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German Pages 272 Year 1995
Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft In memoriam Theo Thiemeyer
Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft llerausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, llamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Köln, Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. R. llettlage, Regensburg und Prof. Dr. Th. Thiemeyer t
Band 34
Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft In memoriam Theo Thiemeyer
Herausgegeben von
Lotbar F. Neumann Frank Schulz-Nieswandt
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Sozialpolitik und öffentliche Wirtschaft : in memoriam Theo Thiemeyer I hrsg. von Lothar F. Neumann ; Frank Schulz-Nieswandt. Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zum Genossenschaftswesen und zur öffentlichen Wirtschaft ; Bd. 34) ISBN 3-428-08204-4 NE: Neumann, Lothar F. [Hrsg.]; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6925 ISBN 3-428-08204-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Nonn für Bibliotheken
Vorwort Am 26. November 1991 verstarb Theo Thiemeyer, der langjährige Ordinarius für Sozialpolitik und Öffentliche Wirtschaft der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Er wurde 62 Jahre alt.
Diese Schrift zum Gedächtnis an Theo Thiemeyer verfassen wir unter dem Titel seiner Lehrstuhlbezeichnung, weil mit ihr die breite Spanne der sozialund wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten in Forschung und Lehre des zu früh verstorbenen Gelehrten zweckmäßig und angemessen angedeutet wird. Mitarbeiter und Freunde Theo Thiemeyers hatten eine umfangreiche Festschrift zu seinem 65. Geburtstag geplant. Zu dem Erscheinen ist es nicht mehr gekommen. Wir haben stattdessen zum Sommersemester 1994, in das Theo Thiemeyers 65. Geburtstag fiel, zu einer Vortragsreihe eingeladen, die von Wissenschaftlern bestritten wurde, die mit Theo Thiemeyer im persönlichen wissenschaftlichen Austausch und Kontakt gestanden haben. Auf die Veröffentlichung dieser Vorträge beschränkt sich auch die vorliegende Schrift. Die thematische Breite der Vortragsreihe und nun der Abhandlungen fügt sich dem genannten Titel und entspricht dem herausgestellten Spektrum von Theo Thiemeyers Werk. Die einzelnen Beiträge sollen hier nun einleitend nicht kommentiert werden; sie sprechen alle für sich. Aber einige Bemerkungen mögen angebracht sein. Der Themenkreis der Öffentlichen Wirtschaft ist durch die Beiträge von K. Oettle, D. Budäus, P. Eichhorn, A. v. Loesch, S. Eichhorn vertreten, wobei durch Bezüge zur Krankenhauswirtschaft auch das gesundheitsökonomische Arbeitsfeld, das Theo Thiemeyer für alle Beteiligten bereichernd pflegte, berücksichtigt werden konnte. Die Beiträge zur Öffentlichen Wirtschaft verhandeln sowohl grundlegende als auch aktualitätsbezogene Probleme und Fragestellungen. Das Gebiet der Sozialpolitiklehre konnte von Frau I. Nahnsen in einer Weise vertreten werden, die wiederum den dogmengeschichtlichen Neigungen Theo Thiemeyers entgegenkommt. Das gilt auch für den ideengeschichtlich reichhaltigen Vortrag von W. W. Engelhardt, der Grundfragen der für den Weisser-Kreis so bedeutsamen "kritizistischen" Wissenschaftslehre und Ethik erneut aufwirft, die von Theo Thiemeyer u. a. immer auch in Auseinandersetzung mit der Wohlfahrtsökonomik eine Rolle spielten. Daher bestreitet der Beitrag von K. W. Rothschild (auch der von F. Schulz-Nieswandt) ebenso ein Gebiet, das für Theo Thiemeyers wissenschaftliches Schaffen bedeutsam war. Die Beiträge etwa von S. Katterle und von A. v. Loesch leiten über zu
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Vorwort
Fragen der Allgemeinen Wirtschaftspolitiklehre, die auch im Lehrbetrieb von Theo Thiemeyer verhandelt werden mußten. Der abschließende Beitrag von L. F. Neumann greift nochmals die für Theo Thiemeyer und den Weisser-Kreis fundamentale gesellschaftspolitikwissenschaftliche Kategorie der 'Lebenslage' auf. Das Leben und das wissenschaftliche Schaffen von Theo Thiemeyer ist schon an verschiedener Stelle gewürdigt wordenl, zuletzt von P. Eichhorn und W. W. Engelhardt in einem Sonderband der 'Schriftenreihe der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft'.2 Mit Problemen der öffentlichen Wirtschaft (und mit den Grundproblemen einer Fundierung der Gemeinwirtschaftslehre) hat sich Theo Thiemeyer seit seinem wirtschaftswissenschaftlichem Studium bei G. Weisser an der Universität zu Köln beschäftigt. An seinem Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum hat er seit 1973 den weiten Bereich der Sozialökonomik und Sozialpolitik in einer Weise abgedeckt, daß er nicht nur im Kollegium, sondern auch in der Studentenschaft und in der relevanten Praxis außerhalb der Wissenschaft geschätzt wurde. Er ist in Bochum durch die Verankerung des gesundheitsökonomischen Gebietes prägend gewesen. Viele seiner ehemaligen Studenten und Mitarbeiter haben im Bereich der Gesundheitspolitik wissenschaftlich gearbeitet und beruflich Verantwortung übernommen. Die Liste der von Theo Thiemeyer angeregten und betreuten Dissertationen ist lang.J 1 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F., Sozialökonomik als politische Theorie. Grundzüge des wissenschaftlichen Schaffens von Theo Thiemeyer, in: Zeitschrift für Sozialreform, Jg. 38, Heft 10, 1992, S. 625-638. 2 Eichhorn, P. I Engelhardt, W. W., Theo Thiemeyer- Leben, Werk und Wirkung, in: dies. (Hrsg.), Standonbestimmung öffentlicher Unternehmen in der Sozialen Marktwinschaft. Gedenkschrift für Theo Thiemeyer, Schriftenreihe der Gesellschaft für öffentliche Winschaft, Bd. 35, Baden-Baden 1994, S. 19-32. 3 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei z. 8 . auf folgende Dissenationen verwiesen: Hode/, Andreas, Zielorientiene Erfolgsermittlung für öffentlich-gemeinwinschaftliche Unternehmen, Diss., Bochum 1976; Paffrath, Dieter, Bestimmungsgründe der Einkommen niedergelassener Änte in der Bundesrepublik Deutschland, Diss., Bochum 1977; Schaper, Klaus, Kollektivgutprobleme einer bedarfsgerechten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Eine Diskussion der public goods-, uncenainty- und moral hazard-Theoreme allokativer Mängel von Gesundheits- und Krankenversicherungssystemen, Frankfun a.M. 1978; Schirm, Ulrike, Leasing-Finanzierung als Finanzierungsalternative für die Öffentliche Winschaft, Diss., Bochum 1979; Werthebach, Erich, Elemente präventiver Unternehmensstrategien in Modellen flexibler Prozeß. und Arbeitsorganisation, Diss., Bochum 1980; Hoppe, Ulrich, Öffentliche Unternehmen und private Endverbraucher, Politikwissenschaftliche Paperbacks, Bochum 1982; Wachtel, Hans-Werner, Determinanten der Ausgabenenrwicklung im Krankenhauswesen, Berlin 1984; Schulz(-Nieswandt), Frank, (zugleich sein einziger Habilitant): Zur Dogmengeschichte der funktionalen Finanzwinschaftslehre. Eine literaturgeschichtliche Untersuchung zur Entwicklung der "functional finance" vom Merkantilismus bis zur neuen Winschaftslehre, (Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Winschaft,) Berlin 1987; Drupp, Michael, Genossenschaften als Instrumente der Wohnpolitik, Diss.,
Vorwort
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Theo Thiemeyer lag es fern, klassische Lehrer-Schüler-Verhältnisse zu gründen. Aber alle, die bei ihm ernsthaft studiert hatten, haben ihm wissenschaftlich, im besonderen auch metatheoretisch (wissenschaftstheoretisch-methodologisch und erkenntniskritisch) viel zu verdanken. Theo Thiemeyer gehörte zu den wenigen Gelehrten, die interdisziplinär Forschung und Lehre nicht nur programmatisch, sondern auch tatsächlich vertraten. An der Ruhr-Universität Bochum selbst ist er vor allem in diesem Sinne im Rahmen seiner Mitarbeit im Institut für Sozialrecht tätig gewesen. Von Theo Thiemeyer als Nicht-Juristen stammt ein wesentlicher Teil der Kommentierung des allgemeinen Teils des Sozialgesetzbuches (vgl. Schriftenverzeichnis am Ende der vorliegenden Publikation). Theo Thiemeyer hat im Schnittbereich staatstheoretischer, ökonomischer und gesellschaftspolitikwissenschaftlicher Betrachtungs- und Argumentationsweisen gearbeitet. In dieser Leistung liegt es begründet, daß dem Schaffen von Theo Thiemeyer weiterhin eine nachhaltige Würdigung zu wünschen ist. Abschließend soll an dieser Stelle denen Dank ausgesprochen werden, die zum Erscheinen dieses Bandes wesentlich beitrugen. Er gilt in erster Linie denen, die die Vortragsreihe bestritten; darüber hinaus den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Sozialpolitik und Sozialökonornik, Renate Hendricks, Achim Henkel und Hajo Romahn, für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts und Unterstützung bei der Herausgabe. Bochum, Januar 1995
Lothar F. Neumann Frank Schulz-Nieswandt
Bochum 1989; von Thiemeyer angeregt, bei Neumann abgeschlossen: Reichelt, Herben, Steuerungswirkungen der Selbstbeteiligung im Anneiminelmarkt. Analyse der Auswirkungen bisher praktizierter und aktuell diskutierter Selbstbeteiligungsregelungen in der Arzneimittelversorgung im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung, Diss., Bochum 1993; Loges, Frank, Entwicklungstendenzen Freier Wohlfahrtspflege im Hinblick auf die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, Freiburg im Breisgau 1994.
Inhaltsverzeichnis Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik Von Kurt W. Rothschild ...........................................................................................
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Sozialpolitik und soziale Ungleichheit- Defonnulierung und Refonnulierung Von lngeborg Nahnsen ................................................................................. ...........
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Theo Thiemeyer über 'public choice' - Rückblick und Fortentwicklungsbedarf Von Frank Schulz-Nieswandt...................................................................................
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Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohlkonzeption- Das "Denken in Ordnungen", bezogen auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und den Sozialbereich, eine noch immer unvollkommen gelöste Aufgabe Von Werner Wilhelm Engelhardt .............................................................................
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Markt und Regulierung in der gemischten Wirtschaft Von Siegtried Katterle .. ... ....... .. ... .. ... .. .. ... .. ... ....... .. ... .. .......... .. .... ... ..... .. ... .. ... .. .. ... .. ..
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Thesen über die Unterschiede zwischen privater und öffentlicher Investitionswirtschaft Von Karl Oettle .......................................................................................................
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Modelle zur Privatisierung der Finanzierung öffentlicher Infrastruktur auf kommunaler Ebene Von Dietrich Budäus ...............................................................................................
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Public Private Partnership- Praxis, Probleme, Perspektiven Von Peter Eichhorn. ................................................................................................
173
Die Entwicklung der öffentlichen Unternehmen und ihre Zukunftangesichts der weltwirtschaftliehen Integration VonAchim vonLoesch ............................................................................................
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Perspektiven für die Ordnungspolitik in der Krankenhauswirtschaft Von Siegtried Eichhorn ...........................................................................................
213
Rechnung, Messung, Verteilung, Spomung- Vorläufer und Grundfragen der Lebenslagetheorie Von Lothar F. Neumann ..........................................................................................
237
Schriftenverzeichnis von Theo Thiemeyer .................. .............................................
251
Autorenverzeichnis ............. ....... ............ ........................ ............................... ... .. ......
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Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik Von Kurt W. Rothschild
Theo Thiemeyer, dessen Gedenken diese Vortragsreihe gewidmet ist, warund so lernte ich ihn kennen- durch mehrere Jahre mein Kollege in der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Linz. Dort hatten Volkswirte, Betriebswirte, Soziologen und Psychologen schön getrennt voneinander ihre gruppenspezifischen Diskussionen und Begegnungen. Gemeinsam traf man sich im allgemeinen nur bei Fakultätsratssitzungen. Theo Thiemeyer paßte nicht in dieses Bild. Obwohl den Betriebswissenschaftlern zugeteilt, erstreckten sich seine Interessen weit über den engen Fachbereich hinaus. Er war immer ein wichtiger und anregender Ansprechpartner für uns alle, egal welcher Teildisziplin wir verpflichtet waren. In dieser Welt der Spezialisten behielt er die Fähigkeit für interdisziplinäre Gespräche. Aus dieser Sicht - der Frage der Interdisziplinarität bzw. ihrer Schwierigkeiten - möchte ich im folgenden die Beziehungen zwischen Volkswirtschaftslehre (d.i. Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik bzw. angewandte Theorie) einerseits und dem weniger scharf umrissenen, zum Teil schon in sich selbst interdisziplinär angelegten Thema "Sozialpolitik" andererseits etwas näher betrachten. Zu Beginn sollte man wahrscheinlich zwischen den beiden Gebieten eine recht deutliche definitorische Abgrenzung vornehmen, um Unterschiede und Überlappungen genau festlegen zu können. Das ist aber kaum in befriedigender Weise möglich, da angesichts der Breite und Komplexität der Materie in beiden Fällen Definitionen entweder vage oder inhaltsleer sind. So gibt es verschiedene Definitionen- teils deskriptiver, teils analytischer Natur- zur Abgrenzung der "Volkswirtschaftslehre" und ähnliches gilt für die Sozialpolitiklehre und die praktische Sozialpolitik über die Heinz Lampert im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften schreibt: "Beide Begriffe haben trotz jahrzehntelanger, intensiver Bemühungen zahlreicher Wissenschaftler noch keinen allgemein anerkannten, präzis abgegrenzten Inhalt". Sehr unpräzis und sehr allgemein könnte man jedoch vielleicht formulieren,
daß beide Bereiche Humanwissenschaften sind, die sich mit dem Menschen im
Rahmen der Gesellschaft beschäftigen, wobei die Volkswirtschaftslehre das Problem menschlicher Bedürfnisse unter den Bedingungen generell knapper Ressourcen behandelt, während die Sozialpolitik den bedürftigen Menschen in
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den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt. Wenn "Bedürfnisse" und "bedürftig" in dieser Gegenüberstellung auch nicht synonym sind, so stehen sie doch in enger Beziehung zueinander und auch das Problem der Knappheit tritt in beiden Fällen auf, wiewohl auch dies in etwas unterschiedlicher Bedeutung. Jedenfalls scheint aber eine enge Verwandtschaft oder Hierarchie zwischen volkswirtschaftlicher und sozialpolitischer Perspektive gegeben zu sein. Diese kommt aber in der wissenschaftlichen Praxis keineswegs eindeutig zum Ausdruck. Vielmehr haben wir es vielfach mit mangelndem Kontakt und unterschiedlichen Sichtweisen zu tun. Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundet und zu Beginn des laufenden Jahrhunderts trug die Tradition der klassischen Nationalökonomie mit ihrem breiten Gesichtskreis und ihren philosophischen Wurzeln dazu bei, sozialpolitische Fragestellungen und Analysen in ihre Betrachtung miteinzubeziehen oder sie sogar in manchen dieser Betrachtungen zu einem Hauptthema zu machen, wie das ja sehr deutlich bei der Gründung des Vereins für Socialpolitik - eines Vereins von Wirtschaftswissenschaftlern! - im Jahre 1872 zum Ausdruck kam. Für diese Periode galt noch, wie das Leopold von Wiese audrückte, daß die Sozialpolitik eine Tochter der "Nationalökonomie" sei. Diese enge Verwandtschaft begann sich aber seit Beginn dieses Jahrhunderts zunehmend zu lockern. Verschiedene Umstände trugen und tragen zu diesem Umstand bei. Eine sehr generelle Ursache ist die zunehmende Spezialisierung im Wissenschaftsbereich, die auch in anderen Disziplinen zu immer neuen Absplitterungen und Abgrenzungen führt. Weitere, mehr spezifische Ursachen waren auf seiten der Sozialpolitik die wachsende Anlehnung an eine aufstrebende und in vieler Hinsicht relevantere Soziologie und Sozialpsychologie, sowie der Umstand, daß sich die Sozialpolitik, die im 19. Jahrhundert überwiegend mit der Arbeiterfrage beschäftigt gewesen war, mehr und mehr auch Problemen und Problemgruppen zuwandte, die außerhalb des ökonomischen Bereichs angesiedelt sind. Aufseiten der Wirtschaftstheorie vollzog sich verstärkt eine Tendenz zu einem - an den Idealen der Naturwissenschaften orientierten Methodologieverständnis, das extreme Werturteilsfreiheit und streng axiomatische Theoriemodelle anstrebt und in das sich die komplexe Sozialpolitiklehre nicht leicht einfügen läßt.l Was immer die relativen Gewichte dieser Ursachen gewesen sein mögen, Tatsache ist, daß der Graben zwischen Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik seit Beginn dieses Jahrhunderts sehr breit und tief geworden ist. In vielen Lehrbüchern der Nationalökonomie taucht das Wort "Sozialpolitik" nicht auf. In dem bekannten, von Theodor Pütz herausgegebenen dreibändigen Werk über Wirtschaftspolitik (Pütz 1979) finden sich neben dem Band über allgemeine Wirtschaftspolitik und ihre theoretischen Grundlagen spezielle Analysen der 1 Schon Max Weber sprach sichangesichtsseiner Abneigung gegen normative Ausagen gegen die sozialpolitische Akzentsetzung des Vereins für Sozialpolitik aus.
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Währungs-, Konjunktur-, Beschäftigungs-, Wachstums- und Verteilungspolitik, nicht aber der Sozialpolitik, wiewohl natürlich diverse sozialpolitisch relevante Aspekte fallweise zur Sprache kommen. Analog findet man in der sozialpolitischen Literatur überwiegend Arbeiten, die nur geringe Berührungspunkte mit Erkenntnissen und Fragestellungen der Ökonomie enthalten. Im folgenden möchte ich mich kritisch mit einigen, z.T. nicht unmittelbar einsichtigen Gründen dieser Entfremdung näher befassen, und zwar hauptsächlich aus Sicht der Witschaftstheorie. Zunächst muß einmal festgestellt werden, daß es immer wieder Ökonomen und theoretische Sozialpolitiker gab und gibt, die versuchten, Brücken zwischen den beiden Wissensgebieten, die so offensichtlich etwas miteinander zu tun haben, zu bauen. Im angelsächsischen Sprachbereich war ein solcher Kontakt auf pragmatischer Ebene die meiste Zeit vorhanden. Im deutschsprachigen Bereich ging ein wichtiger Anstoß in dieser Richtung von Elisabeth Liefmann-Keil aus, deren Buch "Ökonomische Theorie der Sozialpolitik" 1961 erschien. In ihm werden sehr ausführlich die ökonomische Bedeutung, die ökonomischen Wirkungen und die ökonomischen Begrenzungen behandelt, die in Zusammenhang mit sozialpolitischen Zielen und Programmen auftauchen. Dies war ein wichtiger Schritt zur Ergänzung und Korrektur einer überwiegend gesellschaftspolitisch orientierten sozialpolitischen Diskussion. Liefmann-Keil's Werk hinterließ deutliche und fruchtbare Spuren in späteren Büchern und Ausätzen von Ökonomen wie Zerche, Külp, Lampert und anderen, so daß wichtige Ansätze für einen breiteren ökonomischen Zugang zum Thema Sozialpolitik entstanden sind. Dazu ist zweierlei zu sagen. Zum einen zeigte diese wichtige Entwicklung, daß eine vollkommene Vereinnahmung der Sozialpolitikanalyse durch die Wirtschaftstheorie weder möglich noch wünschenswert ist. Diese neuen Begegnungen zeigten, daß durch die ökonomische Sichtweise neue Einsichten gewonnen werden können, daß aber auch Grenzen und Defizite bestehen, wenn es zu einer einseitigen Betonung dieser Sichtweise kommt. Lampert (1992) nennt als positive Elemente den Versuch, die Sozialpolitik in die WirtschalWissenschaften zu reintegrieren; einen Beitrag zur Entideologisierung der sozialpolitischen Diskussion und zum Abbau utopischer Aspekte; sowie die Eröffnung neuer Perspektiven. Dem hält er die Gefahr entgegen, daß die Sozialpolitik zu sehr als Teil der Wirtschaftspolitik gesehen wird, obwohl - wie er betont "das Feld der sozialpolitischen Arbeit weit über den Bereich des ökonomischen hinausreicht". Aus dieser Erkenntnis ergibt sich die Forderung nach Interdisziplinarität als essentielles Element der Sozialpolitiklehre. So betonen Zerehe und Gründger in ihrem Buch über die ökonomische Theorie der Sozialpolitik (Zerche 1982), daß "die Sozialpolitik den Einsatz von Methoden und Erkenntnissen mehrerer Fachdisziplinen erfordert, die sich gegenseitig ergänzen müssen" (S. 38). Dies
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wird vor allem deshalb gefordert, weil die ökonomische Perspektive die Einsicht in nicht-ökonomische Motive, Anreize, Wirkungsketten und Institutionen versperren kann. Solch eine interdisziplinäre Wiederbelebung der ökonomisch-sozialpolitischen Verwandtschaftsbeziehungen leidet jedoch darunter, daß - und damit komme ich zu meiner zweiten Anmerkung zu der neuerenökonomischen Literatur zum Thema Sozialpolitik- die ökonomische Theorie im allgemeinen von dieser Literatur nicht nur wenig Kenntnis genommen hat (sie nimmt eine ausgesprochene Außenseiterstellung ein), sondern daß die mainstream economics in ihrer neoklassischen Ausprägung einen fruchtbaren Zugang zur sozialpolitischen Problematik und zu interdisziplinärer Zusammenarbeit erschwert, um nicht zu sagen unmöglich macht. Mit diesen, in den Annahmen und der Struktur der ökonomischen Basistheorie liegenden Schwierigkeiten möchte ich mich nun beschäftigen. Es wurde schon zu Beginn darauf hingewiesen, daß sich ein offensichtlicher Berührungspunkt zwischen Ökonomie und Sozialpolitik dadurch ergibt, daß sich beide mit dem Menschen, seinen Bedürnissen und der Knappheit der zur Verfügung stehenden Mittel beschäftigen. Dieses Faktum liefert aber kaum irgendwelche Kontaktmöglichkeiten, da der Mensch, das Individuum, in den beiden Disziplinen in sehr verschiedener Gestalt auftritt. In der Wirtschaftstheorie, deren Blick vor allem auf das Marktgeschehen und auf wirtschaftsorientierte Verhaltensweisen gerichtet ist, geht es vor allem um die Erklärung der komplizierten gesamtwirtschaftlichen Mechanismen, der Ursachen und Folgewirkungen, die sich aus den meist unkoordinierten Handlungen von Millionen unabhängiger Akteure ergeben. Um dieses komplizierte Geflecht überhaupt allgemein theoretisch erfassen zu können, konnte man selbstverständlich nicht auf die unterschiedlichen Motive und Aktionsweisen jedes einzelnen Menschen eingehen, sondern man mußte in dieser Hinsicht (und auch im Bereich der Rahmenbedingungen) zu radikalen Vereinfachungen greifen. So entstand das Bild des "homo oeconomicus" als Typus des wirtschaftlich agierenden Menschen, sei er nun Nachfrager oder Anbieter, Konsument oder Produzent, Mann oder Frau, reich oder arm. Wiewohl nicht bestritten wird, daß die Individuen verschiedene Eignungen, Präferenzen und Ausstattungen besitzen, werden sie doch in der Analyse der wirtschaftlichen Handlungsweisen alle auf einen Nenner reduziert, nämlich auf die Zielsetzung, ihren individuellen Nutzen (ihre "Befriedigung") zu maximieren, bzw. - in der Sprache der Ökonomen - sich "rational" zu verhalten. Durch diesen "Trick", verschiedenste Menschen mit ihren unterschiedlichen Präferenzen und Möglichkeiten in einen homogenen Typ des "homo oeconomicus" zu transferieren, gelang es der Nationalökonomie, eine Humanwissenschaft methodisch den exakten Formen der Naturwissenschaften und insbeson-
