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German Pages 322 [323] Year 2009
Christoph Bernhardt / Heinz Reif (Hg.) Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung
Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung -------------------------------------------herausgegeben von Christoph Bernhardt Harald Bodenschatz Christine Hannemann Tilman Harlander Wolfgang Kaschuba Ruth-E. Mohrmann Heinz Reif Adelheid von Saldern Dieter Schott Clemens Zimmermann Band 5
Christoph Bernhardt / Heinz Reif (Hg.)
Sozialistische Städte zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung Kommunalpolitik, Stadtplanung und Alltag in der DDR
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Volkswagen-Stiftung Umschlagabbildung: Neubrandenburg, Behmenstraße (o.J.)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-08763-6 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany
INHALT Christoph Bernhardt / Heinz Reif Neue Blicke auf die Städte im Sozialismus .............................................................7 1. KOMMUNEN ZWISCHEN ZENTRALSTAATLICHEN ZWÄNGEN UND LOKALEN HANDLUNGSRESSOURCEN Carsten Benke Am Ende der Hierarchie: Grenzen und Spielräume der Kommunalpolitik in der DDR – mit Beispielen aus der Industriestadt Ludwigsfelde .......................21 Frank Betker Ein Unikum im Zentralismus: die kommunalen Büros für Stadtplanung und ihre Handlungsspielräume ..............................................................................47 Albrecht Wiesener Gestalten oder Verwalten? Überlegungen zum Herrschaftsanspruch und Selbstverständnis sozialistischer Kommunalpolitik im letzten Jahrzehnt der DDR .................................................................................................69 Dagmara Jajesniak-Quast Ein lokaler „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“: Eisenhüttenstadt, Kraków Nowa Huta und Ostrava Kunčice ................................95 2. STADTPLANUNG ZWISCHEN SOZIALISTISCHEN VISIONEN UND DEFIZITÄRER URBANISIERUNG Thomas Wolfes Stadtentwicklung in der DDR und das Fallbeispiel Rostock zwischen 1945 und 1989 / 90................................................................................115 Brigitte Raschke Visionen und Realitäten in der Entwicklung der Stadt Neubrandenburg ............145 Rüdiger Stutz Technopolis. Jena als Modellstadt der späten Ulbricht-Ära ................................163
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Inhalt
Ivan Nevzgodin Stadtplanung in sibirischen Städten nach 1945 ...................................................189 3. ALLTAG UND ÖFFENTLICHKEIT IN DER SOZIALISTISCHEN STADTGESELLSCHAFT Adelheid von Saldern Alltage und Öffentlichkeiten in DDR-Städten .....................................................215 Philipp Springer „Ordentlich was kaufen können“. Die Bedeutung des Konsums für Herrschaftslegitimation, städtisches Selbstverständnis und Alltag am Beispiel von Schwedt / Oder ...........................................................................235 Lu Seegers Alltags- und Festkultur in der DDR der 1960er Jahre .........................................261 Łukasz Stanek Die Produktion des städtischen Raums durch massenmediale Erzählpraktiken: Der Fall Nowa Huta .................................................................275 BILANZ Christoph Bernhardt / Heinz Reif Zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung – Ambivalenzen sozialistischer Stadtpolitik und Urbanität ....................................................................................299 Autorenverzeichnis ..............................................................................................319
NEUE BLICKE AUF DIE STÄDTE IM SOZIALISMUS Christoph Bernhardt / Heinz Reif Forschungen zur DDR im allgemeinen und zur Geschichte ihrer Städte im besonderen waren bis vor kurzem von drei spezifischen Sichtweisen bestimmt:1 Zum einen von einer Konzentration auf die zentralstaatliche Ebene, zum zweiten von einer Fokussierung auf die planungs- und baugeschichtlichen Aspekte der Stadtentwicklung, und zum dritten von einer weitgehenden Beschränkung auf die ostdeutsche oder allenfalls die deutsch-deutsche Entwicklung, die selten in ihren internationalen Bezügen und Kontexten gesehen und interpretiert wurde.2 Alle drei Sichtweisen haben die Kenntnis zur Geschichte der DDR befruchtet und wesentlich erweitert, nahmen aber wichtige gesellschaftliche Bereiche und Fragestellungen nicht genauer in den Blick. So folgten etwa die planungs- und baugeschichtlichen Ansätze häufig zumindest implizit einem kulturkritischen Narrativ vom Niedergang der Baukultur in die Wüste des Plattenbaus und von der politisch motivierten Entmündigung der Planer und Architekten, sofern sie sich nicht ohnehin auf deskriptive architekturgeschichtliche Rekonstruktionen konzentrierten.3 Die stärker politikgeschichtlich ausgerichteten Studien hingegen sparten in den allermeisten Fällen Fragen der regionalen Umsetzung und die dabei erfolgten Modifikationen zentralstaatlicher Politik weitgehend aus, zu schweigen von den politischen Aushandlungsprozessen vor Ort. Auch die sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten bezogen in den seltensten Fällen die lokalen Lebenswelten und Aneignungsformen in die Analyse ein.4 1 2
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Für kritische Anmerkungen und Hinweise danken wir Carsten Benke. Vgl. Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, München/Wien/Zürich 2003; Günther Heydemann/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Diktaturen in Deutschland – Vergleichsaspekte. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen, Bonn 2003; Dietrich Staritz, Geschichte der DDR 1949 – 1990, 2. Aufl. 1996; Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR, [Bd. 1: Ostkreuz: Personen, Pläne, Perspektiven; Bd. 2: Aufbau: Städte, Themen, Dokumente], Frankfurt/ Main, 1998; Holger Barth (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001. Vgl. zu neueren Tendenzen der DDR-Forschung auch die Hefte des Potsdamer Bulletins für Zeithistorische Studien, hg. vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam e.V., sowie als Beispiel für die beginnende Debatte um die Einordnung der DDR in internationale Zusammenhänge: Henrik Bispinck u.a. (Hrsg.), Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004. Vgl. z. B. Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts. Weimar 2000, sowie die differenziert argumentierende Studie über „Wohnen und Städtebau in der DDR“ von Thomas Topfstedt, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 5: Von 1945 bis heute. Aufbau – Neubau – Umbau, hg. von Ingeborg Flagge, Stuttgart 1999, S. 419–562. Vgl. Hartmut Kälble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stutt-
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Erst in den letzten Jahren haben zunächst die wegweisenden, unter Leitung von Adelheid von Saldern unternommenen Untersuchungen begonnen, der Vernachlässigung insbesondere der räumlich-sozialen, regionalen und städtischen Dimension der DDR-Gesellschaftsgeschichte am Beispiel der Zusammenhänge von Herrschaft und städtischen Repräsentationen entgegen zu arbeiten.5 In dem vorliegenden Band werden diese Perspektiven auf die Städte im Sozialismus in modifizierter Form und für andere als die von der Gruppe um von Saldern analysierten Bereiche verfolgt. In Umsetzung und Erweiterung des dem Band zugrunde liegenden Forschungsprojektes6 geht es darum: 1. die Handlungsspielräume und -zwänge der Kommunalpolitik, ihre wesentlichen Akteure und Netzwerke zu identifizieren und zu analysieren, 2. die Konzepte und Entwicklungskorridore der Stadtplanung und -entwicklung darzustellen, wiederum mit einem Fokus auf die Handlungszusammenhänge, und 3. die Bildung und Erosion von Legitimationsressourcen des Systems in den Feldern von Alltag und Öffentlichkeit empirisch zu rekonstruieren. Was die sozialgeschichtliche Dimension der Stadtgeschichte betrifft, so blieben in der bisherigen Forschung im Regelfall nicht nur wichtige Akteursgruppen jenseits der höheren Parteistellen, des Zentralstaats sowie des Plan- und Bausektors weitgehend außerhalb der Betrachtung, so vor allem jene auf der Bezirksebene sowie die lokalen Eliten.7 Darüber hinaus fanden gerade auch die Interaktionsmechanismen zwischen staatlichen Stellen verschiedener administrativer Ebenen und der Bevölkerung, und mit ihnen die sozialen Folgen der stadtbezogenen Politiken wie auch die „bottom-up“ – Perspektive der Mitwirkung lokaler Akteure an der Stadtentwicklung, wenig Beachtung. Damit einher ging, jedenfalls in der baugeschichtlichen Forschung, nicht selten der Verzicht auf methodisch-theoretisch reflektierte Fragestellungen, verbunden mit der Gefahr, unkritisch älteren Großtheorien wie etwa der Totalitarismusthese zu folgen, die heute nicht mehr den im hier verfolgten Kontext maßgeblichen Stand der DDR-Forschung bestimmen.8
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gart 1994; Thomas Lindenberger, Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 298–325. Vgl. Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDRStädten, Stuttgart 2003; dies. (Hrsg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935 – 1975), Stuttgart 2005. Heinz Reif/Christoph Bernhardt, Industriestädte in der SBZ/DDR 1945–1989. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und urbanes Leben in einer „durchherrschten Gesellschaft“; vgl. http: / /www.irs-net.de/forschung/forschungsabteilung-2/industriestaedte/industriestaedte.pdf. Vgl. zu dieser Thematik Jay Rowell, L’histoire sociale de l’Etat en RDA vue à travers le prisme des politiques du logement, Working Paper No. 6 des Centre Marc Bloch, Berlin 2002. Eine gelungene Verknüpfung von Planungs- und politischer Geschichte bieten Harald Bodenschatz/ Christiane Post (Hrsg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935, Berlin 2003. Vgl. Günther Heydemann/Detlef Schmiechen-Ackermann, Zur Theorie und Methodologie ver-
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Damit ist bereits auch der in diesem Buch vorgenommene Perspektivenwechsel angedeutet, der weg führt von einer Hauptfrage, die implizit primär vom Ende der DDR her argumentiert und nach den Ursachen ihres Scheiterns forscht. Es geht also nicht nur darum, bislang vernachlässigte Bereiche der DDR-Stadtgeschichte mit neuen Untersuchungsfragen zu erkunden, sondern vor allem auch darum, eine bisher zentrale Grundfragestellung der Forschung faktisch umzudrehen: Statt primär nach den Gründen für das Scheitern ist zumindest auch nach den Ursachen für die relative Stabilität und Langlebigkeit des DDR-Systems zu fragen. Damit sind jenseits deskriptiver und totalitarismustheoretischer Engführungen die inneren Widersprüche sowie auch und gerade die sozialkulturellen Bindungskräfte des Systems in den Blick zu nehmen.9 Aus dieser Sicht war die DDR eben nicht eine völlig diktatorisch durchherrschte Gesellschaft, sondern bildete umfassende soziale und funktionale Differenzierungen und gesellschaftliche Eigendynamiken aus.10 So sind etwa selbst die Strategien der zentralstaatlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik, wie etwa im Wohnungsbau, nicht als reine Herrschafts- oder Defizitgeschichte zu lesen, sondern bilden gerade in den Brüchen und Widersprüchen, den lokalen Interventionen, Eigensinnigkeiten und Modifizierungen der zentralen Politiken vor Ort, quasi eine Fieberkurve der sozialistischen „Legitimationskultur“ ab.11 Gerade eine Analyse der räumlichen Wirksamkeit dieser politischen Strategien und Interaktionen kann in aller Schärfe die Stärken wie die Fragilität, die Hochburgen wie die „Wüstungen“ der sozialistischen Legitimationskultur zeigen und diese tendenziell kartieren. Nur mit einer solchen Drehung in der Fragestellung auf die Ambivalenz von Identifikationsmechanismen und Desintegrationsprozessen lassen sich auch die kollektiven Erinnerungen und Werthaltungen in Ostdeutschland präziser in den Blick nehmen, die bis heute fortwirken.12 Damit ist zugleich eine Positionsbestimmung vorgenommen, bei der das „Diktatur“-Konzept, das in der jüngeren DDR-Forschung eine zentrale heuristische gleichender Diktaturforschung, in: Heydemann/Oberreuther (Hrsg.), Diktaturen, S. 9–55, insbes. S. 10 f. sowie Bernd Faulenbach, Die DDR im Kontext des 20. Jahrhunderts, in: Eppelmann/Faulenbach/Mählert (Hrsg.), Bilanz, S. 1–26, hier S. 16 f. 9 Dies betonen gerade auch Forscher mit einer dezidierten Perspektive von außen wie Jay Rowell, Socio-Histoire der Herrschaft. Einführung, in: Sandrine Kott (Hrsg.), Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006, S. 26–34, hier S. 27; umfassender in ders., Le totalitarisme au concret. Les politiques de logement en RDA, Paris 2006; Jeanette Z. Madarász, Working in East Germany. Normality in a Social Dictatorship 1961–79, Basingstoke u.a. 2006. 10 Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur, in: Konrad Jarausch/ders. (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83–116; Konrad Jarausch, Realer Sozialismus als Fürsorgediktatur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20 (1998), S. 33– 46; Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft und EigenSinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S. 13–44, hier S. 19 ff. 11 Vgl. zur Frage der Legitimationsgrundlagen des Systems aus dem Blickwinkel der Opposition in der DDR Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, 2. Aufl. Bonn 2000, S. 18 f. 12 Vgl. Christine Hannemann/Sigrun Kabisch/Christine Weiske (Hrsg.), Neue Länder – Neue Sitten? Transformationsprozesse in Städten und Regionen Ostdeutschlands, Berlin 2002.
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Funktion besitzt, fortentwickelt wird. Von Jürgen Kockas und Alf Lüdtkes Ansatz der „durchherrschten Gesellschaft“ über die Debatte um die „Grenzen der Diktatur“ (Ralph Jessen) bis zur These von der „Diktatur der Grenzen“ (Thomas Lindenberger) hat dieses Konzept eine erhebliche Erklärungskraft bewiesen und besitzt sie noch.13 Sobald jedoch neben die zentralen die regionalen Verhältnisse und neben die Strukturanalyse die Praxen und Handlungsformen im DDR-System als gleichrangiger Erkenntnisgegenstand treten, ist faktisch das institutionelle und alltagspraktische Ringen um die Deutungs- und Gestaltungsmacht, sind die Mechanismen von Herrschaft und Verweigerung im Alltag zentral gestellt. Das diesem Band zugrunde liegende Forschungsprojekt ist damit Fragestellungen nachgegangen, die sich eng mit denen einer inzwischen fortgeschriebenen DDR-Gesellschaftsgeschichte, wie z. B. der These von einer „participatory dictatorship“ (Fulbrook), berühren.14 In den hier näher analysierten drei grundlegenden gesellschaftlichen Bereichen der Kommunalpolitik, der Stadtentwicklung sowie von städtischem Leben, Alltag und Öffentlichkeit können die genannten Auseinandersetzungen seismographisch nachvollzogen werden. Das ursprüngliche Programm des Forschungsprojektes, dem dieses Konzept im Kern entstammt, wurde dabei zum einen über den dort vorrangig betrachteten Typus der Industriestädte hinaus und zum zweiten um die internationale Dimension wesentlich erweitert.15 Ein Stadttyp – viele Städte: Die sozialistische Stadt und die Entwicklungspfade von Städten im Sozialismus Die Umsetzung einer derartigen, sozialgeschichtlich und raumsensitiv „geweiteten“ sowie auf eine länder- und epochenübergreifende Sicht orientierten Fragestellung kommt in einem ersten Schritt nicht ohne eine Bestimmung grundlegender Merkmale des sozialistischen Stadttyps aus. Sie bildet eine Voraussetzung für den zweiten Schritt der Rekonstruktion von Entwicklungspfaden einzelner Städte, die im Zentrum der hier versammelten Aufsätze stehen. Eine solche empirisch-analytisch ausgerichtete, auf bauliche und sozialkulturelle Strukturen und Handlungs13 Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kälble/Kocka/Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte, S. 547–553; Vgl. Richard Bessel/Ralph Jessen, Die Grenzen der Diktatur, in: dies. (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur, S. 7–24; Thomas Lindenberger, Diktatur der Grenze(n). Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde, in: Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch/Christoph Kleßmann (Hrsg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen, Verlauf, Auswirkungen, Berlin 2002, S. 203–214; Heydemann/Oberreuter (Hrsg.), Diktaturen. 14 Hier zititert nach: Mary Fulbrook, Theoretische Überlegungen zur DDR-Geschichte. Die französische DDR-Forschung in vergleichender Perspektive, in: Sandrine Kott/Emmanuel Droit (Hrsg.), Die ostdeutsche Gesellschaft, S. 278 – 285. 15 Zu Einzelheiten des Konzeptes siehe den Verweis auf die Projekt-Website oben, FN 5. Grundlegende Einsichten vermittelte die Kooperation mit den KollegInnen in den beiden ebenfalls von der VW-Stiftung geförderten Projekten „Stadt und Diktatur“, geleitet von Adelheid von Saldern, und „Regionalbewusstsein und Regionalkulturen in Demokratie und Diktatur“, geleitet von Detlef Schmiechen-Ackermann. Vgl. auch http: / /www.irs-net.de/forschung/forschungsabteilung-2/industriestaedte/industriestaedte.pdf.
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formen fokussierte geschichtswissenschaftliche Perspektive ist klar abzugrenzen von einer Rekonstruktion der Theorie- und Diskursgeschichte zur sozialistischen Stadt, wie sie etwa von Architekturtheoretikern, zeitgenössischen Fachleuten und Politikern geführt wurde (obgleich sie die letztere einschließen kann und sollte).16 Dies vorausgeschickt lassen sich, bei aller Vielfalt der Definitionsversuche und Zugriffe auf „die“ sozialistische Stadt, vier zentrale Dimensionen identifizieren: Über die rechtlich-administrative, die baulich-morphologische, die soziologischsozialräumliche und schließlich die stadtkulturelle Dimension lassen sich zusammengenommen die historische Spezifik und der Ort der sozialistischen Stadt in der globalen Geschichte städtischer Siedlungen erschließen.17 Mit Bezug auf diese vier Dimensionen ist in einer ersten Annäherung festzuhalten, dass sozialistische Städte zunächst in einer besonderen Boden- und Eigentumsordnung sowie Wirtschaftsund Verwaltungsform erbaut und reguliert wurden. Zweitens weisen sie eine in manchem sehr spezifische Stadtgestalt und charakteristische Muster der Flächennutzung auf – vom zentrumsnahen Wohnen breiter Bevölkerungsschichten in großen, überwiegend in Plattenbauweise errichteten Siedlungen über die „Datschen“ bis zu den Kulturhäusern. Drittens bildeten sie besondere Formen der sozialen Schichtung und sozialräumlichen Segregation, und schließlich, viertens, auch eigene Formen von Urbanität und Alltagskultur aus18 – man denke nur an die „sozialistische Sprache“, die ein eigenes Vokabular auch und gerade für die städtische Sphäre hervorbrachte.19 Mit dem letztgenannten Merkmal ist nur angedeutet, dass die besonderen, von den – bzw. für die – sozialistischen Gesellschaften entwickelten Kategorien der Wahrnehmung und Erfassung der Welt auch der Stadtentwicklung und dem städtischen Leben ihren Stempel auf charakteristische Weise aufdrückten. So nahm die sozialistische Geschichtstheorie, korrespondierend mit der Politik des schrittweisen Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft, eine spezifische Vermittlung von Struktur- und Prozessdimension vor. Beide Dimensionen bildeten in der politischen Praxis, der Arbeit am „nächsten Schritt“, einen Zusammenhang, so dass etwa Strukturdefizite schnell als prozessuale Defizite sowie als Anzeichen 16 Vgl. dazu z. B. Bruno Flierl, Faschistische und stalinistische Stadtplanung und Architektur. Zu den Planungskonzeptionen in Berlin und Moskau, in: Ders., Gebaute DDR: Über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Kritische Reflexionen 1990 – 1997, Berlin 1998, S. 39–51. 17 Vgl. dazu aus jeweils besonderem Blinkwinkel Hartmut Häußermann, Von der Stadt im Sozialismus zur Stadt im Kapitalismus, in: Hartmut Häußermann/Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Soziale Räume und Räumliche Tendenzen, Opladen 1996, S. 5– 47, vor allem 5 f.; Karl Schlögel, Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München/Wien 2001; Erika Lichtenberger, Stadtgeographie Bd. 1. Begriffe, Konzepte, Modelle, Prozesse, 2. Aufl. Stuttgart 1991, S. 195f; Jens Dangschat, Soziale und räumliche Ungleichheit in Warschau, Hamburg 1985. 18 Vgl. dazu Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR e.V. (Hrsg.), Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999. 19 Vgl. Alf Lüdtke, Sprache und Herrschaft in der DDR. Einleitende Überlegungen, in: Ders./Peter Becker (Hrsg.), Akten. Eingaben. Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997 S. 9–28; v. Saldern, Einleitung. Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, in: Dies. (Hrsg.)., Inszenierte Einigkeit, S. 9–58, insbes. S. 47 ff; Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkely/Los Angeles 1995.
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für eine fehlende Synchronität und Vermittlung von Theorie und Praxis gelesen und reflektiert wurden. Entscheidend für die begriffliche Profilierung und historische Verortung des sozialistischen Stadttyps und damit auch für die Operationalisierung von Forschungen über einzelne sozialistische Städte ist es, dass sich für diese in allen vier benannten Dimensionen klar distinkte Merkmale gegenüber den „kapitalistisch regulierten“ Städten wie auch gegenüber anderen historischen Stadttypen möglichst präzise ermitteln und damit die ersteren von den letztgenannten abgrenzen lassen. Zugleich sind die sozialistischen Städte mit den Stadttypen aus anderen Systemen und Epochen aber natürlich über viele gemeinsame Merkmale verbunden. Sie zeigen zum Beispiel bemerkenswerte Analogien zu absolutistischen Städten – was etwa die Bodenordnung oder die Machtverteilung im von der politischen Zentrale dominierten Städtebau betrifft, bis hin zu Analogien in den Grundrissen der Planstädte –, aber natürlich auch etwa zu den neuen Städten und Großsiedlungen der Nachkriegszeit in den westlichen Ländern.20 Innerhalb dieses Zusammenhangs teilen sie nicht zuletzt viele Gemeinsamkeiten mit dem Programm der global dominierenden städtebaulichen Moderne des 20. Jahrhunderts.21 Gerade vor dem Hintergrund dieses gemeinsamen Kanons der Moderne treten jedoch auch die besonderen politisch-ideologischen, wirtschaftlich-sozialen und baulichen Merkmale der sozialistischen Stadt hervor. Auf die parallele Analyse der Besonderheiten und andererseits der Gemeinsamkeiten mit anderen historischen Stadttypen muss eine kritisch historisierende Forschung über sozialistische Städte aufbauen. Nur so kann sie der Gefahr entgehen, entweder diese Städte aus ihren vielfältigen historisch-typologischen Vernetzungen herauszulösen, zu isolieren und damit zum „Sonderweg“ zu erklären oder aber, mit Verweis auf die Vielzahl an Gemeinsamkeiten in Genese und Strukturen mit anderen Stadttypen, vor der Notwendigkeit einer historischen trennscharfen Analyse und Abgrenzung zu kapitulieren. Kommunalpolitik zwischen hierarchischer Randstellung und Herrschaftsanspruch gegenüber der Zivilgesellschaft Der Hinweis auf die machtlose Stellung der Kommunen in der staatlichen Hierarchie ist in der Forschung vielfach wiederholt und unterstrichen worden.22 Dieses Urteil argumentiert jedoch zu einseitig von deren vergleichsweise machtloser insti20 Vgl. insbesondere Fréderic Dufaux/Annie Fourcault (Hrsg.), Le monde des grands ensembles, Paris 2004. 21 Vgl. Thomas Topfstedt, Die nachgeholte Moderne. Architektur und Städtebau in der DDR während der 50er und 60er Jahre, in: Gabi Dolff-Bonekämper/Hiltrud Kier (Hrsg.), Städtebau und Staatsbau im 20. Jahrhundert. München/Berlin 1996, S. 39–54. 22 Vgl. Sighard Neckel, Das lokale Staatsorgan. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie (1992) Nr. 4, S. 252–268; v. Saldern, Einleitung, S. 22ff; Christoph Hausschild, Die örtliche Verwaltung im Staats- und Verwaltungsaufbau der DDR. Auf dem Wege in den gesamtdeutschen Bundesstaat: eine vergleichende Untersuchung, Berlin 1991; Herwig Roggemann, Kommunalrecht und Regionalverwaltung in der DDR. Einführung in das Recht der Gemeinden, Städte, Kreise und Bezirke, Berlin 1987; Sabine Lorenz/Kai Weg-
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tutioneller Randstellung am Ende der DDR-Verwaltungshierarchie aus. Was dabei übersehen wird, sind nicht nur die informellen Kanäle und Netzwerke, mit der kommunale Interessen „nach oben“ vermittelt wurden. Vor allem differenziert eine solche Sichtweise nicht hinreichend zwischen den verschiedenen Institutionen der Stadtpolitik wie etwa den Stadtverordnetenversammlungen einerseits und den Räten und Verwaltungen andererseits. Dazu gehört auch die Bestimmung der jeweiligen formalrechtlichen Kompetenzen sowie der politischen Funktionen, zu denen zum Beispiel ein Vermittlungsauftrag zwischen Zentralstaat und DDR-Gesellschaft sowie ein Herrschaftsanspruch gegenüber der Zivilgesellschaft gehörten. Zahlreiche Einzelfragen bezüglich der Realisierung des für die Legitimationssicherung fundamental bedeutsamen Vermittlungsauftrages, von der konfliktreich auszuhandelnden Vergabe der Wohnungskontingente an die Großbetriebe einerseits und die einzelnen Wohnungssuchenden andererseits bis hin zur Frage der Rekrutierungsund Karrierewege der lokalen politischen Eliten sind bisher weitgehend ungeklärt. Damit sind nicht nur Grundfragen zur Statik und Dynamik der DDR-Gesellschaft wie z. B. zu Residuen von Bürgerlichkeit in der DDR oder zur Ersetzung der lokalen Eliten im Laufe der 1950er Jahre aufgeworfen.23 Weit darüber hinaus sind vor allem auch die Erfolgbilanz wie die Fehlschläge der Legitimationssicherung und, in epochenübergreifender Sicht, die Verortung der DDR-Kommunalpolitik in der europäischen Stadtgeschichte noch kaum geklärt. Sozialistische Stadtplanung und „Stadtkarrieren“ Stadtplanung und Architektur sind wohl die bis jetzt am besten erforschten Bereiche der DDR-Stadtgeschichte. Diese Feststellung kann jedoch nicht über eine Reihe von Blindstellen und Unausgewogenheiten hinwegtäuschen. So wurden bevorzugt eine begrenzte Zahl zumeist großer Städte sowie Sonderfälle, wie zum Beispiel Eisenhüttenstadt, untersucht, und dies überwiegend nur für die frühen Perioden. Insbesondere die späten vierziger und die fünfziger Jahre sowie manche Städte und Ensembles wie die Berliner Stalinallee können als vergleichsweise gut erforscht gelten,24 während Studien zu den 1970er und 1980er Jahren sowie stärker strukturanalytisch bzw. sozialgeschichtlich angelegte Arbeiten zur Stadtentwicklung und Planungsgeschichte anderer Städte noch rar sind. Eine Reihe von grundlegenden Überblicksdarstellungen zum DDR-Städtebau hat sich auf die Rekonstruktion der rich, Lokale Ebene im Umbruch. Aufbau und Modernisierung der Kommunalverwaltung in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/98, S. 29–38. 23 Vgl. dazu auch Thomas Großbölting, SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle, Halle 2001. 24 Jörn Düwel, Baukunst voran! Architektur und Städtebau in der SBZ/DDR, Berlin 1995; Durth/ Düwel/Gutschow, Architektur und Städtebau, 2 Bde. Zu Eisenhüttenstadt vgl. die Beiträge in Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit, sowie Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999, und Arbeitsgruppe Stadtgeschichte (Hrsg.), Eisenhüttenstadt: „Erste sozialistische Stadt Deutschlands“, Berlin 1999. Vgl. auch die Verweise in dem Beitrag von Wolfes in diesem Band.
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großen Linien in der Städtebaupolitik und besonders wichtiger Phasen und bedeutender Projekte, so z. B. die Zentrumsplanungen der Bezirks- und Großstädte, konzentriert.25 Weitet man den Blick auf die internationale Dimension, so treten zwei Besonderheiten hervor. Zum einen akzentuiert die neuere internationale Stadtforschung, die sich zunehmend für die Entwicklung in der DDR interessiert und dabei zumindest implizit stärker länder- und epochenübergreifende Maßstäbe anlegt, jeweils verschiedene Seiten des DDR-Städtebaus und kommt im Ergebnis zu einem merkwürdig ambivalenten Bild: Studien, die sich thematisch auf die Nationale Bautradition der 1950er Jahre oder die teilweise Wiederentdeckung der Innenstädte seit den 1970er Jahren konzentrieren, stellten stärker die Traditionslinie des stalinistischen oder traditionalistischen Städtebaus, also den „sozialistischen Realismus“ in der Architektur oder die Rückbesinnung auf die Altbaubestände heraus.26 Andere Arbeiten hingegen identifizieren die Wurzeln des sozialistischen Städtebaus primär in der Tradition der städtebaulichen Moderne und des Bauhauses. Sie betonen besonders die Rolle von Stadtplanungen im Geist der Moderne und ihrer Grundprinzipien, wie z. B. der funktionalen Segregation und vor allem des industrialisierten Bauens.27 Solche – hier zwangsläufig verkürzt wiedergegebenen – Ambivalenzen im Forschungsbild sind nur aufzulösen über raumzeitlich kritisch differenzierende Arbeiten, die gerade die besondere Mischung „moderner“ und traditioneller Prinzipien im sozialistischen Städtebau und ihre zahlreichen Varianten in den Blick nehmen.28 Die zweite Besonderheit in der Forschungslage betrifft die Tatsache, dass die deutsche Forschung bisher weitgehend auf internationale Vergleiche und Überlegungen zur epochenübergreifenden Einordnung des DDR-Städtebaus verzichtet hat. Doch haben zuletzt die Arbeiten von Bodenschatz/Post, Dufaux/Fourcault und bereits früher Irion/Sieverts Sinn und Notwendigkeit epochen- und länderübergreifender Analysen gezeigt.29 Schon die feststellbaren Varianten im Vollzug des Paradigmenwechsel zur Industrialisierung des Bauwesens Mitte der 1950er Jahre in den 25 Thomas Topfstedt, Städtebau in der DDR 1955–1971, Leipzig 1988; Thomas Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991; Joachim Palutzki, Architektur in der DDR, Berlin 2000. 26 Brian Ladd, Ghosts of Berlin: confronting German history in the urban landscape Chicago 1997; Ders., ‚Socialist planning and the rediscovery of the Old City in the German Democratic Republic‘, in: Journal of Urban History, vol. 27, no. 5, July 2001, 584–603; Bodenschatz/Post (Hrsg.), Städtebau. 27 D.S. Pensley, ‚The socialist city? A critical analysis of Neubaugebiet Hellersdorf‘, in: Journal of Urban History, vol. 24, no. 5, July 1998, 563–602.; Durth/Düwel/Gutschow, Ostkreuz; I.V. Nevzgodin, Urban History of the Stalinist company towns in Ural and Siberia. Paper for the Sixth International conference on Urban History, Edinburgh 2002; Christine Hannemann, Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Berlin 2000. 28 Auf diesem Weg einer Relativierung der Dichotomie zwischen moderner und traditionalistischer Architektur ist die Forschung für das frühe 20. Jahrhundert bereits weit fortgeschritten. Vgl. etwa Gert Kähler, Nicht nur Neues Bauen, in: Geschichte des Wohnens Bd. 4: 1918 – 1945. Reform, Reaktion, Zerstörung, hg. von Gert Kähler, Stuttgart 1996, S. 303 – 452, hier u.a. S. 353 ff. 29 Bodenschatz/Post (Hrsg.), Städtebau; Dufaux/Fourcault (Hrsg.), Le monde des grands en-
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verschiedenen sozialistischen Länder ergeben ein komplexeres Bild von Exploration, Umsetzung und Zirkulation neuer Konzepte und Politiken im sozialistischen Block30 als das bisher verbreitete. Entsprechende Differenzierungen wären für die baupolitische Neuausrichtung der 1970er Jahre und für weitere Richtungsentscheidungen anzustreben. Erst auf dieser Grundlage einer solchen Differenzierung der Entwicklungen in der DDR und in anderen sozialistischen Ländern wird auch eine empirisch gesättigte, systemübergreifende gesamteuropäische Städtebaugeschichte mit ihren Varianten und Verwandtschaftsverhältnissen möglich. Mit der Errichtung der sowjetischen Hegemonie über die mittel- und osteuropäischen Staaten wurde eine zwar am sowjetischen Modell orientierte, aber regional unterschiedlich ausgerichtete Städtebaudoktrin etabliert. Im Fall der DDR blieb eine umfassende Politik der Bodenenteignung vorrangig auf einzelne Bereiche wie vor allem die Landwirtschaft und die Großindustrie beschränkt und wurde im städtischen Bereich nicht im gleichen Umfang, oder jedenfalls in modifizierter Form, betrieben. Langfristig wurde vielmehr um den weiterhin durchaus vorhandenen privaten städtischen Grundbesitz – noch 1981 war formaljuristisch nur ein Drittel des Bodens in der DDR verstaatlicht – ein Netz scharfer institutioneller Restriktionen gezogen, die von der öffentlichen Kontrolle von Besitzübertragungen, Preisen und Baustoffen bis zu weitreichenden Interventionen der öffentlichen Plan- und Bauträger bei Neubauprojekten reichte und den privaten Grundbesitz in deren Würgegriff nahm.31 Städtisches Leben, Alltag und Öffentlichkeit im Sozialismus Anders als bei der Planungs- und Baugeschichte steht die Forschung bezüglich des Wissens um Fragen des städtischen Lebens sowie von Alltag und Öffentlichkeit noch weitgehend am Anfang. Die vorliegenden Studien zur Sozialgeschichte der DDR weisen in der Regel keinen direkten Bezug zu dem Ort auf, an dem sich ihre jeweilige Geschichte „ereignet“ hat – mit der Folge, dass die Dimension des städtischen Alltags oftmals fehlt.32 Zwar wurde die große Bedeutung der „sorgsam arrangierten[n] Verinselung des Gesellschaftlichen an der lebensweltlichen Basis“ im Prinzip erkannt und als „Bestandsgrundlage staatssozialistischer Herrschaftspraxis“33 ausgemacht. Eine Neuausrichtung der gesellschaftsgeschichtlichen Ana-
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sembles; Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne. Stuttgart 1991. Thomas Bohn hat auf aufschlussreiche zeitliche Verschiebungen im Vollzug des Paradigmenwechsel zur industriellen Bauweise hingewiesen, der z. B. in Weißrußland deutlich früher eingeleitet wurde als in den Jahren 1954/55, die bisher für den „sowjetischen Block“ und auch für die DDR angesetzt werden. Vgl. Thomas Bohn, „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Potemkinsche Dörfer und ostdeutsche Stadtplanung in der Nachkriegszeit, in Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit, S. 61–81, hier S. 78 ff. Hoscislawski, Bauen, S. 49–52. Vgl. Annette Kaminsky, Alltagskultur und Konsumpolitik, in: Eppelmann/Faulenbach/Mählert (Hrsg.), Bilanz, S. 246–253. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft
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lyse auf den wichtigsten lebensweltlichen Bereich, nämlich die Stadt, hat diese theoretische Einsicht bislang jedoch nicht ausgelöst. So ist zwar einiges bekannt über die Initiativen von Partei und Staat, mit weitreichen Maßnahmen in der Lohn- und Bildungspolitik,34 der Boden- und Wohnungspolitik35 sowie in der Güterverteilung und Konsumpolitik36 auf eine sozial egalitäre Gesellschaft hinzuwirken. In welche Richtung sich jedoch die Wohnverhältnisse, Naherholung, Konsum, Kultur und Verkehr im städtischen Alltag sowie in den verschiedenen Landesteilen tatsächlich entwickelten, ist bisher kaum bekannt. Eine Gesellschaftsgeschichte des Lokalen, die mit der notwendigen Vielfalt an Perspektiven die Entwicklungen vor Ort untersucht, gibt es bislang für die DDR nicht – mit dem Ergebnis, dass die Erfolge und Misserfolge der massiven öffentlichen Intervention in die Lebenswelten bisher kaum zuverlässig abzuschätzen, geschweige denn befriedigend zu deuten sind. Die Beiträge Die hier versammelten Aufsätze beziehen sich auf die drei genannten Themenschwerpunkte der Kommunalpolitik, des Städtebaus und der sozialistischen Alltage und Öffentlichkeiten. Die entsprechenden Abschnitte werden jeweils mit einem das Feld öffnenden „Kopfbeitrag“ eingeleitet. In diesem Sinne unterzieht Carsten Benke in seinem einleitenden Aufsatz zur Kommunalpolitik die strikte Gültigkeit der noch vorherrschenden Forschungsmeinung, nach der die lokalen Verwaltungsinstanzen einer fast unbegrenzten zentralstaatlichen Steuerung unterworfen waren, einer Revision. Er stellt dieser These nachdrücklich die Wirkungsmacht von „Eigensinnigkeiten“ urbaner Akteure und von „Eigenlogiken“ städtischer Entwicklungspfade entgegen. Die komplexen kommunalpolitischen Beziehungsgeflechte und Interaktionsformen zeigen unter anderem die wichtige Funktion der Kommunen als „Verantwortungsträger“ gegenüber der Bevölkerung. Der zweite Teil des Beitrages rekonstruiert am Beispiel der kleinen „Automobilarbeiterstadt“ Ludwigsfelde südlich von Berlin unter anderem die „örtliche Klientelwirtschaft“ zwischen dem Großbetrieb des LKW-Kombinates, der lokalen SED-Führung sowie Stadtverordneten und Stadtverwaltung, die auch zur gemeinsamen „informellen“ Durchsetzung von Projekten der Stadtentwicklung bereit und fähig war. Eine nur mittelbare Einbindung in die zentralistischen staatlichen Strukturen erkennt Frank Betker auch den kommunalen „Büros für Stadtplanung“ und „Büros und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S.13–44, hier S.42. 34 Vgl. Lothar Mertens, „Was die Partei wusste, aber nicht sagte…“ Empirische Befunde sozialer Ungleichheit in der DDR-Gesellschaft, in: Ders. (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S. 119–158; Susanne von Below, Bildungssysteme und soziale Ungleichheit. Das Beispiel der neuen Bundesländer, Opladen 2002, S. 81–96. 35 Thomas Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR; Hoscislawski, Bauen. 36 Vgl. Annette Kaminsky, Ungleichheit in der SBZ/DDR am Beispiel des Konsums: Versandhandel, Intershop und Delikat, in: Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit, S. 57–80.
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des Stadtarchitekten“ zu. Er rekonstruiert, wie unter anderem aus der hierarchischen Randstellung sowie gewissen fachlich-berufsethischen Traditionen und Orientierungen bemerkenswerte Handlungsspielräume erwuchsen. In den Prozessen der Zurückdrängung privater Architekturbüros zugunsten hochgradig arbeitsteilig arbeitender volkseigener Entwurfs- und Projektierungsbüros und einem erneuten Dezentralisierungs- bzw. Kommunalisierungsschub gegen Ende der 1950er Jahre werden institutionelle Eigenlogiken sowie ebenfalls das Wirken von beruflichem und dann auch baulich ausgedrücktem „Eigensinn“ sichtbar. Albrecht Wiesener diskutiert, wieweit die von Benke angesprochenen lokalen „Verantwortungsträger“, das hießt Kommunalpolitiker und örtliche Parteifunktionäre, den dramatischen Niedergang der DDR-Städte mit zu verantworten hatten. Sein Konzept einer „Gesellschaftsgeschichte des Politischen“ prüft am Beispiel Halles auch die Gegenfrage, ob auf kommunaler Ebene für drängende Probleme pragmatische Teillösungen gefunden wurden. Die zeitweise lebhaften Debatten zwischen Partei und lokaler Gesellschaft führt Wiesener vorrangig auf die sprunghaften Richtungswechsel von SED und Planwirtschaft zurück, „partizipatorische“ Ansätze bewertet er als weitgehend „nachvollziehende Bestätigung“ der durch Partei und Staat proklamierten Ziele mittels einer Bürgerbeteiligung. Besonders klar lassen sich gemeinsame Grundmuster und spezifische Eigenlogiken von Städten bei einem grenzüberschreitenden Vergleich des in der sozialistischen Hemisphäre weit verbreiteten Stadttypus der „neuen (Industrie-) Planstadt“ erkennen. Dagmara Jajesniak-Quast analysiert anhand eines Dreier-Vergleichs von Eisenhüttenstadt (DDR), Nowa Huta (Polen) und Ostrava (CSSR) unter anderem Gemeinsamkeiten bei der Errichtung der Stahlwerke und beim „sozialistischen Realismus“ im frühen Städtebau. Neben den gleichwohl markanten Unterschieden, z. B. bei den Präferenzen der Standortwahl, hebt sie die dominante Rolle der Betriebe gegenüber die Stadt bei der Versorgung der Bevölkerung hervor, die mit der Übernahme wichtiger Stadtfunktionen durch die Kombinate verbunden war. Thomas Wolfes leitet seinen „Kopfbeitrag“ zum Abschnitt Stadtplanung und -entwicklung mit einem Überblick über die neuere planungshistorische Forschung ein, die übereinstimmend die Erfahrung der DDR als Beleg für die Grenzen der Planbarkeit von Gesellschaften interpretiert. Für sein Fallbeispiel der vielfach privilegierten, von kontinuierlicher Förderung profitierenden Hafen- und sozialistischen Industriestadt Rostock kann er mehrere von den zentralen Vorgaben abweichende Sonderentwicklungen feststellen. Dazu zählten etwa die bandstadtartige Stadterweiterung entlang der Warnow und die Persistenz regionaler bauhistorischer Leitbilder. Das Beispiel Rostock zeigt unter anderem auch, dass Städte über informelle Netzwerkbildungen einen teilweise nicht unerheblichen Einfluss auf Planungsentscheidungen außerhalb ihres formalen Kompetenzbereichs gewinnen konnten. Der Verweis auf den enormen Einfluss volkswirtschaftlicher Planung auf die Stadtentwicklung, mit der sich faktisch ein neuartiges Regulations- und Kooperationsmodell in der kommunalen Stadtplanung ergab, steht am Beginn des Beitrages von Brigitte Raschke über die Stadtplanung in Neubrandenburg. Sie macht eine Umkehrung der traditionellen Hierarchie „städtebildender“ Faktoren und Mechanismen sichtbar, die zu historisch neuen Strategien und Argumentationslogiken in
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der Stadtentwicklungspolitik führte. Aus Visionen zur lokalen Bevölkerungsentwicklung und Wohnungspolitik wurden dort etwa Planungen zur Ansiedlung von Gewerbe und Arbeitsplätzen als faktisch nachrangigen, politisch steuerbaren Standortfaktoren abgeleitet. Das komplexe Zusammenspiel von politisch-ideologischen Leitbildern, Schwerpunktsetzungen in 5-Jahresplänen, kurzfristigen Finanzierungsmöglichkeiten, neuen Bautechnologien bis hin zum Stand der deutsch-deutschen und internationalen Beziehungen verfolgt Rüdiger Stutz am Jenaer Beispiel der späten Ulbricht-Ära. Er sieht DDR-Stadtplanung und Städtebau in mehrere grundlegende Dichotomien eingespannt, zu denen in Jena die Kluft zwischen technologischem „Weltniveau“ des VEB Carl Zeiss Jena und dem baulichen Zuschnitt der „Provinzstadt“ Jena gehörten (so die Sicht Ulbrichts). Auch die strukturellen Widersprüche zwischen rein ökonomieorientierter Standortplanung und lokaler Bebauungsplanung sowie zwischen den Ressourcen- und Flächenansprüchen der Industrie einerseits, des Wohnungsbaus und anderer städtischer Nutzungen andererseits prägten das stadtplanerische Spannungsfeld. Ivan Nevzgodins Beitrag wirft einen Blick über die DDR hinaus auf die Stadtplanung in Sibirien. Er zeigt, wie stark die Planungskulturen und die jeweiligen Herausforderungen für die Stadtplanung in den verschiedenen sozialistischen Ländern variierten. Gegenüber ganz unterschiedlichen Urbanisierungsmustern – wie dem Neuaufbau ganzer Städtenetze infolge der räumlichen Verlagerungspolitik im Zweiten Weltkrieg und der vielfach weitgehend unkontrollierten Stadterweiterung an der Peripherie – erscheinen architektonische Analogien wie der Sozialistische Realismus als eher äußerlich, die DDR-Planungskultur als vergleichsweise weit entwickelt. Nevzgodine hebt die Verwandtschaft des sowjetischen „Mikrodistrikt“mit dem westlichen „Neighbourhood“-Konzept hervor, während sich die von Privatgewerbe und Kirchen frei gehaltenen sozialistischen Stadtzentren sehr viel stärker von traditionellen und westlichen Zentren entfernten. Adelheid von Saldern skizziert in ihrem den dritten Block einleitenden Beitrag die sozialistische Alltagssphäre als zentrales Feld der Ausübung und permanenten Aushandlung von Herrschaft. Sie betont die herausragende Rolle der Betriebe als Sozialisationsinstanzen und von spezifischen Formen von „situativen“ oder „Ersatz“-Öffentlichkeiten, z. B. beim Schlangestehen oder in persönlichen Netzwerken. Die vergleichsweise hohe Erwerbstätigkeit von Frauen begünstigte die Herausbildung eines starken weiblichen Selbstbewusstseins. Die Regeln einer machtdurchtränkten Öffentlichkeit förderten bestimmte Verhaltensweisen wie z. B. „doppelbödiges“ Reden über politische Themen, eine Kultur der Eingaben oder offiziell geförderte Vorstellungen wie der Einlösung von Wünschen im Sozialismus der Zukunft. Dass derartige Hoffnungen durch ein langfristiges „Verschwinden der Zukunft“ dauerhaft enttäuscht wurden – mit gravierenden Folgen für die Legitimationsbasis des Systems – zeigen Philipp Springers Untersuchungen über die Stadt Schwedt. Das Konsumangebot wurde auch in dieser relativ privilegierten Stadt zum Gradmesser der – von den Einwohnern vielfach kritisch beurteilten – Lebensqualität. Es wirkte nach außen als Statusmerkmal und erzeugte einen gewissen „Einkaufstouris-
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mus“ aus den weniger privilegierten Regionen. Die weitreichenden systempolitischen Wirkungen des sozialistischen Konsummodells sind daran abzulesen, dass ein hohes Lohnniveau das Verlangen nach einem guten Versorgungsniveau zusätzlich schürte und bestimmte Einstellungen, wie z. B. eine gewisse „Zuteilungs“Mentalität, florierten. Kaufhäuser, und vor allem die „Centrum“-Warenhäuser, waren Tempel der sozialistischen Konsumkultur, deren Eröffnung jeweils politisch aufwändig inszeniert wurde. Überhaupt waren öffentliche Feiern und Kampagnen, wie Lu Seegers in ihrem Beitrag zeigt, wichtige Instrumente der Gemeinschaftsbildung und Identifikation mit Stadt und Staat. Als Perioden intensivierter Kommunikation konnten sie Alltagswahrnehmungen zeitweise positiv einfärben und Verantwortungsgefühl stärken, aber auch die Kritik an Missständen, wie z. B. in der Instandhaltung von Gebäuden, stimulieren. Die Wirkung derartiger „weicher“ Methoden der sozialistischen Integrationspolitik ging jedoch einher mit scharfen Sanktionen gegen abweichendes Verhalten, wie z. B. von „Beat“-Jugendlichen. Der abschließende Beitrag von Lukas Stanek fokussiert, an dem polnischen Beispiel der neuen Planstadt Nowa Huta, auf andere Facetten und Mechanismen der städtischen Öffentlichkeit. Unter Verwendung des raumtheoretischen Konzeptes von Henri Lefebvre rekonstruiert er die konflikthaft kollidierenden Images dieser Stadt als sozialistische oder anti-sozialistische, religiöse oder a-religiöse Kommune. Die medialen Repräsentationen wurden nicht nur in außergewöhnlicher Zahl und Stärke erzeugt, sondern überlagerten sich auch mit anderen Praktiken der Raumproduktion und widersprüchlichen Ablöseprozessen zwischen den Bildern. Dieser Band ging, leider mit einiger Verspätung, aus einem von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsprojekt über „Industriestädte in der SBZ/DDR 1945– 1989“ hervor. Er hat von der Unterstützung und Hilfe mehrerer Institutionen, Kollegen und Mitarbeiter besonders profitiert. An erster Stelle ist hier die VW-Stiftung zu nennen, die nicht nur das zugrunde liegende Forschungsprojekt und dessen Schlusskonferenz finanziert hat, aus der dieser Band hervorging, sondern auch die Drucklegung. Unsere Forschungen haben wesentlich von einem gemeinsamen Diskussionsprozess über die Geschichte sozialistischer Städte profitiert, an dem außer den Projektmitarbeitern Carsten Benke, Philipp Springer und Thomas Wolfes auch befreundete Kollegen, insbesondere Adelheid von Saldern und Harald Bodenschatz, beteiligt waren. Die Herausgeber der Buchreihe der Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) waren so freundlich, die Aufnahme des Bandes zu befürworten und wichtige Hinweise zu geben. Um die Redaktion der Texte haben sich Moritz Feichtinger, Katja Zimmermann und Petra Koch verdient gemacht. Für die Gestaltung danken wir Katharina Stüdemann und Harald Schmitt im FranzSteiner-Verlag, die die Fertigstellung und das Erscheinen des Buches gefördert haben.
AM ENDE DER HIERARCHIE: GRENZEN UND SPIELRÄUME DER KOMMUNALPOLITIK IN DER DDR – MIT BEISPIELEN AUS DER INDUSTRIESTADT LUDWIGSFELDE Carsten Benke Einleitung Die kommunale Politik in den Städten und Gemeinden der DDR wurde geprägt durch die dominante Stellung des zentralistisch ausgerichteten Machtapparates von Staat und SED und eine sehr starke Position der vor Ort ansässigen großen Betriebe. Die Grundsätze der traditionellen kommunalen Selbstverwaltung standen im Gegensatz zu den Prinzipien des hierarchischen Staatsaufbaus, der der Durchsetzung des propagierten „Demokratischen Zentralismus“ dienen sollte. In der Forschung über die DDR ist die daraus resultierende schwache Stellung der Kommunen stets deutlich hervorgehoben worden. Dem weisungsgebundenen „lokalen Staatsorgan“ wurde innerhalb des Staatssystems nur eine „Kümmerfunktion“1 zugebilligt, der Gemeindeebene käme „so gut wie keine Bedeutung“2 zu, „als eigenständige politische Instanzen“ hätten die Gemeinden in der DDR „faktisch keine Bedeutung“3 gehabt. Im Kontrast zu diesem vernichtenden Urteil über den Einfluss der kommunalpolitischen Instanzen ist jedoch zu konstatieren, dass der lokalen Politik für das Alltagsleben der Menschen und für die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems eine essenzielle Bedeutung zukam. Zahlreiche Forschungen der letzten Jahre haben zudem lokale Besonderheiten und „Eigensinnigkeiten“ innerhalb des Institutionengefüges der DDR herausgearbeitet und vielfältige Grenzen der Durchherrschung im Zentralismus offenbart. Die folgenden Überlegungen zur Kommunalpolitik in der DDR konzentrieren sich vor allem auf die Analyse der Handlungsoptionen lokaler Politik im Wechselspiel von städtischen und zentralen Institutionen, der ansässigen Industrie und der örtlichen Bevölkerung. Dabei soll danach gefragt werden, welche Funktion der Kommunalpolitik im System der DDR zukam und welche Rolle sie bei der Ausgestaltung der Lebensverhältnisse vor Ort spielte. Zur Bestätigung der Relevanz eines solchen lokalen Ansatzes ist auch zu untersuchen, inwieweit es eine Eigenlogik der lokalen Institutionen jenseits ihrer Rolle als Ausführungsorgane zentraler Beschlüsse im „entdifferenzierten“ System der 1 2 3
Sabine Lorenz/Kai Wegrich, Lokale Ebene im Umbruch. Aufbau und Modernisierung der Kommunalverwaltung in Ostdeutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 5, 1998, S. 29–38. Sighard Neckel, Das lokale Staatsorgan. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, 21, 1992, S. 252–268, hier S. 253. Hartmut Häußermann, Von der Stadt im Sozialismus zur Stadt im Kapitalismus, in: Hartmut Häußermann/Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Soziale Räume und Räumliche Tendenzen, Opladen 1996, S. 5–47, hier S. 8.
