis zu diesem Punkt finden sich sehr ähnliche Ansätze auch in der »Embodied Cognitive Science«, wie sie z. B. von Fuchs (2013) in seinem Buch »Das Gehirn – ein Beziehungsorgan« gut dargestellt wird oder wie sie auch von Leuzinger-Bohleber (2018) im Zusammenhang mit der Traumagenese chronisch depressiver Patienten ins Feld geführt wird. Mit besonderer Prägnanz jedoch hat für mich die Interpersonelle Neurobiologie herausgearbeitet, wie es lebendigen Systemen gelingt, ein inneres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten und dabei zugleich auf sinnvolle Weise offen für die Einflüsse aus der Umwelt zu bleiben. Siegel ist dabei auf ein ebenso simples wie umfassendes Prinzip gestoßen, denn es braucht dazu eigentlich nur die Erfüllung von zwei Bedingungen: Eine ausreichende Differenzierung der Systemelemente voneinander bei gleichzeitiger Herstellung einer Verbindung zwischen den Elementen. Steht Differenzierung und Verbindung in einer guten Balance, spricht Siegel von Integration. Ist die

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Balance in die eine oder andere Richtung gestört, entgleisen selbstorganisierende Systeme in zwei Richtungen: Entweder in Richtung Chaos oder in Richtung Rigidität oder das System springt zwischen beiden Polen hin und her. Als Metapher für Integration wählt Siegel gern ein Boot, das in der Mitte eines Integrationsflusses fährt und versucht, nicht an dem einen Ufer des Chaos oder dem anderen Ufer der Rigidität zu stranden. Diese systemische Sichtweise wendet Siegel in gleicher Weise auf die menschliche Psyche und das Gehirn an. In Bezug auf das Gehirn lautet seine These: Es braucht auch hier das richtige Verhältnis aus Differenzierung verschiedener funktioneller Bereiche und einer ausreichenden Kommunikation zwischen diesen Bereichen. Gelingt dies, wird es subjektiv vom jeweiligen Menschen als wohltuend und harmonisch empfunden. Der Mensch fühlt sich sowohl mit sich im Reinen als auch mit seiner Umwelt verbunden und kann flexibel auf sie eingehen, ohne sich selbst zu verlieren. Integration auf geistiger Ebene und der Ebene des Gehirns ist damit für Siegel fast gleichzusetzen mit Wohlbefinden und seelischer Gesundheit. Wem innere Integration gelingt, besitzt darüber hinaus auch mehr Resilienz gegenüber Beeinträchtigungen von außen. Immer dann aber, wenn es bei Menschen zu einem Missverhältnis zwischen innerer Differenzierung und Verbindung kommt, ergeben sich auch im Gehirn und Erleben Zustände von Chaos, Rigidität oder ein schneller Wechsel zwischen beidem. Siegel geht sogar so weit, dass sich die gesamte Palette der in den Diagnosemanualen aufgelisteten Störungen im Prinzip auf diese drei Systemzustände zurückführen lässt. Depression wäre dann z. B. eine Entgleisung in Richtung Rigidität der Gefühlslage hin zu rein negativen Gefühlen. Eine manische Phase wäre die Entgleisung in Richtung Chaos der Gefühlslage und des Handelns. Bei einer Bipolaren Störung hätten wir es mit einem Wechsel zwischen diesen Polen zu tun. Analog zur Betrachtung des integrierten Zustands kommt es bei einem schlecht integrierten Zustand zu einer Entkopplung von der sozialen Umwelt. Das psychische System des Betreffenden ist aufgrund seiner Rigidität oder seines chaotischen Zustands nicht in der Lage, flexibel und angepasst auf die sozialen Signale und Anforderungen einzugehen. Es kommt zu entsprechenden Problemen mit den

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität205

Menschen im Umfeld. Außerdem besitzt ein Mensch, dessen Psyche schlecht integriert ist, wenig Resilienz und ist anfällig für Störungen aus der Umwelt. In seinem ersten, umfassenden Werk »Wie wir werden, die wir sind« (Siegel, 2006) unterscheidet Siegel neun Bereiche oder Domänen der Integration unseres Geistes und Gehirns, ohne dass ich an dieser Stelle näher auf die einzelnen Domänen eingehen kann (eine gute Zusammenfassung findet sich bei Siegel, 2012, S. 374 ff.): –– die verschiedenen Bereiche des Bewusstseins integrieren, –– die linke und rechte Hirnhälfte integrieren, –– das untere Gehirn und obere Gehirn integrieren, –– das Gedächtnis integrieren, –– die narrative Integration, –– die verschiedenen Teile des Selbst integrieren, –– das Selbst und die anderen integrieren, –– die zeitliche Integration, –– die Integration der Identität. In diesem Modell gesprochen, wäre es die Aufgabe eines Psychotherapeuten, seine Patienten dabei zu unterstützen, herauszufinden, in welchen Bereichen er weniger integriert ist, um dann die richtige Balance aus innerer Differenzierung und Verbindung (wieder)herzustellen.

Bezug zum Tagungsthema »Spaltung – Ambivalenz – Integration« Nachdem ich nun den Begriff der Integration aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie betrachtet habe, möchte ich einen weiteren Bezug zum Tagungsthema herstellen und auch den Begriff der Spaltung mit der Interpersonelle Neurobiologie in Beziehung setzen. Dabei stellen sich für mich zwei Fragen: –– Was geschieht in dem komplexen System von Geist, Gehirn und interpersonellen Beziehungen, wenn wir als psychodynamisch Denkende von Spaltung sprechen? –– Warum bzw. wozu »machen« lebende, selbst-organisierende Systeme so etwas überhaupt?

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Zur Beantwortung der ersten Frage habe ich mir verschiedene Definitionen von Spaltung im psychodynamischen Denken angeschaut, die ich drei Grundauffassungen zuordnen konnte: 1. Spaltung als strukturell unreifer Abwehrmechanismus (z. B. bei Kernberg, 1983, S. 45), in der Form, dass Selbst- und Objektrepräsentanzen in miteinander unvereinbar gute und böse Teile aufgeteilt werden. 2. Die Unterteilung in horizontale und vertikale Spaltung bei Kohut (Milch, 2001, S. 119 ff.): Bei der horizontalen Spaltung handelt es sich um das Unbewusstmachen psychischer Inhalte und Impulse durch Verdrängung und Verneinung, während bei der vertikalen Spaltung offensichtlich unvereinbare Teile des Selbst voneinander getrennt gehalten werden. 3. Spaltung in der Traumaliteratur (Reddemann, 2017; Sachsse, 2004; Fischer u. Riedesser, 2009): Bei Überforderung der Psyche in existenzieller Bedrohung werden verschiedene Erlebensbereiche (Handlungen, Gefühle, Gedanken und Körperwahrnehmung) voneinander getrennt verarbeitet. Meines Erachtens liegt allen drei Definitionen die Idee zugrunde, dass es im psychischen Geschehen zu Trennungen kommt und ganzheitliches Erleben dadurch unterbunden wird. Die Parallele zur systemischen Betrachtungsweise der Interpersonelle Neurobiologie drängte sich mir förmlich auf. Wenn wir in der Psychoanalyse also von Spaltung sprechen, würde die Interpersonelle Neurobiologie davon ausgehen, dass bestimmte Elemente des psychischen Systems zu stark voneinander differenziert werden und/oder zu wenig miteinander verbunden werden. Damit kommen wir zur zweiten Frage: Warum und wozu »machen« Menschen als lebende, selbst-organisierende Systeme so etwas wie Spaltung überhaupt? Im Prinzip leiten sich die Gründe für Spaltungen aus Sicht der Interpersonelle Neurobiologie ganz organisch aus ihrer Grundannahme über den menschlichen Geist ab. Da der Geist ohnehin als ein Grenzphänomen verstanden wird, das im Zusammenwirken des verkörperten Nervensystems und in der Interaktion zwischen Menschen auftritt, lässt sich Spaltung in Gehirn und Geist mit ebensolchen Spaltungsphänomenen in der Interaktion zwischen Menschen in Verbindung bringen. Diese liegen nach Siegel (2017) immer dann

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vor, wenn das subjektive Erleben des anderen missachtet wird und/ oder darüber kein emphatischer Kontakt hergestellt wird. Wie sich unschwer erkennen lässt, tauchen auch hier die beiden Bedingungen für integrierte Systeme – Differenzierung und Verbindung – wieder auf: hier in ihrer Negation. Als ein Extrembeispiel für eine massiv desintegrierte Interaktion können Traumatisierungen in Bindungsbeziehungen angesehen werden. Hier wird die Erfahrung gemacht, dass die eigene subjektive Erfahrung aufs Ärgste ignoriert wird und darüber kein eingestimmter Kontakt mehr stattfinden kann und darf. Es kommt dadurch zu sehr ausgeprägten Spaltungsphänomenen nicht nur in der Psyche. Gehirne von Menschen mit chronischen Traumatisierungen durch Bindungspersonen zeigen Rückbildungen derjenigen Strukturen, die ansonsten für die Herstellung von Verbindungen zwischen verschiedenen anderen Hirnstrukturen zuständig sind: u. a. im Hippocampus, dem Balken als Verbindungsglied zwischen der linken und rechten Gehirnhälfte und im präfrontalen Kortex (Teicher et al., zit. nach Siegel, 2016, S. 223; Leuzinger-Bohleber, Roth u. Buchheim, 2008, S. 81).

Fallbeispiel: Die Interpersonelle Neurobiologie in der ​psychotherapeutischen Praxis Als Beispiel für die Beachtung der Grundidee der Integration im Sinne der Interpersonelle Neurobiologie in der psychotherapeutischen Arbeit möchte ich den Verlauf einer tiefenpsychologisch fundierten Jugendlichentherapie vorstellen. Meine Wahl fiel auf den folgenden Fall, der eine eher ungewöhnliche Mischung aus einer umrissenen Frühtraumatisierung mit einer ansonsten unbelasteten Lebensgeschichte aufweist. Die Prägnanz dieser Konstellation bietet mir die Möglichkeit, aufzuzeigen, wie es möglich war, mithilfe der Integration verschiedener Selbstanteile, selbst sehr frühe Belastungsmomente des Patienten psychotherapeutisch zu bearbeiten. Paul (Name geändert) war zu Beginn der Behandlung 17 Jahre alt und wurde mir schon fast schuldbewusst von seinem Vater telefonisch »ans Herz gelegt«. Bei seiner Geburt sei es buchstäblich um Leben und Tod für ihn und seine Mutter gegangen und dies habe sicherlich einen bleibenden Eindruck bei seinem Sohn hinterlassen. Im bald folgenden Erstgespräch berichtete mir Paul (cool-flippige Ausstrahlung im Metallica-T-Shirt, lange Haare zum Zopf gebunden), dass er sich depressiv fühle, seit sich seine erste Freundin ein Jahr zuvor von ihm getrennt

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habe. Während er sich von außen betrachtet robust empfinde, fühle er sich innerlich seitdem sehr verletzlich und zerbrechlich. Er habe sich mit seiner Freundin sehr eng und auf eine »kindlich-unschuldige Weise« verbunden gefühlt. Nach 20-monatiger Beziehung habe diese aber »keine Gefühle mehr« für ihn empfunden und sich recht kurz entschlossen von ihm getrennt. Dies habe ihm zunächst »den Boden unter den Füßen weggerissen« und für Wochen in einen Ausnahmezustand versetzt. Über die Tatsache der Trennung als solche sei er nun hinweggekommen. Es habe sich aber eine »Dunkelheit« in ihm eingestellt. Er müsse mehrfach am Tag weinen, ohne dass ihn das nachhaltig beruhige. Nur mit Mühe könne er sich in seiner Ausbildung zum Industriemechaniker tagsüber beherrschen, während es dann abends umso heftiger aus ihm herausbreche. Er berichtete auch von einem ausgeprägten Morgentief, habe an Sonntagabenden vor der Arbeitswoche Angst, dass die Welt untergehe, könne sich in der Berufsschule kaum konzentrieren und bleibe deshalb weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Auch die gute Einbindung in seine Arbeit, seinen Freundeskreis und seine Familie (in der Kernfamilie gibt es außerdem eine zwei Jahre jüngere Schwester) könnten nicht verhindern, dass er sich einsam und bedürftig nach etwas fühle, was er selbst nicht fassen könne. Er wolle nur, dass diese Zustände endlich aufhörten. Die spätere Diagnostik ergab für den Beginn der Therapie eine schwere depressive Episode, spezifische Phobien (vor Höhen, Spinnen und Spiegeln) und Panikattacken. Im Sinne der Interpersonellen Neurobiologie können wir sehen, dass sich Paul nach einer Phase des Gefühlschaos nach der Trennung irgendwann am rigiden Ufer der Depression festgefahren hatte. Mit der Vorinformation seines Vaters lenkte ich das Erstgespräch nun auf das Thema des verfrüht Geborenseins. Gar nicht überrascht über diese Frage, berichtete mir Paul, dass er in der 32. Schwangerschaftswoche mit 1.000 Gramm Gewicht mittels Notkaiserschnitt auf die Welt geholt wurde, da seine Mutter einen akuten Krankheitszustand (HELLP-Syndrom) hatte. Ich fragte den Patienten, ob er sich vorstellen könne, dass die abrupte Trennung seiner Freundin, mit der er bis dahin eine sehr enge und verschmolzene Beziehung geführt hatte, ihn an dieses verfrühte und plötzliche Geholtwerden aus dem Mutterleib erinnert haben könnte. Paul nickte zwar bejahend, aber dies machte auf mich eher einen rein verstandesgemäßen Eindruck ohne erkennbare emotionale Betroffenheit seinerseits. Hier nun setzte ich das integrative Vorgehen der Interpersonellen Neurobiologie ein, das Erleben des Patienten einem Teil seines Selbst zuzuordnen (Differenzierung), um dann eine Verbindung zu ihm herzustellen. Ich stellte in den Raum, dass die depressiv anmutenden Symptome des Patienten Ausdruck des Leids eines viel zu früh geborenen inneren Säuglings sein könnten und – wenn dies so sei –, dass es dann in erster Linie darum gehe, die Symptome nicht einfach zu beseitigen, sondern dass Paul lernen müsste, diesen Teil von sich besser zu versorgen. Spontan veränderte sich daraufhin sein Gesichtsausdruck, er griff sich mit der rechten Hand ans Herz und sagte sichtlich gerührt: »Jetzt wird es mir ganz warm ums Herz, Herr Winkler! Da scheint etwas dran zu sein!« Bereits in der ersten Stunde führte diese Integration eines Teils des Selbst auch zu einer beginnenden Integration im Sinne der Domäne der narrativen Inte-