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dere der mechanischen Physik anzunähern, da der Mensch in ihrem Bereich also auf Märkten im weitesten Sinn - nicht als vielseitiges, zum Teil unberechenbares Wesen auftritt, sondern als ein einheitlich "rational" kalkulierendes, nutzenmaximierendes Wesen, das sich mechanisch in den Gesamtzusammenhang einfügen läßt. Bevor ich diesen Tatbestand mit der sozialpolitischen Sichtweise konfrontiere, möchte ich zwei Bemerkungen einflechten, um Mißverständnisse auszuschalten. Ein Einwand, der gelegentlich gegen den homo oeconomicus vorgetragen wird, kommt von moralethischer Seite und beruht auf einem offensichtlichen Mißverständnis. Der homo oeconomicus, so wird eingewendet, der nur die Maximierung seines Nutzens, seiner Präferenzen anstrebt, sei eine Karikatur des Menschen. Er werde als reiner Egoist dargestellt, obwohl er doch auch altruistisch sein kann, Mitgefühl und Empathie empfinden und dementsprechend handeln kann. Dieser Einwand ist deshalb belanglos, weil Altruismus, Mitgefühl und dergleichen durchaus Bestand des Präferenzsystems einer Person sein kann, die dann eben ihren psychischen Nutzen durch altruistisches Handeln maximiert. Der gemäß seinem Nutzenalgorithmus normierte homo oeconomicus kann durch verschiedene Motive konditioniert sein. Ein zweiter Einwand ist schon ernster zu nehmen. Er weist darauf hin, daß die Annahme generell "rationalen" Handeins im Sinne der ökonomischen Theorie, also maximierende Zielsetzung bei gegebenen Präferenzen, nicht der Realität menschlicher Entscheidungen und menschlichen Handeins entspricht. Diese werden durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflußt, wie z.B. Gewohnheit, Gefühle, Spontaneität, soziales Umfeld, Moral und Ethik etc., die man nur mit Gewalt mit dem homo oeconomicus-Axiom in Einklang bringen kann. Dieser Einwand ist sicherlich berechtigt und es gibt zahlreiche wichtige und interessante Versuche, dem ökonomischen Entscheidungsprozeß andere Annahmen zugrundezulegen, wie etwa die Annahmen einer "begrenzten Rationalität", die nur etmge Elemente einer gegebenen Situation berücksichtigt, oder "befriedigende" statt eindeutig "optimal-maximierende" Zielsetzungen und dergleichen mehr.2 Tatsache ist jedoch, daß der eindeutig kalkulierende, nutzenmaximierende homo oeconornicus weiterhin in der Wirtschaftstheorie eine überragende Rolle spielt, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er eine wesentliche Grundlage für die imposante formale Struktur bildet, welche die traditionelle nationalökonomische Theorie von den meisten anderen Human- und Sozialwissenschaften abhebt. Dieses theorieimmanente, defensive Argument kann insofern teilweise entschuldigt und verteidigt werden, als man darauf hinweisen kann, daß- wie immer Menschen sich in ihren Entscheidungen und Handlungen im allgemeinen verhalten mögen - die Verhaltensweisen im engeren Wirtschafts- und Marktbereich doch einen stärker abwägend-kalkulierenden Cha2 Siehe dazu Sirnon (1974) und Möller (1983)
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rakter haben, so daß der homo oeconomicus in diesem Bereich als zulässige theoretische Abstraktion akzeptabel sein mag. Wie dem auch sei, Tatsache ist, daß der Mensch im Rahmen der ökonomischen Theorie in der vereinheitlichten Standardform des "homo oeconomicus" auftritt. Als nutzenmaximierende Individuen sind wir alle gleich und stehen vor dem gleichen Problem, diese Maximierung im Wirtschaftsprozeß zu realisieren. Demgegenüber sind das Um und Auf der Sozialpolitik die Unterschiede zwischen den Menschen in bezug auf die aktuelle Situation, in der sie sich befinden. Es sind diese Unterschiede, die im Mittelpunkt stehen, sowohl als analytisches wie als therapeutisches Problem. Sind in der Basisphilosophie der traditionellen Wirtschaftstheorie die Präferenzen und Bedürfnisse der Menschen beliebig und beliebig verschieden, aber ihre relevanten Entscheidungssituationen gleich, nämlich die einer rationalen, nutzenmaximierenden Anpassung an die ökonomischen Rahmenbedingungen, so geht der sozialpolitische Ansatz eher von prinzipiell ähnlichen Bedürfnissen aller Menschen aus, die aber infolge ungleicher äußerer Umstände sehr unterschiedlichen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten, ungleicher Nutzenbefriedigung unterworfen sind. Oder mit anderen Worten, die Nationalökonomie sieht vor allem die generelle Knappheit materieller Güter und die Problematik einer (einheitlichen) Menschheit, sich in dieser Knappheit bestmöglich einzurichten, während in der Sozialpolitik die spezielle Knappheit (im weitesten Sinn) im Vordergrund steht, von der ein Teil der Menschen betroffen ist. Wachstum ist ein zentrales Thema der Wirtschaftstheorie, Verteilung eines der Sozialpolitik. Es ist kein Zufall, daß die neuere Armutsforschung von Ökonomen erst relativ spät und zögernd aufgenommen wurde, nachdem Soziologen, Sozialpychologen etc. sich damit intensiv befaßt hatten. Wir sehen somit, daß schon vom Ansatz her gewisse Schwierigkeiten bestehen, die an und für sich wünschenswerten Verbindungslinien zwischen der Ökonomie und einer interdisziplinär ausgerichteten Sozialpolitik herzustellen. Weitere Schwierigkeiten spezieller Art ergeben sich aber dann auch dort, so im Bereich der Wirtschaftstheorie echte Versuche bestehen, in Gebiete vorzustoßen, die sozialpolitisch relevant sind bzw. relevant sein könnten. Die Rede ist von der sogenannten Wohlfahrtsökonomie, einem Kapitel der Wirtschaftstheorie, das sich mit Wohlfahrtsaspekten und Wohlfahrtskonsequenzen ökonomischer Prozesse und ökonomischer Politik beschäftigt. Wiewohl der Terminus Wohlfahrtsökonomie (welfare economics) erst in diesem Jahrhundert auftauchte und sich- in Anschluß an das bahnbrechende Werk "Wealth und Welfare" des englischen Ökonomen Pigou aus dem Jahre 1912 - allmählich zur Abgrenzung eines eigenen Spezialbereichs der Wirtschaftstheorie ausweitete, ist Wohlfahrtsökonomie dem Wesen nach so alt wie die ökonomische Wissenschaft selbst. Das gilt schon für die vorklassische Nationalökonomie seit Ari-
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stoteles und nicht minder für die klassische Nationalökonomie und ganz besonders für ihren Protagonisten Adam Smith, der ja nicht nur ein bedeutender Ökonom war, sondern auch Professor für Moralphilosophie. Für die durch die Klassik geprägte wirtschaftstheoretische Tradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war es mehr oder weniger selbstverständlich und problemlos, mit ihren Analysen und Betrachtungen ökonomischer Zusammenhänge Überlegungen zu deren sozialer Bedeutung zu verknüpfen. Dies war die bereits eingangs erwähnte frühere Periode, in der man die Sozialpolitik als "Tochter der Nationalökonomie" bezeichnen konnte. Das galt auch noch für Pigou's Vorstoß in Richtung einer engeren Verknüpfung moderner ökonomischer Theorie mit den Problemen allgemeiner Wohlfahrt. Der Bruch kam erst in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts. In Zusammenhang mit der zunehmenden "Verwissenschaftlichung" und Spezialisierung der ökonomischen Modelle und einer strengen Auslegung des Wertfreiheitspostulats kam der Einschluß sozialpolitischer Aussagen über Vor- oder Nachteile bestimmter ökonomischer Handlungen und Abläufe in Verruf, da solche Aussagen nahezu unvermeidlich mit gewissen Werturteilen verbunden sind. Sie umfassen neben "lst"-Aussagen auch "Soli"-Aussagen, die - dies selbst ein Werturteil! - aus "rein" wissenschaftlichen Arbeiten ausgeschlossen bleiben sollten. So weit so gut (oder so schlecht). Man kann so ein strenges Postulat absoluter Werturteilsfreiheit akzeptieren, auch wenn man weiß, daß es nicht vollständig durchgehalten werden kann, oder man kann auch dafür eintreten, daß man Werturteile in die theoretische Analyse und in Empfehlungen einschließen darf, solange man nur die zugrundeliegenden Werturteile explizit darlegt. Letzteres ist die Strategie, die der schwedische Nobelpreisträger Gunnar Myrdal immer empfohlen und praktiziert hat. Hier geht des aber gar nicht darum, zwischen diesen beiden Strategien und eventuellen weiteren Alternativen eine Entscheidung zu treffen. Das Problem, mit dem wir es zu tun haben, liegt woanders. In der mainstream economics setzte sich, wie bereits erwähnt, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts im allgemeinen das strenge Prinzip der Werturteilsfreiheit als leitender Grundsatz durch, auch wenn es in der Praxis nicht immer eingehalten wurde. Aufgrund dieses Prinzips hätte jede wohlfahrtsorientierte Beurteilung ökonomischer Prozesse vollkommen entfallen müssen. Man könnte wohl deren Folgen beschreiben, aber in keiner Weise objektiv bewerten, d.h. sie als wohlfahrtsvermehrend zu empfehlen oder als wohlfahrtsvermindernd zu verwerfen. Eine "objektive" Bewertung sei unmöglich, da es kein objektives ("wissenschaftliches") Maß für gesamtgesellschaftliche Wohlfahrtsniveaus gebe. Da die "Wohlfahrt" eines Individuums im Sprachgebrauch der Ökonomen mit dem im Wirtschaftsprozeß erreichten persönlichen Nutzenniveau (das es zu maximieren trachtet) gleichgesetzt werden und schon gar nicht zwischen verschiedenen Personen verglichen werden kann, scheint es unmöglich zu sein, 2 In mcmoriam Theo Thiemeyer
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ohne subjektive Wertungen zu einem Urteil über Wohlfahrtseffekte zu gelangen. Werturteilsfreiheit und die Unmöglichkeit der Nutzenmessung und interpersoneller Nutzenvergleiche mußten also -so schien es - Wohlfahrtsaspekte endgültig aus der wirtschaftstheoretischen Literatur verbannen. Die alte Wohlfahrtsökonomie wurde für tot erklärt (zumindest als wissenschaftliche Disziplin). Aber es ist eine menschliche Eigenschaft, daß man nicht nur abstrakt forschen, sondern auch relevant Stellung nehmen will. Nicht zuletzt aus diesem Motiv heraus entwickelte sich seit Ende der dreißiger Jahre auf Grund der Pionierarbeiten von Hicks (1939) und Kaldor (1939) die sogenannte "Neue Wohlfahrtsökonomie", die es gestatten soll, wissenschaftlich objektive Maßstäbe für Wohlfahrtseffekte ökonomischer Prozesse zu liefern. In knappen Umrissen läßt sich die Essenz dieserneuen Wohlfahrtsökonomie folgendermaßen darstellen. Ausgangspunkt ist die Fragestellung, ob und wie man bei alternativ möglichen wirtschaftlichen Konstellationen, wie sie vor allem in wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozessen zur Diskussion gestellt werden, ein "objektives" ökonomisches Urteil abgeben könne, welche Alternative vom Gesichtspunkt der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt besser oder schlechter sei als andere, wobei Wohlfahrt als der subjektive Nutzen der einzelnen Individuen verstanden wird, den sie aufgrund der jeweilig gewählten wirtschaftlichen Variante erzielen können. Eine einfache generelle Optimierungsregel glaubte der Utilitarismus mit dem Grundsatz "Das größte Glück der größten Zahl", den man auch als größten Nutzen für die größere Zahl interpretieren kann, stipulieren zu können. Dies mußte aber aus einer Sicht abgelehnt werden, welche - angesichts des FehJens eines objektiven Maßstabs für individuelle Nutzenniveaus - interpersonelle Nutzenvergleiche als unwissenschaftlich erklärt, da eine Aufaddierung individueller Nutzen und die Berechnung eines gesamten Maximalnutzens unmöglich bzw. unzulässig ist. Ein Ausweg wurde durch die Einführung des sogenannten Pareto-Prinzips gefunden, das besagt, eine ökonomische Situation könne gegenüber einer anderen dann und nur dann vom Wohlfahrtsstandpunkt eindeutig als "besser" erklärt werden, wenn zumindest eine Person besser gestellt wird (d.h. ein höheres Nutzenniveau erreicht), ohne daß irgendeine andere Person schlechter gestellt wird. In diesem Fall entfällt die Notwendigkeit eines interpersonellen Nutzenvergleichs. In allen anderen Situationen, in denen eine Alternative Verbesserungen für einige Personen, aber Verschlechterungen für andere mit sich bringt, dürfe aus "wissenschaftlicher Sicht" kein Wohlfahrtsurteil abgegeben werden. Ein sogenannter "pareto-optimaler" Zustand ist somit kein "optimum optimorum", kein generelles Optimum wie es der Utilitarismus kennt, sondern jeder Zustand, von dem aus keine Verbesserung im paretianischen Sinn möglich ist, d.h. irgendeine Änderung, ohne daß irgendjemand benachteiligt wird. Es
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kann mehrere pareto-optimale Zustände geben, die untereinander nicht "objektiv" vergleichbar sind. Es ist aber klar, daß dieses Pareto-Kriterium nur in wenigen Fällen gestatten würde, in der Praxis Hinweise zu geben, ob eine bestimmte ökonomische Maßnahme, eine bestimmte ökonomische Alternative wohlstandsmäßig eine Verbesserung oder eine Verschlechterung darstellt. Denn in den meisten praktischen Fällen einer Veränderung gibt es neben mehr oder weniger zahlreichen Gewinnern auch einige Verlierer, so daß man von einem wohlfahrtstheoretischen Standpunkt aus kein Urteil abgeben könnte. Um diese krasse Beschränkung zu umgehen, führte die Neue Wohlfahrtsökonomie das sogenannte "Kompensationsprinzip" ein, das besagt, eine neue Situation solle auch dann "theoretisch" als "besser" bezeichnet werden können, wenn es zwar Verlierer gibt, aber die Gewinner nun so viel besser gestellt sind, daß sie die Verlierer voll kompensieren könnten (so daß diese ihr altes Nutzenniveau wieder erreichen) und noch immer besser dran sind als zuvor. Und zwar soll diese neue Situation prinzipiell als "besser", als "pareto-superior" bezeichnet werden, unabhängig davon, ob eine solche Kompensation tatsächlich stattfindet oder nicht. Diese Frage wird dem politischen Prozeß überlassen. Diese sehr geraffte Darstellung der Neuen Wohlfahrtsökonomie sollte genügen, um die Frage zu beantworten, ob sie als Brücke zwischen allgemeiner Wirtschaftstheorie und den Anliegen der Sozialpolitiklehre und der praktischen Sozialpolitik dienlich sein kann. Meiner Meinung nach muß diese Frage verneint werden. Und dies aus mehreren Gründen. Zunächst ist es notwendig, die Schwächen und Begrenzungen der Neuen Wohlfahrtsökonomie als solche zu betrachten, bevor wir sie mit der Sozialpolitik konfrontieren. Erinnern wir uns noch einmal, daß die Neue Wohlfahrtsökonomie zerrissen ist zwischen dem Wunsch, bestimmten methodologischen Wissenschaftspostulaten (insbesondere Werturteilsfreiheit) zu entsprechen und trotzdem - auf wissenschaftlicher Grundlage - Empfehlungen abgeben zu können. Das kann natürlich nicht gut gehen. Und so enthält die Wohlfahrtsökonomie sehr wohl ein - wenn auch scheinbar relativ harmloses und konsensfahiges - Werturteil, nämlich daß höherer Nutzen(= höhere Wohlfahrt) eines Individuums positiv zu bewerten ist und eine ökonomische Situation um so effizienter ist, je besser sie diesem Ziel entspricht. Auf Wohlfahrtssteigerung ausgerichtete ökonomische Effizienz ist somit die "ethische" Norm der Wirtschaftstheorie im allgemeinen und der Neuen Wohlfahrtsökonomie im besonderen. Die Schwäche dieses Ansatzes besteht nicht so sehr darin, daß man in diesem einen Punkt das Werturteilsfreiheitsprinzip durchbricht, sondern daß die gewählte Terminologie und der materielle Inhalt problematisch sind. Das gilt zunächst für den Begriff Wohlfahrt, der sehr eng ausgelegt ist. Er bezieht sich ausschließlich auf den individuellen Nutzen der im Wirtschaftsprozeß anfallen-
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den Güter und Dienstleistungen. Wohlfahrt, wie sie allgemein verstanden wird und wie sie gesellschaftlich angestrebt wird, ist ein viel umfangreicheres Gebiet und schließt unter anderem auch Fragen der Arbeitsbedingungen und der sozialen Stellung ein wie auch eine gewisse Berücksichtigung der Wohlfahrt anderer Individuen. Der englische Ökonom Little (1950) hat daher nicht zu Unrecht (aber erfolglos) vorgeschlagen, statt von "welfare" von "ecfare" zu sprechen, um die enge Begrenzung auf den Markt und den ökonomischen Bereich zu betonen. Aber selbst wenn man den Wohlfahrtsbegriff der Neuen Wohlfahrtsökonomie akzeptiert, bleibt sie ein zweifelhaftes bzw. stumpfes Instrument für die Bedeutung praktischer Alternativen. Das Kompensationsprinzip, das nur von potentieller Kompensation spricht, läßt die für die gesellschaftliche Wertung entscheidende Frage des Endresultats im ungewissen. Verzichtet man aber auf das Kompensationsprinzip, so erweist sich angesichts ungleicher Betroffenheit der Individuen eine pareto-orientierte Aussage meist als unmöglich. Schließlich ist noch einmal zu betonen, daß es mehrere pareto-optimale Situationen geben kann und meistens geben wird, zwischen denen dieser Ansatz keine Wahlmöglichkeit zuläßt. Unabhängig von diesen inhärenten Schwächen der Neuen Wohlfahrtsökonomie bestehen deutliche Gegensätze zwischen ihrem Ansatz und ihrer Perspektive mit denen der sozialpolitischen Sichtweise. Sozialpolitik will und kann nicht ohne deutliche normative Vorstellungen auskommen. Sie steht und fallt mit ihrem Praxisbezug, mit der Vorstellung, daß ein gesellschaftlicher Bedarf für bestimmte Zustände bzw. Änderungen besteht. Bessere Zustände sollen an Stelle von schlechteren treten. Das erfordert klare und explizite Vorstellungen darüber, was man als besser und was man als schlechter betrachtet. Dieses essentielle normative Element sozialpolitischer Forschung bedeutet keinen Verzicht auf Wissenschaftlichkeit oder auf wissenschaftliche Objektivität. Sobald die Werteskala, die man zugrundelegt, explizit dargelegt ist, hat man den Rahmen für die als relevant angesehenen Fragestellungen für jedermann nachvollziehbar festgelegt. Innerhalb dieses Rahmens kann man dann objektiv untersuchen, wie die Wirklichkeit oder sozialpolitische Alternativen beschaffen und aus der Sicht dieser Normen zu beurteilen sind. Die Normen selbst sind nicht wissenschaftlich-objektiv feststellbar, sondern hängen von ethischen Vorstellungen, spezifischen Interessen und politischem Konsens ab. Sie können sowohl von Person zu Person wie im Zeitablauf variieren. Dies spielt aber keine Rolle, solange sie explizit deklariert sind. Je nach normativem Ansatz wird es verschiedene Fragestellungen und verschiedene Antworten geben, die aber jeweils generell und interpersonell wissenschaftlich behandelt und diskutiert werden können.
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Ein weiterer, bereits erwähnter Unterschied zwischen Sozialpolitik und Wirtschaftstheorie besteht darin, daß die Sozialpolitik - im Gegensatz zur Wirtschaftstheorie - primär mit dem Problem der ökonomischen und sozialen Ungleichheit von Personen und Personengruppen zu tun hat. Wenn alle Menschen bezüglich ihrer Präferenzen, ihrer Fähigkeiten, ihrer Bildung und ihres Vermögens gleich wären, würde die Wirtschaftswissenschaft noch immer vor ihrer Aufgabe stehen, den Wirtschaftsprozeß, die Produktion und den Konsum von Gütern und Dienstleistungen zu erklären; ein Bedarf für sozialpolitische Themen würde aber nicht bestehen. Diese Ausrichtung der Sozialpolitik auf handlungsrelevante Unterscheidungen zwischen Personengruppen in ökonomischer, soziologischer und sozialpsychologischer Hinsicht bedeutet aber, daß die ökonomisch-wohlfahrtstheoretische Norm einer gesellschaftlichen Nutzenoptimierung unter der einschränkenden Bedingung, daß interpersonelle Nutzenvergleiche (weil "unwissenschaftlich") nicht zugelassen sind, nicht akzeptiert werden kann. Der Ausgangspunkt sozialpolitischer Problemstellungen ist ja gerade die Ansicht, daß es auf Grund von persönlicher Introspektion, von Sympathie und Empathie, Erfahrung und gesellschaftlichem Konsens möglich ist, sinnvolle und objektive Vergleiche über Bedürfnisse und deren Intensitäten bei verschiedenen Personen in verschiedenen Umständen anzustellen und zur Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen zu machen. Umverteilungen von Reichen zu Armen, von Gesunden zu Kranken, von Jungen zu Alten, können aus dieser Sicht sehr wohl als wohlfahrtssteigernd bezeichnet werden, auch wenn dadurch einige Gruppen Nachteile erleiden und nicht kompensiert werden können. Im Gegensatz zur Wohlfahrtsökonomie wird außerdem in der Sozialpolitik der Wohlfahrtsbegriff normalerweise weiter gefaßt sein und neben den materiellen Aspekten auch psychologische Aspekte und Fragen der Lebensqualität im allgemeinen mitberücksichtigen. Was für Folgen ergeben sich aus dieser Gegenüberstellung von sozialpolitischer und wirtschaftstheoretischer Forschung für die Frage einer interdisziplinären Zusammenarbeit bzw. Ergänzung? Zu dieser Frage möchte ich nun abschließend ganz kurz ein paar Worte aus der Sicht der Wirtschaftstheorie sagen. Eine Möglichkeit besteht darin, daß die Ökonomie sich dazu entschließt, die methodologischen Postulate von Werturteilsfreiheit und Ungmöglichkeit interpersoneller Nutzenvergleiche tatsächlich streng und eng auszulegen. Dann sollte aber folgerichtig die Neue Wohlfahrtsökonomie mit ihrem impliziten Werturteil von Effizienz und Pareto-Optimalität einerseits und ihrer Sterilität samt eingeschränktem materiellen Wohlfahrtsbegriff andererseits aus ihrem Programm gestrichen werden. Sie kann ihrem Wunsch "wissenschaftlich einwandfreie" Empfehlungen für die wirtschaftspolitische Praxis zu liefern nicht gerecht werden, von sozialpolitischer Relevanz ganz zu schweigen.
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Eine - wie mir scheint - fruchtbarere Alternative ist die Öffnung des methodologischen Verständnisses für sozialpolitische Fragestellungen, wie das in der Alten Wohlfahrtsökonomie typischerweise der Fall war. Sozialpolitische Fragestellungen und Verteilungsprobleme sollten in die Analysen und Modelle der ökonomischen Theorie stärker einbezogen werden. Das würde gelegentlich auch interpersonelle Nutzen- und Bedürfnisvergleiche erforderlich machen (die nicht notwendigerweise "wertend" sein müssen). Sicher sind diese nicht exakt meß- und abgrenzbar, aber sie können durchaus in grober Form "objektiv" erfaßt werden, sei es auf Basis physiologisch und psychologisch begründbarer Bedürfnishierarchien, sei es aufgrund gesellschaftlichen Konsenses, der ebenfalls ein reales Faktum darstellen kann. Eine solche Schwerpunktverlagerung einer ökonomischen Wohlfahrtstheorie, wie man sie bei einzelnen Forschern und in einer ganzen Anzahl von Spezialstudien schon durchaus finden kann, würde beträchtliche neue Möglichkeiten für einen Dialog zwischen Wirtschaftstheorie und Sozialpolitik eröffnen. Selbst dann könnte die Wohlfahrtsökonomie nur Teilaspekte der sozialpolitischen Problematik - nämlich die ökonomischen und Effizienzaspekte - beleuchten und nicht für sich allein ausschlaggebend sein. Sie würde aber weit relevantere Anregungen geben können, als dies heute der Fall ist. Gleichzeitig könnte kann eine Sozialpolitik, die sich solch einer ökonomischen Perspektive öffnet und sie in ihre Betrachtungen einschließt, effizienter und utopiefreier gestaltet werden.J
Literatur Herder-Dorneich, Ph. I Zerche, J. I Engelhardt, W. W. (Hsg.) (1992), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden. Hicks, J. R. (1939), "The Foundations of Welfare Economics", in: Economic Journal, Vol 49, S. 696-712. Kaldor, N. (1939), "Welfare Propositions in Economics and Interpersonal Comparisons of Utility", in: Economic Journal, Vol. 49, S. 549-52. Lampert, H. (1980), Sozialpolitik, Berlin. -
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Möller, R. (1983), Interpersonelle Nutzenvergleiche. Wissenschaftliche Möglichkeit und politische Bedeutung, Göttingen.
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Sozialpolitik und soziale Ungleichheit Deformulierung und Reformulierung
Von Ingeborg Nahnsen
I Daß ich mich mit den folgenden Ausführungen sehr gern an der Vorlesungsreihe zum Gedächtnis an Theo Thiemeyer beteilige, hat sehr viel mit Ähnlichkeiten in der Auffassung von den Aufgaben von Wissenschaft zu tun, die wir beide unter dem Einfluß desselben wissenschaftlichen Lehrers, nämlich Gerhard Weissers, entwickelt haben. In dieser gemeinsamen Sichtweise hat Wissenschaft stets auch eine pragmatische Seite. Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sollten immer auch an der Notwendigkeit tatsächlicher Gestaltung der öffentlichen Verhältnisse orientiert sein. Dies ist auch der Ausgangspunkt für die beiden Prämissen, unter denen die folgenden Ausführungen stehen: Thiemeyer nennt Weissers Position in dieser Frage, die sich auch in meiner ersten Prämisse ausdrückt, einen "auf die Verantwortung des Wissenschaftlers als Berater der Praxis abstellenden Ansatz") Hiermit im Zusammenhang steht meine zweite Prämisse, daß nämlich Sozialwissenschaft, in unserem Fall Sozialpolitiklehre, zumal wenn sie Beratungsfunktion ausüben will oder soll, ohne normative Aussagen auf der Basis von Werturteilen nicht auskommt.
II Meine These, die ich hier entfalten will, lautet: Seit den 60er Jahren hat die Sozialpolitiklehre in ihren Hauptströmungen einen für die klassische Sozialpolitik zentralen und konstitutiven Topos verloren, nämlich den der Orientierung an Phänomenen der sozialen Ungleichheit. In einem Deformulierungsprozeß ging damit auch die Orientierung an der mehrdimensionalen Bestimmtheit der 1 Thiemeyer, Tb., Wirtschaftspolitik als Wissenschaft. Gerhard Weissers System der Politik aus normativen Grundentscheidungen, in: Sozialer Fonschritt, 37. Jg., Heft 4, 1988.