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DDR gab und in welcher Weise auch die Bewohner ihre Stadt und deren Institutionen als wichtiges Bezugssystem und politische Plattform wahrnahmen. Kommunalpolitik wird hier in einem weiten Sinne verstanden als die Summe aller formellen und informellen Möglichkeiten, mit denen die lokale Ebene auf die Entwicklung von Stadtqualität Einfluss nehmen konnte. Einen wichtigen Bezugspunkt der Analyse lokaler Eigenmacht bieten dabei die Handlungsweisen und Selbstverständnisse der lokalen Eliten und ihre Konflikte mit übergeordneten Organen. Im Vordergrund stehen weniger die schon eingehend untersuchten rechtlichen Strukturen als vielmehr die faktischen Handlungsoptionen im kommunalpolitischen Alltag. Einen wesentlichen Zugang zum Verständnis kommunaler Politikstrukturen der DDR bildet die Analyse von informellen Handlungen und persönlichen Netzwerken. Die Bedeutung informeller Handlungen im formal stark reglementierten System der DDR wurde in der Forschung schon früh erkannt4 und als „Netzwerk klientelischer Beziehungen“ zwischen Stadt, Parteiinstitutionen und Betrieben beschrieben.5 Die Bewertung von Spielräumen orientierte sich bisher am Handlungsspektrum der traditionellen kommunalen Selbstverwaltung. Vor diesem normativen Hintergrund mussten die Möglichkeiten der DDR-Kommunalpolitik eine sehr reduzierte Bewertung erfahren. Um die spezifischen Handlungsweisen lokaler Politik in der DDR zu analysieren, muss die Betrachtung aber um von dem traditionellen Verständnis abweichende örtliche Tätigkeitsfelder und Möglichkeiten zur Generierung lokaler Durchsetzungskraft erweitert und die besondere lokale Elitenformation im Zentralismus in den Blick genommen werden. Der Fokus der Betrachtung wird im Folgenden vor allem auf kleinere Städte und Gemeinden am Ende der administrativen Hierarchie gelegt, wo sich die formelle Machtlosigkeit besonders deutlich zeigte. Diese übergreifende Analyse der Handlungskompetenzen und informellen Möglichkeiten lokaler Politik soll in jedem Teilgebiet durch konkrete Beispiele aus der kommunalen Praxis der kleinen Industriestadt Ludwigsfelde vertieft werden. Forschungsstand Die Fruchtbarkeit der Untersuchung lokaler Strukturen für die DDR-Forschung hat sich in den letzten Jahren nachdrücklich gezeigt. Während mittlerweile auf der lokalen Ebene den Betrieben, Massenorganisationen und Wohngebieten starke Aufmerksamkeit gewidmet worden ist, blieben die örtlichen politischen Institutionen aber weitgehend unbeachtet. Schon 1992 hatte Sighard Neckel darauf hingewiesen, dass die „Erforschung lokaler politischer Strukturen in der Gesellschaft der DDR […] auch einen Beitrag zur Analyse des Staatssozialismus insgesamt leisten“ 4
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Frank Werner erkannte in der örtlichen Politik eine „Vielzahl von informellen Beziehungen, die eine eindeutige Zuordnung der Planungsträger zu den politischen Exekutiven von Partei und Staat gar nicht zulassen.“ Frank Werner, Die Raumordnungspolitik der DDR, Hannover 1985, S. 320. Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 259.
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könne.6 In eine ähnliche Richtung zielte die Aufforderung von Thomas Lindenberger, bei der Untersuchung der DDR-Gesellschaft stärker die unteren Institutionen und Organisationen in den Blick zu nehmen, „von denen ausgehend die alltäglichen Beziehungen der Apparate und Funktionäre mit der Bevölkerung zu rekonstruieren sind: die Brigade, die Gemeinde, das Wohngebiet“.7 Über lange Jahre wurden diese Ansätze aber nur in sehr begrenztem Umfang weiterverfolgt. Als dementsprechend lückenhaft ist die heutige Forschungslage einzuschätzen. Es existiert zwar eine umfangreiche offizielle kommunalpolitische Literatur der DDR, die aber in erster Linie der praktischen Anleitung oder rechtlichen Information von Kommunalpolitikern diente.8 Insbesondere die sozialwissenschaftliche Forschung in der DDR hatte in den 1970er und 80er Jahren auf die große Bedeutung und gleichzeitige Vernachlässigung der kommunalen Ebene hingewiesen.9 Aber nur wenige wissenschaftliche Arbeiten zur Stadtentwicklung und Stadtgeschichte beschäftigten sich schon zu DDR-Zeiten dezidiert mit „Alltag“ und Handlungsspielräumen der Kommunalpolitik. Bereits vor 1990 hatten kommunalpolitische Fragen auch das Interesse der westdeutschen DDR-Forschung gefunden10, doch mussten sich die Untersuchungen durch die Unzugänglichkeit der Archive und die Unmöglichkeit der Durchführung von Fallstudien in vielen Fragestellungen auf die Analyse der formalrechtlichen Bestimmungen beschränken. Nach dem politischen Umbruch 1989 wurde eine ganze Reihe von Studien erstellt, die zunächst jedoch vor allem die strukturelle Andersartigkeit der Kommunalpolitik in der DDR gegenüber dem westlichen System der lokalen Selbstverwaltung hervorhoben und die Bedeutungslosigkeit der Gemeinden im politischen System der DDR unterstrichen.11 Die Tendenz der Forschung, die Ebene der Gemein6 7
Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 253. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln etc. 1999, S. 13–44, hier S. 23. 8 Vgl. beispielsweise die Reihe „Kommunalpolitik aktuell. Schriften für Abgeordnete und Mitarbeiter der Staatsorgane“, die seit Mitte der 1980er Jahre erschien und es auf über 20 Bände brachte. 9 Vgl. z. B. Fred Staufenbiel, Leben in Städten. Soziale Ziele und Probleme der intensiven Stadtreproduktion – Aspekte kultursoziologischer Architekturforschung, Berlin (Ost) 1989. 10 Werner Barm, Kommunalpolitik und Kommunalwahlen in der DDR, in: Deutschland Archiv 3, 1970, S. 425–429; Klaus Sieveking, Kommunalpolitik und Kommunalrecht in der DDR, in: Deutschland Archiv 16, 1983, S. 1163–1174; Herwig Roggemann, Kommunalrecht und Regionalverwaltung in der DDR. Einführung in das Recht der Gemeinden, Städte, Kreise und Bezirke, Berlin 1987; Erika Lieser-Triebnigg, Die Stellung der Gemeinden in der DDR, Melle 1988; Gero Neugebauer, Zur Situation der Kommunalpolitik in der DDR, in: Ilse SpittmannRühle (Hrsg.), Veränderungen in Gesellschaft und politischem System der DDR. Ursachen, Inhalte, Grenzen, Wissenschaft und Politik, Köln 1989. 11 Vgl. Lorenz/Wegrich, Lokale Ebene im Umbruch; Heinz Bartsch, Aufgaben und Struktur der örtlichen Verwaltung, in: Klaus König (Hrsg.), Verwaltungsstrukturen der DDR, Baden-Baden 1991, S. 109–134; Michael Völker, Zum Scheitern der Kommunalpolitik in der DDR, Siegen 1990, Michael Völker, Kommunalpolitik in der ehemaligen DDR – ein Sonderfall? In: Franz Braschos/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Kommunalpolitik in Stadt und Land. Grundlagen – Entwicklungsperspektiven – Praxis, Erfurt 1991, S. 79–89; Neckel, Das lokale Staatsorgan;
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den als irrelevant für die DDR-Forschung anzusehen, wurde durch das gängige Paradigma der lokalpolitischen Machtlosigkeit noch verstärkt. In einer „durchherrschten“12 und „entdifferenzierten“13 Gesellschaft konnten Kommunen nicht als ein geeignetes Forschungsfeld erscheinen. Detaillierte Fallstudien zu lokalen Politikkonstellationen in Städten der DDR entstanden lange Zeit kaum.14 Lediglich die juristische und rechtsgeschichtliche Forschung beschäftigte sich nach 1990 zeitweise intensiver mit der Kommunalpolitik der DDR, vor allem um die Voraussetzungen für die Transformation zum westdeutschen System zu untersuchen.15 Mit dem sich nach langer Vernachlässigung in den letzten Jahren deutlich verstärkenden Interesse an der Stadtgeschichte in der DDR nahm die Zahl von Fallstudien zu einzelnen Städten zu, in denen auch kommunalpolitische Fragen intensiv behandelt wurden.16 Mehrere rechts- und politikgeschichtliche Untersuchungen widmeten sich anhand von konkreten lokalen Beispielen dem Systemwandel 1990 und seiner Vorgeschichte und nahmen dabei auch die alten und neuen lokalen Eliten in den Blick.17 In letzter Zeit sind insbesondere die kulturgeschichtlich orientierten Arbeiten der Forschungsgruppe um Adelheid von Saldern hervorzuheben, die die Kenntnisse über die Prozesse auf der lokalen Ebene wesentlich erweitert und insbesondere die informellen Möglichkeiten zur Schaffung lokaler Eigenmacht durch
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Helmut Berking/Sighard Neckel: „Außenseiter als Politiker. Rekrutierung und Identitäten neuer lokaler Eliten in einer ostdeutschen Gemeinde“, in: Soziale Welt: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, 3, 1991, S. 283–299. Jürgen Kocka, Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 547–553. Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 43. Insbesondere in den Untersuchungen zum Aufbau von Eisenhüttenstadt spielte die Analyse der Kommunalpolitik aber eine wichtige Rolle, vgl.: Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999 und Jörn Schütrumpf, Werk – Stadt – Partei. Kommunalpolitik in der Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost, in: Rosmarie Beier (Hrsg.), aufbau west – aufbau ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Ostfildern-Ruit 1997, S. 121–125. Vgl. Christoph Hausschild, Die örtliche Verwaltung im Staats- und Verwaltungssystem der DDR. Auf dem Wege in den gesamtdeutschen Bundesstaat: eine vergleichende Untersuchung, Berlin 1991; Günter Püttner/Albrecht Rösler, Gemeinden und Gemeindereform in der ehemaligen DDR. Zur staatsrechtlichen Stellung und Aufgabenstruktur der DDR-Gemeinden seit Beginn der siebziger Jahre, Baden-Baden 1997. Zumeist fokussierten sie die Analyse dieses Themenfeldes auf die Anfangsjahre der DDR oder bestimmte Schichten der Stadtbevölkerung. Vgl. Thomas Großbölting, SED-Diktatur und Gesellschaft. Bürgertum, Bürgerlichkeit und Entbürgerlichung in Magdeburg und Halle, Halle (Saale) 2001; Helge Matthiesen, Greifswald in Vorpommern. Konservatives Milieu im Kaiserreich, in: Demokratie und Diktatur, 1900–1990, Düsseldorf 2000. Vgl. Hans-Gerd Kästner, Kommunale Eliten und Machtstrukturen in der Nachfolge der DDR. Eine Untersuchung des politischen Systemwandels am Beispiel der Hansestadt Wismar, Berlin 1999; Stephan Schnitzler, Der Umbruch in der DDR auf kommunalpolitischer Ebene. Eine empirische Studie zum Demokratisierungsprozess von 1989/90 in der Stadt Erfurt, Göttingen 1996; Peter Beckers, Kulturelle Aspekte bezirklicher Verwaltungstransformation, Berlin 1998 (Dissertation, elektronische Ressource).
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detaillierte Fallstudien zu verschiedenen Städten herausgearbeitet haben.18 Die Analyse der Unterschiede von lokalen politischen Spielräumen in Bezug auf einzelne Städtetypen war eine wichtige Fragestellung eines Forschungsprojektes der TU Berlin und des IRS Erkner über die Entwicklung von Industriestädten in der DDR.19 Trotz der deutlichen Fortschritte und der vielfältigen Ausdifferenzierung der DDR-Forschung ist insgesamt weiterhin eine Vernachlässigung kommunalpolitischer Themenbereiche festzustellen. Es fehlt immer noch eine Analyse der Kommunalpolitik als eigenständiger Politikbereich. In den einschlägigen Sammelbänden und Forschungsberichten bleibt die Kommunalpolitik bis heute weitgehend ausgespart.20 Im Fokus politikgeschichtlicher Untersuchungen stehen weiterhin vorrangig die zentralen Ebenen. Auch bei der Analyse der Parteistrukturen werden noch sehr selten die örtlichen Gliederungen betrachtet.21 Bemerkenswerterweise gibt es erst sehr wenige Darstellungen über die einzelnen städtischen Institutionen22, zu den Mitgliedern der Stadtverordnetenversammlungen, zur Arbeit der Räte und ihrer Abteilungen und zur Tätigkeit der ständigen Kommissionen23, die die unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten dieser Institutionen, die im DDR-Recht alle unter dem Begriff „örtliche Volksvertretung und ihre Organe“ gefasst wurden, verdeutlichen. Eingehende Untersuchungen, die die Gestaltungsspielräume, informellen Strategien und das spezifische Selbstverständnis örtlicher Akteure aufzeigen, gibt es bislang lediglich für Teilbereiche des kommunalen Handelns wie die Stadtplanung.24 Die Rolle der Akteure vor Ort bleibt so über die Analyse der formal-rechtlichen Bestimmungen hinaus noch ungenügend erforscht. 18 Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003. 19 Siehe http: / /www.irs-net.de/download/industriestaedte.pdf. 20 Vgl. Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mähler (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn u.a. 2003 und Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002 und die Monographien von Herman Weber, Geschichte der DDR, München 2000; Klaus Schroeder, SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998; Dieter Staritz, Geschichte der DDR 1949–1990, Frankfurt/Main 1996, in denen die Stadt als Untersuchungsfeld gänzlich fehlt. 21 Zu Grundorganisationen der SED siehe Katrin Passens, Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel, Berlin 2003, zur Bezirksebene der SED vgl. z. B. Norbert Moczarski (Hrsg.), Die Protokolle des Sekretariats der SED-Bezirksleitung Suhl. Von der Gründung des Bezirkes Suhl im Juni 1952 bis zum 17.6.1953, Weimar 2001. 22 Vgl. zum Selbstverständnis der Bürgermeister: Kathrin Hartmann, „Ist das nun Politik?“ Politikbegriff und Selbstverständnis von Bürgermeistern in Ost- und Westdeutschland, Wiesbaden 2003; Zu den lokalen Eliten vgl. auch Sabine Lorenz: Kommunaler Elitenwandel: Rekrutierung, Zusammensetzung und Qualifikationsprofil des lokalen administrativen Führungspersonals in Ostdeutschland, in: Stefan Hornbostel (Hrsg.), Sozialistische Eliten. Horizontale und vertikale Differenzierungsmuster in der DDR, Opladen 1999, S. 85–103. 23 Vgl. z. B. zur Arbeit der Wohnungskommissionen: Jay Rowell, „Die „sozialistische Demokratie“ im Quartier: das verlängerte Ohr und Arm der Verwaltung, in: FRDA – Die Französische Forschung über die DDR, 2004, http: / /frda.fr.funpic.de. 24 Vgl. insbesondere Frank Betker, „Wieder Straßen und Plätze organisieren.“ Institutionen und Erfahrungen in der kommunalen Stadtplanung der DDR, in: Die alte Stadt, 2, 2005, S. 122– 135, sowie Artikel in diesem Band.
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Ebenso sind die Bedeutung der kommunalpolitischen Akteure innerhalb des Institutionengefüges des SED-Staates und ihre Interaktion mit den weiteren örtlichen Institutionen und mit der Bevölkerung bis heute ungeklärt. In der wissenschaftlichen Diskussion über Durchherrschung und Partizipationsmöglichkeiten im SED-Staat spielte die lokale administrative Ebene bisher eine untergeordnete Rolle. Die Bedeutung der „Schnittstelle Stadt“ in den Beziehungen zwischen dem zentralen politischen System der DDR und den gesellschaftlichen Teilbereichen und deren Wirksamkeit für die Funktionsfähigkeit des gesamten Staates ist demnach noch ein Desiderat der Forschung.25 Strukturen des Zentralismus in der DDR Die Gemeinden waren im Sinne des DDR-Rechtssystems keine Selbstverwaltungskörperschaften, sondern galten als gegenüber den höheren Ebenen weisungsgebundene „örtliche Staatsorgane“. Nachdem es 1945 in der SBZ zunächst Ansätze zur Wiedereinführung von Strukturen der kommunalen Selbstverwaltung gegeben hatte, erfolgte eine nachhaltige Entmachtung der Kommunen bereits bald nach 1947.26 Der „Demokratische Zentralismus“, in dem von Lenin entwickelten Sinne, war faktisch spätestens seit 1952 in Kraft; 1968 fand er schließlich auch seine formelle Verankerung in der Verfassung der DDR. In der offiziellen Sichtweise der DDR wurde die Machtlosigkeit der Städte zu einem Vorteil verklärt: Städte und Gemeinden galten als „Glieder des einheitlichen sozialistischen Staatswesens“ und als die „territorialen Zentren des sozialistischen Aufbaus.“27 Ihre gesellschaftliche Kraft und ihre historische Überlegenheit gegenüber der kommunalen Selbstverwaltung im kapitalistischen Staat ergäben sich gerade daraus, „daß sie Träger der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht des werktätigen Volkes“ wären.28 Begrenzte kommunale Eigenverantwortung sollte nur noch im strengen politischen und finanziellen Rahmen der zentralen Leitung und Planung bestehen. Die lokalen Eigeninteressen und Gestaltungsmöglichkeiten traten so weitgehend zugunsten der Funktion als „Transmissionsriemen“ der Interessen des Gesamtstaates zurück. Die Wahrung örtlicher Sonderinteressen und lokale Eigensinnigkeiten galten nunmehr „als gegen das Volk gerichteter lokaler bzw. ressortmäßiger Egoismus“.29 Die völlige Umsetzung dieses zentralistischen Konzepts hätte jedoch den Verlust weiter Teile des Potenzials lokaler Problemlösungskompetenz bedeutet, so dass fak25 Zur methodischen Herangehensweise siehe auch Beitrag von Albrecht Wiesener in diesem Band. 26 Vgl. hierzu vor allem Frank Betker, Handlungsspielräume von Stadtplanern und Architekten in der DDR, in: Holger Barth (Hrsg.), Planen für das Kollektiv. Handlungs- und Gestaltungsspielräume von Architekten und Stadtplanern in der DDR. Dokumentation des 4. Werkstattgespräches vom 15. –16.10.1998, Erkner S. 11–33. 27 Deutscher Städte- und Gemeindetag der DDR, Sozialistische Kommunalpolitik in der Deutschen Demokratischen Republik, Dresden 1968, S. 5. 28 Gerhard Schulze u.a. (Autorenkollektiv), DDR. Gesellschaft Staat Bürger, Berlin 1974, S. 161. 29 Bartsch, Aufgaben und Struktur, S. 111.
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tisch nie ganz auf die Gewährung von Spielräumen verzichtet werden konnte. Da sich bereits bald nach der Zentralisierung der 1950er Jahre auch die Schattenseiten der dominanten Steuerung von oben zeigten, gab es mehrfach Anläufe auch zur formellen Stärkung der Rolle der Kommunen. Alle zeitweisen Bestrebungen zur Dezentralisierungen blieben aber unvollständig oder wurden nach einiger Zeit wieder zurückgenommen, da sie als Relativierung des Herrschaftsanspruchs der Staatspartei erscheinen konnten. Seit den 1970er Jahren erfuhr die Stellung der kreisangehörigen Gemeinden zumindest eine theoretische Aufwertung. Bis in die 1980er Jahre ist in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion durchaus eine „Hinwendung zum lokalen Geschehen“30 zu beobachten. Die „Stärkung der Staatsmacht in den kreisangehörigen Städten und Gemeinden“, die auch der „Mobilisierung örtlicher Reserven“ dienen sollte, war angesichts der zunehmenden Ressourcenverknappung eine wichtige Zielsetzung der zentralen Politik der 1980er Jahre. Parteiintern konnten die SED-Bürgermeister die starke Einschränkung ihrer eigenen Entscheidungsmöglichkeiten kritisieren und größeren Spielraum fordern.31 Entgegen der zahlreichen verbalen Bekundungen unterblieb letztlich eine nachhaltige Verbesserung der prekären rechtlichen und materiellen Ausstattung der Kommunen. Auch das letzte Kommunalrecht der DDR von 1985 führte nur zu punktuellen Fortschritten.32 Die Staatsverwaltung der DDR zeichnete sich unterhalb der zentralen Ebene durch ein dreistufiges System mit den Institutionen Bezirk, Kreis und Kommune aus. Alle galten gleichermaßen als „örtliche Organe der Staatsmacht“ und besaßen mit den Körperschaften Rat und Volksvertretung im Wesentlichen die gleiche Organisationsstruktur. Trotz dieser begrifflichen Gleichstellung der drei Ebenen bestanden fundamentale Unterschiede in der faktischen politischen Durchsetzungskraft. Vor allem die Bezirke gewannen durch ihre erhebliche Ressourcen- und Personalausstattung ein deutlicheres faktisches Eigengewicht als es die Bezeichnung „örtliches Staatsorgan“ suggeriert, wenn sie auch gegenüber der Zentrale weisungsgebunden blieben. Die nach dem Leitbild des „demokratischen Zentralismus“ postulierte „doppelte Unterstellung“33 der Räte, als den ausführenden Institutionen, unter die übergeordneten exekutiven Organe und die jeweiligen örtlichen Volksvertretungen diente formal der Sicherstellung der Einheitlichkeit der staatlichen Lenkung. Die übergeordneten Räte waren ebenso wie die Leiter von höheren Fachabteilungen berechtigt, Weisungen an die jeweils untergeordneten Ebenen zu erteilen, wobei es trotz formell getrennter Aufgabenbereiche in der Praxis oft zu willkürlichen Ein30 Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 69. 31 Aufgaben bei der weiteren Stärkung der Staatsmacht in den kreisangehörigen Städten und Gemeinden, 27.05.1982, S. 14 Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Bez. Pdm. Rep. 401 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam Nr. 22706. Der Referent wollte dieses Problem den Bezirken zur besonderen Aufmerksamkeit empfehlen. Der Absatz wurde aber nicht vorgetragen, sondern nachträglich gestrichen. 32 Vgl. Roggemann, Kommunalrecht und Regionalverwaltung, S. 98. 33 Vgl. Hausschild, Die örtliche Verwaltung, S. 126f, Hartmann, „Ist das nun Politik?“, S. 11–12. In Bezug auf die Räte siehe §9 (1), für die Fachorgane §11(3) GöV 1985, Rosmitha Dittmann u.a. (Redaktionskollegium), Kommentar zum Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen. Kommentar, Berlin 1989, S. 53.
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griffen in die Befugnisse der nachgeordneten Stellen kam.34 Die Bindungen an zentrale Institutionen gingen aber noch weit darüber hinaus, da parallel zu allen staatlichen Strukturen die Hierarchie der SED von der Bezirks- über die Kreis- bis hinunter zur Ortspartei für die Durchsetzung der Politik der zentralen Staatspartei sorgte. Weitere zentrale Steuerungen wurden durch die zusätzliche Parallelität des Sicherheits- und Wirtschaftsplanungsapparates sichergestellt. Die eigentlich im Gesetz vorgegebene zweite, horizontale Seite der „doppelten Unterstellung“ gegenüber der „Legislative“ wurde in der Praxis nicht wirksam, da die Volksvertretungen in Entscheidungs- und Kontrollfragen gegenüber den Räten faktisch völlig marginalisiert waren.
Abb. 1: Schematische Darstellung der administrativen Hierarchie in der DDR; Eigene Darstellung
Der hierarchische Aufbau der Staatsverwaltung spiegelte sich auch im Städtesystem der DDR wider.35 Die Gemeinden verfügten je nach Stellung im administrativen System über eine sehr unterschiedliche Ausstattung mit formellen und informellen Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Schwäche der Kommune in der DDR zeigte sich besonders ausgeprägt am Ende der Hierarchie in den kreisangehörigen Gemeinden, in denen zwei Drittel der Bevölkerung der DDR lebten. Hier kumulierten die Schwierigkeiten der Versorgung und der Erhaltung der Bausubstanz, während diese Kommunen gleichzeitig nur über bescheidene Mittel zur eigenständigen Lösung ihrer zentral verursachten Probleme verfügten. Die Bevölkerung in Kleinstädten zeigte sich deshalb mit der Kommunalpolitik auch in höherem Maße unzu34 Vgl. Bartsch, Aufgaben und Struktur, S. 111. 35 Vgl. Carsten Benke/Thomas Wolfes, Stadtkarrieren – Typologie und Entwicklungsverläufe von Industriestädten in der DDR, in: Christoph Bernhardt/Thomas Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. DDR-Städtebau im internationalen Vergleich. Erkner 2005, S. 127–164.
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frieden als in anderen Siedlungstypen.36 Einige kreisangehörige Kleinstädte wie Ludwigsfelde, Leinefelde oder Premnitz waren aber sehr wichtige Industriestandorte, wodurch ihnen über ihre marginalisierte politische Rolle hinaus eine große ökonomische Bedeutung zukam, die spezifische Handlungsspielräume für die Lokalpolitik eröffnen konnte. Zentrale Bezugsgrößen des kommunalen Handelns in den kleineren Gemeinden waren vor allem die Ebenen des Bezirks und des Kreises. Lediglich während der Durchführung wichtiger Prestigevorhaben rückten diese Kommunen kurzzeitig in das direkte Blickfeld der Staats- und Parteiführung. Im Regelfall wurden nach den politischen Vorgaben der Zentrale durch die Staatliche Plankommission die Kennziffern, wie z. B. das Bauvolumen und die bereitzustellenden Finanzmittel für jeden Bezirk festgelegt. Im weiteren Verfahren verfügte der Bezirk in Teilbereichen in Bezug auf die Verteilung der Mittel über eigenen Spielraum. Eine prägende Rolle im Alltagshandeln der Kommunalpolitik übernahmen insbesondere die Kreise. Während im bundesdeutschen Rechtssystem die Gemeindeebene grundsätzlich vor der Kreisebene Vorrang hat37, verfügten die Kreise in der DDR über erheblich größere Machtbefugnisse. Für kommunalpolitischen Alltag war daher nicht so sehr die Abhängigkeit der Gemeinden von der Zentrale kennzeichnend als vielmehr die Aufgaben- und Ressourcenverflechtung mit den Kreisen.38 Der Rat des Kreises war in vielen Bereichen das bestimmende Exekutivorgan übergeordneter Beschlüsse auf lokaler Ebene, dessen Anweisungen die Stadt zu befolgen hatte.39 Zum Zweck der „Anleitung“ fanden regelmäßige Dienstbesprechungen mit den Bürgermeistern statt. Außerdem wurden die kreisangehörigen Gemeinden durch die rechtsverbindlichen Jahrespläne der Kreise gesteuert. Nur ein verschwindend kleiner Teil ihrer finanziellen Mittel konnten die Städte letztlich nach eigener Prioritätensetzung verwenden. Mächtigster Akteur innerhalb des Kreisgebietes war noch vor dem Vorsitzenden des Rates des Kreises der erste Sekretär der Kreispartei. Die Kreispartei verfügte neben dem förmlichen Machtmittel der Parteianweisung auch durch ihren umfangreichen Mitarbeiterapparat über großen faktischen Einfluss, übernahm bei nahezu allen relevanten Fragen auf der Kreisebene die Vorbereitung von Beschlüssen und war selbst mit Detailfragen des Alltagslebens im Kreis beschäftigt. Die kommunalen Verantwortlichkeiten waren in der DDR zwar nominell weit bemessen, die Handlungsmöglichkeiten aber durch übergeordnete Organe und fehlende örtliche Finanz- und Ressourcenverfügung rechtlich und faktisch stark eingeengt. Die Formulierungen in den DDR-Verfassungen zeigten verbal durchaus deutliche Anklänge an die Bestimmungen zum lokalen Selbstverwaltungsrecht der Bundesrepublik. Nach Artikel 81 der Verfassung von 1968 bestimmten die Kommunen „auf der Grundlage der Gesetze in eigener Verantwortung über alle Angele36 Siegfried Grundmann, Räumliche Disparitäten in der DDR, in: Lothar Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S. 159–202, hier S. 189. 37 Vgl. Hausschild, Die örtliche Verwaltung, S. 154. 38 Vgl. ebd. 39 Vgl. Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 256.
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genheiten, die ihr Gebiet und seine Bürger betreffen.“40 Eine verfassungsrechtliche Kernbestandsgarantie der Zuständigkeit örtlicher Organe konnte daraus jedoch nicht abgeleitet werden.41 Gegenüber dem „klassischen“ Aufgabenbereich der kommunalen Selbstverwaltung verloren die Gemeinden in der DDR insbesondere die Kontrolle über die Stadtplanung und über große Teile der klassischen Daseinsvorsorge, wurden aber Träger einer „andersartigen Stadtwirtschaft“.42 Die Kommunen übernahmen neben Gebieten der traditionellen Leistungsverwaltung neue Aufgaben im Bereich der Bauwerterhaltung, des kulturellen Lebens, der für die Bevölkerung sehr wichtigen Kontrolle des Konsumangebotes und eine ganz neue Verantwortung in der Frage der Wohnraumvergabe. Diese Kompetenz, die die DDR-Städte wesentlich von westlichen Städten unterschied, ist aber zu relativieren, da faktisch die Betriebe einen großen Teil der Verteilungsverantwortung übernahmen. Über die „örtliche Versorgungswirtschaft“ gehörte auch die Unterhaltung der städtischen Infrastruktur zu den örtlichen Aufgaben. Allerdings lagen auch wesentliche Zuständigkeiten für Energie, Wasser und Verkehr bei bezirklichen Kombinaten und die wichtigen sozialen Einrichtungen der Schulversorgung und Gesundheitseinrichtungen befanden sich im Verantwortungsbereich der Kreise.43 Der geringen rechtlichen und materiellen Ausstattung der kommunalen Verwaltung stand gleichzeitig eine sehr große Verantwortung für die Organisation des städtischen Alltags gegenüber – auch aus Sicht der Bevölkerung. Den Menschen war die reale Machtverteilung in der zentralen Parteiherrschaft in der DDR selbstverständlich präsent, dennoch fungierten die leicht erreichbaren städtischen Organe als wichtige Ansprechpartner bevor ein Anliegen an die Kreisparteileitung gerichtet oder zum Mittel der „Staatsratseingabe“ gegriffen wurde. Für Fragen der Konsumgüterversorgung, des Stadtbildes, der Müllentsorgung und des Wohnungsangebotes wurde ganz im Sinne des traditionellen Verständnisses zunächst die „Stadt“ verantwortlich gemacht, auch wenn diese Zuweisung nicht die realen Machtverteilungen widerspiegelte. „Wenn irgendjemand eine Zeitung haben wollte, Eulenspiegel oder Wochenpost oder Magazin,“ schildert ein ehemaliger lokaler Verantwortlicher, „dann sind sie zu mir gekommen und haben sich beschwert, dass man die nicht kaufen konnte. Ich hatte aber gar nichts damit zu tun, weil ich das gar nicht beeinflussen konnte. War aber dafür zuständig nach Gesetz: kulturelle Entwicklung im Territorium, verantwortlich, bumm.“44
40 41 42 43 44
Art. 81 (2) Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 9. April 1968. Vgl. Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 31. Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 263. Vgl. Bartsch, Aufgaben und Struktur, S. 112. Interview Ratsmitglied 1, Ludwigsfelde 2003.
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Die kommunale Praxis in Ludwigsfelde Zentrale Fragestellungen der DDR-Kommunalpolitik, vor allem die informellen Handlungsspielräume lokaler Politik und die Konkurrenzen mit anderen politischen und wirtschaftlichen Institutionen, sollen im Folgenden anhand des Beispiels der Industriestadt Ludwigsfelde vertieft werden. Diese Stadt ist ein besonders geeignetes Untersuchungsfeld, da hier sowohl rechtliche Ohnmacht wie faktische Eigenmacht einer kleineren Kommune gegenüber Bezirk, Kreis und Großbetrieb plastisch dargestellt werden können. Da Ludwigsfelde weitgehend als eine neue Stadt der DDR zu charakterisieren ist, die keine Traditionen kommunaler Selbstverwaltung besaß, lässt sich hier außerdem exemplarisch die Herausbildung von Strukturen kommunalen Handels unter den Bedingungen der DDR nachvollziehen.
Abb. 2: Ansicht von Ludwigsfelde nach 1990; Quelle: Wiss. Sammlungen des IRS Erkner
Das wenige Kilometer südlich von Berlin gelegene Ludwigsfelde entwickelte sich erst durch eine Werksansiedlung in den 1930er Jahren aus einer ländlichen Siedlung zu einem Industrieort. Seit 1952 erfuhr Ludwigsfelde einen starken Ausbau als bedeutender Produktionsstandort der DDR, bis es im Zusammenhang mit der Ansiedlung der wichtigen LKW-Fertigung schließlich 1965 zur Stadt erklärt wurde.45 45 Vgl. Carsten Benke, Ludwigsfelde: Stadt der Automobilbauer, in: Holger Barth (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001, S. 83–97.
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Trotz großer industrieller Bedeutung blieb Ludwigsfelde mit etwa 20.000 Einwohnern eine kleine Stadt, kreisangehörig und damit am Ende der administrativen Hierarchie. Die Kommunalpolitik in Ludwigsfelde war sowohl durch die Zusammenarbeit als auch den Konflikt mit den in der Nachbarstadt Zossen angesiedelten Kreisinstitutionen geprägt, wobei die Rivalitäten zwischen den administrativen Ebenen zusätzlich durch eine Städtekonkurrenz verstärkt wurden. Die Industriestadt, die nach 1952 auf die vierfache Größe der Kreisstadt heranwuchs, fühlte sich häufig nur wenig verstanden von der Verwaltung in der eher ackerbürgerlichen Stadt. In den Augen der Ludwigsfelder Verwaltung und Einwohner wurde ihre Stadt zur eigentlichen „heimlichen Kreisstadt“. Der Kreis förderte entsprechend der zentralen Vorgaben die „Automobilarbeiterstadt“, war aber auch bemüht, Mittel in die Kreisstadt und in die ländlichen Räume des Territoriums zu lenken. Ludwigsfelde als das „Zentrum der Arbeiterklasse im Kreis“ empfand die Ressourcenzuteilung und die Zusammenarbeit vor allem in den ersten Jahrzehnten als ungenügend. Insbesondere bei Fragen der Dienstleistungs- und Konsumgüterversorgung und Infrastrukturausstattung kam es zu zahlreichen Konflikten. Während der Kreis die Industriestadt als ohnehin quantitativ sehr gut versorgt ansah – „Ihr in Ludwigsfelde wollt ja bloß noch goldene Klinken“46 –, war die Wahrnehmung in Ludwigsfelde eine andere, da man sich nicht an Zossen sondern an Potsdam und Berlin orientierte. Der Konflikt ging so weit, dass der Rat der Stadt sogar eine Art „Kleinkrieg“ und die Absicht des Kreises die Stadt „an die Wand spielen“ zu wollen registrierte.47 In vielen Fällen konnte sich die Stadt – insbesondere mit Hinweis auf ihre republikweite ökonomische Bedeutung – gegen den Kreis durchsetzen. Die Konkurrenzsituation zwischen Stadt- und Kreisverwaltung um Kompetenzen und Ressourcen blieb bis zum Ende der DDR erhalten, entschärfte sich aber deutlich. Die stark angewachsene Industriestadt gewann in den 1970er und 80er Jahren zunehmend im Verwaltungshandeln an Gewicht gegenüber dem Kreis, viele wichtige Fragen konnten nun auch direkt mit dem Bezirk geklärt werden.48 Die sich im Laufe der Jahre herausbildenden persönlichen Netzwerke in Kreis und Bezirk und die vergrößerte und professionalisierte Ludwigsfelder Verwaltung ermöglichten faktisch eine verbesserte Interessendurchsetzung, ohne dass sich aber die grundsätzlichen formellen Machtverhältnisse änderten.
46 Interview Ratsmitglied 2, Ludwigsfelde 2003. 47 58. Sitzung des Rates vom 28.10.1976, S. 3, Stadtarchiv Ludwigsfelde (StadtAL) Nr. 171001 017. 48 „Die Briefkastenfirma Kreis ja, die könnten wir eigentlich vergessen. Wissen sie warum, weil wir den Eindruck hatten, dass alles was vom Rat des Bezirkes Potsdam kam, nach Zossen ging und die es in einen Umschlag gesteckt und an uns weitergeschickt haben.“ Interview Ratsmitglied 1, Ludwigsfelde 2003.
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Die Betriebe als Akteure auf kommunaler Ebene Die Handlungsmöglichkeiten der Städte in der DDR waren nicht nur durch das zentralistische System, sondern auch durch die Macht der am Ort ansässigen Großbetriebe eingegrenzt. Eine Kooperation mit den Großbetrieben eröffnete jedoch auch Möglichkeiten der Interessendurchsetzung gegenüber höheren administrativen Ebenen und die Chance zur Verbesserung der örtlichen Versorgung. Erfolgreiche Stadtpolitik war ohne die Ressourcen der großen Kombinate in ihren Sozialund Kulturfonds kaum durchzuführen. Die Gemeinden waren deshalb in zahlreiche Kooperationsbeziehungen mit den Betrieben zur Erfüllung der lokalen gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Aufgaben eingebunden. Nach Neckel wurden die Kommunen durch die vielfältigen Abhängigkeitsverhältnisse zum „Anhängsel der lokalen Kombinatsstrukturen“49, die Betriebsleitungen fungierten als „das eigentliche Zentrum lokaler Politik“.50 Angesichts des breiten Angebots von Diensten der Daseinsvorsorge der Betriebe kommt die Forschung zum Schluss, dass „kein Platz für eine eigene sozialpolitische Rolle der Kommunen“51 geblieben sei.
Abb. 3: Kulturhaus in Ludwigsfelde: Im Stadtzentrum dominierte das große Klubhaus des Kombinats, während die Stadtverwaltung in einer Baracke untergebracht war; Quelle: Fotographischer Verlag R. Kallmer, Zwickau 1968
Bei dieser Sichtweise besteht aber die Gefahr, die Bedeutung der Betriebe für die Stadtpolitik überzubewerten. Ein großer Anteil der Verantwortung für die Gesamtbevölkerung am Ort blieb im Aufgabenbereich der Kommunen. Viele Einrichtungen 49 Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 257. 50 Berking/Neckel, Außenseiter als Politiker, S. 155; Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 258. 51 Häußermann, Von der Stadt im Sozialismus, S. 9.
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wurden zwar von den Großbetrieben finanziert, später aber im Betrieb an die Kommunen abgegeben. Die Schulen, Infrastrukturen und auch ein Großteil der Kinderbetreuung gehörten von vornherein zum Kern des Verantwortungsbereichs der Kommunen und Kreise. Trotz der wichtigen Stellung der Betriebe, die durch zahlreiche eigene Konsum-, Kultur- und Freizeitangebote das Alltagsleben der Werksangehörigen nachhaltig prägten, boten sie nie das ganze Spektrum kommunaler Daseinsvorsorge, zudem war ihr Angebot nicht für alle Stadtbewohner verfügbar. Die konstatierte reine Dominanz der Betriebsleitungen in der Kommunalpolitik wird außerdem dadurch relativiert, dass bei weitem nicht alle Städte über wichtige Sitze von Großbetrieben verfügten. Viele Städte waren mit einer Vielzahl kleiner Betriebseinheiten auf ihrem Gemeindegebiet konfrontiert, die nicht über die Ressourcen der großen Kombinate verfügten. Die Großbetriebe besaßen zwar einen potenziell umfassenden Gestaltungsanspruch in ihrem Territorium. Diesen konnten und wollten sie aber nicht in Bezug auf alle kommunalen Tätigkeiten einlösen und dauerhaft gesamtstädtische Verantwortung übernehmen. Im Zentrum der Kombinatspolitiken standen immer die Sicherstellung der eigenen industriellen Produktion und die Planerfüllung. Als Mittel zum Zweck diente dem auch die Unterstützung der Stadt bei der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten im Ort. In Fragen der Wohnraumverteilung und Zuteilung von Kontingenten für Infrastrukturnutzungen kam es dabei aber immer wieder zu Konflikten. Die Betriebe unterstützten die Städte in vielfältiger Weise und übernahmen städtische Aufgaben, ohne jedoch institutionell an ihre Stelle zu treten. Trotz der engen Vernetzung waren Städte und Betriebe jeweils spezifische lokale Akteure mit unterschiedlichen Aufgaben und Selbstverständnissen. Als Organisator des kommunalen Alltagslebens und als Koordinator von staatlichen, betrieblichen und Bevölkerungsinitiativen zur Umsetzung von lokalen Projekten blieben die Räte der Städte unverzichtbar. Die Unterstützungen der Kombinate wie die Gegenleistungen der Städte wurden in den jährlichen Kommunalverträgen festgelegt, wobei sich die Betriebe in den komplexen Aushandlungsprozessen fast immer in der besseren Position befanden. Dennoch mussten auch sie im Sinne der „territorialen Reproduktion“ an der Funktionsfähigkeit ihrer Gemeinden interessiert sein. Durch die Kommunalverträge wurden daher finanzielle Mittel, Materialien und personelle Ressourcen bereitgestellt, die von der Unterstützung von Straßenausbesserungen, über Mittel für Kulturveranstaltungen bis zu Partnerschaften für Stadtteile und Schulen reichen konnten. Kooperatives Verwaltungshandeln und flexible Vereinbarungen zwischen Kommunen und Betrieben schuf angesichts der finanziellen Ressourcenknappheit einen Ausgleich und milderte damit Schwerfälligkeiten des überzentralisierten und starren Plansystems wenigstens partiell. Obwohl sich für die Betriebe aus den gesetzlichen Bestimmungen Rechtspflichten zur Zusammenarbeit mit den Kommunen ergaben, konnten sie selbst Art, Umfang und Adressat der Mittel bestimmen, so dass die Gemeinden vielfach vom Wohlwollen der Betriebskollektive abhingen.52 52 Vgl. Hausschild, Die örtliche Verwaltung, S. 157 und 161.
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Mit der Ressourcenverknappung seit Mitte der 1980er Jahre bedurfte es immer größerer Anstrengungen, um die Industriebetriebe zum Abschluss von Kommunalverträgen zu bewegen, die zudem häufig nur noch wenig substanziellen Inhalt hatten.53 Das LKW-Kombinat in Ludwigsfelde In Ludwigsfelde zeigte sich die Dominanz des ansässigen Kombinats mit fast 10.000 Beschäftigten im Ort mit etwa 20.000 Einwohnern besonders augenfällig. Das LKW-Werk war ein mächtiger Akteur mit erheblichen Ressourcen, der die Lebensrealität der Bewohner – die zu einem großen Teil Autowerker waren – entscheidend prägte. Marginal war auch die finanzielle Ausstattung der Kommune im Vergleich zum Kombinat: Der Kultur- und Sozialetat des LKW-Werkes überschritt die entsprechenden Mittel der Stadt um ein Vielfaches. Insbesondere seine direkten Beziehungen zur Staatsführung und die republikweite Bedeutung seiner Exportproduktion sicherten dem Kombinat vielfältigen Einfluss in den Aushandlungsprozessen auf den unterschiedlichen administrativen Ebenen. Gleichzeitig resultierte aus dieser wichtigen Rolle auch eine hohe Verantwortung für das Territorium: Misserfolge der Produktion durften gerade bei einem so bedeutenden Betrieb nicht zugelassen werden. Dies schränkte einerseits den Spielraum der Stadt ein, andererseits eröffnete eine Kooperation große Möglichkeiten. Die Gemeinde lediglich als einen Bittsteller zu bezeichnen, greift zu kurz – die Abhängigkeiten waren durchaus beiderseitig. Der Betrieb hatte z. B. mit erheblicher Fluktuation seiner Arbeitskräfte zu kämpfen und musste deshalb bemüht sein, gleichzeitig die Bindung an den Wohnort und das Werk zu stärken. Wichtig war aus Sicht des Betriebes auch die Verbesserung der Kinderbetreuungsmöglichkeiten am Ort, um die Ausfälle der weiblichen Beschäftigten in der Produktion zu reduzieren. Die Zusammenarbeit empfanden beide Seiten lange Zeit als ungenügend. Insbesondere in den Anfangsjahren neigte das Kombinat dazu, die kleine Gemeindeverwaltung zu umgehen und nicht als gleichrangigen Partner anzusehen. Die Kooperation formalisierte sich in den Jahrzehnten stärker, musste aber immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden. Das Werk konnte sich bei Produktionskrisen auch aus Teilen seines Engagements zurückziehen. In der Regel akzeptierten die beiden lokalen Akteure weitgehend die Kompetenzen des anderen, der Kombinatsleiter versuchte zwar Einfluss zu nehmen, selten aber umfassend in städtische Belange hineinzuregieren. „Es gab kein gegenläufiges oder zielgerichtetes Gegeneinander. Ich weiß, dass es in anderen Städten so gelaufen ist. Da hat der Betriebsdirektor oder Kombinatsdirektor der Stadt gesagt, macht das so und so. Das hat es hier nicht gegeben.“54
53 Vgl. Püttner/Rösler, Gemeinden und Gemeindereform, S. 214. 54 Interview Ratsmitglied 2, Ludwigsfelde 2003.
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Das Werk, in den 1960er Jahren noch ein notorischer Planschuldner, wurde in den 1980er Jahren ein Musterbetrieb der DDR, während sich auch die städtischen Strukturen festigten. Trotz vielfältiger Vernetzungen konsolidierten sich beide so in ihren jeweiligen kommunalen Rollen, blieben aber aufeinander angewiesen, die Stadt ungleich stärker als das Kombinat. Städtische Institutionen und lokale Elitenformation Die lokalen administrativen Gremien wiesen ebenso wie die Kombinatsverwaltungen einen hohen Anteil von SED-Angehörigen auf, wobei deren Anteil mit wachsender Distanz von der Zentrale abnahm. Während der Anteil in den Apparaten der Bezirke um 1980 noch 59% betrug, waren in den Städten über 10.000 Einwohner noch 35% und den kleineren Gemeinden nur 17% der Mitarbeiter SEDMitglieder.55 Die Schlüsselpositionen blieben aber auch auf den unteren administrativen Ebenen von Parteimitgliedern besetzt. Neben der formellen Parteiweisung war die Kadernomenklatur56 ein wesentliches Herrschaftsinstrument der SED. Die Posten bis zur kleinsten Einheit wurden entsprechend den langfristigen Besetzungsplänen der übergeordneten Staats- und Parteigremien an politisch und fachlich vorbereitete Kader vergeben.57 Allerdings wurde die Postenbesetzung der Verwaltungen in kleineren Kommunen häufig durch Personalnot bestimmt, weshalb in der Realität weniger strategische Nomenklaturplanungen als Improvisationen zum Tragen kamen. Die Verwaltungen kleiner Städte waren eher wenig attraktiv für aufstiegsorientierte Funktionäre und wirkten wie „Karrieresackgassen“. Langfristige Bindungen an ein lokales Amt konnten jedoch auch Identifikation und Engagement befördern. Innerhalb der Großbürokratie DDR, die für zahllose Staats-, Partei- und Kombinatsstrukturen und Massenorganisationen riesige Apparate vorhielt, war für die Stadtverwaltungen in den kreisangehörigen Städten nur noch eine bescheidene Mindestausstattung vorgesehen, die häufig kaum zur Erfüllung der Aufgaben ausreichte. Die Herausbildung einer lokalen Elite in einer Kleinstadt stützte sich deshalb auf eine kleine Gruppe Verantwortlicher innerhalb des Rates der Stadt, in der Verwaltung und den Kommissionen, in der Ortspartei und auch in den ansässigen Großbetrieben, von deren Geschick Erfolg oder Misserfolg kommunaler Politik entscheidend abhing. In den innerörtlichen Aushandlungsprozessen konnten neben diesen offiziellen Vertretern auch Leiter von kleineren Betrieben, Wohnungsgenossenschaften und Bildungseinrichtungen wichtige informelle Schlüsselpositionen gewinnen. 55 Diese Anteile wurden allerdings als sehr unzureichend angesehen, vgl. Aufgaben bei der weiteren Stärkung der Staatsmacht in den kreisangehörigen Städten und Gemeinden, 27.5.1982, S. 31, BLHA Bez. Pdm. Rep. 401 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam Nr. 22706. 56 Matthias Wagner, Gerüst der Macht. Das Kadernomenklatursystem als Ausdruck der führenden Rolle der SED, in: Arnd Bauerkämper/Jürgen Danyel/Peter Hübner/Sabine Roß (Hrsg.), Gesellschaft ohne Eliten? Führungsgruppen in der DDR, Berlin 1997, S. 87–108. 57 Vgl. Lorenz, Kommunaler Elitenwandel, S. 91.
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Diese strukturelle Schwäche der unteren Ebene in kreisangehörigen Gemeinden war nicht nur auf die staatliche Ebene beschränkt, sondern erstreckte sich auch auf die Parteiverwaltung. Die umfangreichen und ausdifferenzierten Strukturen der SED reichten durch die starke Orientierung auf die Kreise und Kombinate nicht bis in die Ortsparteien hinab. Die Mehrzahl der SED-Angehörigen im Gemeindegebiet war über die Grundorganisationen der großen Betriebsparteien organisiert, die nicht der Ortsparteileitung unterstanden. Das Verhältnis der örtlichen Parteigliederungen gegenüber dem Rat der Stadt hing sehr stark von den Persönlichkeitsstrukturen der Verantwortlichen ab. Anders als der erste Sekretär der Kreispartei, der gegenüber dem Vorsitzenden des Rates des Kreises bzw. den Bürgermeistern der kreisfreien Städte eindeutig dominierte, war der Vorsitzende der Ortspartei angesichts seiner schwachen Basis nicht zwangsläufig gegenüber dem Bürgermeister die entscheidende Institution. Dennoch wurden in der Ortsparteileitung, zu der auch meist der Bürgermeister und weitere Ratsmitglieder gehörten, alle wesentlichen Beschlüsse des Rates und der Stadtverordneten vorbereitet. Da die Stadtverordneten durch ihre Marginalisierung gegenüber Rat und Ortspartei kaum ihrer Aufgabe der Kontrolle der Stadtverwaltungen nachkommen konnten, erschöpfte sich ihre Tätigkeit hauptsächlich in der Akklamation und Durchführung bereits beschlossener Entscheidungen.58 Beliebt war die Anwesenheit in den Stadtverordnetensitzungen nicht; charakteristisch ist der geringe Anwesenheitsgrad in den Versammlungen. Immerhin dienten die – seltenen – Tagungen der Information der Abgeordneten und damit der Bevölkerung über die Tätigkeit der Verwaltung. Das Programm dieser Versammlungen war stark ritualisiert, nur in ganz wenigen Fällen wurde die sorgfältige Inszenierung der Stadtverordnetenversammlungen durch abweichende Meinungen in Frage gestellt, insbesondere wenn es massive Enttäuschungen über die Nichteinhaltung von Versprechungen der übergeordneten Organe gab.59 Die Stadtverordneten waren über die Teilnahme an den Versammlungen hinaus angehalten, Funktionen in den Ständigen Kommissionen z. B. zur Wohnraumverteilung oder Versorgung zu übernehmen. Diesen kam insbesondere in kleineren Städten mit unzureichendem Verwaltungsapparat eine wichtige Rolle in der kommunalen Alltagsarbeit zu. Über die Arbeit in den Kommissionen gewannen so einzelne engagierte Abgeordnete durchaus größeren Einfluss auf das lokale Geschehen, als es die symbolische Teilnahme an der „Abstimmungsmaschinerie“ ermöglichte. Der große Arbeitsaufwand für die Stadtverordneten bei gleichzeitiger weitgehender Einflusslosigkeit führte aber auch zu Enttäuschungen und hohen Fluktuationsraten. Republikweit schieden regelmäßig 30 bis 40% von ihnen während einer Wahlperiode aus.60 Trotz marginalen Einflusses auf die Entscheidungen hatten sie die undankbare Aufgabe als eine Art Puffer zwischen den 58 Vgl. Bartsch, Aufgaben und Struktur, S. 110, Völker, S. 26. 59 Vgl. Beispiel in Ludwigsfelde: Carsten Benke, Das Stadtzentrum als unerfüllter Wunsch: Defizite und lokale Spielräume bei der Gestaltung öffentlicher Räume in kleinen Industriestädten der DDR, in: Christoph Bernhardt/Gerhard Fehl/Gerd Kuhn/Ursula von Petz (Hrsg.): Geschichte der Planung des öffentlichen Raums (Dortmunder Beiträge zur Raumplanung; 122), Dortmund 2005, S. 165–181, hier S. 173. 60 Vgl. Hausschild, Die örtliche Verwaltung, S. 214.