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität209 gration. Denn Paul stellte alsbald im Gespräch selbst die These auf, dass dieser abrupte und schmerzhafte Start in sein Leben bei ihm permanent zu Kampf und Rebellion gegen die gesamte Welt geführt hatte, die ihm »so etwas angetan« hatte. Er konnte sich gut erinnern, dass er als Kind fast durchgängig gegen seine Eltern und später fortwährend gegen die Schule und seine Lehrer angekämpft habe. Wie im Zwang habe er dies tun müssen, obwohl ihm selbst nicht klar war, warum. Paul begann also damit, sich Aspekten seiner Lebensgeschichte aus einem neuen Blickwinkel gegenüberzustellen. Die einfühlende Verbindung mit dieser Geschichte geschah dann im weiteren Verlauf der Therapie. Paul wurde allmählich klarer, dass er – mit Alfred Adler gesprochen – den Lebensstil »Angriff ist die beste Verteidigung« entwickelt hatte: Verteidigung gegen eine als unerträglich erlebte Verletzung des bis zum siebten Schwangerschaftsmonat aufgebauten Urvertrauens durch das abrupt zerrissene Bindungsband zum mütterlichen Objekt und die dann erfolgte, medizinisch notwendige Gewalt. Dass ihm dies und seiner Mutter das Leben gerettet hatte, war im Prinzip schon in der allerersten Stunde dem Teil des Selbst voll bewusst, der als fast Erwachsener vor mir saß, nicht aber – so meine These – anderen, »jüngeren« Anteilen seines Selbst. Nachfolgend möchte ich aufzeigen, wie es gelingen konnte, diese Anteile besser zu integrieren. Am liebsten hätte Paul seinen gerade entdeckten »inneren Frühchen« schon nach der ersten Stunde aus dem Brutkasten herausgenommen. Intuitiv spürte er jedoch auch, dass dies nicht so einfach möglich war. Die Kontaktaufnahme zu ihm musste sehr behutsam erfolgen, indem Paul ihm einen kleinen Finger in den Brutkasten steckte – den dieser umklammerte (in der zweite Stunde) – und ihn dann ab und an imaginativ aus dem Kasten nahm und sich über die Schulter oder auf den Bauch legte (ab der fünften Stunde, auch außerhalb der Therapiesitzungen). Verschiedene, seltsam anmutende Erlebensphänomene des Patienten wurden durch die neue Sichtweise in dieser Zeit plötzlich besser verstehbar: Unter anderem wurde Paul einsichtig, warum er zeitlebens eine unerklärliche Angst vor Spiegeln empfunden hatte mit der Idee, dass ihn dahinter jemand beobachten könnte. Dies entsprach sehr konkret der frühen Lebenswelt des Säuglings im Brutkasten, der hinter der spiegelnden Scheibe die besorgten Blicke der Ärzte, Pflegerinnen und Eltern empfunden zu haben schien. Bereits zur siebten Stunde berichtete Paul von ersten, deutlichen Verbesserungen in seinem Befinden: Er erlebte sich antriebsstärker auch am Morgen, nicht mehr so depressiv, fühlte sich erwachsener und hatte sich zur Führerscheinprüfung angemeldet. Doch parallel zum inneren Frühchen, dem es durch die Zuwendung immer besser ging, tauchten mit Beginn der elften Stunde Hinweise auf einen noch jüngeren Selbstanteil auf. Paul klagte, dass er sich neuerdings von sich selbst und der Welt getrennt und insbesondere von Gott verlassen fühle. Der Glaube an Gott hatte Paul im Leben zuvor oft Kraft und Halt angesichts seiner inneren Unsicherheiten gegeben. Gleichzeitig berichtete mir Paul von einem Traum, in dem er sich in einen Wasserstrudel gerissen fühlte. Dieses Motiv war mir bislang eher im Zusammenhang mit Geburtserlebnissen von spontanen, normalen Geburten bekannt

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Norbert Winkler

(Grof, 1991, S. 115), was Paul ja so gar nicht erlebt hatte. Meine Vermutung war zu diesem Zeitpunkt, dass es hier um die Erfahrung des Selbstanteils des noch ungeborenen Kindes in Paul gehen könnte, dem das verkörperte Erleben einer spontanen Geburt fehlte. Parallel zum Vorgehen mit dem Frühgeborenenanteil sprachen wir daher nun den inneren ungeborenen Selbstanteil an und begannen, einen empathischen Kontakt auch zu ihm herzustellen. Wie Paul erspüren konnte, fühlte sich dieser um eine wichtige Erfahrung betrogen: Aus eigenem Impuls heraus mitbestimmen zu können, wann es für ihn an der Zeit war, auf die Welt zu kommen. Ich bat Paul deshalb, sobald er im Alltag daran dachte, diesem Teil in sich zu soufflieren, dass es nun an ihm sei, zu bestimmen, wann es Zeit für ihn sei, auf die Welt zu kommen. Vor der 16. Stunde passierte dann etwas für mich völlig Unerwartetes: Paul berichtete mir, dass er mit seiner neuen Freundin gekuschelt habe und plötzlich angefangen hatte, schwer zu atmen, was aber keine Panikattacke gewesen sei. Er habe den Eindruck gehabt, »jetzt auf die Welt kommen« zu wollen. Da er mit seiner Freundin zuvor eingehend über seinen Zustand gesprochen hatte, war diese über das Geschehen nicht verwundert, sondern begleitete Paul intuitiv dabei, sich durch Kissen und Decken hindurch einen »Weg auf die Welt« zu bahnen. Paul habe sich im Anschluss daran unmittelbar »auf dem Boden angekommen« und wieder »eins mit der Welt und Gott« gefühlt. In der darauffolgenden Stunde berichtete Paul, dass ihm sein Leben nun zum ersten Mal »richtig Spaß« mache und er sich voller Energie und Lebensfreude empfinde. Diesem recht frühen Durchbruch folgten erwartungsgemäß im Therapieverlauf Rückschritte, Ambivalenzen und andere Aspekte, die auch mittels eindrucksvoller Träume durchgearbeitet werden konnten. Hierbei traten auch Zustände und Ängste zutage, die verfolgenden und fast psychotischen Charakter hatten. Da bei Paul jedoch stets klar war, auf welch frühe psychische Entwicklungsstufe diese Erlebensphänomene zurückgeführt werden konnten, stand nie eine schizophrene Diagnose zur Debatte. Im weiteren Verlauf der Behandlung wandten wir uns in ähnlicher Weise noch weiteren Selbstanteilen zu. Insbesondere möchte ich hier noch den »inneren Schuljungen« erwähnen. Paul war in seiner Kindheit wegen seiner ständigen Renitenz irgendwann einer Psychiaterin vorgestellt worden, bekam von ihr die Diagnose ADHS und wurde vom dritten bis neunten Schuljahr mit Methylphenidad behandelt. Durch dieses Nicht-Verstehen seiner psychischen Situation fühlte sich Paul zum zweiten Mal in seinem Leben verletzt und verstoßen, sowohl durch die behandelnden Ärzte wie durch seine Eltern. Es galt, die Wut des inneren Schuljungen ernst zu nehmen und ihm allmählich das Verständnis zukommen zu lassen, dass sich der Patient im Hinblick auf seine Frühgeburt erarbeitet hatte. Zu einer tieferen Versöhnung mit den elterlichen Objekten konnte es geraume Zeit später kommen, als ein erweiterter Blick auch auf die Traumatisierung der Eltern durch das Geburtserlebnis und ihr daraus folgendes Unvermögen in der Einfühlung für Paul sichtbar wurde. Für den Patienten hatte es nun etwas Verbindendes, zu sehen, dass im Prinzip alle zusammen etwas sehr Schweres zu tragen hatten.

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität211 Nach etwas mehr als zwei Jahren und 45 Stunden tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie mit einer Behandlungsfrequenz von einer Stunde alle zwei Wochen ist Paul ein ruhigerer und zugleich energievoller junger Mann geworden, der mit Kraft in die Zukunft blickt und sein Leben neu genießen gelernt hat. Er malt und fotografiert wieder gerne, hat sich eine Werkstatt eingerichtet, in der er seine eigenen Möbel herstellt. Er steht kurz vor der Abschlussprüfung und wird in der Firma übernommen, in der er seine Lehre gemacht hat. Die Symp­ tomatik hat sich durchgängig gebessert: Er fühlt sich selten und kaum noch depressiv, die Phobie vor Spiegeln ist verschwunden, der Höhenangst kann er sich zumindest gut entgegenstellen, und es traten keine Panikattacken mehr auf. Und wie hat sich sein Lebensstil gewandelt? Statt »Kampf ist die beste Verteidigung« teilte mir Paul vor Kurzem mit, dass sich sein Lebensgefühl verändert habe und formulierte dies mit den Worten: »Gott steht vor der Tür und klopft an – und ich kann ihn nun hereinlassen.«

Fazit Die Erkenntnisse der Interpersonellen Neurobiologie decken sich mit verschiedenen moderneren psychoanalytischen Theorien. So spricht z. B. die Selbstpsychologie davon, dass wir bestimmte Selbst-­ObjektErfahrungen machen müssen, damit wir ein kohärentes Selbst entwickeln können (Milch, 2001). Die Bindungsforschung hebt die Bedeutung der elterlichen Einstimmung für die Entwicklung einer sicheren Bindung hervor (Seiffge-Krenke, 2004). Und nicht zuletzt: Die in den letzten Jahren immer breiter diskutierte Mentalisierungstheorie hat die Bedeutung der markierten Spiegelung hervorgehoben, damit sich ganz basale strukturelle Funktionen des Ich entwickeln können (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004). Man könnte deshalb die Frage stellen, wozu es mit der Interpersonellen Neurobiologie noch eine Theorie mehr braucht. Macht das die Sache nicht noch komplizierter, als sie im heterogenen analytischen Theoriegebäude ohnehin schon ist? Mir ging es mit der Vorstellung des Denkansatzes der Interpersonellen Neurobiologie jedoch nicht um eine weitere Theorie, sondern um die Frage: Lässt sich durch einen differenzierenden Blick von außerhalb des psychoanalytischen Theoriegebäudes das Verbindende der analytischen Theorien besser sehen als das Trennende? Seit Längerem beschäftigt mich u. a. die Frage, ob sich das Arbeiten mit Selbstanteilen, wie ich diese in der Psychodynamisch Imaginati-

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Norbert Winkler

ven Traumatherapie bei Luise Reddemann (2017) kennengelernt habe, auch bei Menschen fruchtbar anwenden lässt, die nicht im klassischen Sinne an einer Traumafolgestörung leiden. Mein Eindruck nach über zehn Jahren Arbeit in eigener Praxis und als Supervisor ist sogar, dass gerade das empathische innere »Zugehen« und »Versorgen« von abgespaltenen Selbstanteilen eine oft überraschend schnelle und zugleich nachhaltige Wirkung zeigt. Aber ich habe mich auch gefragt, ob und wie dies mit dem psychoanalytischen Verständnis vereinbar ist – auch im Sinne eines theoretischen statt eines rein technischen Eklektizismus. Und hier kommt für mich das systemische Prinzip der Integration der Interpersonellen Neurobiologie ins Spiel. Ich möchte vorschlagen und zur Diskussion stellen, das Grundprinzip der Psychoanalyse, das Unbewusste bewusst zu machen, zu ergänzen mit Folgendem: Die Psychoanalyse versucht, das nicht Integrierte zu integrieren – durch Differenzierung und Verbindung. Diese erweiterte Definition könnte es möglich machen, als Analytiker mehr Flexibilität im Denken und Handeln zu entwickeln – flexibel auf die jeweiligen Bedürfnisse und Probleme unserer Patienten einzugehen mit der gefühlten inneren Überzeugung: Wenn ich an der Integration meiner Patienten durch Differenzierung und Verbindung arbeite, kann ich nicht auf dem falschen Weg sein und »unanalytisch« handeln.

Literatur Fischer, G., Riedesser, P. (2009). Lehrbuch der Psychotraumatologie (4. Aufl.). München: Ernst Reinhardt. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Fuchs, T. (2013). Das Gehirn – Ein Beziehungsorgan: Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption (4. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Grof, S. (1991). Geburt, Tod und Transzendenz. Neue Dimensionen in der Psychologie. München: Kösel. Kernberg, O. F. (1983). Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Leuzinger-Bohleber, M. (2018). Chronische Depression, Trauma und Embodiment: Eine transgenerative Perspektive in psychoanalytischen Behandlungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Flussfahrt zwischen Chaos und Rigidität213 Leuzinger-Bohleber, M., Roth, G., Buchheim, A. (Hrsg.) (2008). Psychoanalyse – Neurobiologie – Trauma. Stuttgart: Schattauer. Milch, W. (2001). Lehrbuch der Selbstpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Reddemann, L. (2017). Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie: PITT. Das Manual (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Sachsse, U. (Hrsg.) (2004). Traumazentrierte Psychotherapie: Theorie, Klinik und Praxis. Stuttgart: Schattauer. Schore, A. N. (2009). Affektregulation und die Reorganisation des Selbst (2. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Seiffge-Krenke, I. (2004). Psychotherapie und Entwicklungspsychologie. Berlin u. a.: Springer. Siegel, D. J. (2006). Wie wir werden, die wir sind: Neurobiologische Grundlagen subjektiven Erlebens und die Entwicklung des Menschen in Beziehungen. Paderborn: Junfermann. Siegel, D. J. (2007). Das achtsame Gehirn. Freiamt: Arbor. Siegel, D. J. (2012). Pocket guide to interpersonal neurobiology: an integrative handbook of the mind. New York: Norton & Company. Siegel, D. J. (2017). Mind: a journey to the heart of being human. New York: Norton & Company.

Regine Kroschel

Menschen in der DGIP Interview1 mit Gisela Eife

Unter der Überschrift »Menschen in der DGIP« werden auf den jährlichen Tagungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie Personen gewürdigt, die in unterschiedlichen Kontexten mit der Individualpsychologie verbunden sind. Dabei geht es bei den Vorgestellten nicht nur um deren sachliche Verdienste für unsere psychoanalytische Fachgesellschaft – es geht auch darum, sie als Menschen in ihren persönlichen Eigenarten, Entwicklungen und Handlungsmotiven sicht- und spürbar werden zu lassen. Bereits auf der Jahrestagung der DGIP 2006 in Delmenhorst hatten Nicole Welter und Fee Schäfer den langjährigen Vorsitzenden der DGIP, Rainer Schmidt, interviewt und zu seiner Geschichte in der deutschen und internationalen individualpsychologischen Bewegung befragt. 2013 berichtete Karl Heinz Witte, der Gesamtherausgeber der »­Alfred Adler Studienausgabe«, am Rande der Jahrestagung in München über seine Tätigkeiten für das Münchner Adler-Institut und die DGIP. 2014 sprachen Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Doreen Röseler in Berlin mit Ulrike Lehmkuhl, Gerd Lehmkuhl und Ronald Wiegand über deren langjährige Tätigkeiten: als Vorsitzende der DGIP (Ulrike Lehmkuhl), die Herausgeberschaft der Zeitschrift für Individualpsychologie (Ronald Wiegand und Gerd Lehmkuhl) und das Engagement aller drei u. a. in der ›Fachgruppe Wissenschaft‹ der DGIP. 2015 interviewten Elisabeth Fuchs-Brüninghoff und Marion Werth die Gruppenanalytiker Ulrich Seidel und Günter Vogel und erinnerten besonders an deren Verdienste hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Tradition individualpsychologischer Gruppenpsychotherapie und ihrer Weiterentwicklung. 1 Überarbeitete Fassung des 60-minütigen Gesprächs vom 4.11.2018.

Menschen in der DGIP215

2016 führten Marion Werth und Norbert Winkler ein 105-minütiges Gespräch mit drei Personen, die – teilweise schon während ihrer Ausbildung – durch öffentliche Beiträge und die verantwortliche Übernahme wichtiger Aufgaben auf sich aufmerksam gemacht hatten: Anna Zeller-­ Breitling, Jennifer Lamberty und Stefan Nauenheim. Ihnen gemeinsam war und ist, dass sie im Bereich der analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie tätig sind. Im vergangenen Jahr stellte Pit Wahl seinen ehemaligen Lehranalytiker Günter Heisterkamp in einer besonderen, interviewähnlichen Form vor: In einer Performance wurde unter Bezugnahme auf das Märchen von »Hans im Glück« und mithilfe von Bild- und Tondokumenten Heisterkamps Leben und Schaffen dargestellt. In diesem Jahr, 2018, sprechen zwei Medizinerinnen miteinander: Regine Kroschel befragt Gisela Eife, die u. a. über Jahrzehnte hinweg am Alfred Adler Institut München die dortige Ambulanz leitete, zwei Jahre den Vorsitz der DGIP innehatte, sich als Herausgeberin des dritten Bandes der Alfred Adler Studienausgabe einen Namen gemacht hat und die in jüngerer Zeit die beachtenswerte Monografie »Analytische Individualpsychologie in der therapeutischen Praxis – Das Konzept Alfred Adlers aus existentieller Perspektive« veröffentlicht hat.