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sozialpolitisch relevanten Situationen von Menschen verloren, die bei Ungleichheit stets gegeben ist. Gleichzeitig wendete sich das Hauptinteresse wissenschaftlicher Sozialpolitiklehre von der Produktionssphäre ab und der Reproduktionssphäre zu. Noch in den 50er Jahren hat Gerhard Weisser eine neue sozialpolitische Konzeption formuliert, die ausdrücklich an Ungleichheit orientiert ist. Wenn man seine Aussage, daß nicht lediglich Einkommen, sondern im gesellschaftlichen Verteilungsprozeß Lebenslagen verteilt werden2, mit der weiteren Feststellung verknüpft, daß Sozialpolitik auf die Lebenslage sozial Schwacher gerichtet ist, ergibt sich, daß Weisser eine gegliederte Gesellschaft, also eine solche vor Augen hat, in der Ungleichheit herrscht. Folgerichtig muß die Verbesserung von Lebenslagen zu einer Veränderung der Ungleichheitsrelationen führen. Daß Gerhard Weisser die Verminderung von Ungleichheit als ganz konkrete politische Aufgabe ansah, zeigt sich schließlich - wie auch Thiemeyer berichtet - an "Empfehlungen und Warnungen für die Gestaltung der Verteilungspolitik", in dem das von ihm sogenannte "Spornungspostulat" eine wesentliche Rolle spielt, wonach "Unterschiede in den Lebenslagen ... nicht größer sein (sollten) als zur Hervorlockung der aus der Perspektive des wirtschaftsgesellschaftlichen Gesamtinteresses wünschenswerten Leistung erforderlich ist".3 Obwohl Weisser, der Lebenslage als Spielraum zur Realisierung wichtiger Interessen definiert hat, stets von den Interessen des Einzelnen sprach, kann er auch nicht für die spätere Individualisierung des sozialpolitischen Denkens in Anspruch genommen werden. Vielmehr können nach Maßgabe seiner anthropologisch-philosophischen Vorstellungen nur individuelle Personen Träger von Interessen sein, was für ihn durchaus nicht ausschloß, daß größere Gruppen von Menschen gleichgelagerte Interessen haben. In einem seiner nichtveröffentlichten Skripte, hier in seinem Skript "Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre"4, heißt es, daß die Gleichförmigkeit von Lebenslagen größerer Mengen von Menschen Schichten und Klassen forme. So ergibt sich ganz eindeutig das Bild einer an Ungleichheitsrelationen orientierten Sozialpolitiklehre. Mochte auch Uneinigkeit unter Sozialpolitikern hinsichtlich der Vorstellungen von der tatsächlichen Gliederung der Gesellschaft oder von der als vorzugswürdig erachteten gesellschaftlichen Struktur herrschen, die entscheidende Gemeinsamkeit des Ansatzes lag in der Gleichzeitigkeit von jeweils vorausgesetzten bestimmten Ungleichheitstatbeständen, darauf bezogener Ziele und sozialtechnologischer Empfehlungen. Dies aufnehmend ordnete Ludwig Preller 2 Weisser, G., Distribution (II). Politik, in: Beckenrath, E. von u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd II, Göttingen I Stuttgart I Tübingen 1959. 3 Thiemeyer, Tb., Wirtschaftspolitik als Wissenschaft. 4 Weisser, G. , Einige Grundbegriffe der Sozialpolitiklehre. Neue Fassung 1957, Unveröffentlichtes (vervielfältigtes) Skript, Köln 1957.
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noch 1962 der Sozialpolitik eine "Strukturfunktion" zu, die "strukturerhaltend", "strukturwandelnd" oder "strukturgestaltend" wirken könne.s Maßgeblich für dieses Denken war nicht individuelle Ungleichheit, sondern Ungleichheit zwischen sozialen Kollektiven, d.h. Klassen, Schichten oder sonstigen Gruppierungen. Gustav Schrnoller hielt Heinrich von Treitschke vor, daß dieser "als Beispiel der heutigen socialen Gegensätze die bettelnde Mutter anführe, neben der ein Rennpferd durch eine Flasche Wein gestärkt wird. Nicht um solch individuelle gefällige Einzeltatsachen handelt es sich" - so fahrt er fort - "sie werden immer vorkommen, sondern darum, ob die Durchschnittsbedingungen, unter denen ganze Klassen leben, normal sind, ob es wünschenswert ist, daß die verschiedenen socialen Klassen durch immer tiefere, breitere Kluftengetrennt werden" .6 Wenn nach dem Kriege gelegentlich behauptet wurde, die Sozialpolitiklehre habe sich lediglich mit Arbeiterpolitik beschäftigt und weite sich nunmehr aus, schwingt darin ein Mißverständnis mit, welches den Unterschied zwischen einem jeweils vorausgesetzten sozialstruktureilen Befund der Gesellschaft auf der einen Seite und einem mit Hinblick hierauf entwickelten Adressaten- und Maßnahrnenkonzept verkannte. Diese Differenz prägte sich auch in einer Unterscheidung zwischen engeren und weiteren Begriffen von Sozialpolitik aus, einer Einteilung, die sich in der älteren Literatur mehrfach findet, so z.B. bei Van der Borgt 1904 und noch 1956 bei Leopold von Wiese.? Unter der Überschrift "Doppelte Fassung der Normen" thematisiert Helmut Winterstein diesen Sachverhalt als "zweifache Begriffsbestimmung".S Soweit Sozialpolitiklehre als Arbeiterpolitik konzipiert wurde - vornehmlich im Kathedersozialismus - beruhte dies auf Annahmen über den Zustand der Gesellschaft, aus denen eine Gefahrdung der Arbeiterklasse gefolgert wurde (Soziale Frage als Konflikt zwischen Kapital und Arbeit). Während gerade der Kathedersozialismus darin auch ein ethisches Problem sah, galt die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter darüber hinaus als Bedingung des wirtschaftlichen Fortschritts (Sombart), des Kulturfortschritts (Zwiedineck-Südenhorst)
5 Preller, L, Sozialpolitik. Theoretische Ordnung, Tübingen I Zürich 1962. 6 Schmoller, G., Über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft. Ein offenes Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Heinrich von Treitschke, in: ders., Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und der Volkswirtschaftslehre, Leipzig 1898. 7 Van der Borgt, R., Grundzüge der Sozialpolitik, Leipzig 1904; Wiese, L. von, Sozialpolitik (III). Sozialpolitik als Wissenschaft, in: Beckenrath, E. von u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd 9, Tübingen 1956. 8 Winterstein, H., Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen, Berlin 1969.
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oder überhaupt der Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der gesellschaftlichen Stabilität (Amonn)9. Daß regelmäßig Vorstellungen über die gesamtgesellschaftliche Struktur maßgeblich waren, erlaubte es auch, andere Adressaten als die Arbeiterklasse ins Auge zu fassen. So rückten z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg Mittelslandsangehörige ins sozialpolitische lnteresse.lO Gerhard Weisser zählte neben anderen die damaligen Flüchtlinge und Vertriebenen zu den sozialpolitisch bedeutsamen Gruppen. Wer in den frühen 50er Jahren als Kölner Student oder Studentin gleichzeitig an den sozialpolitischen Seminaren von Weisser und Ludwig Heyde teilnahm, geriet zwangsläufig in das Spannungsfeld, das dadurch entstand, daß Heyde sehr nachdrücklich am Primat der Arbeiterfrage festhielt.11 Weisser hat 1974 den angesprochenen Zusammenhang von gesellschaftspolitischer Orientierung und konkreter sozialpolitischer Konzeption mit der Feststellung verdeutlicht, daß es zwar "zweckmäßig ist, an einer speziellen Lehre der Sozialpolitik in dem engeren, dem deutschen Sprachgebrauch traditionellen Sinne festzuhalten, aber diese Lehre natürlich axiomatisch in Bezug zu einer umfassenden Lehre von der Gesellschaftspolitik überhaupt zu setzen" .12 Die in dieser Weise gesellschaftspolitisch orientierte Sozialpolitiklehre bedarf als beratende Wissenschaft einer Handlungskonzeption zweiseitiger Komplexität.13 Anders formuliert: Wenn als sozialpolitische Adressaten gesellschaftliche Schichten ins Auge gefaßt werden - "Schicht" hier einmal als neutraler Sammelbegriff für alle Arten gesellschaftlicher kollektiver Fraktionierungen benutzt - die in sozialpolitisch problematischer Ungleichheit im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Fraktionen leben, dann rücken alle Elemente der gesellschaftlichen Struktur, die im Verbund miteinander auf die Situation der Mitglieder dieser Schichten einwirken, ins wissenschaftliche Interesse. So stellen sich die sozialen Existenzbedingungen jeweils nicht eindimensional dar, sondern werden als mehrdimensionale komplexe Sachverhalte bearbeitet. Emp9 Vgl. Sombart, W., Ideale der Sozialpolitik, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 10. Bd. 1897; Zwiedineck-Südenhorst, 0 . von, Sozialpolitik, Leipzig u. Berlin 1911; Amonn, A, Der Begriff der "Sozialpolitik", in: Schmollers Jahrbuch, 48. Jg, 1924. 10 Vgl. z.B. Albrecht, G., Sozialpolitik, Göttingen 1955.
11 Weisser, G. I Herkenrath, Materialien zu einer Vorlesung, unveröffentlichtes Manuskript, Köln 1957; Heyde, L, Abriß der Sozialpolitik, 11. Auf!., Heidelberg 1959.
12 Weisser, 0 ., Politik der sozialen Sicherung und Freiheitsschutz- Beitrag zu den Grundfragen der allgemeinen Lehre der Gesellscbaftspolitik, in: ders., Beiträge zur Gesellschaftspolitik, ausgew. u. hrsg. von S. Kalterle I W. Mudra I L F. Neumann, Göttingen 1978; erstmals 1974. 13 Vgl. auch Andrena, 0., Zur konzeptionellen Standortbestimmung von Sozialpolitik als Lebenslagenpolitik, Regensburg 1990.
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fehJungen an die Politik entsprechen dann notwendigerweise diesem Muster; anzuraten sind nicht Einzelmaßnahmen, sondern komplexe Strategien. Dafür bedarf es nicht nur des Wissens einer Disziplin. Martin Pfaff spricht von der Notwendigkeit einer integrierten Sozialpolitik.l4 Nicht nur in der Literatur, sondern auch im sozialpolitischen Lehrbetrieb der ersten Zeit nach Ende des Zweiten Weltkrieges spiegelte sich das Geschilderte wieder. Die institutionelle Seite der Sozialpolitik wurde als Ergebnis von gesellschaftlichen Strukturproblemen und Ungleichheitsrelationen diskutiert und der Frage zugeführt, inwieweit und wodurch Lebenslagen nachhaltig verbessert werden konnten; d.h. wie auf die jeweilige Gesamtposition von Betroffenen in der Gesellschaft verbessernd oder stabilisierend eingewirkt werden könnte. Hierzu gehörten die strittige Diskussion von Wirtschaftsdemokratie-Elementen, etwa von Mitbestimmung und Betriebsverfassung, aber auch die mögliche Wirksamkeit von Selbsthilfeorganisationen. Es kann von heute aus betrachtet als symptomatisch gelten, daß nahezu ausschließlich die Rolle von Selbsthilfeorganisationen im produktiven Bereich thematisiert wurde, dies nicht zuletzt auch wiederum durch Gerhard Weisser. Im Kreise der Weisser-Schüler hat dies weitergewirkt; ich nenne nur Theo Thiemeyers Aufsatz "Selbsthilfe als alternative Organisationsform der Produktion von Gütern und Diensten"15 und das umfangreiche genossenschaftstheoretische und morphologietheoretische Schrifttum von Wilhelm Werner Engelhardt.l6
111 Der dann einsetzende Wandel wird sehr gut durch das 1969 erschienene Buch von Helmut Winterstein "Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen" markiert)? Winterstein stellt fest, daß sich das wissenschaftliche sozialpolitische Denken 14 Pfaff, M., Grundlagen einer integrierten Sozialpolitik, in: Pfaff, M. u.a., Sozialpolitik im Wandel. Von der selektiven zur integrierten Sozialpolitik, Bonn I Bad Godesberg 1978. 15 Thiemeyer, Tb., Selbsthilfe als alternative Organisationsform der Produktion von Gütern und Diensten, in: Badura, B. I Ferber, Ch. von (Hrsg.), Gesundheitswesen. Die Bedeutung nicht-professioneller Sozialsysteme für Krankheitsbewältigung, Gesundheitsvorsorge und die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, München I Wien 1981. 16 Von jüngeren Publikationen seien u.a. genannt: Engelhardt, W. W., Genossenschaft - Quo vadis? Eine neue Anthologie, in: ders. I Tbiemeyer, Th. (Hrsg), Beiheft 11 der Zeitschrift für öffentliche und gemeinnützige Unternehmen, Göttingen 1988; ders. , Zur Relevanz morphologischtypologischer Theorieaspekte für die Genossenschaftslehre, in: Zerche, J. I Herder-Domeich, Pb. I Engelhardt, W. W., (Hrsg.), Genossenschaften und genossenschaftwissenschaftliche Forschung, Regensburg 1989. 17 ebenda.
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bis dahin überwiegend an der Klassen- und Schichtstruktur der Gesellschaft orientiert habe. Die "sozialen Klassen" seien maßgeblich ihr Objekt gewesen, und sie habe "die Bekämpfung gesellschaftlicher Antagonismen als Kern der Aufgabe von Sozialpolitik" verstanden. Unter gleichzeitigem Hinweis auf Schriften von Achinger, Bethusy-Huc und Schelsky1s führt er aus, daß mit dem (seiner Ansicht nach) beobachtbaren Verschwinden der gesellschaftlichen Klassengliederung die Sozialpolitik in die Gefahr geriete, in den aus der Klassenorientierung stammenden Maßnahmen zu erstarren, während tatsächlich der Übergang zur größeren Individualisierung und zur Schaffung größerer Spielräume für freie und individuelle Lebensgestaltung zwingend notwendig sei. Während er zunächst noch zu den Feldern der Sozialpolitik jene Gebiete zählt, deren Thematisierung und schrittweise Regelung zur Verbesserung der Lebenslage der Arbeitnehmer in der Produktionssphäre beitragen sollten, also z.B. die Fragen der Mitbestimmung, der Betriebsverfassung und des Arbeitsschutzes, entfernt sich seine weitere Argumentation immer mehr von diesem Ansatz. Schließlich diskutiert er fast nur noch die monetären Sozialleistungen, also das "System der Sozialen Sicherung", vorrangig die Sozialversicherung, und behandelt dies als Kernbereich der Sozialpolitik. Erscheinungsjahr und Argumentationsmuster dieses Buches sind symptomatisch für den Wandlungsprozeß, der sich bei den vorherrschenden Strömungen des wissenschaftlichen sozialpolitischen Denkens damals vollzog: Daß die Problemfelder der klassischen Sozialpolitik, besonders diejenigen des Arbeitslebens und der damit im Zusammenhang stehende Institutionalisierungsbedarf nach wie vor thematisiert werden, aber gewissermaßen als nicht mehr aktuell oder als gelöst betrachtet wie Historie behandelt werden, während sich das aktuelle Interesse auf das seit den 50er Jahren als System und Politik der "Sozialen Sicherheit" bezeichnete System ökonomischer Absicherung konzentriert und das vornehmlich auf die ökonomischen Probleme dieses Systems, kehrt in späteren sozialpolitischen Publikationen häufig wieder. Sozialpolitik wird zunächst zur Einkommensverteilungspolitik wie etwa bei Elisabeth Liefmann-Kei119, und dann zunehmend überhaupt ökonomische Theorie der Sozial18 Neben anderen Schriften von Achinger besonders: Gefahren der lnstitutionalisierung in der Sozialpolitik, in: Sinnvolle und sinnwidrige Sozialpolitik, Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwinscbaft, Tagungsprotokoll Nr. 12, Ludwigsburg 1959; siehe auch: Bethusy-Huc, V. von, Das Soziaileistungssystem in der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1965 und neben anderen Titeln besonders Schelsky, H., Gesellschaftlicher Wandel, in: Offene Welt, Jg. 1956, Heft 41.
19 Liefmann-Keil, E., Ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Berlin I Göttingen I Heidelberg 1961. Liefmann-Keil reduzien den Veneilungsaspekt der Sozialpolitik auf die schiere Einkommensverteilung und beruft sieb damit auf Adolph Wagner. Dies ist eine fehlerhafte, weil ganz einseitige Interpretation des sozialpolitischen Denkens von Wagner, dessen Veneilungsvorstellungen durchaus weiterreichten. Offenbar spielt hier eine beschränkte Quellenkenntnis eine Rolle, wofür spricht, daß sich Liefmann-Keil vor allem auf den Aufsatz "Über soziale Finanz- und Steuerpolitik" (in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 4. Bd., 1891) stützt. Leider findet sich diese
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politik und konzentriert sich damit ganz wesentlich auf die quantitativ-rechenhaften Probleme des Systems der sozialen Sicherheit. Diese Hinweise mögen genügen, um zu verdeutlichen, daß der angesprochene Prozeß der Veränderung und Deformulierung sich als qualitativ wirksamer Vorgang der Verengung des sozialpolitischen Problemfeldes bzw. der weitreichenden Eliminierung ursprünglicher sozialpolitischer Arbeitsbereiche darstellt. Nur scheinbar widersprüchlich hierzu ist die Behauptung, die sich auch bei Winterstein findet, daß eine "ständige Ausdehnung des Arbeitsfeldes der praktischen Sozialpolitik" stattfinde, eine auch von Hans Achinger vorgebrachte Theseßl Liest man aber solche Behauptungen in ihrem Kontext, so zeigt sich, daß sie sich nicht auf eine qualitative Ausweitung des sozialpolitischen Problemfeldes beziehen, sondern wesentlich den quantitativen Aspekt der Einbeziehung einer wachsenden Zahl von Menschen in das monetäre Leistungssystem reflektieren. Geht man der Frage nach, welche Faktoren diesen Wandlungsprozeß verursacht haben, so wird man zunächst die Zeitumstände berücksichtigen müssen, in denen er sich - auch in gegenseitiger Beeinflussung von Wissenschaft und Politik - entfaltete: Im Zuge der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Restauration der Bundesrepublik, und besonders im Zusammenhang mit der Wohlstandsentwicklungseit Mitte der 50er Jahre relativierte sich nicht nur der Klassenkonflikt, sondern setzte sich auch weithin die Auffassung durch, daß eine eigentliche Klassengliederung der Gesellschaft nicht mehr gegeben sei. Sie konnte sich auch auf Schelskys These von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft'' stützten.21 Wie Bernhard Schäfers bemerkt, hatte "dieser 1953 geprägte Begriff ... eine erhebliche Breitenwirkung und schien das Selbstverständnis der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren zutreffend zu bezeichnen".22
Fehleinschätzung auch in späteren Veröffentlichungen wieder, so z.B. bei Leibfried, St. I Tennstedt, F., Armenpolitik und Arbeiterpolitik. Zur Entwicklung und Krise der traditionellen Sozialpolitik der Verteilungsformen, Bremen 1985. Zutreffend interpretiert dagegen Engelhardt den Wagnersehen Ansatz. Vgl. EngelhardJ, W. W., Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik. Institutionelle und Lebenslage-Analyse als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik II, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd 240, Berlin 1991. 20 Winterstein, H. Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen; Achinger, H., Soziale Sicherheit, Stuttgart 1953; ders., Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Harnburg 1958.
21 Schelsky, H., Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft (erstmalig 1954), in: ders.: Auf der Suebe nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf I Köln 1965. 22 Schäfers, B., Sozialstruktur und Wandel der Bundesrepublik Deutschland, 2. überarb. und erweiterte Autl., Stuttgart 1979.
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Für die Wechselbeziehung zwischen wissenschaftlicher Sozialpolitik und politischer Praxis fiel es zweifellos ins Gewicht, daß die damals vorherrschende Politik nur wenig an einer reformgeneigten Sozialpolitik interessiert war, wie sie bei Ungleichheitsorientierung tendenziell stets anklingt. Die Bundesrepublik war als Nachfolgeein des Deutschen Reiches seit 1953 wieder Mitglied der Internationalen Arbeitsorganisation und hatte die Konvention über "Soziale Sicherheit" ratifiziert. Das hiernach zur Anwendung empfohlene Maßnahmensystem, das sich institutionell aus Sozialversicherung, Versorgung und Fürsorge zusammensetzte, bestand in der Bundesrepublik bereits. Es brauchte allenfalls neu geordnet, nicht aber neu geschaffen zu werden. Außerdem war es gegenüber unterschiedlichen Gesellschaftssystemen neutral und erforderte daher keine gesellschaftspolitischen Reformanstrengungen. Vielmehr ließ es sich in das marktwirtschaftliche System relativ reibungslos integrieren, wie die Neuregelungsgesetze der 50er Jahre zeigten. Bemerkenswerterweise wurde die eingeleitete Entwicklung der zunehmenden Gleichsetzung von Sozialpolitik mit Politik der Sozialen Sicherheit sogar von ihren Kritikern vorangebracht. Auchjene Sozialpolitiker, die sich mit weiterreichenden gesellschaftlichen Reformzielen an der Sozialreformdebatte der 50er Jahre beteiligt hatten, unterstützten das Konzept der "Sozialen Sicherheit". Sie sahen darin allerdings nicht eine Alternative zur klassischen Sozialpolitik, sondern deren Ergänzung. Sie verstanden auch, was bei Walter Auerbach besonders deutlich wird, die von der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen aufgestellten Grundsätze der "Sozialen Sicherheit" als wichtige ethischmoralische Fundierung der Forderung nach sozialpolitischen Maßnahmen überhaupt und bekräftigten diesen Standpunkt gegen eine in den 60er Jahren zunehmend artikulierte Kritik.23 Kritik von dieser Seite richtete sich lediglich gegen die Einseitigkeit des Konzepts. Nur Erik Boettcher meldete grundsätzliche Bedenken an und antizipierte die Verdrängung anderer Problemfelder.24 Außerordentlich engagierte Kritik wurde aber bereits früh von Hans Achinger formuliert.25 Achinger, mehr aus sozialpädagogischen Traditionen als von der klassischen Sozialpolitik herkommend, sah in der Sozialpolitik vornehmlich ein Schutz- und Hilfesystem, das aber in der gegebenen Form seinen Zweck verfehlte. In seinen Augen blockiert die Sozialpolitik in Gestalt des gegebenen Systems der "Sozialen Sicherheit", als das er Sozialpolitik im wesentlichen ver23 Auerbach, W.,
furt a.M. 1968.
Zusammenhänge, Illusionen und Wirklichkeit der sozialen Sicherung, Frank-
24 Boettcher, E., Sozialpolitik und Sozialreform, in: ders. (Hrsg.), Sozialpolitik und Sozialreform, Harnburg I Tübingen 1957.
25 Vgl. vor allem Achinger, H., Soziale Sicherheit; sowie: ders., Zur Neuordnung der sozialen Hilfe. Konzept für einen deutschen Sozialplan, Stungart 1954, und ders., Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, Harnburg 1958.
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stand, eine angemessene soziale Hilfe und ihre notwendige Individualisierung. Sie hält an falscher Kausalität fest, während Finalität gebraucht wird, ein Gesichtspunkt, der sich auch bei Winterstein findet. Achingers Einfluß auf die Sozialpolitiklehre wirkt noch heute fort. Daß er seinerzeit seine Vorstellungen sehr erfolgreich durchsetzen konnte, lag unter anderem daran, daß er Mitglied von wichtigen sozialpolitischen Willensbildungs- und Beratungsgremien war. Wer ihn gekannt hat, entsinnt sich, wie außerordentlich engagiert er seine Auffassungen vertrat, vor allem aber auch wie außerordentlich arbeitsintensiv und fleißig er war. So war er es, der fast regelmäßig die Stellungnahmen wichtiger Gutachten zur Sozialpolitik wesentlich voranbrachte und damit auch beeinflußte. Förderte er auf der einen Seite die zunehmende einseitige Identifizierung der Sozialpolitik mit den Institutionen der "Sozialen Sicherheit" (die er ja eigentlich ablehnte) dadurch, daß er sich unentwegt mit diesen Institutionen als Inbegriff von Sozialpolitik auseinandersetzte, so nahm er im Rahmen seiner gutachterliehen Tätigkeit nicht minderengagiert an der Ausgestaltung dieses Systems teil und verfestigte auch hierdurch die Gleichsetzung. Entsprechend heißt es in dem Bericht der SozialenqueteKommission, der er angehörte und der im Auftrag des Bundeskanzlers unter weiterer Mitwirkung von Waller Bogs, Helmut Meinhold, Ludwig Neundörfer und Wilfried Schreiber erstattet worden war, daß "die Sozialpolitik ... schwergewichtig auf die Sicherung der Individuen gerichtet (sei)". An anderer Stelle werden als "Hauptzweige der Sozialpolitik" genannt: Alterssicherung, Krankheitssicherung, Sicherung für den Fall langfristiger Leiden und Gebrechen, Sicherung für den Fall der Erwerbslosigkeit, Familienausgleich, Sicherung für den Fall der Haftpflicht".'lh Ganz zweifellos hängen die Veränderungen bei der wissenschaftlichen Bearbeitung sozialpolitischer Probleme, die sich im Übergang von den 50er zu den 60er Jahren vollzogen haben, auch mit Veränderungen des Verständnisses von Theorie, besonders der ökonomischen Theorie, zusammen. Wenn Lampert von den Theorielücken der Sozialpolitik in der Nachkriegszeit spricht, so ist das unbeschadet tatsächlich vorhandener Lücken - auch Ausdruck des damaligen Vordringens der neoklassischen Wirtschaftstheorie.27 Hinsichtlich der traditionellen Beziehungen der Sozialpolitik zu den Wirtschaftswissenschaften muß sicherlich auch beachtet werden, daß die heutige Ökonomik kaum noch mehr als den Namen mit jener Volkswirtschaftslehre gemeinsam hat, in deren Rahmen
26 Soziale Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland, Sozialenquete. Bericht der Sozialenquete-Kommission, Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz ohne Jahr; tatsächlich 1966. 27 Lamperr, H., Aufgaben und Grundzüge einer Theorie der Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 193, Berlin 1990. 3 In memoriam Theo Thiemeyer
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sich das sozialpolitische Denken in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wissenschaftlich entfaltet hat.