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Instanzen und den Bedürfnissen der Bürger zu dienen.61 Der Druck, Ämter zu übernehmen, lastete insbesondere auf den Angehörigen der SED. Die einfachen Mitglieder ließen sich trotz Parteidisziplin aber nicht widerstandslos „delegieren“. Ein Ludwigsfelder Rentner antwortete 1963 dem wiederholten Drängen nach mehr Engagement: „Die Partei fragt ja auch nicht, ob ich mit meiner Rente auskomme, also laßt mich mit Parteiarbeit zufrieden.“62 Entwicklung der Ludwigsfelder Stadtverwaltung In Ludwigsfelde war die Situation der Kommunalverwaltung durch den weitgehenden Neuaufbau der Stadt und die fehlenden lokalen Traditionen besonders problematisch. Die Verwaltung war stark unterbesetzt, unterfinanziert, eher gering qualifiziert und wenig attraktiv für karriereorientierte Funktionäre. Unter den Funktionsträgern gab es zunächst eine hohe Fluktuation. Die Arbeit des Rates der Gemeinde war auch intern durch Konflikte über die richtige Handlungsweise gegenüber den übergeordneten Organen geprägt. Die Besetzung von freien Planstellen stieß lange auf besondere Schwierigkeiten, da geeignete Personen eher zum Industriewerk gingen, da sie dort eine höhere Besoldung erhalten konnten.63 Die Gemeinde sah sich immer wieder genötigt beim Kreis und den Betrieben um qualifiziertes Personal zu nachzusuchen. In den 1960er Jahren war dem Werk von der Kreisleitung der SED sogar das Vorschlagsrecht für den Bürgermeisterposten eingeräumt worden. Es zeigte lange jedoch kein Interesse daran, dieses auch wahrzunehmen. Erst nach der Stadtwerdung erfuhr Ludwigsfelde einen nachhaltigen Professionalisierungsschub. Die Verwaltung vergrößerte und qualifizierte sich, die Fluktuationsrate wurde geringer. Nachdem die Bürgermeister der Gemeinde in den Jahrzehnten zuvor oft gewechselt hatten, blieb ab 1965 für 14 Jahre dieselbe Person in diesem Amt. Auch andere Stadträte amtierten sehr lange. Die lange Amtsdauer und die seltenen Aufstiege in andere Positionen außerhalb der Stadt förderten den Aufbau langfristigen Engagements und nachhaltiger lokaler Identifikation der Akteure. Die Ratsmitglieder hatten vor ihrer kommunalpolitischen Laufbahn häufig Karriere in einem Industriekombinat oder einer Kreisverwaltung gemacht. Beziehungen aus diesen Tätigkeiten wurden beibehalten und im Sinne der Stadt zur „Organisation“ von Ressourcen eingesetzt. In den Stadtverwaltungen und Stadtverordnetenversammlungen bestanden für die städtischen Eliten potenziell interessante Handlungsfelder zur Einflussnahme auf die Stadtentwicklung. Die lokalen administrativen Eliten erkannten aufgrund 61 Vgl. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971–1989, Bonn 1999, S. 119. 62 Ortsparteileitung Ludwigsfelde Informationsbericht, 21.03.1963, BLHA Bez. Pdm. Rep. 532 SED Grundorganisationen Zossen Nr. 2078. 63 Rat des Kreises Zossen, Zossen den 12.10.1960, Einschätzung der politischen und fachlichen Arbeit der Randgemeinden des Kreises Zossen, S. 7, Kreisarchiv Teltow-Fläming (KreisATF) VI 6232.
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ihrer Fachkompetenz Fehlentscheidungen und -entwicklungen in der Stadt relativ früh und wurden unmittelbar mit den unerfüllten Bedürfnissen der Einwohner konfrontiert. Die Mitglieder des Rates der Stadt und die Stadtverordneten sowie die Angehörigen der örtlichen Parteiorganisationen mussten die in der Stadt diskutierten Probleme zur Kenntnis nehmen, die anstehenden Konflikte austragen oder verschweigen und den städtischen Alltag organisieren. Dabei mussten sie einen „Balanceakt“ zwischen zentralen und bezirklichen Weisungen und ideologischen Vorgaben einerseits und den konkreten Anforderungen und Widersprüchen vor Ort andererseits aushalten. Zwischen dem Bewusstsein als Stadtpolitiker und der Aufgabe als Ausführer und „Wächter“ zentraler Politik bewegten sich die Akteure in einer schwierigen Doppelrolle. Diese problematische Aufgabe der Kommunalpolitik als verlängerter Arm der Staats- und Parteimacht trat zum Beispiel bei der Vorbereitung von Wahlen, staatlichen Festveranstaltungen, der Kontrolle kirchlicher Aktivitäten und bei der regelmäßigen Berichterstattung an die staatlichen Sicherheitsorgane besonders deutlich hervor. Der enge Sozialraum in einer kleinen Stadt machte dies für die offiziellen Akteure durch die Vielzahl von persönlichen Berührungspunkten mit der Bevölkerung aber schwierig und belastet. Bei den einfachen Parteimitgliedern war z. B. bei der Wahlvorbereitung die Arbeit als Agitator in der eigenen Nachbarschaft eine äußerst unbeliebte Tätigkeit; die Ortspartei musste vehement für die Anwesenheit ihrer Mitglieder sorgen. „Linie muß sein, am Wahltag verläßt kein Genosse die Stadt. […] Ein Abseilen in den Kleingarten oder die Datsche an diesem Tag kann es nicht geben.“64 Spielräume und Eigenlogiken der lokalen Politik Trotz der schlechten rechtlichen Position der Kommunen gab es aus dem besonderen lokalen Selbstverständnis heraus Möglichkeiten spezifisch lokale Interessen nachhaltig nach oben zu vermitteln. Die Kommunalpolitik in der DDR verlief deshalb nicht nur von „oben“ nach „unten“, sondern war in vielfältige und komplexe Aushandlungsprozesse eingebunden.65 Die Verteilung der örtlichen Aufgaben durch die Kommunalgesetze blieb in einigen Fragen sehr allgemein und führte nicht immer zu einer klaren Abgrenzung der Tätigkeitsfelder zwischen Bezirk, Kreis und Stadt, so dass es häufiger zu Kompetenzstreitigkeiten kam und sich auch Spielräume eröffnen konnten. Die Schaffung und Nutzung von solchen lokalen Spielräumen war sehr stark von der Persönlichkeit der einzelnen Akteure, aber auch von republikweiten Netzwerken, der Position der Stadt in der Hierarchie und den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Konstellationen abhängig. Die lokalen Akteure mussten die wenigen eigenen Rechte im real existierenden „strukturierten 64 Berichte und Einschätzungen 1980/81, Ortsleitung der SED Ludwigsfelde, 16.04.1981, S. 4, BLHA Bez. Pdm. Rep. 532 SED Grundorganisationen Zossen Nr. 5209. 65 Vgl. für Magdeburg, Lu Seegers, „Schaufenster zum Westen“. Das Elbefest und die Magdeburger Kulturfesttage in den 1950er und 1960er Jahren, in: Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 107– 146, hier S. 144.
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Kompetenzwirrwarr“66 im Konfliktfall verteidigen und ein großes Geschick im Aufspüren von neuen Ressourcen zur örtlichen Defizitbewältigung beweisen. Es kam darauf an, über Aushandlungsprozesse mit allen Beteiligten aus den Verwaltungen, den Betrieben und Parteigliederungen und auch mit der Bevölkerung, einen Weg zu finden, um lokale Probleme zu lösen. Bei der Verwirklichung von größeren Projekten in eigener Initiative mussten die Städte auf den höheren Ebenen eine intensive Lobbyarbeit betreiben, um die „richtigen“ Leute zu überzeugen. Die zentrale Bedeutung der informellen Handlungen in Aushandlungsprozessen war den Akteuren vor Ort bewusst. „Der Bezirk kommt nicht von selbst und gibt uns was.“67 Zur Durchsetzung eigener Interessen bedurfte es intensiven Engagements und eigener Beharrlichkeit. „Oft wird immer gesagt, der Bezirk hat entschieden, was passiert. Im Grund ja, aber, dann kommt das Kleine immer, diese kleinen Vorstöße von uns, immer wieder, wir sind extra zum Bezirk gefahren und haben gesagt, Mensch mach mal. Wir brauchen das. Hat funktioniert. Muss ich sagen.“68 Die lokalen Handlungsspielräume waren auch durch die Mobilisierung „lokaler Reserven“, durch außerhalb des Plans erwirtschaftete Mittel und durch örtliche Aktivitäten mit Einwohnerinitiativen und Betrieben über die regelmäßig veranstalteten Wettbewerbe zu erweitern. Ressourcenknappheit erzeugte geradezu einen systembedingten „Zwang“ zur Politik außerhalb des Plans.69 Die Städte konnten so eigene Projekte in bescheidenem Umfang in einer Art örtlicher Klientelwirtschaft verwirklichen. Eine solche Zusammenarbeit im lokalen Interesse konnte in den 1980er Jahren bis hin zur Einbeziehung von privaten Handwerkern und Kirchengemeinden reichen. Diese „Initiativen“ waren allerdings nur mit zunehmend größerem Aufwand der lokalen Politik zu realisieren. Bei Einzelprojekten gelang dies noch leichter, aber Versuche zur Verstetigung solcher Einsätze, die faktisch auf die „Abwälzung“ kommunaler Aufgaben auf die Bürger hinauslief, wurden mit größerer Passivität beantwortet. Die Volksschwimmhalle in Ludwigsfelde Seit den 1950er Jahren hatte die Kommunalpolitik in Ludwigsfelde viele Rückschläge erfahren müssen. Die neue wirtschaftliche Bedeutung durch die neu angesiedelten wichtigen Industrieproduktionen weckte große Erwartungen, die weiterhin vorhandene „Gängelei durch die übergeordneten Organe“70 enttäuschte die lokalen Akteure aber. Nach dem Beginn des Aufbaus der LKW-Produktion 1963 und der Verleihung des Stadttitels 1965 entwickelte sich in der Verwaltung Ludwigsfeldes dennoch ein ausgeprägtes „städtisches“ Selbstbewusstsein. Weder die Ver66 Adelheid von Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, in: Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 9–58, hier S. 25. 67 Aussprache zur 53. Sitzung des Rates der Gemeinde, 2.7.1965, StadtAL Nr. 1700106. 68 Interview Ratsmitglied 2, Ludwigsfelde 2003. 69 Vgl. Bartsch, Aufgaben und Struktur, S. 110. 70 Sitzung des Rates der Gemeinde, 2.3.1961, S. 4, StadtAL Nr. 171001 002.
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waltung noch die Bürger nahmen die weiterhin bestehenden Mängel der städtischen Ausstattung passiv hin und kritisierten die einseitig auf die Industrieproduktion gerichtete Entwicklung. Die einmal von der zentralen Planung gemachten Versprechungen blieben im Bewusstsein der Einwohner erhalten und formten den lokalen Anspruchsrahmen. Die Stadtverwaltung wurde so permanent mit den unerfüllten Wünschen der Ludwigsfelder konfrontiert und stellte sich von dieser Position aus auch Konflikten mit übergeordneten Organen. Ein besonders plastisches Beispiel für städtischen Eigensinn, örtliche Initiative und die Zusammenarbeit der verschiedenen lokalen Akteure war der Bau der Ludwigsfelder Volksschwimmhalle. Schon seit den 1950er Jahren wurde in Ludwigsfelde der Wunsch nach einer Schwimmhalle als Betrag zur Verbesserung der örtlichen Lebensbedingungen intensiv diskutiert.71 Der Vorrang des Aufbaus der Produktionsanlagen in Ludwigsfelde drängte jedoch zunächst die versprochenen Infrastrukturmaßnahmen wieder zurück.72 Erst die schweren Produktionskrisen des LKW-Werkes in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, die auch durch eine starke Fluktuation der Arbeitskräfte am Ort verursacht wurden, eröffneten die realistische Möglichkeit zum Ausbau städtischer Angebote. Massive Eingriffe der politischen Zentrale zur Sicherstellung der für die ganze DDR wichtigen LKW-Produktion verpflichteten neben dem Betrieb und der Stadt auch Kreis und Bezirk zum Engagement für die nachhaltige Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen, um zum Aufbau einer Stammbelegschaft beizutragen.73 Der Bezirk stellte 1967 den Bau einer Schwimmhalle zwar in sein offizielles Programm ein74, sah dafür allerdings keine ausreichenden Mittel vor. Die Hauptlast sollte von örtlichen Initiativen getragen werden. Nach einigem Zögern entschloss sich Ludwigsfelde erst Ende 1968 zur Durchführung dieses umfangreichen Vorhabens, nachdem es sich der Unterstützung der örtlichen Betriebe versichert hatte. Für die nächsten Jahre bedeutete dies für die damals „jüngste Stadt der Republik“ eine eindeutige Schwerpunktsetzung der Stadtpolitik auf dieses mit hohem Symbolwert belegte Objekt – ein Kraftakt, der die Kräfte der kleinen Stadt fast überstieg. Der Bau wurde letztlich in städtischer Regie, auch gegen Desinteresse bzw. partiellen Widerstand des Kreises und des Bezirkes durchgesetzt. Nach der Entscheidung zum Bau fixierte sich die Stadt bald auf die Errichtung eines vergleichsweise großen Bades. Zwar wurde ein Projekt aus dem „Volksschwimmhallenprogramm“ übernommen, das zu dieser Zeit in der ganzen DDR auch kleineren Städten die Möglichkeit zum Bau von Hallenbädern eröffnen sollte, doch erschien dies den 71 Entwurfsbüro für Hochbau Potsdam, Erläuterungsbericht zum Teilbebauungsplan Ludwigsfelde, Potsdamer Straße, 1959, S. 18, BLHA Bez. Pdm. Rep. 406 Büro für Städtebau Potsdam Nr. 553. 72 Siehe z. B. Protokoll der Kreisleitersitzung am 5.03.1964, BLHA Bez. Pdm. Rep. 531 SED Kreisleitung Zossen Nr. 375 SED-Kreisleitung Zossen. 73 Bericht des Sekretariats der Bezirksleitung Potsdam über die Organisierung der politisch-ideologischen Arbeit zur Sicherung der Planerfüllung 1968 und der Stabilisierung des VEB Automobilwerke Ludwigsfelde, Bundesarchiv Berlin DY 30 J IV 2/3. 74 Perspektivplan bis 1970 des Bezirkes Potsdam, 21.12.1967, Pag. 222, BLHA Bez. Pdm. Rep. 401 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam Nr. 5329.
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lokalen Akteuren als nicht angemessen für die aufstrebende Industriestadt Ludwigsfelde. Die Stadt projektierte das Bad deshalb auf eigene Initiative hin auf die doppelte Größe mit wettkampfgeeigneten Bahnen um. Der Bezirk war bereit, eine Halle zur „Erreichung eines hohen Niveaus in Kultur und Sport in Ludwigsfelde“75 zu unterstützen. Er war jedoch skeptisch in Bezug auf die neue Dimension des Projektes, die der zur selben Zeit in der Bezirkshauptstadt geplanten Halle nahe kam. Selbst als der Bau nicht mehr zu verhindern war, versuchte der Bezirk – zumindest in der Wahrnehmung der lokalen Akteure – den Bauablauf zu verzögern, damit die Halle in der Bezirkshauptstadt früher fertig würde.76 Auch der Kreis beargwöhnte die unkonventionellen Methoden der Ludwigsfelder Verantwortlichen bei Baugenehmigung und Ausführung. Im Rahmen mehrerer Initiativprogramme konnte unter Nutzung der Kapazitäten städtischer Betriebe, der ansässigen Industrie und durch die Aktivierung von überörtlichen Netzwerken und durch das Engagement der Bevölkerung der Bau dennoch fertig gestellt werden. Zur Finanzierung dienten neben regulären staatlichen Mitteln vor allem Bevölkerungsspenden, eine Tombola, die Unterstützung von VEB Lotto und Gelder der Betriebe. Bauarbeiten wurden von der kommunalen Baureparatur, der Freiwilligen Feuerwehr, Betriebsbrigaden und Bevölkerungsinitiativen durchgeführt. Sehr wichtig war die durch das Autowerk gewährte massive Unterstützung. Über den Kommunalvertrag stellte der Betrieb u.a. finanzielle Mittel, LKWs, Kräne, Schweißgeräte und vor allem Arbeitskräfte zur Verfügung.77 Die wesentliche Verantwortung für die Baudurchführung lag jedoch beim Rat der Stadt. Der in der kleinen Ludwigsfelder Verwaltung nicht vorhandene Sachverstand wurde genauso wie die Materialien pragmatisch „organisiert“. Für Projektierungen fanden sich im Ort ansässige Spezialisten bereit und auswärtigen Betrieben wurde die Möglichkeit gegeben am Schwimmbadbau neue Materialien zu erproben.78 Durch persönliche Beziehungen in der ganzen DDR konnten Mangelwaren beschafft werden. Dabei bewegte man sich mehrfach nicht nur am Rande der Legalität. Dringend benötigte Bauteile wurden auch kurzentschlossen auf dem Gelände der Baustoffversorgung Potsdam „entliehen“, was den Besuch der Staatsanwaltschaft zur Folge hatte.79 Da der Kreis kein ausreichendes Steinkontingent zur Verfügung stellte, war die Stadt zu flexiblem Handeln gezwungen. Sie bemühte sich z. B. erfolgreich um Steine aus dem nicht weit entfernten Kalksandsteinwerk Niederlehme, als dieses gerade seine eigentlichen Abnehmer für „planmäßige“ Kontingente aufgrund der zu 75 VEB IFA Automobilwerke, Maßnahmeplan zur Durchführung des Beschlusses des Sekretariats des ZK der SED, 17.1.1969, S. 19, BLHA Bez. Pdm. Rep. 401 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Potsdam Nr. 33867/5. 76 Gesprächsprotokoll mit Herr Karl-Heinz Heinzelmann, am 12.4.1998 über den Bau der Ludwigsfelder Schwimmhalle, StadtAL Akte Schwimmhalle, ohne Aktennummer. 77 Vertrag zwischen dem Rat der Stadt Ludwigsfelde und den VEB IFA Automobilwerke Ludwigsfelde vom 26.2.1969, BLHA Bez. Pdm. Rep. 506 VEB IFA Automobilwerke Ludwigsfelde Nr. 537. 78 Gesprächsprotokoll mit Herr Siegfried Striegler, am 20.2.1998 über den Bau der Ludwigsfelder Schwimmhalle. StadtAL, Akte Schwimmhalle, ohne Aktennummer. 79 Gesprächsprotokoll mit Herr Karl-Heinz Heinzelmann, am 12.4.1998 über den Bau der Ludwigsfelder Schwimmhalle. StadtAL, Akte Schwimmhalle, ohne Aktennummer.
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diesem Zeitpunkt zugefrorenen Wasserwege nicht beliefern konnte.80 Fehlende Baumaterialien führten mehrfach zu Verzögerungen und waren auch Anlass für „kreative“ Änderungen des Entwurfs. Während des Bauvorgangs kam es so wiederholt zu Verstößen gegen die formellen Anforderungen der Baugenehmigung. Die Bauaufsichtsbehörden des Kreises drohten mehrfach mit der Stilllegung der Baustelle.81 Auch nach der vielfach verschobenen Fertigstellung des Hallenbaus setzten sich die Auseinandersetzungen fort. So kritisierte der Kreis das in „Unordnung“ geratene Finanzgebaren der Stadt und bemängelte sogar „grobfahrlässige Zahlungsvorgänge“. Erst die Drohung des Bürgermeisters mit Rücktritt führte zu Entschärfung dieser Vorwürfe.82 Auch der Bezirk warf der Stadt später vor, dass sie „in Zusammenarbeit mit den Betrieben große Anstrengungen unternommen hat, um Bauten zusätzlich zum Plan zu realisieren“ anstatt die Bemühungen des Bezirks zu unterstützen und die Realisierung der Planbauten zu fördern.83
Abb. 4: Ludwigsfelder Schwimmhalle mit Gaststättenkomplex; Quelle: Postkarte Bild und Heimat 1981 80 Gesprächsprotokoll mit Herr Siegfried Striegler, am 20.2.1998 über den Bau der Ludwigsfelder Schwimmhalle. StadtAL, Akte Schwimmhalle, ohne Aktennummer. 81 Vgl. z. B. Kreisbauamt, Staatliche Bauaufsicht an Rat der Stadt Ludwigsfelde, 3.7.1969, KreisATF F 17957. 82 3. Sitzung des Rates vom 11.7.1974, S. 4, StadtAL Nr. 171001 015, Rat der Stadt Ludwigsfelde 1974. 83 Rat der Stadt Ludwigsfelde, 26.8.1971, Stellungnahme zum Schreiben des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Potsdam vom 5.8.1971, S. 4, BLHA Bez. Pdm. Rep. 506 VEB IFA Ludwigsfelde Nr. 537.
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Der gewaltige Koordinierungsaufwand des Hallenbaus hatte zumindest zeitweise alle lokalen Akteure in der Verwaltung, der Partei und den Betrieben aber auch weite Teile der Bevölkerung zusammengeführt. Das großdimensionierte Schwimmbad fungierte dabei als ein wichtiges Symbol lokaler Aushandlungsmacht und städtischen Selbstbewusstseins, dem insbesondere nach dem Scheitern einiger Vorhaben in den 1950er und 60er Jahren und der zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung große Bedeutung zukam. Nachdem in den ersten Jahren die Nutzung der großen Schwimmhalle durch die Bevölkerung zuerst enttäuschte, steigerte sich die Nutzungsintensität bald und die Halle wurde ein wichtiges Objekt des Stadtstolzes. Letztendlich blieb ein Bau in dieser Dimension aber eine schwer zu wiederholende Kraftanstrengung für die kleine Stadt. Kleinere Projekte konnten jedoch in den nächsten Jahren in durchaus vergleichbarer Weise realisiert werden. Das Bewusstsein ein Projekt auch gegen Potsdam und die Kreisstadt durchgesetzt zu haben, hielt sich bis zum Ende der DDR und auch bis heute dient der Schwimmhallenbau als Bestätigung eigener Durchsetzungsmacht. Die Ludwigsfelder Schwimmhalle wurde 2006 nach festlicher Verabschiedung abgerissen.84 Die Halle litt – auch bedingt durch ihre diffizile Entstehungsgeschichte – unter erheblicher Störanfälligkeit. Ein Hallenneubau wurde rechtzeitig fertiggestellt. Erneut gelang es Ludwigsfelde sich sehr geschickt gegen Widerstand der Kreisstadt und der Landeshauptstadt Potsdam durchzusetzen, die beide eine Konkurrenz zu ihren bestehenden oder projektierten Hallen fürchteten. Fazit Die Stadt Ludwigsfelde konnte seit den 1970er Jahren zunehmend eine eigene Rolle zwischen Staat, Bezirk, Kreis, Partei und Kombinat finden und kommunalpolitisches Profil entwickeln. Dem mit nur wenigen formellen Kompetenzen ausgestatteten Rat der Stadt gelang es immer wieder sich durch Nutzung informeller Machtressourcen zum erfolgreichen Sprachrohr der Stadtinteressen zu machen. Das „politische Kapital“ der Ludwigsfelder Kommunalpolitik und der entscheidende Vorteil im Vergleich zu anderen kleinen Städten war die dauerhaft große industrielle Bedeutung der Stadt und die Möglichkeit qualifiziertes Personal vom Kombinat zu erhalten. Engagement und Eigensinn der Akteure konnten trotz fehlender städtischer Traditionen und lokaler Selbstverwaltungsrechte darauf aufbauen und Handlungsmacht generieren. Im offenen Konflikt mit übergeordneten Organen hatte die Stadt zwar kaum eine Chance zur Interessendurchsetzung. Sondersituationen wie Produktionskrisen und Versagen von anderen Ebenen konnten jedoch offensiv zum Transport eigener Ansprüche genutzt werden. Über die Jahrzehnte bildeten die Kommunalpolitiker auch persönliche Netzwerke innerhalb der ganzen Republik heraus, so dass sich auf der mittleren Ebene Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen ließen. 84 30. Geburtstag der Ludwigsfelder Schwimmhalle gefeiert. Halte durch, alte Dame! In: Märkische Allgemeine 21.01.2003.
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Trotz der erreichten lokalen Fortschritte ist auch in Ludwigsfelde die Kommunalpolitik keine durchgehende Erfolgsgeschichte. Den erreichten Verbesserungen stehen zahlreiche andere Defizite gegenüber, die die Stadt formulieren aber unter den gegebenen Beschränkungen nicht beheben konnte. Insgesamt festigte die kleine Stadt jedoch in den 1980er Jahren ihre Gestaltungsspielräume – unter allerdings immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in der DDR. Die Städte in der DDR lassen sich – wie auch das Fallbeispiel gezeigt hat – trotz ihrer Funktion als weisungsgebundene staatliche Organe und Wächter zentraler Politik nicht auf die Rolle von bloßen „Erfüllungsgehilfen“ der Staats- und Parteiführung in Berlin reduzieren. Die Entscheidungsfindung auf kommunaler Ebene verlief nicht so eindimensional von oben nach unten, wie es die zentralistische Struktur der Hierarchie der Staats- und Parteiebenen suggeriert – auch wenn die SED letztlich das Primat in allen Bereichen besaß. Angesichts der unbestreitbaren rechtlichen und finanziellen Marginalisierung der Städte in der DDR hing die Generierung von Spielräumen in sehr starkem Maße von der jeweiligen lokalen Situation ab: der Größe und Bedeutung der Stadt, den ansässigen Betrieben und der örtlichen Elitenkonstellation. Lokaler Eigensinn konnte nur Erfolg haben, wenn auch außerplanmäßige Mittel und Machtressourcen mobilisierbar waren. Die Betrachtung der lokalen Ebene macht deutlich, dass auch den Institutionen „Stadt“ und „Gemeinde“ in Staat und Gesellschaft der DDR trotz ihrer administrativen Marginalisierung eine wichtige Funktion zukam. Zweifellos vollzog sich in der DDR ein massiver „Bedeutungsverlust des Städtischen und der städtischen Öffentlichkeiten“, doch tritt in der Forschung nun stärker hervor, dass sich auch in der DDR das Leben „nicht allein zwischen Betrieb, Wohnung und Datsche abgespielt“ hat.85 Die „Stadt“ war auch in der DDR ein besonderer Sozialraum, der das Handeln der offiziellen Akteure prägte. Funktionell waren die Städte zwar keine halbautonomen Subsysteme, sie folgten innerhalb der Grenzen der zentralistischen Diktatur jedoch auch kommunalpolitischen Strategien mit eigenen lokalen Gesetzmäßigkeiten. Die wichtigen Akteure der kommunalen Ebene agierten trotz des streng reglementierten Systems der Kontrolle und planmäßigen Einsetzung nicht nur wie Befehlsempfänger der Zentrale sondern besaßen „eigen-sinnige“ Vorstellungen und fanden mitunter komplexe Handlungsmethoden, um diese gegen systemimmanente Widerstände durchzusetzen. Die Verantwortlichen in Rat und Ortspartei entwickelten sich häufig ihrem Selbstverständnis nach zu Sachwaltern der Stadt und stellten sich von einer lokalpatriotischen Position als Stadtpolitiker auch Konflikten mit übergeordneten Organen. Die formellen und informellen Initiativen, Aushandlungsprozesse und Konflikte in einem zentralistischen System waren nicht vergleichbar mit den Handlungen einer selbstverwalteten Kommune in einer westlichen Demokratie, die sowohl demokratische Legitimation wie geschützte lokale Rechtsbefugnisse besitzt. Die Generierung lokaler Gestaltungsmacht stieß immer an Grenzen. Niemals durften die grundlegenden Strukturen des Zentralismus, insbesondere der Herrschaftsanspruch der Zentrale, in Frage gestellt werden. Kritik an der Arbeit von Kreis, 85 Saldern, Herrschaft und Repräsentation, S. 18.
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Bezirk oder Betriebsleitungen war aber möglich. Die Defizite, die durch die zentrale Politik verursacht wurden, konnte die Kommunalpolitik nicht ausgleichen, jedoch bei geschickter Nutzung lokaler Ressourcen mildern. Durch lokale Erfolge verbesserte sich wiederum die Legitimität vor den Bürgern und aber auch die Durchsetzungsmöglichkeit nach „oben“. Auf die Gewährung von Spielräumen für die unterste Ebene konnte im Interesse der Funktionsfähigkeit des gesamten Staates letztlich nicht völlig verzichtet werden, schließlich hielten die lokalen Organe das System „am Laufen“. Die Allmacht der Zentrale hatte dadurch auch ihre Grenzen. Trotz der rechtlichen Beschränkungen kam dem kommunalen Handeln eine wichtige und im Laufe der Jahrzehnte in einigen Bereichen durchaus wachsende Bedeutung zu. So entstanden auch im zentralistischen System der DDR trotz oder gerade wegen der Mangelwirtschaft immer wieder Spielräume.
EIN UNIKUM IM ZENTRALISMUS DER DDR: DIE KOMMUNALEN BÜROS FÜR STADTPLANUNG UND IHRE HANDLUNGSSPIELRÄUME Frank Betker Prolog Von einer Einzigartigkeit im zentralistischen und dem normativen Prinzip der Einheitlichkeit verpflichteten System der Institutionen in der DDR zu berichten, ist in höchstem Maße erklärungsbedürftig. Darum soll es im Folgenden, bezogen auf das Unikum der kommunalen Büros für Stadtplanung, gehen.1 Im Zentrum stehen hier also jene kommunalen Einrichtungen, die für die städtebauliche Planung, Entwicklung und Gestaltung sowie für die Architektur der Stadt in der DDR zuständig waren. Alle größeren Städte verfügten über ein „Büro für Stadtplanung“ oder, wie es auch genannt wurde, ein „Büro des Stadtarchitekten“.2 Tätig waren hier überwiegend Fachleute für Stadt- und Gebietsplanung, Städtebau und Architektur, die an den Hochschulen in Weimar, Dresden und Berlin-Weißensee ausgebildet wurden. Deren Selbstverständnis war davon geprägt, eine „gewisse Sonderrolle“ im Bauwesen der DDR gespielt zu haben. Die Büros für Stadtplanung als Unikum im Zentralismus zu bezeichnen, verweist auf eine Reihe von Eigenschaften, die erst im Zusammenhang betrachtet ihre Einzigartigkeit innerhalb des zentralistischen Systems ausmachten. Die Büros waren dezentrale Einrichtungen, die nur mittelbar in die zentralistischen Strukturen eingebunden waren. Als nachgeordnete Institution des Rates der Stadt waren sie ferner Haushaltsorganisationen, die nicht der wirtschaftlichen Rechnungsführung und daher auch nur mittelbar der Planwirtschaft unterlagen. Im hierarchischen Funktionsgefüge des Bauwesens spielten sie eher eine untergeordnete Rolle, weshalb sie für die SED nur von sekundärer Bedeutung waren und als Reservoir für die Mitgliederrekrutierung meist vernachlässigt wurden. Sie scherten also strukturell 1
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Dabei stütze ich mich auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Büros für Stadtplanung in den beiden Bezirksstädten Rostock und Halle/Saale, einigen örtlichen Baufunktionären sowie ehemaligen Mitarbeitern zentraler Einrichtungen des Bauwesens, die in die Empirie und die Ergebnisse meiner Promotionsschrift eingeflossen sind: Frank Betker, „Einsicht in die Notwendigkeit.“ Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende [1945–1994], Stuttgart 2005. Der Begriff „Unikum“ stammt nicht von meinen Gesprächspartnern, sondern ist eine eigens von mir eingeführte Bezeichnung. Es gab weitere Varianten: Büro des Chefarchitekten oder Büro für Städtebau, die unter den 27 kreisfreien Städten der DDR aber kaum verbreitet waren. Unterhalb dieser administrativen Ebene verfügten nur noch wenige Städte über ein eigenes Büro für Stadtplanung. Für die kleineren Kommunen arbeiteten die „Bezirksbüros für Städtebau und Architektur“.
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ein wenig aus dem zentralistisch organisierten, planwirtschaftlich dominierten und parteistaatlich gesteuerten Institutionensystem des Bauwesens aus. Gleichwohl hatten sie einen festen Platz im Funktionsgefüge des örtlichen Baugeschehens, vor allem des komplexen Wohnungsbaus, der die Bautätigkeit und die Stadtentwicklung seit den 70er Jahren prägte. Ins System der Leitung und Planung waren sie eng eingebunden und auf diese Weise strukturell diszipliniert. Hinzu kam, dass die SED unmittelbar in die fachliche Arbeit eingriff und mit quasi kodifizierten städtebaulichen Grundsätzen fachliche Maßstäbe setzte. Befragungen3 von Mitarbeitern der Büros, örtlichen und überörtlichen Funktionären und Experten des Bau- und Planungswesens der DDR fördern vor diesem Hintergrund eine gewisse Widerborstigkeit der Büros für Stadtplanung und ihrer Mitarbeiter zutage. Aus den strukturellen Rahmenbedingungen, also aus der Parteiherrschaft, dem Zentralismus und der Planwirtschaft, erwuchsen Restriktionen, die als fachliche Zumutungen empfunden wurden. Ja sogar mehr als das. Die Restriktionen führten in den Augen der Stadtplaner und Architekten nicht selten zum Verlust urbaner Qualitäten in den Städten und hatten in einem Maße stadtzerstörerische Wirkungen, die kaum noch zu ertragen waren. Kein Zweifel, Stadtplaner und Architekten waren auch aus eigener Perspektive kaum mehr oder weniger deutlich ins System integriert als andere Berufsgruppen. Widerborstigkeit heißt noch nicht Widerständigkeit. Aber sie leisteten sich den Luxus, mitunter eigenen Orientierungen und Leitideen zu folgen. Deren Ursprung lag zweifellos jenseits der realsozialistischen Gesellschaft der DDR, und dies in zumindest zweierlei Hinsicht: Zum einen basierten fachliche Orientierungen auf gleichsam universalen, systemübergreifenden berufsethischen Prinzipien, und zum anderen verfügte der Beruf über Traditionsstränge in die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und in die Diskurse der Weimarer Zeit hinein. Er war gleichsam ein Produkt der Modernisierungs- und Differenzierungsprozesse jener Zeit. Die fachlichen Vorstellungen und beruflichen Orientierungen zu DDR-Zeiten unterlagen also potenziell einer Vielzahl von überkommenen Einflüssen. Daher konkurrierten die städtebaulichen und architektonischen Vorgaben der SED mit Maximen, die außerhalb ihres Einflusses lagen und von den Fachleuten nicht gänzlich ferngehalten werden konnten. Erwuchsen für die kommunalen Stadtplaner und Architekten aus den Widersprüchen und Paradoxien im zentralistischen Bauwesen, aus diesem Konglomerat von strukturellen Rahmenbedingungen und normativen Handlungsorientierungen, nun besondere Handlungsspielräume im Berufsalltag der DDR? Von einem Unikum im Zentralismus zu sprechen impliziert, dass es wohl Handlungsspielräume gegeben haben muss. In diesem Begriff kristallisiert sich das gleichsam mikrosoziologisch und -historisch zu erfassende Besondere der kommunalen Büros für Stadtplanung, das ins Zentrum des Forschungs- und Fragekontextes dieser Publikation führt, der Frage nach den Handlungsspielräumen auf der untersten staatlichen, der kommunalen Ebene.
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Betker, Einsicht, S. 66–68 und Kapitel 13.
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Aber was sind nun eigentlich Handlungsspielräume? Im Folgenden geht es zunächst darum, einige Implikationen des Begriffs aufzufächern, dabei auf spielund raumtheoretische Argumentationen zu verzichten und ihn vor allem auf das „soziale Handeln“ (Weber)4 in der kommunalen Stadtplanung der DDR zu beziehen. Damit verbindet sich letztlich auch die Absicht, den Begriff „Handlungsspielraum“ als eine historisch-sozialwissenschaftliche Kategorie für die stadtgeschichtliche und Urbanisierungsforschung fruchtbar zu machen. In den darauf folgenden Abschnitten des Aufsatzes stehen dann die Institutionengeschichte der kommunalen Stadtplanung und einige Berufserfahrungen ihrer Akteure im Fokus, um auf dieser Grundlage letztlich den Begriff des Handlungsspielraums einzugrenzen, seine Relevanz zu überprüfen und ihn begrifflich einzubetten. Zum Konzept des Handlungsspielraums Im Alltagsverständnis lässt sich sicher sagen: Je weniger Festlegungen es gibt, desto größer sind die Handlungsspielräume für den einzelnen. Oder umgekehrt: Je strikter die Grenzen des Handelns definiert und der normative Rahmen vorbestimmt sind, sei es im privaten, im beruflichen oder im öffentlichen, gesellschaftlichen Leben, desto geringer sind auch die Handlungsspielräume. Über einen Handlungsspielraum zu verfügen heißt zunächst einmal für Individuen, Personengruppen oder ganze Gesellschaften nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit zu haben, zwischen mindestens zwei Alternativen wählen zu können. Diese als eigenständige Entscheidung zu treffende Wahl ist sinnvoll, um mit einer sozialen, also auf das Verhalten anderer bezogenen Handlung Einfluss zu nehmen und bestimmte Ziele oder Zwecke zu erreichen. Dabei ist die Situation immer schon institutionell oder normativ vorstrukturiert, sozial und kulturell geformt, sei es restriktiv oder extensiv. Im Unterschied zu den modernen Industriegesellschaften westlicher Prägung, in denen die Erweiterung von Handlungsspielräumen ein charakteristisches, wenn auch ambivalentes Merkmal von Modernisierungsprozessen ist,5 ließen sich die Möglichkeiten des einzelnen, in der sozialistischen Gesellschaft eigenständig oder gar selbstbestimmt zu handeln, nur als äußerst restriktiv beschreiben. Die Biographien der Menschen waren relativ stark in vorgegebenen Fixierungen befangen, die entscheidungsoffenen Lebenssituationen waren eher selten oder begrenzt. Individualisierungs- und sozialstrukturelle Differenzierungsprozesse waren zwar offensichtlich in den 70er und 80er Jahren immer weniger aufzuhalten, aber die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen blieben gering. Das betraf auch die berufliche Lauf4 5
Max Weber, Soziologische Kategorienlehre, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1972 (zuerst 1921), S. 1–121, hier: S. 1–16. In diesen stehen sich Autonomie und Anomie scheinbar unversöhnlich gegenüber. Ansgar Weymann, Handlungsspielräume im Lebenslauf, in: Ders. (Hrsg.), Handlungsspielräume, Stuttgart 1989, S. 1–39, hier: S. 2 f.
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bahn und Sozialisation sowie das berufliche Handeln, auch und vielleicht vor allem im Bauwesen. Dabei ging es für die Stadtplaner und Architekten nicht nur um konkrete Handlungen, wie z. B. die Auswahl von Gebäudetypen oder die Entscheidung über Wohnungsbaustandorte. Es ging immer auch um grundlegende Handlungsorientierungen, um Wertorientierungen, die einer vermeintlich rein sachbezogenen Auswahl zugrunde lagen und als „Geltungsanspruch“ (Rehberg)6 symbolisch etwa im Gebäudetypus oder Standort verkörpert sein konnten: Im Städtebau internationalen Trends der behutsamen Stadterneuerung zu folgen oder in der Architektur der Stadt den Typus des individuellen Einzelhauses zu rehabilitieren, der an weit zurückliegende, vielleicht bürgerliche städtische Traditionen anknüpft, waren relevante Fragen in den 80er Jahren. Auch für die SED war berufliches soziales Handeln immer zugleich politisch bedeutsames gesellschaftliches Handeln, auch wenn sie die Negation jeder Wahlmöglichkeit mitunter maßlos übertrieb. Die Frage etwa, ob ein Gebäude in industrieller Plattenbauweise oder in handwerklicher Tradition zu errichten war, konnte in der DDR durchaus die Dimension einer Grundsatzentscheidung über den „Weltfrieden“ annehmen. Einen Handlungsspielraum zu haben heißt also, wählen, entscheiden und Einfluss nehmen zu können. Autonomes Handeln ist damit noch nicht gemeint. Einen Handlungsspielraum anzustreben kann aber durchaus heißen, andere als die gängigen oder vorgegebenen Werte oder Normen anzustreben. Sie müssen sich ja nicht gleich auf das ganze Gesellschaftsmodell beziehen, sondern können sich auch auf berufsethische Orientierungen beschränken. Nach kultureller und sozialer Angemessenheit zwischen alternativen Wertorientierungen zu entscheiden und dabei auch persönliche oder genauer: berufsgruppenspezifische Motive und fachliche Prämissen zu berücksichtigen, lag im Regelfall nicht in der Hand der kommunalen Stadtplaner und Architekten in der DDR. Und das führte letztlich auch dazu, dass die Städte und ihr Fachpersonal nicht einmal über Gebäudetypen, Fassadengestaltungen und Wohnungsbaustandorte entscheiden konnten, geschweige denn, dies im Rahmen einer kommunalen Öffentlichkeit und Bürgerbeteiligung tun konnten. Grundsatzentscheidungen zu diesen Fragen lagen bei zentralen und bezirklichen Institutionen des Staates und des Bauwesens sowie bei den Institutionen der Planwirtschaft. Nun wissen wir aus zahlreichen Untersuchungen, die auch der vorliegende Band und das einigen der hier versammelten Beiträgen zugrundeliegende Forschungsprojekt dokumentiert, dass der Parteiherrschaft, dem Zentralismus, den programmatischen und vor allem restriktiven planwirtschaftlichen Vorgaben auf kommunaler Ebene hin und wieder doch ein Schnippchen geschlagen werden konnte. Dass z. B. Bauprojekte realisiert wurden, die so nicht vorgesehen waren. Wären nun jene Ausnahmen eher eine Bestätigung der Regel, dass es im SEDStaat prinzipiell keine Handlungsspielräume gab? Blieben die Ausnahmen deshalb immer nur Ausnahmen? Oder belegen die Ausnahmen gerade das Gegenteil, dass es 6
Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994, S. 47–84, hier: S. 57.
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doch Handlungsspielräume gab? Völlig unbestritten ist jedenfalls zweierlei: Einerseits konnte die SED jederzeit die Akteure vor Ort auf ein bestimmtes Handeln festlegen, und andererseits hatten sich in jeder Stadt informelle Strukturen herausgebildet, deren Zweck gerade in der Erweiterung von Handlungsspielräumen lag. Für die Organisationssoziologie ist deren Existenz und Evidenz ohnehin unzweifelhaft zu konstatieren: „Es gibt keine völlig geregelten und kontrollierten sozialen Systeme“, schrieben Crozier und Friedberg, „die ihnen angehörenden individuellen und kollektiven Akteure können nicht auf abstrakte und fleischlose Funktionen reduziert werden. Es sind im Gegenteil Akteure, die im Rahmen der ihnen ,vom System‘ auferlegten, oft sehr starken Zwänge über einen Freiraum verfügen, den sie auf strategische Weise in ihren Interaktionen mit den anderen verwenden. Das Vorhandensein und der Fortbestand dieser Freiheit stört die ausgeklügeltesten Kontrollen.“7 Auch Soeffner war davon überzeugt, dass sich „unterhalb des ,first code‘ der formalen Organisation […] der ,second code‘ des Interaktionssystems der alltäglich handelnden und verhandelnden“ Menschen konstituiere, der sogar ein mächtiges interaktives Netzwerk ausbilden könne.8 Häußermann ging sogar soweit zu sagen: „Je rigider die formalen Anweisungs- und Kontrollstrukturen sind, desto stärker wird die Bedeutung von informellen Kommunikations- und Verhandlungsstrukturen.“9 Was letztlich dazu führte, so Neckel, dass auch auf der kommunalen Ebene „hinter der Fassade der zentral geleiteten Planwirtschaft […] eine andere Organisationsrealität, ein feinmaschiges Netzwerk von persönlichen Beziehungen“ entstanden sei.10 Bezogen auf die kommunale Stadtplanung ist also zu fragen, ob es im beruflichen Handeln der Stadtplaner und Architekten in den Büros für Stadtplanung Wahlmöglichkeiten zwischen mindestens zwei Alternativen gab? Gab es eigenständige Entscheidungen und Einflussnahmen? Gab es letztlich Handlungsspielräume, die in eine solche „zweite Wirklichkeit“ (Häußermann) eingebettet waren? Und wenn es sie gab, wurden sie seitens der Machthaber offiziell eingeräumt oder informell zugestanden; und was hat diese dazu veranlasst? Oder mussten Handlungsspielräume von den Akteuren von unten erworben oder gar erkämpft werden und was waren deren Beweggründe, ggf. Risiken einzugehen? Waren Handlungsspielräume als echte Wahlmöglichkeit zwischen Alternativen auf Dauer gestellt oder wurden sie nur temporär toleriert? Trägt der Begriff etwa dazu bei, den Sinn und die Motive, oder – wie Weber sagte – die „Bestimmungsgründe“ sozialen
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Michel Crozier/Erhard Friedberg, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein 1979, S. 16; vgl. Thomas Edeling, Systemzwang und Handlungsautonomie, in: Berliner Debatte INITIAL, Heft 1/1995, S. 88 f. 8 Soeffner bezieht sich generell auf straff organisierte und hierarchisch geführte Bürokratien (Hans-Georg Soeffner, Gesellschaft ohne Baldachin, Weilerswist 2000, S. 312 und S. 324 f.). 9 Hartmut Häußermann, Von der Stadt im Sozialismus zur Stadt im Kapitalismus, in: ders. /Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland, Opladen 1997, S. 5–48, hier: S. 9. 10 Sighard Neckel, Das lokale Staatsorgan, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21 (1992), Heft 4, S. 252–268, hier: S. 262.
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Handelns,11 zu verstehen? Deutet er etwa auch auf alternative Handlungsorientierungen, andere wertrationale Motive hin? Was ist also zu betrachten, wenn man den Handlungsspielräumen und ihren „Bestimmungsgründen“ auf die Spur kommen will: 1) Es gilt die Struktur des restriktiven Handlungsraums und die institutionellen Paradoxien im Hinblick auf Grenzen und Optionen des Handelns zu untersuchen, was im Folgenden anhand eines knappen institutionengeschichtlichen Abrisses geschehen soll. 2) Es gilt die Logik des Augenblicks zu betrachten, die sich als informelle Sphäre mit einzigartigen Handlungsspielräumen konstituiert. 3) Und es gilt, die Sinnwelten der Stadtplaner und Architekten und deren symbolische Verkörperungen, den gebauten Eigensinn, in Augenschein zu nehmen, um etwas über die Motive jener zu erfahren, die Handlungsspielräume nutzten. Die Suche nach den Handlungsspielräumen in der kommunalen Stadtplanung hat sich demnach in mindestens diesen drei Dimensionen abzuspielen, in denen Handlungsspielraum zwischen Restriktionen und Optionen als soziales Handeln nachvollziehbar wird. Dazu in den folgenden drei Abschnitten einige Feststellungen und Annahmen. Institutionelle Paradoxien im zentralistischen Bauwesen Die Strukturen des Handlungsraums auf kommunaler Ebene waren, wie vorne bereits angedeutet und an anderer Stelle ausführlich beschrieben,12 durch die Parteiherrschaft, den Zentralismus und die Planwirtschaft geprägt. Die Gesellschaft der DDR als eine entdifferenzierte Gesellschaft zu beschreiben, ist die begriffliche Zuspitzung der eingeengten Handlungsmöglichkeiten für den einzelnen und für Personen- oder auch Berufsgruppen. Auch die Geschichte der kommunalen Stadtplanung in der DDR lässt sich spätestens ab etwa 1948 als – gleichwohl widersprüchlicher – Prozess der Entdifferenzierung beschreiben.13 Grundlegend für den Aufbau neuer Strukturen auf kommunaler Ebene in den ersten Nachkriegsjahren war zunächst das überkommene bürgerliche Modell städtischer Organisation. Dabei beruhte die räumliche Entwicklung der Stadt auf zwei Säulen: den Stadtplanungsämtern und den örtlichen privaten Architekturbüros. Schon im Herbst 1948, etwa ein Jahr vor der Staatsgründung und am Vorabend des ersten Zweijahrplans, begann die zentralistische Umstrukturierung des politisch11 Weber, Kategorienlehre, S. 12 f. 12 Betker, Einsicht, Kapitel 5–8; Siegrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft, Frankfurt/ Main 1992; zum Streit über Entdifferenzierung und autonome Funktionsbereiche in der DDR: dies., Machtmonopol und homogenisierte Gesellschaft, in: GG 26 (2000), S. 171–183; Detlef Pollack, Wie modern war die DDR? Diskussionspapier Nr. 4 d.f.I.T., Frankfurt/O 2001, S. 1– 34; ders., Die konstitutive Widersprüchlichkeit der DDR, in: GG 24 (1998), S. 110–131. 13 Vgl. zur Kontroverse um „Entdifferenzierung“ und „Autonomiespielräume“ in der DDR (Meuschel-Pollack-Streit) auch Ronald Gebauer, War die DDR eine entdifferenzierte Gesellschaft?, in: Historical Social Research, Sonderheft 103/104 „Funktionseliten der DDR“, Vol. 28 (2003), 1/2, S. 216–246, hier: S. 217–219 u. 243 f.
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administrativen Systems in der SBZ. Das Organisations- und Strukturmodell des demokratischen Zentralismus wurde allmählich auch auf kommunaler Ebene handlungsleitend und löste die kommunale Selbstverwaltung ab. Nun galten auch die Stadtplanungsämter und die privaten Architekturbüros als Relikte des zu überwindenden bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters. Während die einen für den Autonomieanspruch der selbstverwalteten bürgerlichen Stadtgesellschaft standen, verkörperten die anderen die Freiberuflichkeit, das Unternehmertum und den bildungsbürgerlichen Habitus. Eine ganz neue, ideologisch linientreue und organisatorisch einheitlich ausgerichtete Institution, die in die zentralistische Befehlsstruktur vom Ministerium für Aufbau über die Länder bis zu den Kreisen und Kommunen eingebunden war, musste deren Platz einnehmen: das volkseigene Entwurfs- oder Projektierungsbüro. Anfang 1950 begann die Geschichte jener Büros, die für knapp zwei Jahrzehnte die Planung und Projektierung der Wohnungs- und Gesellschaftsbauten in den Städten und zeitweise auch die städtebauliche Planung dominierten. Sie gingen 1958 in die bezirklichen VEB Hochbauprojektierung über und wurden schließlich 1968 mitsamt ihrer städtebaulichen Planungsabteilungen und inzwischen etwa 400 bis 700 Mitarbeitern in die bezirklichen Wohnungsbaukombinate (WBK) eingegliedert. Die Personalrekrutierung für diese Büros war anfangs recht schwierig. Die freien Architekten scheuten die hochspezialisierte Arbeitsweise und Arbeitsteilung in einem industriellen Entwurfsbetrieb und die Verarbeiterlichung ihres Berufs, die damit einherging. Eine fachöffentliche Kampagne einiger Bau- und Architekturfunktionäre der SED hatte nur mäßigen Erfolg.14 Bis in die 70er Jahre hinein klagten manche Autoren und Funktionäre über „subjektivistische Tendenzen“ und „ideologische Unklarheiten“ und vermuteten, dass bei den Stadtplanern und Architekten nach wie vor traditionelle Wertvorstellungen virulent seien.15 In den kommunalen Stadtplanungsämtern arbeiteten die Architekten und Stadtplaner nur noch bis kurz nach der Staatsgründung ähnlich wie im Westen an Flächennutzungs- und Bebauungsplänen und an eigenen Konzepten zum Wiederaufbau. Nach und nach entzogen ihnen die neuen volkseigenen Büros nicht nur das Personal, sondern auch die Aufgaben und die hoheitlichen Vollmachten, etwa die kommunale Planungshoheit. Die Stadtplanungsämter wurden 1952 aufgelöst, nachdem die II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus in der DDR“ proklamiert und eine neue staatliche Ebene, die Bezirke, eingeführt hatte. Kommunale städtebauliche Planungseinrichtungen verschwanden aber nicht für alle Zeiten von der Bildfläche. Nach dieser ersten Phase der Entdifferenzierung und dem zugleich ersten Höhepunkt des Zentralismus folgten ab dem Ende der 50er Jahre auch 14 Nachzulesen in der Zeitschrift „Bauplanung und Bautechnik“ bzw. „Planen und Bauen“, hrsg. von der Kammer der Technik, Berlin, insbes. Jg. 1949–1951. 15 Gerhard Kosel, Über die grundlegende Veränderung der Arbeitsweise in der bautechnischen Projektierung bei der Verwirklichung des NÖSPL im Bauwesen, in: Deutsche Bauakademie (Hrsg.), 12. Plenartagung, Berlin 1964, S. 9–28, hier: S. 23–28; vgl. auch Herbert Ricken, Der Architekt, Berlin 1977.