Die Interviewerin Regine Kroschel ist Fachärztin für Psychiatrie. Sie hat ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin am Alfred-Adler-Institut in Berlin gemacht, ist dort heute als Vorstandsvorsitzende, Lehranalytikerin (DGIP/DGPT), Supervisorin und Dozentin tätig. Einen Schwerpunkt ihrer praktischen psychotherapeutischen Tätigkeit bildet die Arbeit mit psychotisch erkrankten Patientinnen und Patienten.

Das Interview Regine Kroschel: Es ist nicht einfach, aber eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe, den Zuhörern meine Kollegin Gisela Eife vorzustellen. Es ist nicht etwa schwierig, weil es nicht viel zu ihr zu sagen gäbe – im

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Gegenteil: Es gibt so viel von ihrem reichen und produktiven Schaffen zu erzählen, dass wir gar nicht dazu kämen, etwas über sie persönlich zu erfahren, wenn ich jetzt alle Tätigkeiten auch nur aufzählen würde, die sie für das Alfred Adler Institut München, für die DGIP und die Individualpsychologie insgesamt erbracht hat. Wenn ich allein die Artikel und Bücher nennen würde, die sie im Laufe ihres Lebens veröffentlicht hat, würde von unserer kostbaren Interviewzeit zu viel verloren gehen. Aber ich will einleitend hier doch kurz meinen persönlichen Eindruck von ihrer Arbeit wiedergeben: Gisela Eife ist eine äußerst fachkundige, kompetente Streiterin mit Leidenschaft und großer Kenntnis für das Heben und Bewahren des Schatzes, den Alfred Adler uns hinterlassen hat – ein Vermächtnis, das sie für hochaktuell hält. Ohne Übertreibung kann man wohl sagen, dass sie gegenwärtig eine der bedeutendsten Individualpsychologinnen im deutschsprachigen Raum ist – sowohl hinsichtlich ihrer praktischen Tätigkeit als auch in Bezug auf die individualpsychologische Theoriebildung. Gisela Eife: Gestern haben Regine und ich noch einmal über Heute gesprochen, und sie hat mich u. a. gefragt: »Doppelte Dynamik, das stammt doch von dir?« Da habe ich gesagt: »Nein! Der Begriff stammt von Adler selbst, er hat ihn verwendet!« Ich habe den dritten Band der Alfred Adler Studienausgabe genommen, fand das Zitat zuerst nicht (lacht), dann aber doch. Es lautet: »In jeder seelischen Ausdrucks­ bewegung ist demnach neben dem Grad des Gemeinschaftsgefühls das individuelle Streben nach Überlegenheit festzustellen und an anderer Stelle zu bestätigen. So werden wir erst beruhigt die Akten schließen, wenn wir diese doppelte Dynamik im neurotischen Symptom genau in der gleichen Weise spielen gesehen haben wie in irgendwelchen anderen Lebensäußerungen« (Adler, 1929/2010, S. 353). Ich würde gerne später auf diese Aussage noch einmal ausführlicher zurückkommen. Es lohnt sich wirklich, Adler im Original zu lesen. Außerdem – vielleicht kann ich schon hier darauf hinweisen – erscheint im Frühjahr bei Vandenhoeck & Ruprecht mein E-Book über die Entwicklung von Adlers Theorie (Eife, 2019).

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Regine Kroschel: Darauf würde ich mich mit dir zusammen jetzt gerne zubewegen: auf deine Arbeiten, die du früher und in neuerer Zeit veröffentlicht hast. Beginnen möchte ich aber mit der Frage: Wie bist du überhaupt zur Individualpsychologie gekommen? Gisela Eife: Auf vielen Umwegen. Ich bin ja vom Grundberuf her Ärztin – aber eigentlich war ich mit dieser Berufswahl nicht immer glücklich. Ich wusste zunächst nicht, was ich studieren sollte. Mein Inte­ resse galt der Germanistik und der Philosophie, aber ich konnte mir nicht recht vorstellen, was ich mit diesen Fächern anfangen sollte und wie ich mit ihnen Geld verdienen könnte. Bei Medizin wusste ich es. Ich konnte mir etwa vorstellen, in einem Missionshospital in Afrika zu arbeiten. Heute würde ich sagen, ich könnte mit diesem Beruf zu »Greenpeace« oder zu »Ärzte ohne Grenzen« oder zu einer ähnlichen Organisation gehen. Aber in meiner klassischen ärztlichen Laufbahn war ich dann zunächst sehr unglücklich. Ich merkte, ich gehöre da eigentlich nicht hin. Für die somatischen Fächer hat mir allerdings ein halbes Jahr in der Pathologie in Chicago sehr geholfen. Nach dem deutschen und dem amerikanischen Examen bin ich mit meinem Exmann für drei Jahre nach Denver, Colorado, gezogen. Dort habe ich in den Ambulanzen der Nachbarschaftskliniken gearbeitet – als Springerin. Ich wurde in der Früh angerufen, man sagte mir, wo gerade jemand fehlt, und dort war dann für diesen Tag mein Arbeitsplatz. Von Vorteil war für mich, dass ich dort mit unserem Baby in der Tragetasche ankommen konnte, bis wir endlich eine Tagesmutter gefunden hatten. Aber nach zwei Jahren durften ausländische Ärzte dort nicht mehr arbeiten. Ich hatte Glück: In der Forschungsgruppe meines Exmannes bekam ich ein Stipendium für ein Jahr und arbeitete dort an der Wirkung von Lymphotoxin – ein Stoff, der in der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielt. (Lymphotoxin ist ein Produkt der T-Lymphozyten.) Eine Veröffentlichung am Ende des Jahres half mir, in München bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine halbe Forschungsstelle zu bekommen, für sechs Jahre. Mir half auch, dass Professor Brendel von der Chirurgie an meinem Forschungswissen interessiert war. Ich weiß nicht, ob einige hier sich an die erste Herztransplantation erinnern, die von Christiaan Barnard in Südafrika durchgeführt wurde. Profes-

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sor Brendel flog dorthin, mit Gammaglobulin im Gepäck. Gamma­ globulin sollte die Abstoßung des Herzens verzögern oder verhindern. In diesem Zusammenhang interessierte Professor Brendel, ob und wie Gammaglobulin die Wirkung von Lymphotoxin hemmt. Regine Kroschel: Das war damals hochaktuell, stand in der Tagespresse. Christiaan Barnard war ein Star! Gisela Eife: Ja, das war einerseits alles ganz spannend, aber ich merkte auch: Mein Herz hängt nicht an diesem Thema, an dieser sicherlich wichtigen Forschung. Aber ich wusste immer noch nicht, wohin ich mich orientieren sollte. Ich versuchte zunächst, eine halbe Facharztstelle zu bekommen, in der Kinderheilkunde. Der Direktor des Schwabinger Krankenhauses stellte mir eine in Aussicht, aber erst in ein paar Jahren, wenn sie frei würde. Dann sagte mir ein befreundeter Psychiater: »Das Adler-Institut ist doch bei dir um die Ecke! – Willst du nicht eine psychotherapeutische Ausbildung machen?« Mir war das Institut noch nie aufgefallen, und von Alfred Adler wusste ich zu diesem Zeitpunkt auch nichts. Und doch entschloss ich mich, diesen Weg einzuschlagen. Ich musste allerdings noch ein ganzes Jahr warten, bis 1980 ein neuer Kurs begann. In dieser Wartezeit begann meine – wie soll ich es nennen – »Zurückzur-Natur-Phase«. Mein Exmann hatte ein altes, verfallenes Bauernhaus im Allgäu gekauft. Es lag auf einer Anhöhe in einem Weiler zusammen mit zwei weiteren Höfen. Es war wunderschön dort. Ich war glücklich und dachte, hier finde ich eine Heimat. Unsere drei Kinder (damals 6, 8 und 9 Jahre alt) hatten Spielkameraden im gleichen Alter, und wir verbrachten dort jedes Wochenende und alle Ferien. Da mein Exmann wenig Zeit hatte, fing ich mit dem Jungbauern an, unser Bauernhaus zu renovieren. Das sah z. B. so aus: Er holte mich in der Früh ab, wir gingen in die Grube und leerten sie erst einmal. Wir fingen mit ganz grundlegenden Veränderungen an, haben das verfallene Dach des Stallgebäudes entfernt und erneuert usw. Von den Bauersfrauen lernte ich, wie man Sauerkraut mit den Füßen einstampft, und viele andere wichtige Dinge. Dann brachte mein Exmann Küken mit nach Hause, Eintagsküken. Wir zogen sie in der Badewanne in München, unter einer Wärmelampe, groß. Als sie zu groß waren, um

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in unserem Reihenhausgarten zu leben, nahmen wir sie dann mit ins Allgäu – zur Freude des dortigen Fuchses! Der hat sie nämlich nach und nach alle aufgefressen. Zweimal haben wir noch eine Hühnerzucht begonnen. Außerdem hatten wir noch drei Schafe, aber die auf längere Zeit zu halten, war uns dann doch nicht möglich. Im Bauernhaus gab es auch einen Webstuhl. Für kurze Zeit dachte ich, dass ich vielleicht auch weben könnte. Aber den Gedanken habe ich ganz schnell aufgegeben und mich stattdessen Adler zugewandt. Regine Kroschel: Ja, und mir fällt auf, dass das Zeiten waren, in denen in einem städtischen Reihenhausgarten noch keine Füchse lebten. Damals waren Füchse scheue Tiere, die nur im ländlichen Allgäu lebten und nicht in München wie die schlauen Füchse heute … Jedenfalls bist du schließlich doch zu Alfred Adler gekommen und hast der somatischen Medizin vollständig den Rücken gekehrt. Gisela Eife: Man könnte sagen: Ich habe sie fast vergessen! (lacht) Regine Kroschel: Die Begrifflichkeiten aber sicher nicht so ganz – wenn ich daran denke, wie du eben noch über T-Lymphozyten und Gammaglobulin gesprochen hast! Was hast du denn dann im Alfred-Adler-­ Institut gefunden? Was hat dich da fasziniert? Gisela Eife: Da möchte ich zunächst von der Atmosphäre dort sprechen. Wenn in den letzten Jahren in der Dall’Armistraße2 in der Mitgliederversammlung darüber gesprochen wurde, was uns als Ausbildungs­ institut auszeichnet, wurde ständig von der Freundlichkeit, der Toleranz und der Atmosphäre des Hauses gesprochen, und ich fragte mich: Wo bleibt denn eigentlich Adler? Aber dann erkannte und spürte ich: Die Atmosphäre, das Miteinander – das gehört zu Adler! Das ist ganz individualpsychologisch! Das ist einfach ein Teil der Mitmenschlichkeit

2 Im Jahr 1976 bezog das Alfred Adler Institut München ein Haus in der Dall’Armistr. 24, in Neuhausen-Nymphenburg, in dem bis zum Umzug des Instituts in die Widenmayerstraße 17 im Jahr 2018 der Ausbildungs­ betrieb und die Institutsambulanzen (für Erwachsenen- sowie für Kinderund Jugendlichenpsychotherapie) untergebracht waren.

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oder des Gemeinschaftsgefühls, und insofern kann ich jetzt wirklich sagen: Die Atmosphäre im Institut hat mich berührt. Auch die gemeinsame Ausbildung der Berater, Kinder- und Jugendlichen- und Erwachsenenpsychotherapeuten. Und – die Lehranalyse war sehr wichtig für mich. Meine erste Lehranalytikerin war Frau Dr. Böning, eine jungianisch orientierte Adlerianerin, später war ich dann bei Dr. Rolf Schellack in Analyse. Er war psychoanalytisch und philosophisch orientiert. Und von ihm lernte ich u. a., wichtige und grundlegende Fragen zu stellen, z. B. die Frage: »Worum geht es der Patientin, worum geht es dem Patienten?« Eine solche Frage ernsthaft zu stellen und nach einer treffenden Antwort zu suchen, führt natürlicherweise zunächst einmal dazu, dass man in Schweigen versinkt. Man kann eine solche Frage ja eigentlich kaum beantworten. Es ist nämlich gleichzeitig eine Frage nach dem Ganzen der Lebensbewegung. Bis heute habe ich in all meinen Therapien diese Frage immer in mir, in meinem Fühlen und Denken. Das Ganze der Lebensbewegung lässt sich nie endgültig, immer nur annähernd beantworten, und das meist erst gegen Ende einer Therapie und selbstverständlich abhängig von der therapeutischen Beziehung, in der sich die Lebensstile von Therapeutin und Patientin begegnen. Die Frage nach dem Lebensstil ist fast wichtiger als die Antwort. Die Frage hilft mir, mich nicht im Dies und Das der einzelnen Stunden zu verlieren. Wenn man achtsam ist, dann ist das Ganze einer Lebensbewegung in jedem Phänomen zu erkennen – oder, wie Adler (1929/2010, S. 353) sagt, wir finden »die doppelte Dynamik im neurotischen Symptom genau in der gleichen Weise […] wie in irgendwelchen anderen Lebensäußerungen«. Regine Kroschel: Bei unserem Vorgespräch hattest du die Frage noch etwas anders gestellt, nämlich: »Worum geht es der Patientin?« Und: »Worum geht es ihr eigentlich?« Gisela Eife: Ja genau. So wie ich es verstehe, geht es zunächst um die Frage nach dem aktuellen Streben der Patientin, nach ihrem neurotischen Lebensstil. Patienten und Patientinnen kommen ja zu uns in die Therapie, weil sie in ihrem Streben gescheitert sind und anstelle des fiktiven Ziels leidvolle Symptome entwickelt haben. Oft wollen sie

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aber zunächst einmal, dass man ihnen hilft, ihre neurotischen Ziele doch noch irgendwie oder sogar effektiver zu erreichen. Die andere Frage aber ist: »Worum geht es der Patientin eigentlich?« Was, welches Bedürfnis steht hinter ihrem neurotischen Ziel, das sie auf ihre bisherige Weise irrtümlich und erfolglos zu erreichen suchte? Wenn ich diese Frage zusammen mit der Patientin untersuche, stelle ich immer wieder fest, dass hinter den vordergründigen Zielen – zu herrschen, Macht über andere auszuüben, zu siegen etc. – eigentlich der Wunsch steht, zu einer friedlichen Gemeinschaft zu gehören, mit anderen positiv verbunden zu sein und geliebt zu werden. Allerdings kann man Gemeinschaftsgefühl auch erstreben; es kann dann sogar als neurotisches Ziel verwendet werden. Neurotisch oder irrtümlich daran ist, dass man glaubt, ein solches Ziel aus eigener Kraft erreichen zu können. Regine Kroschel: Das Streben war viel zu anstrengend oder entsprach gar nicht ihren Qualitäten, ihren Talenten usw.? Das zu erkennen und zu eröffnen, das finde auch ich jedes Mal spannend. Du formulierst diese Zusammenhänge immer wieder und immer noch mit den Worten und Begrifflichkeiten von Alfred Adler. Du redest nicht von Spaltung oder von Integration oder von Ambivalenz – benutzt also nicht die Begriffe, die in diesem Jahr als Tagungsthema gewählt wurden. Gisela Eife: Auf der Rolltreppe heute fühlte ich mich ambivalent (lacht). Dieser umgangssprachliche Begriff ist sinnvoll. Ich hatte das Gefühl, ich will da jetzt gar nicht rauf, hier in den Vortragssaal im ersten Stock. Heute Morgen hatte ich noch ein wenig Zeit, Benedetti zu lesen, und merkte plötzlich, dass ich mit Ihnen (den Zuhörern) hier innerlich rede und dabei Benedetti (1992, S. 13) zitiere. Das Zitat lautet: »Auf diese existenzielle Frage, die jeder psychisch kranke Patient an mich stellt, […] kann ich als Therapeut und Mitmensch nur mit dem Einsatz meiner gesamtpersönlichen Existenz antworten, wobei alle Technik, alles Wissen, alle Theorie nur die selbstverständliche, ›handwerkliche‹ Grundlage sind.« Wie kam ich jetzt auf Benedetti? Regine Kroschel: Du wolltest von Ambivalenz sprechen.