IV Bis in die 60er Jahre hinein existierte trotz aller unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Positionen ein allgemeiner Zusammenhang des wissenschaftlichsozialpolitischen Diskurses. Im Verlauf der 60er Jahre löste sich dieser Zusammenhang auf, und es entstanden vor allem zwei getrennte Kreise, ein primär ökonomisch, und ein primär soziologisch orientierter sozialpolitik-wissenschaftlicher Kommunikationszusammenhang. Die von ihm für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg festgestellten theoretischen Lücken wurden für Lampert merklich durch die Re-Integration in die Wirtschaftswissenschaften verringert. Er sieht den Beginn dieser Entwicklung in Liefmann-Keils Werk "Ökonomische Theorie der Sozialpolitik" von 1961. Seine These ist, daß hierdurch "vor allem drei Entwicklungslinien initiiert" wurden: (1) Die Anwendung der analytischen Instrumente der neueren Mikrotheo-
rie ... auf die Analyse sozialpolitischer Probleme, (2) die Ableitung der Makrowirkungen der Sozialpolitik mit Hilfe der Kreislaufanalyse und (3) die Anwendung der ökonomischen Theorie der Politik auf die sozialpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse.28
Es entsteht in der Tat eine entsoziologisierte ökonomische Theorie der Sozialpolitik, was erklärt, daß sich die Sozialpolitiklehre immer einseitiger auf ökonomische Aspekte konzentriert. Es liegt auf der Hand, daß die Sozialpolitiklehre in dieser Verfassung Schwierigkeiten haben muß, sich unmittelbar mit sozialstrukturellen Fragen und komplexen Ungleichheitsphänomenen zu befassen. Aktuelle Ungleichheitsprobleme fallen hierdurch vielmehr aus der sozialpolitischen Bearbeitung heraus. Gesellschaftliche Differenzierung als Gegenstand sozialpolitischer Reflexion geht lediglich noch als vergangener Problemzusammenhang in die Definitionen und Entstehungstheorien von Sozialpolitik ein. Lamperts eigenes Konzept von "Aufgaben und Grundzügen einer Theorie der Sozialpolitik"29 kann dafür als gutes Beispiel dienen. Es folgt bei aller Verschiedenheit im einzelnen dem bereits von Winterstein vorgegebenen Muster.JO 28 ebenda. 29 ebenda. 30 Winterstein, H., Sozialpolitik mit anderen Vorzeichen.
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Ausgehend von einem umfassenden, weit ausholenden Konzept sozialer Bedarfe (mit Rekurs auf Widmaier, dessen Theorie sozialpolitischer Bedürfnisse gleichzeitig erweitert werden soll31), mit Achirrger von der "gesellschaftsgestaltenden Wirkung neuzeitlicher staatlicher Sozialpolitik" in der Vergangenheitsform handelnd, engt Lampert seinen Argumentationsrahmen Schritt für Schritt ein, bis Gegenstand seiner theoretischen Bemühungen letztlich allein das ökonomische Leistungssystem der Sozialpolitik ist. Vereinzelt gibt es gegen diese Entwicklung noch Widerstand aus den Reihen der traditionellen Sozialpolitik. So schreibt Ludwig Preller noch 1970: "Sozialpolitik besteht eben nicht, wie Äußerungen von sozialpolitisch Interessierten manchmal fast vermuten lassen, nur aus dem System der sozialen Sicherung. Je mehr es um die Integration der abhängig oder auch der selbständig Tätigen in die Gesamtgesellschaft geht, um so bedeutungsvoller werden - neben dem alten sozialpolitischen Bereich des Arbeitsschutzes einschließlich des Gesundheitsschutzes - die Beschäftigungs- und Berufspolitik, die Wohnungs- und die Bevölkerungspolitik und schließlich die Probleme der Mitbestimmung, der Eigentumspolitik und nicht zuletzt der Bildungspolitik." Und weiter spricht er vom sozialpolitischen Geschehen als von einem Vorgang, der sich "kaum weniger pathetisch beschreiben" ließe, "als daß die Kluft, die die erste industrielle Revolution zwischen Abhängigen und Selbständigen aufgerissen hat- nachdem zuvor schon die Kluft zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, Gebildeten und Nichtgebildeten groß genug war - nun überbrückt und ausgelöscht werden soll. Das hat etwas mit der Würde von Menschen zu tun, denen trotz aller fortbestehender physischer, psychischer und geistiger Ungleichheit die gleichen Chancen einer Erfüllung ihres Lebens geboten werden soll".32 Von solchen und einigen anderen Ausnahmen (nicht zuletzt aus dem Kreis, den man mit Schulz-Nieswandt als Weisser'sche Schultradition bezeichnen kann33) bleibt jedoch der geschilderte Deformulierungsprozeß dominant. Allenfalls zeigen sich schwache Anklänge an die ursprüngliche gesellschaftspolitische Orientierung. So beziehen etwa Jürgen Zerehe und Fritz Gründger die ordnungspolitische Perspektive von Sozialpolitik nicht auf soziale Ungleichheit, sondern auf "soziale Mißstände, (die) schon möglichst für die Zukunft ausgeschlossen werden" sollten.34 Horst Sanmann verschiebt in seinen Ausführungen zu "Leitbildern und Zielsystemen der praktischen Sozialpolitik" die Frage nach 31 Widmaier, H.-P., Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat, Harnburg 1976. 32 Preller, L., Praxis und Probleme der Sozialpolitik. 2 Halbbände, Tübingen I Zürich 1970. 33 Schulz-NieswandJ, F., Die Weisser'scbe Schultradition der deutseben Sozialpolitikwissenschaft im Vergleich zur modernen britischen Sozialpolitiklehre in der Tradition von Titmuss, in: Sozialer Fortschritt, 39. Jg., Heft 12, 1990. 34 Zerche, J. I Gründger, F., Sozialpolitik. Einführung in die ökonomische Theorie der Sozialpolitik, Düsseldorf 1982.
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der gesellschaftlichen Gestaltungsaufgabe der Sozialpolitik ins Formale und damit ins Unverbindliche.35 Mit Christian von Ferbers Buch "Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft" von 196736 wird der Grundstein für die Entwicklung des soziologisch orientierten sozialpolitischen Kommunikationskreises gelegt. Zugleich setzt hiermit die Kritik an der ökonomisch orientierten Sozialpolitik ein. Dabei wird die in den Jahren davor entwickelte weitgehende Gleichsetzung von Sozialpolitik und System der Sozialen Sicherheit, die ja auch von der staatlichen Sozialpolitik jener Tage deutlich gefördert wurde, als "die" Sozialpolitik unterstellt und schonjetzt als "herkömmliche" Sozialpolitik bezeichnet. Angeknüpft wird an Achingers Kritik, der ja in der Sozialpolitik "einen Prozeß der lnstitutionalisierung und Verrechtlichung dessen" sah, "was früher gegenseitige Hilfe hieß", und was "eine fortschreitende und immer erfolgreichere Entpersönlichung des Hilfsaktes" mit sich bringe "der als solcher schon gar nicht mehr bezeichnet werden kann, weil er einen Helfer, eine Person voraussetzen würde".371976 erscheinen Baduras und Groß' Buch "Sozialpolitische Perspektiven"38 und Tennstedts "Zur Ökonomisierung und Verrechtlichung in der Sozialpolitik"39. Neben der Kritik an Verrechtlichung, Ökonomisierung, Professionalisierung, Bürokratisierung und Generalisierung wird beklagt, daß die praktizierte Sozialpolitik weder die Partizipation der Betroffenen an den Entscheidungen über Leistungen und Maßnahmen zulassen, noch andere als ökonomische, vor allem auch nicht psychosoziale Faktoren berücksichtige. Mehr Förderung von Selbsthilfe wird gefordert. Diese Forderung bezieht sich indessen vornehmlich nicht mehr auf Selbsthilfe im Produktionsbereich. Im Rahmen soziologischer Sozialpolitiklehre wird ein veränderter Zugang zu Entstehungsbedingungen von Sozialpolitik und ihren hauptsächlichen Problemfeldern begründet. Die Entstehung von Sozialpolitik wird als ein Aspekt der Entwicklung von Armenhilfe und Armutspolitik aufgefaßtw, wobei die Unterscheidung von Arbeiterpolitik und Armutspolitik und die hierauf aufbauende 35 Sanmann, H., Leitbilder und Zielsysteme der praktischen Sozialpolitik als Problem der wissenschaftlieben Sozialpolitik, in: ders. (Hrsg.), Leitbilder und Zielsysteme der Sozialpolitik, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, N.F., Bd. 72, Berlin 1973. 36 Ferber, Cb. v., Sozialpolitik in der Wohlstandsgesellschaft, Hamburg 1967. 37 Achinger, H., Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. 38 Badura, B. I Groß, P., Politische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienstleistung, München 1976.
39 Tennstedl, F., Zur Ökonomisierung und Verrechtlichung in der Sozialpolitik, in: Murswieck, A (Hrsg.), Staatliche Politik im Sozialsektor, München 1976. 40 Vgl. u.a. Sachße, Ch. I Tennstedl, F., Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1980; Tennstedl, F., Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981.
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institutionelle und konzeptionelle Trennung von Sozialversicherung und Sozialhilfe nachdrücklich kritisiert wird. Lohnabhängigkeit und die darüber hinaus bestehende Armut außerhalb des Erwerbssystems drücken nach dieser Auffassung zwar Ungleichheiten aus; ihre Differenzierung beruht aber einerseits auf staatlicher Politik, andererseits auf fehlerhafter Sichtweise der Sozialpolitiklehre.41 Zweifel an der Normalität des Erwerbseinkommens als notwendiger Grundlage der Existenzsicherung und Skepsis gegenüber der Sinnhaftigkeit von Erwerbsarbeit führen zum Postulat der Trennung von Arbeit und sozialer Sicherung. Von hier aus werden Konzepte von erwerbsunabhängigen Grundeinkommen entwickelt.42 Negativ und positiv ist bei den Angehörigen des soziologisch orientierten Kreises von Sozialpolitikern die Konzentration auf die materielle Existenzsicherung fast noch ausgeprägter als bei der ökonomisch orientierten Sozialpolitiklehre. Sie wird aber in erster Linie als sozialstaatskritische Perspektive gegen die staatliche Politik gewendet. Zwischen diesen beiden Kommunikationssystemen, dem ökonomisch orientierten und dem soziologisch orientierten, besteht eine weitgehende Abschottung. Nur ganz ausnahmsweise wird voneinander Notiz genommen. Vom soziologischen Standpunkt aus konstatierte Plum 1990 sogar eine völlige Abschottung der soziologisch orientierten Sozialpolitiklehre gegenüber der soziologischen Ungleichheitstheorie43 Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, daß es selbstverständlich auch einen Kreis der wissenschaftlichen Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen gibt, der sich diesen Zuordnungen entzieht. Hierher gehören zum Beispiel jene Sozialpolitiker, die sich enger oder weiter um das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut der Gewerkschaften gruppieren. Aus diesem Bereich stammt das bereits zum zweiten Mal aufgelegte Lehrbuch von Becker, Bispinck, Hofemann und Naegele.44 41 Vgl. Leibfried, St. I Tenn.stedt, F., Armenpolitik und Arbeiterpolitik. Zur Entwicklung und Krise der traditionellen Sozialpolitik der Verteilungsformen. In: Leibfried, St. u.a. (Hrsg), Armutspolitik und die Entwicklung des Sozialstaats. Entwicklungslinien sozialpolitischer Existenzsicherung im historischen und internationalen Vergleich, Berlin 1985. 42 Vgl. u.a. Opielka, M. 1 Vobruba, G. (Hrsg.), Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer Forderung, Frankfurt a.M. 1986. 43 Plum, W., Entstrukturierung und sozialpolitische Normalitätsfunktion, in: Soziale Welt, 41. Jg. Heft 4, 1990. 44 Bäcker, G. I Bispinck, R. I Hofemann, K. I Naegele, G., Sozialpolitik und soziale Lage in der Bundesrepublik Deutschland, 2 Bde., 2. grdl. überarb. und erweit. Auflg., Köln 1989.
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Als weiteres Beispiel kann jene Gruppe von Wissenschaftlern genannt werden, die sich besonders mit der Sozialpolitik des Alters befassen.45 Beide stehen Sozialstrukturellen Problemen näher, jedoch nicht in einer solchen Weise, daß von einer ungleichheitsorientierten Sozialpolitik gesprochen werden könnte. Wichtig ist mir allerdings die Feststellung, daß es sowohl aus der geschilderten ökonomisch orientierten, als auch aus der genannten soziologisch orientierten Sozialpolitiklehre auch zu dieser dritten Gruppe relativ wenig Beziehungen gibt. Nicht in derartige Begrenzungen fügen sich jedoch die Arbeiten von Wemer W. Engelhardt, besonders seine "Einleitung in eine 'Entwicklungstheorie' der Sozialpolitik" .46 Engelhardt begreift die "heutige Sozialpolitiklehre, soweit sie einerseits die Lebenslage- und Sozialindikatorenforschung betrifft, als 'Querschnittswissenschaft' im Sinne Gerhard Weissers ... Er betrachtet Sozialpolitik andererseits als Gegenstand der Institutionstheorie, bei der er jedoch vornehmlich an den älteren Institutionalismus anknüpft. Mit der Analyse von "Lebenslagen" geht eine "unorthodoxe Erforschung" 'sozialer Fragen' einher. Engelhardt ist es von diesem Ansatz her methodologisch möglich, die Grenzen ökonomischen Denkens zu überschreiten und dabei auch eine mögliche Relevanz neuer Ungleichheiten für die Sozialpolitiklehre zu sehen. Die von vomherein angelegte Perspektive auf die Tatbestände von Armut als Ausdruck sozialer Schwäche weisen ohnehin in diese Richtung. Den Begriff einer mehrdimensional bestimmten Lebenslage als zentrale sozialpolitische Kategorie zu behandeln, legt es nahe, interdisziplinäre Zusammenarbeit ins Auge zu fassen. Neuerdings scheint auch Widmaier die ökonomischen Grenzen zu überschreiten. Wenn er in früheren Beiträgen, u.a. in seinem Aufsatz "Ökonomische Prozesse und Bedingungen als Determinanten der 'Konstitution sozialer Probleme"' soziale Auseinandersetzungen mit den Mitteln der ökonomischen Theorie diskutierte47, so nähert er sich in seinem jüngsten Aufsatz über "Demokratische Sozialpolitik"48 sozialwissenschaftliehen Ansätzen. Weitgehend unabhängig von disziplinären Grenzzäunen arbeitet auch F. Schulz-Nieswandt, was beson45 Vgl. zuletzt: Naegele, G. I Tews, H. P. (Hrsg), Lebenslagen im Strukturwandel des Alters, Opladen 1993. 46 EngelhardJ, W. W., Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik. Institutionelle und Lebenslagen-Analyse als Grundlagen der Sozialpolitik und Sozialpolitiklehre, in: Thiemeyer, Tb. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik li, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd 240, Berlin 1991. 47 Widmaier, H. P., Ökonomische Prozesse und Bedingungen als Determinanten der "Konstitution sozialer Probleme', in: Mattes, J. (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme, Frankfurt a.M. I New York 1981.
48 Widmaier, H. P., Demokratische Sozialpolitik, in: Wahl, J. (Hrsg.), Sozialpolitik in der ökonomischen Diskussion, Marburg 1994.
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ders in seinem Aufsatz: "der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland" deutlich wird.
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V Die Konsequenzen eines Denkens, das sozialstruktureHe Probleme weitgehend ausblendet, zeigen sich bei der Behandlung von Einzelfragen noch klarer als bei umfassenden Theorieansätzen. Beispielhaft will ich auf die Diskussion über Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik hinweisen. Es erscheint problematisch, wenn nebeneinander und unabhängig voneinander zum Beispiel Regulierungs- und Deregulierungsfragen des Gesundheitswesens, der Arbeitsmarktpolitik für Schwerbehinderte, der Alterssicherung, der Wohnungspolitik sowie der Bedeutung von Arbeitsmarktflexibilisierung für die Beziehung der Tarifparteien, arbeitsmarkttheoretische Aspekte von Deregulierungsmaßnahmen und familienpolitische Aspekte erörtert werden, wenn dabei interdependente oder auch nur dependente Wirkungsbeziehungen zwischen diesen Bereichen ausgeklammert bleiben.so Daß gleichzeitige Deregulierungsprozesse in mehreren Bereichen zu einer sehr weitgehenden Veränderung relativer sozialer Lagen führen könnten, wird dann nahezu notwendigerweise vernachlässigt. Buttler spricht diesen Zusammenhang an, wenn er die Entstehung der sozialen Fragen des 19. Jahrhunderts als Ergebnis eines Deregulierungsprozesses und die Entstehung der modernen Sozialpolitik demgegenüber als Ergebnis eines Re-Regulierungsprozesses beschreibt. Er hält es für möglich, "daß die Notwendigkeit von Re-Regulierung auch die Folge von Deregulierungen, wie sie gegenwärtig gefordert werden, sein könnte".51 Am auffälligsten erscheint es, daß Wilfried Schmäh! in seiner Untersuchung zur Deregulierung in der Altersversorgung, in der er im Prinzip die Beibehaltung des gegebenen Rentenversicherungssystems befürwortet, sich in einem Unterabschnitt zwar über "Entkoppelung von Arbeit, Einkommen und sozialer Sicherung" äußert, sich hinsichtlich der Beziehung zwischen Erwerbseinkommen und sozialer Sicherung aber lediglich mit den teils ethischen, teils liberali49 Schulz-Nieswandt, F., Der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschlands. Ein Beitrag zur realtypologischen Charakterisierung, in: Lones, G. (Hrsg.), Soziale Sicherheit in Europa. Renten- und Sozialversicherungssysteme im Vergleich. Schriftenreihe der Europa-Kolloquien im Alten Reichstag, Bd. 2, Heidelberg 1993. 50 Vgl. u.a. Thiemeyer, Tb. (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 177, Berlin 1988. 51 Butt/er, Regulierung und Deregulierung der Arbeitsbeziehungen, in: Winterstein, H. (Hrsg.), Sozialpolitik in der Beschäftigungskrise li, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 152 li, Berlin 1986.
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stischen Argumenten für die Entkopplung dieser beiden Prozesse auseinandersetzt.52 Daß die Sicherung im Alter bei gegebenem Rentenversicherungssystem sehr maßgeblich durch Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsverhältnisses beeinträchtigt werden kann (was sich schon deutlich zeigt), und infolge dessen die schon vorhandene Altersarmut vermutlich steigen wird, diskutiert er nicht. Es wird eine Auseinandersetzung über die Vor- und Nachteile von Organisationsstrukturen geführt, die die Interdependenzbeziehung zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, auf die sich ebenfalls Deregulierungsabsichten beziehen, nicht thematisiert und damit die wahrscheinlichen Auswirkungen auf die soziale Lage von Betroffenen völlig ausblendet.
VI Es scheint, daß die wissenschaftliche Sozialpolitik in ihrem gegenwärtigen Zustand wichtigen aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen nicht gewachsen ist und insoweit auch die Politik nicht angemessen beraten kann. Ich will Beispiele nennen. Daß sich seit Jahren in der alten Bundesrepublik ein wachsendes Armutspotential herausbildet, war eigentlich unübersehbar, wurde aber lange verdrängt. Ein von Lompe betreutes Projekt hat sich allerdings dieser Tatsache schon Mitte der 80er Jahre angenommen.53 Die Verfasser der Studie "Armut im Wohlstand" von 199()54 sprechen davon, daß "die Gesellschaft der Bundesrepublik in gravierendem Ausmaß durch ökonomische und soziale Ungleichheit gekennzeichnet" sei. Inzwischen liegen die Ergebnisse der Caritas-Armutsuntersuchung unter dem Titel "Arme unter uns"55 und der Bericht der von Hanesch u.a. durchgeführten Armutsuntersuchung des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unter dem Titel "Armut in Deutschland" vor.s6 Letztere untersucht u.a. Einkommensarmut und kombiniert diese mit den Fragen nach Arbeitslosigkeit, beruflicher Bildung und Berufseinstieg sowie Wohnungsversorgung als objektive Faktoren. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß 52 Schmäh/, W., Übergang zu Staatsbürgergrundrenten. Ein Beitrag zur Deregulierung in der Alterssicherung?, in: Thiemeyer, Th. (Hrsg.), Regulierung und Deregulierung im Bereich der Sozialpolitik. 53 Lompe, K., (Hrsg.), Die Realität der neuen Armut, Regensburg 1987. 54 Döring, D./ Hanesch, W./ Huster, E.-U. (Hrsg.), Armut im Wohlstand, Frankfurt a.M. 1990. 55 Hauser, R. I Hübinger, W., Arme unter uns, Teil 1: Ergebnisse und Konsequenzen der Caritas- Armutsuntersuchung, hrsg. vom Deutschen Caritas Verband, Freiburg im Breisgau 1993.
56 Hanesch, W. u.a., Arme in Deutschland, hrsg. vom Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband - Gesamtverband - in Zusammenarbeit mit der Hans-BöcklerStiftung, Reinbek bei Harnburg 1994.
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von Einkommensarmut, gemessen an einer Armutsschwelle von 50 % des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens, in Ost- und Westdeutschland zusammen im Jahre 1992 10,1 %der Bevölkerung betroffen waren. Hierbei lag der Anteil im Westen bei 7,5 % und der Anteil in Ostdeutschland bei 14,8 %. Der Anteil derjenigen, die eine Unterversorgung in zwei und mehr Bereichen aufweisen, stieg in Ostdeutschland zwischen 1990 und 1992 von 8,9 auf 10,3 % während sie im Westen konstant bei 7,3 % blieb. Die Verfasser stellen schließlich fest, es sei "zu befürchten, daß ein Großteil der Befragten zum wachsenden Sockel der dauerhaft von Verarmung und Ausgrenzung Betroffenen" gehören wird. Offensichtlich befinden sich viele dieser Menschen mit ihrer Situation bereits unter jenem Grenzniveau der Lebenslage, auf dem, wenn auch mit unverhältnismäßig hohem Risiko, noch nach alternativen Lebensgestaltungen gesucht werden kann, so daß Selbsthilfe unmöglich geworden ist. Nach den Ergebnissen dieser Studien kann es nicht mehr als ausgeschlossen gelten, daß sich aus dieser Armut eine neue Schicht bildet, die die Sozialstruktur der Gesellschaft nach unten hin verlängert. Derartige Problemlagen sind geeignet zu signalisieren, daß eine Phase, in der die Sozialpolitik sich an Wohlstandsbefunden orientieren konnte, zu Ende geht. Bestimmte Untersuchungen von Langzeitarbeitslosen - wenn auch bisher noch wegen der relativ kleinen Zahl der untersuchten Personen mit gebotener Vorsicht zu interpretieren scheinen in dieselbe Richtung zu weisen. So registrieren KronauerNogel/Gerlach, die sich mit langfristiger Arbeitslosigkeit in einer bestimmten Region befaßt haben, daß, je länger die Arbeitslosigkeit dauert, sie in vielen Fällen "nicht mehr einen mehr oder weniger irregulären, mehr oder weniger ausgedehnten Abschnitt einer Erwerbsbiographie" dar(stellt), sondern ihr Ende ist. Sie wird zur Grundlage einer eigenständigen sozialen Lebensweise, einer sozialen Schicht.57 Es konstituieren sich also neue soziale Ungleichheiten. Dabei handelt es sich nicht um jene Fälle 'neuer Armut', die Engelhardt im Hinblick auf Oaus Offe u.a. Autoren erwähnt.58 Engelhardt zitiert auch Manfred Schmidt, wenn dieser darauf hinweist, daß "in der Wirtschaftskrise der 70er und 80er Jahre politische Zuspitzungen überraschend ausgeblieben" sind und daß der Sozialstaat als Sicherung gegen eine kollektive politische Organisation der Arbeitslosen" wirke.59 Inzwischen gibt es aber, stark gefördert durch die Arbeitslosigkeit in 57 Kronauer, M. I Vogel, B. I Ger/ach, F., Im Schatten der Arbeitsgesellschaft, Arbeitslose und die Dynamik sozialer Ausgrenzung, Frankfurt a.M. I New York 1993. 58 Engelhardt, W. W., Einleitung in eine "Entwicklungstheorie" der Sozialpolitik. 59 Schmidt, M. G., Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Opladen 1988.
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den neuen Bundesländern, eine bundesweite Arbeitslosenorganisation. Und wer sich gelegentlich mit dem "Kleinkarierten" von Wahlergebnissen beschäftigt, kann ohne Schwierigkeiten erkennen, daß es in bestimmten Wohnquartieren eine starke positive Korrelation zwischen rechtsradikalem Wahlverhalten und der Konzentration von Wählern mit Kumulation von Unterversorgungslagen gibt. Mein zweites Beispiel betrifft die deutsche Vereinigung. Die sozialpolitische Vereinigungsdiskussion verlief nach einem eher sozialtechnologischen Muster. Lampert äußerte 1991 die Ansicht, daß die Einigungsprobleme für die Sozialpolitik mit der durchgeführten Regelung der Übertragung des westdeutschen Sozialsystems erledigt seien.60 Dagegen hatten Widmaier und Heidenreich vor einer "ad-hoc-Übertragung des westdeutschen (Sozial)Systerns auf die ehemalige DDR" gewarnt. "Angesichts der stark unterschiedlichen Wohlfahrtskulturen beider deutschen Staaten ... bleibt ... zu fragen, ob die Planbarkeit der Übertragung des BRD-Systems, vor allem im Bereich der Problembewältigung durch nicht-antizipierte, nicht-intendierte Konsequenzen beeinträchtigt wird".61 Offensichtlich wurde nicht antizipiert -jedenfalls nicht von den Sozialpolitikern - daß die Menschen in den neuen Bundesländern dadurch massiv irritiert sind, daß sie einen völligen Umbruch ihrer gesellschaftlichen Position erleben. Hier entstehen jetzt mit der Anpassung an die Strukturen der alten Bundesrepublik bis dahin völlig unbekannte Ungleichheitsrelationen. Schichten, die in der relativ egalitären Gesellschaft der DDR hohes Ansehen besaßen, z.B. die Arbeiter, besonders die industriellen Facharbeiter, fallen unvermittelt in den unteren Bereich des sozialen Prestiges. Das aber heißt nicht nur arbeitslos, sondern auch deklassiert werden. Mit der Überschrift "Ich bin Arbeiter, wer ist weniger?" erschien im Juli 1993 ein Bericht über Zwischenergebnisse einer vom Rostocker "Institut für Wirtschafts- und Sozialethik" durchgeführten Untersuchung über Bewußtseinsveränderung als Auswirkungen der Vereinigung.62 Hier heißt es u.a.: "Über die wirtschaftliche, soziale und politische Handlungsfahigkeit entscheiden weder technische Wissensvermittlung noch politische Aufklärung, sondern die 'soziale Konstruktion' der gesamten Lebenslage." Die Überschrift des Berichtes nimmt den Satz aus der DDR-Zeit auf: "Ich bin Arbeiterwer ist mehr?". In der Gegenüberstellung dieser beiden Sätze wird das ganze Ausmaß der Veränderung und der dadurch bewirkten Irritationen signalisiert. Sie ist für die entstandenen Unsicherheiten in den Lebensperspektiven, für das 60 Lampert, H., Lehrbuch der Sozialpolitik, 2. überarb. Aufl., Berlin, u. a. 1991.