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wieder Phasen gleichsam defensiver Dezentralisierung, in denen die Machtstellung der zentralen Institutionen zwar nicht angekratzt, aber das örtliche Institutionensystem wieder etwas differenzierter ausgestaltet wurde. 1958/59 wurden einheitlich auf Bezirks- und auf kommunaler Ebene Bauämter eingerichtet. Während die Bezirke jetzt bereits Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung erhielten, mussten sich die kreisfreien Städte noch für zehn Jahre mit kleinen Entwurfsgruppen für Stadtplanung begnügen. Die 60er Jahre waren sehr stark durch die experimentellen ökonomischen Projektionen der SED im Kontext des „Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL) geprägt. Entdifferenzierungs- und Differenzierungsprozesse gingen ineinander über oder überlagerten sich. Im Abstand von wenigen Jahren wurden Einrichtungen neu gegründet und wieder geschlossen, in größere Strukturen integriert und wieder ausgelagert. Diese Phase war durch Unsicherheit, ja geradezu Unbeholfenheit seitens der politischen Entscheidungsträger geprägt. Die Maßnahmen wurden aber immer einheitlich mit ökonomischen Argumenten begründet, und spätestens seit der Gründung der Wohnungsbaukombinate (WBK) im Jahre 1963 ist das Bestreben zu erkennen, das gesamte Entwurfs- und Projektierungswesen, also alle bauvorbereitenden Maßnahmen, enger an die Bauausführung zu binden und auch dieses einheitlich auf die Ziele der Planwirtschaft auszurichten. Nach und nach entstand ein intern hochgradig arbeitsteilig organisierter und nach außen extrem entdifferenzierend wirkender Großbetrieb. Folgerichtig wurden auch der VEB Hochbauprojektierung 1968 aufgrund einer Entscheidung des VII. Parteitags der SED in die WBK integriert. Der neue Betriebsteil für Projektierung, in dem auch die für den Hochbauentwurf zuständigen Architekten arbeiteten, war den technischen und ökonomischen Rationalitäten voll und ganz unterworfen. Mehr und mehr ging der Bezug zum Auftraggeber und Nutzer, zu den Vorstellungen der Kommunen, ihre Stadt sinnvoll zu entwickeln, und zu den Bedürfnissen der Bevölkerung verloren. Fragen des Bedarfs und der Nützlichkeit wurden hintangestellt. Auch die so wichtige Kooperationsbeziehung zum Städtebau litt darunter. Logischerweise war zunächst auch die städtebauliche Planung in die WBK integriert worden, denn es war eigentlich unsinnig, die auf eine enge Kooperation angewiesene städte- und hochbauliche Projektierung auseinanderzureißen. Der VII. Parteitag von 1967 hatte sich aber auch mit der Stärkung der kommunalen Verantwortung beschäftigt. Also war nicht nur Konzentration, sondern auch Dezentralisierung ein Impuls dieses Parteitags. Ulbricht hatte sich sogar explizit mit der örtlichen Stadtentwicklung beschäftigt, indem er postulierte, dass „eine abwechslungsreiche Architektur zu entwickeln [sei], die jeder Stadt ihr eigenes Gepräge gibt.“ Die örtlichen Organe sollten selbst Einfluss darauf nehmen.16 Und weil sich auch der Bund Deutscher Architekten (BDA) dafür stark gemacht hatte, wurden schon ab 1968 die ehemaligen Abteilungen für Stadt- und Dorfplanung wieder aus den WBK ausge16 Walter Ulbricht, Die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR bis zur Vollendung des Sozialismus, in: Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der SED vom 17.–22.4.1967 in Berlin, Bd. 1, Berlin 1967, S. 181–183, S. 229 f.
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gliedert. Deren Personal bildete dann die Basis für die neuen „Bezirksbüros für Städtebau und Architektur“ mit etwa 100 bis 120 Mitarbeitern sowie für die ebenfalls in allen größeren Städten neu gegründeten „Büros für Stadtplanung“ mit etwa 40 bis 70 Mitarbeitern.17 Damit wurde eine wichtige Entscheidung getroffen, die bis zum Ende der DDR Bestand hatte: Die kommunale Stadtplanung wurde als staatlich-hoheitliche Aufgabe mit wichtigen Genehmigungsvorbehalten anerkannt, die eben nur mittelbar bauvorbereitend wirkte und daher sinnvollerweise nicht so eng an die Bauausführung anzubinden war. Stadtplaner, die diese Phase selbst miterlebt haben, sprachen nicht ohne tiefere symbolische Bedeutung davon, die Büros hätten damals im Vergleich zu ihren Vorläufern, den Entwurfsgruppen, „ihre Schlagkraft enorm erhöht“.18 Die Prozesse und das daraus hervorgegangene Institutionensystem, vor allem das Gegenüber von WBK und Büro für Stadtplanung, waren widersprüchlich. Die Existenz der kommunalen Büros für Stadtplanung widersprach eigentlich den oben beschriebenen realsozialistischen Logiken ökonomischer Rationalität. Gleichwohl hatten sie Aufgaben zu erfüllen, die für das Funktionieren einer Industriegesellschaft von elementarer Bedeutung waren, nämlich die Organisation der räumlichen Voraussetzungen für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Städte. Naheliegend ist, dass diese Aufgabe nicht nur von externen, rein zentralistisch gesteuerten Einrichtungen zu bewältigen, sondern dass dazu eine gewisse räumliche und organisatorische Nähe zur Stadt nötig war. Schon allein deshalb, weil jede der über viele Jahrhunderte gewachsenen Städte eine eigene Logik, eine eigene Geschichte, Topographie und Zukunftsperspektive hat. Schon die städtebaulichen Planungsaufgaben zum Ende der 60er Jahre schienen hinreichende Gründe für die relative Selbstständigkeit der kommunalen Stadtplanung zu liefern. Im Hinblick auf den 20. Jahrestag der DDR-Staatsgründung 1969 standen die ehrgeizigen Zentrenplanungen auf der Tagesordnung, die örtliche Expertise und Präsenz der Fachleute erforderten. Vor allem in den 80er Jahren, als die innerstädtische Erneuerung dann technische, baukulturelle und soziale Probleme aufwarf, für die das industrielle Bauwesen keine akzeptable Lösung anbieten konnte und die WBK hoffnungslos überfordert waren, zeigte sich der Vorteil einer innovativen, flexiblen und dezentralen örtlichen Struktur. Die Präsenz der Fachleute vor Ort, ihr Kontakt zu örtlichen Entscheidungsträgern und eine gewisse Einbindung in örtliche Strukturen waren auch im Sozialismus durchaus funktional. Die Existenz der Büros für Stadtplanung bis zum Ende der DDR kann also durchaus als ein Zugeständnis des SED-Staates und des Zentralismus an die Funktionserfordernisse der sozialistischen Industriegesellschaft DDR gedeutet werden. Gleichwohl produzierten diese Zugeständnisse institutionelle Paradoxien. Das nachfolgend abgebildete Schema (Abb. 1) illustriert die komplexe Struktur der Institutionen, die auf das örtliche Bauwesen und die Stadtplanung einwirkten, aus der Perspektive des Büros für Stadtplanung. 17 Die Zahl differierte je nach Größe der Stadt. Etwa zwei Drittel dieser Mitarbeiter waren Stadtplaner, Architekten und sonstige Fachleute mit Hochschulabschluss. 18 Aus einem Interview mit einem Rostocker Stadtplaner (vgl. Betker, Einsicht, S. 178–180 u. 308 f.).
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Abb. 1: Der multiorganisatorische Planungskontext der Büros für Stadtplanung, eigene Darstellung; Quelle: Betker, Einsicht, S. 197.
Da die DDR also nicht auf ein Mindestmaß an Arbeitsteilung und differenzierte Funktionsbereiche verzichten konnte, stand sie latent immer in der Gefahr, abweichende Werthaltungen und Orientierungen, kulturelle Strömungen und Eigenlogiken zulassen zu müssen oder diese gar zu provozieren.19 Die SED glaubte zwar, deren Entfaltung und Verselbstständigung mittels ihrer beherrschenden Stellung in Staat und Gesellschaft einzudämmen und sie unschädlich zu machen. Nichts durfte ihre Machstellung gefährden. Und dennoch: Diese Gleichzeitigkeit von Entdifferenzierungs- und Differenzierungsprozessen produzierte permanent Spannungszustände, die ein Ventil im alltäglichen Handeln suchten. Beispiele finden sich im komplexen Wohnungsbau der 80er Jahre wohl in jeder größeren Stadt. Eine der wichtigsten Aufgaben der Büros für Stadtplanung war es, städtebauliche Bebauungskonzeptionen zu entwerfen, mit denen dann die WBK weiterarbeiteten. Das betraf sowohl das Bauen auf der grünen Wiese am Stadtrand, wie auch die Erneuerung der bestehenden Innenstadt. Grundlegende Entschei19 Vgl. die programmatischen Aussagen in den „Grundsätzen für die sozialistische Entwicklung von Städtebau und Architektur in der DDR“ (Beschluss vom Politbüro des ZK der SED und vom Ministerrat, Neues Deutschland, 29./30.5.1982), die mit der realen SED-Baupolitik kaum noch etwas gemein hatten. Vgl. Frank Betker, „… die immer eine Sonderrolle spielten!“ Stadtplaner und Architekten im zentralistischen Bauwesen der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Die DDR in Europa – zwischen Isolation und Öffnung, Münster 2005, S. 351–363.
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dungen zum Umfang und zu den Standorten der Baumaßnahmen waren bereits gefallen, wenn die Büros für Stadtplanung ihre Aufträge und Vorgaben vom Stadtbauamt bzw. von der für den volkswirtschaftlichen Plan zuständigen örtlichen Stadtplankommission erhielten. Eine quantitative Planvorgabe war also in einen räumlichen Entwurf umzusetzen. Was auf der unbebauten Fläche am Stadtrand relativ leicht zu bewerkstelligen war, wurde jedoch zu einem Problem bei der Erneuerung der dicht bebauten Innenstadt. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Büros des Stadtarchitekten in Halle an der Saale berichtete aus den 80er Jahren, dass man im Rahmen des letzten Fünfjahrplans mit dem Auftrag konfrontiert war, in der Innenstadt 5000 Wohneinheiten mit einem hohen Neubauanteil zu realisieren. Nach ersten Standort- und Bebauungsstudien stellte sich rasch heraus, dass diese Planvorgabe nicht umzusetzen war. Freie Flächen waren in der historischen Innenstadt kaum verfügbar und nach dem gesetzlichen Abrissstopp von 1979 konnte auch nicht flächendeckend per Abriss Platz geschaffen werden, jedenfalls offiziell nicht. In dieser paradoxen Situation, in der das Büro des Stadtarchitekten zum einen den an der quantitativen Planerfüllung interessierten staatlichen Institutionen und zum anderen dem an einem effektiven Bauablauf interessierten WBK gegenüberstand, entschloss man sich, ein städtebaulich argumentierendes Konzept zu erarbeiten, das sich am überkommenen Stadtgrundriss und an der Altbausubstanz orientierte. Indem das Konzept also einen relativ hohen Anteil an zu erhaltender und zu modernisierender Bausubstanz vorsah, forderte es explizit auch einen innovativen Umgang mit der Platte: Der unumgängliche und nur in Plattenbauweise zu errichtende Wohnungsneubau sollte sich in die historische städtebauliche Situation der Innenstadt einfügen (siehe Abb. 2 und 3). Das Konzept der kommunalen Stadtplaner und Architekten mündete in die „Städtebauliche Leitplanung Stadtzentrum Halle/Saale“, die offiziell im Bauministerium vorgestellt wurde und dort das Prädikat „vorbildlich“ erhielt. Das Plazet des Bauministeriums, dem es vor allem darum ging, weiterhin industriell mit der Platte zu arbeiten, stärkte jedoch die fachliche Position der Stadtplaner und Architekten vor Ort und half ihnen, neue Muster der Stadterneuerung gegenüber den örtlichen Funktionären und vor allem im WBK durchzusetzen. Auch in Rostock, bei der Leitplanung für die östliche Altstadt, bediente man sich dieser Strategie.20 Während der Planungsprozess unter planmäßigen Umständen einfach darin bestanden hätte, Aufträge entgegenzunehmen und Arbeitsergebnisse weiterzuleiten, mündete er nun in komplexe Aushandlungsprozesse, bei denen Bauamt und Plankommission von einem höheren Anteil zu erhaltender Bausubstanz überzeugt werden mussten und das WBK auf aufwändig eingerichtete Baustellen im historischen Kontext und die Verwendung eigens entworfener Plattenelemente einzustellen war. Der Stadtarchitekt entschied, wofür es sich zu kämpfen lohnte. Denn jede Abweichung von den standardisierten Typen musste mit den Architekten und Technologen des WBK diskutiert werden. Man musste immer auch kompromissbereit sein. 20 Vgl. dazu und zu den Erfahrungen in der Stadterneuerung der 80er Jahre ausführlich Betker, Einsicht, Kapitel 13.
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Abb. 2: Industrieller Plattenwohnungsbau im historischen Zentrum der Stadt Halle, Schlossberg/ Mühlberg, mit Schmucksparren (Fertigstellung 1987); Quelle: Werner Piechocki/Ingo Gottlieb, Halle. Ein Stadtbild im Wandel, Gudensberg 1999, S. 28.
Abb. 3: Industrieller Plattenwohnungsbau im historischen Zentrum der Stadt Halle, Große Klausstraße, rechts Plattenbau, in der Mitte ein saniertes Bürgerhaus aus dem 16. Jahrhundert (um 1989); Quelle: Piechocki/Gottlieb, Halle, S. 24.
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„Vieles wurde durchgesetzt, einiges nicht“, war das Resümee eines Stadtplaners am Ende dieses Prozesses in Halle. Das Beispiel zeigt, dass sich in einem restriktiven und widersprüchlich strukturierten Handlungsraum durchaus Handlungsmöglichkeiten ergeben konnten, wenn Paradoxien auftraten, die Verhandlungen zwischen den Akteuren und die Suche nach Alternativen erzwangen. Um so besser für den Handlungsspielraum war es, wenn dabei noch trickreich die örtliche gegen die zentrale Ebene ausgespielt werden konnte. Wo fanden nun diese Gespräche und Verhandlungen vor allem statt? Die informelle Sphäre Informelles Handeln folgt meist eigenen Logiken, nicht selten Logiken des Augenblicks, in denen sich vorhandene Hintergrundstrukturen zu neuen sinnvollen Konstellationen ordnen. Eine Reihe von Faktoren konstituiert und verstetigt letztlich eine informelle Sphäre, die sich empirisch nachweisen lässt. „Informeller Verhandlungs- und Koordinationsbedarf“, so sah es ein Mitarbeiter der Rostocker Stadtplankommission, „entstand dann, wenn außergewöhnliche Probleme auftauchten oder wenn Dinge außerhalb des Plans geregelt werden sollten.“ Vor allem letztgenanntes ging dann meistens auf die Initiative der unteren ausführenden Ebene zurück, nämlich auf die des Büros für Stadtplanung. Als ein Beispiel ist die Stadterneuerung „Nördliche Altstadt“, das Rostocker Hafenviertel, zu nennen.21 Schon in den Anfangszeiten der Planung in den frühen 70er Jahren, bei einem Treffen im Bezirksbauamt, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter des Büros für Stadtplanung, habe der Direktor des WBK unmissverständlich deutlich gemacht: „Wir bauen drei Zeilen parallel zum Hang, dann kommen wir auch gut mit dem Kran durch“. Immerhin müsse man an die Planerfüllung denken. Bis zuletzt wurde mit den Technologen im WBK „gerungen“, um die schlichten Zeilenbauten parallel zur Warnow zwischen Langer Straße und Hafen zu verhindern und einen Teil der vorhandenen Bausubstanz zu erhalten. Im Büro für Stadtplanung wollte man Strukturen schaffen, die an die historische Altstadt anknüpften. Und dazu brauchte man geringere Gebäudeabstände und ein Minimum an einer differenzierten städtischen Raumbildung, die mit den schlichten, aus den Typenkatalogen des WBK entnommenen unflexiblen Zeilenbauten nicht möglich gewesen wären. Immerhin war das Büro für Stadtplanung im Planungsprozess vor dem WBK am Zuge. Es war in der Position, eine Bebauungskonzeption für die Nördliche Altstadt zu entwerfen, für die die eigenen städtebaulichen Vorstellungen grundlegend waren. Diese Bebauungskonzeption musste einer ökonomischen Prüfung hinsichtlich der Planvorgaben seitens der Plankommission standhalten und im Bauministerium bestätigt werden. Eine Vielzahl von Gesprächen und Verhandlungen auf örtlicher und Bezirksebene kam hinzu. Als nicht nur baupolitische, sondern auch technische Herausforderung wurden die Verhandlungen im WBK empfunden. Man habe die dort zuständigen Bautech21 Bauzeit 1983 bis 1986; Kollektiv Lasch, Bräuer, Kaufmann, Baumbach (Büro für Stadtplanung und Betriebsteil Projektierung u. Technologie des WBK Rostock).
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nologen per eigener Berechnung davon überzeugen müssen, dass auch bei geringeren Straßenquerschnitten noch Rangiermöglichkeiten mit dem Kran und daher Alternativen zum simplen Zeilenbau bestünden.22 Die technische Machbarkeit und Rückendeckung von oben vorausgesetzt, konnte die städtebauliche Bebauungskonzeption des Büros für Stadtplanung für die Neubauten dann weitgehend umgesetzt werden. Die „Nördliche Altstadt“ ist noch heute ein vorzeigbares Stück Stadt, das sogar manche Postkarte ziert (siehe Abb. 4 und 5). Eine Arbeitsteilung oder Zusammenarbeit mit der Projektierungsabteilung des WBK war nicht institutionalisiert. Aber von vielen anderen Bauprojekten ließen sich ähnliche Vorgänge beschreiben. Es entsteht leicht der Eindruck, die 80er Jahre waren das Jahrzehnt der Arbeitsgruppen im Bauwesen der DDR. Immer wieder tauchten Probleme auf oder waren die Standardlösungen derart unbefriedigend, dass unter Beteiligung weiterer Institutionen unterschiedlicher Hierarchieebenen verhandelt und diskutiert werden musste. Die koordinierende Instanz im örtlichen Bauwesen Rostocks, der sogenannte Hauptauftraggeber (HAG), machte mehr als einmal die Erfahrung, dass eine Arbeitsgruppe aus Mitarbeitern des Büros für Stadtplanung und der Projektierungsabteilung des WBK Tag und Nacht gearbeitet und ihre Arbeit dann schließlich in einer Tagungsstätte außerhalb Rostocks einem Entscheidergremium vorgestellt habe. Immerhin war der Bezirksbaudirektor, der Oberbürgermeister, der Stadtbaudirektor und andere dabei. Auch hier sei wieder „bis tief in die Nacht“ diskutiert worden, bis eine Entscheidung getroffen war, die den Entscheidungsträgern in der aktuellen Situation sinnvoll erschien. Eine Vielzahl weiterer Aspekte, Orte und Teilsphären des Informellen ließen sich nennen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie meist in einen formalen Rahmen eingebettet waren. Das trifft auch auf das so wichtige Netzwerk der Architekten selber zu. Auch die Bezirksgruppen des Bundes der Architekten, die immer wieder den notwendigen Kommunikationsraum boten, um zu einem fachlichen Austausch zu kommen und Durchsetzungsstrategien zu entwickeln, spielten eine Rolle. Von einer solidarischen Architektenschaft ging auch eine gewisse Ausstrahlung auf andere Institutionen aus, so die Rostocker Erfahrung. Die Tatsache, dass das Beziehungsgeflecht existierte, dass der Zusammenhalt, die Entschlossenheit, die fachliche Übereinstimmung und Überzeugungskraft in der örtlichen Architektenschaft groß war, war wichtig und unverzichtbar, reichte aber nicht aus, um die Entscheidungsträger zu riskanten Manövern bei der Planerfüllung zu veranlassen. Außerdem konnte die SED jederzeit eine informell ausgeklügelte Strategie durchkreuzen, wenn sie wollte. Es musste bei den Parteifunktionären also ein spezifisches Interesse hinzukommen. Ereignisse und Situationen konnten eine günstige Konstellation schaffen und so einen Möglichkeitsraum eröffnen. Von zentraler Bedeutung waren dabei zwei Faktoren: das Legitimationsbedürfnis und die Eitelkeit der führenden Parteifunktionäre. Beides ließ sich mit außergewöhnlichen Projekten befriedigen, auch wenn diese die Planerfüllung gefährdeten. 22 So ein ehemaliger Mitarbeiter des Rostocker Büros für Stadtplanung; vgl. Betker, Einsicht, S. 320–324.
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Abb. 4: Nördliche Altstadt in Rostock, Postkarte (90er Jahre), links die rekonstruierte Wokrenter Straße, rechts Industrieller Plattenwohnungsbau, im Hintergrund die Lange Straße; Quelle: Verlag Kunst und Bild, Berlin, o.J.
Abb. 5: Fünf-Giebelhaus am Universitätsplatz in Rostock (Fertigstellung 1985/86), Postkarte (90er Jahre); ohne Urheber, o.J.
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Der Städtebau war von Anbeginn von großer legitimatorischer Bedeutung für die DDR und die Politik der SED. Mit ihm sollten die Werte des Sozialismus sichtbar gemacht werden, was sich anhand des Beispiels Stalinallee und anderer Projekte jener Zeit sowie der Zentrumsplanungen der 60er Jahre nachweisen lässt. In den 70er und 80er Jahren wurde der Zusammenhang von Sozialismus und Städtebau immer undeutlicher. Gleichwohl wollte der sozialistische Staat seine Leistungsfähigkeit nach wie vor im Wohnungs- und Städtebau demonstrieren. Der Bausektor habe in der „Jubelpresse eine große Rolle gespielt“. Er war „ganz wichtig für die Legitimation“. Das Bauen war ein „Vorzeigeschild, vielleicht das einzige“, vermutete einer der befragten Stadtbaudirektoren. Das äußerte sich auch darin, dass Stadtgebiete, durch die die sogenannten „Protokollstrecken“ für offizielle Besuche aus dem In- und Ausland führten, nur oberflächlich instandgehalten wurden. „Es ging ja immer wieder darum“, argwöhnte ein Hallescher Architekt, „die DDR spektakulär darzustellen. Und ich meine ja, wir waren… wir waren schlechter als unser Ruf. Unser Ruf, insbesondere auch im Ausland, und unser Ruf bei Gästen, war gar nicht so schlecht, weil es geradezu meisterlich verstanden wurde, diese Gäste auf gewissen Wegen durch unsere verfallenen Städte zu führen.“23 Eine engagierte und fachlich ambitionierte Architektenschaft konnte sich die Eitelkeit führender Genossen also zunutze machen, um ihre Ideen mit den Legitimationsinteressen der Partei zu verknüpfen und durchzusetzen. Eine wichtige Voraussetzung dafür war allerdings, dass zumindest die Aussicht bestand, auch die Planziffern zu erfüllen, denn diese behielten ihren befehlsmäßigen Charakter. Nicht selten war das berufliche Schicksal von Partei- oder Staatsfunktionären mit ihnen verbunden. Das Dilemma mit der Planziffernerfüllung war aber, dass sie der Normalfall sein sollte und damit kaum wirksame Selbstdarstellung betrieben werden konnte. Also gingen ehrgeizige Parteifunktionäre das Risiko ein, mit sichtbaren Leistungen im städtischen Raum zu glänzen oder zu scheitern. Gerade die vermeintliche Unvereinbarkeit von Planziffernerfüllung und Legitimationsbedürfnis schuf jene diffusen Handlungsräume, in denen die örtlichen Stadtplaner und Architekten agierten. Wenn eine außergewöhnliche städtebauliche Maßnahme versprach, die DDR „in einem besseren Licht erscheinen“ zu lassen, dann konnte man mit Unterstützung und mehr „Handlungsspielraum“ rechnen, so die Erfahrung in Halle und Rostock.24 Sowohl die Ersten Sekretäre der SED-Bezirksleitungen als auch die Bezirksbaudirektoren standen in einer Konkurrenzsituation. Es galt, den eigenen Bezirk im Vergleich zu den anderen möglichst gut zu repräsentieren. Herausragende Leistungen der Stadtplaner und Architekten gehörten dazu. Das galt prinzipiell für alle Bezirke und ihre Bezirksstädte. Rostock hatte allerdings einen Vorteil gegenüber den meisten anderen Städten. Für immerhin 18 Jahre, von 1958 bis 1975, war z. B. die jährlich stattfindende internationale Ostseewoche in Rostock das Ereignis, das sowohl die DDR nach au23 Ebd., S. 347. 24 Ebd., S. 326.
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ßen, als auch die Stadt und den Bezirk Rostock nach innen repräsentieren sollte.25 Meist war Ulbricht mit dabei und brachte noch den Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin mit. Zu Besuch waren regelmäßig auch mehrere Bezirksbaudirektoren aus anderen Städten der DDR. Es fanden Rundgänge der führenden Funktionsträger der Stadt und des Bezirks Rostock mit ihren Gästen statt, bei denen sich die Rostocker, so nahm es ein Rostocker Stadtplaner wahr, „in den Leistungen ihrer Stadtplanung sonnen“ konnten. Die Ostseewochen wirkten also beflügelnd auf die Bereitschaft der SED, Außergewöhnliches im Städtebau zu tolerieren und den Stadtplanern und Architekten Handlungsspielräume zu gewähren. Dennoch war es aber für diese immer ratsam, behutsam und zurückhaltend vorzugehen, um ein Projekt nicht zu gefährden. Auch im Büro des Stadtarchitekten in Halle wusste man: „Der beste Weg, als Architekt etwas zu erreichen, war damals, eine Idee zu entwickeln und diese Idee an die Parteileute zu verkaufen, so dass die sich damit identifizieren und die Idee als ihre eigene Idee ausgeben konnten, um sich zu profilieren.“ Legitimation einerseits, fachliche Anerkennung und soziale Wertschätzung andererseits, so ließen sich die jeweiligen reflexiven Interessen benennen, die die beiden Akteursgruppen, wenn auch höchst asymmetrisch miteinander verwoben, wechselseitig bedienten.26 Typisch für moderne Gesellschaften und trotz weitgehender Entdifferenzierung durchaus auch ein Merkmal der DDR-Gesellschaft war es, dass von formalen Organisationen getragene Netzwerke systemintegrativ wirkten. Und dies haben einige der befragten Stadtplaner und Architekten in Rostock und Halle auch selbst so gesehen. Für sie stand aber im Mittelpunkt, die Möglichkeiten des aus ihrer Sicht sinnvollen fachlichen Handelns zu erweitern. Gebauter Eigensinn Die Zugeständnisse des SED-Staats an die Funktionserfordernisse der Industriegesellschaft DDR und die Entscheidung der SED, zu sagen: Ja, wir brauchen Fachleute, hat eine Kette weiterer tendenziell differenzierend wirkender und Eigenlogiken provozierender Institutionalisierungen ausgelöst: Die SED hat letztlich nicht nur die städtische Tradition einer kommunalen Planungseinrichtung mit einem Stadtarchitekten in leitender Position gewahrt und dieser zugestanden, ihr Personal in erster Linie nach fachlichen Kriterien zu rekrutieren. Sie hat auch an einer fachspezifischen Ausbildung festgehalten, die zwar mit Elementen des Marxismus-Leninismus angereichert war, dennoch aber eine Fachausbildung blieb. Von Anfang an wurden Fachleute für die räumliche Planung und Gestaltung an den Hochschulen des Landes, die selbst nicht gänzlich von Traditionen abgeschnitten waren, ausgebildet. Die Hochschulausbildung blieb ein Kernelement des Selbstverständnisses. Im übrigen wurde gerade hier auch das Denken 25 Vgl. Lu Seegers, Die Zukunft unserer Stadt ist bereits projektiert, in: Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 61–106, hier: S. 70. 26 Vgl. Uwe Schimank /Ute Volkmann, Gesellschaftliche Differenzierung, Bielefeld 1999, S. 21.
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in Varianten und Alternativen geübt. Die Möglichkeit, mehrere Antworten zur Lösung eines Problems zu finden, ist im Architektur- und Städtebaustudium fest verankert. Die SED hat zu Beginn der 50er Jahre auch eine Bauakademie und eine Verbandsstruktur, den Bund Deutscher Architekten (BDA) mit seinen Bezirksgruppen, etabliert, die zu den bürgerlichen Traditionsbeständen des Architektenberufs gehörten. Dort geschah fast nichts ohne ihren Willen und Einfluss. Die Institutionen handelten nicht autonom und vertraten keine Standesinteressen, ihre Aufgabe war es vor allem, die SED-Baupolitik zu vermitteln und durchzusetzen. Aber sie repräsentierten einen Berufsstand, dessen wissenschaftlichen und fachlichen Anspruch sowie dessen berufsethische Orientierungen. Diese Institutionen boten einen Kommunikationsraum an, sie bildeten ein Fundament für die Organisation des fachlichen Austauschs, der in einer industriellen Fortschrittsgesellschaft wie der DDR zu den unverzichtbaren Bedingungen für Leistungssteigerungen gehörte. Und sie leistete einen begrenzten Beitrag zur Identitätsbildung der Stadtplaner und Architekten. Manche weiteren Impulse und Traditionsbezüge wären zu nennen, die berufliche Bindungen und Identifikationen sowie die Herausbildung von informellen Strukturen und Netzwerken befördert haben.27 Weil die DDR an der Industrialisierung als Paradigma der Moderne und damit auch an Arbeitsteilung und Spezialisierung festhielt, hielt sie auch an einem – freilich semi-professionellen – Architekten- und Stadtplanerberuf fest. Damit riskierte die SED, Reste eines bürgerlichen Selbstverständnisses28 und – was schwerer wog – traditionelle berufliche Standards und Orientierungen zu konservieren sowie deren ständige Aktualisierung gemäß internationaler Standards zuzulassen. Das war der Nährboden und Kontext für den beruflichen Eigensinn,29 den die Stadtplaner und Architekten entwickelten, um ihren fachlichen Anliegen in einer Grauzone zwischen Anpassung und Widerstand gegen die Zumutungen der Planwirtschaft und des Zentralismus Geltung zu verschaffen. So wurden z. B. in Halle heftige Kämpfe um die Erhaltung alter Bürgerhäuser aus dem 16. bis 18. Jahrhundert und um die individuelle Gestaltung innerstädtischer Neubauten auf historischem Stadtgrundriss geführt. Immer ging es darum, die Identität der Stadt, die vor allem in Halle von ihrem Antlitz her noch eine bürgerliche war, zu wahren. Und im Zusammenhang damit ging es immer auch um einen bürgerlichen Prozess der Aneignung von und Identifikation mit der eigenen Stadt, was für die Profession von größter Bedeutung war. So ähnlich war es in Rostock. Ein Resultat der besonderen kommunikativen Fähigkeiten in der Rostocker Stadtplanung und des fachlichen Eigensinns, der dabei an den Tag gelegt wurde, ist das 1986 fertiggestellte „Fünf-Giebel-Haus“ am 27 Vgl. Betker, Einsicht, S. 341–349. 28 Vgl. Christoph Kleßmann, Relikte des Bildungsbürgertums in der DDR, in: Hartmut Kaelble u.a. (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 254–270, hier: S. 255. 29 Vgl. zur Verwendung des Begriffs Eigensinn in der Stadt- und Planungsgeschichtsforschung Betker, Einsicht, Kap. 3; vgl. Alf Lüdtke, Geschichte und Eigensinn, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte, Münster 1994, S. 139–153; Thomas Lindenberger (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur, Köln u.a. 1999.
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Universitätsplatz (siehe Abb. 5). Mit ihm verbinden sich darüber hinaus aber noch weitere symbolische Bedeutungen, anhand derer sich gleichsam musterbeispielhaft berufsethische Orientierungen beschreiben lassen. Das Fünf-Giebel-Haus ist das Ergebnis einer institutionellen und einer geistig-produktiven Anstrengung sowie einer städtebaulichen Haltung: Es steht zum einen für die Fähigkeit einer Berufsgruppe, sich (informell) zu organisieren, ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen. Und es steht zum anderen für fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten sowie den Anspruch, ein Stück Stadt gemäß den Standards der Profession hinsichtlich Nutzung und Gestaltung und zum Wohl der Stadtbevölkerung an einem zentralen städtischen Ort zu realisieren. Damit werden auch Rationalitätskriterien der Stadtplanung symbolisiert. Hier wurde Stadt angeeignet und Identität nach innen und nach außen gebildet, indem ein individueller Baukörper geschaffen wurde, der zwar typische Formen und Materialien der Region verwendet, aber dennoch ein unverwechselbares Unikat darstellt. Es steht ferner gleichermaßen für eine organisatorische und fachliche Kollektivleistung der im Netzwerk der Stadtplaner und Architekten zusammengeschlossenen Akteure, wie auch für eine individuelle schöpferische Leistung eines einzelnen Architekten. Dass in der Rostocker Architektenschaft zu jener Zeit Diskussionen über die „Postmodernität“ des Fünf-Giebel-Hauses geführt wurden, zeigt ebenfalls ein Stück professioneller Institutionalisierung. Das Rostocker Fünf-Giebel-Haus ist ein im Stadtbild präsentes Produkt institutioneller und geistiger Arbeit, von dem eine vielfältige Symbolkraft ausgeht. Und obwohl – vielleicht auch weil – es eine Ausnahme im Baugeschehen Rostocks ist, verkörpert es symbolisch die Geltungsansprüche einer Berufsgruppe in einem weitgehend entdifferenzierten System, aus dem sich weitere Handlungsmotivationen speisten. Auch nach der Wende behielt es seine hohe symbolische Bedeutung, weil es beispielhaft für die berufsethischen Orientierungen der Rostocker Architektenschaft zu DDR-Zeiten steht und damit Distanz zur baupolitischen Programmatik der SED zum Ausdruck bringt. Fast jeder der Rostocker Gesprächspartner hat sich auf das „Fünf-Giebel-Haus“ bezogen, nicht nur weil es ein Glanzlicht in einer ansonsten städtebaulich armen Zeit setzte, sondern auch wegen der hohen symbolischen Bedeutung für die Zeit nach der Wende. Dabei ging es ja um nicht weniger als den Nachweis der fachlichen Qualifikation. Dass nicht nur der einzelne selbst, sondern die Einrichtung, in der man gearbeitet hat, eine handlungsfähige Institution war, und, mehr als das, Personen, Arbeitsabläufe und Ziele in eine eigene Sinnwelt mit eigenen Symbolen und Logiken eingebunden waren, ist für das Selbstbewusstsein enorm wichtig. Max Weber hat dafür den Begriff der „Kulturbedeutung“ geprägt,30 der den Unterschied zwischen einem reinen Funktionszusammenhang, der nach Zweck-Mittel-Relationen – quasi nur im Parteiauftrag – funktioniert, und einer Institution, die einer Leitidee folgt, ausmacht. Relativ unerheblich ist es dabei, ob nun nach sozialistischen Idealvorstellungen oder nach einer universellen Berufsethik gehandelt wird 30 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988 (zuerst 1904).
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– vielleicht vermischten sich beide sogar. „Funktionäre funktionieren; erst die soziale (kulturelle, politische etc.) Bedeutung eines gesellschaftlichen Verbandes konstituiert eine Wertbeziehung, mit der sich Moral, Ethik und verantwortliches Handeln begründen und einfordern lassen.“31 Das Entstehen eigener Sinnwelten und das Bedürfnis bzw. die Notwendigkeit des beruflich eigensinnigen Handelns hatte also eine doppelte Ursache. Einerseits drängten für den hier untersuchten Berufsstand der Stadtplaner und Architekten das professionelle Selbstverständnis und die berufsethischen Orientierungen nach Geltung und Anerkennung. Das ist gar nicht mal ungewöhnlich, denn in allen Institutionen steckt ein Potenzial für Eigendynamik. Andererseits war das Entstehen eigener Sinnwelten auch eine logische Folge der Zugeständnisse der SED und des Zentralismus an die Funktionserfordernisse der Industriegesellschaft. Die SED hätte ihr eigenes Projekt der Moderne, die Industriegesellschaftlichkeit der DDR, gefährdet, wenn sie solches hätte unterbinden wollen. Das Zugeständnis der SED und des Zentralismus an die Industriegesellschaft schuf also erst die Handlungsräume, die gerade jene Einrichtungen und ihre Akteure zu nutzen versuchten, die, wie die kommunalen Stadtplaner und Architekten und ihre Büros für Stadtplanung, auf eine Tradition als professionelle, selbstständig handelnde Institution zurückblicken konnten, und die über institutionelle Repräsentationen und Gelegenheiten des Handelns verfügten. Das Zugeständnis der SED und des Zentralismus an die Industriegesellschaft und die Funktionsfähigkeit ihrer Städte schuf gleichermaßen erst jene Handlungsspielräume, in denen fachliche Standards eingefordert wurden, in denen die Leitideen und Rationalitätskriterien der Profession zur Geltung drängten und vereinzelt, gleichsam symbolisch repräsentativ, in der Realität als gebauter Eigensinn zum Ausdruck kamen. Epilog Der Begriff des Handlungsspielraums erweist sich letztlich als geeignet, Prozesse zu beschreiben, die das zentralistisch organisierte, planwirtschaftlich dominierte und parteistaatlich gesteuerte Institutionensystem des Bauwesens auf kommunaler Ebene zeitweise und begrenzt unterlaufen konnten. Wenn sie es auch niemals ins Wanken brachten. Das Beispiel der kommunalen Büros für Stadtplanung zeigt jedoch auch, dass dem Begriff des Handlungsspielraums unbedingt Begriffe an die Seite zu stellen sind, die die Handlungsspielräume überhaupt erst erklärbar machen. Institutionelle Paradoxien eröffneten Möglichkeitsräume und eine informelle Sphäre konstituierte sich als „zweite Wirklichkeit“, gleichsam als Handlungstypus, in dem sich ein beruflicher Eigensinn der Stadtplaner und Architekten entfalten konnte. Erst dieser liefert die Bestimmungsgründe, die nötige wertrationale Motivstruktur, die dem Handeln der Stadtplaner und Architekten sozialen Sinn verlieh.
31 Soeffner, Gesellschaft, S. 323; vgl. auch Gerhard Göhler, Politische Institutionen und ihr Kontext, in: ders. (Hrsg.), Die Eigenart der Institutionen, S. 19–46, hier: S. 41 f.
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Handlungsspielräume wurden also meist von unten erkämpft, dann aber nie offiziell, sondern immer nur informell eingeräumt. Da offene Auseinandersetzungen nicht möglich waren, kamen Handlungsspielräume durch Arrangements zustande, die gemeinsam mit den Vertretern der herrschenden Partei vereinbart wurden. Die informelle Sphäre war deshalb auch meist in einen formalen Rahmen eingewoben. Denn eines blieb bestehen: Das Machtmonopol der SED versetzte die Partei jederzeit in die Lage, Arrangements aufzukündigen, eigensinniges Handeln zu unterbinden und die Rationalitätskriterien der Planwirtschaft und des Zentralismus monopolistisch durchzusetzen. Handlungsspielräume konstituierten nie einen eigenen, auch rechtlich oder politisch abgesicherten Handlungsraum mit eigenen Sanktionsmöglichkeiten. Handlungsspielräume waren bestenfalls temporär toleriert, sie wurden nie als echte Wahlmöglichkeit zwischen Alternativen auf Dauer gestellt. Das Verhältnis zwischen der SED und den kommunalen Stadtplanern und Architekten war ein prinzipiell unentrinnbares, das der Hegelschen Herr-Knecht-Konstellation sehr nahe kommt. Die permanente Unzuverlässigkeitsvermutung der SED den Stadtplanern und Architekten gegenüber verstärkte diese sicherlich noch. Dabei wird allerdings ein Wechselverhältnis erkennbar. Der traditionell bürgerliche und im Sozialismus zu überwindende soziale Status der Berufsgruppe engte die Handlungsspielräume einerseits vielleicht sogar stärker ein als bei vergleichbaren Berufsgruppen, z. B. den Künstlern. Andererseits aber stellten die Traditionen des Berufs eine wichtige Motivstruktur zur Erweiterung von Handlungsspielräumen dar. Wenn nun also Arrangements zustande kamen, waren das Legitimationsbedürfnis und die Eitelkeit der führenden Genossen ein wichtiges Bindeglied zu den eigensinnigen Handlungen, aber nicht deren Ausgangspunkt und Ursache. Der lag vielmehr darin begründet, dass die Stadtplaner und Architekten bestrebt waren, professionell vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Tradition, ihrer Ausbildung, ihrer berufsethischen Orientierung und im Sinne einer ihrer Ansicht nach sinnvollen Stadtentwicklung zu handeln. Oder einfacher ausgedrückt: Sie wollten ihr erworbenes Wissen qualifiziert anwenden. Dabei wollte man natürlich auch nicht auf einige zentrale Errungenschaften des Sozialismus verzichten, z. B. das humanistische Anliegen oder die gesellschaftliche Verfügung über Grund und Boden. Beides übrigens Anliegen, die auch schon Teile der Reformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts geprägt hatten. Der Erfolg, Handlungsspielräume zu erweitern und beruflich eigensinnig zu handeln, lag daher auch nicht darin, unmittelbar grundlegende Veränderungen im System zu bewirken, sondern er lag darin, mittels symbolischer Darstellungen einen Anspruch auf Dauer und „Eigenrichtigkeit“ (Rehberg)32 berufsethischer Orientierungen formuliert zu haben.
32 Rehberg, Institutionen, S. 57; vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung, in: Gert Melville (Hrsg.), Institutionalität und Symbolisierung, Köln u.a. 2001, S. 3–49, hier: S. 8 f.
GESTALTEN ODER VERWALTEN? ÜBERLEGUNGEN ZUM HERRSCHAFTSANSPRUCH UND SELBSTVERSTÄNDNIS SOZIALISTISCHER KOMMUNALPOLITIK IM LETZTEN JAHRZEHNT DER DDR Albrecht Wiesener „Diva in Grau“ – die sozialistische Stadt am Ende einer Epoche In einem Radio-Beitrag des Süddeutschen Rundfunks vom Januar 1990 mit dem Titel „HALLE – Stadt zwischen Verfall und Aufbruch“ wird das äußerliche Bild einer Stadt nach 40 Jahren sozialistischer Stadtentwicklung eindrucksvoll beschrieben: „Ganze Straßenzüge stehen leer, die Häuser einsturzgefährdet, verbarrikadiert, gespenstisch die Reihen dunkler Fensterlöcher, eingeworfene Scheiben, auf den Trottoiren der Schutt bröckelnder Fassaden, aus den rissigen Mauern gefallene Steine. Ein Bild des Jammers – der Verfall dieser Stadt“.1 Diese Momentaufnahme aus Halle ist nur ein markantes Beispiel für eine Vielzahl ähnlich lautender Zustandsbeschreibungen aus der unmittelbaren Wendezeit 1989/90. Sie alle thematisieren den baulichen Zustand der DDR-Städte stets in unmittelbarem Zusammenhang mit den Verfehlungen der sozialistischen Städte- und Wohnungsbaupolitik.2 Noch während der ereignisreichen Wochen im Herbst 1989 wurde das Thema „Stadtzerstörung“ durch eine zunehmend selbstbewusster agierende Koalition von Bürgerinitiativen, Experten und Journalisten zu einem wichtigen Thema in der sich neu konstituierenden politischen Öffentlichkeit.3 Unzweifelhaft verschärfte sich das Problembewusstsein der Bürger in diesen Wochen und Monaten allein schon durch den Anblick zugemauerter Häuserfronten und unbebauter Abrissflächen, der sich ihnen auf den Demonstrationswegen durch die historischen Innenstädte der DDR darbot. Unter den demonstrierenden Bürgern wurde der Ruf nach den Verantwortlichen für diese verfehlte Politik zunehmend lauter. Nicht allein Parteifunktionäre sahen sich mit Vorwürfen hinsichtlich der „Stadtzerstörung“ ausgesetzt. Auch die staatlichen Funktionsträger aus den Kommunen der DDR, darunter die verantwortlichen Sekretäre für Wohnungspolitik und die Stadtarchitekten standen unter 1 2 3
Anselm Weidner, Manuskript des am 9. und 16. Januar im Süddeutschen Rundfunk (SDR) gesendeten Features „HALLE – Stadt zwischen Verfall und Aufbruch“, SDR-Studio Heidelberg, S. 8. Vgl. dazu Helga Wetzel, Stadterneuerung und Bürgerbewegung 1989/90, in: Adalbert Behr (Hrsg.), Alte Städte, neue Chancen. Städtebaulicher Denkmalschutz. Mit Beispielen aus den östlichen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1996, S. 450–467, hier: S. 451. Vgl. dazu Bernd Hunger, Stadtverfall und Stadtentwicklung – Stand und Vorschläge, in: Peter Marcuse/Fred Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, Berlin 1991, S. 32– 48, hier: S. 32.
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erheblichem Legitimationsdruck angesichts des offenkundigen Missverhältnisses zwischen Anspruch und Wirklichkeit sozialistischer Städte- und Wohnungsbaupolitik.4 Die offensichtliche Krise des Staates symbolisierte sich in diesen Wochen und Monaten des Herbst 1989 auch auf dem Feld der lokalen Entscheidungsgewalt, deren politischen Vertreter aus der SED und den Blockparteien angesichts des schwindenden Einflusses der Zentralgewalt in Berlin kaum in der Lage waren, alternative Handlungsstrategien für die unmittelbar drängenden Probleme zu entwerfen.5 In Halle zeigten sich die Versäumnisse der kommunalen und zentralstaatlichen Politik vor allem im nicht gelösten Wohnungsproblem sowie in der hohen Umweltbelastung durch die nahe gelegenen Chemiewerke Buna und Leuna. Gleichzeitig blieben stadtgestalterische Bemühungen wie die Rekonstruktion des Händel-Geburtshauses und des Roten Turms angesichts des zunehmenden Verfalls der historischen Innenstadt Makulatur. Der jahrzehntelange Verlust an historischer Bausubstanz in der Innenstadt und in den angrenzenden Altbauwohngebieten führte in den 1980er Jahren zu einer Ausgliederungsquote an Wohnraum, die sich angesichts der Zielsetzungen der SED, das Wohnungsproblem bis zum Jahre 1990 zu lösen, ökonomisch nicht mehr vertreten ließ und gleichzeitig die Identität der städtischen Gemeinschaft bedrohte, wie eine Expertise der Bauakademie in Berlin zur Generalbebauungsplanung der Stadt Halle im August 1989 kritisch anmerkte.6 Die seit 1975 voranschreitende Rekonstruktion der Altbauwohngebiete in der Hallenser Innenstadt konnte zwar Erfolge in ausgewählten Bereichen wie Brunos Warte und Domviertel hinsichtlich des Erhalts der stadträumlichen Strukturen und der Fassadengestaltung aufweisen.7 Doch die für den weiteren Verlauf der Rekonstruktion in der 4
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Vgl. dazu den apodiktisch gehaltenen Beitrag von Michael Völker, Zum Scheitern der Kommunalpolitik in der DDR, Siegen 1990. Vgl. mit Hinweis auf die Situation in Leipzig Harry Schilka, Laßt unsere Städte nicht verfallen! in: Bürgerbewegung für Demokratie in den Kommunen, Berlin 1990, S. 43 f. Zumindest auf dem Gebiet der Stadtgestaltung waren die Probleme auch kaum durch einen einfachen Politikwechsel zu beheben. Die strukturellen Defizite der Baupolitik in der DDR zeigten sich im Mangel an finanziellen und materiellen Kapazitäten für die Rekonstruktion der Altbauwohngebiete, der vor allem durch die Überführung kleinerer und mittlerer Baubetriebe in Volkseigentum zu Beginn der 1970er Jahre und durch die Vernachlässigung der Reproduktionsbedingungen der Bauwirtschaft, insbesondere der Betriebe des ortsgeleiteten Bauwesens und der Baumaterialienindustrie bedingt war. Vgl. Günther Kabus, Stadtentwicklung – vorrangiges Anliegen der Kommunen, in: Auf dem Wege zur kommunalen Selbstverwaltung. Gedanken, Ideen, Konzepte, Berlin etc. 1990, S. 60–62, hier: S. 60. Siehe für eine Zusammenstellung der Faktoren für diese verfehlte Stadtpolitik Hannsjörg F. Buck, Mit hohem Anspruch gescheitert. Die Wohnungspolitik der DDR, Münster 2004, S. 355 ff. Bauakademie der DDR, Information zu ausgewählten Ergebnissen des Arbeitstandes der Generalbebauungsplanung der Stadt Halle 31.8.1989, S. 2 ff., Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner, Wissenschaftliche Sammlungen, Bestand Halle-Neustadt. Vgl. dazu die positive Einschätzung des für die Rekonstruktion zuständigen Stadtarchitekten von Halle: Wulf Brandstätter, Neubauten in einem innerstädtischen Rekonstruktionsgebiet. Zum Beispiel Brunos Warte in Halle, in: Farbe und Raum 40 (1986), S. 9–12. Dagegen kam eine Expertise der Bezirksgruppe Leipzig des Bundes der Architekten der DDR (BDA) aus
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Stadt Halle getroffenen Planungen bis zum Jahre 2000 hätten einen Verlust von mehr als der Hälfte der Altbausubstanz an Wohnungen bedeutet.8 Aber auch die realisierten Flächenabrisse schufen in den 1980er Jahren eine bedrückende Realität. Sie rissen riesige Lücken in die jahrhundertealten Viertel der Innenstadt und ließen dadurch die restliche Bausubstanz noch maroder aussehen, als sie es tatsächlich war. In Einzelfällen, wie der Großen Märkerstraße südlich des Marktplatzes, nahm der Verfall der Bausubstanz derart monströse Züge an, dass Straßen gänzlich für den Verkehr gesperrt werden mussten.9 Helga Paris hat mit ihrer Dokumentation „Häuser und Gesichter. Halle 1983–85“, deren öffentliche Ausstellung in der Galerie Marktschlößchen im Sommer 1986 durch die SED-Bezirksleitung in Halle verhindert wurde, ein authentisches Bild dieses Verfalls der alten Stadt Halle festgehalten. Die Berliner Fotografin hatte über mehrere Jahre hinweg Stadtlandschaften und deren Bewohner in Halle fotografiert. Ihre Bilder aus Halle dokumentierten nicht nur den äußerlich maroden Zustand einer Stadt am Ende des industriellen Zeitalters. Auch die Aufnahmen von den Menschen in ihrer städtischen Umgebung zeigten deutlich die Zeichen von Abnutzung und Zeit.10 Nicht zu unrecht ist diese Situation der Stadt Halle am Ende der 1980er Jahre von Georg Wagner-Kyora als „erdrückende städtebauliche Agonie“ bezeichnet worden, als „depressiver Schwebezustand in Erwartung des Totalverlustes einer gewachsenen und vertrauten städtebaulichen Lebensumwelt“, der in der Langzeiterfahrung eine „mentale Dissoziierung der Hallenser von ihrer Stadt, die Loslösung von ihren urbanen Kommunikationsräumen […]“ bewirkte.11 Auch aus der Sicht des ostdeutschen Architekturtheoretikers Bruno Flierl verloren die DDRStädte in den 1980er Jahren zunehmend an Funktionstüchtigkeit und Lebensqualidem Jahr 1987 zu einer eher negativen Einschätzung der Rekonstruktionsvorhaben in DDRStädten: „Insgesamt gesehen lassen sich die guten Beispiele nicht verallgemeinern. Bezogen auf den Durchschnitt der Gesamtbauproduktion sind die positiven Beispiele nicht repräsentativ, denn: Alle Städte in der DDR bewältigen die Rekonstruktion ihrer baulichen Substanz nicht. Ortsspezifika werden durch Erzeugnisse verwischt.“ Zit. nach: Jürgen Rostock, Die betonierte Zukunft. Zum Wohnungsbauprogramm der DDR, in: Arch+ 103/1990, S. 4–8, hier: S. 6. 8 Bauakademie der DDR, Information, S. 3. 9 Nach Einschätzung des Stadtplanungsamtes standen 1992 in Halle etwa 10 000 Wohnungen leer. Vgl. Brigitte Schaarschmidt u.a., Halle (Saale), Historischer Altstadtkern, Bundeswettbewerb 1992–1994, Erhaltung des historischen Stadtraumes in den neuen Ländern, herausgegeben von Klaus Rauen u.a., Halle 1992, S. 5. 10 Siehe den noch vor dem Verbot vertriebenen Katalog zur Ausstellung „Häuser und Gesichter. Halle 1983–85“ in der Galerie Marktschlößchen in Halle vom 24.6. bis 27.7.1986, herausgegeben vom Verband Bildender Künstler der DDR, Bezirksvorstand Halle, Gestaltung Helmut Brade und Andreas Richter, Halle 1986. 1991 erschienen die Fotografien in der Publikation „Diva in Grau – Häuser und Gesichter in Halle“, herausgegeben von Jörg Kowalski und Dagmar Winklhofer, Fotografien von Helga Paris, Texte von Wilhelm Bartsch, Heinz Czechowski u.a., Halle 1991. 11 Georg Wagner-Kyora, Graue Diven erfinden sich selbst. Akteurshandeln und Identitätskonstruktion in Entscheidungsprozessen über Altstadtsanierung von Halle und Leipzig 1990— 2003, in: Andreas Ranft/Stephan Selzer (Hrsg.), Städte aus Trümmern. Katastrophenbewältigung zwischen Antike und Moderne, Göttingen 2004, S. 201–273, hier: S. 212 f. .