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Gisela Eife: Ach ja. Und von meiner Angst auf der Rolltreppe. Vielleicht hat Benedetti zur Angst beigetragen, nämlich, die Angst, ob ich dem gewachsen bin, mit dem Einsatz meiner gesamtpersönlichen Existenz zu antworten. Aber zurück zu meiner Ambivalenz, umzukehren oder weiterzugehen. Regine Kroschel und ich hatten uns vorgenommen, uns heute – ohne festen Plan – von unseren Einfällen leiten zu lassen, außerdem versicherten wir uns, dass wir auch scheitern dürfen. Aber auf der Rolltreppe hatte ich Angst, blockiert zu sein und wie eine jämmerliche Gestalt ohne Einfälle auf dem Podium zu stehen. Sie merken, das berühmte Minderwertigkeitsgefühl, dessen »vorwiegendste Ausprägung« die Angst ist (Adler, 1928/2010, S. 327). Die Angst kann uns einer Situation ausweichen lassen oder sie wird kompensiert durch ein Streben nach einem Ziel der Überlegenheit und Sicherheit, gemildert mehr oder weniger durch die Rücksichtnahme auf die Gemeinschaft, also durch das Gemeinschaftsgefühl. Da ich nicht ausgewichen, sondern gekommen bin, könnte man vermuten, ein Streben nach Anerkennung leitete mich. Das glaube ich weniger, obwohl im Unbewussten meiner Meinung nach prinzipiell jeder Impuls uns zur Verfügung steht. Ich vermute, mein Vertrauen, dass mir schon etwas einfallen wird, war groß genug und ließ mich weitergehen. Nun habe ich den Begriff der Ambivalenz ins Adlerianische, in meine individuelle Lebensbewegung auf der Rolltreppe übertragen und als doppelte Dynamik beschrieben. Zurück zu deiner Frage: Spaltung, Integration und Ambivalenz sind wichtige Phänomene in der Therapie; wie wir damit umgehen, gehört zum therapeutischen Handwerkszeug, das ich voraussetze. Wenn mir ein Phänomen begegnet, das ich noch nicht oder ungenügend kenne, hole ich mir diese Information u. a. aus der Objektbeziehungstheorie oder von Melanie Klein, wo immer ein solches Phänomen beschrieben worden ist. Adlerianisch wäre dann z. B. die Frage: Wie kommt es, dass diese Patientin gerade jetzt in der Beziehung zu mir als Therapeutin dieses Phänomen zeigt, welchem unbewussten Ziel könnte dies dienen und welche Funktion könnte es »im Ganzen ihrer Lebensbewegung« haben? Regine Kroschel: Die doppelte Dynamik ist ein Ausdruck von Adler, den er benutzt, aber nicht so ausformuliert und ausdifferenziert hat,

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wie du es tust. Du sagst, dieser Begriff ist zentral für Adlers gesamte Theorie. Wie kommst du zu dieser Aussage? Kannst du deinen Weg dorthin schildern? Gisela Eife: Ja. Es begann mit der Arbeit am dritten Band der Alfred Adler Studienausgabe. Ich habe vor der Herausgabe die in diesem Band veröffentlichten Aufsätze unzählige Male gelesen, und dabei fiel mir eben dieser Begriff auf, den er in der Schrift »Die Individualpsychologie in der Neurosenlehre« 1929 verwendet. Der Satz, auf den ich mich beziehe und der weiter oben ja bereits zitiert wurde, lautet: »In jeder seelischen Ausdrucksbewegung ist demnach neben dem Grad des Gemeinschaftsgefühls das individuelle Streben nach Überlegenheit festzustellen und an anderer Stelle zu bestätigen. So werden wir erst beruhigt die Akten schließen, wenn wir diese doppelte Dynamik im neurotischen Symptom genau in der gleichen Weise spielen gesehen haben wie in irgendwelchen anderen Lebensäußerungen« (Adler, 1929/2010, S. 353). In diesem Satz ist für mich das Wesentliche der Adler’schen Theorie enthalten, das, was ihn und seine Gedanken ausmachen. Schon 1918 hat Adler hat von der doppelten Bezogenheit der Figuren Dostojewskis (Adler, 1918/2009) gesprochen. Er charakterisiert diese Personen als schwankend zwischen Nächstenliebe und Heldentum – Heldentum verstanden im Sinne eines Bestrebens, herauszuragen, überlegen und mächtig zu sein und auch andere beherrschen zu wollen. Aber erst 1929 griff Adler dieses Thema wieder auf. Mit der Formulierung der doppelten Dynamik versucht Adler, das menschliche Leben insgesamt in einen lebensphilosophischen Entwurf zu fassen. In dieser ganzheitlichen Sichtweise sind alle seine theoretischen Linien verbunden. Das heißt, das ganze menschliche Leben ist von dieser doppelten Dynamik bestimmt. Deshalb stellt dieses Konzept für mich den inneren Zusammenhang von Adlers Theorie dar. Regine Kroschel: Ich muss gestehen, dass ich eine Weile brauchte, um diesen Satz und seine grundlegende Bedeutung umfassend zu verstehen. Im Kern spricht Adler ja davon, dass in jedem neurotischen Symptom, aber auch in jedweder anderen Lebensäußerung etwas Widersprüchliches enthalten ist: nämlich sowohl das Streben nach Überlegenheit (und

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Bemächtigung des Gegenübers) als auch der Wunsch nach Verbundenheit mit anderen Menschen auf einer friedlichen und gleichberechtigten Basis bzw. die Sehnsucht nach Geborgenheit in einer Gemeinschaft. Gisela Eife: Was du an der doppelten Dynamik widersprüchlich findest, sind die zwei Aspekte oder zwei Dimensionen unserer Lebenskraft oder schöpferischen Kraft. Ich sehe die wesentlichste Unterscheidung darin, dass das Gemeinschaftsgefühl ein Gefühl ist, das uns von Anfang an gegeben ist; während das zielorientierte Streben uns eine Eigenmächtigkeit zuschreibt, als ob wir unser Ziel aus eigenem Antrieb und eigener Kraft erreichen könnten. Aber gerade die allgemein menschlichen Dinge, um die es uns geht, wie Liebe, Zugehörigkeit, Gemeinschafts­gefühl, die lassen sich nicht erstreben. Entweder entsteht in einer Gruppe so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl oder es entsteht nicht. Man kann es nicht herstellen oder sogar erzwingen wollen. Jedes Leben, auch das des Kämpfers, setzt die Gemeinschaft voraus, ist gemeinschaftsbezogen, auch wenn das Bewusstsein das Gemeinschaftsgefühl nicht spürt, sondern feindselig ist. Regine Kroschel: Ich selbst versuche, Patienten zu ermutigen, sie selber3 zu sein. Ich halte es für ganz wichtig, so gut es geht, bei sich zu sein und sich nicht ständig an einer Fiktion zu messen, an dem, was man erreichen möchte oder was die Eltern für einen vorgesehen haben. Gisela Eife: Ja, aber dabei fehlt noch der Aspekt der Not, die uns ja veranlasst zu dem Streben nach Vervollkommnung. Hier würde ich gerne anknüpfen an den Vortrag von Herrn Kruse4 und an das von ihm verwendete Wort Verletzbarkeit. Es geht hierbei immer um ganz elementare Grundgefühle. Adler (1928, S. 327) hat ja gesagt: »Angst ist die vorwiegendste Ausprägung des Minderwertigkeitsgefühls.« Es sind solche Grundstimmungen, etwa Gefühle von Haltlosigkeit, die uns dazu bewegen, uns im Leben abzusichern und nach Beständigkeit und Stabilität zu suchen. In Übereinstimmung mit Adler geht es mir – 3 Robert Antoch (2006) definiert Gemeinschaftsgefühl als »Sinn für das Selbstsein im Bezogensein«. 4 Siehe Beitrag von Andreas Kruse (S. 14–37) in diesem Band.

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und anderen – darum, den Zumutungen oder den Schwierigkeiten des Lebens zu begegnen und sie zu bewältigen. Ähnliche Gedanken habe ich auch bei Michel Henry (1992)5, dem französischen Lebensphänomenologen, gefunden. Er meint, dass es bei diesen Themen um existenzielle Lebensgefühle geht. Manche empfinden ihr Leben als eine enorme Last, mit der sie beladen sind und der sie nicht entrinnen können. Diese Last kann für Patienten und Patientinnen so schwer sein, dass sie aufhören wollen zu leben. Im Leben oder innerhalb des Lebens gibt es keine Möglichkeit, dieser Last zu entrinnen. Vielleicht helfen äußere Umstände oder eine Psychotherapie, dass jemand, der so fühlt, wieder Hoffnung schöpft. Nach Sloterdijk (1990)6 ist es notwendig, dass wir eine nachträgliche Zustimmung zu unserer Existenz geben, weil wir ein Leben führen, das wir nicht selbst gewählt, uns nicht ausgesucht haben. Er betont aber, dass wir uns lösen können von den Zumutungen des Lebens, uns wieder hineinziehen lassen können in Anteilnahme und in Räume, die wir mit den Dingen und anderen Menschen teilen. Ich finde das ganz schön. Es geht um diese existentielle Dimension der Individualpsychologie, auch um das, was ich unter Gemeinschaftsgefühl verstehe, ein Gefühl, das im lebendigen Leben selbst wurzelt. Mir ist das ganz besonders wichtig, weil ich selber jahrelang während der Ausbildung von diesem Begriff eher etwas abgestoßen war. Lange konnte ich mit Gemeinschaftsgefühl nur wenig anfangen – das Wort klang mir zu moralisch. Wenn ich es aber auf die oben skizzierte Ebene bringe, wird es für mich verständlich und wesentlich für mein und unser Leben. Regine Kroschel: Du beziehst dich also auf Adler und auf verschiedene andere Philosophen – wie Henry und Sloterdijk – und entwickelst deine eigenen Gedanken hierzu. Kann man sagen, das ist dein Wissenschaftsverständnis?

5 Michel Henry (* 10. Januar 1922 in Haiphong, Vietnam; † 3. Juli 2002 in Albi, Frankreich), französischer Philosoph und Schriftsteller. 6 Peter Sloterdijk (* 26. Juni 1947 in Karlsruhe), deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Buchautor.

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Gisela Eife: Ja. Allerdings sind mir neben den Genannten auch die neueren psychoanalytischen Theoretiker (etwa die der Intersubjektivitätstheorie und der relationalen Psychoanalyse) ganz wichtig. Aber die Philosophen waren immer entscheidend für mich. Ich war zusammen mit meinem Lebensgefährten Karl Heinz Witte etwa fünfundzwanzig Jahre lang mit Unterbrechungen in zwei philosophischen Arbeitskreisen, u. a. in einem Arbeitskreis mit Leo Dümpelmann7. Zusammen haben wir Heidegger8 gelesen und später auch andere Autoren. In einem anderen Arbeitskreis las Rolf Kühn9 in Freiburg mit uns eben den französischen Philosophen Michel Henry, der in Deutschland nicht so bekannt ist. Das hat mir sehr viel gebracht und mein Denken stark beeinflusst. Zunächst habe ich einige Jahre lang vieles von dem, was wir lasen, nicht verstanden, aber irgendwann doch immer mehr. Bei Michel Henry und Rolf Kühn fand ich Adlers Gedanken weitergeführt (Eife, 2016). Das finde ich immer noch ganz wunderbar. Regine Kroschel: Du beziehst dich also ausdrücklich auf zwei verschiedene Disziplinen bzw. Richtungen, die philosophische und die therapeutische, verbindest sie und führst sie weiter. In einem unserer Vorgespräche hattest du Adler mit dem Satz zitiert: »Die Individualpsychologie ist Philosophie« (1932, S. 528). Gisela Eife: Ja, er sagte es und machte sozusagen seine Philosophie zu einer Behandlungsmethode. Und dazu brauchte er nur wenige theoretische Begriffe, die eine Lebensbewegung als Ganzes kennzeichnen. Nun müssen wir ja in den Therapiestunden immer wieder auf Einzelheiten fokussieren und dazu brauchen wir auch die Erkenntnisse anderer psychoanalytischer und psychotherapeutischer Richtungen, ebenso die Erkenntnisse der Hirnforschung und Säuglingsforschung. Diese 7 Leo Dümpelmann, (* 30. Dezember 1935), deutscher Philosoph, zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zu Meister Eckhard, Martin Heidegger, Heinrich Rombach. 8 Martin Heidegger, (* 26. September 1889 in Meßkirch; † 26. Mai 1976 in Freiburg), deutscher Philosoph, als sein Hauptwerk gilt »Sein und Zeit«. 9 Rolf Kühn, (* 1944 in Essen), deutscher Philosoph, übersetzte das Werk des französischen Philosophen Michel Henry ins Deutsche. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Lebensphänomenologie. Erster Gewinner des Alfred-­ Adler-Preises der DGIP 1987.

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Erkenntnisse lassen sich – nicht als Theorieelemente, sondern als Phänomen-Beschreibungen – in die doppelte Dynamik von Lebensstil und Gemeinschaftsgefühl einfügen. Regine Kroschel: Wie können wir, wenn wir Einzelheiten genauer erforschen, auch noch das Ganze einer Lebensbewegung im Blick behalten? Gisela Eife: Bei dieser Überlegung hat mir der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr10 in einem Seminar der Lindauer Psychotherapiewochen sehr geholfen. Er verweist auf die Bedeutung der Ahnung im Erkenntnisprozess und sagt, Ganzheiten könne man nur erahnen. Wenn ich die Dinge genau sehe, fixiere ich mich auf Einzelheiten. Aber Beziehungsstrukturen erkenne ich nur, wenn ich nicht »scharf« sehe. Das Erkennen der Beziehungsstrukturen trotz des unscharfen Sehens nennt Dürr die Ahnung. Ich kann also in den Therapiestunden einerseits immer auf Einzelnes achten und auch fokussiert sein, sollte aber die seinerzeit von meinem Lehranalytiker Rolf Schellack in den Mittelpunkt psychotherapeutischer Arbeit gestellte Frage nie aus den Augen verlieren: »Worum geht es der Patientin?«: Was sind die bewussten und unbewussten Ziele der Patientin und worum geht es ihr im Wesentlichen? Die Antwort auf diese Frage kann ich immer nur erahnen, und wichtiger als die Antwort ist meine innere fragende Haltung. Regine Kroschel: Tatsächlich, die Fragen sind wichtig und die Antworten werden sich ohnehin immer wieder ändern. Ich würde jetzt aber doch gerne noch einmal auf deine Lebensgeschichte zurückkommen. Von Beginn an, so hast du gesagt, war dir das Gemeinschaftsgefühl, das im Institut gelebt wurde, wichtig. Das hat sicherlich auch etwas mit der Person Alfred Adlers zu tun und mit der Selbstverständlichkeit, mit der er Menschen auf Augenhöhe begegnete: Patienten, Neurotikern, Frauen – was für einen Mann seiner Zeit nicht selbstverständlich war. Ich denke, dass wir diese Haltung in allen unseren Adler-Instituten leben. 10 Hans-Peter Dürr (* 7. Oktober 1929 in Stuttgart; † 18. Mai 2014 in München) war ein deutscher Physiker und Essayist.