61 Widmaier, H.-P. und Heitknreich, R., Sozialpolitische Dimensionen des Einigungsprozesses, in: Kleinhenz, G. (Hrsg.), Sozialpolitik im vereinten Deutschland I, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 208 I, Berlin 1991. 62 Nethöfel, W., Ich bin Arbeiter - wer ist weniger? in: Frankfurter Rundschau Nr. 156 v. 9.7.1993.
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teilweise verbreitete Gefühl der Enttäuschung möglicherweise maßgeblicher als die ökonomische Enttäuschung und vielfache Arbeitslosigkeit. Aber sie verbindet sich mit dieser und teilweise auch mit der Armutserfahrung. In dem Armutsbericht von Hanesch u.a. heißt es dazu: "Eine weitere Quelle von Verunsicherung und Irritationen bildet die Tatsache, daß sich mit der Übernahme der Marktökonomie die bisher im Vergleich zu Westdeutschland relativ homogene Sozialstruktur auflöst und sozialökonomische Spaltungen nach westdeutschem Muster sich abzuzeichnen beginnen". Tatsächlich wird der tiefgreifende Strukturwandel der ostdeutschen Wirtschaft derzeit von einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von Lebenslagen begleitet" .63 Sowohl im Zusammenhang mit der sich ausbreitenden Armut und langfristigen Arbeitslosigkeit, als auch mit diesen Umbrüchen in der Sozialstruktur entstehen neue Ungleichheitsrelationen, die dringend der sozialpolitischen Bearbeitung bedürfen. Mein drittes Beispiel steht insofern mit dem zweiten in Zusammenhang, als es möglicherweise eine Kompensationsperspektive für Prestige- aber auch für ökonomische Verluste enthalten hätte. Lampert hatte seinerzeit vorgeschlagen, in der ehemaligen DDR im Zusammenhang mit der Reprivatisierung der Betriebe eine breitere Streuung des Produktionsvermögens durch eine darauf gerichtete aktive Vermögenspolitik zu bewirken. Er sah darin "in gewisser Weise eine Entschädigung für die in der Vergangenheit der DDR permanent unterbewerteten Arbeitsleistung und für den DDR-Bürgern in der Vergangenheit aufgezwungene wirtschaftliche Opfer" .64 Dies hätte bei allen Schwierigkeiten, die bei einem solchen Versuch entstanden wären, besonders infolge unwirtschaftlicher Betriebsstrukturen, Enttäuschungen auf anderen Gebieten entschärfen können. Der Gedanke einer solchen Vermögensbeteiligung war seinerzeit in der DDR relativ populär; man konnte in vielen Gesprächen Ende 1989 und auch noch in der ersten Hälfte des Jahres 1990 bis zur Währungsunion die Auffassung hören, daß das bisher abstrakte Volkseigentum nun doch endlich tatsächlich auch konkret Eigentum der Bevölkerung werden müsse. Wenn ich es richtig sehe, hat ähnliches auch der "Runde Tisch" erwogen; - die ursprüngliche Treuhandidee hat diesen Hintergrund. 63 Hanesch, W. u.a .. Vgl. auch Nahnsen, J., Lebenslagenvergleich. Ein Beitrag zur Vereinigungsproblematik in: Henkel, H. I Merle, U. (Hrsg.), Magdeburger Erklärung, Regensburg 1992. 64 Lampert, H., Sozialpolitische Probleme der Umgestaltung in der DDR. Konsequenzen für die Deutschlandpolitik. Erstellt im Auftrag des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, Königswinter 1990.
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VII Faßt man die Beispiele zusammen, zeigt sich folgendes Bild: Die sozialstrukturellen Umbrüche in den neuen Bundesländern, deren langfristige Auswirkungen noch nicht abzusehen sind, damit z.T. in Ostdeutschland verbunden, aber auch in den alten Bundesländern virulent, eine sich ausweitende Armut mit der Gefahr tendenzieller Ausgrenzung und Verfestigung. Hinzu treten die Auswirkungen langfristiger Arbeitslosigkeit. Mit einem Blick auf die mögliche Zukunft füge ich hinzu, daß u.a. auch noch die Konsequenzen der Wiederzulassung privater Arbeitsvermittlung ins Haus stehen, durch die ein neuer Typus einer untersten Arbeitnehmerschicht entstehen könnte. In allen diesen Fällen konstituieren sich neue Ungleichheiten, jedoch anderer Art, als sie von Beck, Hradil und anderen Vertretern der soziologischen Entstrukturierungstheorie in die Diskussion gebracht worden sind.6S
VIII Schulz-Nieswandt hält den "Zusammenhang der Sozialpolitik mit neueren soziologischen Theorieentwicklungen über die Sozialstruktur 'jenseits von Stand und Klasse"' für "evident" und spricht damit die Arbeiten von U. Beck an.66 Fast könnte man sagen, daß Beck für die 80er Jahre eine ähnliche Rolle spielt wie es seinerzeit Schelsky für die 60er Jahre tat. Seine Entstrukturierungstheorie, besonders die lndividualisierungsthese, ist in der soziologischen Theorie der Ungleichheit jedoch keineswegs unumstritten. Meyer und Blassfeld weisen darauf hin, daß sie empirisch nicht belegt sei.67 Wolfgang Plum bezweifelt, daß aus der "Feststellung 'neuer Konfliktlinien' auch auf veränderte gesellschaftli-
65 Beck, U., Jenseits von Stand und Klasse, in: Kreckel, R. (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, So· ziale Welt Sonderband 2, Göttingen 1983, ders., Risikogesellschaft Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt a.M. 1987; Hradil, St., Die Ungleichheit der "sozialen Lage". Eine Alternative zu schichtungs-soziologischen Modellen sozialer Ungleichheit, in: Kreckel, R. (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten; ders., Die "neuen sozialen Ungleichheiten" -und wie man mit ihnen (nicht) theoretisch zurecht kommt, in: Giesen, B. I Haferkamp, H. (Hrsg.), Soziologie der sozialen Ungleichheit, Opladen 1987. 66 Schulz-Nieswandt, F., Über das Verhältnis von Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik. Sozialpolitik im System der Sozialwissenschaften. In: Zeitschrift für Sozialreform, 37. Jg., Heft 9, 1991.
67 Mayer, K. U. I Blossfeld, H.-P., Die gesellschaftliche Konstruktion gesellschaftlicher Ungleichheit im Lebenslauf, in: Berger, P. A I Hradil, St. (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Soziale Welt Sonderheft 7, Göttingen 1990.
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ehe Grundstrukturen geschlossen" werden kann.68 Tatsächlich konnte der Eindruck entstehen, daß Beck von einer Wohlstandsprämisse her argumentiert. So weist denn auch Plum auf die Rolle einer "erweiterten sozialstaatliehen Absicherung existentieller Risiken" hin, die den relativen Stellenwert anderer Interessen zwar erhöht, aber zugleich auch ihre Gefährdung signalisiere. "Es ist ... sehr wohl denkbar, daß ... im Falle einer verschärften gesellschaftlich-ökonomischen Krisensituation die Bedeutung existentiell-materieller Interessen für große Bevölkerungsteile wieder zunimmt. In diesem Falle könnten möglicherweise erneut ... Milieus und kommunikative Strukturen entstehen, die die 'sich individualisierende Gesellschaft zwischen Krisen und Krankheit' wie Beck es einmal nannte, nicht länger als 'klassenlos' erscheinen lassen. "69 Seit dieser Vermutung sind 4 Jahre vergangen, in denen sich die krisenhaften Tendenzen verstärkten. Arbeitslosigkeits- und Armutsentwicklungen sind alarmierende Symptome. Ich zitiere Eckhard Hansen: "Die Einkommensunterschiede in Deutschland sind so groß wie nie zuvor, und die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt sowie die Maßnahmen zum Sozialabbau vergrößern die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der Arbeitsgesellschaft zusehends. Ins Gewicht fällt dabei nicht nur das Maß der materiellen, sondern insbesondere der sozialen Demütigungen auf ideeller Ebene, wenn ein erheblicher Teil der Bevölkerung seinen integrativen Status in der Arbeitsgesellschaft ohne jede Hoffnung und ohne soziale Kompensation verliert oder zu verlieren droht" .70 Hansen läßt diesen Feststellungen eine Reihe von Fragen über das mögliche politische Gewicht dieser Lage folgen. Dazu gehört auch die Frage: "Werden künftig die auf Geldzahlungen basierenden Formen der Sozialpolitik überhaupt ausreichen, um soziale Bindungskraft zu entfalten?" Die wissenschaftliche Sozialpolitik wird sich dieser Herausforderung nicht nur sozial-technologisch, sondern auch konzeptionell und theoretisch zuwenden müssen, wenn sie nicht ihr eigentliches wissenschaftliches Gewicht und ihre Kompetenz als BerateTin der Politik aufs Spiel setzen will. Dies würde ihr sicherlich leichter gelingen, wenn sie die interdisziplinäre Arbeit, u.a. auch in Richtung auf die soziologische Ungleichstheorie, intensivieren würde, vor allem aber, wenn die inneren Kommunikationsbarrieren der Sozialpolitiklehre weiter relativiert würden, so daß wieder ein allumfassender sozialpolitischer Diskurs entstehen könnte.
68 Plum, W., Entstrukturiertung und sozialpolitische Normalfiktion, in: Soziale Welt, Jg. 41., 1990, Heft 4. 69ebenda. 70 Hansen, E., Weimar kein Lehrstück? Zu den sozialpolitischen Konsequenzen aus der deut· sehen Vergangenheit, in: Soziale Sicherheit, 42. Jg., HeftlO, 1993.
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lngeborg Nahnsen
Wie immer sie sich aber auch den angesprochenen Problemen nähern wollte, vorrangig aus ordnungspolitischer Perspektive, oder - was der von Widmaier formulierten "sozialen und demokratischen Gestaltungsaufgabe einer Wohlfahrtskultur"71 eher entsprechen würde-, von der Perspektive der Verbesserung der Lebenslagen der Betroffenen aus, unvermeidlich stößt sie dabei auf komplexe Phänomene sozialer Ungleichheit. Gefordert ist die Reformulierung eines sozialpolitischen Bearbeitungsprogramms, das die theoretischen Fragen und die theorieleitenden Hypothesen mit den Ungleichheitssachverhalten verknüpft, und die technologischen Empfehlungen hierdurch bestimmt. Dazu bedarf es einer im eigentlichen Sinne integrierten sozialwissenschaftliehen Sozialpolitiklehre - was auch immer Pagenstecher über vermeintliche sozialwissenschaftliehe Theoriedefizite denken mag.n Basis hierfür sollte eine Lebenslagentheorie sein, mit deren Hilfe unsere Kenntnisse über die gesellschaftliche Lokalisierung und die Strukturen von Lebenslagen Schwacher oder Gefährdeter, mithin restringierter Lebenslagen, aus gängigen Plausibilitätsannahmen oder Gewohnheitsvorstellungen erlöst werden können. Die Lompe-Studie und die Hanesch-Untersuchung zeigen, daß die Anwendung eines sozialwissenschaftlich integrierten Lebenslagen-Konzepts für empirische Zwecke gelingt. Es kann auch theoretisch formuliert werden. Was nützt es, wenn z.B. Kleinhenz in seinem Entwurf einer "Neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik" zutreffend an Verbesserung der Lebenslage gesellschaftlich Schwacher als Aufgabe der Sozialpolitik festhält, wenn nicht gleichzeitig ein wissenschaftlicher Zugang zu dieser Größe eröffnet wird?73 Lebenslagen sind komplexe Phänomene. Ihre Analyse und die Konzeptionierung von Interventionen zu ihrer Veränderung (auch unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten) können vom Standpunkt einzelner "Ismen" - sei ihre Genese ökonomischer, soziologischer oder sonstwie einzelwissenschaftlicher Art nicht befriedigend gelingen. Vielmehr wird eine disziplinenübergreifende, besser: disziplinunabhängige, problemorientierte Sozialtheorie gebraucht.74
71 Widmaier, H.-P., Ökonomische Prozesse und Bedingungen als Determinanten... 72 vgl. Pagenstecher, V., Aufgaben und theoretische Grundlagen wissenschaftlieber Sozialpolitik, in: Thiemeyer, Th (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Sozialpolitik, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F., Bd. 193, Berlin 1990.
73 Kleinhenz, G., Das Elend der Nationalökonomie mit der Sozialpolitik, in Vobruba, G. (Hrsg.), Der wissenschaftliebe Wert der Sozialpolitik, Berlin 1989. 74 Vgl. auch Nahnsen, 1., Der systematische Ort der Sozialpolitik in den Sozialwissenschaften, in: Külp, 8. I Schreiber, W. (Hrsg.), Soziale Sicherheit, Köln I Berlin 1971; erstmalig 1961; ferner auch: Clemens, W., "Lebenslage" als Konzept sozialer Ungleichheit- zur Tbematisierung sozialer Differenzierung in Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit, in: Zeitschrift für Sozialreform, 40. Jg., Heft 3, 1994.
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Die entstehenden und sich intensivierenden sozialen Probleme signalisieren die Dringlichkeit eines solchen Vorgehens. Unausweichlich ist damit jedoch die Notwendigkeit verbunden, zu diesen Ungleichheiten Stellung zu nehmen, das heißt, gesellschaftliche Ziele zu benennen. Sanmanns Beliebigkeil hilft dabei nicht weiter.75 Weiterhelfen könnte aber wohl Gerhard Weissers Leitbild einer "vielgestalteten Gesellschaft", die ihren Sinn darin findet, daß die unterschiedlichen Interessen der Gesellschaftsmitglieder angemessen realisiert werden können.76
75 Sanmann, H., Leitbilder und Zielsysteme der praktischen Sozialpolitik... 76 Weisser, G., Vielgestaltiges soziales Leben, in: Weisser, G., Beiträge zur Gesellschaftspolitik.
Tbeo Thiemeyer über "public choice" Rückblick und Fortentwicklungsbedarfl
Von Frank Schulz-NieswandJ
I. Über Maßgebliches und Nachhaltiges Darüber zu sprechen, wie sich Theo Thiemeyer2 mit der public choice-Theorie auseinandergesetzt hat, ist einerseits eine klare Themenbindung; andererseits bündeln sich hier doch eine ganze Reihe anderer thematischer Zusammenhänge. Insbesondere fließen einige metatheoretische Überlegungen von Thiemeyer in diese Auseinandersetzungen ein - Überlegungen, die keineswegs derart eng themenfeldgebunden, sondern vielmehr vonweitreichender Bedeutung sind.3 Eine Vorwegbemerkung zur Art und Weise, wie im folgendem argumentiert wird, mag sinnvoll sein. Wenn man die Befunde der einschlägigen Literatur zum Zusammenhang von politischem System einerseits und sozio-ökonomi1 Eine Langfassung dieses Beitrages ist erschienen: Schulz-Nieswandt, F., Politik als Gestaltung. Theo Thiemeyer über "public and social choice" - Rückblick und Fortentwicklung-;bedarf, WeidenRegensburg 1994. 2 Der Verfasser hatte bereits an anderer Stelle Gelegenheit, Thiemeyers Schrifttum zu würdigen. Vgl. Schulz-Nieswandt, F., Sozialökonomik als politische Theorie. Grundzüge des wissenschaftlichen Schaffens von Theo Thiemeyer, in: Zeitschrift für Sozialreform 38 (1992) 10, 625-638. Grundlegend für den hier gestellten Problemzusammenhang ist T. Thiemeyers "Einleitung" zum Neuabdruck von G. Weissers Artikel "Wirtschaft" (Göningen 1989), der ursprünlich erschien in: Ziegenfuss, W. (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stungart 1956, 970-1101. In dieser Einleitung hat Thiemeyer die weiteren hier interessierenden Schriften aus seiner Feder zitiert. Die Kenntnis der Texte wird hier vorausgesetzt. Auf ausführliebe Textbezüge und entsprechender Dokumentation und Zitation muß aus Raumgründen verzichtet werden. 3 In gewissem Sinne wird im folgenden Thiemeyers Theorie des Politischen eingeordnet in den thematischen Diskussionszusammenhang der Theorie der Meritorik, wie sie zuletzt von Priddat Überblickshaft diskutiert wurde. Vgl. Priddat, 8. P., Zur Ökonomie der Gemeinschaftsbedürfnisse: Neuere Versuebe einer ethischen Begründung der Theorie meritorischer Güter, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 112 (1992), 239-259. Diese mögliche Einordnung gibt aber im nachfolgenden nicht einen systematischen Rahmen ab. Bemerkt werden darf fragend, warum Priddat - obwohl er eine interaktionistische Perspektive meritorischer Normbestimmung anspricht (248) - Meritorik nicht grundsätzlich als meritorische Diskurse diskutiert. Vgl. dazu etwa SchulzNieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik. Grundfragen einer kritizistischen Lehre meritorischer Wohlfahrtspolitik, Regensburg 1992. 4 In memoriam Theo Thiemeyer
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scher Entwicklung und Politikperfonnanz andererseits4- was zu referieren hier aus Platzgründen gar nicht möglich wäre - überblickt, so herrscht nicht gerade Eindeutigkeit. Die Demokratie versus Effizienz-Hypothese findet ebenso Belege wie die umgekehrte Hypothese. Auf diese Lage der Befunde soll im folgendem nicht näher eingegangen werden; vielmehr soll es primär darum gehen, die Frage nach der Wissenschaft des Politischen im Zusammenhang mit dem ökonomischen Konstrukt der Effizienz erneut in grundlegender Weise aufzugreifen. Das, was man unter public choice-Theorie5 subsumieren kann, hat sich zunehmend komplex fortentwickelt, hat sich vie!fliltig verästelt und hat so manche Kritik zu verarbeiten gewußt. Erkenntnisgrenzen sind so hinausgeschoben worden6 - aber eben nur verschoben. Der Erkenntnisraum ist abgesteckt. Diesen reflexiv immer wieder zu vergegenwärtigen, war ein grundlegendes Postulat bei Thiemeyer. In der public choice-Theorie herrscht ein diszipliniertes Programm einer Forschungslogik, die dem Regime der Wahlhandlungsrationalität (in der public choice-Theorie erweitert um Fragen der "institutional choice", etwa auch in konstitutionalistischer Hinsicht) folgt. Zu konstatieren sind also Verfeinerungen der public choice-Theorie. VerästeJungen sind zu beobachten: makroökonomische Perfonnanzforschung, mesoökonomische Fundierungsversuche, Medianwählennodelle, Studien zu Wahlen, Wahlverhalten und Popularitäts- bzw. Reputationsfunktionen, Analyse des Regierungsverhaltens, Theorie der Existenz, Stabilität und Funktionen von Interessengruppen bzw. Verbänden, Theorie politischer Konjunkturzyklen, Theorie der Bürokratie. Die diesbezüglichen Studien theoretischer, empirischer und ökonometrischer Art sind von großer Zahl. Angesichts dieser Erträge ist es um so bemerkenswerter, daß Thiemeyers Einwände und Bedenken, die er formulierte, von maßgeblicher und nachhaltiger Bedeutung sind. Diese theoretischen Interventionen Thiemeyers waren eben von grundlegender Natur, betrafen den metatheoretischen Zuschnitt der public choice-Theorie als Perspektive. Der Begriff der Perspektive ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig, betonte Thiemeyer in der Lehre doch immer wieder die redliche Abwägung theoriege4 Vgl. etwa Korpi, W., Economic growth and the welfare state: leaky bucket or irrigation system?, in: European Sociological Review 1 (1985) 2, 97-118; Grossman, P. J., Government and growth: Cross-sectional evidence, in: Public Choice 65 (1990), 217-227.
5 Vgl. als Überblick Doel, H. v.d./ Velthoven, B. v., Democracy and welfare economics, 2nd ed., Cambridge 1993. 6 Die Mikrofundierung ist zu constrained rational choice-Theorien und in spieltheoretischer Art fonentwickelt worden. Kontrovers bleibt dennoch die canesianische Auffassung vom Ego und Institutionen (vgl. auch Hodgson, G. M., Economics and Institutions, Cambridge I Oxford 1988) sowie die Vernachlässigung der kognitiven Dimension und der daraus erwachsenden konstruktiven Praxis der kommunikativen Akteure. Teile der neueren evolutiven Ökonomie thematisieren allerdings deranige Probleme.
Theo Thiemeyer über "public choice"
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bundener Ausleuchtung und theoriegebundener Sichtbegrenzung als Aufgabe der Selbstvergewisserung in der Forschung. Schließlich waren wissenschaftstheoretische Erörterungen immer integrierter Teil seiner Lehrtätigkeit
11. Über den Gegenstand und die Kernproblematik A. Über den Gegenstand
Die public choice-Theorie beschäftigt sich mit dem Gegenstand, der auch im Zentrum der Politikwissenschaft7 steht: Politik als Integration fragmentierter, d.h. interessenmäßig ausdifferenzierter Gesellschaften. Wie verallgemeinerungsfähig diese Bestimmung aus historischer und ethnologischer Sicht ist, braucht hier nicht zu interessieren. Die public choice-Theorie nutzt - und das konstituiert sie als ökonomische Theorie politischer Institutionen - dazu den methodologischen Individualismus in Form seiner austausch- und nutzentheoretischen Variante, wobei spieltheoretische Mikrofundierungen die Berücksichtigung von Handlungsinterdependenzen verstärkt ermöglichen. Spezifisch ökonomisch ist diese Analyse der Politik dann durch den Zuschnitt der Fragestellung: Als normativ-explikatives Mischgebilde geht es um die komparative Analyse des Beitrags institutioneller Arrangements hinsichtlich der optimalen Allokation knapper Ressourcen bei gegebenen Präferenzen (über öffentliche Güter) der Akteure. Das überwiegend genutzte Wohlfahrtskriterium ist das nach Pareta benannte. Entsprechend einer Funktion für soziale Wohlfahrt (SW) vom Bergson-Typ (wie sie im nachfolgendem öfters genutzt wird) besagt das paretianische Werturteil, daß 5SW/5U; > 0 für alle Personen i.
Politische Entscheidungen und soziale Zustandsänderungen werden also danach eingeschätzt, ob sie pareto-superiore Lösungen darstellen. Die social choice-Theorie ist- aus der Arrow-Paradox-Problematik erwachsend- Teil der ökonomischen Theorie institutioneller Nicht-Markt-Arrangements.
Politik ist damit als Optimierungsproblem defmiert. Das zeigt sich in allen Teilbereichen der public choice-Theorie, die nicht nur ökonomische Theorie der Legitimationsbeschaffung im Rahmen von Wahlmechanismen (etwa repräsentativ-parlamentarischer oder referendumsdemokratischer Art) ist, sondern allgemeine ökonomische Theorie von Nicht-Markt-Steuerung- mit der besonderen Verknüpfung, daß sie Analogien zum Marktmechanismus zieht und entsprechend wohlfahrtsökonomisch urteilt. Beispiele zur Veranschaulichung die7 Vgl. dazu auch Beyme, K.v., Theorie der Politik im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1991.