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tät. Der Verfall der Stadtumwelt schien schneller voranzuschreiten als ihre Erhaltung und Erneuerung durch Neubau und Modernisierung – und dies trotz großer baulicher Anstrengungen. Die alltäglichen Erfahrungen dieses Niedergangs kompromittierten auf unspektakuläre Weise die durch das Wohnungsbauprogramm erhofften Legitimationsgewinne für die SED-Führung: „In der Krise der Stadt offenbarte sich die Krise der Gesellschaft.“12 Aber welche Rolle spielten die Kommunalpolitiker und lokalen Parteifunktionäre in dieser Geschichte des Niedergangs der DDR-Städte, die hier am Beispiel Halles beispielhaft beschrieben wurde? Waren Oberbürgermeister, Stadtverordnete und Stadtarchitekten mitverantwortlich für die „städtebauliche Agonie“, weil sie den zentralistisch vorgegebenen Richtlinien der Städte- und Wohnungsbaupolitik keine gestalterische Vision abringen konnten, die den besonderen lokalen Gegebenheiten entsprochen hätte? Ergaben sich für das politische Handeln in den Kommunen der DDR nicht auch Möglichkeiten, die institutionellen Grenzen der Entscheidungsfindung zu umgehen und für drängende Probleme des Alltags pragmatische Lösungen anzustreben, die auf gemeinsam geteilten Erfahrungen von Bürgern, Parteifunktionären und Kommunalpolitikern beruhten? Diese Fragen führen ohne Zweifel zum Kern der gegenwärtigen Diskussion um die Zukunft der DDR-Forschung.13 Trotz des umfassenden Kenntnisstandes zu nahezu allen Bereichen von Staat und Gesellschaft in der DDR fehlen auch 20 Jahre nach dem Ende der SEDHerrschaft zuverlässige Untersuchungen, in denen die Interaktion zwischen den unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft und zwischen ihren jeweiligen Akteuren im Vordergrund steht und in denen Herrschaftspraxen nicht allein als gezielte Einflussnahmen auf die Gesellschaft durch die allmächtige Staatspartei beschrieben werden. Die DDR als einen Gegenstand der Gesellschaftsgeschichte zu konzeptionalisieren, die als „Sozialgeschichte des Politischen“ die unterschiedlichen Herangehensweisen einer Politikgeschichte der Strukturen und einer Sozial- und Kulturgeschichte gesellschaftlicher Praxen zu synthetisieren vermag, steht als Aufgabe nach wie vor im Raum.14 12 Bruno Flierl, Stadtgestaltung in der ehemaligen DDR als Staatspolitik, in: Marcuse/Stauffenbiel, Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, S. 49–65, hier: S. 49. Siehe dazu auch die Ergebnisse bei Siegfried Grundmann u.a., Soziale Probleme der Entwicklung von Städten und Dörfern in der DDR, in: Wissenschaftlich-technischer Fortschritt – soziale Entwicklung. Soziologische Studien. Thematische Information und Dokumentation, Heft 78 Reihe A, Akademie für Gesellschaftswissenschaften, Berlin- Ost 1990, S. 106–128. 13 Vgl. dazu Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Festschrift für Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Paderborn etc. 2003. Vgl. für die kurze Debatte um die Zukunft der DDR-Forschung: Jürgen Kocka, Der Blick über den Tellerrand fehlt, in: FR vom 22.8.2003; Hermann Wentker u.a., Ist die DDRForschung wirklich in der Krise?, in: FR vom 30.9.2003, Martin Sabrow/Thomas Lindenberger, Das Findelkind der Zeitgeschichte, in: FR vom 12.11.2003; Hermann Wentker u.a., Die Zukunft der DDR-Forschung. Potentiale und Probleme zeithistorischer Forschung, in: VfZ 53 (2005) 4, S. 547–570. 14 Siehe dazu die Überlegungen von Thomas Lindenberger, In den Grenzen der Diktatur. Die DDR als Gegenstand von „Gesellschaftsgeschichte“, in: Eppelmann/Faulenbach/Mählert, Bilanz und Perspektiven, S. 239–245, hier: S. 244 f. Siehe auch die konzeptionellen Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gesellschaft im Staatssozialismus von Ralph Jessen, der die ver-
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Die auf das letzte Jahrzehnt der SED-Diktatur bezogene Erfahrung der Stadtbewohner von Halle sollte als Ausgangspunkt für die folgende Erörterung der Rahmenbedingungen und Interpretationsweisen politischen Handelns im städtischen Raum der DDR dienen. Die Überlegungen stützen sich neben eigenen Recherchen zu Halle auch auf Untersuchungen zur Wohnungspolitik, zu Fragen der Stadtentwicklung und zur Eingabentätigkeit in der DDR, die in den letzten Jahren zu anderen ostdeutschen Städten entstanden sind.15 Im Anschluss an einen kurzen Aufriss zu den Strukturen der Kommunalpolitik in der DDR und zu ihrer Einbindung für die Zwecke der SED-Gesellschaftspolitik soll die Frage diskutiert werden, welcher Politikbegriff für eine Analyse des politischen Handelns im städtischen Raum verwendet werden könnte und worin er sich von bisherigen Untersuchungen zur Kommunalpolitik unterscheidet. Im Mittelpunkt des Aufsatzes stehen die unterschiedlichen Konflikte und Interaktionsformen zwischen Bürgern, Kommunalpolitikern und lokalen Parteifunktionären, die im Verlauf der 1980er Jahre durch die krisenhafte Stadtentwicklung in der DDR eine besondere politische Akzentuierung und Öffentlichkeitswirksamkeit erlangten. Die Kommune als lokales Staatsorgan und das Politische in der sozialistischen Stadt In der DDR bürgerte sich der Begriff „Kommunalpolitik“ erst in den 1960er Jahren ein, wurde aber fast immer nur mit dem Zusatz „sozialistische“ oder „örtliche“ gebraucht.16 Gemäß dem „Kleinen Politischen Wörterbuch“ von 1978 bedeutete Kommunalpolitik in der DDR die „staatliche Leitung und Planung aller die Entwicklung der Städte und Gemeinden sowie des gesamten Siedlungsnetzes im Sozialismus bestimmenden gesellschaftlichen, materiellen und geistig-kulturellen Bestärkte Beachtung informeller Beziehungen und Handlungsweisen und die Erforschung von Mikrostrukturen sozialer Beziehungen einfordert, da nur so die Entschlüsselung der Verschränkungen von formeller Herrschaftsstruktur und informeller Beziehungsarbeit in der DDR gelingen kann. Ralph Jessen, Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: GG 21 (1995) 1, S. 96–110. 15 Der Verfasser arbeitet an einem Dissertationsvorhaben zum Thema „Die Stadt als diskursiver Raum des Politischen. Städtebaulicher Wandel und politische Kultur in der Bundesrepublik und der DDR“, das beispielhaft die Städte Bielefeld und Halle/Saale behandelt und vor dem Abschluss steht. Darüber hinaus sei an dieser Stelle auf die 2000 an der EHESS in Paris eingereichte Dissertation von Jay Rowell verwiesen, die unter dem Titel „L’etat totalitaire en action. Les politiques du logement en RDA 1945–1989“ eine beeindruckende Analyse der mikropolitischen Konstellationen auf dem Feld der sozialistischen Wohnungspolitik am Beispiel von Leipzig darstellt. Wichtige Impulse für die gesellschaftsgeschichtliche Forschung zu DDRStädten lieferten aber vor allem das an der TU Berlin im Zeitraum von 2001–2004 angesiedelte Projekt zu drei Industriestädten in der DDR (Schwedt/Oder, Ludwigsfelde und Rostock) sowie das von Adelheid von Saldern betreute Forschungsprojekt zu Herrschaftsrepräsentationen in ostdeutschen Städten in den 1930er und 1960er Jahren, deren Ergebnisse in mehreren Sammelbänden dokumentiert sind. 16 Klaus Sieveking, Kommunalpolitik und Kommunalrecht in der DDR, in: DA (1983) 11, S. 1163–1174, hier: S. 1165.
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dingungen und Beziehungen“.17 Dass es sich dabei um eine gemeinschaftsbezogene Aufgabe staatlicher Politik handelte, macht auch der Kommentar zum Artikel 43 der Verfassung von 1968 deutlich, in dem die Städte und Gemeinden auf die Befriedigung der „gemeinsamen Bedürfnisse der Bürger“ verpflichtet wurden.18 So zählte die Organisation und Gewährleistung der Versorgung der Bürger mit Wohnraum, Konsumgütern, Energie und Dienstleistungen zu den wichtigsten Zielen der Kommunalpolitik in der DDR, wogegen andere Tätigkeitsfelder der kommunalen Verwaltungen wie die Sozialpolitik oder die Stadtgestaltung in den Hintergrund traten.19 Die leninistische Konzeption einer einheitlichen, auf den verschiedenen Ebenen von den zuständigen Organen verwalteten Staatsmacht, die zentral zugewiesene Kompetenzen verwaltete, bildete seit dem „Gesetz über die örtlichen Organe der Staatsmacht“ von 1957 den staatsrechtlichen Rahmen für die Ausprägung der Kommunalpolitik und des Kommunalrechts in der DDR.20 Durch die Aktualisierung der Gesetzgebung zu den örtlichen Volksvertretungen 1973 und 1985 entwickelte sich die sozialistische Kommunalpolitik zu einer staatsrechtlichen und herrschaftspolitischen Mischform, in der sich „Bestandteile eines zentralistisch organisierten Systems parlamentarischer Volksvertretung mit rätedemokratischen und parteistaatlichen Elementen verbanden“.21 Das wichtigste herrschaftspolitische Moment der Einbindung der Kommunen in den zentralistischen Staatsapparat der DDR war das Prinzip der doppelten Unterstellung, durch welches die einzelnen Fachverwaltungen des Rates der Stadt nicht nur dem Vorsitzenden des Rates und der Volksvertretung, sondern gleichzeitig auch dem übergeordneten Fachorgan im Rat des Kreises, im Rat des Bezirkes wie im Ministerium unterstellt waren. Diese doppelte Unterstellung gewährleistete, dass innerhalb der jeweiligen Fachverwaltung ein Weisungs- und Kontrolltrang von oben nach unten verlief, „der das Herrschaftssystem der ‚einheitlichen, sozialistischen Staatsmacht‘ bis in die letzte Dienststelle auf örtlicher Ebene hinein sicherstellte“.22 Hinzu trat die „Kompetenzkompetenz“ der sozialistischen Staatspartei SED, deren Strukturen eine parallele Entscheidungswelt darstellten und jeder kommunalen Beschlussfassung vorgeschaltet waren.23 Erst das „Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen“ von 1985 stellte einen allenfalls zaghaften Versuch dar, durch die Konkretisierung der Rechte und Pflichten der Kommunen eine 17 Kleines Politisches Wörterbuch, 3. überarbeitete Auflage, Berlin (Ost) 1978, S. 446. 18 Verfassung der DDR. Dokumente, Kommentar, 2 Bände, Bd. 2, Berlin (Ost) 1969, S. 198. 19 Vgl. dazu Gero Neugebauer, Zur Situation der Kommunalpolitik in der DDR, in: Ilse Spittmann (Hrsg.), Veränderung in Gesellschaft und politischem System der DDR. Ursachen, Inhalte, Grenzen. XXI. Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 24.–27.5.1988, Köln 1988, S. 117–128, hier: S. 118 f. 20 Vgl. zum Kommunalrecht Herwig Roggemann, Kommunalrecht und Regionalverwaltung in der DDR. Einführung in das Recht der Gemeinden, Städte, Kreise und Bezirke, Berlin 1987. 21 Ebd., S. 18. 22 Hellmut Wollmann, Kommunalpolitik und -verwaltung in Ostdeutschland. Institutionen und Handlungsmuster im „paradigmatischen“ Umbruch. Eine empirische Skizze, in: Ders./Hubert Heinelt (Hrsg.), Brennpunkt Stadt. Stadtpolitik und lokale Politikforschung in den 80er und 90er Jahren, Basel etc. 1991, S. 237–258, hier: S. 241. 23 Roggemann, Kommunalrecht, S. 21.
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größere Verantwortlichkeit für die lokale Verwirklichung der gesellschaftspolitischen Ziele in der DDR und vor allem eine höhere Effektivität der kommunalen Verwaltungen vor Ort zu erreichen. An der „verbindlichen Festlegung des substanziellen Ziels aller Politik durch die Partei selbst“, änderte sich allerdings nichts.24 In ihrem bemerkenswerten Aufsatz „Öffentlichkeit und Gleichheit – zu den Schwierigkeiten mit öffentlichen Räumen im Osten“ skizziert die Soziologin Regina Bittner das Bild einer sozialistischen Stadt in der DDR, das vor allem durch soziale und kulturelle Entdifferenzierungsprozesse, durch betriebsähnliche Organisationsformen sowie durch ein politisches Verständnis von Zentralität bestimmt wird.25 Ohne näher auf die faktische Geltungskraft staatsrechtlicher und politischer Regularien im Hinblick auf die Städte in der DDR einzugehen, kann sie gute Gründe für die These anführen, dass die sozialistische Stadt als Gleichheitsversprechen nicht nur eine ideologisch begründete Vorstellung blieb, sondern sich gleichsam sozialräumlich vergegenständlichte: „Der Ehrgeiz war aus der Öffentlichkeit verbannt und kreierte andernorts wilde Räume durch eine Praxis, die andere Vorstellungen von Grenzen entwarf. Das klingt nach ‚Nischengesellschaft‘, wenn man nicht noch weiter ausholt. Denn die wilden Räume waren nicht jenseits des staatssozialistischen Disziplinarraumes angesiedelt, sondern informelle Taktiken durchdrangen diesen, wie umgekehrt die gesellschaftliche Struktur sich in ihnen Geltung verschaffte.“26 Eine „Gesellschaft der Gleichen“, wie sie Bittner für die öffentliche Sphäre sozialistischer Vergesellschaftung in der DDR konstatiert, fand vor allem in den überschaubaren Erfahrungswelten der Betriebe und Wohngebiete seinen sinnfälligen Ausdruck.27 Zwar war die Bindungskraft der kollektiven Vergemeinschaftung in diesen Erfahrungswelten auch durch Konformitätsdruck und Normalisierungszwang gekennzeichnet. Sie boten aber gleichzeitig einen Schutzraum vor den Zumutungen von oben und reduzierten die Komplexität der sozialistischen Gesellschaft auf „Nahkampfzonen“, die vor allem von alltäglichen Problemen geprägt waren.28 24 Sighard Neckel, Das lokale Staatsorgan. Kommunale Herrschaft im Staatssozialismus der DDR, in: ZfS (1992) 4, S. 252–68, hier: S. 255. 25 Vgl. Regina Bittner, Öffentlichkeit und Gleichheit – zu den Schwierigkeiten mit öffentlichen Räumen im Osten, in: Stiftung Bauhaus Dessau (Hrsg.), Dokumentation der Tagung und Ausstellung „Die geteilte Moderne – Architektur im Nachkriegsdeutschland“ im Bauhaus Dessau 16.10.1999–23.1.2000, Dessau 2001, S. 61–67, hier: S. 62 f. 26 Ebd., S. 66. 27 Wie sehr aber auch diese alltäglichen Erfahrungswelten durch allgemeine politische Sinnsetzungen überformt wurden, verdeutlicht sich in der Definition der gemeinsamen Interessen der Bürger eines Wohngebiets, über die es in der Publikation „Bürger – Hausgemeinschaft – Wohngebiet“ von 1981 bezeichnenderweise heißt: „Von gemeinsamem Interesse ist alles, was die sozialistische Gesellschaft politisch und ökonomisch stärkt, was sie an sozialem Fortschritt bewirken kann, was in ihr ein geistig-kulturell reiches Leben möglich macht und – nicht zuletzt – was zu ihrem Schutz und zur Sicherheit von Frieden und Entspannung erforderlich ist.“ Klaus Gläß/Manfred Mühlmann, Bürger – Hausgemeinschaft – Wohngebiet, Berlin (Ost) 1981, S. 15. 28 Bittner, Öffentlichkeit und Gleichheit, S. 63. Siehe dazu auch Lindenberger, der diese Erfahrungsbereiche als „ganzheitliche Gesellschaftsausschnitte“ bezeichnet, in denen durch kleine Dimensionen und Überschaubarkeit den unterschiedlichsten Akteuren Macht und Regelungs-
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In welcher Beziehung die kommunalpolitische Praxis in der DDR zu diesen Konstellationen des öffentlichen Raums und seiner herrschaftlichen Durchdringung stand, ist am deutlichsten von Sighard Neckel in einem längeren Aufsatz über die Einbindung der Kommunen in den Staatsapparat und das Herrschaftsverständnis der SED-Diktatur dargelegt worden. Basierend auf seinen Forschungen zu einer brandenburgischen Mittelstadt in der Nachwendezeit beschreibt Neckel die Position der Städte und Gemeinden im Herrschaftssystem als „kleinste Produktionseinheit im Staatsbetrieb der DDR-Gesellschaft“29. Von einer kommunalen Herrschaft, die betriebsähnlich nach übergeordneten Strukturprinzipien und mit dem fiktiven Ideal einer gesellschaftlichen Interesseneinheit organisiert war, konnte und sollte in der DDR kaum mehr eine eigenständige politische Willensbildung ausgehen. Vor allem war in dieser Konstellation kein Platz für ein Verständnis von Politik, „das von einer immer konflikthaften und in sich unaufhebbaren Pluralität als Kennzeichen jeden Gemeinwesens ausgeht“.30 In der kommunalpolitischen Praxis und in den alltagsbezogenen Vergemeinschaftungsformen der DDR gestaltete sich dagegen das Verständnis von Politik gemäß einer „politischen Identitätslogik“, die auf die Gesamtgesellschaft bezogen dem allgemeinen Interesse der SED diente, „den realen Sozialismus als politische Verwirklichung einer ‚natürlichen Moral‘ erscheinen zu lassen“.31 Die Bedeutung dieser „Identitätslogik“ für das politische Handeln in den Städten und Gemeinden war bisher kaum Gegenstand stadtgeschichtlicher Forschungen zur DDR.32 Neckel betont in seinen Ausführungen vor allem die Anschlussfähigkeit dieser „Identitätslogik“ zu „allen ‚unpolitischen‘ Idealen konfliktfreier Kooperation“, die sich im Staatssozialismus am ehesten auf der lokalen Ebene wiederfinden lassen.33 Inwieweit sich darin Anschlüsse an ein „‚unpolitisches‘ Gemeindemodell kommunaler Kooperation“ wiederfinden, wie es in den 1970er und 1980er Jahren Gegenstand der bundesdeutschen Gemeindeforschung war, oder ob die rituelle Politisierung der Herrschaftspraxis in den Kommunen der DDR nicht auch lokalen
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kompetenz verliehen war. Thomas Lindenberger, Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung, in: Ders., Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, S. 13–44, hier: S. 31. Neckel, Das lokale Staatsorgan. Siehe auch: Ders., Waldleben. Eine ostdeutsche Stadt im Wandel, Frankfurt/Main etc. 1999. Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 263. Ebd. Siehe aber Adelheid von Salderns Überlegungen zur „sozialistischen Communitas“. Adelheid von Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten. Einleitung, in: Dies. unter Mitarbeit von Alice von Plato, Elfie Rembold und Lu Seegers, Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2004, S. 9–58, hier: S. 42 ff. In gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive hat Thomas Lindenberger auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht, das sich vor allem in der unterschiedlichen politischen Prägung der alltäglichen Lebensbereiche und des Arkanbereiches der Herrschaft im Staatssozialismus widerspiegelte: „Eben darin bestand ja der ideologische ‚Sinn‘ des staatssozialistischen Projekts: Nach oben lief alles auf Einheit und Identität, auf die Fusionierung von Partei, Staat und Gesellschaft, hinaus.“ Lindenberger, Diktatur der Grenzen, S. 33. Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 263.
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Interessen entsprang, sei an dieser Stelle dahin gestellt.34 Zentraler für die Besonderheiten der staatssozialistischen Kommunalpolitik scheint mir dagegen der politische Integrationsaspekt zu sein, der sich aus der Präsenz dieser politischen Identitätslogik im Alltag der Kommunen ergab. Die umfassende Einbindung der lokalen Bevölkerung in die kommunale Herrschaftspraxis vollzog sich „als zielgerichtete Kooperation zur Realisierung von Zwecken, die den Beteiligten vorgegeben“ waren, wie Winfried Thaa hinsichtlich des sozialistischen Verständnisses von „Demokratie“ charakterisiert hat.35 Somit gestaltete sich die politische Ausformung von „partizipatorischen“ Ansätzen im Hinblick auf die Städte in der DDR auch nicht im Sinne einer eigenständigen Interessenartikulation der Bürger, sondern entwickelt wurden vielmehr besondere Rechtsformen der sozialistischen Mitgestaltung, die eine Beteiligung der Bürger an der Kommunalverwaltung als nachvollziehende Bestätigung der durch die Partei und die staatlichen Institutionen proklamierten Ziele der sozialistischen Gesellschaftspolitik vorsahen.36 Die hunderttausendfache Mitarbeit von Bürgern in lokalen Gremien wie den „Ständigen Kommissionen“ der Stadtverordnetenversammlungen, den Arbeiter- und Bauern-Inspektionen und den Wohnbezirksausschüssen der Nationalen Front war im Hinblick auf die politisch-ideologische Orientierung der Bevölkerung nicht nur politisch gewollt, sondern sollte zugleich die Gemeinschaftsbildung auf den unteren staatlichen Ebenen fördern und sie auf konkrete und überschaubare Alltagsbereiche lenken. Dabei verhinderten der gelenkte Korporatismus der politischen Entscheidungsträger und das stets präsente Konsensideal aller politischen Vergemeinschaftung in der staatssozialistischen Gesellschaft, dass sich alltägliche Probleme zu übergreifenden Konflikten entwickeln konnten. In diesem Sinne partikularisierte die lokale Ebene staatlich erzeugte Problemlagen als örtlich bedingte Gegebenheiten, absorbierte mögliche Konflikte und trug damit zu einer legitimatorischen Entlastung des zentralstaatlichen Leistungsund Versorgungssystems bei.37 Die dieser Form der Teilhabe an der Gestaltung der 34 Ebd., S. 262. Siehe aber die Kritik der ehemaligen lokalen Eliten an der Politisierung der Kommunalpolitik in den neuen Bundesländern nach der Wende in Helmuth Berking/Sighard Nekkel, Die gestörte Gemeinschaft. Machprozesse und Konfliktpotentiale in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Stefan Hradil (Hrsg.), Zwischen Bewußtsein und Sein. Die Vermittlung „objektiver“ Lebensbedingungen und „subjektiver“ Lebensweisen, Opladen 1992, S. 151–171, hier: S. 163. Vgl. zusammenfassend zur Kommunalpolitik in der Bundesrepublik den Artikel von Hans-Georg Wehling, in: Martin Greiffenhagen/Sylvia Greiffenhagen/Rainer Prätorius (Hrsg.), Handwörterbuch zur Politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1981, S. 225–229. Beispielhaft für eine gelungene Analyse der „unpolitischen“ politischen Selbstverortung lokaler Eliten siehe Eberhard Holtmann, Politik und Nichtpolitik. Lokale Erscheinungsformen Politischer Kultur im frühen Nachkriegsdeutschland. Das Beispiel Unna und Kamen, Opladen 1989. 35 Winfried Thaa, Mehr als Adaption und Regression. Über die Auswirkungen der Herbstrevolution von 1989 und die Entwicklung der Demokratie in Deutschland, in: DA 24 (1991) 8, S. 831–840, hier: S. 832. 36 Vgl. Roggemann, Kommunalrecht, S. 22. 37 Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 259. Zu konkreten Angaben über die zahlenmäßige Beteiligung der Bevölkerung an der Kommunalpolitik in der DDR zu Beginn der 1980er Jahre vgl. Sieveking, S. 1167. Im Jahre 1988 gab es in der Stadt Halle und ihren drei Stadtbezirken allein
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städtischen Lebenswelt zugrunde liegende politische Identitätslogik fand sich auch in der zeitgenössischen Rechtdiskussion der DDR wieder, die sich mit dem Stellenwert der Stadt „im entwickelten gesellschaftlichen System des Sozialismus“ auseinandersetzte. In einem Aufsatz für die Zeitschrift „Staat und Recht“ charakterisierten Karl-Heinz Schöneburg und andere namhafte Staatsrechtler der DDR die Stadt im Sozialismus als eine „soziale Gemeinschaft“, deren Funktion darin bestehe, die Übereinstimmung der Interessen der sozialistischen Gesellschaft und der individuellen Interessen ihrer Mitglieder zu ermöglichen. Diese Funktion würde nach ihrer Ansicht „vorrangig durch die Vervollkommnung des sozialistischen Charakters der städtischen Arbeits- und Lebensbedingungen verwirklicht, die es dem einzelnen Bürger erleichtert, die Erfordernisse der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen und zum Inhalt seiner persönlichen Interessen zu machen.“38 Ganz in diesem Sinne lesen sich auch die Verlautbarungen zur sozialistischen Kommunalpolitik, wie sie in zahlreichen Publikationen des Staatsverlages der DDR in den 1980er Jahren veröffentlicht wurden. Stets geben diese Texte Hinweise auf die fortschreitende Einbeziehung immer größerer Teile der städtischen Bevölkerung in die lokalen Mach-mit-Initiativen, die Aufgaben lösen sollten, „die sowohl im gesellschaftlichen als auch im persönlichen Interesse liegen“.39 Dabei steuerten die kommunalpolitischen Instanzen die massenhafte Beteiligung der Bürger und richteten sie an den ökonomischen und politischen Erfordernissen der Gegenwart aus. Diese Übereinstimmung von gesellschaftlichen und persönlichen Interessen in der staatsrechtlichen Begründung der kommunalen Herrschaft in der DDR hatte aber nicht nur Folgen für die politische Integration der Stadtbevölkerung, sondern war auch entscheidend für die rechtliche Normierung politischen Handelns der Kommunalverwaltungen selbst. Ein regelgebundenes, verfahrensorientiertes und berechenbares Verwaltungshandeln war vor dem Hintergrund ständig wechselnder 905 Abgeordnete der Stadtverordnetenversammlung und der Stadtbezirksversammlungen einschließlich Nachfolgekandidaten sowie 4740 Mitglieder der Ausschüsse der Nationalen Front. Gemeinsame Maßnahmen des Rates der Stadt Halle und des Sekretariats des Stadtausschusses der Nationalen Front zur weiteren Vertiefung der Zusammenarbeit in Auswertung der kommunalpolitischen Konferenz der Stadt Halle am 13.10.1988, StAH, Bestand Stadtverordnetenversammlung 139. 38 Karl-Heinz Schöneburg u.a., Die Stadt als soziale und politische Gemeinschaft im entwickelten System des Sozialismus, in: Staat und Recht (1969) 9, S. 1339–1352, hier: S. 1347. 39 Heinz Koschwitz, Stadtverordnetenversammlung fördert Bürgerinitative, in: Bürgerinitiative hilft Parteitagsbeschlüsse zu verwirklichen, Reihe Kommunalpolitik aktuell, Berlin 1986, S. 9–19, hier: S. 9. Vgl. dazu auch das Referat des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle auf dem Erfahrungsaustausch mit der Akademie für Staat und Recht in Halle am 12. Mai 1987: „Es bedarf also gezielter massenpolitischer Arbeit, damit die objektiven Anforderungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sozialismus an die Bürger stellen, von diesen auch subjektiv als notwendig erkannt werden und die Bereitschaft zur freiwilligen Mitarbeit weiter ausgeprägt wird.“ Alfred Kolodniak/Siegfried Petzold, Erfahrungen und Aufgaben bürgernaher Öffentlichkeitsarbeit örtlicher Staatsorgane bei der Verwirklichung der sozialistischen Wohnungspolitik, in: Akademie für Staats- und Rechtswissenschafte der DDR, Bürgernahe Öffentlichkeitsarbeit und sozialistische Wohnungspolitik. Hallenser Erfahrungsaustausch am 12. Mai 1987, Potsdam-Babelsberg 1987, S. 3–22, hier: S. 20.
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politischer Zielbestimmungen der SED und der ökonomischen Abhängigkeit der Städte von der zentral geleiteten Planwirtschaft kaum möglich.40 Das vielfach angesprochene Interagieren zwischen Partei und lokaler Gesellschaft in den Städten der DDR bezog aus dieser regelhaften Regellosigkeit, wo Loyalität und Partizipation gegen die Zuweisung knapper Ressourcen, soziale Beziehungen und ideologische Zugeständnisse getauscht wurden, seine Überlebenskraft.41 Dauerhafte politische Legitimationsgewinne für das staatssozialistische System, so Sighard Neckel, ließen sich durch diese institutionelle Praxis in den Städten der DDR allerdings nicht erzielen.42 Nach diesem Überblick über die ideologische und institutionelle Einbindung der Städte und Gemeinden in die Gesellschaftspolitik der SED soll im Folgenden anhand von zwei Feldern der Kommunalpolitik die Konflikthaftigkeit politischen Handelns im lokalen Raum diskutiert und dabei die Besonderheiten der Interaktion von Kommunalpolitikern, Parteifunktionären und Bürgern im Staatssozialismus herausgearbeitet werden. Dabei wird sich auf einzelne Beispiele aus den 1980er Jahren konzentriert, die zum einen die kommunale Wohnungspolitik als konfliktgeladenes Handlungs- und Kommunikationsfeld in den Städten der DDR verdeutlichen. Auf diesem Feld geraten vor allem die etablierten Formen der Beteiligung an der Kommunalpolitik in den Blick, die allerdings oft genug eigensinnig von der städtischen Bevölkerung wahrgenommen wurden.43 Zum anderen soll mit der Stadtgestaltung ein für das letzte Jahrzehnt der SED-Herrschaft typisches Problemfeld staatlichen Handelns im lokalen Raum skizziert werden, auf dem sich neue Interaktionsformen zwischen den kommunalen Verwaltungen, den Parteiinstanzen und engagierten Bürgern ergaben.
40 Auf diesen Aspekt geht auch Frank Betker im Hinblick auf die kommunalen Institutionen der Stadtplanung ein. Frank Betker, Handlungsspielräume von Stadtplanern und Architekten in der DDR, in: Holger Barth (Hrsg.), Planen für das Kollektiv. Handlungs- und Gestaltungsspielräume für Architekten und Stadtplaner in der DDR, Erkner 1999, S. 11–33, hier: S. 30. Vgl. auch Sabine Lorenz, Kommunaler Elitenwandel. Rekrutierung, Zusammensetzung und Qualifikationsprofil des lokalen administrativen Führungspersonals in Ostdeutschland, in: Stefan Hornborstel, Sozialistische Eliten. Vertikale und horizontale Mobilität in der DDR, Opladen 1999, S. 85–103, hier: S. 98. 41 Vgl. Frank Ettrich, Neotraditionalistischer Staatssozialismus. Zur Diskussion eines Forschungskonzepts, in: Prokla 22 (1992), S. 98–114, hier: S. 113. 42 Neckel, Das lokale Staatsorgan, S. 259. Siehe dazu aus stadthistorischer Perspektive für die Industriestädte in der DDR Philipp Springer, Leben im Unfertigen. Die zweite sozialistische Stadt Schwedt/Oder, in: Holger Barth, Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2002, S. 67–82. Vgl. ebenso Carsten Benke, Das Stadtzentrum als unerfüllter Wunsch. Defizite und lokale Spielräume bei der Gestaltung öffentlicher Räume in kleinen Industriestädten in der DDR, in: Christoph Bernhardt u.a. (Hrsg.), Geschichte der Planung des öffentlichen Raums, Dortmund 2005, S. 165–181, hier: S. 176 ff. 43 Zum Verständnis von Eigensinn im Hinblick auf die Gesellschaftsgeschichte der DDR siehe Alf Lüdtke, Die DDR als Geschichte. Zur Geschichtsschreibung über die DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36/1998, S. 3–16, hier: S. 12 ff.; Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen, S. 24.
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Wohnungspolitik als Konfliktfeld kommunaler Politik in der DDR Der anhaltende Mangel an Wohnraum und die häufig unzumutbaren Wohnbedingungen in den altstädtischen Wohnquartieren der DDR-Städte führten in den 40 Jahren der SED-Herrschaft zu konfliktreichen, aber selten öffentlich wahrnehmbaren Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und den staatlichen Verwaltungen. Mit zunehmenden Ansprüchen und Erwartungshaltungen hinsichtlich des allgemeinen Lebensstandards stieg auch auf dem Feld der Wohnungspolitik in der DDR die Bereitschaft der Bürger, sich gegenüber den unmittelbar für diese Belange zuständigen städtischen Wohnungsämtern und Gebäudewirtschaftsbetrieben für ihre individuellen Bedürfnisse einzusetzen und das verfassungsmäßig garantierte Recht auf Wohnraum und ein entsprechendes Lebensniveau einzufordern.44 Jay Rowell hat in seiner Arbeit über die Wohnungspolitik in der DDR ausführlich die Probleme der Organisation der Wohnungsvergabe auf zentralstaatlicher und kommunaler Ebene beschrieben. Dabei zeigte sich, dass die kommunale Wohnraumlenkung eine Institution im Geflecht der Wohnungspolitik in der DDR war, die mit geringen Einflussmöglichkeiten ausgestattet war und von Anbeginn auf die ehrenamtliche Mitarbeit von Bürgern setzen musste, um die den Kommunen zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal zu nutzen.45 Allerdings ließen sich auf diese Weise kaum Kontinuität und Professionalisierung in der kommunalen Wohnraumlenkung erzielen, da die ehrenamtliche Mitarbeit in den Wohnungskommissionen der Städte und Stadtbezirke häufig von persönlichen Motivationen und einer hohen Fluktuation der Mitwirkenden gekennzeichnet war.46 Die 44 So gibt eine Kollektiveingabe an den Oberbürgermeister von Halle im April 1980 die Haltung der betroffenen Bürger mit den deutlichen Worten wieder: „Wir erwarten von Ihnen, daß sie sich unverzüglich der Verantwortung bewußt werden, die Sie mit dem Amt des Oberbürgermeisters in unserer Stadt übernommen haben. Daraus ist abzuleiten, daß die Fehler der letzten Jahre schnellstens korrigiert werden. […] Die Berechtigung unserer Eingabe und Kritik würden wir gern mit einer persönlichen Objektbesichtigung Ihrerseits untermauern; auch ein Rundtischgespräch mit dem Oberbürgermeister in unserem Haus würden wir sehr begrüßen, um an Ort und Stelle gemeinsam über das in unserem Haus erreichte Lebensniveau zu diskutieren. In diesem Rahmen würden wir aber nicht nur den Beweis für unsere berechtigte Kritik antreten wollen, sondern auch darlegen, was mit allem Nachdruck getan werden muß, um manch scheinbarem Erfolg ein festes Fundament zu verleihen.“ Kollektiveingabe an den Oberbürgermeister Halle 27.4.1980, StAH, Bestand Oberbürgermeister. 45 Rowell, L’etat totalitaire en action. Für eine deutschsprachige Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der Arbeit im Hinblick auf die Wohnungspolitik in der DDR siehe Jay Rowell, Wohnungspolitik, in: Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Hrsg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland nach 1945, Bd. 8: Im Zeichen des Aufbaus des Sozialismus. DDR 1949–1961, Baden-Baden 2004, S. 699–726. 46 So kam die Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft des Rates der Stadt Halle in einem Bericht zur Ratssitzung am 23.6.1983 zu der Einschätzung, dass in 47 der insgesamt 125 ehrenamtlichen Wohnungskommissionen der Stadt Halle nur ein Mitglied mitwirkt und in 19 Wohnbezirken gar keine Kommission gebildet werden konnte. Als Grund dafür führte die Abteilung die „schlechte Bausubstanz in einigen innerstädtischen Wohngebieten“ an. Bericht der Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft für die Sitzung des Rates am 23.6.1983, S. 5,
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staatliche Kontrolle der Wohnraumsituation in den Städten der DDR geriet dadurch eher zu einem unübersichtlichen Feld gesellschaftlicher Beteiligung, das durch die Vielzahl von Eingaben und Sprechstundenbesuchen aufgrund von Wohnungsproblemen der Bürger zudem unter einem Übermaß an Informationszufuhr litt.47 Wie sich die Situation auf dem Feld der kommunalen Wohnungspolitik für den Rat der Stadt in Halle am Ende der 1970er Jahre als Konfrontation mit den Wünschen und Anliegen der Bürger nach verbesserter Wohnsituation darstellte, verdeutlicht sich im Protokoll einer Ratssitzung im Januar 1977, aus dem im Folgenden ein längerer Abschnitt zitiert werden soll: „Der Inhalt der Eingaben konzentriert sich im Wesentlichen auf folgende Schwerpunkte: 1. Zurverfügungstellung von Neubauwohnungen. In diesen Fällen musste grundsätzlich eine Ablehnung erfolgen, da lt. Wohnraumbilanz des Rates der Stadt dem Stadtbezirk, außer zur Schaffung der Baufreiheit, keine Neubauwohnungen zur Verfügung stehen. 2. Zurverfügungstellung von altersadäquatem Wohnraum im Neubaugebiet. In diesen Fällen konnte nur ablehnend entschieden werden, da die vorhandenen Wohnungen ausschließlich zur Schaffung der Baufreiheit verwendet werden müssen. 3. Zurverfügungstellung von Wohnraum zwecks Wohnraumverbesserung. Auch hier mußte im Wesentlichen ablehnend entschieden werden, da die anfallenden Wohnungen zur Schaffung der Baufreiheit und Abdeckung der Orientierungskennziffern für Betriebe und Einrichtungen verwendet werden mußten.“48
Diese Auflistung ist ein deutlicher Ausdruck der Mangelsituation in der kommunalen Wohnungspolitik, die sich im Fall der Bezirkshauptstadt Halle auch nicht nachhaltig durch den Bau der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt auf dem anderen Ufer der Saale entspannt hatte. Zwar wurden durch das gigantische Wohnungsbauprogramm der SED in der Bezirksstadt zwischen 1973 und 1988 über 24.000 Neubau- und Rekonstruktionswohnungen errichtet, so dass der für die Wohnungspolitik und -wirtschaft zuständige stellvertretende Oberbürgermeister von Halle auf der Stadtverordnetenversammlung im Juni 1988 verkünden konnte, dass „für die Mehrheit der Bürger unserer Stadt das Wohnungsproblem als soziales Problem StAH, Bestand Ratsprotokolle 126–13./83. Vgl. generell zu den Problemen der politischen Mobilisierung im Wohnbereich in der DDR Christine Lemke, Die Ursachen des Umbruchs. Politische Sozialisation in der DDR, Opladen 1991, S. 210 ff. 47 Jay Rowell, Die „sozialistische Demokratie“ im Quartier: Verlängertes Ohr und Arm der Verwaltung? Unveröff. Manuskript ZZF Potsdam 2003. Vgl. generell zur Problematik der Wohnungspolitik in der DDR und ihrer Bilanz 1990 Buck, S. 323–386. 48 Sitzung des Rates der Stadt Halle (Saale) am 29.6.1977, S. 7 f., StAH, Bestand Ratsprotokolle 118–12./77. Da sich daran bis 1989 nichts änderte verdeutlichte eine Eingabenanalyse der SED-Stadtleitung im Juli 1989: „Die insgesamt 242 Eingaben zur Wohnraumvergabe bestätigen die Situation in der Stadt Halle, daß der Wohnungsfonds nicht ausreicht und sich die Wohnbedingungen eines Teils der Bürger infolge baulicher Schäden verschlechtert hat.“ Sekretariatssitzung der SED-Stadtleitung 21.7.1989, S. 8, LHSA, Abt. Merseburg, IV/F–5/01/75.
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gelöst“ sei. Allerdings hielt er es im gleichen Atemzug auch für notwendig darauf hinzuweisen, dass „bei den Bürgern das Bewußtsein und die Überzeugung zu stärken (seien), in einem für sie überschaubaren Zeitraum für alle Familien und alle Ehepaare sicheren, trockenen und warmen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.“49
Abb. 1: Halle-Neustadt, Blick über die Saale auf die Altstadt von Halle/Saale; Quelle: Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner
Diese Beschwichtigung der Bürger schien angesichts der tatsächlichen Lage auf dem Feld der Wohnungspolitik auch dringend erforderlich, denn die konkreten Eingabenanalysen des Rates der Stadt und der SED-Stadtleitung Halle förderten andere Erkenntnisse zutage. So musste ein Mitglied der Ständigen Kommission für Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft der Stadtverordnetenversammlung im Februar 1989 eingestehen, „daß leider immerhin noch fast 10.000 Wohnungsanträge in unserer Stadt registriert sind“ und er davon ausgehen müsse, „daß es sich um berechtigte Anträge handelt. Es ist das eine hohe Zahl, von der wir in den letzten
49 Bericht des Rates auf der Stadtverordnetenversammlung 9.6.1988, S. 1, StAH, Bestand Ratsprotokolle 67–9./88.
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Jahren kaum heruntergekommen sind.“50 Immer deutlicher machte sich in den Sprechstunden des Rates der Stadt der Unmut der Hallenser Bürger mit ihren Wohnungsämtern und Betrieben der Gebäudewirtschaft breit und richtete sich zunehmend auch gegen die politischen Vertreter der Kommune und der SED.51 Wie sehr dabei die Bürger mit ihrem Anliegen auch die überregionale Öffentlichkeit suchten, verdeutlichte eine Kollektiveingabe, die von den Bewohnern eines desolaten Mehrfamilienhauses in Halle-Büschdorf an die Redaktion des Fernsehmagazins PRISMA des Fernsehens der DDR mit der Bitte um Hilfestellung sandten. Der sich darauf beziehende Fernseh-Beitrag vom 12.6.1986 ging den geschilderten Problemen nach und führte dabei nicht nur den Vorsitzenden der Gebäudewirtschaft, Betriebsteil Halle-Süd vor, sondern zwang auch den Oberbürgermeister von Halle, Christoph Anders, zu einem selbstkritischen Appell an die kommunale Verwaltung und die Gebäudewirtschaftsbetriebe in Halle, den Bürger in Zukunft nicht mehr als Bittsteller, sondern als „Menschen der Gesellschaft“ anzusehen und „subjektives Verhalten“ in der Verwaltungsarbeit zu unterbinden.52 Entgrenzung der lokalen Kommunikation – Das Problem der Eingaben Angesichts dieser Probleme auf dem Feld der kommunalen Wohnungspolitik erscheint es interessant zu erfragen, ob sich in der DDR bei der Bevölkerung eine Mentalität herausgebildet hatte, eine bestimmte institutionelle Struktur der Verwaltung auch in ihrer alltäglichen Adressierung anzuerkennen. Eher muss man wohl vom Gegenteil ausgehen. Eine wirkliche Anerkennung, dass im Normalfall ein Wohnungsamt oder die Gebäudewirtschaft der richtige Adressat für Wohnungsbelange sind, scheint durch die Eingabemöglichkeit an die Parteiorganisationen und an andere staatliche Institutionen gar nicht möglich gewesen zu sein. Schaut man sich auf der kommunalen Ebene die Praxis der Eingaben einmal näher an, so gelangt man zu der Einschätzung, dass viele Menschen dieser ja an sich schon informell gearteten institutionellen Praxis häufig genug misstrauten.53 In der Eingabe50 Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 9.2.1989, StAH, Bestand Stadtverordnetenversammlung 139. 51 „Massiv brachten die Bürger ihren Unwillen darüber zum Ausdruck, daß der VEB Gebäudewirtschaft in vielen Fragen seiner Verantwortung nicht gerecht wird, daß es über Jahre Versprechungen durch den Betrieb gibt, die einer Hinhaltetaktik gleichen, daß die Mitarbeiter des Betriebes ständig wechseln und damit die Probleme nicht weiter verfolgt werden.“ Analyse zum Stand der Realisierung der Eingaben der Bürger der Stadt Halle in Vorbereitung und Durchführung der Kommunalwahlen 7.5.1989, S. 3, StAH, Bestand Ratsprotokolle. 52 Fernsehbeitrag Magazin PRISMA vom 12.6.1986, Deutsches Rundfunkarchiv Potsdam-Babelsberg, Fernseharchiv, Bestand Fernsehen der DDR. 53 So gelangte der Rat der Stadt Halle im Februar 1988 zu der Einschätzung, dass sich die Bürger mit ihren Eingaben zu Wohnungsfragen an verschiedene staatliche und Parteiorgane richteten: „Durch die Bürger wird in vielen Fällen nicht akzeptiert, daß die zur Zeit vorhandene wohnungspolitische Situation keine frühere Lösung ihrer Anliegen erlaubt. So wurden teilweise ca. 5–7 gleichlautende Eingaben an die verschiedenen staatlichen und Parteiorgane gesandt, ob-
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praxis scheint vor allem eine Kompensationsfunktion für den Verlust an Handlungsmacht gelegen zu haben. Dieses Gefühl, eigentlich nichts tun zu können, um seinem Problem auf institutionellem und verrechtlichtem Wege Abhilfe zu verschaffen, wurde vor allem durch die Verhinderung von Eigeninitiative und durch die Erfahrung eines ineffektiven und kommunikationsfeindlichen Verwaltungsapparates hervorgerufen und bestärkt. Diesem Gefühl Ausdruck zu verleihen, darin bestand eine wesentliche Funktion dieser Eingaben. Zurück zum Misstrauen: Man ist immer wieder erstaunt darüber, mit welcher Souveränität häufig einfache Bürger in den Eingaben ihrem Gegenüber auftreten – sieht man einmal von den Floskeln ab, die dazugehörten – egal ob es sich um den Oberbürgermeister, den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes oder den Staatsratsvorsitzenden handelte. Die an die staatlichen Stellen verfassten Beschwerdebriefe spielten nicht nur geschickt die einzelnen Institutionen gegeneinander aus. Darin spielte wohl auch die Vorstellung eines asymmetrischen Verhältnisses von Zentrum und Peripherie in der DDR eine Rolle. Dabei gingen die Bürger weniger davon aus, dass die kommunalen Vertreter der Politik nichts zu entscheiden hätten, sondern, dass sie sich ihrer Verantwortung nicht bewusst sind, schlampig die Eingaben bearbeiten, eigenmächtig handeln und nicht zuletzt Empfänger von Privilegien sind. Die Distanz zum Zentrum wirkt hier auch als ein Narrativ für die Redlichkeit und Fürsorglichkeit der adressierten Institution bzw. Person. Gerade weil Berlin weit weg lag und das Arkanum der SED-Herrschaft verkörperte, konnte man hohe Erwartungen stellen und sich gleichzeitig über die Unzulänglichkeiten im Kleinen in der Provinz auslassen.54 Darüber hinaus bezogen sich viele Eingaben auf Parteitagszitate und Gesetzestexte und wendeten sie auf ihre persönliche Situation an. Damit operieren sie auch mit einer fiktiven normativen Ersatzrealität, der sie in der kommunikativen Situation mit den Autoren dieser Texte (z. B. dem Staatsratsvorsitzenden) eine als unzureichend erfahrene gesellschaftlichen Realität vor Ort gegenüber halten.55 Die Eingabe im Staatsozialismus lässt sich daher mit Felix Mühlberg als ein Kommunikationsinstrument beschreiben, mit dessen Hilfe Vorstellungen über gesellschaftliche Bedingungen zwischen Bürgern und Staat immer wieder neu ausgehandelt wurden, indem Normen, Werte und
wohl von Seiten der Fachorgane Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft der 4 örtlichen Räte konkrete Festlegungen getroffen wurden. Die Praxis zeigt, daß zunehmend die Entscheidungen der 4 örtlichen Räte, die Probleme dieser Eingaben betreffend, nicht durch Eingaben an zentrale und übergeordnete Partei- und Staatsorgane geändert werden können, da diese Entscheidungen in den meisten Fällen objektiv begründet sind. Veränderte Entscheidungen erfolgen meist zu Lasten gleichgelagerter Probleme.“ Analyse des Rates der Stadt Halle über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger 24.2.1988, S. 7, StAH, Bestand Ratsprotokolle 21–4./88. 54 Vgl. zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie im Hinblick auf das Selbstverständnis und die öffentliche Perzeption der SED-Parteifunktionäre Jay Rowell, Le pouvoir périphérique et le ‚centralisme démocratique‘ en RDA, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine (2002), S. 102–24. Ebenso Helga Welsh, Zwischen Macht und Ohnmacht. Zur Rolle der ersten Bezirkssekretäre der SED, in : Hornborstel, Sozialistische Eliten, S. 105–123. 55 Vgl. dazu auch Anita Maaß, „[…] bitte ich Sie, den Antrag auf Wohnraum nochmals zu prüfen“. Wohnungspolitik in Dresden während der 1970er/1980er Jahre, in: Deutschland-Archiv (2005) 2, S. 454–461, hier: S. 461.