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Früher und zu Beginn deiner Ausbildung, so hast du mir erzählt, warst du auch Kandidatensprecherin – in einer schwierigen Zeit. Magst du davon noch etwas erzählen? Hier sitzen ja erfreulicherweise auch viele Kandidatinnen und Kandidaten. Gisela Eife: Ja, das war damals, glaube ich, gar nicht so anders, als es heute ist. Ich hatte gedacht: Ich schau mir mal die Versammlung der Ausbildungskandidaten an. Und, wie das oft ist an Adler-Instituten – zumindest in München war und ist das so –, wenn man auftaucht und sich zu Wort meldet, hat man schnell einen Job (Lachen). Regine Kroschel: Tatsächlich, in Berlin ist es auch so. Gisela Eife: Es war wirklich eine schwierige und turbulente Zeit. Herr Mohr war damals geschäftsführender Vorstand des Instituts. Es gab viele Konflikte zwischen ihm und den Dozenten und Dozentinnen, vor allem wegen mangelnder Transparenz. Zum Beispiel erfuhren sie eher zufällig, dass in München kein neuer Kurs geplant sei, sondern nur in Bad Kissingen. Wir Ausbildungskandidaten und -kandidatinnen hörten einmal von ihm, es sei kein Geld da und die Beiträge der Ausbildungskandidaten müssten erhöht werden. Ein anderes Mal war plötzlich wieder Geld da. Wenn wir ihn nach der finanziellen Situation fragten, bekamen wir keine konkrete Antwort. Ein Kandidatensprecher, Wolfgang Ruberg, veranlasste dann, dass unsere Beiträge auf ein Sonderkonto eingezahlt wurden, bis die finanzielle Lage geklärt sei. Dies erzwang meiner Erinnerung nach die Ablösung von Herrn Mohr als Vorstand. Ich habe all das immer als Generationenkonflikt angesehen. Herr Mohr gehörte zu den sechs Gründerfiguren des Instituts, aber er hat es nicht geschafft, seine Machtstellung aufzugeben, die nach und nach neu hinzugekommene Dozentengeneration zu integrieren und die Arbeit auf eine demokratischere Grundlage zu stellen. Daher kam es dann leider zum Bruch mit ihm. Es gab noch andere Unregelmäßigkeiten, aber ich glaube, das Wesentliche war die Notwendigkeit und Überfälligkeit einer Neustrukturierung. Regine Kroschel: Auch in Berlin diskutieren wir ständig darüber, wohin das Geld geht. Waren denn seinerzeit bei euch die Kandidaten und

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Kandidatinnen Teil der Mitgliederversammlung bzw. sind sie es immer noch? Wie macht ihr das in München? Gisela Eife: Ja, sie sind Teil der Mitgliederversammlung. Regine Kroschel: Tatsächlich? Bei uns ist das nicht so. Gisela Eife: Das müsst ihr dann aber bald ändern! (Gelächter) Regine Kroschel: Nun ja, die Adler-Institute haben ja formal unterschiedliche Strukturen und Satzungen – bei uns in Berlin sitzen Kandidatenvertreter im Vorstand und auch im Weiterbildungsausschuss, also sind sie schon gut ins Institutsleben integriert. Allerdings sind sie auf der einmal jährlich stattfindenden Mitgliederversammlung, als der Zusammenkunft derer, die das Institut tragen, nicht dabei. Wie war es denn damals für dich, als du Dozentin wurdest? Ich erinnere mich, dass auch die von Karl Heinz Witte zusammen mit dem »Tölzer Studienkreis« ins Leben gerufene und bis 2017 jedes zweite Jahr in Bernried am Starnberger See stattfindende »Werkstatt für Individualpsychologie« wichtig für dich war. Gisela Eife: Ja, das stimmt – aber zunächst möchte ich noch etwas zum Abschluss meiner Ausbildung sagen. Ende der 1980er Jahre intensivierte sich nämlich mein theoretisches Interesse, weil ich meine Patientin, über die ich in meiner Abschlussarbeit schreiben wollte, nicht verstand. Sie war eine Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und im kasuistischen Seminar waren alle anderen Teilnehmer gegen sie, fanden sie »fürchterlich« – nur ich war für sie. Aber auch ich verstand ihre inneren Beweggründe noch nicht. Also »löcherte« ich meine Dozenten, bis ich verstand, was intentional ist. Das hat mir schließlich, gegen Ende der Therapie, geholfen, sie und ihren bzw. unseren Entwicklungsprozess zu verstehen und zu beschreiben. Das Unverständliche ihrer Wutausbrüche und das Widersprüchliche ihres Verhaltens wurde in einem einheitlichen Prinzip verständlich: Als »Racheengel« kämpfte sie eigentlich für das Gute. Jetzt war mein Interesse geweckt. 1991 organisierte Karl Heinz Witte im Landesverband Bayern eine Vortragsreihe im Münchner Gasteig mit vielen Dozenten und Dozen-

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tinnen des Adler-Instituts – die Vorträge wurden auch veröffentlicht (Witte, 1992). Bei diesem Projekt konnte ich mich mit einem Vortrag beteiligen. Im Anschluss daran wurde ich Dozentin. Nun zu deiner Frage, Regine, nach dem Tölzer »Studienkreis für analytische Individualpsychologie«. Er war 1982 als Arbeitskreis des Landesverbands Bayern von Anne-Els Stadler und Karl Heinz Witte gegründet worden. Ich kam erst später dazu. Wir trafen uns jedes Jahr an zwei Wochenenden in einem kleinen Gasthaus in der Nähe von Bad Tölz. Die Wirtin umsorgte uns ganz rührend. Wir saßen in einem leeren Raum im Kreis am Boden. Die Atmosphäre war meditativ und assoziativ, und wir haben über uns selbst und über unsere Patienten und Patientinnen gesprochen. Die wiederkehrende Fragestellung war: Wie kann unsere Arbeit analytisch sein, ohne das Individualpsychologische zu verlieren? Gelegentlich hat einer dazwischengerufen: »Jetzt muss die Gruppe doch wirklich einmal etwas publizieren!« Aber das haben wir ganz schnell wieder vergessen und weitergearbeitet. Wir behielten diese Art der Zusammenkünfte viele Jahre bis etwa 2010 bei. Ich glaube, eine solche Art gehört auch zum Adlerianischen. Regine Kroschel: Zusammen sein, da sein, Verbundenheit in der Ge­­ mein­schaft spüren? Gisela Eife: Ja, und im Augenblick leben und die wesentlichen Fragen des Lebens bedenken. Vor allem: Unsere persönliche Betroffenheit durch die Probleme unserer psychotherapeutischen Arbeit reflektieren. Der Studienkreis hat auch einen großen Einfluss auf die theoretische Entwicklung des Münchner Alfred Adler Instituts gehabt, da die meisten Mitglieder Dozenten und Lehranalytiker wurden. Die »Werkstatt für Individualpsychologie« fand seit 1992 in Bernried statt. Sie war konzipiert für bis zu fünfzig Teilnehmer. Wir haben dort halbstündige Kurzreferate gehalten, daran schlossen sich andert­ halbstündige Diskussionen in der Großgruppe an. Die 1990er Jahre waren für mich ganz besonders fruchtbar: Wir bildeten uns durch die Referate selbst und gegenseitig weiter. Einmal hatten wir auch Léon Wurmser eingeladen und mit ihm darüber diskutiert, was es eigentlich bedeutet, psychoanalytisch zu arbeiten. Wir lernten ständig dazu. Es war wirklich eine sehr, sehr produktive und schöne Zeit.

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Regine Kroschel: Du hattest in dem Zusammenhang auch Daniel Stern genannt? Was er erforschte, war für viele etwas Neues, die Sichtweise auf Säuglinge als kompetente Lebewesen. Gisela Eife: Wobei ich mich seinerzeit schon, auch auf einer Jahrestagung in Delmenhorst, darüber gewundert habe, warum die Mütter, die da manchmal mit Babys in der Zuhörerschaft saßen, nicht protestiert haben (Gelächter). Regine Kroschel: Hast du protestiert? Gisela Eife: Nein, vielleicht, weil es meine erste Teilnahme an einer Jahrestagung war. Daniel Stern war nicht in Bernried, sondern zu einem Vortrag nach München eingeladen. Seine Forschungsergebnisse, die Sichtweise auf Säuglinge als kompetente Lebewesen, hatte großen Einfluss auf uns alle. Für mich war Stern sehr wichtig, weil er die Bedeutung der Erfahrung und der Beschreibung der unmittelbaren Erfahrung betonte. Das ist es meines Erachtens nämlich, worum es in Psychotherapien eigentlich geht: um verletzte Grundgefühle und die unmittelbare Erfahrung der Patienten. Daniel Stern hat sehr schön beschrieben, dass wir letztlich nicht wissen können, was die unmittelbare, die nicht durch Worte vermittelte Erfahrung ist, denn sobald wir sie in Worte fassen wollen, ist der Moment verstrichen und alles ist schon wieder anders. Also können wir immer nur annähernd vermuten, was wir oder unsere Patienten erlebt haben. Dennoch sind es gerade diese unbeschreiblichen Momente, in denen tiefste Schichten der Erfahrung berührt werden, die oft schrecklich und leidvoll sind, aber auch einen Moment der Versöhnung (und Integration) beinhalten, wenn Patienten und auch wir Zugang zu ihnen bekommen. Auch wenn das Sprechen darüber schwerfällt. Ähnliches meinen übrigens auch Buchholz und Gödde (2005, S. 703), wenn sie sagen, dass man über Seelisches nur in Metaphern sprechen könne. Die Psyche bleibt also letztlich ein Geheimnis – es ist gut, sich das immer wieder zu vergegenwärtigen. Dies bedingt eine Haltung von Achtsamkeit und Respekt vor dem Geheimnis. Somit wäre ich wieder bei Schellack angelangt: Er verglich das Unbewusste mit einem Eisberg – vor der Klimaveränderung –: Unter

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Wasser ist er so riesig, dass er nicht zu erfassen ist, und nur mit dem, was über Wasser ist – also mit dem Bewussten – können wir arbeiten. Aber manchmal blicken wir auch ein bisschen in das Wasser hinein … Regine Kroschel: … und spüren etwas von der Kraft, die den Eisberg unten stabilisiert. Ist ja auch immer ein schönes Bild. Und selbst diese Bilder ändern sich. Ja, der Tölzer Studienkreis, Bernried, das war wichtig, aber dann war offensichtlich – du hattest es schon kurz erwähnt – die Arbeit an der Studienausgabe von großer Bedeutung. Du hast den dritten Band herausgegeben, und dazu gehörte, die in ihm abgedruckten Texte immer wieder zu lesen. Du schriebst Zusammenfassungen zu den einzelnen Texten, ordnetest sie in ihre jeweilige Zeit ein, und hast eine Einleitung für den ganzen Band geschrieben, die die Theorie Adlers noch einmal zusammenfasst und viel Beachtung gefunden hat. Wie kam es, dass dich diese, im Übrigen ja sehr zeitaufwendige Arbeit, so begeistert hat? Gisela Eife: Die Arbeit, den dritten Band herauszugeben, war wirklich zeitaufwendig. Ich arbeitete an Wochenenden und in jedem Urlaub daran für einige Jahre. Aber ich empfand die Arbeit wie ein Geschenk. Das Schöne daran war vor allem, dass ich mich intensiv mit Adlers Schriften befassen konnte. Dadurch erst lernte ich ihn besser kennen und konnte in meiner Einleitung darstellen, wie seine Gedanken sich entwickelt haben, und dies anhand von Zitaten belegen. Den Anstoß dazu, diese Einleitung zu überarbeiten und ins Englische zu übersetzen, bekam ich auf dem internationalen individualpsychologischen Kongress in Minneapolis 2017. Ich hatte den Eindruck, dass die Entwicklung von Adlers Theorie in den USA noch wenig bekannt ist. Der Vandenhoeck & Ruprecht Verlag schlug dann vor, nach einer gründlichen Überarbeitung und mit einem zusätzlichen, neuen Kapitel versehen, eine englische und deutsche Version als E-Book zu veröffentlichen. Die Überarbeitung und Übersetzung war dann viel Arbeit. Regine Kroschel: Für dich war es viel Arbeit, für uns bedeutet dein Engagement einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der Wei-

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terentwicklung der Theorie der Individualpsychologie. Ein weiterer Grund dafür, dass du heute hier auf dieser Bühne sitzt. Gisela Eife: Ich bin nach wie vor begeistert von Adlers Theorie, nicht von allem, was Adler sagte, aber das Konzept der doppelten Dynamik finde ich genial. Gerne würde ich alle, die hier sitzen, mit meinem Interesse und Engagement anstecken. Ich habe es aber nicht so gerne, wenn sich das Interesse auf meine Person konzentriert. Es sollte um die Sache gehen. Karl Heinz Witte hat mich mit seiner Begeisterung für die Schriften von Meister Eckhart11 angesteckt. Meister Eckhart lebte von 1260 bis 1328 und wird gerade von vielen Forschern und Laien wiederentdeckt. Nach Wilfred Bion12 (1994) suchen sich die Gedanken jemand, der sie denkt. Diese Idee, dass, unabhängig von der jeweiligen Zeit, manchmal über Jahrhunderte hinweg immer wieder einmal Gedanken auftauchen, die sich jemanden suchen, der sich weiter mit ihnen beschäftigt, fasziniert mich. Und so denke ich: Adlers Gedanken haben mich gesucht, sodass ich entdecken konnte, wie viele gute und bedeutsame Ideen er hatte und formuliert hat. Und: Ja, ich freue mich, wenn ich sie dann verbreiten kann. Bist du zufrieden mit der Antwort? Regine Kroschel: Es darf ruhig noch ein bisschen mehr werden! Kannst du noch genauer ausführen, was dich an Adler so begeistert? Ich meine, du bist ja nicht nur Denkerin und Theoretikerin, du arbeitest ja gleichzeitig als Psychotherapeutin und machst insofern einen Spagat zwischen Philosophie und angewandter Psychologie. Außerdem: Wir sind beide Ärztinnen. Das heißt, wir kommen zunächst einmal von ganz woandersher, aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin. Allerdings: Adler war auch (zunächst) kein Psychologe, sondern Arzt: Ein herausragendes Beispiel dafür, dass man von der Beschäfti11 Meister Eckhart (auch Eckehart, Eckhart von Hochheim; * um 1260 in Hochheim oder in Tambach; † vor dem 30. April 1328 in Avignon) war ein einflussreicher spätmittelalterlicher Theologe und Philosoph. 12 Wilfred Ruprecht Bion (* 8. September 1897 in Mathura/Muttra, Indien; † 8. November 1979 in Oxford, England) war ein britischer Psychoanalytiker. Er war maßgebend an der Entwicklung der Gruppenanalyse beteiligt und leistete wichtige Beiträge zum Verständnis schizophrener Denkprozesse und ihrer Behandlung.