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ses Forschungsprogramms sind vielfältig. Man denke etwa an das Problem der optimalen Zustimmungsregel, wenn man davon ausgeht, daß mit steigendem Zustimmungsgrad die Entscheidungsfindungskosten steigen, die Konsenskosten allerdings sinken. Ein anderes Themenfeld ist das der Bürokratie. Unterstellt man, daß die principal-agent-Beziehung zwischen Politiker und Wähler pareto-optimal funktioniert, dann ergibt sich aber aufgrund asymmetrischer Informationsverteilung zwischen Verwaltung und Politiker die Möglichkeit der Überproduktion öffentlicher Güter, da die Akteure der Verwaltung an einer Maximierung des Budgets interessiert sind. Damit sind Wohlfahrtsverluste verbunden. Man kann nun auf zwei - durchaus miteinander verbundenen - Ebenen eine Kontroverse führen. Einmal kann man an der Modeliierung der Verhaltenshypothesen und an der Theorie des Institutionenverständnisses anknüpfen; zum anderen kann man kritisch fragen, ob sich der Gegenstandsbereich bzw. die Themenstellung der Ökonomie auf derartige Erkenntnisinteressen reduzieren lassen. Thiemeyer hatte auf beiden Ebenen Bedenken anzumelden. Zur Veranschaulichung kann ein weiteres Themengebiet der public choice-Theorie herangezogen werden: die politische Koalitionsbildung. Angenommen werden zwei Parteien bürgerlichen und sozialistischen Zuschnitts; beide haben Nutzenfunktionen mit Arbeitslosigkeit und Inflationsrate als Argumente, unterscheiden sich aber in der Bedeutung, die den beiden Politikperformanzgrößen zugeschrieben wird. Nimmt man nun lso-Verlustfunktionen infolge von Zielabweichungen im Rahmen von Wahlmechanismen an, so ergibt sich als geometrischer Ort aller Schnittpunkte der Iso-Verlustfunktionen beider Parteien eine Möglichkeitskurve der politischen Koalitionsbildung. Nimmt man nun ferner eine Phillips-Kurve an, so stellt der Schnittpunkt von Phillips-Kurve und der Koalitionsmöglichkeitskurve uno actu den Punkt des politisch und ökonomisch Machbaren dar. So weit, so gut. Der Politik stellen sich aber noch weitere Probleme. Kann man die Zielfunktionen der Parteien einfach so unterstellen? Zu methodischen Zwecken der spezifischen Forschungsfragestellung schon. Aber wie steht es mit dem anhaltenden Problem des sozialen Wertwandels, mit den Themen der Ökologie etwa und des darauf ja nicht reduzierbaren Themas des qualitativen Wachstums? Hier kristallisieren sich die Fragen der Bildung von Zielfunktionen, der Akteursidentitäten. Wie fügt sich die Optimierungsproblematik mit der Thematik von Krise und Wandel von Akteursidentitäten zusammen? Ist es nicht auch Thema der Politischen Ökonomie, in eher historischer Perspektive die Transformation kollektiver Selbstentwürfe und Selbstverständnisse zu analysieren? Ich denke aktuell etwa an die Kontroversen zum Selbstverständnis der Gewerkschaften, hier in Deutschland wie - nur anders - in den südlichen EU-Ländern. Die Kontroverse um die Mitbestimmungsregelung in der EU ist ja nicht nur eine Frage von Politikstilpräferenzen (als Modi der Konfliktaustragung und Zielerreichung) in der Interaktion von Kapital und Arbeit
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(oder in der Triade von Staat, Kapital und Arbeit), sondern auch- eher in einer international vergleichend gewonnenen Perspektive unterschiedlicher Gewerkschaftskulturen - eine Frage des kulturellen Selbstverständnisses, der politischen Identität der Akteure. Es gibt eine wichtige Argumentation, die erkenntniskritisch hinsichtlich der Idee der Optimalität anzubringen ist: Die beiden konstitutiven Dimensionen - Nutzen und Kosten - sind Interpretationskonstrukte, die nicht frei von sozial geprägten Bewertungsproblemen sind. Da es im Sinne von Wittgenstein keine "private Sprache" gibt&, ist hier zu schlußfolgern, daß eine Ökonomie der optimalen Ressourcenallokation die Bewertungsdiskurse thematisch nicht ausschließen kann. Ich argumentiere hier parallel zu Davidson, der zitiert werden darf: "Die Quelle des Begriffs der objektiven Wahrheit ist die Kommunikation zwischen verschiedenen Personen. Die Existenz des Denkens ist abhängig von der Kommunikation."9 Im Zentrum des Erkenntniskritizismus steht die Frage: "Was will ich?" Der zentrale Begriff eines erkenntniskritischen Diskurses wäre dann: "Wie nützlich ist das Nützliche?" Die Frage nach dem Optimum des Wohlfahrtsstaates ist hierfür ein überzeugendes Beispiel. Sieht man mal von der Meßung der SozialergebnisselO ab, so liegt eine unübersehbare Zahl von Studien vor, die Variablen analysiert haben, die das Kostenniveau und die Kostenfunktionen der Staatstätigkeit betreffen und somit Effizienz und Effektivität beeinflußen. Aber bereits die Debatte über die Menge und die Struktur der als relevant zu berücksichtigenden Sozialkosten verdeutlicht den Konstruktcharakter der Kosten, ein Konstrukt, das ja eingebettet ist in soziale Interpretationen und Kommunikationen. Thiemeyer hat dies als politische Dimension der Kosten-Nutzen-Analyse und verwandter Entscheidungshilfen vehement betont. Und umgekehrt gilt der Konstruktinterpretationismus auch und gerade hier in brisanter Form für die Nutzendimension des Optimierungsproblems. Hier geht es um die Nutzenbewertung und um den ebenso normativen sozialen Prozeß der Konstruktion relevanter Nutzendimensionen. Die paretianische Wohlfahrtsökonomik hat in Abgrenzung zum Soziaikostenkonzept (unter dem Vorwurf der Ubiquität sozialer Interdependenzen) die wissenschaftskonzeptionell zu berücksichtigenden Externalitäten unter Ausschluß psychischer externer Effekte auf nicht marktpreis-vermittelte technologische Externabtäten reduziert. Etwa: U 1 = U1(Xt>Y1), Uz = Uz(Xz,Y z,X1) mit c5Uzic5Xl >oder< 0. 8 Lenk, H. Von Deutungen und Wertungen, Frankfurt a.M. 1994; Wittgenstein, L, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1982. 9 Davidson, D., Subjektiv, Intersubjektiv, Objektiv, in: Dialektik und Dialog. Rede von Donald Davidson anläßlich der Verteilung des Hegel-Preises 1992. Laudatio von Hans Friedrich Fulda, Frankfurt a.M. 1993, 73. 10 Vgl. die zitierte Literatur bei Schulz-Nieswandt, F., Einführung in die wohlfahrtsstaatliche Landeskunde der Bundesrepublik Deutschland, Weiden 1993, 63.
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Ein großer Teil politikrelevanter Handlungsinterdependenzen fallen dann konzeptionell aus dem Optimierungsprogramm heraus. Angesichts längst schon berücksichtigter "caring externalities" ist dieser Ausschließungs- und Tabuierungsprozeß brüchig geworden. Die Befunde der historischen Rekonstruktionen der Staatstätigkeit bei de Swaanll (aus der Sicht der Elias'schen Theorie) und bei Ewald12 (aus Foucault'scher Sicht) bestärken die Idee, Extemalitäten als breit konzipierte Handlungsinterdependenzen zu verstehen und die Frage der Allokationsoptima auf entsprechend vorgängige Diskurse zu beziehen. Es sind multiple Optima möglich, je nachdem, welche Spezifizierungen und Konstruktbildungen gesellschaftlich geleistet werden. Das Optimum richtet sich also hinsichtlich seiner Geltung nach der vorgängigen Problematik des Diskurses.B Mit Stone darf argumentiert werden: "the essence of policy making in political communities" ist "the struggle over ideas"14. Deshalb sind Nutzen und Kosten lnterpretationskonstrukte. Hierbei spielen verschiedene Mechanismen eine Rolle: u.a. Ausschließung durch Verbot, Tabu und Grenzziehung, diskursintern durch Kommentar.15 Für diese Dimensionen der Politiktheorie - Zielfindung bzw. -bildung und meritorische Diskurse - hat sich Thiemeyer im Rahmen seines wissenschaftskonzeptionellen Selbstverständnisses in nachhaltiger Weise interessiert. Einige Grundüberlegungen sind dabei von bleibender Bedeutung, vieles ist aber im Stadium des Aufwerfens von Fragen verblieben, so daß großer Fortentwicklungsbedarf besteht. Zusammenfassend gesagt befaßt sich die public choice-Theorie folglich mit der Frage nach den optimalen institutionellen Arrangements, die folgende Gleichgewichtsbedingung erfüllen sollen: Die gemeinsame Grenzrate der Substitution einer i-Personen-Gesellschaft (i = [1,2]) bezüglich zweier Güter (hier öffentliche Güter a und ß) soll gleich sein der Grenzrate der Transformation bezüglich a und ß: (GRS,.,B]i =GRTa,B·
11 Vgl. De Swaan, A, Der sorgende Staat, Frankfurt a.M. I New York 1993.
12 Vgl. Ewald, F., Der Vorsorgestaat, Frankfurt a.M. 1993. 13 Vgl. auch die Ausführungen zur wissenschaftlichen Behandlung des Problems kollektiver Entscheidungen bei Schulz-NieswandJ, F., Transformation, Modemisierung und Unterentwicklung, Weiden 1994, 9-22.
14 Stone, D. A, Policy Paradox and Political Reason, Brandeis (USA) 1988, 7. 15 Der Foucault'sche Blick (vgl. Hewin, M., Bio-Politics and Social Policy: Foucault of Welfare,
in: Theory, Culture and Society 1983, 67-84) könnte positiver gewendet werden als Analyse des Mit-, Gegen- und Nebeneinander verschiedener Diskurse, wobei "von unten" und "von oben" ebenso konstitutive Kategorien sind wie die von "Individualisierung" und "Reprivatisierung" einerseits und "Sozialisierung"von Problemen andererseits. Vgl. dazu auch Frazer, N., Unruly Practices, Cambridge I Oxford 1989, 171ff.
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Die Ausgangsverteilung wird als gegeben unterstellt, ebenso Budget, Produktionsfunktionen etc. Die Fragestellung der public choice-Theorie ist also auch im Feld der Produktion öffentlicher Güter die der allokativen Effizienz. Von der Effizienzfrage streng getrennt ist die Problematik der sozialen Wohlfahrtsfunktion SWF, die hier nicht-utilitaristisch (also nicht-summativ) definiert wird: SWF;
=SWF;(U1,U:o····UJ,i =l, ...,n.
In der Regel wird innerhalb der SWF-Problematik die Verteilungsthematik verortet: Es geht um die gewünschte Verteilung bei vorgegebener Nutzenmöglichkeitskurve der i-Personen-Gesellschaft. Oftmals sind in dieser public choice-Perspektive politikwissenschaftliche Befunde oder Forschungsergebnisse der politischen Soziologie (etwa über Politikperformanz in Abhängigkeit institutioneller Variablen16: Typen des politischen Systems oder Regimetypen, Wahlsysteme, Parteienspektrum und Verbandstypen, Verwaltungsmodelle, gewerkschaftliche Politikkulturen etc.) nur Materialbestände, die zur Modeliierung aufgegriffen werden. Explizit oder auch in kryptischer Weise ist die public choice-Theorie normativ infolge ihrer forschungslogisch zwingenden Verschmelzung mit der Wohlfahrtsökonornik als Quelle referentieller Wohlfahrtskriterien. Folglich geht es innerhalb der public choice-Theorie im Rahmen der komparativen Institutionentheorie um die Analyse des "Politikversagens": Optimale Institutionen sind solche, die die besten unvollkommenden Allokationssysteme darstellen. Um in diesem Zusammenhang einen Punkt vorweg anzusprechen: Thiemeyer zeigte wenig Begeisterung, Staatslehre - oder angemessener formuliert: die Lehre vom politischen System - funktionalistisch auf den relativen Beitrag von Institutionen zur Reduzierung von Transaktionskosten zu mindern. Auf einen möglichen sozialontologischen Vorbehalt gegen eine dergestalt Ökonomistische Staatslehre - die er ja auch gegenüber der Theorie der öffentlichen Güter erhob und das theoretische Bemühen relativierte, geradezu zwanghaft die Frage der Organisation und sinnhaften Grundlegung des Gemeinwesens einer Theorie des Marktes nachzubilden - sei daher sogleich hingewiesen. Es gibt keine Belege dafür, daß sich Thiemeyers Kritik der funktionalistischen ökonomischen Theorie der politischen Institutionen in einer Hegeischen Theorietradition der sittlichen Institutionen fundierte, wohl aber sah Thiemeyer Politik als Feld der gestaltenden Ideen personaler Akteure an. Gewiß ist nur, daß Thiemeyer an der Bedeutung von Tugenden festhielt, wenn es um die Gestaltung des Gemeinwesens ging. Thiemeyer stand fest - etwa auch in der Lehre der öffentlichen Wirtschaft 16 Vgl. etwa die Diskussion des Zusammenhangs von Demokratie und Unterentwicklung: Bardhan, P., Symposium on Democracy and Development, in: Journal of Economic Perspectives 7 (1993) 3, 45-49.
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hinter dem Postulat der Begründungspflicht politischer Eingriffe in ansonsten marktwirtschaftlich organisierte Gesellschaften; aber das bestätigt ja nur den grundsätzlichen Gestaltungsbedarf von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Gesellschaftspolitik. Von allzu streng postulierter Marktkonformität darf abgewichen werden. Wenn Politik Gestaltung des Gemeinwesens als Praxis des "guten Lebens"- wenn hier einmal aristotelisch formuliert werden darf- und als solche legitime Herrschaft ist, dann reduziert sich der sozialontologisch definierte Charakter des Politischen nicht auf funktionalistische ökonomische Aspekte. In der Tat haftet diesem Politikverständnis eine ethnologische, d.h. hier basiswissenschaftlichen Eigenheit an: Es geht um soziale Integration als menschliche Existentialität - nämlich als Problem der Konstitution sozialer Identität von Personen in und durch Kultur.18 Dies gilt insbesondere angesichts der Kommunikation als anthropologische und sozialontologische Kategorie, wie es von Ethnologie19 wie Philosophie20 reflektiert wird. B. Die Kernproblematik: Effizienz - in bezog auf was? Es werden im folgendem noch eine Reihe verschiedener Grundprobleme einer Theorie der Politik anzusprechen sein. Eine Grundproblematik soll hier aber bereits als Kernproblematik ausgewiesen werden. Beschäftigt sich die public choice-Theorie mit der Analyse von institutioneilen Arrangements unter dem perspektivischen Regime der Allokationseffizienz, so fragt sich - und das ist eine Thematik, die der Weisser-Thiemeyer-l..ehrauffassung implizit ist -, was die Wertbasis der Effizienz ist. Folgende Grundproblematik besteht hier: Verteilt werden ja nicht nur Einkommen, sondern ganze Lebenslagen. Determinanten der Lebenslagen sind nun immer auch Institutionen bzw. Arrangements - etwa (um nur ein Thema zur Veranschaulichung anzusprechen) die Mitbestimmungsregeln. Folglich ist die SWF = SWF(Y, u, f.l) mit fy > 0, fn < 0, f.u > 0. (Y: Einkommen; u symolisiert den Gini-Koeffizienten zur Messung der Einkommensungleichheit, f-l den Grad der Mitbestimmung.) Theoretisch stellt sich nun dßs Problem, tklß mit der Veränderung der institutionellen Arrangements sich die Existenzbedingungen des Pareta-Optimums ändern: Das Pareta-Optimum hängt eben nicht nur von der Ausgangsverteilung, sondern auch vom in17 Vgl. Müller, K. E., Das magische Universum der Identität. Elementarformen sozialen Verhaltens, Frankfurt a.M. I New York 1987,391.
18 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F., Zur Theorie der Wohlfahrtspolitik, Teil 1, Weiden 1993. 19 Bargatzky, T., Einführung in die Ethnologie, Harnburg 1985, 11. 20 Jaspers, K., Philosophie, 3 Bde., Bdll: Existenzerhelluog, 4. Auf!., 1973, 242.
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stitutionellen status-quo ab. Es verändern sich bei lebenslagenwissenschaftlicher Sichtweise der sozialen Wohlfahrt damit die Möglichkeitsräume der Akteure, die sozialen Relationen der Akteure. Es ändert sich der ganze Gesellschaftstyp. Die soziale Wohlfahrtsfunktion hat immer noch die Aufgabe, zu entscheiden, welche Personen mit welchen Interessen mit welchem Gewicht in die soziale Definition sozialer Wohlfahrt eingegen sollen. Aber: Die sozialwohlfahrtsrelevanten Argumente können bereits Parameter individueller Nutzenfunktion sein:
u = U(Y,u,.u).
Ein Pareto-Optimum richtet sich demnach ex definitione bereits nach sozialwohlfahrtsrelevanten Parametern. Allokative Effizienz hat also eine potentiell semantisch breite Wertbasis. Thiemeyers immer wieder formulierte - oftmals im Lehrgebiet der öffentlichen Wirtschaft thematisierte - Grundfragestellung: Effizienz - in bezug auf was?, zeigt sich hier als theoretisch weitreichendes Problem. Darauf wird dann noch intensiver zurückzukommen sein.
111. Über sozialontologische Voriiberlegungen zum Politischen Thiemeyer folgte einer Auffassung des Politischen, die nicht frei war von sozialontologischen Vorüberlegungen. Zu bedenken ist zunächst, daß Ökonomie für Thiemeyer ohnehin immer eine politische Theorie war (das hat er auch für betriebswirtschaftliche Entscheidungsprobleme so gesehen). Er nutzte daher den Begriff der Sozialökonomie auch aus diesem Grunde, der angesichts der Gestaltungsaufgaben menschlicher Existenz auf sozialontologische Fundierungen der Ökonomie verweist. Ob man lieber von anthropologischen Fundierungen sprechen möchte oder gar sollte, mag dahin gestellt bleiben. So wie die Volkswirtschaftslehre Teil der Gesellschaftslehre und die Wirtschafts- und die Sozialpolitik Teile der Gesellschaftspolitiklehre sind (Weisser hat die Wirtschaftswissenschaft bekanntlich als spezielle Soziologie klassifiziert), so wollte Thiemeyer Ökonomie niemals auf "economics" reduziert sehen, sondern als existentiell unabdingbarer Zwang zur Daseinsgestaltung: Ökonomik ist - und hier verortet sich Thiemeyers erkenntniskritisch fundierte Problematisierung einer Idee der "oeconomica pura" - Teil der (eben sozialontologisch gesprochen) nicht-eliminierbaren Notwendigkeit der Gesellschaftsgestaltung. Diese ist die in der jeweils gewollten Art die lnbeziehungsetzung von Mensch, Gesellschaft und Staat angesichts des Problems der Bedarfsdeckungswirtschaftlichkeit
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menschlichen Daseins. Um mit Sartre21 zu sprechen: Zu dieser Freiheit ist der Mensch verdammt. Thiemeyer dachte folglich gestalterisch. Im Kontext seiner Kritik an der Theorie der durch quasi-objektive Gutseigenschaften wissenschaftlich konstituierten, d.h. hier dann enttabuierten öffentlichen Wirtschaftstätigkeit schlußfolgerte er konsequent die Theorie des öffentlichen Sicherstellungsauftrages, der nur politisch gedacht werden kann und meritorisch insofern ist, als ilun Diskurse über wohlverstandene Interessen zugrunde Liegen. Ein Mangel in diesem theoretischen Bemühen Thiemeyers lag allein darin, in systematischer Weise keinen anderen Begriff für Patemalismus zu finden, da nie das erkenntniskritisch formulierte Grundproblem des Irrturns und der Wohlbedachtheitsund Selbstbesinnungspostulate als irrelevant verworfen werden konnte, sondern nur die Art und Weise, wie die Interaktionsmuster der gesellschaftlichen Definition meritorischer Gestaltung gedacht werden. Die Idee des öffentlichen Sicherstellungsauftrages als Reformulierung der Theorie öffentlicher Güter und damit der Staatstätigkeit überhaupt entwickelte sich bei Thiemeyer zwar im Themenfeld des öffentlichen Wirtschaftens und/oder gemeinwirtschaftliehen Disponierens, dann auch im gesundheitsökonomischen Themenfeld, aber es handelt sich um eine Perspektive der Politiktheorie von allgemeinster Relevanz: Geht es doch um die genuin politische Frage, was gesellschaftspolitisch "gewollt" ist. Hier folgte Thiemeyer bekanntlich der von G. Weissergeprägten Lehrauffassung. Thiemeyer rezipierte in der Lehre gerne den Handbuch-Artikel "Wirtschaft" von Weisser, den er zur Neuveröffentlichung 1989 einleitete. Auf relevante Aspekte wird noch einzugehen sein. Eine Paralelle findet die angesprochene sozialontologische Reflexion der Ökonomie als politische Theorie übrigens bei G. Weippert22, den Thiemeyer nur eher am Rande erwähnte (nämlich mit Bezug auf dessen Begriff der "Vereinbarung" als Allokationsprinzip). Für Weippert war Ökonomie ebenfalls genuin politische Theorie, da es um die "Daseinsrichtigkeit" gestalterischen Handeins geht.
IV. Über Lebenslagen, GesellschaftspoUtik, Sinn und Formenwelt des Daseins
Vom Geist eines "freiheitlichen Sozialismus" doch nachhaltig geprägt, dachte Thiemeyer in der Vielgestaltigkeit und Gebildevielfalt des wirtschaftlichen und 21 Sartre, J.-P., Das Sein und das Nichts, Reinbek bei Harnburg 1962; ders., Marxismus und Existentialismus, Reinbek bei Harnburg 1964; ders., Kritik der dialektischen Vernunft 1, Reinbek bei Harnburg 1967. 22 Weippert, G., Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Bd. 1, Göttingen 1966.
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gesellschaftlichen Handelns. Wenn Gesellschaftspolitik auf die Verteilung von Lebenslagen maßgeblich Einfluß zu nehmen versucht und sich an dieser Aufgabe geradezu definitorisch konstituiert, so kommt in dieser konzeptionellen Schlüsselkategorie der Lebenslage der existentielle Bezug der Politik zum Ausdruck. Die erkenntniskritisch gewonnene These der Nicht-Reduzierbarkeit der Lebenslage auf das Konstrukt des Nutzenniveaus hindert zunächst nicht daran, das Konstrukt der Lebenslage modern im Rahmen eines handlungs- und ressourcentheoretischen Ansatzes als Spielraum der Person zu definieren. Dieser Spielraum ist vom Wechselspiel personengebundener und biographisch erworbener Handlungskompetenzen und externen23 Handlungskapazitäten geprägt. In der Theorie von Sen24 sei "capability" die Freiheit einer Person , über verschiedene Kombinationen personalen "beings" zu verfügen. Sozialphilosophisch gesprochen25 geht es um die Konstitution personaler Identität im dialektischen Wechselspiel von Entwurf und Faktizität. Philosophisch gesehen ist die Lebenslage daher als "ln-der-Welt-Sein" immer beides: Entwurf (Sartre) und Geworfensein (Heidegger26). Wegen dieser existentiellen Tiefe war die lebenslagenwissenschaftliche Fundierung der Gesellschaftspolitkkwissenschaft abzusetzen vom "wohlfahrtsökonomischen Formalismus". Wissenschaftstheoretisch betonte Thiemeyer in der Tradition des "Kritizismus" immer das Problem des "naturalistischen Fehlschlusses", also das Problem des Schlusses vom Gegebenen auf das Gute, was er für ein besonderes Problem der Nutzentheorie hielt. Es darf hier kritisch angemerkt werden, daß Thiemeyer - abgesehen von einigen Aspekten innerhalb seiner gesundheitspsychologischen und gesundheitssoziologischen Vorbemerkungen im Rahmen seiner gesundheitsökonomischen Lehre und Forschung wenig die Theoreme und empirischen Befunde der kognitiven Forschung rezipierte; so manch vertrautes Problem des "Kritizismus" erscheint hier in deutlicherem Licht. Jedenfalls gilt: Für Thiemeyer war die erkenntniskritische Auseinandersetzung mit der Wohlfahrtsökonomik ein chronisches Thema,27
23 In der Theorie der medizinischen Versorgung z.B. sozialinfrastrukturtheoretisch gedacht in Hinsicht auf: Verfügbarkeit, Erreicbbarkeit, Zugänglichkeit, Akzeptanz. 24 Sen, A, Commodities and Capabilities, Nonh-Holland et al. 1985. 25 Zum Überblick vgl. auch Schnädelbach, H., Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfun a.M. 1983; ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. 1992. 26 Heidegger, M., Sein und Zeit, 8. Auf!., Tübingen 1957. 27 Ebenso etwa für Katterle, der zuletzt stärker zurückgriff auf verschiedene Generationen des klassischen Institutionalismus amerikanischer Prägung oder der Myrdal'schen Richtung. Vgl. Katterle, S., Methodologischer Individualismus and beyond, in: Biervert, 8./ Held, M. (Hrsg.), Das Menschenbild in der ökonomischen Theorie, Frankfurt a.M./ New York 1991, 132-152.
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V. Die Dinge zusammenbringen: Über Wohlfahrtsökonomie, politische Mechanismen und theoretische Reduktionismen Die Auseinandersetzung mit der Wohlfahrtsökonomik28 ist für das gestellte Problem zentral, findet hier doch die public choice-Theorie ihr allokationstheoretisches Referenzsystem. Wie schon angesprochen, ist die public choice-Theorie ein normativ-explikatives Mischgebilde: Sie analysiert und beurteilt institutionelle Arrangements hinsichtlich der Funktion der Aggregation von Präferenzen über öffentliche Güter unter dem Gesichtspunkt der Optimalität. Zentral ist dabei das Pareto-Kriterium, mit dem sich Thiemeyer in Hinsicht auf die Relevanz für policy-Fragestellungen immer wieder kritisch auseinandergesetzt hat. Aber auch die damit verbundenen Probleme- auch das der soziologisch und sozialpsychologisch herausragenden Bedeutung der "relativen Deprivation" (Runciman-Effekt29) für die Entwicklung sozialer Wohlfahrt und ihrer Wahrnehmung und Beurteilung- ist sattsam bekannt. Alle Teilbereiche der public choice-Theorie - die Theorien des demokratischen, des kollektiven und des bürokratischen Handeins - argumentieren im normativen Kontext des Regimes des Pareto-Kriteriums. In Niskanen-Modellen budgetmaximierender Bürokraten ist dies ebenso der Fall wie in der räumlichen (auf Iso-Verlust-Räume abstellenden) Theorie der Demokratie in der DownsTradition oder auch wie in der parallel argumentierenden Politischen Ökonomie der räumlichen Integration und Koalition. In der konstitutionalistischen Theorietradition von Wiekseil und Buchanan30 gibt das Lindahl-Gleichgewicht31 die pareto-optimale Norm ab; vom Einstimrnigkeitsprinzip, das allein Pareto-Optimalität sichert, darf nur aus Gründen zu hoher Transaktionskosten, die bei dem Versuch der Herbeiführung der Einstimmigkeit anfallen, abgewichen werden. Auch in der spieltheoretisch definierten Problematik der kollektiven Bereitstellung öffentlicher Güter32 wird paretianisch argumentiert. Selbst wenn die Ausschüttungsmatrix sicherstellt, daß kooperatives Handeln ein höheres Nut28 Vgl. zur Einführung: Johansson, P.-0., An lntroduction to Modem Welfare Economics, Cambridge et al. 1991. 29 Zu verweisen ist auch auf die verwandte Formulierung als "Tunnel-Effekt" bei Hirschman. Vgl. Hirschman, A 0., Entwicklung, Markt und Moral, Frankfurt a.M. 1993, 7lff.
30 Vgl. Buchanan, J. M., Die Grenzen der Freiheit, Tübingen 1984. 31 Für i = 1 bis n gilt: l:Ui = MC; Ui: marginaler Nutzen der i-ten Person einer Population n,
MC: marginale Kosten. Das lindahi-Gleichgewicht folgt aus einer Menge von lindahi-Preisen Ti
= Ui für alle i und ist definiert als: l:U i = l:Ti.