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Ideale der sozialistischen Gesellschaft mit der erfahrenen Lebenswelt in Beziehung gesetzt und deren Verwirklichung umso konsequenter eingefordert wurden.56 Auf einen weiteren Aspekt, der sich in den Eingaben verdeutlicht, die die unmittelbare Lebensumwelt betrafen, sei ebenso hingewiesen. Die Eingaben geben trotz aller Heftigkeit der Kritik auch Auskunft über die beziehungsreiche Symbiose von Menschen in überschaubaren Gesellschaftsausschnitten des Staatssozialismus, egal ob es sich dabei um Kommunalpolitiker, Mitarbeiter der Gebäudewirtschaft, Hausvertrauensleute oder Menschen ohne ein besonderes gesellschaftliches Amt handelte.57 Stets waren die Menschen aufeinander angewiesen und im Konflikt mit ihren unterschiedlichen Rollen als Kommunalpolitiker, Parteifunktionär oder Stadtbürger. Gerade weil die Menschen in einer alltäglichen Beziehung zueinander standen, die politisch und ideologisch vorgegeben war und weil sie innerhalb eines überschaubaren Ausschnittes von Gesellschaft wie der Kommune oder im Wohngebiet Macht und Regelungskompetenz beanspruchen konnten, fanden die in den Eingaben wiedergegebenen Auseinandersetzungen in einer manchmal überraschenden Deutlichkeit oder auch Subtilität statt, wie das Beispiel eines Wohnbezirksausschuss-Vorsitzenden der Nationalen Front aus Halle zeigt. Dieser wandte sich angesichts der jahrelangen Vernachlässigung der Bausubstanz und dem damit verbundenen Verfall des noch bewohnten Wohnhauses direkt an den Oberbürgermeister von Halle und verlieh seinem Ansinnen mit den Worten Nachdruck: „Auch für meine Arbeit als WBA-Vorsitzender des WBA 221 hat solch ein Vorgehen natürlich keine positive Ausstrahlung. Mir ist vor allem unklar, wie wir unsere Bürger für Hausgemeinschaften aktivieren sollen, wenn die Unterstützung durch die volkseigenen Betriebe verwehrt wird. Jeder ist schon bemüht, seinen Wohnraum zu erhalten und zu verschönern, aber gegen negative Einflüsse von außen sind wir machtlos. Eines können Sie sicher sein, wir haben schon einmal erlebt, wie ein Haus verkommt, ein zweites Mal werden wir es mit aller Kraft verhindern, denn jede erhaltene Wohnung und jedes erhaltene Haus spart unnötige Kosten aus dem Staatshaushalt und somit kostpielige Investitionen, alles andere betrachte ich als Sabotage am sozialistischen Eigentum.“58
56 Felix Mühlberg, Eingaben als Instrument informeller Konfliktbewältigung, in: Evemarie Badstübner (Hrsg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 233–270, hier: S. 240. Vgl. generell zum rituellen Sprachgebrauch in der DDR Alf Lüdtke/Peter Becker, Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag in der DDR, Berlin 1997. 57 Darauf verweist selbst aus der offiziellen Perspektive des DDR-Staatsrechts eine Publikation zur sozialistischen Kommunalpolitik, in der es unter dem Stichwort „Eingaben der Bürger – eine Form der Mitarbeit“ heißt: „Jeder weiß, daß man alle Fragen, die einen bewegen, mit jenen berät, zu denen man das größte Vertrauen hat. Das ist im persönlichen Leben so und nicht anders auch in den Beziehungen der Bürger zu ihrem Staat. Deshalb ist es nur natürlich, wenn die Gemeinden, Städte, Kreise und Bezirke eine Vielzahl von Eingaben erhalten.“ Autorenkollektiv, Sozialistische Kommunalpolitik in der DDR, Berlin (Ost) 1968, S. 20. 58 Eingabe an den Oberbürgermeister Halle 19.8.1983, StAH, Bestand Oberbürgermeister.
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Abb. 2: Eingabe an die Redaktion PRISMA; Quelle: Stadtarchiv Halle (StAH), Bestand Oberbürgermeister, Eingaben Wohnungspolitik (1987)
In der Auseinandersetzung auf der lokalen Ebene um Fragen der Wohnungspolitik und -wirtschaft ging es somit auch häufig um die Verteidigung des eigenen lebensweltlichen Machtbereiches. Die Möglichkeit, innerhalb dieser Räume Kritik zu üben, bestand gerade darin, sie auf alltägliche Dinge des Lebens in diesen Gesellschaftsausschnitten zu beschränken. Die Bürger setzten sich vor allem mit der Ausführung staatlicher Regelungen vor Ort und in Bezug auf konkrete Umstände auseinander, da die vorgegebene ideologisch begründete Ausrichtung der SED-Herrschaft nicht in Frage gestellt werden konnte. Somit wurden Probleme, die in der DDR als „örtliche“ galten und die staatliche Praxis in den Kommunen und Betrieben betrafen, von offizieller Seite auch als weniger politisch angesehen und Kritik an ihnen mehr oder weniger geduldet.59 Dass diese Abgrenzung eines überschaubaren Handlungsbereichs gegenüber den politischen Forderungen und Ansprüchen der Zentrale nicht in derselben Weise auch für die lokalpolitischen Akteure galt, verdeutlicht sich in der internen Kritik, der sich die Kommunalverwaltungen und städtischen Betriebe gegenüber den lokalen und bezirklichen Parteiführungen ausgesetzt sahen. Auch innerhalb dieser Auseinandersetzungen verteidigten die Kommunalpolitiker und Betriebsdirektoren ihren Einflussbereich, mussten sich aber 59 Vgl. dazu die Ausführungen von Joan Hackeling über den ortsbezogenen Umgang mit alltäglichen und politischen Konflikten in der DDR am Beispiel Rostocks in den 1980er Jahren. Joan Hackeling, Das „Fremde“ im Spannungsfeld zwischen Herrschaft und gesellschaftlicher Praxis. Das Beispiel Rostock 1978–89, in: Thomas Lindenberger/Jan Behrends/Patrice Poutrus (Hrsg.), Fremde und Fremdsein in der DDR, Berlin 2003, S. 215–227, hier: S. 219.
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häufig der Ineffizienz und Planlosigkeit in der politischen Steuerung kommunaler Entwicklungsprozesse, wie z. B. auf dem Gebiet des Wohnungsbaus oder der Wohnungswirtschaft, verdächtigen lassen. Die ritualisierten Leitungspraktiken und informellen Arrangements in der Kommune blieben besonders in den 1980er Jahren ein beständiges Thema auf den Sekretariatssitzungen der Bezirksleitungen und der ihnen unterstellten Parteiorgane. Für Halle lassen sich diese Auseinandersetzungen um lokale Handlungsmacht am deutlichsten für den Bereich des innerstädtischen Wohnungsbaus nachweisen, über dessen Probleme ein Bericht des Bezirkskomitees der Arbeiter- und Bauern-Inspektion Halle vom April 1987 Auskunft gibt. Die Kritik des Komitees richtete sich dabei vor allem auf die Eigenmächtigkeiten des Rates der Stadt in der Zusammenarbeit mit dem Wohnungsbaukombinat Halle, durch die der innerstädtische Wohnungsbau unkoordiniert, überdimensioniert und ohne Beachtung der Fertigstellungstermine erfolgte.60 Die Hauptursachen sahen die Kontrolleure des Bezirkskomitees im „Chaos bei der Leitung und Planung des Bauprozesses“ und versprachen sich Abhilfe allein dadurch, dass „sowohl beim Bezirksbauamt als auch beim Rat der Stadt Halle Ordnung geschaffen und die Zusammenarbeit entscheidend verbessert wird“.61 Wie verhärtet die Fronten zwischen dem Rat der Stadt, dem Wohnungsbaukombinat und dem Bezirksbauamt tatsächlich waren, wird durch den Vorschlag des Bezirkskomitees deutlich, eine gemeinsame Beratung mit Bezirksbaudirektor, Oberbürgermeister und Bezirksleitung zu organisieren, auf der eine gemeinsame Linie gesucht werden sollte: „Wir müssen uns darüber klar werden, was wir wollen und was wir wirklich können. Hier ist von allen Seiten Offenheit notwendig. […] Hier geht es nicht allein um die Erfüllung von Plänen, sondern darum, dass unsere Menschen immer bessere Wohnbedingungen erhalten und Halle attraktiver wird.“62 Damit wird auf das zweite Problemfeld staatlichen Handeln im lokalen Raum verwiesen – die Stadtgestaltung in einer immer prekärer werdenden städtebaulichen Situation in der DDR am Ende der 1980er Jahre. Stadtgestaltung und lokalpolitisches Engagement im letzten Jahrzehnt der DDR Entscheidend für die städtebaulichen Planungsaufgaben in den Kommunen waren seit dem Ende der 1960er Jahre die „Büros für Stadtplanung“, die als Experten vor Ort die zentralistisch angeordneten Großprojekte wie die Generalbebauungsplanungen, die Zentrumsplanungen und die Rekonstruktions- und Wohnungsbauvorhaben in den Innenstädten mitgestalteten.63 Frank Betker hat überzeugend herausgearbeitet, inwieweit sich gerade in den 1970er und 1980er Jahren diese Institutionen 60 ABI Bezirkskomitee Halle 23.4.1987: Probleme aus der Kontrolle zum Stand der Durchsetzung des Wohnungsbauprogrammes der Stadt Halle im Zeitraum 1986–90, Bl. 7 f., LHSA, Abt. Merseburg, IV/F-2/6/281. 61 Ebd., Bl. 13. 62 Ebd., Bl. 14 f. 63 Vgl. dazu Frank Betker, „Wieder Straßen und Plätze organisieren“. Institutionen und Erfahrungen in der kommunalen Stadtplanung der DDR, in: Die alte Stadt (2005) 2, S. 122–133, hier: S. 131.
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der kommunalen Stadtplanung in der DDR in einen Konflikt mit den am Staatsplan orientierten Vorgaben des Wohnungsprogramms gerieten, der sich letztlich nicht auflösen ließ, sondern allenfalls durch besondere Beziehungsarbeit auf den unterschiedlichen Ebenen der beteiligten staatlichen Institutionen und Parteiorganisationen erträglich gestaltet werden konnte.64 So finden sich in einigen Städten der DDR zumindest anerkennenswerte Beispiele und bauliche Zeugnisse dieser mühsamen Aushandlungen zwischen Stadtarchitekten, Parteifunktionären und Mitarbeitern der Wohnungsbaukombinate um die Erweiterung der städtebaulichen und stadtgestalterischen Mittel und Möglichkeiten.65 Dennoch fällt es im Rückblick schwer, für die 1980er Jahre eine eigene stadtgestalterische Politik auf der kommunalen Ebene jenseits der technokratischen Vorgaben und rigiden Umsetzung der Wohnungsbauvorgaben innerhalb des Programms des innerstädtischen Bauens ausfindig zu machen. Sieht man einmal von den bereits angesprochenen Vorzeigeobjekten des innerstädtischen Bauens und der Rekonstruktion von Einzeldenkmalen ab, für die in Halle in diesem Zeitraum vor allem das Modernisierungsvorhaben Brunos Warte am Rande der Innenstadt und die Rekonstruktion des Händelhauses stehen, so blieben stadtgestalterische Anstrengungen der kommunalen Politik gegenüber der komplexen Modernisierung und Neubebauung in der Innenstadt nachrangig.66 Für Fragen der Stadtgestaltung war in Halle im Dezember 1984 auf der kommunalen Ebene ein „Beirat für Stadtgestaltung“ ins Leben gerufen worden, der beratend in Fragen des Denkmalschutzes und der künstlerischen Ausgestaltung des Stadtraums tätig werden sollte, und dem neben Vertretern der Parteien, Massenorganisationen und der Industriebetriebe auch Künstler, Architekten und Denkmalpfleger angehörten.67 Dieser Beirat nahm insgesamt nur wenig Einfluss auf die kommunalpolitischen Entscheidungen hinsichtlich der stadtgestalterischen Fragen 64 Betker, Handlungs- und Gestaltungsspielräume, S. 31. Betker beschreibt in einem anderen Zusammenhang diese Zeit als „Phase der Bürokratisierung und Technokratisierung im Städtebau“, die auch als Niedergang des komplexen städtebaulichen Plans und Entwertung des Berufsstandes der Architekten und Stadtplaner gewertet werden muss. So zumindest empfanden Architekten und Städteplaner diese Phase in der Erinnerung nach der Wende. Frank Betker, „Ja wollen Sie denn den Weltfrieden gefährden?“ Stadtplanung und Planerdenken in der DDR und nach der Wende: zwischen bürokratischer Anpassung und fachlicher Renitenz, in: Tilman Harlander (Hrsg.), Stadt im Wandel – Planung im Umbruch, Stuttgart 1998, S. 279–302, hier: S. 296 f. 65 Frank Betker hat diese Aushandlungsprozesse am Beispiel des Rostocker Fünf-Giebel-Hauses skizziert, das gleichermaßen für eine organisatorische und fachliche Kollektivleistung der im Netzwerk der Stadtplaner und Architekten zusammengeschlossenen Akteure (Büro für Stadtplanung, Betriebsteil Projektierung des Wohnungsbaukombinates Rostock und Hauptauftraggeber) steht. Vgl. Betker, Der öffentliche Raum, S. 161 f. 66 So schloss eine Beschlussvorlage des Rates der Stadt Halle für „Maßnahmen zur Sicherung, Rekonstruktion und Werterhaltung der Kulturbauten“ vom 12.11.1984 mit dem Satz: „Die Aufgaben zur Sicherung, Rekonstruktion und Erhaltung der Kulturbauten können deshalb nur in Übereinstimmung mit dem Wohnungsbauprogramm realisiert werden.“ Konzeption und Maßnahmen zur Sicherung, Rekonstruktion und Werterhaltung der Kulturbauten der Stadt Halle 12.11.1984, S. 6., StAH, Bestand Ratsprotokolle. 67 Beschlussvorlage für die Sitzung des Rates der Stadt Halle am 5.12.1984 (Bildung eines Beirates für Stadtgestaltung), StAH, Bestand Ratsprotokolle. Die Gründung des Beirates fand am 17.12.1984 statt.
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beim innerstädtischen Bauen. Viel wichtiger für diese Fragen erwies sich im letzten Jahrzehnt vor der Wende der im Januar 1983 durch engagierte Bürger gegründete Arbeitskreis Innenstadt, dessen vorrangiges Ziel in der Dokumentation und Sicherung der zahlreichen durch Abriss und Verfall bedrohten Kulturdenkmale in der Halleschen Innenstadt bestehen sollte.68 Wie sehr dieses Anliegen zu diesem Zeitpunkt gerechtfertigt schien, dokumentieren nicht nur die Aktivitäten zur Rettung des Stadtgottesackers, aus denen der Verein entstand, sondern vor allem die Zurückhaltung des Rates der Stadt Halle bei der Umsetzung der denkmalpflegerischen Richtlinien im Zusammenhang mit den Zielen des innerstädtischen Bauens.69 Auf den Konflikt zwischen einer Modernisierung des Stadtraums und der Bewahrung der alten Bausubstanz verweist auch der Diskussionsbeitrag eines CDU-Abgeordneten auf der Stadtverordnetenversammlung vom 2.2.1984, in dem ein selbstbewusster Umgang mit der alten Bausubstanz beim innerstädtischen Bauen angemahnt wurde. Dabei sollten mittelalterliche Straßenfluchten im Rekonstruktionsgebiet Domplatz verbreitert und störende Bausubstanz abgetragen werden: „Wir wollen doch mit den Baumaßnahmen unsere Bezirksstadt im komplex (sic!) weiter entwickeln und ihre sozialistischen Wesenszüge weiter ausprägen. Es gilt doch dabei die Mängel aus mittelalterlicher und kapitalistischer Zeit beim Bauen und in der Verkehrsstruktur Schritt für Schritt zu überwinden.“70 Ganz in diesem Sinne formulierte auch der Stadtarchitekt von Halle, Wulf Brandtstätter, Mitte der 1980er Jahre die Zielsetzungen des innerstädtischen Bauens im Gegensatz zum überkommenen Stadtbild: „Es muß uns gelingen, mit den Mitteln des industriellen Bauens den meisten der neuen Gebäude ein Gesicht zu geben, nicht das des Mittelalters und schon gar nicht das der Gründerzeit, sondern ein Antlitz unserer Zeit.“71 Wie Brandstätter diese Stadtgestaltung mit den Mitteln des industriellen Bauens rigide auch gegenüber den kommunalpolitischen Auftraggebern durchzusetzen bestrebt war, verdeutlichte sich in den Auseinandersetzungen um das Kulturhaus in Halle, das in den späten 1980er Jahren in der Nähe des Marktplatzes errichtet wer68 Vgl. die kurze Selbstdarstellung des Vereins in: Hallesche Baudenkmale zwischen Zerstörung und Erhalt, herausgegeben vom Arbeitskreis Innenstadt e.V., Halle/Saale 1993, S. 8. Der Arbeitskreis Innenstadt trat im Januar 1984 dem Kulturbund Halle bei, um sein Fortbestehen zu sichern. 69 Diese Politik liest sich in der Selbsteinschätzung des Rates im Oktober 1986: „Es wurde in der vom Rat bestätigten Vorlage zu den Kulturbauten der Stadt (Ratsvorlage 21.11.1984) bereits darauf hingewiesen, daß unter Beachtung der vorhandenen Bausubstanz und der notwendigen Konzentration auf Wohnungsbau nicht immer die in den zurückliegenden Jahren zur Sanierung und Erhaltung notwendigen materiellen und finanziellen Fonds eingesetzt werden konnten. Daher: Schäden und Sperrungen an wichtigen Kulturdenkmälern in der Stadt (Moritzburg, Dom, obere Giebichenstein, Große Märkerstr., Geschichtsmuseum)“. Beschlussvorlage für die Sitzung des Rates der Stadt Halle/Saale 8.10.1986, Stadtarchiv Halle/Saale, Ratsbeschlüsse 174–22./86. 70 Sitzung der Stadtverordnetenversammlung am 2.2.1984, StAH, Bestand Stadtverordnetenversammlung 125. 71 Für des Volkes Wohl. Der Bezirk Halle zwischen dem X. und XI. Parteitag. Herausgegeben von der Bezirksleitung der SED Halle in Zusammenarbeit mit dem Rat des Bezirkes Halle u.a. Halle 1986, S. 152.
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den sollte. Die Arbeitsgemeinschaft zur Vorbereitung des Kulturhausbaus, in der politische und fachliche Repräsentanten der Stadt und des Bezirks zusammen kamen, wurde von Brandstätter mit eigenen Wünschen hinsichtlich des innerstädtischen Bauens torpediert. Er sah darin vor allem die Möglichkeit, im Zuge des Kulturhausbaus auch die angrenzenden Altbauwohngebiete einer grundlegenden Erneuerung zu unterziehen: „Das Gründerzeitquartier sei nicht zu halten. Er beschwört alle, dem Bau eines Studentenwohnheims zuzustimmen. Er habe dafür aus dem Komplexen Wohnungsbau Geld und Bilanzen, und ‚ihr habt ja sowieso keine Mark übrig‘.“72 Der Bau des Kulturhauses verzögerte sich ständig und wurde letztlich erst nach der Wende realisiert, während der von Brandstätter geforderte Abriss erhaltenswerter Bausubstanz in diesem Altbauwohngebiet nahe des Marktplatzes für Jahre eine innerstädtische Brachfläche schuf.
Abb. 3: Stadtansicht Halle/Saale mit Marienkirche, Hallmarkt und dem Modell des Kulturhauses; Quelle: Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung Erkner 72 Aktenvermerk über die Tagung der „AG zur konzeptionellen Vorbereitung und Sicherung der künstlerischen Ausgestaltung des Kulturhauses Halle“ am 29.1.1988, S. 2, LHSA, Abt. Merseburg, IV/F-2/6/283. Auch auf der folgenden Sitzung machte Brandstätter Druck auf die Vertreter des Rates der Stadt: „Er spreche sich für den Abriß der Kellnerstraße aus und unterbreite den Vorschlag, die Baumaßnahmen dieses Quartiers über den komplexen Wohnungsbau zu realisieren.“ Aktenvermerk über die Tagung der „AG zur konzeptionellen Vorbereitung und Sicherung der künstlerischen Ausgestaltung des Kulturhauses Halle“ am 18.4.1988, S. 3, LHSA, Abt. Merseburg, IV/F-2/6/283.
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Dass sich für diese Baupolitik immer weniger Bürger in der Stadt begeistern ließen und die kommunalpolitischen Entscheidungsträger vor diesem Hintergrund an der Durchsetzungsfähigkeit ihres politischen Gestaltungsanspruchs zweifeln mussten, verdeutlichen die beständigen Bemühungen des Rates der Stadt in Halle, die Machmit-Initiativen auf Objekte des innerstädtischen Bauens und der Rekonstruktion zu lenken und sich gegenüber Initiativen wie dem Arbeitskreis Innenstadt zumindest partiell kooperativ zu verhalten.73 Aber der Wechsel von der extensiven Stadtentwicklung zur Innenstadtbebauung machte nicht nur die gestalterischen Defizite des Städte- und Wohnungsbaus in der DDR offenkundig, sondern verdeutlichte auch den eklatanten Mangel an Mitbestimmungsmöglichkeiten in den Planungsprozessen auf der kommunalen Ebene, die keine wirkliche Bürgerbeteiligung vorsahen. In der Diskussion um die Planungsprozesse beim innerstädtischen Bauen in der DDR verdeutlichte sich ein Politikverständnis, das gerade nicht von unterschiedlichen Interessenlagen auszugehen bereit war, die angesichts des massiven Eingriffs in den eigenen Lebensbereich zu erwarten gewesen wären. So spielten die in den Umgestaltungsgebieten Wohnenden allenfalls eine beratende Rolle innerhalb der kommunalen und auf der Bezirksebene initiierten Planungsprozesse: „Die Bürger sind an einem sinnvollen Einsatz der verfügbaren finanziellen und materiellen Fonds bei der Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen unmittelbar interessiert und daher für die Aufdeckung und Nutzung aller Reserven zu gewinnen.“74 Die verantwortlichen Funktionäre im Partei- und Staatsapparat verabschiedeten sich auch in den 1980er Jahren nicht von der „Tonnenideologie“ der Plattenbauweise in den Innenstädten. Trotz zunehmender Kritik von Architekten, Städteplanern und vor allem den Stadtsoziologen blieb der industrialisierte Wohnungsbau das bestimmende Moment auch für die Neubebauung in Altbauwohngebieten der DDR-Städte.75 Wie deutlich sich in der alltäglichen Erfahrung des innerstädtischen Bauens die Wertvorstellungen und Ansprüche an den Stadtraum zwischen den Bewohnern der Altbauwohngebiete und den Kommunalpolitikern und Parteifunktio73 Maßnahmen des Rates der Stadt zur Weiterführung der politischen Massenaktion „Unser Bestes zum XI. – Schöner unsere Städte, Dörfer und Wohngebiete“ bis zum XI. Parteitag der SED 4.12.1985, StAH, Bestand Ratsprotokolle 265-26./85. Zum Arbeitskreis Innenstadt vgl. Hallesche Baudenkmale, S. 8. Der Hallesche Stadtarchitekt Brandstätter verhielt sich aufgeschlossen gegenüber den Anliegen des Arbeitskreises zur Denkmalpflege in Halle und ermöglichte dem Verein eine Ausstellung im Roten Turm zu Fragen der Stadtsanierung. Vgl. dazu WagnerKyora, Graue Diven, S. 219. Allerdings erwähnt Brandstätter die Initiativen des Arbeitskreises und seine partielle Zusammenarbeit nicht in einem Leitartikel für die Zeitschrift Architektur der DDR. Wulf Brandstätter, Zur städtebaulichen Situation der Stadt Halle, in: Architektur der DDR (1986) 6, S. 327–329. 74 Manfred Heinze, Zur Einbeziehung der Bürger in die städtebauliche Planung und Vorbereitung der Modernisierung, Rekonstruktion und Umgestaltung in innerstädtischen Altbaugebieten, in: Architektur der DDR (1981) 6, S. 356. Vgl. zur administrativen und technischen Organisation der Stadterneuerung in der DDR Thomas Kristen, Stadtplanung und Stadterneuerung in der DDR. Kassel 1988. 75 Betker, Wieder Straßen und Plätze, S. 123. Vgl. zur stadtsoziologischen Kritik Fred Stauffenbiel, Soziale Erfordernisse des Wohnungsbaus in innerstädtischen Altbauwohngebieten, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar, Reihe A (1985) 1, S. 7–12.
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nären unterschieden und sich dadurch paradoxerweise neue Handlungsmöglichkeiten ergaben, zeigt am deutlichsten das Beispiel des „Modellvorhabens Rykestraße“ in Ost-Berlin. Die von den Planungen zum großflächigen Abriss und zur Neubebauung des Gründerzeitquartiers im Herzen des Prenzlauer Bergs betroffenen Bürger setzten sich mit unkonventionellen Mitteln gegen die 1988 bekannt gewordenen Planungen zur Wehr, indem sie mit einer Gruppe von aktiven Betroffenen dem zuständigen Wohnbezirksausschuss der Nationalen Front beitraten, eine eigene Baukommission gründeten und somit die Institutionen der sozialistischen Demokratie auf der untersten kommunalen Ebene für ihre eigenen Belange in Anspruch nahmen.76 Auf diese Weise versetzten sie sich in die Lage, die staatlichen Stellen auf institutionellem Wege zur Auskunft über die laufenden Planungen und die Gründe für den Abriss zu zwingen. Strategisch gingen die Bürger gegen das Argument der Baufälligkeit der Altbauwohnsubstanz in ihrem Wohnbezirk vor, in dem sie verschiedene Institutionen des Bauwesens in die Erstellung einer neuen Bauzustandsanalyse und eines eigenen Bebauungskonzepts für die Rykestraße einbanden. Im Verlaufe des Jahres 1989 gelang es den engagierten Bürgern in der Baukommission des Wohnbezirksausschusses zusammen mit den hinzugewonnenen Experten ihre Bebauungskonzeption, die eine behutsame Erneuerung vorsah, im Wesentlichen durchzusetzen.77 Zwar ließen die Ereignisse der Wende auch diese Planungen obsolet werden. Doch das Engagement auf der Ebene des Wohn- und Stadtbezirks in Prenzlauer Berg war für viele Beteiligten der Anfang eines längeren kommunalpolitischen Engagements auf dem Gebiet Wohnen und Stadtentwicklung.78 Auch in Potsdam, Erfurt, Schwerin und anderen Städten der DDR entstanden Ende der 1980er Jahre Bürgerinitiativen zur Rettung bedrohter städtebaulicher Ensembles, die gezielt durch Aktionen und Publikationen eine neue Form städtischer Öffentlichkeit schufen, innerhalb derer sich auch Kommunalpolitiker und Parteifunktionäre zurechtfinden mussten. Die Erfolge dieser Bürgerinitiativen hinsichtlich eines Umdenkens in der Baupolitik in den staatlichen Institutionen blieben zwar begrenzt, aber durch diese auf die Stadt bezogenen Aktivitäten wurde die alternativlose Politik des industrialisierten Wohnungsbaus in den Innenstädten der DDR grundlegender in Frage gestellt, als es den Beteiligten oft bewusst war. Dies geschah weniger durch spektakuläre Aktionen oder jahrelange Tätigkeit im Geiste der Opposition. Die Akteure dieses bürgerschaftlichen Engagements für den Erhalt der Altstädte in den späten 1980er Jahren nahmen vielmehr die Staats- und Partei-
76 Vgl. zu dieser Episode des Bürgerprotests gegen die sozialistische Stadtplanung am Ende der DDR Tanja Blankenburg, Stadterneuerung im Konflikt. Das Modellbauvorhaben Rykestraße in Berlin, in: Barth, Grammatik sozialistischer Architekturen, S. 253–263. Vgl. ebenso Brian Ladd, Local Responses in Berlin to Urban Decay and the Demise of the German Democratic Republic, in: Lauren Crabtree/John Czaplicka/Blair A. Ruble (Hrsg.), Composing Urban History and the Constitution of Civic Identities, Washington 2003, S. 263–284. 77 Ladd, Local Responses, S. 276 f. 78 Blankenburg, Stadterneuerung im Konflikt, S. 261.
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führung beim Wort und entwickelten Strategien, die jenseits der „Aktivitätsfalle“ der staatssozialistischen Mitmach-Gesellschaft auf eine Stärkung der lokalen Ebene und ihrer Partizipationsangebote hinausliefen.79 Fazit Der politische Gestaltungsanspruch lokaler Akteure in den Kommunen im Staatssozialismus lässt sich im Hinblick auf das letzte Jahrzehnt der DDR kaum auf einen Begriff bringen. Für eine abschließende Bewertung des politischen Bewusstseinswandels der kommunalpolitischen Akteure in den 1980er Jahren reichen die wiedergegebenen Beispiele aus Halle und anderen Städten der DDR sicherlich nicht aus. Allerdings sollten anhand der konfliktreichen Aushandlungsprozesse in der Wohnungspolitik und auf dem Gebiet der Stadtgestaltung die Besonderheiten und Grenzen politischen Handelns in den überschaubaren Arenen der DDR-Kommunen deutlich geworden sein. Für diese Aushandlungsprozesse war vor allem entscheidend, dass die Möglichkeiten der gesellschaftspolitischen Steuerung in den Städten stets an die besonderen informellen Kontakte und Beziehungsgeflechte vor Ort gebunden war und dabei gerade die Zurückweisung ideologischer Motive eine sachorientierte Begründung lokalpolitischen Handelns ermöglichen konnte.80 Die vorausgegangenen Erörterungen sollten aber auch gezeigt haben, dass diese informellen Kontakte und Beziehungsgeflechte vor Ort – entgegen der heutigen Tendenz, für Teile der DDR-Gesellschaft Zonen des Unpolitischen zu deklarieren – sich alles andere als herrschaftsfrei gestalteten. Durchherrscht waren sie vor allem dahingehend, dass selbst ein unpolitisches Selbstverständnis von lokalen Akteuren ohne den Bezug zur SED-Herrschaft nicht zu denken ist und die Kommunen als überschaubare Vergesellschaftungsräume im Sozialismus allemal von politischen Gestaltungsansprüchen durchdrungen waren. Die in den alltäglichen Konflikten und Arrangements zwischen Bürgern, Kommunalpolitikern, städtischen Verwaltungen und lokalen Parteifunktionären gemachten Erfahrungen unterschieden sich gleichwohl deutlich von der politischen Erfahrungswelt in den Bereichen exklusiver SED-Herrschaft.
79 Ladd, Local Responses, S. 278 f. 80 Siehe die Intervention des 1. Sekretärs der Bezirksleitung der SED in Berlin, Günther Schabowski, in die Auseinandersetzung um die Rykestraße, in der Schabowski seine Abrisshaltung mit den eigenen negativen Erfahrungen in den Berliner Mietskasernen begründet und diese Bebauung als schuldhaft für das Elend der Unterschichten anführt. Diese Haltung wird von den betroffenen Bürgern als nicht mehr zeitgemäß und der konkreten Problematik nicht entsprechend zurückgewiesen. Ladd, Local Responses, S. 276.
EIN LOKALER „RAT FÜR GEGENSEITIGE WIRTSCHAFTSHILFE“: EISENHÜTTENSTADT, KRAKóW NOWA HUTA UND OSTRAVA KUNčICE Dagmara Jajeśniak-Quast Einführung Die drei sozialistischen Städte Eisenhüttenstadt, Kraków Nowa Huta und Ostrava Kunčice verbindet eine Gemeinsamkeit. Alle drei vereint das Merkmal, die erste sozialistische Stadt der DDR, der VR Polen bzw. der Tschechoslowakei gewesen zu sein. Alle drei standen und stehen darüber hinaus in einer sehr großen Abhängigkeit von einem Großbetrieb. Ursprünglich entstanden sie in den 1950er Jahren als Wohnsiedlungen für die Arbeiter der dazugehörigen Hüttenwerke. Mehr noch, bei den Standortentscheidungen konzentrierte man sich vor allem auf die günstigen Bedingungen für die forcierte Schwerindustrie. Die Städte gehörten nun einfach dazu, was ein besonderes Stadt-Werk-Verhältnis schuf. Seitdem sind diese Städte und die Betriebe mehr oder weniger auf sich selbst angewiesen. Ein zweites Merkmal besteht darin, dass diese Städte unter dem Zeichen der sozialistischen Industrialisierung und der Wirtschaftsplanung entstanden. Auch diese Abhängigkeit von einer Ideologie ist sehr ausgeprägt. Die neuen Städte erhielten daher Namen die zur sozialistischen Industrialisierung, „Made in UdSSR“ passten. In den 1950er Jahren bekamen sie besonders oft den Ehrentitel und Zusatz Stalin oder Lenin bzw. die Namen von anderen nationalen kommunistischen Führern. Der neu gebaute Stadtteil von Ostrava wurde Stalingrad, heute Ostrava-Bělský Les, genant. Am 31. Dezember 1951 erhielt der neue Betrieb in Ostrava den Namen des damaligen tschechoslowakischen Präsidenten und Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (Komunistická Strana československa, KSč) und hieß seitdem bis 1990 Neue Klement-Gottwald-Hütte (Nová huť Klementa Gottwalda). Am 8. Mai 1953, dem 8. Jahrestag der Kapitulation des faschistischen Deutschlands, erhielt das Werk in der DDR den Namen Stalins, wenige Monate nach dem Tode eines der größten Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Nicht nur das Werk hieß seitdem für die folgenden neun Jahre Eisenhüttenkombinat Ost J.W. Stalin, sondern auch die neu entstandene Stadt wurde Stalinstadt genannt.1 1
Erst im November 1961 bekam das Werk den alten Namen „Eisenhüttenkombinat Ost“ (EKO) zurück und auch die Stadt wurde unbenannt. Aus Stalinstadt, Fürstenberg (Oder) und Schönfließ wurde laut Beschluss des Bezirkstages Frankfurt (Oder) auf Grund vieler Anträge aus der Bevölkerung die Stadt Eisenhüttenstadt. Vgl: Unternehmensarchiv EKO Stahl (UA EKO), Volkseigener Betrieb Bandstahlkombinat „Hermann Matern“ (VEB BKE), Akte. Nr. A 75, Zeittafel des VEB Bandstahlkombinat Eisenhüttenstadt Stammwerk EKO, 13, sowie: EKO Stahl GmbH (Hrsg.), Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl, Eisenhüttenstadt 2000, S. 119.
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Am 21. Januar 1954, dem 30. Todestag Lenins, wurde wiederum dem polnischen Werk der Name Lenin-Hütte übertragen.2 Schließlich wurden alle diese Investitionen als Neue Hütten bezeichnet. Durch das Adjektiv „neu“ in den Namen sollten die Werke bzw. Städte nach außen symbolisch wirksam und als Abgrenzung zur kapitalistischen Epoche dargestellt werden. Sogar für das Werk EKO findet man in den Archivunterlagen diese Bezeichnung als Gegenpol zu der alten Maxhütte von Unterwellenborn in Thüringen.3 Die neuen Investitionen sollten sich damit von den alten kapitalistischen Standorten schon allein durch die Namen unterscheiden. Die Forschung der letzten Jahre liefert zahlreiche neue Ergebnisse über diese ersten sozialistischen Städte.4 Die internationale Diskussion zum Thema der ersten sozialistischen Städte richtete sich zunächst auf die Städte im Ursprungsland der Idee, die Sowjetunion. Allen voran ist hier Magnitogorsk zu nennen. Dem ersten Fünfjahrplan (1929–1933) folgend, wurden in der Sowjetunion eine neue Stadt und ein Kombinat im Ural errichtet. Schon damals reisten amerikanische, deutsche und französische Architekten, Ingenieure und andere Freiwillige in das Land, um an 2
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Diesen Namen trug die Hütte bis zum 15. Dezember 1989, als der Arbeiterrat die Entscheidung traf, den Namen des Kombinates in Tadeusz Sendzimir-Hütte zu ändern. Vgl. Maciej Choma/ Gil, Mieczysław u.a., 50 lat. Huta im. Taduesza Sendimira w Krakowie 1949–1999 (50 Jahre. Die Sendzimir Hütte AG in Krakau 1949–1999), Wydawnictwo Trans-Krak, Kraków 1999, S. 22 u. 47. UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 75, Zeittafel des VEB Bandstahlkombinat Eisenhüttenstadt Stammwerk EKO, S. 16. Für Eisenhüttenstadt: vgl. Axel Gayko, Investitions- und Standortpolitik der DDR an der OderNeiße-Grenze 1950–1970, Frankfurt/Main, Berlin 1999; Rosmarie Beier (Hrsg.), Aufbau West – Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Berlin 1997; Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriss der frühen DDR, aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999; Jenny Richter/HeikeFörster/Ulrich Lakemann, Stalinstadt-Einsenhüttenstadt. Von der Utopie zur Gegenwart. Wandel industrieller, regionaler und sozialer Strukturen in Eisenhüttenstadt, Marburg 1997; Arbeitsgruppe Stadtgeschichte (Hrsg.), „Erste sozialistische Stadt Deutschlands“, Berlin-Brandenburg 1999; Lozac’h Valerie (Hrsg.), Eisenhüttenstadt, Leipzig 1999, in: Comperativ, Jg. 9 Heft 3; Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts, Weimar 2000; Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt. Wandel einer industriellen Gründungsstadt in fünfzig Jahren, Potsdam, 2000; Dagmar Sammelmann/Gudrun Prengel/Ursula Krüger, Eisenhüttenstädter Lesebuch, Berlin 2000; Für Nowa Huta vgl. Dagmara Jajeśniak-Quast, Soziale und politische Konflikte der Stahlarbeiter von Nowa Huta während der Sozialistischen Transformation, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder, Bd. 42, Nr. 2, München 2001, S. 244–268; Katherine Lebow, Public Works, Privat Lives: Youth Brigades in Nowa Huta in the 1950s, in: Contemporary European History, Bd. 10, Heft 6, 2001, S. 199–219; Towarzystwo Miłośników Historii i Zabytków Krakowa (Verband der Freunde der Geschichte und des Erbes Krakaus) (Hrsg.), Narodziny Nowej Huty. Materiały sesji naukowej odbytej 25 kwietnia 1998 roku. (Die Geburt von Nowa Huta. Materialien einer Tagung am 25. April 1998), Kraków 1999; Ryszard Terlecki/Marek Lasota/Jarosław Szarka (Hrsg.), Nowa Huta – miasto walki i pracy (Neue Hütte – Stadt des Kampfes und der Arbeit), Kraków 2002; Gotthard Breit, Krakau und Nowa Huta: Alte und neue Städte in Polen, Paderborn 1980; Jan Skarbowski, Nowa Huta, pierwsze sozialistyczne miasto w Polsce (Neue Hütte, die erste sozialistische Stadt in Polen), Kraków 1971; Jerzy Aleksander Karnasiewicz, Nowa Huta. Okruchy życia i meandry historii, Kraków 2003.
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dieser Bewegung eines Werkes in einer neuen Welt mitzubauen.5 Die ersten Forschungsansätze kamen wiederum aus den westlichen Ländern, denn Magnitogorsk gilt als das Symbol der sowjetischen Industrialisierung schlechthin.6 Allmählich wurden auch die anderen sozialistischen Städte in Ostmitteleuropa für die Historiker interessant, obwohl die Soziologie insbesondere in Polen schon ab Mitte der 1960er Jahre gerade diese Städte mit ihren Einwohnern und Werksarbeitern als geeignetes Untersuchungsobjekt entdeckte7. Die meisten Publikationen untersuchten allerdings damals wie heute nur eine Stadt in einer sozialhistorischen Weise oder unter dem architektonischen Aspekt. Ein Ländervergleich zwischen den Städten und den dazugehörigen Werken ist eher selten. Die ersten Weichen eines komparativen Ansatzes zum Thema wurden in Deutschland unter anderen am Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner von Christoph Bernhardt und Thomas Wolfes gestellt.8 Dieser Artikel möchte an diesen Ansatz anknüpfen und einen Vergleich der ersten sozialistischen Städte und Werke der DDR, Polens und der čSSR wagen. Anders als in den meisten Publikationen zum Thema, geht dieser Text daher viel stärker auf die Ebene des Werkes selbst ein. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einem blieb die Werksebene in der Literatur bis jetzt eher unberücksichtigt. Zum zweiten darf man die Zusammenhänge mit der sozialistischen Industrialisierung in der Geschichte dieser Städte nicht außer Acht lassen. Zum dritten stammen meine Primärquellen vor allem aus den Unternehmensarchiven der drei ehemaligen Kombinate. Aufgrund der Privatisierung der drei Werke und der Eingliederung aller drei Standorte in den neu entstehenden und größten Stahlkonzern der Welt„Arcelor-Mittal“ ist zu vermuten, dass der Zugang zu dieser Art der Quellen immer schwieriger wird. Schließlich kann nur unter Einbeziehung
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Stellvertretend ist hier der deutsche Architekt Ernst May zu nennen sowie Erich Honecker, der als junger Arbeiter beim Aufbau des Kombinates in Magnitogorsk beteiligt war. Vgl. Harald Bodenschatz/Christiane Post, (Hrsg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935, Berlin 2003. Vgl. Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley, 1995; Karl Schlögel, Magnitogorsk, die Pyramiden des 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hrsg.), Go East oder die zweite Entdeckung des Osten, Berlin, 1995, S. 169–184; Tatjana Kirstein, Die Bedeutung von Durchführungsentscheidungen in dem zentralistisch verfassten Entscheidungssystem der Sowjetunion: Eine Analyse des stalinistischen Entscheidungssystems am Beispiel des Aufbaus von Magnitogorsk (1929–1932), Wiesbaden 1984. Antoni Stojak, Studia nad załogą Huty imienia Lenina. (Studien über die Belegschaft der Leninhütte), in: Polska Akademia Nauk. Prace Komisji Socjologicznej Nr 9 (Polnische Wissenschaftsakademie. Arbeiten der Soziologischen Kommission Nr. 9), Zakład Narodowy imienia Ossolińskich, Wydawnictwo Polskiej Akademii Nauk, Wrocław, Warszawa, Kraków, 1967; Ewa Pietsc/Antoni Stoja/Jerzy Sulimski, Budowa i rozwój Huty im. Lenina oraz kształtowanie się społeczeństwa Nowej Huty (Der Bau und die Entwicklung der Leninhütte und die Herausbildung der Gesellschaft von Nowa Huta), in: Antoni Stoja, (Hrsg.), Huta im. Lenina i jej załoga. (Die Leninhütte und ihre Belegschaft), Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego CCCCXLVII, Prace sojologiczne, Zeszyt 3 (Wissenschaftshefte der Jagiellonischen Universität CCCCXLVII, Soziologische Arbeiten, Heft 3), Kraków 1976. Vgl. Christoph Bernhardt/Thomas Wolfe, (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005.
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der Werksebene das enge Verhältnis von Stadt und Werk, was sehr typisch für die hier vorgestellten sozialistischen Städte ist, betrachtet werden. Standortentscheidungen Eisenhüttenstadt Auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der späteren DDR, sind die Folgen des Zweiten Weltkrieges und insbesondere die Teilung Deutschlands als einflussnehmende Faktoren in der Standortpolitik für die Eisen- und Stahlindustrie sehr deutlich zu sehen. Im Vergleich zu Polen oder zur Tschechoslowakei war vor allem im Ostteil Deutschlands die Notwendigkeit des Baus eines neuen Hüttenwerkes nach dem Zweiten Weltkrieg am größten. Die meisten Standorte der Eisenund Stahlindustrie befanden sich entweder in den westlichen Besatzungszonen oder in den an Polen verlorenen Ostgebieten. Die einzigen Stahlwerke in Brandenburg, Hennigsdorf und die Maxhütte in Unterwellenborn, waren entweder zerstört, demontiert oder hatten eine zu kleine Kapazität um den Bedarf an Eisen und Stahl zu befriedigen. Die Notwendigkeit des Baus eines Hüttenwerkes unter den damaligen politischen Verhältnissen lag daher auf der Hand. Alle Volkswirtschaften Europas brauchten nach dem Krieg Eisen und Stahl für den Wiederaufbau. Die Frage ist aber, warum als Standort für das neue Hüttenkombinat und die neue Stadt die kleine Ortschaft Fürstenberg an der Oder und damit ein Standort an der neu entstandenen deutsch-polnischen Grenze ausgewählt wurde? Die offizielle Erklärung seitens der DDR sagt kaum etwas über die Gründe der Standortwahl aus. Der Grund des Schweigens war das Tabuthema Nummer Eins in der SBZ/DDR, nämlich die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten. Die politischen und sozialen Gründe waren bei der Standortentscheidung für Eisenhüttenstadt genauso wichtig, wie das offizielle Ziel der Industrialisierung der Nordgebiete der DDR.9 Für den Standort des Werkes und der Stadt westlich von Fürstenberg/ 9
Zur Industrialisierung der Nordgebiete DDR zu Polen, vgl.: Axel Gayko, Investitions- und Standortpolitik der DDR an der Oder-Neiße-Grenze 1950–1970, Frankfurt/Main 2000; Ders., Die Industrialisierung des brandenburgischen Grenzsaums an Oder und Neiße in den 50er und 60er Jahren. Bevölkerung und Arbeitsmarkt unter Berücksichtigung polnischer Grenzpendler, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ-DDR, Essen 1999, S. 205–234; Ders., Investitions- und Standortpolitik der DDR an der Oder-Neiße-Grenze, in: Helga Schultz (Hrsg.), Bevölkerungstransfer und Systemwandel. Ostmitteleuropäische Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 1998, S. 275–303; Gerhard Mohs, Die Industrie im Bezirk Frankfurt (Oder). Entwicklung und Standortverteilung im Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1962; Helga Schultz, Die sozialistische Industrialisierung – toter Hund oder Erkenntnismittel? In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte. Zukunftstechnologien der letzten Jahrhundertwende: Intention – Vision – Wirklichkeit, Berlin 1999, Bd. 2, S. 105–130; Dies., Die Oderregion in wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive, in: Helga Schultz/Alan Nothnagle (Hrsg.), Grenze der Hoffnung. Geschichte und Perspektiven der Grenzregion an der Oder, Berlin 1999, S. 21–56.
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Oder am Oder-Spree-Kanal, wurde offiziell mit den „drei wesentlichen Grundsätzen der sozialistischen Standortplanung“ argumentiert: 1. Höchstmögliche Annäherung der Produktion an die Rohstoffquellen; 2. Günstige Anschlussmöglichkeiten an das Netz der Verkehrswege; 3. Anlage von Industriezentren in früheren Agrargebieten und damit die Aufhebung des wesentlichen Unterschiedes zwischen Stadt und Land.10 Nach dem westlichen Embargo kamen die Rohstoffe für das neue Hüttenwerk tatsächlich ausschließlich aus dem Osten. Die Richtung der Lieferungen und Warenströme, nämlich aus der Sowjetunion die Anlieferung der Erze und aus Polen Koks, bestätigt die Argumente der Standortwahl. Das dritte offizielle Argument, die Nivellierung der regionalen Unterschiede zwischen Stadt und Land, war eines der primären Ziele der sozialistischen Industrialisierung. Allerdings scheint neben diesen Gründen das Problem der Vertriebenen eine größere Rolle zu spielen als bisher angenommen.11 Den Unterlagen aus dem Unternehmensarchiv des ehemaligen Eisenhüttenkombinats ist zu entnehmen, dass bis zu 50 Prozent der im Werk tätigen Arbeiter, in der offiziellen Sprachregelung des Staates als so genannte Umsiedler bezeichnet wurden. Nach dem Krieg ließen sich in 10 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 648, Kreiskomitee „10 Jahre Stalinstadt“, Zentrum für Presseinformation (Hrsg.), Stalinstadt. Die erste sozialistische Stadt Deutschlands. Ein Material zum 10jährigen Bestehen des Eisenhüttenkombinats „J.W. Stalin“ und Stalinstadts, S. 129; UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 969, S. 127. 11 Als erster hat Jochen černý auf das Problem der Umsiedler, wie die Vertriebenen in offiziellen Sprache benannt wurden, in Eisenhüttenstadt in seiner Dissertation (1971) hingewiesen. Darin verweist er auf die vielen Menschen, die für die Arbeit im Kombinat zu gewinnen wären und für die man Unterkünfte beschaffen sollte, denn die vielen Umsiedler, die sich in diesem Gebiet niederließen, vergrößerten noch den chronischen Mangel an Arbeitsplätzen. Vgl. Jochen Černý, Der Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost 1950/1951, Jena 1971, S. 55 f. černý beschäftigt sich auch später mit dem Problem der großen Zahl der Umsiedler beim Aufbau des EKO, allerdings mehr in Hinsicht auf die Herausbildung der neuen Arbeiterschaft und der damit verbundenen Probleme in Bezug auf die Frage der Standortentscheidung und welche Rolle dabei die Umsiedler spielen konnten. Vgl. den am Ende der 1970er Jahre veröffentlichen Artikel, der auf černý’s Dissertation im wesentlichen beruht. Vgl. Jochen Černý, Die Herausbildung sozialistischer Kollektive und Arbeiterpersönlichkeiten beim Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost (EKO) 1950–1952, in: Jahrbuch für Geschichte, Berlin 1977, Bd. 17, S. 419–463, v.a. S. 429, S. 432, S. 436 u. S. 456 f. Ende der 1980er Jahre verweist Peter Hübner auf diesen nicht zu unterschätzenden Faktor der Umsiedler bei der Standortentscheidung allerdings vorwiegend am Beispiel der Werftindustrie an der Ostsee. Hier argumentiert er mit Recht, dass „der erhebliche Zuwachs an Werftarbeitern sich wesentlich aus der Rückkehr angestammter Arbeitskräfte und durch die Übernahme von Umsiedlern aus der ehemaligen Stettiner Werftindustrie ergab“. Vgl. Peter Hübner, Sozialhistorische Aspekte der industriellen Standortproblematik in der DDR. Bemerkungen zu einem Beitrag von Jörg Roesler, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Jg. 1988 Bd.1, Berlin 1988, S. 42. Nach 1990 nahm das Problem ein Team von Wissenschaftlern um Lutz Niethammer und Alexander von Plato wieder auf, indem sie anhand der Oral History Befragungen der EKO-Arbeiter durchführten. Vgl. Lutz Niethammer/Alexander Plato/Dorothee Wierling (Hrsg.), Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991; Michael Schwartz, Vertrieben in die Arbeiterschaft. „Umsiedler“ als „Arbeiter“ in der SBZ/DDR 1945–1952, in: Peter Hübe/Klaus Tenfelde, (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ – DDR, Essen 1999, S. 81–128.
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dieser Region der neuen deutsch-polnischen Grenze besonders viele Vertriebene nieder. Viele verbanden dies mit der Hoffnung auf eine Rückkehr in die einstige Heimat.12 Daher spielte die Konzentration der Vertriebenen an der neuen Grenze eine nicht zu unterschätzende Rolle in der Standortentscheidung. Das Werk wurde zu einem Symbol der Freundschaft mit Polen und der UdSSR. Für die Vertriebenen sollten möglichst schnell neue Arbeits- und Wohnplätze geschaffen haben, denn die Konzentration von unzufriedenen Menschen konnte eine Gefahr für das neue System bedeuten. Die Vertriebenen sollten eine neue Arbeiterschaft in der ersten sozialistischen Stadt der DDR bilden. Wie überall im Fall der Eisen- und Stahlindustrie während des Kalten Krieges spielten die strategisch-militärischen Gründe auch eine Rolle in der Standortentscheidung für das neue Eisenhüttenkombinat und die neue Stadt. Danach sollte die neue Hütte möglichst in einer strategisch sicheren Position errichtet werden. Auf die Beschleunigung der Investition der neuen Hütte hatte tatsächlich die veränderte politische Situation der Jahreswende 1947/1948 einen großen Einfluss. Nach der Ablehnung des Marschallplans im Juli 1947 durch die Tschechoslowakei und Polen, sowie nach der Entstehung der DDR, wurden die Beziehungen mit der UdSSR intensiviert. In der Wirtschaftspolitik der DDR spielte der III. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vom 20.– 24. Juli 1950 eine ähnliche Rolle wie die IX. Tagung der KSč vom 25.–29. Mai 1949 in der Tschechoslowakei. Beide Tagungen haben die sozialistische Industrialisierung als Ziel der Wirtschaftspolitik bestätigt. Im Rahmen der jeweiligen Fünfjahrpläne sollten die Hauptanlagen für beide Investitionen gebaut werden. Somit sind auch beide Investitionen mit den Tagungen eng verbunden. Der endgültige Beschluss über die Schaffung des Eisenhüttenkombinates bei Fürstenberg/Oder wurde im Fall der Investition des EKO auf diesem Parteitag gefasst. Der Beschluss für die Wohnstadt EKO wurde am 14. November 1950 durch den Ministerrat gefasst.13 Am Anfang war das eine Barackenstadt südlich vom Werk, die vor allem aus Bauten des ehemaligen Heimkehrerlagers Frankfurt-Gronenfelde bestand.14 Der erste Spatenstich für das Werk erfolgte schon am 18. August 1950 durch den damaligen Industrieminister Fritz Selbmann.15 Am 8. März 1951 wurde der Grundstein für die EKO-Wohnstadt gelegt und die Arbeiten am ersten Wohnblock begonnen. Bereits am 22. Januar 1953 wurde die EKO-Wohnstadt in einer Anordnung des Ministerrates der DDR zu einem selbstständigen Stadtkreis erklärt.16 12 Vgl. Dagmara Jajeśniak-Quast/Katarzyna Stokłosa, Geteilte Städte an Oder und Neiße. Frankfurt (Oder)-Słubice, Guben-Gubin und Görlitz-Zgorzelec 1945–1995, Berlin 2000, S. 38f f.; Dagmara Jajeśniak-Quast, Kommunalwirtschaftliche Kooperation geteilter Städte an Oder und Neiße, in: Schultz, Helga (Hrsg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung, Berlin 2001, S. 275–296. 13 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 75, Zeittafel des VEB Bandstahlkombinat Eisenhüttenstadt Stammwerk EKO, S. 5. 14 Tägliche Rundschau vom 2. November 1950, in: EKO Stahl GmbH (Hrsg.), Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl, S. 48, vgl. Anm. 1. 15 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 645, S. 1. 16 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 75, Zeittafel des VEB Bandstahlkombinat Eisenhüttenstadt Stammwerk EKO, S. 8.