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gung mit Krankheiten und Kranken zum Zusammenhang von Körperlichem und Seelischem und auch noch zur Philosophie kommen kann. Gisela Eife: Was du Spagat nennst, Regine, fällt für mich in der eigenen Lebenserfahrung zusammen. Du hast Recht, es sind die leib-­seelischen Gestimmtheiten, die uns begegnen, teilweise überfallen und mit denen wir umgehen müssen. Mir fällt gerade ein, dass ich häufig medizinische Metaphern benütze, z. B. die Wunde, die halbwegs verheilen, aber auch wieder aufbrechen kann, oder die allergische Reaktion, wenn z. B. eine Patientin meinen Blick plötzlich nicht aushält, ihn starr, verurteilend empfindet. Zuerst muss ich dann mich selbst fragen, wodurch ich eine solche Reaktion ausgelöst haben mag. Die Metapher soll die heftige Reaktion mancher Patientinnen und Patienten verständlich machen, nämlich dass die allergische Reaktion – ich spreche jetzt vom Psychischen – auf eine jahrelange Sensibilisierung folgt infolge verletzter Grundgefühle in der frühen Kindheit. Diese Grundgefühle oder Minderwertigkeitsgefühle werden laut Adler »immer aus Sicherungsgründen verstärkt gedacht oder empfunden« (Adler, 1912/2008, S. 85), damit schon geringfügige Auslöser genügen, diese Reaktion auszulösen, um sich sofort vor einer Retraumatisierung zu schützen. Ich verwende auch gerne das Wort Behinderung, weil ich meine, dass jeder Mensch durch irgendwelche Einschränkungen in der Kindheit an der Entfaltung seines Potenzials behindert wurde, und sei es noch so geringfügig. Damit müssen wir uns versöhnen und damit umgehen lernen. Manchmal gelingt es vielleicht, in eine andere Stimmung zu kommen, sich abzulenken, vielleicht auch dagegen anzukämpfen, aber oft geht es darum, diese Stimmung zuzulassen und sein zu lassen. Diese Haltung habe ich bei Meister Eckhart gefunden: dieses Lassen und die Gelassenheit. Regine Kroschel: Hast du dies bei Adler auch gefunden? Gisela Eife: Zunächst könnte man ja denken, solche Gedanken passen gar nicht zu Adler. Aber dann habe ich doch Hinweise gefunden: Ich erinnerte mich, dass Adler sagte, dass wir sofort, wenn ein Patient zur Tür hereinkommt, ahnen könnten, wie sein Lebensstil ist. Aber: dass

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wir auch in jeder neuen Stunde, bei jeder neuen Begegnung, bereit sein müssten, diese Eindrücke zu korrigieren. Weiter sagt er zu uns sinngemäß: Wenn Sie merken, ihre Hypothese hat sich nicht bestätigt, dann müssen sie »hart und unerbittlich gegen sich selbst sein« (Adler, 1931/2010, S. 405) und sie aufgeben. Zunächst erschien mir dieses »hart und unerbittlich« seltsam – und so gar nicht entspannt –, aber dann konnte ich sehen, dass es doch um Lassen und Loslassen geht. Er fordert uns auf, die Hypothese loszulassen, sein zu lassen. Und das finde ich das Spannende an Adler, dass man eben immer wieder etwas Unerwartetes bei ihm entdecken kann. Und jetzt sogar Gelassenheit bei Adler! (Gelächter). Regine Kroschel: Und das bei diesem aktiven, kämpferischen Mann! Lass uns das noch genauer betrachten. Ich sehe diese Haltung bei ihm nicht nur in diesem Punkt, sondern z. B. auch in der Art, wie er sich Kindern zuwendet und wie er Kinder und Kindheit sieht. Wie er uns auffordert, mit Kindern zärtlich, aber eben doch auch nicht verzärtelnd umzugehen – und wie er sich dafür ausspricht, ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu entwickeln. Hier plädiert er ganz offen dafür, Kinder – und andere – sein zu lassen, wie sie sind, ihnen ein eigenes Selbst zuzugestehen. Das habe ich immer als sehr wichtig empfunden. Und auch in der Psychotherapie geht es ja immer auch darum, Patienten und Patientinnen zu helfen, das Eigene, das eigene Selbst zu entdecken und zu behaupten. Gisela Eife: Ja, und wie wir jeweils vorgehen, erscheint mir nicht so wichtig zu sein. Ob wir eher im Kognitiven verweilen und deuten oder uns mehr im Emotionalen bewegen. In welcher Weise eine Therapie oder eine Beratung vor sich geht, das spielt meiner Ansicht nach letztlich keine entscheidende Rolle. Manche sagen, die therapeutische Beziehung sei entscheidend. Ja, das glaube ich auch, denn darin teilt sich implizit mit, was und wer wir sind. Ich habe mir das auch gestern bei dem Vortrag von Insa Fooken13 gedacht, in dem sie u. a. ihre Beziehung zu einer Rat suchenden Frau ganz wunderbar dargestellt hat. Diese Beziehung gründete auf einem 13 Siehe Beitrag auf S. 133–152 in diesem Band.

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längeren E-Mail-Schriftverkehr. Die verzweifelte Frau hatte sich an sie als Expertin gewandt, weil sie sich nach fünfzig Ehejahren mit dem Gedanken trug, sich von ihrem Mann zu trennen, und weil sie wusste, dass Insa Fooken sich mit dem Thema Trennung und Scheidung nach langjährigen Ehen/Partnerschaften wissenschaftlich beschäftigt hatte. Aber obwohl die Betroffene auch nach zwei, drei Jahren ihre Trennungsabsicht nicht in die Tat umgesetzt hatte, hatte sich in dieser Zeit einiges in ihrem Inneren und auch im Äußeren getan: Es gelang ihr, gemeinsam mit ihrem Mann, durch einen Umzug in eine Alten-Service-Wohnung ihr Wohnumfeld entscheidend zu verändern – was es ihr ermöglichte, mit ihm weiter zusammenzuleben – u. a. hatte sie in der neuen Wohnung einen eigenen Platz für sich gefunden. Dies bedeutete ihr ganz viel. Wenn nun manche sagen, ihr Ausgangskonflikt sei nicht gelöst worden, würde ich dagegenhalten: Dieser berührt ja nur die Oberfläche. Es geht um den Lebensstil dieser Frau – den wir in diesem Fall nur erahnen können, indem wir ihren Entwicklungsprozess nachvollziehen und aus ihrem geänderten Erleben und Verhalten Rückschlüsse ziehen und uns fragen: Was mag der eigene Platz in der neuen Wohnung für diese Frau und für ihr Leben, auch für ihr Leben mit ihrem Mann bedeutet haben und bedeuten? Ich bringe dieses Beispiel, weil ich wie Daniel Stern meine, dass es oft egal ist, auf welchem Weg man Zugang zur Patientin findet: über ihr Verhalten, über ihre sprachlichen Äußerungen oder über ihre Emotionen. Wenn ich es so betrachte, dann kann ich auch einmal per Skype eine Therapie durchführen, wenn die Umstände persönliche Begegnungen nicht zulassen. Regine Kroschel: Na, das will ich jetzt aber nicht gehört haben, denn da bin ich ganz anderer Meinung! (Beide lachen). Doch zum Schluss noch einmal zu Adler. Was ich an Adler oft so schwierig und manchmal problematisch fand und finde: dass er so schnell, manchmal nach ein, zwei Sätzen, gleich eine Vorstellung davon hatte, wie die Patientin bzw. der Patient sein sollte. Gisela Eife: Aber das ist ein Irrtum. Weil jeder von uns solche Ideen hat! Regine Kroschel: Ja, gut, die haben wir.

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Gisela Eife: Aber wir sprechen sie halt oft nicht aus. Und erschrecken dann, wenn jemand es tut und vielleicht auch gleich sagt: Das ist jetzt Teil ihres Lebensstils. Aber wir alle haben solche Vorstellungen – ob wir uns das bewusst machen oder nicht. Regine Kroschel: Und der andere Teil ist eben, dass Adler gesagt hat: »[…] und dann wieder verwerfen« – also: die Hypothese wieder infrage stellen. Oft hat er ja nach einer Aussage – und das ist in seinen Aufsätzen, die ja häufig auf mitgeschriebenen Reden basieren, manchmal nur einen halben Absatz später zu finden – fast das Gegenteil zu dem vorher Gesagten erwogen und somit auch die auf den ersten Blick gegensätzlich erscheinenden, aber gleichzeitig doch vorhandenen Kräfte und Strebungen benannt und auf diese Weise auch dargestellt, wie viel vom Patienten und seinem Unbewussten zu ahnen ist. Gisela Eife: Da muss ich erzählen, dass Regine in Berlin ein Seminar anbietet: »Regine liest Adler«. Das finde ich wunderbar, das sollte man in München auch machen! (Gelächter). Regine Kroschel: Ja, viele Texte sind beim Lesen besser zu verstehen als nur beim Zuhören. Oder der Lesende hat es einfacher, da er einzelne Sätze immer wieder lesen kann. Auf diese Weise haben wir in Berlin auch die Lebensstilanalyse im Rahmen eines kasuistisch-technischen Seminars noch einmal neu entdeckt. Indem wir etwa die Kindheitserinnerungen des Patienten nehmen und uns vorzustellen versuchen, was der Betreffende auf die Frage: »Was fühlt er, was denkt er über die anderen, was denkt er über sich selbst, was sind seine Bestrebungen?« antworten könnte. Diese klassischen Fragen im Rahmen einer Fall­besprechung zu nutzen, ist sehr lebendig. Wir sprechen dann nicht viel über die Anamnese, sondern mehr über das Jetzt: Was finden wir jetzt? Und dann arbeiten wir natürlich auch mit den Kindheitserinnerungen, wohl wissend, dass es ja immer nur bestimmte Ereignisse und Situationen sind, die jemandem in einem bestimmten Augenblick einfallen. Da haben wir also auch wieder eine Tradition aufgenommen. Aber abschließend möchte ich noch einmal hervorheben, dass du, obwohl du auch viele andere Autoren zitiert hast, doch immer wieder auf Adler zurückkommst und auf ihn Bezug nimmst.

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Gisela Eife: Ja, ich glaube, so ist es. Ich habe versucht, Adlers Lebensphilosophie mithilfe mancher Denker weiterzudenken. Philosophie ist ja nichts anderes als die Formulierung eigener Lebens- und Weltanschauungen, die jeder von uns hat und lebt. Und gerade unsere Patientinnen und Patienten stellen uns die wesentlichen Fragen an das Leben, implizit oder explizit. Insbesondere solche mit schweren Persönlichkeitsstörungen, mit denen ich am liebsten gearbeitet habe. Aber die Behandlungspraxis besteht ja nicht nur aus diesen Lebensfragen, sondern verlangt auch handwerklich-psychotherapeutische Fähigkeiten. Das heißt, Adlers offener Therapieansatz muss gefüllt werden mit den Erkenntnissen anderer Richtungen, auch mit den Erkenntnissen der neuesten empirischen Forschung. Mein neues Kapitel im E-Book, das im Mai erscheinen soll, hat den Titel: »Die relationale Dimension der Individualpsychologie«. In diesem Kapitel versuche ich – wie ich es immer mache –, diese relationale Dimension bei Adler herauszuarbeiten und dadurch einen Anreiz zur Weiterentwicklung zu geben. Regine Kroschel: Das ist doch ein wirklich schönes, abschließendes Statement. Liebe Gisela, vielen Dank für dieses Gespräch!

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Menschen in der DGIP239 Adler, A. (1931/2010). The Case of Miss A. – The Diagnosis of a Life-Style (Der Fall »Frau A.« – Diagnose eines Lebensstils). In A. Adler, Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie: 1913–1937 (Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3, S. 402–428). Hrsg. v. G. Eife. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Adler, A. (1932/2010). Die Systematik der Individualpsychologie. In A. Adler, Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie: 1913–1937 (­Alfred Adler Studienausgabe, Bd. 3, S. 527–531). Hrsg. v. G. Eife. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Antoch, R. F. (2006). Über das Selbstsein im Bezogensein. Zeitschrift für Individualpsychologie, 31, 347–360. Benedetti, G. (1992). Psychotherapie als existentielle Herausforderung. Die Psychotherapie der Psychose als Interaktion zwischen bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen und zwischen imaginativ bildhaftem und einschichtig begrifflichem Denken. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bion, W. R. (1994). Clinical seminars and other works. In F. Bion, Clinical seminars and other works. London: Karnac. Buchholz, M. B., Gödde, G. (2005). Das Unbewusste und seine Metaphern. In M. B. Buchholz, G. Gödde (Hrsg.), Das Unbewusste − ein Projekt in drei Bänden (S. 671–712). Gießen: Psychosozial-Verlag. Dürr, H.-P. (2003). Die ontologische Revolution durch die Quantentheorie und die Erneuerung der Naturwissenschaft. In H.-P. Dürr, H.-J. Fischbeck (Hrsg.), Wirklichkeit, Wahrheit, Werte und Wissenschaft (S. 23–34). Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag. Eife, G. (2016). Analytische Individualpsychologie in der therapeutischen Praxis. Das Konzept Alfred Adlers aus existentieller Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer. Eife, G. (2019). Die Entwicklung der Individualpsychologie Alfred Adlers. Persönlichkeitstheorie, Psychopathologie, Psychotherapie (1912–1937). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Henry, M. (1992). Radikale Lebensphänomenologie. Ausgewählte Studien zur Phänomenologie (Alber Reihe Philosophie). R. Kühn (Hrsg. u. Übers.). München: Karl Alber. Kühn, R. (1988). Fiktives Leben oder lebendige Fiktion? Zeitschrift für Individualpsychologie, 13 (4), 219–223. Sloterdijk, P. (1990). Was heißt: sich übernehmen? Über Ambivalenz in der Psychotherapie. In P.-M. Pflüger (Hrsg.), Die Suche nach Sinn − heute (S. 66–94). Olten u. Freiburg i. Br.: Walter. Stern, D. N. (2005). Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Witte, K. H. (Hrsg.) (1992). Praxis und Theorie der Individualpsychologie heute. Aus der analytischen Psychotherapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. München u. Basel: Ernst Reinhardt.

Die Autorinnen und Autoren

Insa Fooken, pensionierte Professorin, Dr. phil., Dipl.-Psych., ehemals Professur für Entwicklungspsychologie mit einem Schwerpunkt in der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Universität Siegen, ist zurzeit Seniorprofessorin im Bereich Sozialpädagogik/Alternswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Kriegskinder im Alter, Gender und Alter(n), Bedeutung von Puppen als Ressource in der menschlichen Entwicklung. Susanne Freund, M. A. (Sonderpädagogik, Psychologie, Soziologie), Psychoanalytikerin für Kinder und Jugendliche (DGIP, VAKJP) mit privater Praxis in Augsburg, ist als Dozentin, Supervisorin, Selbsterfahrungsleiterin und im erweiterten Vorstand am Alfred Adler Institut München tätig sowie als Vorsitzende des Landesverbandes Bayern der DGIP. Manfred Gehringer, Dipl.-Psych., ist als Psychoanalytiker in eigener Praxis in München und als Dozent, Supervisor und Lehranalysebeauftragter tätig. Er ist Vorsitzender des Alfred Adler Instituts München und Dozent an der Sigmund-Freud Universität Wien. Monika Huff-Müller, Dipl.-Psych., ist als Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Aachen und als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP, DGPT) am Alfred Adler Institut Aachen-Köln tätig. Fiona Kosovac, M. A., ist Individualpsychologische Beraterin und Supervisorin und im Weiterbildungsausschuss für Beratung sowie als Dozentin am Alfred Adler Institut in München tätig. Seit 2017 ist sie in Ausbildung zur analytischen Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche.