32 Vgl. Jasay, A de, Social Contract, Free Ride, Oxford et al. 1990.
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zenniveau (Nm) verspricht als das pareto-inferiore Nash-Gleichgewicht33 im Fall des Gefangenendilemmas (Ue)- also Um> Ue -, so ist in der Gison-Theorietradition die Gruppengröße relevant: Steigt mit der Gruppengröße (N) auch die Gruppe der "free rider" (N-k) an (steigt also die Gruppe der "free rider", weil niemand ein "sucker" des Gefangenendilemmas sein möchte), dann ist das Kollektivgut in seiner Bereitstellung bzw. Produktion gefährdet. Die Funktionsbedungung zur Bereitstellung öffentlicher Güter lautet daher34: (Um-Ue)/C-cx; k/N > 1. Thiemeyer hat sich für derartige Probleme angesichts seiner Beschäftigung mit verbandlieh-korporativer Steuerung im Gesundheitswesen interessiert. Und auch innerhalb seiner Beiträge zur Ökonomik der Selbsthilfegebilde hat er sich dem aus der Korporatismus-Forschung35 bekannten Tatbestand nicht verschlossen, daß Konzertierung bislang fragmentierter Akteure zwar mit sinkenden Konsenskosten, aber eben auch mit steigenden Entscheidungsfindungskosten verbunden ist. Thiemeyer betonte aber in derartigen Zusammenhängen oftmals die sogenannten "process benefits". Hinsichtlich der Rolle der Verbände - von der Gesetzgebung bis zur Implementation - wurde Thiemeyer nicht müde, die Unverzichtbarkeit der praktischen Fachleute, obwohl sie sicherlich auch interessengebundene Experten mit rollenabhängiger Definitionsmacht sind, zu betonen. Für Thiemeyer ging die Rolle von Verbänden und Experten nie gänzlich auf in rent-seeking-Theoremen36 und entsprechenden Wohlfahrtsverlusten37. Im Rahmen von Plausibilitätsüberlegungen und von begründeten Vermutungstatbeständen war Thiemeyer immer offen für ein Gemengelage gegenläufiger Verhaltensweisen und Effekte. Die Nicht-Gleichsetzbarkeit von Politik und rent-seeking38 hat aber systematische theoretische Gründe. Wie eingangs schon angesprochen, werden im Rah33 Si* ist ein Nash-Gieichgewicht, wenn für alle i = 1,... ,n gilt: O(St,s_1) 2: O(Sj',S.t) für alle Sj'. Dabei sind: O(S1, ... ,5n) die Auszahlungsfunktion; S ist die Strategiemenge; ein Gleichgewicht eine doist s*. Sofern s_ 1 die von allen anderen Akteuren gespielten Strategien sind, dann ist minante Strategie, wenn gilt: O(St,S.J) 2: D(S;',S_J) für alleS;', S;' ungleich S; *für alle S_ 1.
st
34 Es wird eine pareto-utilitaristische SWF unterstellt. Dabei sind cx; die Kosten für x; (ein öffentliches Gut); C - cx; sind die K05ten für ein privates Gut. C ist also das Budget.
35 Vgl. Pekkorinen, J. et al. (eds.), Social Corporatism: A Superior Economic System?, Oxford
1992.
36 Bei gegebener Ressourcenausstattung wird solange in rent-seeking-Aktivitäten (r) investiert, bis der Grenzertrag dieser politischen Einflußnahme gleich ist den Opportunitätsk05ten (in Form entgangener Erträge aus marktliebem Ressourceneinsatz: p): SY/Sr 2: SY/Sp. 37 Geometrisch im Sinne des Konsumentenrenten-Theorems in Form des "Harberger-Dreiecks" präzisierbar. 38 Kritisch zur Olson-Theorie: McCallum, J. I Blais, A, Govemment, special interest groups, and economic growth, in: Public Choice 54 (1987), 3-18; Wallis, J. J. I Dates, W., Does Economic
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men der Einflußnahme der Gesellschaftspolitik auf die Verteilung von Lebenslagen soziale Relationen verändert, es verschieben sich die Möglichkeitsräume der Akteure. Sofern die Veränderung institutioneller Arrangements als Determinanten der Lebenslagen Argumente semantisch breiter Nutzenfunktionen bzw. Lebensentwürfe der Personen sind, sind diese Interessen die Wertbasis für effiziente Allokation der Ressourcen. Es sind eben Gestaltungsinteressen in einer Welt sozialer Handlungsinterdependenzen. Das Konzept der Rente wird ubiquitär, wenn Personen Präferenzen über "social objectives" (das "Gewollte" bei Weisser und Thiemeyer) haben. Für Thiemeyer waren korporatistische Arrangements, gemeinsame Selbstverwaltungen von Verbänden usw. morphologisch mehr als strategische Spiele. Vielleicht eignet sich der Begriff der "Regulationskultur"39 (auch wenn Thiemeyer den OS-amerikanischen Bedeutungskontext der Regulierung kannte und den deutschsprachigen Kontext der Gemeinwirtschaftlichkeit abzugrenzen pflegte), um anzuvisieren, wie Thiemeyer hier das Phänomen einschätzt. Nicht im Widerspruch stehend zu den modelltheoretischen Möglichkeiten, spieltheoretisch gerade die Genese pareto-optimaler Regeln und Normen sowie Veränderungen der Zeitpräferenzrate zu deduzieren und zu simulieren, dachte Thiemeyer sicherlich historisch-empirischer, vielleicht - ich betone hier sehr das Fragezeichen - etwas aus der Perspektive transsubjektiver sozialer Grammatik. Aber es macht keinen Sinn, Spurensuche nach Wittgenstein-Aspekten40 zu praktizieren, wo der Verweis auf einen Personalismus41 näher liegt: Thiemeyer ging offenbar von vergesellschafteten Personen aus, die durchaus mehrdimensionale Strukturen von Grundanliegen inkorporieren können, so daß bereits in der Person - sozusagen als "konkrete Mitte"42 zwischen Individualismus und Universalismus (von dem er sich - etwa in Auseinandersetzung mit 0. Spann abgrenzen konnte) - das "utilitaristische Dilemma" überwunden wird. In dem Theorem der öffentlichen Bindbarkeil betonte Thiemeyer -jenseits der üblichen Privatisierungstheorie - die Perspektive von Sinnbindung und Verhaltensregulierung durch normative Kontexte. Thiemeyer war abgeneigt, diese Bindung ausschließlich über "constraints" zu konzipieren; das ist aus seiner Gemeinwirtschaftslehre zu entnehmen. Ob Thiemeyer hier geradezu an eine Überwindung Sclerosis Set in with Age? An Empirical Study of the Olson Hypothesis, in: Kyklos 41 (1988) 3, 397-417.
39 Vgl. Dyson, K. (ed.), The Politics ofGerman Regulation, Aldershot et al . 1992. 40 Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M. 1982. 41 Zum Begriff der Person vgl. auch Pongratz, L. J., Problemgeschichte der Psychologie, 2., überarb. Aufl., München 1984, 46ff. Vgl. auch Schulz-NieswandJ, F., Zur Theorie der Wohlfahrtspolitik, Teil 1, Weiden 1993.
42 Zur "Mitte" als Kategorie bei M. Merleau-Ponty vgl. auch Waldenfels, B., Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a.M. 1983, 142-216.
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cartesianischer Soziologie dachte, muß und sollte dahingestellt bleiben; ich glaube nicht, daß er an derart radikale Konsequenzen dachte. Seine Kritik organizistischer und universalistischer Soziologien war eindeutig, dennoch ließ er sie thematisch nicht aus: Folge einer Faszination thematischer Art. Zurück zur Wohlfahrtstheorie. Was Thiemeyer im Sinne der Kritik des "wohlfahrtsökonomischen Formalismus" problematisierte, war nicht die mathematische Form der Theorieformulierung (darin übrigens Weisser folgend). Neoklassik war für ihn zunächst nur eine Methode. So erinnerte er oftmals an die marginalistische Methode innerhalb der Wirtschaftsplanungsdebatte im ersten Drittel des 20. Jahrunderts. Gemeint ist vielmehr die Einforderung soziologischer Vorklärungen der Motivspezifikation des Nutzenhandelns, damit nicht mit pseudo-explikativen und pseudo-normativen Leerformeln operiert wird. Thiemeyer scheute sich nicht, auf die Gefahr des "Modellplatonismus" hinzuweisen; und da nahm er den Staatsableitungsfunktionalismus des westlichen Marxismus der 1970er Jahre nicht aus. Hinsichtlich dieser Einforderung einer Motivspezifikation liegt es dann nahe, an den mehrfach angesprochenen Personalismus zu erinnern. Die Einführung offener Nutzenfunktionen (U = U { ·}) setzt ja bereits sozialtheoretische und empirische Klärungen voraus, ersetzt diese also nicht. Thiemeyer äußerte innerhalb der Lehre diesbezüglich oftmals den Verdacht einer "ad hocery". Mag Thiemeyer die Probleme nicht selten im Sinne der erwähnten Plausibilitätsüberlegungen und begründeten Vermutungstatbestände - und er stellte die Grenzen hermeneutischer Methoden heraus - entschieden haben, so dachte er hier offenbar insbesondere an die stärkere Berücksichtigung von Normen bzw. normativen Sinnzusammenhängen rationalen Handelns. Aus der Theorie der Gemeinwirtschaft ist zu entnehmen, daß Thiemeyer diese Probleme primär über die Bildung von Hypothesen über subjektive Grundanliegen gelöst sehen wollte. Interessant ist es zu sehen, daß das Down'sche "Wählerparadoxon"43 bislang auch nur über die Annahme von Staatsbürgertugenden gelöst wurde. Thiemeyer nahm - der Gebildevielfalt entsprechend - eine Vielfalt an Grundanliegen der Personen an. Nicht selten argumentierte Thiemeyer im Rahmen soziologisch eher konventioneller, aber relevanter Bezugsgruppentheorien. Person und Rolle kommen hier zusammen. Was in der Folge Thiemeyer an der vorherrschenden ökonomischen Theorie störte, war eine Vorentscheidung für spezifische Nutzenkonzepte, die - ihren wissenschaftslogischen Charakter eines
ut
43 Angenommen wird: = Pi U;tk - C; + N;. U;• ist der etwartete Nutzen des Wahlgangs für i. Wenn U;ck der vom Wähler antizipierte Nutzen zum Zeitpunkt t in bezugauf die Parteien k (k = l, ..,n) ist, C; die Kosten (Informationsbeschaffung etc.), Ni die Nonn, als Staatsbürger tätig zu sein, dann stellt sich folgendes Problem: Plausibel ist, daß Pi U/ nur sehr klein ist, da der Einfluß eines individuellen Wahlbeteiligungsaktes auf den Wahlausgang sehr gering ist; dann ist aber der Gang zum Wählen irrational. Trotzdem gibt es z.T. bemerkenswert hohe (gesetzlich nicht-erzwungene) Wahlbeteiligungen.
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"Scheinwerfers" oftmals vergessend und in "Ökonomismus" verfallend - sinnhafte und morplwlogische Vielfalt reduziert, wo es doch auf eine nicht mehr reduzierbare, jedenfalls hinsichtlich des zu verantwortenden Substanzverlustes nicht mehr reduzierbare Minimaltypologie der Akteure, ihrer Sinnsysteme und ihrer funktional adäquaten Praxisformen (Gebilde), in denen der Sinn Ausdruck und Gestalt annimmt, geht. Vor allem ärgerte sich Thiemeyer über den wissenschaftstheoretisch nicht reflektierten Sprung von Modellen in die ganzheitliche Politikberatung. Dies war ihm ein wissenschaftsethisches Ärgernis. Viele Modelle waren ihm - etwa in der Altruismus-Theorie44 - ohnehin tautologieverdächtig. Ein zentraler Kritikpunkt in Thiemeyers Auseinandersetzung mit der "economics" - und das betrifft auch das Optimierungsprogramm der public choice-Theorie- ist die erkenntniskritische Frage, was denn überhaupt Effizienz sei, oder- wie es weiter oben bereits angesprochen wurde -: Effizienz - in bezug auf was? Schließlich könne man über Effizienz nur sprechen, wenn man geklärt hat, wonach gestrebt wird. Natürlich ist es an sich trivial, daß sich Menschen auch fremden Ziele widmen können (agency-Aspekt menschlichen Handelns) und daher derartige widmungswirtschaftliche Gebilde und personale Gestalten spezifische Effizienzlösungen bedingen; dennoch macht die vorherrschende ökonomische Theorie allokativer Effizienz von dieser Erkenntnis nicht konsequent Gebrauch.
VI. Über Efllzienz und soziale Wohlfahrtsfunktionen Auch hinsichtlich dieser Problematik - und nun komme ich zu der weiter oben skizzierten Kernproblematik - gehen viele Überlegungen auf Weisser zurück. Es geht um logische Bruchstellen im Konzept der paretianischen und präferenzutilitaristischen Allokationseffizienz. Dieses Konzept geht davon aus, in der Definitionstradition von L. Robbins stehend, das Konstrukt der Effizienz streng abgrenzen zu können von dem der Verteilung und der Gerechtigkeit. Zwischen Effizienz und Gerechtigkeit wird ein trade Off-Zusammenhang (Okun-Theorem45) konstatiert. Mikroökonomisch ist diese Denkweise seit der Effizienzlohndebatte brüchig geworden; Arbeitsproduktivität und Motivation hängen maßgeblich von Vorstellungen über relationale Gerechtigkeit ab. Die 44 Pareto-optimaler Altruismus kann wie folgt definiert werden: Ist eine Wertschätzung des Einkommens Y der Person 2 durch Person 1 der Grund für freiwillige Transferleistungen, dann läuft (wenn w das Einkommen der Person 1 symbolisiert und 8U l /8w1 > 0 und 8U 1/8Y2 2: 0) der Transferprozeß solange ab bis: 8U 1/8w 1 > I 8U 1/8Y2 I . 45 Nicht zu verwechseln mit dem Okun-Law.
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trade off-Hypothese und damit zusammenhängende diverse inverse V-Hypothesen (über Wachstum und "human development") sind im Forschungskontext der empirischen Befunde über Unterentwicklungen46 längst schon brüchig geworden. Auch die psychologische Wohlbefindens- und Glücksforschung konnte zeigen, daß der soziale Vergleich konstituierend ist. Soziale Themata - etwa Gerechtigkeit der Verteilung oder geregelte Partizipationschancen - gehen als Wertbasis effizienter Allokation bestimmend ein. Das ganze Problem wird seit einiger Zeit in Richtung auf logische Konsistenz der ökonomischen Theorie diskutiert: Le Grand47 und Goodin48 konnten argumentieren, daß alle Ziele, wenn sie präferiert werden, die nonnative Bezugsbasis effizienter Allokation abgeben müssen. Bromley49 konnte im Rahmen einer theoretischen Abhandlung dazu einiges klären. Zunächst unterscheidet er zwischen verschiedenen policy-Problemstellungen: (a) "improving economy's productive efficiency", (b) "changing the distribution of income", (c) "redistributing economic advantages", (d) "reallocation of economic opportunities". Während das Konzept der produktiven Effizienz Entscheidungen entlang der Produktionsmöglichkeitskurve thematisiert, thematisiert das Konzept der Reallokation ökonomischer Möglichkeiten die Idee sozialer Effizienz, die produktive Effizienz einschließt, zugleich aber (neben privaten Themata: pT) soziale Themata (sT) als Parameter personaler Nutzenfunktionen berücksichtigt: U = U (pT,sT) mit fpT > 0 und fsT > 0. Gefragt wird nun nach pareto-optimalen Lösungen, die aber nun von institutionellen Arrangements abhängen, die alle relevanten sozialen Themata berücksichtigen. Das Wechselspiel von Institutionen und personalen Themata führt dazu, daß der Pareto-Test einer Politik vom institutionellen status quo dominiert wird. Berücksichtigt man die Präferenzen über "social objectives" -was vom Effekt her gesehen nicht mit rent-seeking-Praktiken gleichgesetzt werden darf-, dann verändern sich die Möglichkeitsräume der Akteure; da die Rechte der Personen (Regelungen über güterbezogene Erreichbarkeiten, Zugänglichkeiten, Verfügbarkeiten und Akzeptanzen) neu definiert werden, verändern die entsprechenden institutionellen Arrangements auch die Nutzenmöglichkeitskurven der Gesellschaftsmitglieder in ihren sozialen Interdependenzen. Auch die SWF
46 Vgl. auch Schulz-Nieswandt, F., Transformation, Modemisierung und Unterentwicklung, Weiden 1994.
47 Le Grand, J., Equity and Cboice, New York 1991. 48 Goodin, R. E., Reasons for Welfare. Tbe Political Theory of tbe Welfare State, Princeton, N. J. 1988.
49 Bromley, D. W., Economic Interests and Institutions, Oxford 1989. 5 In memoriam Theo Thiemeyer
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SWF = SWF[U1(pTl>sT1), ..., Un(pT"'sTn)] wird nun unter veränderten Weltbedingungen entscheiden müssen, welche Personen mit welchen Interessen und in welcher Gewichtung eingehen sollen in die gesellschaftliche Definition sozialer Wohlfahrt. Interessant ist doch aber, daß ein Gleichgewicht nun der üblichen Bedingung folgen kann, jedoch mit einer alternativen Wertbasis. Was ein allokativ effizientes Optium der Gesellschaft ist, hängt demnach von dem impliziten Wertberücksichtigungspotentia[50 ab und wird nicht erst sequenziell später in Form der SWF eingebracht. Derartige, in neuerer Literatur diskutierte Probleme hat Thiemeyer immer schon angesprochen. Er griff dabei auf Weissers Katalog des gesellschaftspolitisch "Gewollten" zurück. Ich glaube nicht, daß sich diese Sichtweise dem üblichen ökonomischen Denkansatz der Trennung von Effizienz und Verteilung subsumieren läßt. Hier kristallisiert sich ein "Theorem der Unmöglichkeit der Trennung der Effizienz als Allokationskriterium und der social welfare-Argumente als Allokationskriterien". In logisch strenger Form kann Effizienz als Wert zweiter Rangordnung nur auf eine Wertbasis erster Rangordnung bezogen werden, wobei in diese Wertbasis erster Rangordnung uno actu personale private und personale gesellschaftsbezogene Präferenzen eingehen. Dabei ist ferner zu beachten, daß die Grenzziehung zwischen Privatheil und Gesellschaftlichkeit selbst wiederum ein kulturelles Artefakt ist. Wenn Personen ganzheitlicher betrachtet werden, dann ist ihre Lebenslage von Konsumgütervektoren, Vektoren von Nutzungsfunktionen und von einem Freiheitsindex bestimmt, der - lebenslagenwissenschaftlich formuliert - sich rechtlich und regulativ auf die Person in sozialen Relationen bezieht und insofern die Gestaltung institutioneller Arrangements impliziert, wie es weiter oben in Anlehnung an Sen angedeutet wurde und nun im Rückgriff auf eine Studie von Dasgupta51 referiert werden kann. Dasgupta formulierte die folgende Sichtweise in bezug auf Fragen sozialer Wohlfahrt für unterentwickelte Regionen, sie ist aber von grundsätzlicher Reichweite. Das weil being der Person k ist: Wk = W(Uk>QJ mit: 8Wk/8Uk > 0 und 8Wk/8Qk > 0. Maximiert werden soll nun W einer M-Personen-Gesellschaft. Uk (die Utility-Funktion von k) und Qk (der Freiheitsindex von k) sind Konstituenten von Wk. Die well being-Funktion W =W{·} ist also abhängig sowohl von U =U(•) und von Q = Q(•). W muß weder mit dem Optimum des M-dimensionalen Teilraums von U(•) noch mit dem Optimum des M-dimensionalen Teilraums von Q(·) identisch sein; dennoch istWeine effiziente Lösung. Man kann auch nicht
50 Katterle, S., Der Beitrag der institutionalistischen Ökonomik zur Wirtschaftsethik, in: Ulrich, P. (Hrsg.), Auf der Suche nach einer modernen Wirtschaftsethik, Bem I Stuttgart 1990, 121-144, hier 123. 51Dasgupta, P., An Inquiry into Well-Being and Destitution, Oxford et al. 1993.
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sagen, das Optimum im Teilraum von U sei die Fragestellung der Ökonomie allokativer Mechanismen und das Optium von 0 sei eine Fragestellung der Ethik und W sei wiederum eine Fragestellung der Theorie der SWF. Auch die 0-Determinante personalen weil beings muß als Wertbasis effizienter Ressourcenallokation angesehen werden. Es geht also nicht darum, daß social choice-Fragen und entsprechend wohlfahrtstheoretisch geleitete public choice-Problemstellungen nicht aufgeworfen werden müssen; Thiemeyer tat dies in der Nachfolge von Weisser sehr ausdrücklich. Hatte nicht L.F. Neumann52 zeigen können, daß Weisser schon in den 50er Jahren das Rawls-Kriterium postulierte? Nur über den Charakter des gestellten politischen Problems besteht die Kontroverse. Ähnlich wie in der substantialistischen Richtung von K.W. Kapp wird mit sozialen Kosten Sozialindikativ operiert und lebenslagenwissenschaftlich argumentiert. Dies geht weit über die Pigou-Coase-Tradition externer Effekte53 hinaus. Die Debatte über das BSP als Wohlstandsindikator, über Sozial- und Förderbilanzen usw. ist ja nur der brisante Ausdruck einer viel tiefergreifenden erkenntniskritischen Problematik: Nämlich der Problematik, was Wohlfahrt und Wohlfahrtsoptimum in einem ubiquitär interdependenten Sozialsystem überhaupt sind. Politik als Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft leitet sich von komplexen Leitbildern her. Thiemeyer sah dies in Form der Theorie eines Aggregationsmechanismus als nicht vollständig verstehbar an. Als alternative Perspektive bietet sich an, den Begriff der Willensbildung wieder demokratietheoretisch wörtlich zu nehmen. Ohne eine Theorie der Kommunikation wird dies kaum möglich sein. Es überrascht, daß eine kommunikationstheoretische Wende der public choice-Theorie angesichts des Tatbestandes komplexer massenmedial vermittelter Informationsgesellschaftlichkeit und angesichts der Befunde der kognitiven Theorie des Menschen weitgehend ausbleibt. Komplexität bezieht sich hierbei auf das implizite Wertberücksichtigungspotential, von dem bereits die Rede war. Formuliert man das Problem einmal aus der Sicht der analytischen Geometrie von Vektorräumen54, wie es Basu55 tat: Gesellschafts52 Neumann, L F., Verteilungspolitik im Lichte der Sozialpolitik Leonard Nelsons, in: Rebe, B. u.a. (Hrsg.), Idee und Pragmatik in der politischen Entscheidung, Bonn 1984,69-80, hier 77ff.
53 Oi =F(Pi,Oj,Pj.) mit c50j(c50j > oder < 0 bzw. c50j(c5Pj > oder < 0. 0: Output, P: Input, jeweils für Gut 1 und 2. Externe Effekte könnten auch als direkte Nutzenfunktionsinterdependenzen beschrieben werden: U 1 = U1(X1oY 1,X2), U2 = U:2(X:z, Y2).
54 Zur Erläuterung: Der dreidimensionale Vektorraum R3 bildet sich als lineare Kombination von X,Y und Z: R3 = u X+ v Y + w Z (mit u,v,w ~der reellen Zahlen R). R3 ist also eine drei-dimensionale parametrische Schar von Vektoren u X+ v Y + w Z. {X,Y,Z} sind Basisvektoren, d.h., X,Y,Z gehören zur gleichen Schar, etwa im Fall X: u = 1, v = 0, w = 0. 55 Basu, K., Revealed preference of govemment, Cambridge et al. 1980.
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politische Gestaltung ist dann die Konstruktion eines Teilraumes eines k-dimensionalen Vektorraumes Ek (mit Achsen, die, selbst Basisvektoren darstellend, die Dimensionen des "Gewollten" repräsentieren). Diese Gestaltungsziele sind B 1,B2, •••,Bk. Die SWF ist dann: SWF = F(B 1,B2>····BJ. Hierbei ist F - real und konkret ein Akt der gesellschaftlichen Entscheidung als Prozeß - nur klärbar unter Rückgriff auf Ethik und politischen Konsens. Diese Sichtweise der Entscheidungskonstruktion konstatiert letztendlich auch lnman56 in seinem Artikel zur Neuen Politischen Ökonomie im "Handbook of Public Economics", wenn er mit der These abschließt, viele Fragen der Politischen Ökonomie sind nur lösbar als solche der politischen Philosophie. Der soziale Diskurs konkurrierender Vorstellungen über das sozialwohlfahrtspolitisch "Gewollte" in der Gesellschaftsgestaltungspolitik führt also zur Konstitution eines politisch relevanten Teilraums
E Ek. Dies ist ein normativer Akt der sozialen Definition von relevanter Handlungswirklichkeit, wenn das hier einmal so symbolisch-interaktionistisch57 definiert werden darf. Die Annahme eines Diskurscharakters dieses Prozesses der politischen Konstruktion sozialer Wohlfahrt - und hier wird implizit in ethnologische58 Kategorien gedacht: Aufteilung der Wirklichkeit in relevante und irrelevante Möglichkeitsräume, in tabuierte und erlaubte Handlungsräume - unterscheidet diese Sichtweise etwa von Buchanans59 Theorie des zweistufigen (konstitutionellen und postkonstitutionellen) Vertrages. Diese Theorie ist Vertragstheorie, argumentiert spieltheoretisch im Kontext eines Naturzustandes. Derartige Vertragsbildungen sind sozialtheoretisch nicht deckungsgleich mit der Theoretisierung von Verständigungskontexten kommunikativer Art. Ich folge hier argumentativ den Ausführungen von Hollis in dessen Wittgenstein-
56Jnman, R. P., Markets, Govemments, and the "New" Political Economy, in: Auelbach, A J. I Feldstein, M. (eds.), Handbook of Public Economics, Vol. II, North-Holland et al. 1987, 647777.
57 Schulz-Nieswandt, F., Bedarfsorientierte Gesundheitspolitik, Regensburg 1992; Estes, C. L I Edmonds, B., Symolic Interaction and Social Policy Analysis, in: Symbolic Interaction 4 (1981) 1, 75-86; Frazer, N., Unruly Practices, Cambridge I Oxford 1989, 171ff. 58 Kohl, H.-H., Ethnologie - die Wissenschaft vom kulturelle Fremden, München 1993, 130. Wobei die sozialitätstiftenden Phänomene - Wissen, Glaube, Moral, Recht, Sitte, Brauch etc. - nun im Rahmen einer Ethnographie der eigenen Kultur genutzt werden. Zu dieser Möglichkeit vgl. auch Dammann, R., Die dialogische Praxis der Feldforschung. Der ethnographische Blick als Paradigma der Erkenntnisgewinnung, Frankfurt a.M. I New York 1991.