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Kraków Nowa Huta Die Geschichte der größten Investition der Nachkriegsjahre in Polen geht noch auf das Jahr 1945 zurück. Kurz nach dem Ende der Kampfhandlungen wurde in Polen die Diskussion über die Entwicklung des polnischen Hüttenwesens begonnen. Im Juli 1945, während einer Sitzung der Kommission für den Ausbau und die Rationalisierung des Hüttenwesens, entstand der Vorschlag eine künftige und moderne Hütte im traditionellen Industriegebiet in Oberschlesien am Kanał Gliwicki (Gleiwitzer Kanal) in Dzierżno zu bauen. Der Ingenieur Zygmunt Wiadery, hat in seinem Vorschlag die deutschen Pläne einer Hütte in Łabędy (Labend) genutzt, die im Jahr 1939 kurz vor der Realisierung stand. Die geplante deutsche Hütte war mit einer Kapazität von einer Million Tonnen Stahl pro Jahr ausgelegt. Im Dreijahresplan für den wirtschaftlichen Aufbau von Polen nach dem Zweiten Weltkrieg für die Jahre 1946–1948 wurde die Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes festgelegt, unter anderem auch der Ausbau des polnischen Hüttenwesens. In diesem ersten Plan nach Kriegsende sah man die Rolle Polens in einer Art Brückenfunktion zwischen West und Ost. Somit sollte die Industrie nicht auf den Kontakt zum Westen verzichten. Im Hüttenwesen war das Ziel erstmals durch die Modernisierung der bestehenden Werke ein Produktionsniveau von zwei Millionen Tonnen Stahl jährlich zu erreichen. Gleichzeitig wurde mit dem Projekt einer neuen Hütte begonnen, so dass mit der Investition zur Jahreswende 1948/1949 gestartet werden konnte.17 Die technischen Lösungen des neuen Stahlwerkes sollten die neue Hütte von der Art des Eisenerzes unabhängig machen, um verschiedene Importmöglichkeiten von Rohstoffen nutzen zu können. Aus Schweden, Brasilien, Marokko und der Sowjetunion sollten Erzlieferungen möglich sein. Gleichzeitig wurden auch der Import von technischem Know-how und der Kauf von Walzanlagen aus den USA festgelegt. In der Hütte hätten 5.000 Arbeitnehmer eine Beschäftigung gefunden. Für 2.500 Arbeiter sollten neue Wohngebäude errichtet werden. Mit dem Projekt der neuen Hütte beauftragte die Kommission die Firma Freyn Engineering Company aus Chicago. Auf 200 Millionen USD wurden die Kosten für den Bau geschätzt, wobei 23 Millionen über einen Kredit der Weltbank abgesichert werden sollten.18 Nach der Wende des Jahres 1947/1948 und der Unterzeichnung des polnischsowjetischen Wirtschaftsabkommens vom Januar 1948 änderten sich die Projektierung und die Vorbereitungen für die neue Hütte gravierend. Der polnisch-sowjetische Vertrag sah die Hilfe der UdSSR bei der wirtschaftlichen Transformation Polens vor, unter anderem die Einführung der sowjetischen Planmuster und eine 17 Jacek Salwiński, Decyzje o lokalizacji Nowej Huty pod Krakowem. Stan wiedzy (Die Entschädigungen über den Standort Nowa Huta bei Krakau. Forschungsstand), in: Towarzystwo Miłośników Historii i Zabytków Krakowa (Verband der Freunde der Geschichte und des Erbes Krakaus) (Hrsg.), Narodziny Nowej Huty. Materiały sesji naukowej odbytej 25 kwietnia 1998 roku. (Die Geburt von Nowa Huta. Materialien einer Tagung am 25. April 1998), Kraków 1999, S. 82 f. 18 Jacek Salwiński, S. 84, vgl. Anm. 17.
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Investitionspolitik für die polnische Wirtschaft.19 Einer sozialistischen Transformation Polens stand nun nichts mehr im Wege und die ursprüngliche Rolle Polens als Brücke zwischen Ost und West wurde schnell vergessen. Somit haben auch die Arbeiten am Projekt der neuen Hütte andere Ausmaße angenommen. 1948 wurde ein Embargo im Westen auf strategische Waren, die nach Osteuropa exportiert werden sollten, was durch die COCOM (Coordinating Committee on Export Control) kontrolliert wurde, eingeführt.20 Die bestellten und bezahlten Walzanlagen für die Hütte konnten somit nie den amerikanischen Hafen verlassen.21 Unmittelbar nach der Ablehnung des Marshallplans durch Polen wurde im Oktober 1947 der Kontakt zwischen der polnischen Direktion des Zentralen Verbandes der Eisenindustrie und den Spezialisten für die Hütteninvestition in der Sowjetunion aufgenommen. Das Hauptthema dieser Gespräche war die Möglichkeit einer Realisierung des Projektes der neuen Hütte unter direkter Einbeziehung der sowjetischen Seite. Auch die Lieferung von sowjetischen Anlagen für die Hütte wurde abgesprochen. Während dieser Gespräche wurde erstmalig die Produktionskapazität des neuen Betriebes in Höhe von anderthalb Millionen Tonnen Stahl pro Jahr statt der bisherigen Größe von einer Million Tonnen genannt. Der Grund dafür waren die überdimensionalen Anlagen in der Sowjetunion, die nicht für kleinere Werke ausgelegt waren.22 Trotz der festen Standortentscheidung für die neue Hütte am Kanał Gliwicki wurden während der Moskauer Gespräche Zweifel an der Richtigkeit dieser Entscheidung von sowjetischer Seite laut. Zwei Hauptgründe wurden hier genannt. Erstens: Der Standort in Dzierżno war für die ursprüngliche Produktionskapazität der Hütte in Höhe von einer Million Tonnen ausgelegt. Jetzt war aber die Rede von eineinhalb bis sogar zwei Millionen Tonnen. Für diese Auslegung war dieser Standort zu knapp bemessen. Zweitens: Nach der Unterzeichnung des Wirtschaftsabkommens mit der Sowjetunion waren Erzlieferungen nur aus dem Osten vorgesehen. Somit war es logischer, die Hütte näher an die sowjetische Grenze zu bauen.23 Zbigniew Loreth, der seit 1952 für fünfzehn Jahre als Investitionsdirektor des Kombinates in Nowa Huta fungierte, sieht aber auch andere Gründe für den Verzicht auf den ursprüng19 Archiwum Akt Nowych w Warszawie (Archiv der Neuen Akten in Warschau, AAN), Ministerstwo Przemysłu i Handlu II (Ministerium für Industire und Handel II, MPiH II), Protokół nr 1 z posiedzenia w dniu 7 maja 1948 r. w sprawie projektowania zakładów hutniczych w Polsce, sporządzony przez Ambasadę R. P. w Moskwie (Protokoll der Sitzung am 7. Mai 1948 zum Thema der Projektierung der Hüttenbetriebe in Polen, angefertigt durch die polnische Botschaft in Moskau), Sign. 8/15, S. 3. 20 Janusz Kaliński/Zbigniew Landau, Gospodarka Polski w XX wieku (Wirtschaft Polens im XX. Jahrhunderts), Warszawa 1998, S. 246. 21 Zbigniew Loreth, Szanse. Głos w dyskusji. (Die Chancen. Ein Diskussionsbeitrag), in: Towarzystwo Miłośników Historii i Zabytków Krakowa (Verband der Freunde der Geschichte und des Erbes Krakaus) (Hrsg.), Narodziny Nowej Huty. Materiały sesji naukowej odbytej 25 kwietnia 1998 roku. (Die Geburt von Nowa Huta. Materialien einer Tagung am 25. April 1998), Kraków 1999, S. 171 f. 22 Jacek Salwiński, S. 87, vgl. Anm. 17. 23 AAN, MPiH II, Protokół nr 4 z konferencji odbytej w W/Z „Maszynoimport“ w dniu 7.6.1948 w Moskwie (Protokoll Nr. 4 aus der Konferenz in „Maschinenimport“ Moskau am 7.6.1948), Sign. 8/15, 21 sowie: Jacek Salwiński, S. 89, vgl. Anm. 17.
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lichen Standort am Kanał Gliwicki. Diese erinnern sehr an die Vertriebenenproblematik im Fall des ostdeutschen Werkes EKO. Die Entscheidung, eine neue Hütte in den ehemaligen deutschen Gebieten zu bauen, hätte zu damaligen Zeiten eine Protestwelle hervorgerufen. In Fachkreisen mehrten sich auch die Proteste gegen die von der sowjetischen Seite vorgeschlagenen Produktionskapazitäten von anderthalb Millionen Tonnen und gegen die Größe der Hochöfen von 1.000 m³. Der Hauptvorwurf seitens der polnischen Fachleute bestand darin, dass niemand in Polen in der Lage sei, so einen Giganten zu steuern. Zusätzlich vermuteten die polnischen Spezialisten Probleme mit der sowjetischen Seite. Zum Beispiel nannte die Sowjetunion nie die Baukosten und die Kostenstruktur der Produktion der projektierten Hütte in Nowa Huta. Sie erklärte, dass sie die Vorbreitung des Kostenplanes für den Bau der Hütte nicht vornehmen wird, denn diese Arbeit sei ziellos und nehme zu viel Zeit in Anspruch und somit wären die Kosten für die Erstellung des Kostenplanes fast genauso hoch wie die Kosten des Projektes der ganzen Hütte selbst.24 Trotz des einstimmigen Protestes der polnischen Spezialisten in Schlesien traf der damalige Minister des Hüttenwesens Kiejstun Żemajtis die Entscheidung, den sowjetischen Vorschlag anzunehmen.25 Seit dieser Entscheidung war die Realisierung der neuen Hütte zwangsläufig von sowjetischen Spezialisten abhängig. Letztendlich sollte der Standort für die neue Hütte zusammen mit der sowjetischen Delegation festgelegt werden.26 Im Januar 1949 reiste eine Delegation der sowjetischen Spezialisten nach Polen. Die sowjetischen Experten haben zusammen mit polnischen Ingenieuren insgesamt elf potenzielle Standorte zwischen den Flüssen Odra und Dunajec in Südpolen besichtigt und geprüft, darunter auch den ursprünglichen Ort am Kanał Gliwicki, der wegen der neu ausgelegten Kapazität der Hütte abgelehnt wurde. Anfang Februar wurden weitere Standorte besucht, die von der Abteilung der Projektierung der neuen Hütte vorgeschlagen wurden. Am 21. Februar 1949 wurde das Gebiet der Dörfer von Pleszów und Mogiła, ein Standort östlich von Krakau, besucht. Diese Region wurde von den sowjetischen Spezialisten für den Bau der neuen Hütte als am besten geeignet eingestuft.27 Am 25. Februar 1949 genehmigte der Minister für Industrie und Handel die neue Investitionsentscheidung.28 Dabei wurde der Standort in der Region Krakau von den meisten 24 AAN, MPiH II, Przebieg rozmów w B.P.GIPROMEZ w sprawie projektu nowej Huty, Moskwa 12.07.1948 (Verlauf der Gespräche in B.P.GIPROMEZ in der Sache des Projektes der neuen Hütte, Moskau vom 12.07.1948), Sign. 8/15, S. 101. 25 Zbigniew Loreth, S. 172 f., vgl. Anm. 21. 26 AAN, MpiH II, Notatka z posiedzenia w Ministerstwie Przemysłu Metalurgicznego ZSRR w dniu 10.12.1948 (Notiz aus der Sitzung im Ministerium der Metallurgischen Industrie der USSR vom 10.12.1948), Sign. 8/15, S. 166. 27 Jacek Salwiński, S. 91, vgl. Anm. 17; Archiwum Akt Nowych w Warszawie (Archiv der Neuen Akten in Warschau), Państwowa Komisja Planowania Gospodarczego, PKPG (Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung), Sekretariat Dyrektora Generalnego (Sekretariat des Generaldirektors), Założenia organizacyjne, sprawozdanie 1949–1952 (Organisationsgrundsätze, Berichte 1949–1952), Sign. 435. 28 Archiwum Akt Nowych w Warszawie (Archiv der Neuen Akten in Warschau), Państwowa Komisja Planowania Gospodarczego, PKPG (Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung),
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Experten akzeptiert oder sogar befürwortet, allerdings mit der Einschränkung, dass er nicht so nahe bei der Stadt Krakau, wie das bei den Dörfern Pleszów und Mogiła der Fall wäre, liegen sollte. Damit schuf man die Arbeitsplätze nicht dort, wo sie am nötigen gebraucht waren, was die spätere enorme Migration der Arbeiter von Nowa Huta zeigte. Die Qualität des Bodens, der als grüner Garten von Krakau seit Generationen genutzt wurde, war für eine derartige Industrieinvestition viel zu gut. Darüber hinaus musste auch der Krakauer Flughafen verlegt werden. Dies alles schien aber zu dieser Zeit der sozialistischen Industrialisierung kein Problem zu sein. Heute sichert dieser Fakt, die enge Nähe des Werkes und der Stadt Krakau, paradoxerweise die Existenz des Werkes und damit der Einwohner von Nowa Huta. Ostrava Kunčice Die größte Investition des tschechoslowakischen Fünfjahresplanes, der Bau der neuen Hütte in Kunčice, geht ähnlich wie in Polen noch auf die Vorkriegszeit zurück. Somit kann man auch im Fall der Tschechoslowakei eine gewisse Kontinuität zwischen den durch den Krieg getrennten Zeitetappen feststellen. Hier ist der Unterschied zu Polen, das bei der Standortwahl für die Ortschaft Kunčice von Anfang an auch an die Entscheidungsträger der Vorkriegszeit gedacht wurde und diese auch von den neuen Entscheidungsträgern beibehalten wurde. Allerdings wurde das Ausmaß der Investition im Rahmen der sozialistischen Industrialisierung überdimensional groß ausgelegt. Ursprünglich wurde nur an die Erweiterung der schon seit mehr als 100 Jahren existierenden Eisenwerke in Vítkovice (Vítkovické Železární, VŽ) gedacht. Dabei lag der Ort Kunčice, der südlich an Vítkovice grenzt und die freie Fläche auf der gegenüberliegenden Flussseite Ostravice einschloss, optimal. Für den Standort sprach zusäzlich die Rohstoffnähe, nämlich die Kokerei von Ostrava. Die Pläne der damaligen Besitzer des Vítkovicer Eisenwerkes, der Familie Rotschild-Guttmann konnten aber vor 1938 auf Grund der Kriegsbedrohung nicht realisiert werden. Somit kam es lediglich zu einer teilweisen Modernisierung des alten Betriebes und zu einem Umbau einiger Anlagen zum Zweck der Rüstungsproduktion. Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Vítkovicer Eisenwerke dem reichsdeutschen Konzern Hermann-Göring-Werke unterstellt und dienten vor allem der Rüstungsproduktion (Munitionsproduktion bzw. Herstellung von Teilen für die Raketenwaffe V-2).29 Bereits am 20. Oktober 1942 wurde mit dem Bau zusätzlicher Anlagen auf dem Gebiet von Kunčice, der so genannte Südbau (Jižní stavba), begonnen. Zu diesem Zweck wurden vor allem Arbeiter aus dem Kernwerk Vítkovice herangezogen, deren gesamte Zahl sich kurz vor dem Ende der Kriegshandlungen auf über 1.000 Personen bezifferte. Das Datum im Jahre 1942 könnte man als die GeburtsSekretariat Dyrektora Generalnego (Sekretariat des Generaldirektors), Założenia organizacyjne, sprawozdanie 1949–1952 (Organisationsgrundsätze, Berichte 1949–1952), Sign. 435. 29 O. Kána/J. Paclík/L. Nohavica/K. Pavloušek/u.a. (Hrsg.), Historie Výstavby a vzniku NHKG (Die Geschichte des Aufbaus und der Entstehung der Neuen Klement-Gottwald-Hütte) ], Praha 1966, S. 149.
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stunde des neuen Werkes in Kunčice nennen, wäre es nicht zu Einschnitten wegen der sowjetischen Demontage nach dem Krieg gekommen. Unmitelbar nach den Kampfhandlungen um Ostrava wurden die Gebäude und Produktionshallen des neuen Betriebes für die Unterbringung von bis zu 12.000 deutschen Kriegsgefangenen genutzt.30 Auf Grund des Abkommens zwischen der Tschechoslowakei und der Sowjetunion vom 31. März 1945 über die Kriegsbeute auf dem Gebiet der Tschechoslowakei wurden die Südwerke demontiert und in die UdSSR transportiert. Das Abkommen sah im Punkt I vor, dass alle deutschen Betriebe und deren Vermögen, die mit ihrer Produktion für Kriegshandlungen ausgerichtet waren, als Kriegsentschädigung an den sowjetischen Staat fallen. Als deutscher Betrieb wurde wiederum in Punkt III jeder Betrieb auf dem befreiten Gebeit der Tschechoslowakei angesehen, der von den Deutschen während der Besatzung aufgebaut wurde. Die Intervention der Leitung des Werkes von Dr. Antonín Bechný beim Minister der Nationalen Verteidigung Svobody, und darüber hinaus von Inginieur Hromádky, direkt in Moskau, nutzte nichts und das Werk wurde am 22. August 1945 zur Demontage freigegeben, die bis Ende des Jahres 1945 andauerte. Mit dem Präsidentendekret von Edvard Beneš vom 23. März 1946 wurden die restlichen Gebäude des Kunčicer Betriebes nationalisiert und das Werk Kunčice als 14. Werk den ebenfalls nationalisierten Vítkovicer Eisenwerken angegliedert.31 Im April 1947 wurden die Ingenieure der Vítkovicer Eisenwerke mit der Ausarbeitung der Bauplanung einer neuen Hütte mit einer Kapazität von 1,5 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr von der Zentralen Tschechischen Hütte beauftragt. Am 30. April 1947 nahm das Ministerium der Nationalen Verteidigung die Vítkovicer Eisenwerke und somit die geplante neue Hütte in das Register der Betriebe mit besonderer Bedeutung für die staatliche Verteidigung auf. Somit spielt auch im tschechischen Fall die Rüstungsproduktion und das Militär eine große Bedeutung. Das Werk selbst genoss, dank dieser Ausrichtung, eine besondere Stellung in der tschechischen Volkswirtschaft und wurde damit ähnlich wie im polnischen Fall eine Investition ersten Ranges. Das Verhältnis von Stadt und Werk Stadtplanung und Bauweise Als erste sozialistische Städte wurden Eisenhüttenstadt, Nowa Huta und Kunčice ähnlich wie ihre Werke als Vorzeigeinvestitionen propagandistisch herausgestellt. Sie sollten den Bedürfnissen der Werktätigen Rechnung tragen. Deswegen wurden von Anfang an zahlreiche sozialen und kulturellen Einrichtungen geplant und hatten diese Rolle entsprechend zu erfüllen. Neben den für alle Standorte typischen 30 PA NH, Edmund Grygar, Kronika Nové Huti Klementa Gottwalda Ostrava-Kunčice, I. Díl: 1952–1958 (Die Chronik der Neuen-Klement-Gottwald-Hütte, Ostrava- Kunčice, I. Bd.: 1952–1958), S.15. 31 PA NH, Ebd., S.16 ff.
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Einrichtungen, die der neuen politischen Rolle der Stadt dienen sollten, wie z. B. das Haus der Partei und der Massenorganisationen oder der zentrale Versammlungsplatz, sind kleine Unterschiede in den Planungen zwischen den Städten zu bemerken. In Eisenhüttenstadt wurde im Gegensatz zu Nowa Huta oder Kunčice eine Kirche geplant.32 Realisiert wurde sie dennoch nicht und erst nach der Wende 1989 entstand ein Gotteshaus in Eisenhüttenstadt. Nowa Huta dagegen erkämpfte sich schon 1961 eine Kirche. Allerdings war dieser Kampf mit großen Opfern verbunden. In Nowa Huta und Eisenhüttenstadt sollte wiederum die Hauptstraße die Städte mit dem Werk in ähnlicher Art verbinden. Tatsächlich ist bei der Betrachtung der Perspektive am Ende der zentralen Straße das Werk mit seinen Hochöfen zu sehen. Ähnlichkeiten bestehen zwischen den drei Standorten auch in der Aufteilung der Stadt. Die gesamten Stadtanlagen wurden in Wohnkomplexe unterteilt. Unter dem Begriff: „Wohnkomplex“ verstand man eine „kleine städtebauliche Einheit. Ein Wohnkomplex enthält Wohnungen für etwa 4.000 bis 6.000 Einwohner. In jedem Wohnkomplex befinden sich Läden für den täglichen Bedarf und der Dienstleistung sowie Einrichtungen der Volksbildung und des Gesundheitswesens für unsere Kinder“.33 Weiterhin ist für alle drei Städte charakteristisch, dass man zuerst alle Häuser in Ziegelbauweise und einer verhältnismäßig großzügigen Ausstattung (Küche und Bad mit Fenster, Parkett in den Stuben, etc.) baute. Seit Ende der 1950er Jahre wurde zum ersten Mal die Methode der Großplatte in Eisenhüttenstadt im Bau angewendet. Da die Werke weiterhin ihre Kapazität erhöhten, wurde ab Ende der 1960er Jahre die „Platte“, als die schnellste und kosteneffektivste Bauweise zum Standard im Städtebau erhoben. Heute ist diese Bausubstanz, die mit kleineren Ausnahmen fast ausschließlich aus „Plattenbauten“ besteht, eine der Folgen der sozialistischen Industrialisierung und ein Merkmal der einmaligen Stadt-Werk-Relation. Den Unterschied zwischen den „alten“ und den „neuen“ Häusern kann man an allen Standorten im Stadtbild sofort erkennen. Heute spricht man in Nowa Huta von einer alten neuen Hütte, der „Altstadt“ von Nowa Huta und von einer neuen neuen Hütte, sozusagen, der „Neustadt“ von Nowa Huta.
32 UA EKO, VEB BKE, Akte-Nr. A 255, S. 5. 33 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 648, Kreiskomitee „10 Jahre Stalinstadt“, Zentrum für Presseinformation (Hrsg.), Stalinstadt. Die erste sozialistische Stadt Deutschlands. Ein Material zum 10jährigen Bestehen des Eisenhüttenkombinats „J.W. Stalin“ und Stalinstadts, S. 129, ; UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 969, S. 128.
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Abb. 1: Häuser aus den 1950er Jahren in Nowa Huta; Quelle: Foto der Autorin
Abb. 2: Häuser aus den 1970er Jahren in Eisenhüttenstadt; Quelle: Foto der Autorin
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Gegenwärtig sind die Bauten vor allem in Nowa Huta und Kunčice immer noch gefragt, denn bis jetzt besteht ein Wohnungsdefizit in Polen und Tschechien. Darüber hinaus sind die Immobilienpreise in diesen Ländern, vor allem in den größeren Städten, wozu Krakau und Ostrava (im Gegenteil zu Eisenhüttenstadt) gehören, nach dem EU-Beitritt massiv angestiegen, so dass die „Platte“ für viele Familien die einzige Alternative für den Erwerb von Wohneigentum ist. Die Entwicklung in den ostdeutschen Städten wie in Eisenhüttenstadt, wo auf Grund der Abwanderung aus der Stadt, aber auch aus der „Platte“ große Leerstände zu verzeichnen sind, zeigt in fernerer Zukunft unter Berücksichtigung demographischer Entwicklungen auch mögliche Entwicklungsszenarien für Nowa Huta und Kunčice. Zusätzlich haben die Häuser eine beschränkte Lebensdauer. Die großen Fertigstellungsziffern in den 1970er Jahren haben zur Folge, dass die meisten Häuser oftmals gleichzeitig saniert werden müssen. Das erfordert einen enormen Kostenaufwand für die Wohnungsgenossenschaften. Die notwendigen Mittel für Sanierungsarbeiten können aber nicht freigesetzt werden, denn die meisten Genossenschaften sind verschuldet. In den größten Genossenschaften von Nowa Huta, deren Mitglieder sich meistens aus Arbeitern und ehemaligen Arbeitern der Hütte rekrutieren, zahlen seit Jahren bis zu 30% der Mieter keine Miete mehr, bzw. können die Kredite für gekauften Eigentumswohnungen nicht bedienen. Der Teufelkreis, der wegen des einseitigen Baustils und der großen Konzentration der Einwohner, die von einem Betrieb abhängig sind, ist eine schwere Last der sozialistischen Transformation nicht nur für die Stadt, sondern auch für die Region um Krakau. Mit der Verwendung der Großplatte kam man daher zurück zur Methode, von der man sich während der sozialistischen Transformation der 1950er Jahre trennen wollte. Für Eisenhüttenstadt hieß das: „Die imperialistische Philosophie auf dem Gebiete der Architektur bezeichnet man als Funktionalismus, d. h., man muss von der Funktion eines Hauses und von den Bedürfnissen ausgehen. Es wird also von innen nach außen gebaut und es besteht die unwichtige Einzäunung des Herdes, des Betts und des Klosetts. Schönheit und Würde erübrigen sich. Der Bau ist billig, der Profit ist hoch.“ Diese Zeit des Verfalls liegt hinter uns! So war die Meinung der Werktätigen. Vor uns liegt die Zeit einer frohen Zukunft, liegt eine neue Epoche und wir haben allen Anlass, dass auch in der Architektur unserer neuen Stadt die Größe unserer Zeit zum Ausdruck kommt…34
Dieses Ziel verfolgte man allerdings nur am Anfang der 1950er Jahre. Tatsächlich wurden damals bei einigen Gebäuden keine Kosten gescheut. Ein bestes Beispiel dafür ist das Administrationszentrum der polnischen Hütte, die bei den Arbeitern als polnischer „Vatikan“ bezeichnet wird. Die Baukosten des Zentrums überschritten alle möglichen Vorgaben. Mit 553 Złoty pro qm waren sie höher als die Kosten des Baues der Warschauer Philharmonie ausgefallen, die zuzüglich aller exklusiven Dekorationsstoffe etwa 540 Złoty pro qm betrugen. Sie überschritten auch alle anderen Kosten der Gebäude, die ein ähnlich höheres repräsentatives Ziel verfolgten, wie 34 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 648, Kreiskomitee „10 Jahre Stalinstadt“, Zentrum für Presseinformation (Hrsg.), Stalinstadt. Die erste sozialistische Stadt Deutschlands. Ein Material zum 10jährigen Bestehen des Eisenhüttenkombinats „J.W. Stalin“ und Stalinstadts, 129; UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 969, S. 213a.
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zum Beispiel das Gebäude des Warschauer Kulturpalastes, wo die Kosten entsprechend „nur“ 360 Złoty pro qm betrugen. Durchschnittlich beliefen sich die Investitionskosten für Bürogebäude zu dieser Zeit in Polen auf ca. 230–250 Złoty pro qm, wie zum Beispiel das Administrationszentrum der Hütte Warszawa mit 253 Złoty pro qm zeigt.35 Damit ist die Einschätzung über die ideologische Vorgehensweise bei dem Bau von Nowa Huta ohne Rücksicht auf die Kosten nicht unbegründet.
Abb. 3: Der polnische „Vatikan“ – Administrationszentrum der Hütte in Nowa Huta; Quelle: Foto der Autorin.
Versorgung Die neuen Städte wurden den Werken unterstellt. Der Betrieb diktierte das Lebenstempo der Städte, das sich nicht selten nach den entsprechenden Arbeitsschichten richtete. So wurde am Ende 1959 eine ständige Aussprache zwischen dem EKO und dem Handelsorganisations-Kreisbetrieb (HO) Stalinstadt über die Verbesserung der Verkaufsmöglichkeiten in der Stadt eingeführt. Der Rat der Stadt führte eine Verlängerung der Geschäftszeiten in Stalinstadt am Sonnabend ein, so dass die Arbeiter nach der Frühschicht die Möglichkeit zum Einkauf hatten: „Auf Grund von Anregungen von Angehörigen des EKS und den anwesenden Kollegen des Kombinats erklärte sich der Genosse Direktor des HO-Kreisbetriebes Stalinstadt bereit, versuchsweise die Textilverkaufsstelle der HO in Stalinstadt sonnabends bis 18 Uhr zu öffnen. Für
35 AAN, Państwowa Komisja Planowania Gospodarczego, PKPG (Staatliche Kommission für Wirtschaftsplanung), Gabinet Zastępcy Przewodniczącego (Kabinett des Stellvertreter des Vorsitzendes), Huta im. Lenina, Organizacja, koszty i nakłady budowy (Leninhütte, Organisation, Kosten und Mittel des Baues), Sign. 437.
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Dagmara Jajeśniak-Quast die richtige Popularisierung im Kombinat ist die Vorsitzende des zentralen Frauenausschusses des EKS verantwortlich.“36
Die Betriebe übernahmen hier also die Funktionen der Stadt, wie das Beispiel mit der Versorgung der Arbeiter zeigt. Um das Problem der knappen Konsumgüter zu lösen, versuchten die Werke zusammen mit der Stadt eine Lösung zu finden. Ende 1961 wurde in Eisenhüttenstadt eine ständige Beratung mit der Betriebsgewerkschaftsleitung, der Arbeiterkontrolle, der Gruppe der Arbeiterversorgung, den Mitarbeitern des HO-Kreisbetriebes und dem Stadtrat für Handel und Versorgung zum Zweck der besseren Versorgung der EKO-Arbeiter einberufen. Ein Ergebnis dieser Beratung war, dass der Verkauf von Industriewaren, wie Fernsehen, Kühlschränke, Autos und Waschmaschinen in Zukunft über das Werk erfolgten. Um möglichst vielen Arbeitern die Gelegenheit zum Einkauf in den Werksverkaufsstellen zu ermöglichen, wurden zusätzliche Verkaufstellen eingerichtet. Darüber hinaus wurden die Bestelllisten der so genannte „Minuteneinkauf“ im Werk eingeführt, um den Arbeitern, die in verschiedene Produktionszyklen eingebunden waren, einen Einkauf ohne Ausfallzeit zu ermöglichen.37 Damit wurden die Betriebe immer mehr zu einer Stadt in der Stadt. In der Hütte von Eisenhüttenstadt wurden in den 1960er Jahren neben Eisen und Stahl die so genannten Massenbedarfsgüter, wie Tische, Flurgarderoben, Campingmöbel, Zeltgestänge, Kinderschaukeln, Fahrradständer, Kinderwippen, Wäscheständer etc. gefertigt. Dem Charakter einer sozialistischen Stadt entsprechend waren sämtliche Versorgungsbetriebe in der Stadt volkseigen und mit dem Werk eng verbunden. Den Kombinaten gehörten nicht nur die Fabrikanlagen und alle möglichen Nebenbetriebe zur Versorgung der Belegschaft mit Lebensmitteln und Gebrauchsgütern, sondern auch die Elektrizitäts- und Wasserwerke, sowie der größte Teil der Wohnungen und sozialen Einrichtungen in den Städten. Dazu gehörten im Eisenhüttenkombinat das Heizwerk, die Großbäckerei und das Fleischkombinat, ein Kraftverkehrsbetrieb und ein Kfz-Instandsetzungsbetrieb sowie ein Dienstleistungskombinat, wo verschiedene Gewerke des Handwerks zu einer Produktionsgenossenschaft (PGH) zusammengeschlossen wurden. Die Stadt Stalinstadt selbst war fast ausschließlich aus den Bauelementen, welche im Werk EKO hergestellt wurden, erbaut. Die Produktion der Bauelemente, wie leichte Hüttenbimssteine für Wände, Decken oder Dachsteine erfolgte aus der Hochofenschlacke.38 Das besondere Verhältnis zwischen der Stadt und dem Werk zeigte sich bereits bei den jüngsten Einwohnern der Stadt. Fast alle Klassen in der Stadt hatten einen Patenschaftsvertrag mit Brigaden im Werk.39 Ohne die Unterstützung der Brigaden 36 UA EKO, VEB BKE, Akte-Nr.: A 1094, Aktennotiz über die Aussprache mit dem HO-Kriesbetrieb Stalinstadt, betr. Verbesserung der Verkaufsmöglichkeiten im Eisenhüttenstadtkombinat vom 12.10.1959, S. 10 f. 37 UA EKO, VEB BKE, Akte-Nr.: A 579, Maßnahmen zur besseren Versorgung der Werktätigen im Eisenhüttenkombinat Ost, vom 21.12.1961, S. 1 f. 38 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 108, Cyrulik, Alois: Stalinstadt, ein großes Eisenhüttenkombinat, Übersetzung aus der polnischen Werkzeitung „Stimme von Nowa Huta“ vom 4.10.1958, Nr. 56, S. 244. 39 UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 648, Kreiskomitee „10 Jahre Stalinstadt“, Zentrum für Pres-
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aus dem Hüttenwerk wären viele Schulfeste oder Ausflüge kaum möglich gewesen. Auch viele große kommunale Aufgaben (Stadion, Kulturhaus, Schulen, Sport etc.) wären ohne Mitwirkung des Werkes nicht zu realisieren gewesen. Das gilt übereinstimmend für alle untersuchten Städte. Die wechselseitige Abhängigkeit von Stadt und Werk manifestierte sich in Vergangenheit und Gegenwart. Bereits weit vor dem eigentlichen Ortseingangsschild der Stadt Eisenhüttenstadt kann man eine Betonsäule mit dem Stadtwappen entdecken. Darin wird das enge Verhältnis von Stadt und Werk deutlich.
Abb. 4: Stadtwappen von Eisenhüttenstadt; Foto Mario Quast.
Merkmale der Bevölkerungsentwicklung Auch die Größe der Städte wurde durch die Kombinate bestimmt. Mit dem Anwachsen der Betriebe wuchsen auch die Städte. Heute, mit der Reduzierung der Belegschaft, schrumpfen auch die Städte bzw. die Stadtteile, auch wenn hier große Unterschiede zwischen den drei Standorten zu beobachten sind. Am stärksten ist Eisenhüttenstadt von der Abwanderung, vor allem der jüngeren Stadtbevölkerung, betroffen. Seit 1989 hat die Stadt fast 15.000 Einwohner verloren. Das hängt mit der Entwicklung des industriellen Standortes zusammen. Im Gegensatz zu Nowa Huta oder Kunčice ist Eisenhüttenstadt wirklich auf einer „grünen Wiese“ entstanseinformation (Hrsg.), Stalinstadt. Die erste sozialistische Stadt Deutschlands. Ein Material zum 10jährigen Bestehen des Eisenhüttenkombinats „J.W. Stalin“ und Stalinstadts, S. 129; UA EKO, VEB BKE, Akte. Nr. A 969, S. 129.
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den. Die Tradition und Geschichte der einstigen Kleinstadt Fürstenberg kann nur bedingt Einfluss nehmen. Heute kann die Stadt wegen der fehlenden Arbeitsplätze nicht die Bevölkerung aufnehmen, wie das noch im Fall der Zentren wie Krakau oder Ostrau möglich ist. Die Bevölkerung dieser Städte, kann besser als in Eisenhüttenstadt auf andere Branchen von Industrie, Dienstleistungen oder Wissenschaft der Städte Krakau oder Ostrau zurückgreifen. Im Fall Eisenhüttenstadt ist dies automatisch mit einer Abwanderung bzw. Arbeitslosigkeit verbunden. Daher sind die großen Unterschiede in der heutigen Entwicklung der Einwohnerzahlen zwischen den drei Städten so signifikant. Tab. 1: Entwicklung der Einwohnerzahl von Eisenhüttenstadt, Krakau und Ostrava im Verhältnis zu der Arbeiterzahl in den Werken. Eisenhüttenstadt
1950 1960 1970 1980 1989 2004
Arbeitskräfte im Werk 1.160 5.749 7.721 9.362 11.934 3.230
Einwohner der Stadt 10.000 25.000 45.000 48.000 52.000 38.000
Krakau
Arbeitskräfte im Werk 733 18.985 31.524 38.365 29.288 8.000
Einwohner der Stadt 343.600 481.000 584.900 715.700 750.500* 746.000
Ostrau
Arbeitskräfte im Werk 5.223 20.296 24.404 25.419 23.055 9.000
Einwohner der Stadt 189.191 233.488 280.000 322.000 320.000 315.000
Quelle: Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt. Wandel einer industriellen Gründungsstadt in den fünfziger Jahren, Potsdam 2000, S. 84; EKO Stahl GmbH (Hrsg.), Einblicke. 50 Jahre EKO Stahl, Eisenhüttenstadt 2000, S. 96, 176 und 200, sowie: http: / /www.eisenhuettenstadt.de/; Kronika Krakowa, Warszawa Wydawnictwo „Kronika“, S. 507; Angaben der Personalabteilung der Sendzimir Hütte AG in Krakau (Anmerkungen für 2004: im Fall von Krakau – Einwohnerzahl von 2002); československé dějiny v datech (Geschichte der Tschechoslowakei in Zahlen), Nakladatelství Svoboda, Praha 1986, S. 646; český Statistický Úrad (Staatliches Amt der Tschechischen Republik), (Hrsg.), Statistická ročenka české Republiky 2001 (Statistisches Jahrbuch der Tschechischen Republik 2001), Praha 2001, S. 58.; Podnikový archiv Nová Huť Ostrava – Kuničice (Unternehmensarchiv Neue Hütte in Ostrava – Kuničice], Edmund Grygar, Kronika Nové Huti Klementa Gottwalda Ostrava-Kunčice, (Die Chronik der Neuen-Klement-Gottwald-Hütte, Ostrava- Kunčice), Anmerkungen: für 1960 – Einwohnerzahl vom 1961, * für das Jahr 1990.
Die meisten Einwohner der Stadt waren gleichzeitig Arbeiter oder ehemalige Werksangehörige. Fast jede Familie hatte eine direkte Verbindung zur Hütte, wie das Beispiel von Nowa Huta zeigt. Die Einwohner von Nowa Huta und damit auch die Belegschaft des neuen Hüttenwerkes wurden im Vergleich zu den anderen beiden Standorten am meisten aus der Migrationbewegung während der sozialistischen Industrialisierung gebildet. Die Stadt Nowa Huta, die bereits 1951 zu einem Stadtteil von Krakau wurde, konnte trotz des anfänglichen Fehlens eines traditionellen Arbeitermilieus eine typische Arbeiterstadt mit sehr kleinen Unterschieden in den Schichten und Berufsklassen der Einwohner vorweisen. Ein anderes Merkmal und sehr typisch für die drei Städte vor allem in den 1950er Jahren war der überwiegende Anteil von Männern in der Stadt.
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Ein lokaler „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ Tab. 2: Einwohner- und Arbeiterzahl von Nowa Huta 1950–1970
Jahr 1950 1955 1960 1965 1970
Einwohnerzahl der Stadt (bzw. des Stadtteils) Nowa Huta
Männer 10.926 44.741 54.400 65.605 85.115
Frauen 7.920 37.371 46.690 56.605 76.304
zusammen 15.685 82.212 101.360 122.217 161.419
Zahl der Arbeiter im Werk Männer 567 13.205 16.709 23.321 26.864
Frauen 166 2.884 2.276 3.479 4.660
zusammen 733 16.089 18.985 26.800 31.524
Quelle: Tadeusz Borkowski, Stan badań nad mieszkańcami dzielnicy Nowa Huta oraz nad załogą Huty im. Lenina (Forschungsstand über die Einwohner des Stadtteiles Nowa Huta und der Belegschaft der Leninhütte), in: Stojak, Antoni (Hrsg.), Huta im. Lenina i jej załoga. (Die Leninhütte und ihre Belegschaft), Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego CCCCXLVII, Prace sojologiczne, Zeszyt 3 (Wissenschaftshefte der Jagiellonien Universität CCCCXLVII, Soziologische Arbeiten, Heft 3), Kraków, 1976, 22; sowie Angaben der Personalabteilung von Huta im. Tadeusza Sendzimira S. A.
Charakteristisch für die sozialistischen Städte war zusätzlich, dass sie sehr junge Kommunen waren. Heute ändert sich die demographische Situation allmählich, was wiederum sehr stark auf den Veränderungen im Werk basiert. Krakau hat immer noch ein positives Saldo in der demographischen Entwicklung. Eisenhüttenstadt veraltet dagegen am stärksten, obwohl gerade die ehemalige Stalinstadt die jüngste Stadt der DDR war. In zweifacher Hinsicht kam dieser Fakt in den 1960er Jahren zum Ausdruck: Stalinstadt war im Jahre 1960 erst zehn Jahre alt, und das Durchschnittsalter ihrer Einwohner betrug nur 27,5 Jahre. Fazit Die sozialistischen Städte Eisenhüttenstadt, Kraków Nowa Huta und Ostrava Kunčice unterscheiden sich vor allem in zwei Aspekten von anderen Städten. Zum ersten ist dies die spezifische Stadt-Werk-Relation, die sich bis heute in einer andauernden Abhängigkeit von einem großen Industriebetrieb zeigt. Seit der Entstehung sind diese Städte und Betriebe aufeinander angewiesen. Die neuen Städte wurden vor allem am Anfang der Existenz der Werke unterstellt. Der Betrieb diktierte das Lebenstempo der Städte. Die Betriebe übernahmen auch viele Funktionen der Stadt, wie zum Beispiel die Versorgung der Arbeiter. Auch die Größe der Städte wurde durch die Kombinate bestimmt, denn die meisten Einwohner waren gleichzeitig Arbeiter der Werke. Mit dem Anwachsen der Betriebe wuchsen auch die Städte. Heute schrumpfen, mit der Reduzierung der Belegschaft, auch die Städte bzw. die Stadtteile. Allerdings sind hier große Unterschiede zwischen den drei Standorten zu beobachten, die noch auf die Standortentscheidungen zurückzuführen sind. Am stärksten ist Eisenhüttenstadt – also jene Stadt, die „auf der grünen Wiese“ entstand – von der Abwanderung, vor allem der jüngeren Stadtbevölkerung, betroffen. Charakteristisch für die sozialistischen Städte war allerdings, dass sie
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sehr junge Kommunen waren. Heute ändert sich die demographische Situation allmählich, auch wenn hier noch Unterschiede zwischen den drei Städten bestehen. Krakau hat immer noch ein positives Saldo in der demographischen Entwicklung. Eisenhüttenstadt hat hingegen eine zunehmend ältere Bevölkerungsstruktur. Zum zweiten entstanden diese Städte unter dem Vorzeichen der sozialistischen Industrialisierung und der Wirtschaftsplanung. Auch diese Abhängigkeit von einer Ideologie ist bei diesen Städten präsent. Somit sind die sozialistischen Städte stärker als andere Städte Symbole der politischen Veränderungen in Europa. Eisenhüttenstadt, Nowa Huta und Kunčice sind und bleiben Symbole als erste sozialistische Arbeiterstädte in den ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaaten, der DDR, der VR Polen und der čSSR.
STADTENTWICKLUNG IN DER DDR UND DAS FALLBEISPIEL ROSTOCK ZWISCHEN 1945 UND 1989/90 Thomas Wolfes Stadtplanung und Stadtentwicklung in der DDR Einleitung Architektur und Städtebau besaßen in der DDR als Grundlage für die Gestaltung einer neuen sozialistischen Gesellschaft einen überaus hohen Stellenwert. Das Ziel des Staates bestand darin, allen Bürgern einen ähnlich hohen Lebensstandard in einer den Bedürfnissen der Menschen entsprechenden gebauten Umwelt zu garantieren.1 Zweifellos konnte die DDR mit dem Wiederaufbau kriegszerstörter Städte und der Errichtung mehrerer Millionen Neubauwohnungen große Erfolge vorweisen. Doch muss sich der Städtebau auch an dem Verhältnis seiner auf ideologischen Prämissen beruhenden Ansprüche zu den realen Ergebnissen messen lassen. Im Vordergrund stehen dabei die Qualität und die Nutzbarkeit des Städtebaus für die Menschen: der Umgang mit dem Altbaubestand, der Zustand der Wohnungen und des Wohnumfeldes, die Versorgung mit Geschäften und sozialen Einrichtungen, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, das kulturelle Angebot oder auch die Beteiligung der Bevölkerung an Planungsprozessen. Eine zentrale Frage richtet sich an die Möglichkeiten und Handlungsspielräume der Architekten und Stadtplaner, unter den Bedingungen des Sozialismus zugunsten der Bürger gestalterisch zu arbeiten.2 Die Entwicklung der ostdeutschen Städte verlief unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als in der Bundesrepublik. Sie beruhte auf den Grundlagen des zu einem großen Teil verstaatlichten Bodens und der Planwirtschaft in einem zentralistisch organisierten Staat. Eine entscheidende Rolle bei der regionalen Schwerpunktsetzung und der Dynamik der Stadtentwicklung spielten die Bedürfnisse der Großbetriebe und Kombinate. Die räumlich-funktionale Entwicklung der Städte war gekennzeichnet von einer relativ geringen Umlandzersiedlung und einer hohen Kontinuität der Nutzung älterer Gewerbe- und Industriestandorte, während die marktvermittelte Stadtentwicklung keine Rolle spielte. Doch lassen sich 1 2
Siegfried Kress/Werner Rietdorf, Wohnen in Städten. Planung und Gestaltung der Wohngebiete, Berlin 1972, S. 7. Der Anspruch beinhaltete die Einschränkung „mit den zur Verfügung stehenden Mitteln“. Bruno Flierl, Stadtplaner und Architekten im Staatssozialismus der DDR, in: Ders., Gebaute DDR. Über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Kritische Reflexionen 1990–1997, Berlin 1998; S. 52–75, hier S. 70–72. Vgl. auch den Aufsatz von Frank Betker in diesem Band.
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auch Gemeinsamkeiten feststellen, wie die Herausbildung von peripheren Großsiedlungen.3 Der folgende Aufsatz soll einen am aktuellen Forschungsstand orientierten Überblick über die grundsätzlichen Prozesse der DDR-Stadtentwicklung und die sozialräumlichen Prozesse des urbanen Lebens bieten. Gefragt wird nach den spezifischen Ausprägungen der Produktion von Stadt, nach der Bedeutung städtebaulicher Leitbilder und urbanistischer Visionen, sowie nach den Identifikationsangeboten und -möglichkeiten für die Bewohner. Eine wichtige Rolle spielen auch die Befugnisse der einzelnen hierarchisch gegliederten Planungsbehörden sowie das Verhältnis der staatlichen Vorgaben zu den lokalen Interessen. Im zweiten Teil sollen diese Aussagen am Fallbeispiel Rostock überprüft werden. Als größter Industriestandort im Norden der DDR sowie als Bezirks- und Hafenstadt besaß die Stadt eine zentrale Bedeutung nicht nur in wirtschaftlicher, administrativer und kultureller Hinsicht, sondern auch für die Außendarstellung der DDR. Ziel ist es, grundlegende Aspekte und Besonderheiten der architektonischen und stadträumlichen Entwicklung Rostocks vom Zweiten Weltkrieg bis zur Wende 1989 zu analysieren und hinsichtlich ihres Erfolges zu bewerten. Die Zeit der Orientierungssuche 1945–1950 Entsprechend dem gestiegenen Interesse an der Entwicklungsgeschichte ostdeutscher Städte hat die Zahl der Untersuchungen in den vergangenen Jahren stark zugenommen.4 Zu unterscheiden sind Arbeiten zu einzelnen Gebäudetypen, wie Kirchen, Rathäusern oder Kulturhäusern5, zu zeitlich begrenzten Epochen, wie der Architektur der fünfziger und sechziger Jahre 6, Studien zu speziellen städtebaulichen Projekten, wie den Planungen für das Berliner Stadtzentrum7 sowie biogra3 4
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Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Stadtentwicklung und Städtebau in Deutschland. Ein Überblick, Bonn 2003, S. 45. Zur Methodologie und den Anfängen planungsgeschichtlicher Arbeiten, vgl. Andreas Hohn, Forschungen zur Geschichte der Stadtplanung in der DDR. Aspekte ihrer Methodologie, ihres Erkenntnisinteresses und ihrer Methoden, in: Holger Barth (Hrsg.), Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bau- und Planungsgeschichte der DDR, Berlin 1998, S. 25–36. Vgl. auch: Harald Bodenschatz, Nachwort. Auf der Suche nach dem sozialistischen Städtebau, in: Holger Barth (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen, Lesarten historischer Städtebauforschung in der DDR, Berlin 2001, S. 321–325. Ulrich Hartung, Arbeiter- und Bauerntempel: DDR-Kulturhäuser der fünfziger Jahre. Ein architekturhistorisches Kompendium, Berlin 1997; Ute Fendel, Rathaus und Kulturhaus. Ein Vergleich zweier zentraler Bauaufgaben in Deutschland Ost und West, in: Holger Barth (Hrsg.), Projekt Sozialistische Stadt, S. 79–87; Christine Meyer, Kulturpaläste und Stadthallen der DDR. Anspruch und Realität einer Bauaufgabe, Hamburg 2004. Jörn Düwel, Baukunst voran! Architektur und Städtebau in der SBZ/DDR, Berlin 1995; Ralf Lange Architektur und Städtebau der sechziger Jahre, Planen und Bauen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1960 bis 1975, Bonn 2003. Benedikt Goebel, Der Umbau Alt-Berlins zum modernen Stadtzentrum, Berlin 2003; Peter Müller, Symbolsuche. Die Ost-Berliner Zentrumsplanung zwischen Repräsentation und Agitation, Berlin 2005.
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phische Arbeiten zum Werk von Architekten und Stadtplanern.8 Darüber hinaus haben Untersuchungen zu Werkssiedlungen, Landschaftsbau und Gartenarchitektur oder Denkmalpflege den Blick auf die Besonderheiten des sozialistischen Städtebaus erweitert.9 Forschungsbedarf besteht beispielsweise noch zu den zentralen Fachinstitutionen und Hochschulen oder den für die Baupolitik verantwortlichen Funktionären. Noch immer vergleichsweise selten sind auch strukturell angelegte Langzeituntersuchungen ganzer Städte und Vergleichsstudien. Doch auch hier sind mittlerweile aussagekräftige Ergebnisse vorgelegt worden, so jetzt neben Eisenhüttenstadt auch zu Neubrandenburg und Schwedt.10 Hinsichtlich der zeitlichen Zuordnung bezieht sich die Mehrzahl der Publikationen noch immer auf die fünfziger Jahre. Demgegenüber wurde die Architektur der Frühzeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und 1950/51 erst in jüngerer Zeit intensiver erforscht. Bis etwa 1950 war das Klima in Stadtplanung und Architektur noch von relativer Toleranz bzw. der Duldung unterschiedlicher Strömungen geprägt. Wettbewerbe standen Architekten aus ganz Deutschland offen, auch wenn davon aufgrund der mangelnden Kapazitäten und unklaren Gesamtkonzeptionen wenig realisiert wurde. Ein nicht geringer Teil dieser frühen Entwürfe entsprach der Tradition des Neuen Bauens, so auch bei Schulen und Kulturhäusern. Aber auch andere Einflüsse, etwa aus der Gartenstadtbewegung, fanden Eingang in die Arbeit der Architekten.11 Der traditionalistische Städtebau der fünfziger Jahre Die Befugnisse für die Aufstellung von Bebauungsplänen und die Ausschreibung von Wettbewerben lagen in der Regel bei den kommunalen Stadtplanungsämtern, bevor sie 1950 auf die neugegründeten Entwurfs- und Bauleitungsbüros der Länder übertragen wurden. 8
Holger Barth, Im Schatten der Moderne. Gustav Lüdecke 1890–1976, Rekonstruktion eines Architektenwerkes, Dortmund 2004; Gabriele Wiesemann, Hanns Hopp 1890–1971. Königsberg, Dresden, Halle, Ost-Berlin. Eine biographische Studie zu moderner Architektur, Schwerin 2000. 9 Vgl. Aufsätze in: Barth (Hrsg.), Projekt sozialistische Stadt; Ders. (Hrsg.), Grammatik. 10 Brigitte Raschke, Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung von Neubrandenburg in der Zeit zwischen 1945 und 1989, München 2005; Philipp Springer, Verbaute Träume. Forschungen zur DDR-Gesellschaft. Herrschaft, Stadtentwicklung und Alltag in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2006. 11 Prämiert und ausgeschieden. Dokumentation eines IRS-Sammlungsbestandes zu Städtebaulichen Wettbewerben in der DDR 1946–1977, REGIO doc 2, IRS, Erkner 1998, Editorial von Andreas Butter, S. 11–16; Ders., Waldidyll und Fensterband. Die Moderne im Schulbau der SBZ/DDR von 1945 bis 1951, in, Barth (Hrsg.), Projekt Sozialistische Stadt, S. 183–191; Ders., Neues Leben, Neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945–1951, Berlin 2005; Andreas Schätzke, Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussionen im östlichen Deutschland 1945–1955, Braunschweig, ect. 1991; Hartung, Arbeiter- und Bauerntempel, S. 72–78. Zu den frühen Aufbauplanungen vgl. auch Klaus von Beyme, Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München 1987 sowie Klaus von Beyme, u.a. (Hrsg.), Neue Städte aus Ruinen. Deutscher Städtebau der Nachkriegszeit, München 1992.