Die Autorinnen und Autoren241

Regine Kroschel, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytikerin in privater Praxis, ist die Vorsitzende des Alfred Adler Instituts Berlin und dort als Dozentin, Supervisorin und Lehranalytikerin (DGIP/DGPT) tätig. Andreas Kruse, Univ.-Prof. Dr. phil., Dr. h. c., Dipl.-Psych., ist Institutsdirektor des Instituts für Gerontologie an der Ruprecht-Karls Universität Heidelberg. Seit 1998 ist er Vorsitzender der Altenberichtskommissionen der Bundesregierung. Zahlreiche Auszeichnungen, internationale Lehrprogramme und interdisziplinäre Forschungsprogramme. Aktuelle Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Altern in Grenzsituationen, Hochaltrigkeit im Kontext von Verletzlichkeit und Reife, Spiritualität und Transzendenz, Demenz und pflegende Angehörige, die Grenzgänge des Johann Sebastian Bach. Judith Lebiger-Vogel, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und leitet ein ERSTE-SCHRITTE-Projekt; zurzeit in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV). Ihre gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte sind Psychoanalyse und Gesellschaft, Identitätsentwicklung, Frühprävention und Eltern-Kind-Interaktion. Anna Mayer, Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin für Erwachsene, Jugendliche und Kinder (DGIP, DGPT), ist in München in eigener Praxis tätig und am dortigen Alfred Adler Institut als Dozentin, Supervisorin und Ausbildungsleiterin engagiert. Patrick Meurs, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt am Main, Professor an den Universitäten Kassel und Leuven (Belgien) sowie Kinder- und Jugendlichenpsychoanalytiker. Forschung und Lehre in psychoanalytischer Entwicklungspsychologie, psychoanalytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Migrations- und Fluchtdynamiken in Erziehung und Therapie. Corinna Poholski, B. A., studiert im Master Soziologie (Goethe-Universität Frankfurt am Main) und absolviert im Doppelstudium den Master

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Die Autorinnen und Autoren

Soziale Arbeit (Hochschule Darmstadt). Sie ist wissenschaftliche Hilfskraft am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main und Mitarbeiterin im Psychosozialen Verbund Rhein-Main in der psychoanalytischen Malgruppe für Kinder mit Fluchterfahrungen. Constanze Rickmeyer, Dr. phil., Dipl.-Psych., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt ERSTE SCHRITTE am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main und befindet sich in psychoanalytischer Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut (DPV). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Themen Frühprävention, Migration sowie Psychotherapieforschung. Reiner Winterboer, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, ist als Psychoanalytiker und Lehranalytiker (DGIP/DGPT), Supervisor und Dozent am Alfred-­AdlerInstitut Nord (Delmenhorst) sowie in ambulanter Praxis in Rheine tätig. Seit 2016 ist er Mitglied im Bundesvorstand der DGIP. Anna Zeller-Breitling, Dipl.-Soz.-Päd., Analytische Kinder- und Ju­gend­­ lichenpsychotherapeutin (DGIP, VAKJP), ist in freier Praxis in Köln und als Dozentin am Alfred Adler Institut Aachen-Köln tätig. Seit 2014 ist sie Mitglied im Bundesvorstand der DGIP.

Personenverzeichnis

A Adler, A. 8, 14–21, 24, 26 f., 29, 35, 44, 92, 110, 112, 116 f., 121, 123, 125, 127–129, 131 f., 135 f., 151, 179 f., 186, 197 f., 209, 215 f., 218 f., 221–224, 226 f., 233–235, 237–239 AlDe’emeh, M. 71, 87 Alegiani, R. 148, 151 Allport, G. W. 20 Altmeyer, M. 131 Ansbacher, H. L. 20, 35 Ansbacher, R. R. 20, 35 Antoch, R. F. 180 f., 191, 198 f., 224, 239 Arendt, H. 18, 28, 35 Argelander, H. 181, 199 Audiard, J. 45, 51 Audiard, S. 8, 40 B Balint, M. 179 Baltes, M. M. 23, 35 Baltes, P. B. 23, 35, 145, 151 Barbot de Villeneuve, G.-S. 40, 51 Barnard, C. 217 Bauer, T. 91, 93, 108, 110 Bauman, Z. 136, 151 Bauriedl, T. 117, 131 f., 179 Becker, G. 22, 36 Behrmann-Zwehl, E. 131 Benedetti, G. 221, 239 Benslama, F. 68–70, 73, 75 f., 86 f. Bettighofer, S. 181, 183, 194 f., 197, 199 Bion, F. 239

Bion, W. R. 95, 192, 233, 239 Bleuler, E. 52, 60, 62, 91, 110, 135 Blos, P. 77, 87 Bogyi, G. 194, 199 Bohleber, W. 199 Boll-Klatt, A. 191, 198 f. Bonaparte, M. 87 Böning, B. 220 Boss, P. 140, 151 Brandtstädter, J. 21, 35 Brauner, F. 91, 110 Brendel, W. 217 Breuer, J. 39, 51 Bruder-Bezzel, A. 179, 199, 238 Bruder Housni (Prediger) 70 Brundke, A. 117, 131 f. Brunner, R. 198 Brunn, F. M. 36 Bruschweiler-Stern, N. 200 Buchheim, A. 207, 213 Buchholz, M. B. 231, 239 Butler, R. N. 25, 35 C Caparrota, L. 110 Christophorus (Heiliger) 47, 51 Cichett, D. 36 Cohen, D. 36 Corden, J. 131 f. Cotillard, M. 40, 51 D Dahrendorf, R. 96 Davids, M. F. 99, 110 Davidson, C. 40, 51 Dennis, N. 136, 151

244Personenverzeichnis Diepold, B. 117, 132 Dietz, A. 36 Ding, C. 22, 36 Doron, J. 62, 87 Drews, S. 199 Dümpelmann, L. 226 Dürr, H.-P. 227, 239 E Edgcumbe, R. 62, 88 Ehret, S. 28, 37 Eife, G. 120, 130, 132, 135, 151, 191, 198 f., 215, 226, 238 f. Eisler, H. 114 Emmanuelli, M. 87 Erikson, E. H. 19, 28, 35, 77, 87, 91, 110 Erikson, J. M. 28, 35 Ermann, M. 107, 110, 179 f., 183, 198 f. F Fernández-Ballesteros, R. 37 Filipp, S.-H. 36 Fischbeck, H.-J. 239 Fischer, G. 206, 212 Fliess, W. 62 Fonagy, P. 52, 54, 87, 211 f. Foner, A. 15, 37 Fooken, I. 21, 35, 140, 151 f. Frank, C. 200 Frankel, R. 77, 87 Frankl, V. 19, 27, 36 Frankopan, P. 87 Freud, A. 19, 66, 87, 119 Freud, S. 19, 36, 39, 51 f., 60–65, 87 f., 117, 132, 135, 152, 186 Freund, A. M. 21, 36 Freund, S. 131 Freyberger, H. 141, 152 Fuchs-Brüninghoff, E. 214 Fuchs, T. 203, 212 G Gaensheimer, S. 152 Gauck, H.-J. 109 f. Gergely, G. 211 f.

Gerlach, A. 199 Gödde, G. 231, 239 Gogolin, N. 101 f., 110 Greve, W. 21, 36 Grof, S. 210, 212 Gröner, H. 117, 132 Grotstein, J. S. 39–41, 51 Guignard, F. 96, 110 H Halm, B. 103, 110 Hantel-Quitmann, W. R. 146, 152 Harrison, A. M. 200 Heidegger, M. 226 Heimann, P. 191, 199 Heisterkamp, G. 180, 182–184, 187, 199, 201, 215 Heisterkamp, P. 180, 199 Hennecke, M. 21, 36 Henry, M. 225 f., 239 Herbst, I. 152 Hermanns, L. M. 200 Heuft, G. 23, 25, 36, 140, 152 Hinner, J. 22, 36 Hinz, H. 200 Hodges, J. 62, 88 Hofmann, N. 130, 132 Honneth, A. 81, 88 Houzel, D. 87 Husman, W. 51 J Jung, C. G. 19, 117, 135 Jurist, E. L. 211 f. Jüttemann, G. 37 K Kächele, H. 191, 200 Kalmar, S. S. 152 Kausen, R. 198 Kernberg, O. F. 38 f., 52, 54, 88, 93, 110, 206, 212 Kivnick, H. Q. 28, 35 Klauer, T. 141, 152 Klein, J. 54, 88 Klein, M. 38, 41, 52, 57, 65 f., 88, 93, 110, 180, 192, 222

Personenverzeichnis245 Klemm, B. 152 Klüwer, R. 182 f., 199 Kogan, I. 110 Kohrs, M. 191, 198 f. Kohut, H. 187, 199, 206 König, K. 194, 199 Korczak, D. 152 Körner, J. 185 f., 199 Krause, R. 185, 187, 193, 199 Kris, A. O. 64, 88 Kris, E. 87 Kristeva, J. 101, 105, 107, 110 Kroschel, R. 215 Kruse, A. 20, 22–26, 28 f., 32 f., 36 f., 224 Küchenhoff, J. 197, 199 Kühn, R. 226, 238 f. Kuwert, P. 141, 152 L Lacadée, P. 77, 88 Lamberty, J. 215 Lang-Langer, E. 180, 200 Laplanche, J. 62 Lehmkuhl, G. 214 Lehmkuhl, U. 151, 200, 214 Lehr, U. 20, 37 Lemmer, A. 110 Lerner, M. 59, 66, 88 Lerner, P. 59, 66, 88 Leuzinger-Bohleber, M. 203, 207, 212 Lévinas, E. 24, 37 Levinson, D. 19, 28, 37 Lorenzer, A. 181 Lowe, C. 48 Lüscher, K. 10, 95, 110, 133 f., 136–140, 152 Lyons-Ruth, K. 200 M Maercker, A. 35 Mahler, G. 116 Mandel, K. H. 200 Mannheim, K. 16, 37 Marcuse, H. 97, 110 Marx, H. 187, 192, 200

McAdams, D. P. 19, 28, 37 McCartney, P. 131 f. Meister Eckhart 226, 233 Mertens, W. 111, 186, 192 f., 199 f. Meurs, P. 78, 88 Milch, W. 206, 211, 213 Moggio, F. 87 Mohr, F. 228 Molitor, G. 127, 132 Morgan, A. C. 200 Moslein-Teising, S. 111 Münch, K. 199 Munz, D. 199 Murray, H. A. 19, 37 N Nagera, H. 62, 89 Nahum, J. P. 200 Nauenheim, S. 215 Neumann, P. 60 O Obama, B. 108 Okropiridze, D. 95, 110 Orlowksi, H. V. 141, 152 P Parin, P. 108–110 Petot, J.-M. 57, 89 Pflichthofer, D. 182, 186, 200 Pflüger, P.-M. 239 Piaf, E. 40 Pico della Mirandola, G. 18, 37 Polke, C. 36 Pontalis, B. 62 Precht, R. D. 114, 132 R Radebold, H. 23, 36, 140, 152 Reckwitz, A. 128, 132 Reddemann, L. 206, 212 f. Reich, G. 192, 200 Reinelt, T. 199 Resch, F. 185, 187, 200 Richter, H.-E. 132, 196, 200 Riedesser, P. 206, 212 Rieken, B. 151

246Personenverzeichnis Riemann, F. 194 f., 200 Riley, M. 15, 37 Rilke, R. M. 146, 151 f. Robine, J.-M. 37 Rolf, S. 36 Rombach, H. 226 Röseler, D. 214 Rosenfeld, H. 58, 89 Roth, G. 207, 213 Ruberg, W. 228 Rühle-Gerstel, A. 135, 152 Rutter, M. 21, 37 Ryff, C. D. 21, 37 S Sachsse, U. 206, 213 Sander, L. W. 200 Sannwald, R. 200 Sasse, H. 200 Scarre, G. 36 Schäfer, F. 214 Schellack, R. 220, 227 Schlingensief, C. 133, 140, 152 Schlösser, A.-M. 199 Schmidt, R. 214 Schmitt, E. 22, 25 f., 28 f., 36 f. Schoenaerts, M. 40, 51 Schore, A. N. 203, 213 Schuch, B. 199 Schulte-Markwort, M. 200 Schulze, S. 100, 110 Segal, H. 192, 200 Seidel, U. 214 Seidenfuß, J. 132 Seidler, G. 141, 152 Seiffge-Krenke, I. 211, 213 Siebert, A. 36 Siegel, D. J. 202–207, 213 Sloterdijk, P. 225, 239 Smelser, N. J. 37 Springer, A. 199 Stadler, A. 117 f., 132 Stadler, A.-E. 230 Stambolis, B. 140, 152 Staudinger, U. M. 21, 36 Stein, R. 62, 89

Stern, D. N. 130, 132, 184, 200, 231, 236, 239 Stevenson, R. L. 38, 51 Stockmans, P. 71, 87 Streeck, U. 182, 187, 200 Strenger, C. 96, 111 T Target, M. 54, 87, 211 f. Teicher, M. H. 207 Tenbrink, D. 180, 183, 191, 200 Thomae, H. 19, 27 f., 37 Thomä, H. 131, 179, 191, 200 Thunberg, G. 53 Tiedemann, J. L. 182–184, 201 Titze, M. 198 Tronick, E. Z. 200 Trump, D. 38 U Unruh, B. 111 Utari-Witt, H. 110 V Vogel, G. 214 Volkan, V. 71, 74, 89 W Wahl, P. 113, 132, 151, 180, 200 f., 215 Waldvogel, B. 92, 111 Walz-Pawlita, S. 111 Warner, J. 15, 37 Weber, I. 132 Weiß, H. 183, 186, 188 f., 191, 198, 201 Welter, N. 214 Werth, M. 214 White, K. 101, 111 Wiegand, R. 214 Wilhelm, G. 99, 111 Winkler, N. 215 Winnicott, D. W. 52, 77, 81, 89, 179 Winterboer, R. 186, 201 Witte, K. H. 110, 214, 229 f., 233, 238 f.