59 Buchanan, Grenzen.
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Vorlesung.60 In Verständigungskontexten wird -auch- personale Identität erst erzeugt; in Vertragsverhandlungen wird dagegen das Nutzenniveau der Beteiligten bei gegebener Interessenstruktur unter Berücksichtigung der Existenz des jeweils anderen fixiert. Politik ist ein Gemengelage beider Typen sozialer Interaktion. Die capability-Anforderungen61 -hier argumentiert die politikwissenschaftliche Forschung ähnlich wie die public choice-Theorie als normativ-explikatives Mischgebilde - spiegelt die Vieldimensionalität der Politik als soziale Interaktion und Subsystemische lnterpenetration. In einer Studie von Weaver und Rockman62 werden dimensional herausgestellt: (a) effektive Ressourcenlenkung leisten können, (b) Prioritäten setzen und beibehalten können, (c) Innovationen durchführen können, (d) konfliktäre Ziele und Themen koordinieren können, (e) "Verluste" bei mächtigen Gruppen herbeiführen können, (f) auch diffuse, unorganisierte Interessen repräsentieren können; (g) effektive Implementation sicherstellen können, (h) policy-Stabilität zeitlich sicherstellen können, (i) internationale Verpflichtungen herstellen und halten können, U) zivile Klärung und Verständigung zwischen Interessenlagen der Gesellschaften herstellen können. Die Redeweise von Effizienz und Ineffizienz hängt- wenn man Politik zweidimensional charakterisiert als vertrags- und regelgenerierendes Spiel und als identitätsstiftende Verständigungpraxis -davon ab, wie man die Interessen der Menschen an die Interessen anderer Menschen inhaltlich bindet; gerade die Erzeugung sozialer Kohäsion ist in ausdifferenzierten Gesellschaften das politische Grundproblem. Dann konstituiert sich die Idee effizienter Allokation knapper Ressourcen auf der Basis der Generierung gemeinsamer sinnhafter Wirklichkeit, auf- im Sinne von Wittgenstein63 - der Basis vorgängigen kollektiven Basiswissens als das Gesamt des kommunikativen Geschehens.
60 Hollis, M., Rationalität und soziales Verstehen, Frankfun a.M. 1991.
61 Vgl. auch Migdal, J. S., Strong Societies and Weak States. State-Society Relationsand State Capahililies in the Third World, Princeton, N. J. 1988; vgl. auch Schulz-NieswandJ, F., Transformation. 62 Vgl. Weaver, R. K. I Rockman, B. A (eds.), Do Institutions Matter? Govemment Capahililies in the United States and Ahroad, Washington, D. C. 1993. 63 Vgl. auch Lenk, H., Von Deutungen und Wertungen, Frankfurt a.M. 1994.
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VII. Die Dinge nochmals zusammenbringen: Thiemeyer über Politik
Thiemeyer ging von einem Verständnis der Politik aus, das Identitätsbildung der Akteure einschloß, und das insofern Zielfindung und -bildung thematisch umfaßte, während die moderne public choice-Theorie dominant auf strategische Rationalität modellierend insistiert. Im Prinzip geht es dabei (spieltheoretisch gesehen) um Nutzensummen. Wie jedoch bereits eingangs gleich herausgestellt wurde, kann eine Theorie der Politik nicht die Problematik der Zielbildung und Zielbindung - oder breiter gesprochen: die meritorischen Diskurse - ausklammern. Sie müßten in einem breiten Sinne als Externalitäten - als Handlungs-, vor allem als normative Sinnzusammenhänge berücksichtigt werden. Innerhalb der von der Weisserschen Lehrmeinung geprägten wissenschaftlichen Kreise war es vor allem W.W. Engelhardt64, der die Zielproblematik- die Utopien- und Leitbilder-Problematik - als Gegenstand der wissenschaftlichen Beschäftigung betont hat. Dabei grenzte er sich von der struktur-funktionalistischen Annahme eines immer schon bestehenden integrativen Wertesystems "der" Gesellschaft ab. Reformuliert wird der normative Kontext als Prozeß konkurrierender Leitbilder politisch maßgeblicher Akteure. "Irenische Formeln" müssen gesellschaftlich erst erzeugt werden; man wird sie nicht als gegeben unterstellen können. Thiemeyer sah das ähnlich. Für die Lebenslagentheorie wie für die Theorie der Gemeinwirtschaft und der öffentlichen Wirtschaft sowie für andere Politikfelder, in denen ein Sicherstellungsauftrag relevant ist, ist die Frage in grundlegender Weise bedeutsam, wie Personen für ihre sinnhaften Lebensentwürfe adäquate Formen des Handeins und Wirtschaftens finden65; hier dachte Thiemeyer freiheitlicher als so mancher Liberalismus. Es überrascht nicht, daß Weisser gelegentlich vom "freiheitsliebenden" Sozialismus sprach. Betont man den Entwurfscharakter menschlichen Daseins, so kann man umgekehrt auch herausarbeiten, daß Institutionen nicht nur constraints nutzenmaximierenden Handeins sind, sondern Felder der Stiftung von Akteursidentität.66 Thiemeyer betonte in diesem Sinne wiederholt, daß Politik nicht vollständig begriffen würde, wenn man sie mechanisch nur unter dem Aspekt eines Aggre64 Engelhardt, W. W., Über Leitbilder in der Sozialpolitik und zur Utopienproblematik in der Sozialpolitiklehre, in: Herder-Domeich, P. u.a. (Hrsg.), Sozialpolitiklehre als Prozeß, Baden-Baden 1992, 55-77.
65 Auf diese Bedeutung lebenslagenbezogener Gesellschaftspolitik hat mich nochmals I. Nahnsen in spmnenden Gesprächen betont aufmerksam gemacht. 66 Eine zweifelsohne gegebene gesellschaftspädagogische Theoriedimension ist hier angesprochen, kann aber nicht diskutiert werden.
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gationsproblems in einen wohlfahrtsökonomischen Theoriekontext stellt. Und er formulierte diese Skepsis nicht nur infolge mathematischer Dilemmata wie das des Arrow-Unmöglichkeitstheorerns.67 Der perspektivische Fluchtpunkt der aggregativen Logik sozialer Wohlfahrt müßte sich vielmehr einem Prozeßgeschehen fügen, das von Situationsdefinitionen, interpretativen Verdichtungen in Form von Leitbildern, Transformation von Selbstverständnissen gekennzeichnet ist.68 Die von Thiemeyer durchgängig betonte Relevanz der Kategorie des Meritorischen ist nur so zu verstehen; er nutzte diese Kategorie -wobei er die unendliche Geschichte ihrer Diskussion in vornehmlich finanzwissenschaftliehen Fachkreisen als "Musgrave-Exegese" eher schrecklich fand -, um die Grenzen des "welfarism" und damit der aggregativen Logik sozialer Wohlfahrt (als "utilitaristischen Kern") herauszustellen und zu betonen. Folgt man der Darstellung von Priddat69, so mag Thiemeyer eine gewisse Nähe zur neueren Position von K. Schrnidt aufweisen, wonach Meritorik eine angebotsseitige Weckung von Werteinsteilungen und Interessen durch die Politik ist. Etwas provokant könnte man auch von einer Dimension des Politischen sprechen, die man als "Say's Law of public interests and social welfare issues" nennen könnte. Da Thiemeyer durchaus auch die Mikro- oder Mikro-MikroEbene der Person thematisierte, mögen auch Affinitäten zu Konzepten wie das der Meta-Präferenzen bzw. der Selbstbindung gegeben sein. Zu bedenken ist ja, daß Thiemeyer in der Fries-Nelson-Weisser-Tradition erkenntniskritische Prozesse der Überprüfung von Wohlbedachtheit von Interessen bei tiefster Selbstbesinnung der Personen thematisiert hat. Auch eine Parallele zur Buchanan'schen Vorstellung von Verfassungspräferenzen (Präferenzen über die Festlegung von Handlungsmöglichkeitsräumen, in denen sich dann Handlungspräferenzen bewegen können) kann gezogen werden, da Thiemeyer im Rahmen der Gesellschaftspolitikwissenschaft auch das Problem der "institutional choice" behandelte. Allerdings würde sich Thiemeyer von der entscheidungslogischen Verfahrensweise des Kontraktualismus deutlich absetzen, so wie er hinsichtlich der Idee der Meta-Präferenzen nicht allein im Rahmen einer rationalen Theorie der Selbstbindung argumentieren würde, sondern soziologische Zusammenhänge (wie Bezugsgruppeneffekte) herausstellen würde. Thiemeyer dachte hier vielmehr historisch als in logischen Als-Ob-Modellen präskriptiver Art. Nicht zuletzt aufgrund so mancher theoretischer Anleihen im staats- und gemeinwirtschaftliehen Denken in Deutschland des 19. Jahrhunderts liegt eine 67 Das Unmöglichkeits-Theorem kann auch intrapersonal begriffen werden. Das ist das Problem einer "picoeconomics": Menschen leben in Widersprüchen und tragen innere Konflikte aus. 68 Weiterführend vgl. auch March, J. G./ Olsen, J. P., Rediscovering Institutions, New York et al. 1989; Hindess, B., Political Choice and Social Structure. An Analysis of Actors, Interests and Rationality, Aldershot 1989. 69 Priddat, Zur Ökonomie der Gemeinschaftsbedürfnisse.
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Nähe zur neueren Sichtweise von Musgrave nahe. Musgrave spricht mit "Gemeinschaftsbedürfnissen" als ethische Quelle meritorischer Güter kulturanthropologisch definerbare Phänomene wie "common values" oder "cultural patterns" an. Hierzu konvertiert Thiemeyers Betonung der Orientierung an Normen und Wertsysteme, die die Person als Person inkorporiert. Ob schließlich Thiemeyer auch der Analyse der institutionellen Dimension des Meritorischen bei Brennan und Lomasky folgen würde, muß und darf dahingestellt bleiben. Der demokratische Wahlmechanismus, der Gesetzgebung als Entwicklung allgemeingültiger Regeln und Maßnahmen ermöglicht, erlaubt die Orientierung der Personen an meritorische Ziele gerade aufgrund der Subsummierung aller Bürger unter dem allgemeinen Gesetz, ein Effekt, der von den mehr oder weniger isolierten freiwilligen Handlungsweisen der Personen so nicht erwartet werden kann. Derartige Argumentationsweisen, die eine gewisse Verwandtschaft zu rechtsphilosophischen Überlegungen bei Rawls und Harsanyi haben, könnten aber - bei aller Vorsicht - eine Parallele zur Weisser'schen Theorietradition aufweisen: Ein Axiom der Gesellschaftspolitiklehre ist ja das Kant'sche Sittengesetz in der Nelson-Variante: Handle so, daß du auch dann noch in dein Handeln einwilligen kannst, wenn die Maxime deines Handeins allgemeines Gesetz wäre. Die aggregative Logik der sozialen Wohlfahrt wird vor allem durch einen Typus der Nutzeninterdependenz herausgefordert, der wie folgt beschrieben werden könnte: Diese meritorische Nutzeninterdependenz deckt sich nicht mit der herkömmlichen Vorstellung direkter Interdependenz von Nutzenfunktionen. Für die SWF stellt sich mit dem sozialen Tatbestand des meritorischen Diskurses ein Problem der Verschachtelungen individueller lnteressenlagen. Dies ist die Folge davon, daß bereits Parameter (u,ß etc.) in die Nutzenfunktion der Personen eingehen, die Präferenzen über soziale Relationen sind. Man kann vielen Textstellen entnehmen, daß Thiemeyer derartige Präferenzen über soziale Relationen für ein Existential hielt, das aus der sozialontologischen Universalie folgt, Dasein gestalten zu müssen. Präferenzen über soziale Relationen - wie sie sich automatisch ergeben, wenn Rechte verteilt werden und damit die soziale Reproduktion unter den Aspekten lebenslagerelevanter Regelungen von Verfügbarkeiten, Erreichbarkeiten, Nutzbarkeilen und Akzeptanzen organisiert wird werden von Thiemeyer also eher als ein sozialer Tatbestand (oftmals als Grundcharakter der politischen Entscheidung überhaupt) aufgefaßt. Der Paternalismus-Begriff ist ein viel zu kruder Begriff, um die prozedurale Perspektive des Diskurses zu veranschaulichen. Schließlich muß betont werden, daß Thiemeyer unter Beachtung der wissenschaftstheoretischen Einsicht, Sollaussagen wissenschaftlich nicht als wahrheitsfähig auszuweisen, nur im Rahmen eines
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neo-normativen Beratungsmodells Stellungnahmen formulierte und Warnungen und Empfehlungen aussprach. Die Wertbasis derartiger Verknüpfungen explikativer Aussagen und Erkenntnisse mit alternativen Szenarien normativer Handlungskonzeptionen (Leitbilder, Ziele, Postulate) war hypothetischer bzw. bekenntnismäßiger Art im Sinne subjektiver Wahrhaftigkeit. Thiemeyer urteilte zunehmend erbost über die Tendenzen großer Teile der "economics", Fragen einer originären Theorie des Gemeinwohls als "ethisches Geschwätz" wissenschaftsdisziplinär auszugrenzen; stattdessen konterte er - oft in Verknüpfung mit dogmengeschichtlichen Exkursen- mit dem Verweis auf kryptische "Philosopheme" der "economics". Thiemeyer suchte im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der Wohlfahrtsökonomik einen Mittelweg zwischen Rationalismus und Idealismus; die - kritizistische -Antwort ist dann auch relevant für das Verständnis der public choice-Theorie. Über die Möglichkeiten der Transformation des philosophischen Kritizismus in eine Theorie des kommunikativen Handeins soll hier nicht weiter reflektiert werden; es gibt keine wesentlichen Hinweise, daß sich Thiemeyer intensiv dialogphilosophischen70 Strömungen und diskurssoziologischen Positionen widmete. "Politik als Kommunikation" wäre u.U. eine Formel gewesen, in der Thiemeyer einige seiner Überlegungen hätte unterbringen können. Bei Thiemeyer blieb es aber oftmals bei einem Verweis auf Soziologie schlechthin, von der man nur annehmen kann, sie verfahre seiner Ansicht nach zumindest partiell anders als die ökonomische Verhaltenstheorie. Der Hinweis auf Soziologie (und auf einige andere Sozialwissenschaften) war also nur ein Verweis. Thiemeyer zitierte oftmals F. Jonas "Geschichte der Soziologie"71; ansonsten tauchte öfters ein Bezug auf Arbeiten von J. Wössner auf. Sicherlich dachte Thiemeyer an Soziologien, die nicht rein utilitaristisch angelegt sind. Von der Suche nach nicht-cartesianischen Soziologien zu sprechen, die epistemologisch ego-zentrierte Sozialtheorien zu überwinden versuchen, dürfte jedoch zu weit gehen, obwohl Thiemeyer im Rahmen soziologischer Vorbemerkungen zur Krankenhausökonomik hier immer eine Parallele zu totalen Institutionen wie der des Gefängnisses zog eine Affinität zur (strukturalen?) Analyse M. Foucaults72 dürfte aber nicht von systematischer Art sein. Wie gesagt, ich glaube, daß Thiemeyer eher an konventionelle soziologische Theoreme dachte. An die Rezeption von Bezugsgruppentheorien war bereits erinnert worden. In der Behandlung von Fragen des Managementverhaltens im Zusammenhang mit dem sogenannten Transformations- bzw. Konvergenzproblem wird das überaus deutlich. Hier argumentierte er 70 Schrey, H.-H., Dialogisches Denken, Darmstadt 1970; Böckenhoff, J., Die Begegnun~philo sophie, Freiburg I München 1970. 71 2 Bände, Reinbek bei Harnburg 1976. 72 Foucault, M., Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976;
ders., Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973.
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explizit sozialpsychologisch. Soziologische Kategorien wie Rolle und Normen wurden von Thiemeyer betont. Eine tendenzielle Interpretation würde ich eher dahingehend wagen wollen, daß ich Indizien sehe, nach denen geurteilt Thiemeyer eher einer persönlichkeitstheoretischen Fundierung zuneigte, wobei die motivationale Theoriedimension stärker betont wurde als die kognitive, wenn letztere auch in gesundheitspsychologischen Anmerkungen Thiemeyers - also im Zusammenhang mit Analysen von Krankheits- und Patientenverhalten und der Filterfunktion des Laiensystems - eine gewisse Rolle spielte. Im Prinzip geht es hier um Auseinandersetzung mit den Rationalitätsstandards, die in der ökonomischen Theorie angenommen werden, und die auch in der public choice-Theorie konstitutiv sind. Insgesamt handelt es sich um nicht-entfaltete Aspekte des Thiemeyer'schen Denkens; im Kern sind sie in der gerneinwirtschaftlichen Theoriebildung enthalten, wo parallel zur Gebildelehre Gemein-, Widmungs- und Eigensinn unterschieden werden. Thiemeyer gewann diese Typologie aus der finanzwissenschaftliehen Theoriegeschichte des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts in Deutschland; ihre Rezeption hatte Konsequenzen für Thiemeyers Auffassung des Politischen. Was oftmals als Typologie formuliert ist, verweist auf die bleibende Grundeinsicht Thiemeyers, die Wirklichkeit von Wirtschaft und Gesellschaft und ihre politischen Gestaltung nicht allzu eindimensional und monomorph, sondern vieldimensional und polymorph hinsichtlich Formen und Gebilde und hinsichtlich der formgebenden Sinnentwürfe zu sehen. Davon ist das Verständnis von Politik als Prozeß nicht ausgenommen. Die Rückbesinnung der public choiceTheorie auf eine Typologie der Akteure und der Verhaltensweisen - im Sinne von Politikstilforschung und damit zusammenhängenden politikulturabhängigen Modi interaktiven Handeins im Rahmen der vergleichenden politikwissenschaftlichen "institutions matter"-These- könnte dieser Optik Thiemeyers entgegenkommen. Thiemeyer blieb wissenschaftlich und politisch offen. Aber Eleganz von Modellen war für ihn kein überzeugendes Argument. Eher neigte er zum produktiven Eklektizismus. Er tendierte dazu, "das Kinde nicht mit dem Bade auszuschütten"; das verweist auf seine herzliche Bodenständigkeit. Ökonomie war für Thiemeyer eine politische Wissenschaft; er betonte in einem existentiellen Sinne die Entscheidungsproblematik im gesellschaftlichen Leben, ohne der herrschenden Meinung zu folgen, dieses Problem ausschließlich in entscheidungslogischen Modellen zu fassen. Thiemeyer verstand unter Politischer Ökonomie - was er im Rahmen dogmengeschichtlicher Ausführungen verdeutlichte - mehr als ein scholastisches Programm, im Sinne eines eigentlich frühpositivistischen Verständnisses von "sozialer Physik" den Existenzbeweis für ein allgemeines Gleichgewicht zu führen.
Grundprobleme einer personalen Anthropologie und kritizistischen Gemeinwohlkonzeption Das "Denken in Ordnungen", bezogen auf Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und den Sozialbereich, eine noch immer unvollkommen gelöste Aufgabe
Von Werner Wilhelm Engelhardt
I. Zu einigen Ansatzpunkten des Referats bei Autoren des Weisser-Kreises Ich möchte in meinen Ausführungen an drei Stichworte anknüpfen, die auf Ausführungen des leider zu früh verstorbenen Freundes und Kollegen Theo Thiemeyer, auf dessen Schüler Frank Schulz-Nieswandt, auf meinen Kollegen und Freund Lothar F. Neumann und schließlich - aber natürlich nicht zuletzt auf Gerhard Weisser, unseren gemeinsamen Förderer und den Ehrendoktor dieser Fakultät, zurückgehen. Die Stichworte betreffen grundlegende Begriffe und Aussagen dieses Vortrags, die bereits im Titel genannt wurden, nämlich (A) personale Anthropologie, (B) regulative Prinzipien, (C) Denken in Ordnungen. A. Theo Thiemeyers elementare Motivlehre im Sinne einer personalen Anthropologie
Das erste Stichwort ist enthalten in der beachtlichen vorläufigen Würdigung, die Schulz-Nieswandt seinem Lehrer und Förderer Theo Thiemeyer in einem Aufsatz mit dem Titel "Sozialökonornik als politische Theorie" nach dessen Tode bereits gewidmet hatl. Bezogen auf Thiemeyers Skepsis gegenüber bestimmten oder allen Selbstbeteiligungsregelungen zulasten der Versicherungsnehmer in der Krankenversor1 Vgl. Schulz-Nieswandt, F., Sozialökonomik als politische Theorie. Grundzüge des wissenschaftlichen Schaffens von Tbeo Tbiemeyer, in: Zeitschrift für Sozialreform, 38. Jg., Wiesbaden 1992, s. 625-638.
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gung heißt es in diesem Zusammenhang bei Schulz-Nieswandt: "Thiemeyer thematisierte immer auch Unterinanspruchnahme-Effekte bzw. -Gefahren, nicht nur die in neoklassisch-ökonomischen Analysen dominierenden Überinanspruchnahme-Effekte ('moral hazard'-Effekte). Hinsichtlich des 'moral hazard'Theorems forderte er eine gruppensoziologisch äußerst differenzierte Analyse menschlichen Handeins in Kollektiven, kritisierte daher (rational-)modellinduzierte Vor(aus)urteile". Möglich sei, "daß Titiemeyer in diesem Zusammenhang einer Art 'elementarer Motiv-Lehre' (i.S. einer 'personalen Anthropologie') zuneigte: Menschen orientieren sich an Motiven, die nur zum 'Preis' von pseudo-empirischen und pseudo-normativen Leerformeln auf das Nutzen(maximierungs)prinzip reduziert werden können. Thiemeyer betonte in diesem Zusammenhang immer die Gefahr des 'Modellplatonismus' durch Gebrauch empirisch leerer Kategorien der Nutzentheorie. Auch dürfen dann Normen, an denen sich Individuen in ihrem (wahrhaftigen) Handeln orientieren, nicht a priori und immer nur als exogene 'constraints' verstanden werden (somit als Zwang), sondern als innere (u.U. wahrhaftige) Anliegen des Handelnden. ( ...) Wahrhaftigkeit des sinnhaften Handeins ist eine Dimension einer sozialethischen und sozialanthropologischen Fundierung der Wirtschaft durch ein theologisches Verständnis des Menschen und der menschlichen lnteraktionen"2. Diese Vermutung des Kollegen Schulz-Nieswandt bezüglich einer elementaren Motiv- oder besser Anliegenlehre Thiemeyers, die bis in religiöse - kaum freilich theologische - Positionen ausstrahlt, kann ich nur bestätigen. Sie dürfte wie so vieles andere durch Gerhard Weissers Untemehmensmorphologie, mehr aber wohl noch durch Adolph Wagners überaus bedeutende Motivationslehre beeinflußt sein. Hinzu kam aber vermutlich auch die Beschäftigung mit den weniger Einzelmotiven als ganzen Vorzielkomplexen im Sinne von Leitbildern, Visionen, Ideen bzw. subjektiven Aspekten gewidmeten Utopieforschungen, wie ich sie seit den fünfziger Jahren durchführe. Aus dem Schrifttum und unseren vielfältigen Diskussionen über diesen Gegenstand ist mir dies bewußt. Was speziell die Anknüpfung an Adolph Wagner betrifft, sprach Thiemeyer in seiner Habilitationsschrift "Gemeinwirtschaftlichkeit als Ordnungsprinzip" von dessen "hochentwickelter Motivationslehre" - und dies zweifellos zu Recht. Nach Wagners Ansicht mußte "die zu grobe Psychologie der (Adam) Smithschen Schule (... )berichtigt und verbessert" sowie "das Triebleben und Motivsystem (die 'Motivation') des Menschen genauer betrachtet und zum Ausgangspunkt der ganzen Grundlegung genommen werden". Gemeint war mit "Grundlegung" Wagners spezifisches System der Politischen Ökonomie, einschließlich der Finanzwissenschaft. Richtige Politik ist nach Wagner nur bei 2 ebd., S. 632.
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Kenntnis der Motive möglich. Und bei Kenntnis der Motive, die in bestimmten sozialen Gebilden wirksam würden, könne man auch die Organisation so einrichten, daß die Motive, deren Entfaltung man wünsche, gefördert würde!Y. B. Lotbar F. Neumanns Auseinandersetzung mit der "kritischen Philosophie" (dem "Kritizismus") und deren "regulativen Prinzipien"
Das zweite Stichwort entnehme ich verschiedenen Veröffentlichungen von Lothar F. Neumann zu Fragen der kritizistischen Philosophie lmmanuel Kants und seiner Nachfolger Jakob Friedrich Fries bis Leonard Nelson bzw. - wie Neumann meistens schreibt - der "kritischen Philosophie" dieser und weiterer Autoren. Es ist das Stichwort "regulative Prinzipien" (oder auch "regulative Maximen"). Dieses Stichwort scheint mir den Kern dessen zu bezeichnen, was man als "kritizistische Gemeinwohlkonzeptionen" bezeichnen und durchaus im Sinne von Thiemeyer von idealistischen (naturalistischen) sowie rationalistischen Gemeinwohlkonzeptionen abgrenzen kann. Daraufwird zurückzukommen sein. Die entscheidende Persönlichkeit ist in diesem Zusammenhang neben Kant selbst insbesondere Fries - nicht hingegen Nelson - weil Fries trotz oder gerade wegen seines angeblichen "Psychologismus" auf nichtabgeschlossene Konzeptionen und Ordnungssysteme hintendierte. Darüber heißt es bei Neumann in seinem Rezensionsaufsatz über die in den Jahren 1970-1975 endlich vollständig erschienenen Gesammelten Schriften von Leonard Nelson: "Nelsons Philosophie ist vielleicht der letzte ernst zu nehmende Versuch der Begründung eines apodiktischen Apriorismus sowohl in der spekulativen als auch in der praktischen Metaphysik. Diese Richtung der Weiterentwicklung der Fries' sehen Philosophie war aber nicht zwingend; denn 'der Kritizismus' stellt sich (laut Fries - W. W. Engelhardt) dem Rationalismus und Empirismus zugleich entgegen, indem er von keinem constitutivem Gesetz ausgehen, sondern nur regulative Maximen zu Grunde legen will'. Diese Grundintention, die Fries zwar formulierte, aber streckenweise selbst nicht verfolgte, widerspricht der Konstruktion endgültig abgeschlossener philosophischer, ethischer, rechtspolitischer und sozialpolitischer Systeme, wie Nelson sie zu errichten suchte".
3 Siehe Thiemeyer, Tb., Gemeinwirtschaftlichkeit als OrdnunS