Personenverzeichnis247 Wittenberger, A. 127, 132 Wolff, K. H. 37 Wurmser, L. 230

Z Zeller-Breitling, A. 215 Zwiebel, R. 106, 111

Stichwortverzeichnis

A Abgrenzung 116 Abspaltung 43, 112 Abstinenz 186, 192 Bemühen um 179 gelungene 187 Ringen um 185 und Handeln 185 Abstinenzfähigkeit 97 Abstinenzregel 97, 186 Abwehr von Scham- und Schuldgefühlen 117 Abwehrformationen pathologische 93 Abwehrmechanismen 92 primitive 92 reife 92, 94, 108 unbewusste 126 unreife 93 Abwertung 122 Achtsamkeit 231 Affektkontrolle 93, 96 Affektregulation 94 Affektsteuerung 193 Affektualisierung 93 Affektumkehrung 62 Alternsforschung 14, 16 biografisch orientierte 20 f. Ambiguität 91, 134, 138, 140 Ambiguitätsfähigkeit 97 Ambiguitätstoleranz 91, 94 Ambitendenzen neurotische 55 Ambivalenz 53, 56, 58, 61–64, 78,

83 f., 90, 93–96, 103, 106, 112, 116, 119–121, 133, 135 f., 138, 141–143, 145, 150, 153, 166, 177, 210, 221 f. affektive 62, 64, 66, 135 der Vaterlosigkeit 144 Gestalten der 62 intellektuelle 135 negative 66 positive 66 schmerzhafte 165 f. und Narzissmus 63 voluntäre 135 Ambivalenzbejahung 95 Ambivalenzdynamik nach Lüscher 138 Ambivalenzen intergenerationelle 80 Ambivalenzerfahrung 139 Ambivalenzfähigkeit 90–97, 107 f., 133, 149, 169 Kampf um 99 Ringen um 90 Ambivalenzkonflikt 64, 173, 176 Fähigkeit zum 94 Ambivalenzkonzept 60, 62 Geschichte des psychoanalytischen 60 Ambivalenzpotenzial 139 Ambivalenzsensibilität 145, 150 Ambivalenztoleranz 59, 65, 92 f., 97–99, 108 Fähigkeit zur 94 Ambivalenzunfähigkeit 95, 99 der Therapeutin 99

Stichwortverzeichnis249 Anerkennung Streben nach 222 Angsttoleranz 108 Annäherung 119 Annihilierung 58, 64, 66 Antisemitismus 53 Arbeitsbündnis 197 Autarkie Streben nach 46 Autonomie 16 Streben nach 46 Autonomieentwicklung 167 B Begegnungsmoment 182 Behandlungsstil 194 Bemächtigung 224 Bemächtigungstrieb 61 Beraterweiterbildung 118 Bernried 229 f., 232 Beschneidung 161, 165 Beziehungserfahrung korrigierende 168 Beziehungsfähigkeit 50 Beziehungsgedächtnis implizites 183 Bindung 48, 65, 172 instabile 166 libidinöse 60 sichere 77 Bindungsangst 107 Bindungsbedürfnis 43 f. Bindungsfähigkeit 170 Bindungsforschung 211 Bindungsstörung 173 Bindungstheorie 120, 179 Bindungswunsch 107 Borderlinestörungen 56 C Chaos 202, 204 Containment 159 Fähigkeit zum 94 Copingmechanismen 56 Copingstrategien 92

D Daseinsthema 19, 27 ff., 31 Depression 46 postnatale 172 depressive Position 41, 50, 65, 93 Deradikalisierung 60 Destruktivität 60 Dialogbereitschaft 123 Diskriminierung 122 doppelte Bezogenheit 223 doppelte Dynamik 216, 220, 222–224, 227, 233 Dschihad 75 f. Aufruf zum 75 E Eigenmächtigkeit 224 Eigenübertragungsprozess 147 Emotionsregulation 108 Empathie 46, 193 Enactment 179 f., 183 f., 187, 192 Entwertung 93, 117 Entwicklungsanforderung 21 Entwicklungsaufgabe 91 Entwicklungsauftrag 18 Entwicklungsgestaltung 18 Entwicklungsnachreifung 173 Entwicklungsnotwendigkeit 23 Entwicklungspsychologie der Lebensspanne 18 Entwicklungspsychopathologie psychoanalytische 54 Entwicklungsressourcen 20 Erbsünde 126 f. Eros 63 Extremismus islamischer 68 F Fakten alternative 68 Familiensoziologie 136 Fetischismus 65 Fiktion 224 unbewusste 126 Finalität 17, 126 Fortschrittsoptimismus 15

250Stichwortverzeichnis Fragmentierung 58 f., 64, 66, 84 Fragmentierungsangst 57 f., 64 Fremdheitsakzeptanz 108 Frühtraumatisierung 207 Fundamentalismus 93 Fürsorgefähigkeit 170 G Geborgenheit Sehnsucht nach 224 Gefühlsambivalenz 62 Gegenübertragung 104, 119, 159, 166, 191 f., 195, 198 Gegenübertragungsanalyse 191 Gegenübertragungseuphorie 191 Gegenübertragungsgefühl 157 Gegenübertragungsimpuls 179 Gegenübertragungsprozess 147 Gegenübertragungsraum 143 Geltungsstreben 130 Gemeinschaftserlebnis 130 Gemeinschaftsgefühl 51, 95, 108, 112 f., 119, 121, 123, 126, 128, 131, 216, 220–225, 227 Generationenbeziehungen 136 Generationeneinheit 16 Generationenkonflikt 228 Generationensolidarität 136 Generationensoziologie 136 Generativität Erleben von 31 Generativitätsskript 19 Größenphantasie 170 Größenselbst narzisstisches 100 H Haltlosigkeit 68 Handlungsdialog 179, 182–184, 192, 197 Hass 64, 74, 85 HELLP-Syndrom 208 Hilflosigkeit existenzielle 180 Hirnforschung 202, 226 Holding 95

I Ich fragmentiertes 96 Ich-Ideal 76 überhöhtes 189 Ich-Identität 93 Ich-Psychologie 64, 179 Ich-Spaltung therapeutische 191–193 Ich-Struktur 173 instabile 168 Idealbild 69 Idealisierung 59, 93, 108 des Islam 60 zwangfhafte 69 Identifikation 168 mit dem vermeintlich Starken 127 projektive 192 Identifizierung 93 Identität 95 f., 108, 113, 116 f., 122, 139, 142, 153, 163–165, 169–173, 175 bikulturelle 72 einheitliche 53 einseitige 72 falsche (äußere) 160 individualpsychologische 120, 124 islamische 53 kollektive 139 nicht-kontaminierte 53 persönliche 139 reine 72 reine islamische 73 Suche nach 52 wahre 153 wahre (äußere) 166 Identitätsbetrug 154, 171, 175 Identitätsentwicklung 137 Identitätsfindung 126 Identitätsgefühl 100 Identitätsgeheimnis 154 Identitätskonflikt 102 Identitätsveränderung 72 Impulsdurchbruch 155 Impulssteuerung 193 Individuation 123

Stichwortverzeichnis251 Individuationsphase 77 Inkorporation 93 Insuffizienzgefühl 172, 174 Integration 53, 56, 58–60, 65 f., 78, 93, 116, 119, 121, 124, 128, 133, 166, 175, 179, 183, 202 f., 205, 221 f. auf geistiger Ebene 204 äußere 154 der Identität 205 eines Selbstanteils 208 gelungene soziale 167 gesellschaftliche 153, 177 Kampf um 153 narrative 205, 209 Sehnsucht nach 171 von Selbstanteilen 207 Integrationsbemühung 112 Integrationsbereitschaft 123 Integrationsfähigkeit 113 äußere 153 innere 153 Integrationsleistung 177 Integrationsprozess 124 Internalisierungsprozesse unbewusste 99 Intersubjektivitätstheorie 226 Interventionsgerontologie 16 Introjekt nagatives 173 Introjektion 93 J Jihad 69 K Kalifat 59 Kämpferidentität 72 Kinderanalyse 180 Kindheitserinnerungen 237 Kompensation 23, 35, 126, 180 von Minderwertigkeitsgefühlen 23 Kompensationsleistung 23 Kompensationsmodell 34 Kompensationsstrategie 22 f. Kompensationsversuch 112, 125

Konfliktfähigkeit 94 Konfliktverarbeitung 133 Kontext biografischer 15 gesellschaftlicher 15 politisch-historischer 15 Kontrollbedürfnis 149 Kontrollverlust 64 Kontrollzwang 147 Kooperationsfähigkeit 128 Körper-Ich 43 Kriegskind 148 Kulturpessimismus 15 L Latenzphase 96 Lebensaufgaben 125 Lebensbewegung 126, 220, 222, 226 gefrorene 40 individuelle 222 Lebenslinie 17, 28, 35 Lebensplan 26, 35 Lebensstil 46, 50, 72, 179, 182, 184, 209, 211, 227, 234, 236 f. der Patientin 220 der Therapeutin 220 des Patienten 198 des Therapeuten 198 frommer 83 neurotischer 220 unbewusster 44, 124 Lebensstilanalyse 237 Lebensthema 18, 27 Lebenstrieb 65 Lebensziel 18, 20, 35, 39 Lehranalyse 220 Liebe-Hass-Ambivalenz 63 Lustprinzip 66 M Macht 44, 134, 138, 164, 191, 221 Machtlosigkeit 161 Machtmissbrauch in der Psychotherapie 185 Machtstellung 228 Machtstreben 16

252Stichwortverzeichnis Machtverlust 69 Mangellagen Überwindung von 119 Männlicher Protest 127 Masochismus idealisierter 74 Melancholie 63 Menschenkenntnis 21, 123 Menschwerdung 51 Mentalisierung 92, 94 Mentalisierungsfähigkeit 94, 108 Mentalisierungstheorie 211 Metapher 231 medizinische 234 Migrationstrauma 173 Minderwertigkeit von Organen 24 Minderwertigkeitsgefühl 72, 100, 130, 222, 224, 234 Missbrauch 57 Mitmenschlichkeit 219 Muslimbruderschaft 73 Mutterbindung frühe 63 Mutterobjekt mächtiges 167 N Nachkriegskind 126 Nachreifung emotionale 169 Narzissmus 97 narzisstische Gratifikation 45 narzisstische Kränkung 64 narzisstische Neurose 94, 102 Neurobiologie interpersonelle 202 f., 205 f., 211 f. Neutralität des Analytikers 184 Neutralitätsattitüde 103 Neutralitätsregel 97 Nichtigkeitsgefühle 77 Not 224 Now Moment 130

O Objekt 58 annehmendes 159 gutes 58 gutes inneres 157 haltendes 170 haltgebendes 159 idealisiertes 146 inneres 153 mütterliches 168, 209 schlechtes 58 Objektbeziehung 54, 169 mütterliche 160 Objektbeziehungen konflikthafte 93 Objektbeziehungstheorie 120, 179, 222 Objektbild 101 Objektrepräsentanz 206 Objektverlust 159 Furcht vor 106 Ödipuskomplex 62 Ohnmacht 64, 68, 86, 91, 100, 166 f., 191 Akzeptanz von 65 Ohnmachtsgefühl 130 Omnipotenz Streben nach 101 P paranoide Position 42, 93 paranoid-schizoide Position 41 f. paranoid-schizoider Modus 50 Perspektivenwechsel Fähigkeit zum 94 Phantasieraum 179 Projektion 93, 99, 107, 117 Psychagoge 117, 127 Psychoanalyse 122 interpersonelle 179 intersubjektive 179 relationale 179, 226 Psychodynamik 112 der DGIP 128

Stichwortverzeichnis253 R Radikalisierung 78 aggressive 56 islamische 56, 68 Prozesse der 71 Radikalismus islamischer 53 Radikalität 53 entwicklungsphasenspezifische 53 Realitätsprinzip 65 Realitätsprüfung 93, 159 Realitätsspiegelung 158 Regression 49, 63, 93, 95–97, 108, 119, 166 relationale Psychoanalyse 120 Re-Radikalisierung 60 Resilienz 204 f. Resilienzforschung 21, 34 Responsivität 187 Retraumatisierung 58, 159, 170, 234 Reviktimisierung 58 Rigidität 202, 204 Rivalität 62 S Sadismus 63, 65 ursprünglicher 65 Säuglingsforschung 226 empirische psychoanalytische 120 Scham 192 Schamgefühl 126 f. Schamkonflikt 106 Scheinidentität 154, 165, 175 schizoider Rückzug 51 schöpferische Kraft 224 Schuldgefühl 127, 166, 168, 171, 175 Selbst 55, 58 f., 101, 154, 167, 170, 172, 205 böse Anteile des 165 eigenes 235 kohärentes 211 Säuberung des 69 wahres 153, 177 Selbstanteil innerer ungeborener 210

Selbstanteile abgespaltene 212 abhängige 90 Selbstbehauptung 108 Selbstbild 101, 174 fragiles 80 Selbsterfahrung 125 Selbsterhalt 63 Selbsterhaltungsstreben 61, 63 Selbsterhaltungstrieb 60 f. Selbsterhöhung 44 Selbstexploration 149 Selbstfindung 48 Selbstfragmentierung 159, 168 Selbstgefühl 109 Selbstgestaltung 14, 17 f., 20, 22, 24 Selbsthass 190 Selbstorganisation 93 Selbstpsychologie 120, 179, 211 Selbstregulation 95 Selbstregulationsparadigma 180 Selbstrepräsentanz 206 negative 167 Selbststörung 98 Selbstverachtung 190 Selbstverantwortung 21, 23, 26 Selbstverdoppelung 38 Selbstwertentwicklung 180 Selbstwertkonflikt 127 Selbstwertstörung 98 Selbstwirksamkeitserleben 167 Sexualtrieb 61 Sicherheit Streben nach 222 Sicherheitsbedürfnis 44 Sicherungsmechanismen 92 Sinnanalyse 19 Sinnerfahrung 14, 20, 26 f., 29 Sinnerleben 26 Sinnhaftigkeit des Lebens 56 Sinnverwirklichung 35 Sorgeformen 31 f. soziale Bezogenheit 180 des Menschen 180 des Säuglings 119

254Stichwortverzeichnis Spaltung 53, 56, 58, 65 f., 86, 90, 93–96, 99, 107–109, 116 f., 127, 133, 138, 153, 167, 202, 205 f., 221 f. als Abwehr 167 als genuiner Abwehrvorgang 41 als strukturell unreifer Abwehrmechanismus 206 des Bewusstseins 39 durchlässige 57 Flucht in die 157, 159 fragmentierende 67 horizontale 206 in der Traumaliteratur 206 nicht durchlässige 57 pathologische 38 permeable 67 rigide 58 stabile 59, 67 vertikale 206 Spaltungsmechanismen borderlineartige 55 rigide 67 Spaltungsprozess 117 f. Spannungsregulation 93 Spiegelung markierte 211 Stimmigkeitserfahrung 27, 29 Stimmigkeitserleben 26 Strafangst 168, 171 Strukturbildung 167 Strukturlosigkeit 165 Strukturniveau 97 Symbolisierungsfähigkeit 93 T Technikbegeisterung 15 Telos 17 Thanatos 63 Therapeutenpersönlichkeit 194 Todestrieb 60, 63–65 Tölzer Studienkreis 229, 232 Trauma 51, 64 auserwähltes 73 Verarbeitung und Überwindung 47 Traumabewältigung 157

Traumafolgestörung 212 Traumagenese 203 Traumatisierung 155, 159 kulturelle 58 Traumatisierungen in Bindungsbeziehungen 207 Traumaverarbeitung 155 Trennung 116 Trieblehre 63 Triebschicksal 63 f. Triebverzicht 91 U Über-Ich 167 rigides 171 Überkompensation 24, 100 Überlegenheit Streben nach 216, 222 f. Überlegenheitsphantasien psychoanalytische 122 Überlegenheitsstreben 128 Übermuslim 70 Übertragung 119, 166 ambivalente 61 Dynamik der 60 libidinöse 61 negative 60 positive 60 Übertragungsdynamik intersubjektive 107 Übertragungsgeschehen 160 Übertragungsphantasie 185 Unentschlossenheit 133 Unverbundenheit 117 Urvertrauen 56 Verletzung des 209 V Vaterverlust 140, 144 Verbundenheit Wunsch nach 224 Verdrängung 92, 206 Vergewaltigung 165 Verhaltenstherapie 121 f. Verletzbarkeit 224 Verleugnung 93 Verneinung 206

Stichwortverzeichnis255 Vernichtungsangst 57 f., 64 Verschiebung 93 W Wankelmütigkeit 133, 135 Waschzwang 147 Weltbild 58, 68, 85 gespaltenes 59 Verlust des idealisierten 59 Weltgestaltung 14, 18, 20, 24, 26 Wertanalyse 19 Wertschätzung 124 Wertverwirklichung 26, 35 Widerstand 160 Widerstandsanalyse 194 Würdebegriff 18

Z Zärtlichkeitsbedürfnis 119, 180 Zersplitterung 64 Zerstörungswut 172, 174 Ziel bewusstes 227 fiktives 126, 221 neurotisches 221 unbewusstes 222, 227 Zielgerichtetheit menschlichen Verhaltens 119 Zugehörigkeit 224 Zwangsneurose 62