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Nach der Reise der ostdeutschen Architektendelegation unter Leitung von Aufbauminister Lothar Bolz nach Moskau im April und Mai 1950 fiel die Entscheidung gegen die Moderne und für die Formensprache der Nationalen Bautraditionen, die sich an den historischen Stilen des Klassizismus, der Gotik, des Barock und der Renaissance orientierte.12 Auf der Grundlage der 16 Grundsätze des Städtebaus und des Aufbaugesetzes erfolgte ab 1951/52 in Berlin und dreizehn Aufbaustädten, darunter Dresden, Magdeburg und Rostock, der partielle Wiederaufbau der Stadtzentren sowie die Errichtung der „Ersten Sozialistischen Planstadt Stalinstadt“ (Eisenhüttenstadt).13 Das Leitbild dieser Epoche war die „sozialistische Stadt“, für deren Gestaltung Bruno Flierl drei Grundsätze formuliert hat: Erstens die Ganzheitlichkeit als verbindendes Element ihrer untergeordneten Teile und ihre Einbindung als relativ stabiles und planbares sozialräumliches System mit urbanen Strukturen in den übergeordneten Siedlungsraum. Zweitens die Priorität des Stadtzentrums als Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens und drittens die Dominanz repräsentativer Gebäude für politische und kulturelle Zwecke, Magistralen oder Platzanlagen im Sinne der „sozialistischen Stadtkrone“.14 Vor allem die Aufbauplanungen der großen Städte, neben Berlin auch Dresden und Leipzig15, und die bedeutenden städtebaulichen Großprojekte, wie die Berliner Stalinallee oder die Lange Straße in Rostock, sind mittlerweile gut aufgearbeitet.16 Dasselbe gilt für die Industriestadtgründung Stalinstadt/Eisenhüttenstadt, die ab 1951 für die Arbeiter des Eisenhüttenkombinats errichtet wurde und für die Tausende von Menschen aus ganz Deutschland auf der Suche nach Arbeit und einer besseren Zukunft an die Oder strömten. Doch bereits bei diesem Prestigeprojekt wurden die Schwächen des DDR-Städtebaus sichtbar: Die Vision vom Aufbau einer vollständigen Stadt, Sinnbild des Glaubens an die „Planbarkeit der Gesellschaft“ 12 Simone Hain/Herbert Nicolaus, Reise nach Moskau. Dokumente zur Erklärung von Motiven, Entscheidungsstrukturen und Umsetzungskonflikten für den ersten städtebaulichen Paradigmenwechsel in der DDR und zum Umfeld des „Aufbaugesetzes“ von 1950, Erkner 1995. 13 Als Überblicksdarstellung, vgl., Werner Durth/Jörn Düwel/Niels Gutschow, Architektur und Städtebau in der DDR, 2 Bde., Frankfurt/Main, u.a. 1998. 14 Bruno Flierl, Stadtgestaltung in der ehemaligen DDR als Staatspolitik, in: Peter Marcuse/Fred Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, Berlin 1991, S. 49–65, hier S. 57– 61. Ders., Der zentrale Ort in Berlin – Zur räumlichen Inszenierung sozialistischer Zentralität, in, Ders., Gebaute DDR., S. 121–171; Vgl. auch Adelheid von Saldern, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 14–15. 15 Ralf Koch, Leipzig und Dresden. Städte des Wiederaufbaus in Sachsen, Stadtplanung, Architektur, Architekten 1945–1955, Leipzig Univ. Diss. 1999 [CD-ROM]; vgl. Klaus Michael (Hrsg.), Dresden. Stadtplanung und Stadtentwicklung in der Kernstadt Dresden. Tagung der Klasse Baukunst der Sächs. Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt Dresden 1999, Dresden 2000. 16 Herbert Nicolaus/Alexander Obeth, Die Stalinallee, Geschichte einer deutschen Straße, Berlin 1997; Helmut Engel/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Die Karl-Marx-Allee. Magistrale in Berlin. Die Wandlungen der sozialistischen Prachtstraße zur Hauptstraße des Berliner Ostens, Berlin 1996; Magistrale. Eine Geschichte der Langen Straße in Rostock, mit Beiträgen von Johannes Köllner u.a., Bremen, Rostock 1997; Jörn Düwel, Baukunst voran! Architektur und Städtebau in der SBZ/DDR, Berlin 1995.
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(Adelheid von Saldern), wurde unvollkommen umgesetzt: Gerade die zentralen Bereiche blieben, wie Ruth May analysiert hat, weitgehend leer.17 Noch schwieriger war die Situation in der späteren Planstadt Schwedt, dessen ursprüngliches Bebauungskonzept in Anpassung an die ökonomischen Notwendigkeiten zu Lasten der Lebensqualität stark reduziert wurde.18 Noch wenig erforscht sind viele Mittel- und Kleinstädte, in denen in den fünfziger Jahren, wie in Eilenburg, zum Teil sehr erfolgreiche Aufbauarbeit geleistet wurde, denn im Gegensatz zu den sechziger Jahren wurden die überkommenen Strukturen noch weitgehend respektiert und Lücken durch behutsame Maßnahmen geschlossen.19 Forschungsbedarf besteht ebenfalls noch bei der Untersuchung der Integration der Zuwanderer, in der DDR aus politischen Gründen „Umsiedler“ genannt, in die Städte und Wohngebiete. Gerade in den Aufbaujahren nach dem Krieg mussten Tausende von Flüchtlingen aufgenommen werden. Anfangs noch argwöhnisch als „Fremde“ betrachtet, wurden sie über die Arbeit im Betrieb oder über die Teilnahme an den Aktionen des Nationalen Aufbauwerkes zu Bürgern der Städte. Sie erwarben sich einen Anspruch auf eine Wohnung der Stadt oder der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG) und identifizierten sich bald mit ihrer neuen Heimat – der Stadt, dem Stadtteil oder auch der Kirchengemeinde.20 Die Städtebau-Visionen der sechziger Jahre Der Paradigmenwechsel im Städtebau von der „schönen“, kompakten zur modernen, funktionalen Stadt erfolgte in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zeitgleich mit der Industrialisierung der Bauproduktion. Die traditionelle Bauweise war zu teuer und nicht effektiv genug, um die benötigte Anzahl an Wohnungen herzustellen. Im Übergang zur Großplattenproduktion wurden noch Versuche mit Großblockbausteinen durchgeführt. Der Aspekt der Wirtschaftlichkeit trat nun in den Vordergrund. Der Schwerpunkt der Bautätigkeit verlagerte sich auf den Wohnungsbau, während der Zentrumsaufbau auf wenige Schwerpunkte reduziert wurde.21 17 Ruth May, Der Fall Stalinstadt. Eine sozialistische Stadtgründung in der DDR, in: Christoph Bernhardt/Thomas Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005, S. 291–320, hier S. 291 und 319; Von Saldern, Einleitung, S. 15; vgl. Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriss der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999; Arbeitsgruppe Stadtgeschichte (Hrsg.), Eisenhüttenstadt, „Erste sozialistische Stadt Deutschlands“, Berlin 1999; Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts, Weimar 2000; Ingrid Apolinarski, Gesamtstädtische Planungen für Eisenhüttenstadt in den Jahren 1950–1989, in: Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung, S. 321–339; Christoph Bernhardt, Entwicklungslogiken und Legitimationsmechanismen im Wohnungsbau der DDR am Beispiel der sozialistischen Modellstadt Eisenhüttenstadt, in: ebd., S. 341–365. 18 Vgl. Beitrag von Philipp Springer in diesem Band sowie, Ders., „Leben im Unfertigen“. Die dritte sozialistische Planstadt Schwedt, in: Barth (Hrsg.), Grammatik, S. 67–81. 19 Thomas Topfstedt, Städtebau in der DDR 1955–1971, Leipzig 1988, S. 55. 20 Dagmar Semmelmann, Heimat Stalinstadt/Eisenhüttenstadt. Zeitzeugen erinnern sich, in, Rosmarie Beier (Hrsg.), Aufbau West, Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit, Berlin 1997, S. 299–307. 21 Den Ausschlag für den Übergang hatte im November/Dezember 1954 in der Sowjetunion die
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Im Gegensatz zu den suburbanen Einfamilien- und Reihenhaushaussiedlungen Westdeutschlands stand in der DDR der Wohnkomplex im Mittelpunkt der Stadterweiterungen. Der Eigenheimbau war oftmals Bürgern mit guten Kontakten zur örtlichen Parteileitung und/oder zur regionalen Materialwirtschaft vorbehalten oder diente als Anreiz zur Ansiedlung und zur Bindung dringend benötigter Facharbeiter und „Intelligenz“.22 Die Zersiedlung des Umlandes war daher hier, auch aufgrund der niedrigeren privaten Mobilität, wesentlich geringer. Doch auch die Wohngebiete benötigten in den sechziger und siebziger Jahren immer größere und weiter entfernt liegende Flächen, nachdem zuvor oft noch zentrumsnahe Gebiete zur Verfügung gestanden hatten. Die ersten Siedlungen entstanden wie in Rostock-LüttenKlein und Halle-Neustadt noch in weitläufigen Zeilen und Reihen in überschaubaren Dimensionen, doch aus Kostengründen wurden Rationalisierung und Typisierung, Verdichtung und die Konzentration auf wenige Standorte die zentralen Vorgaben für den komplexen Wohnungsbau und den Bau von Nachfolgeeinrichtungen seit den sechziger Jahren.23 Wie in zahlreichen Ländern wurden auch in der DDR in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren städtebaulichen Utopien entworfen, die auf der Grundlage neuer technischer Möglichkeiten vom Anbruch einer modernen Zeit kündeten.24 In der DDR trat die politische Bedeutung der Visionen in den Vordergrund: Sie sollten die Bevölkerung mobilisieren, von gegenwärtigen Mangelsituationen ablenken und die führende Stellung des Staates beim Aufbau der neuen Gesellschaft demonstrieren. So wurden im Siebenjahrplan 1959 bis 1965 der Aufbau der Stadtzentren und die Behebung der größten Wohnungsnot durch ein umfangreiches Wohnungsbauprogramm propagiert, doch schon nach vier Jahren musste das Programm zugunsten des Industriebaus reduziert werden. Ende der sechziger Jahre konzentrierten sich die Schwerpunkte der Planung noch einmal auf die Innenstädte, doch profitierten davon, ebenso wie vom weiteren Wohnungsbau, wiederum überwiegend die Industrie- und die Bezirksstädte, während die Kleinstädte ohne bedeutende Industrie oder überregional wichtige Funktionen vernachlässigt wurden. Denselben Effekt hatte die Übertragung der Befugnisse zur Verteilung der finanziellen Mittel und der Wohnungskontingente auf die Bezirke.25
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Verkündung der Industrialisierung des Bauwesens und die Anwendung rationeller Planungsund Projektierungsmethoden auf der Unionskonferenz der Bauschaffenden in Moskau gegeben. Zum Eigenheimbau in Ludwigsfelde vgl. Carsten Benke, Ludwigsfelde. Stadt der Automobilbauer, in: Barth (Hrsg.), Grammatik, S. 83–97, hier S. 90–91. Ebd., S. 14–26; Thomas Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Wüstenrot-Stiftung (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Von 1945 bis heute, Bd.5, S. 419–562, hier S. 493–494 u. 511–518; Johann Jessen, Suburbanisierung – Wohnen in verstädterter Landschaft, in: Tilman Harlander (Hrsg.), Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, München 2001, S. 316–329. Allgemein dazu, Jörn Düwel/Niels Gutschow, Städtebau in Deutschland im 20. Jahrhundert. Ideen, Projekte, Akteure, Stuttgart, ect. 2001, S. 228–238. Christine Hannemann, Marginalisierte Städte. Probleme, Differenzierungen und Chancen ostdeutscher Kleinstädte im Schrumpfungsprozess, Berlin 2004; vgl. auch, Dies., Kleinstädte – ein marginalisierter Stadttyp. Zur Planungs-, Forschungs- und Baupraxis in der DDR, in: Bern-
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Im Mittelpunkt des neuen städtebaulichen Leitbildes stand die Umgestaltung der Städte nach modernen und ökonomischen Gesichtspunkten zu Zentren gesellschaftlicher Kommunikation. Die „alte Stadt“ wurde nun zumindest in Teilbereichen obsolet. Das Ziel war eine großzügige und weitläufige Gestaltung mit einer optimistischen und zukunftsorientierten Ausstrahlung.26 Architekten und Planer orientierten sich nun an internationalen Vorbildern wie Brasilia von Oskar Niemeyer, Mexiko-City oder Havanna-Ost von Paul Romero.27 Dennoch sind auch Kontinuitäten über den Paradigmenwechsel hinweg zu beobachten, wie jüngst Ulrich Hartung am Beispiel der Betonung städtebaulicher Ensembles und der hierarchischen Raumgliederung nachgewiesen hat.28 Die Erforschung der maßgeblich an Planung und Bau beteiligten Institutionen und Akteure hat in den vergangenen Jahren zu neuen Erkenntnissen über die Arbeit von Architekten und Stadtplanern und deren Erfahrungen und Handlungsspielräume, vor allem über die Bedeutung von Aushandlungsprozessen für die Realisierung von Projekten, geführt. Über die Bildung von Netzwerken und Kooperationen ließen sich die formal beschränkten Befugnisse stark erweitern. Die großen Städte verfügten mit ihren Büros für Stadtplanung (BfS) über eine effektive Planungsinfrastruktur und hatten daher mehr Einfluss auf ihre städtebauliche Entwicklung als die Klein- und Mittelstädte, deren Planungen überwiegend von den zentralen Projektierungsbüros durchgeführt wurden.29 Noch in den Anfängen steckt die Untersuchung des Verhältnisses der Städte zu den Großbetrieben bzw. Kombinaten. Über deren Ausbau und Arbeitskräftebedarf wurde die Entwicklung der Kommunen erheblich mitbestimmt. Unternehmensgeschichtliche Studien gehen oft nur am Rande auf die Frage ein, wie Betriebe und Kommunen im Prozess des Stadtausbaus, etwa im Wohnungsbau, beim öffentlichen Nahverkehr oder bei der Errichtung gesellschaftlicher Einrichtungen, zusammen arbeiteten.30 Durch die betrieblichen Interessen konnten Städte in ihrer Entwick-
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hardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung, S. 165–180; Carsten Benke/Thomas Wolfes, Stadtkarrieren. Typologie und Entwicklungsverläufe von Industriestädten in der DDR, in, Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung, S. 127–163; Andreas Schubert, Vernachlässigte Kleinstädte, in: Marcuse/Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, S. 141–156; Carsten Benke, Das Stadtzentrum als unerfüllter Wunsch, Defizite und lokale Spielräume bei der Gestaltung öffentlicher Räume in kleinen Industriestädten der DDR, in: Bernhardt u.a. (Hrsg.), Geschichte der Planung des öffentlichen Raums, Dortmund 2005, S. 165–181. Topfstedt, Wohnen und Städtebau, in: Geschichte des Wohnens, S. 501–502. Joachim Palutzki, Architektur in der DDR, Berlin 2000, S. 190–191. Ulrich Hartung, Funktionstypen und Gestalttypen in der DDR-Architektur der sechziger Jahre, in: Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung, S. 181–207, hier S. 291 und 319; Andreas Butter/Ulrich Hartung, Ostmoderne. Architektur in Ost-Berlin 1945–1965, Berlin 2004. Bruno Flierl, Gebaute DDR, Berlin 1998; Holger Barth/Thomas Topfstedt (Hrsg.), Vom Baukünstler zum Komplexprojektanten. Architekten in der DDR. Dokumentation eines IRSSammlungsbestandes biografischer Daten, Erkner 2000; Frank Betker, „Einsicht in die Notwendigkeit“. Kommunale Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994), Stuttgart 2005. Z.B. Kathrin Möller, Wunder an der Warnow? Zum Aufbau der Warnowwerft und ihrer Beleg-
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lung stark beeinflusst oder auch behindert werden, wie in Guben, wo der ansässige Großbetrieb einen an den Bedürfnissen der Bewohner orientierten Zentrumsaufbau verhinderte. Den häufigen Forderungen nach Erweiterungsflächen und der Überlassung von Gebäuden, Wohnungen, Sportanlagen oder anderem städtischen Eigentum konnten sich die kommunalen Funktionäre kaum verweigern. Andererseits leisteten die Betriebe mit ihren Belegschaften über die Kommunalverträge mit den Kommunen auch regelmäßige Beiträge zum Ausbau der sozialen und technischen Infrastruktur, beispielsweise im Rahmen der Mach-Mit-Bewegungen oder über Patenschaften für Schulen, Zoos oder Sportanlagen. Das Verhältnis war stark vom Charakter der Beziehungen der Verantwortlichen auf der lokalen Ebene zu den Vertretern der Betriebe bestimmt und musste stets aufs Neue ausbalanciert werden.31 Mit der Ablehnung der historischen Stadt einher ging die großflächige Vernichtung von innerstädtischen Wohnquartieren durch Abriss und Vernachlässigung. Deren Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung mit Wohnraum wurde negiert trotz der Tatsache, dass der Bestand aus der Zeit vor 1945 den größten Anteil am Wohnraum in der DDR ausmachte.32 Dazu kam die Beseitigung kriegsbeschädigter Bauwerke und Baudenkmale aus ideologischen Gründen, zur Verdrängung unliebsamer Vergangenheit und zur Bereinigung des Stadtbildes für eine als zeitgemäß betrachtete Umgestaltung. Rücksichtslose Eingriffe in die historische Struktur erfolgten zu dieser Zeit auch in vielen Kleinstädten, die im Krieg unzerstört geblieben waren. 33 Zwar wurde der Wert der historischen Bausubstanz für den Erhalt eines individuellen urbanen Charakters bereits Mitte der sechziger Jahre offiziell wieder anerkannt, bis zur Ergreifung realer Sanierungsmaßnahmen dauerte es aber noch über ein Jahrzehnt. 34 Die Ursachen für den stetigen Verfall lagen im System des DDRBauwesens, das mit den Wohnungsbaukombinaten ganz auf den industriellen Neubau ausgerichtet war. So erhielten Bauarbeiter im Neubau höhere Löhne als für Sanierungsaufträge. Für die Erfüllung von Plänen, für staatliche Sonderbaumaßnahmen oder Sonderveranstaltungen wie die Rostocker Ostseewoche wurden regelmäßig Kapazitäten von Erhaltungsmaßnahmen abgezogen.35 Dennoch nahm die Bedeutung der Stadtzentren gegen Ende der sechziger Jahre wieder zu. Mit der Anlage von schaft in Rostock-Warnemünde (1945 bis 1961), Bremen 1998. 31 Heinz Reif u.a., Industriestädte in der SBZ/DDR. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und urbanes Leben von 1945 bis 1989/90. Abschlussbericht, Berlin Juli 2004; Von Saldern, Zusammenfassung, in: Dies. (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit, S. 362; Peter Alheit/Hendrik Bunke, Gebrochene Modernisierung. Der langsame Wandel proletarischer Milieus. Eine empirische Vergleichsstudie ost- und westdeutscher Arbeitermilieus in den 1950er Jahren, Bremen 1999, S. 547. 32 Rund 2,5 Mio. Wohnungen stammten aus der Zeit vor 1900. Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 508–509. 33 Als Beispiel sei hier die Sprengung des erhaltenen Turms der Garnisonkirche in Potsdam 1968 oder der Abriss der Leipziger Universitätskirche 1969 genannt. 34 Die städtebaulichen Grundsätze der IV. Baukonferenz 1965, vgl. Palutzki, Architektur in der DDR, S. 206; Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 508; Von Saldern, Einleitung, S. 15–16. 35 Bernd Hunger, Stadtverfall und Stadtentwicklung – Stand und Vorschläge, in: Marcuse/Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, S. 32–48.
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„Boulevards“, Fußgängerzonen und verkehrsberuhigten Bereichen, wie in Rostock, Leipzig oder Erfurt, wurde der zuvor bewusst vernachlässigte Konsumsektor gefördert, um die Innenstädte zu beleben und der gestiegenen Kaufkraft der Bevölkerung Rechnung zu tragen.36 Die nun angestrebte intensive Stadtentwicklung forderte eine Verdichtung der Bebauung und die Errichtung vielgeschossiger Gebäude und sogenannter „Bildzeichen“ als „architektonisch wirksame Lösungen“. Sie sollten der zunehmenden Monotonie begegnen und städtebauliche Identifikationsmöglichkeiten schaffen. Die zumeist zentral von Berlin gesteuerten Generalbebauungspläne mit dem Ziel der radikalen Umgestaltung der Innenstädte bildeten die letzte große städtebauliche Vision der DDR. Gigantische Platzensembles und Höhendominanten sollten als „Siegesmale“ des Sozialismus die Deutungshoheit in den Städten übernehmen, doch wurden die Arbeiten, mit einigen Ausnahmen wie in Berlin, in vielen Städten zu Beginn der siebziger Jahre abgebrochen, als sich abzeichnete, dass die finanziellen Mittel und die Kapazitäten nicht ausreichten. Der Baustopp bedeutete den Erhalt vieler historisch gewachsener Stadtstrukturen, für andere war es bereits zu spät. Die nicht verwendeten Mittel flossen wieder in den Industrie- und Wohnungsbau und in die Errichtung von Schulen und Kindereinrichtungen.37 Der Großsiedlungsbau der siebziger Jahre In den siebziger Jahren wurde das Baugeschehen in der DDR weitgehend von dem 1971 angekündigten Wohnungsbauprogramm bestimmt, mit dem die Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 angestrebt wurde. Seit 1976 wurde der Wohnungsneubau mit der Errichtung von Großwohngebieten, wie in Berlin-Marzahn und Hellersdorf mit je über 100.000 Einwohnern, enorm gesteigert. Entsprechend den Einwohnerzahlen erhielten diese Gebiete eine Grundausstattung mit Geschäften und Dienstleistungseinrichtungen, Gaststätten, Klubs, Schulen und Kinderkrippen. Bescheiden blieb zumeist das Angebot an Kultur- und Freizeiteinrichtungen, zumal wenn, wie in Berlin-Hohenschönhausen, geplante Kinos oder Kulturhäuser gestrichen wurden. Andererseits bot die Neubauwohnung vielen Menschen einen gegenüber dem Altbau bisher ungekannten Komfort mit Aufzug, Heizung, und Innen-WC. Beruf und Familie ließen sich hier in der Regel gut miteinander vereinbaren, da die wichtigen Einrichtungen in der Nähe lagen. Derart gute Wohnbedingungen existierten jedoch nicht in jedem Wohngebiet. Zumeist erfolgte die Versorgung der Bevölkerung mit den grundlegenden Nachfolgeeinrichtungen erst nach mehreren Jahren und nach zum Teil massiven Protesten der Bewohner.38 Die Erfor36 Dirk Schubert, Fußgängerzonen – Aufstieg, Umbau und Anpassung, Vorform der Privatisierung öffentlicher Räume oder Beitrag zur Renaissance europ. Stadtkultur? In: Bernhardt u.a. (Hrsg.), Geschichte der Planung des öffentlichen Raums, S. 199–224, v.a. S. 212–215. 37 Palutzki, Architektur in der DDR, S. 225–226 und 234; Betker, „Einsicht in die Notwendigkeit“, S. 286–289; Topfstedt, Städtebau in der DDR, S. 58–59. 38 Luise Wenzel, Die Großsiedlung Berlin-Hohenschönhausen, in, Kerstin Dörhöfer (Hrsg.), Wohnkultur und Plattenbau. Beispiele aus Berlin und Budapest, Berlin 1994, S. 55–66, hier S. 62; Topfstedt, Wohnen und Städtebau, in: Geschichte des Wohnens, S. 536–537.
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schung der Struktur der Bevölkerung und ihrer Lebensverhältnisse in der normierten Welt der Trabantenstädte beschränkt sich bisher noch auf wenige Gebiete. Auch die Identifizierung mit dem Wohngebiet und die Nutzung und Aneignung urbaner Räume und gesellschaftlicher Einrichtungen harrt noch einer intensiveren Untersuchung.39 Eine Folge dieser Entwicklung war die Abwanderung vor allem junger Familien aus den Innenstädten an die Peripherie und damit verbunden für einen Teil der Menschen lange Wege zur Arbeit. Ältere Einwohner hingegen blieben, schon aufgrund der Richtlinien für die Vergabe von Neubauwohnungen, die kinderreiche Familien, Aktivisten und Verfolgte des Naziregimes begünstigten, tendenziell eher in den Altbauten wohnen. Die Neubaugebiete und die vernachlässigten Altbauquartiere drifteten so zunehmend auseinander; die soziale Segregation entwickelte sich über Wohnqualität und Baualter der Siedlungen. Dennoch war die soziale Struktur der Bewohner stärker durchmischt als in der Bundesrepublik. Aufgrund der niedrigen Mieten spielten Einkommen und soziale Stellung keine Rolle. Die sozialen Kontakte in der Nachbarschaft waren in der Regel gut, beschränkten sich allerdings weitgehend auf das eigene Haus.40 Der zunehmenden Monotonie der Wohngebiete sollte mit Kunst im Stadtraum, mit Plastiken und Wandbildern, oder mit Grünanlagen und Brunnen begegnet werden – mit unterschiedlichem Erfolg. Geplante Parks fielen nicht selten dem Rotstift zum Opfer. Die Qualität der Bauten sank infolge der Sparmaßnahmen bis in die achtziger Jahre kontinuierlich, wie auch die durchschnittliche Größe der Wohnungen. Schon nach wenigen Jahren tauchten bei vielen Gebäuden zudem massive Instandhaltungsprobleme auf .41 Die Rückkehr in die Innenstadt in den achtziger Jahren Die partielle Aufwertung der Innenstädte gegen Ende der sechziger Jahre hatte wenig an dem kontinuierlichen Verfall der Altbausubstanz geändert. Erst das Internationale Denkmalschutzjahr 1975 und die ICOMOS-Konferenz in Rostock 1977 bewirkten ein allmähliches Umdenken in der Betrachtung des historischen Erbes. Fortan wurden in vielen Städten nicht nur einzelne Baudenkmale und -ensembles, sondern auch gründerzeitliche Wohngebiete in komplexen Taktverfahren restau-
39 Christine Hannemann, Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR, Braunschweig u.a. 1996; Hartmut Häusermann/Rainer Neef (Hrsg.), Stadtentwicklung in Ostdeutschland. Soziale und räumliche Tendenzen, Opladen 1996; Ulfert Herlyn/Bernd Hunger (Hrsg.), Ostdeutsche Wohnmilieus im Wandel, Basel 1994. 40 Annette Harth u.a. (Hrsg.), Segregation in ostdeutschen Städten, Opladen 1998; Kerstin Dörhöfer, Dreizehn Haushalte und ihr Ambiente, in: Dies. (Hrsg.), Wohnkultur und Plattenbau, S. 155–224, hier S. 207; Bernd Hunger, Wohnen am Stadtrand mit Zukunft, in: Holger Barth (Hrsg.), Städtebau und Architektur in der DDR. Materialien zu einer Ringvorlesung an der TU Hannover im WS 1991/92, S. 45. 41 Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 540–541. Vgl. Harald Bodenschatz, Neubaugebiete werden alt – die Erfahrung in Berlin (West), in: Marcuse/Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, S. 97–107.
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riert. Eine wichtige Rolle spielten dabei Berechnungen, dass auf die Altbauten für die Lösung der Wohnungsfrage nicht verzichtet werden konnte.42 Auch die Bedeutung der Altstädte für den Wohnungsneubau wurde nun zunehmend erkannt. Ein Vorteil waren die hier gegenüber dem extensiven Wohnungsbau günstigeren Erschließungskosten. Doch das innerstädtische Bauen in abgewandelter industrieller Fertigung geschah häufig auf Kosten der Altbausubstanz, die, wie am Beispiel Bernau erprobt, zuvor großflächig abgerissen wurde.43 Immerhin wurde mit neuartigen „variablen Gebäudelösungen“ und historisierenden Versatzstücken ein Minimum an Rücksicht auf die gewachsenen Strukturen genommen. Wirklich zufrieden stellend waren diese Lösungen aber nicht. Erst bei der Sanierung der Altstädte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde mehr Rücksicht auf die vorhandenen Strukturen gelegt, dennoch wurden auch jetzt nur Teile der Bausubstanz saniert, soweit es die geringen Kapazitäten und der Arbeitskräftemangel zuließen.44 Qualitativ gute Lösungen bot zu dieser Zeit in einigen Städten der Eigenheimbau, wie beispielsweise die typisierten, an die Tradition des Bauhauses angelehnten Reihenhaussiedlungen in Dessau beweisen.45 Doch auch in anderen Stadtzentren wurden in den letzten Jahren der DDR hochwertige architektonische Leistungen vollbracht, wie in Berlin oder in Rostock, wo Rekonstruktionen, Anpassungsbauten und industriell gefertigte Gebäude miteinander harmonierten und zu einer Belebung der Innenstädte beitrugen. Zu verdanken war das auch der Einsatzbereitschaft örtlicher Architekten.46 Der Verfall der Städte als sichtbares Zeichen für den Niedergang des Staates insgesamt rief die Bürger in den achtziger Jahren auf den Plan. Schon zuvor hatten die Bewohner die Entwicklung ihrer Städte mit Interesse verfolgt. Sie reichten bei anstehenden Bauvorhaben eigene Vorschläge für die Gestaltung von Plätzen und Parkanlagen ein und scheuten sich auch nicht, über Eingaben auf Missstände hinzuweisen oder gegen Maßnahmen zu protestieren, die nicht in ihrem Sinne waren. Doch jetzt betätigten sie sich offen in kirchlich oder ökologisch orientierten Gruppen. Die „Wiederentdeckung“ der Innenstädte erfolgte im Rahmen eines zunehmenden stadtbürgerschaftlichen Engagements.47
42 1977 begann der Wiederaufbau der Dresdener Semperoper. Saniert wurden z. B. Wohngebiete am Prenzlauer Berg in Berlin oder in der Kröpeliner-Torvorstadt in Rostock. Palutzki, Architektur in der DDR, S. 314–316; Von Saldern, Zusammenfassung, S. 388. 43 Betroffen waren vor allem Gebäude aus der Zeit vor 1870. Topfstedt, Städtebau, S. 57–58. 44 Raschke, Neubrandenburg, S. 299–301; Topfstedt, Wohnen und Städtebau, S. 548–554. 45 Harald Kegler, Die „Moderne“ im Einfamilienhausbau, in: Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung, S. 209–227. 46 Betker, „Einsicht in die Notwendigkeit“, S. 339. Vgl. auch den Beitrag von Betker in diesem Band. 47 Von Saldern, Zusammenfassung, S. 391–392; Raschke, Neubrandenburg, S. 350.
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Stadtplanung und Stadtentwicklung in Rostock 1945–1989 Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht die Frage nach den Abweichungen und Übereinstimmungen zwischen den anfangs skizzierten allgemeinen Entwicklungen in der DDR und jenen in einzelnen Städten. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Handlungsspielräumen, durch die Bürger und lokale Eliten möglicherweise spezielle Entwicklungspfade ihrer Stadt durchsetzen konnten. Diesen Aspekten soll im Folgenden am Beispiel Rostocks nachgegangen werden. Interesse und Einsatzbereitschaft der Bürger für die Entwicklung ihrer Stadt spielten auch in Rostock eine große Rolle. Vom Enthusiasmus für den Wiederaufbau der zerstörten Stadt über die Kritik an sinnlosen Abrissaktionen in den Siebzigern bis hin zu den Bürgerbewegungen der späten achtziger Jahre lässt sich diese Anteilnahme verfolgen.48 Die zunehmende Rationalisierung und Typisierung im Wohnungs- und Gesellschaftsbau hatte spätestens seit den frühen sechziger Jahren eine immer stärkere Gleichförmigkeit der Wohngebiete und zum Teil auch der Innenstädte zur Folge. Obwohl in den offiziellen Verlautbarungen immer wieder gefordert, wurde der Spielraum für individuelle Lösungen in der Realität kontinuierlich geringer. Um so mehr gilt es, das Augenmerk der Stadtgeschichtsforschung auf jene Prozesse zu lenken, die von diesem Muster abwichen sowie auf die dafür verantwortlichen kommunalen Akteure. Als bedeutendste Hafenstadt, größte Industriestadt nördlich von Berlin und als Bezirksstadt besaß Rostock eine besondere Relevanz für den sozialistischen Staat, die sich in einer kontinuierlichen Förderung ausdrückte.49 Besonderheiten der Rostocker Entwicklung waren vor allem die Erweiterung der Kernstadt entlang der Unterwarnow im Widerspruch zu den geltenden 16 Grundsätzen, das Festhalten an regionalen bauhistorischen Traditionen der Hansestadt auch über den Wechsel städtebaulicher Leitbilder hinweg sowie der vergleichsweise große Einfluss auf das eigene Baugeschehen trotz der Einflussnahme aus Berlin. Diese Aspekte stehen im Mittelpunkt des folgenden Kapitels über die städtebauliche Entwicklung Rostocks. Abschließend sollen die Bedingungen in der Stadt an der Warnow im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung in der DDR und hinsichtlich ihres Erfolges resümiert werden.
48 Im Stadtarchiv Rostock beispielsweise in: STA Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 4227 (Beschwerden und Hinweise der Bevölkerung). 49 Grundlegend: Rostock. Geschichte der Stadt in Wort und Bild. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Lothar Elsner, Berlin 1980; Karsten Schröder (Hrsg.), In deinen Mauern herrsche Eintracht und allgemeines Wohlergehen. Eine Geschichte der Stadt Rostock von ihren Ursprüngen bis zum Jahre 1990, Rostock 2002.
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Abb. 1: Stadtentwicklungsplan von Rostock, 1990; Quelle: IRS, Sammlungen
Die Aufbaustadt Rostock Schon wenige Monate nach dem Krieg wurde durch die russische Besatzungsmacht die Weichenstellung zur Errichtung der Schiffbauindustrie geschaffen.50 Mit der Ansiedlung von Zulieferbetrieben, Nahrungsmittelindustrie und der Hochseeflotte setzte ein Zustrom von Arbeitskräften aus ganz Deutschland nach Rostock ein. 50 Benke/Wolfes, Stadtkarrieren, S. 165–180. Andreas Hohn, Rostock, Hansestadt im sozialistischen Aufwind, in: von Beyme (Hrsg.), Neue Städte aus Ruinen, S. 117–137.
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Durch die Teilung Deutschlands erhielt Rostock auf dem Gebiet der DDR ein weitgehendes Monopol als Hafenstadt von überregionaler Bedeutung. Mit dem Bestreben der Staatsführung, eine autarke, vom Westen unabhängige Wirtschaft aufzubauen, fiel 1957 zudem die Entscheidung für die Anlage des Überseehafens.51 Auch in Rostock entwickelte sich nach dem Krieg eine rege Planungstätigkeit, an der sich zahlreiche Architekten und Stadtplaner aus Ost und West beteiligten, wie Heinrich Tessenow oder Gustav Hassenpflug. Die Zuständigkeit dafür lag in den Händen des Stadtbauamts. Es war verantwortlich für die Vergabe von Aufträgen an Architekten und die Ausschreibung von Wettbewerben. Im Frühjahr 1946 wurde der aus Rostock stammende Tessenow, zugleich Leiter des Wiederaufbauamtes in Schwerin, mit der Erarbeitung eines Wiederaufbauplans beauftragt. 1947 und 1949 wurden Wettbewerbe um den Aufbau des Neuen Marktes und zur Rathauserweiterung ausgelobt. 1948 erhielt der Dresdener Architekt Wolfgang Rauda Aufträge zur Erstellung eines Flächennutzungsplanes und eines Aufbauplanes sowie 1950, bereits während der Neuordnung der Planungskompetenzen durch die Regierung, für ein innerstädtisches Bebauungskonzept. Bezeichnenderweise hatten in Rostock moderne Konzeptionen zu keinem Zeitpunkt eine Chance. Fast alle Entwürfe orientierten sich am überkommenen Straßenraster und der norddeutschen Architektur. Das in Rostock vorherrschende Leitbild war, „aus den Trümmern des alten Rostock ein neues, in der Grundgesinnung wieder ebenso vertrautes Rostock zu schaffen“, dabei aber Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Da jedoch zu diesem Zeitpunkt noch kein konkretes Konzept über die politische und wirtschaftliche Zukunft der Stadt existierte und kaum Baumaterial zur Verfügung stand, wurde keine der Planungen verwirklicht. 52 Auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950 forderte Walter Ulbricht den Ausbau Rostocks zu einem bedeutenden Industriezentrum. Entsprechend dem Aufbaugesetz vom 6. September 1950 wurde Rostock zur Aufbaustadt und 1951 zum Schwerpunkt des Wohnungsbaus erklärt. Die Ernennung zur Bezirkshauptstadt 1952 bedeutete eine weitere Aufwertung der Stadt und stärkte das Selbstbewusstsein der Rostocker, denn damit erhielt die Stadt die gleiche administrative Bedeutung wie die zum Teil wesentlich größeren Städte Magdeburg, Dresden oder Leipzig.53 Mit dem Bedeutungszuwachs war andererseits ein zunehmender Einfluss übergeordneter Organe auf die Stadtentwicklung verbunden. Hatte Rostock bereits bis 1949, wie alle Städte in der SBZ, weitgehend seine kommunalen Selbstverwal51 Helmut Nuhn, Hansestadt Rostock – vom maritimen Tor zur Welt zum Regionalhafen für die Ostsee, in: Europa Regional 5. Jg. (1997), Heft 2, S. 8–22. 52 Heinrich Westphal, Städtebauliche Aufgaben und Planungen in Rostock, in: Der Bauhelfer Heft 2 (1949), S. 29–34. Lediglich der Entwurf von Hassenpflug für den Neuen Markt sah eine Bebauung mit Zeilen und Wohnscheiben vor. Andreas Tessenow, Die Wiederaufbauplanung zum Rostocker Stadtkern und erste Wiederaufbauarbeiten 1945–1952, Diplomarbeit Univ. Leipzig 1978; Düwel, Baukunst voran!, S. 167. Vgl. auch Hohn, Hansestadt, S. 121–126. Der Entwurf von Tessenow war bestimmt von den Ideen der Gartenstadtbewegung. Er plante eine durchgrünte, an den Straßenecken zurückgesetzte, zwei- bis dreigeschossige Blockrandbebauung mit vorstädtischem Charakter. 53 Umgekehrt war die Ernennung Schwerins zur Landeshauptstadt 1990 ein Schock für die Rostocker.
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tungsrechte verloren, büßte es 1950 auch einen Teil seiner Planungskompetenz an das Volkseigene Entwurfs- und Bauleitungsbüro Mecklenburg (VEBM) in Schwerin ein. 54 Zentrumsaufbau Die Industrialisierung Rostocks und die Ansiedlung der Organe des Bezirkes setzten eine Eigendynamik in Gang, die das Wachstum der Stadt bestimmte. Die Erweiterung der industriellen Produktion, der Zuzug von Arbeitskräften, der Wohnungsbau und der Ausbau der technischen und sozialen Infrastruktur erzeugten eine wechselseitige Stimulation. Zu Beginn der fünfziger Jahre wurden in Verbindung mit der Ermittlung der städtebildenden Faktoren gemeinsam von der Abteilung Aufbau in Rostock und der Staatlichen Plankommission die Grundzüge der städtebaulichen Entwicklung herausgearbeitet. Bei einer damaligen Bevölkerungszahl von 140.000 wurde innerhalb der nächsten 25 Jahre ein Anstieg auf 200.000 Einwohner erwartet.55 Entsprechend den 16 Grundsätzen wurde die Rolle des alten Stadtzentrums als zentraler Bezirk bestätigt. Der Neue Markt verlor aufgrund seiner ungenügenden Größe seine ihm ursprünglich zugedachte Funktion als Demonstrationsplatz. Stattdessen sollte als westlicher Abschluss der neuen Magistrale, der Langen Straße, ein Zentraler Platz neu errichtet werden. Der Aufbau der Langen Straße ab 1953 unter dem Architekten Joachim Näther und der Zuständigkeit des Bezirks wurde zum Sinnbild für die repräsentative Neugestaltung der Innenstadt entsprechend dem Leitbild der kompakten Stadt. Dieses Prestigeprojekt, das nach der Ernennung Rostocks zur Bezirksstadt 1952 noch einmal von Grund auf überarbeitet und erweitert wurde, wertete das Stadtzentrum in architektonischer und städtebaulicher Sicht auf und schuf einen deutlichen Kontrast zur überkommenen „kleinbürgerlichen“ Bebauung. Der dabei verwendete Stil der norddeutschen Backsteinarchitektur mit überwiegend gotischen Elementen wurde zunächst begrüßt, stieß jedoch schon nach wenigen Jahren auf harsche Kritik und galt bald als nicht mehr zeitgemäß. Zudem hatten die Baukosten jede Norm für den Wohnungsbau überschritten. Kritisiert wurden auch die Höhe und die Baumasse: Die Gebäude wirkten wie eine Mauer, die die Innenstadt unterteilte und die zur Warnow abfallende nördliche Altstadt vom Rest des Zentrums abschnitt.56 54 Diese Maßnahmen wurden von der aus ehemaligen Sozialdemokraten bestehenden Stadtverwaltung verurteilt. Der Konflikt endete mit der öffentlichen Bloßstellung der regimekritischen Kommunalpolitiker und ihrer Verhaftung oder Flucht in den Westen. Albert Schulz, Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Oldenburg 2000; Marko Michels, Einheitszwang oder Einheitsdrang?! Der Vereinigungsprozess von KPD und SPD zwischen 1945 und 1950 in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg u.a. 1999. 55 SAPMO/BArch Berlin, DE 1 (Staatliche Plankommission), Nr. 5280 und 4677. 56 Magistrale, S. 48. Zu den Planungen der Langen Straße vgl. auch, Düwel, Baukunst voran!, S. 154–202. In der Presse entfaltete sich 1955 eine offene Diskussion über die Lange Straße und den Wiederaufbau des Zentrums, an der sich zahlreiche Architekten beteiligten, wie Siegfried Grundmann und Karl Liebknecht. Vgl. z. B. Ostseezeitung Nr. 169 vom 22.7.1955, „Wird in Rostock richtig gebaut oder nicht?“ von S. Grundmann.
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Nicht zu unterschätzen ist jedoch die Wirkung der Straße auf die Einwohner und auf das Bild Rostocks nach außen. Die Menschen waren stolz auf den repräsentativen Stil, die luxuriös ausgestatteten Geschäfte und die großzügigen Wohnungen, auch wenn nur Wenige in den Genuss einer solchen Wohnung kamen. Doch nachdem große Teile der Innenstadt über mehr als zehn Jahre weitgehend brach oder in Ruinen gelegen hatten, trug gerade die ästhetisch anspruchsvolle Fassadengestaltung der Bauten zu einer hohen Akzeptanz und einer starken Identifikation der Einwohner mit dem neuen Zentrum bei. Auch nach außen wirkten die neue Straße und ihre von der Warnow aus die Stadt dominierende Silhouette. Die Lange Straße wurde – vergleichbar mit der Stalinallee in Berlin – zum neuen Wahrzeichen der Stadt und auf Postkarten, Reiseführern und Werbebroschüren in der ganzen DDR bekannt. Die Straße bestimmte vorrangig das neue Image Rostocks, das seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre als „sozialistische Industriestadt“ oder auch als „moderne Großstadt“ bezeichnet wurde.57
Abb. 2: Lange Straße in Rostock, um 1965; Quelle: IRS, Wiss. Sammlungen
57 Beispielsweise Oberbürgermeister Wilhelm Solisch in der Ostseezeitung, Nr. 8 vom 9./10.1.1960.
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Der drückenden Wohnungsnot konnte mit derartigen Prestigeprojekten jedoch nicht begegnet werden. Eine leichte Verbesserung der angespannten Situation brachte erst das periphere Wohngebiet Reutershagen I für rund 6.000 Menschen.58 Mit dem Ausbau Rostocks zum Industrieschwerpunkt wurden von der Regierung mehrere Sonderbaumaßnahmen finanziert. Dazu gehörten unter anderem der Bau der Neptunschwimmhalle 1950–1955 und die Erweiterung der universitären Einrichtungen im Bereich der Leninallee (vormals Schillingallee) und in der Südstadt. Das zwischen 1949 und 1954 im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes errichtete Ostseestadion ist ein wichtiges Beispiel für den Aufbauwillen der Rostocker und verdeutlicht zugleich den hohen Stellenwert des Sports und dessen Identifikationskraft für die Einwohner der Hansestadt.59 Bei den zentralen „Investbauten“ besaß die Stadt faktisch kein Mitspracherecht. Die Planung erfolgte durch das Entwurfs- und Bauleitungsbüro Mecklenburg (EBM), die Stadt war nur für die Bereitstellung der Arbeiter verantwortlich. Dies führte oft dazu, dass die knappen Arbeitskräfte zur Planerfüllung vom Wohnungsbau abgezogen werden mussten. Die Stadt war daher bestrebt, mehr Einfluss auf die Baumaßnahmen auszuüben und eine bessere Abstimmung mit dem EBM und dem Investträger zu erreichen. Aus diesem Grund lud sie deren Mitarbeiter regelmäßig zu den Ratssitzungen ein. Bei der Neptunschwimmhalle war dieser Weg erfolgreich, indem sie an der Ausarbeitung der Pläne beteiligt wurde und auch eigene Spezialisten heranziehen konnte.60 Kompakte Stadt oder Bandstadt? – Der Streit mit Berlin um die künftige Entwicklung Rostocks 1958/59 traten Regierung und Staatliche Plankommission mit den Vertretern des Bezirks und der Stadt in intensive Verhandlungen über den Siebenjahrplan und die damit verbundene finanzielle Förderung aus Berlin. Entgegen früheren Berechnungen plante die Regierung, die Einwohnerzahl Rostocks bis 1965 auf maximal 180.000 zu begrenzen und die Investitionen entsprechend zu reduzieren. Andernfalls wurden eine „Entblößung“ der drei bevölkerungsarmen Nordbezirke und die Vernachlässigung anderer Schwerpunktprojekte wie z. B. des Chemieprogramms befürchtet. Doch diese Absichten stießen in Rostock auf heftigen Widerstand. Die Vertreter des Bezirks planten einen Zuwachs auf 230.000 bis 250.000 Menschen und waren in diesem Punkt zu keinen Abstrichen bereit. Sie forderten mehr als das Doppelte an Investitionen von dem, was die Regierung zu zahlen bereit war und warfen ihr eine Benachteiligung Rostocks gegenüber anderen Städten vor.61 Bei den Gesprächen zeigte sich das Selbstbewusstsein der kommunalen und bezirklichen Politiker, das mit der gestiegenen Bedeutung Rostocks korrelierte. Durch den zu dieser Zeit im Bau befindlichen Überseehafen und mit der 1958 erst58 Bauzeit 1953–1957, Entwurf, Kollektiv unter Konrad Brauns. Architekturführer Rostock, S. 40–41. 59 Hohn, Hansestadt, S. 135; Architekturführer Rostock, S. 36–37 60 STA Rostock, Rep. 211, Nr. 4488, Ratssitzung v. 15.2.1950. 61 SAPMO/BArch Berlin, DE 1 (Staatliche Plankommission), Nr. 3275, S. 1–9.
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mals auf nationaler Ebene ausgetragenen Ostseewoche hatte die Stadt erneut zwei zentrale, republikweite Funktionen erhalten. Rostock entwickelte sich zum „Tor zur Welt“ und mit der steigenden Zahl an ausländischen Besuchern zu einem „Schaufenster“ für die DDR. Die Verhandlungen verliefen auch in einem weiteren für die Stadt existentiellen Punkt zunächst unerfreulich, denn das Aufbauministerium lehnte die Konzeption, Rostock als Bandstadt in Richtung Warnemünde auszubauen, als unzweckmäßig und zu kostspielig ab. Auch in der Hansestadt war zeitweilig die Lösung einer abgerundeten Erweiterung nördlich der Unterwarnow diskutiert worden, die den 16 Grundsätzen eher entsprach, während die Bandstadt mit ihrer funktionalen Unterteilung als kapitalistisches Stadtmodell galt. Chefarchitekt Albrecht Jäger vertrat 1953 die Absicht, nach dem Bau von Reutershagen I die weitere Ausdehnung nördlich von Altstadt und Unterwarnow in Dierkow-Mitte und Toitenwinkel anzusetzen. Dort plante er mit der „Nordstadt“ ein innerstädtisches Wohnquartier. Entwürfe für eine kompakte Bebauung an diesem Standort hatte es bereits in den dreißiger Jahren gegeben. 62 Jäger befürwortete eine konzentrische Erweiterung um den Stadtkern, der seine zentrale Funktion so behalten und ausbauen würde. Auch die Einbeziehung der Warnow in die Gesamtgestaltung der Stadt, wie in den Grundsätzen gefordert, war so besser möglich. Jäger versuchte, um dieser Lösung ein größeres Gewicht zu verleihen, dort wichtige Institutionen wie die Universität anzusiedeln. Doch aufgrund der schlechten Verkehrsanbindung lehnte die Universitätsleitung dieses Ansinnen ab. Sie bevorzugte wegen der schnelleren Erreichbarkeit die Südstadt. Damit war das gesamte Projekt Dierkow/Toitenwinkel bereits vorzeitig gescheitert, da auch die Warnowbrücke nicht zu finanzieren war. Das Ministerium für Aufbau war mit dem Plan Jägers jedoch einverstanden und bezog sich in den Verhandlungen von 1958/59 noch auf diese Vereinbarung aus dem Jahre 1953. Da allerdings auch zu diesem Zeitpunkt der Bau der Warnowbrücke nicht möglich war, akzeptierte die Regierung schließlich die bandförmige Entwicklung entlang der Unterwarnow in Richtung Warnemünde als die kostengünstigere Variante.63 Mit dem Bau der Südstadt (1960–1968) wurde das letzte zentrumsnahe Gebiet für den Wohnungsbau erschlossen. Die Errichtung der Siedlung Reutershagen II von 1957 bis 1961 in Fortsetzung zu Reutershagen I verstärkte die Entwicklung zur Bandstadt, die anschließend mit dem Bau von Lütten-Klein (1966–1975) endgültig zementiert wurde. Lütten-Klein lag bereits in einer Entfernung von sechs bis sieben Kilometern zur Altstadt. Das Leitbild der konzentrisch aufgebauten und kompakten
62 1935 hatte der Hamburger Architekt Erich zu Putlitz eine Erweiterung in Dierkow und Gehlsdorf vorgesehen. Vgl. Andreas Hohn, Hansestadt, S. 119 u. Petra Bajohr, Erich zu Putlitz, Leben und Werk 1892–1945, Untersuchungen zur Monumentalarchitektur, Hamburg 1997, S. 104–105. 63 STA Rostock, Rep. 212, Nr. 4507, Stadtverordnetenprotokolle, Sitzung vom 24.4.1953; Rep. 211, Nr. 4522, Ratssitzung vom 25.3.1954. Die Entwicklung zur Bandstadt war bereits in den späten 1920er Jahren mit der westlichen Stadterweiterung begonnen worden. Die an der Unterwarnow gelegenen Industriebetriebe, wie die Warnowwerft und das Flugzeugwerk von Heinkel, gaben die Richtung schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg vor.
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Stadt, die den 16 Grundsätzen entsprach, wurde den geographischen Gegebenheiten und ökonomischen Zwängen geopfert. Utopien zwischen Mobilisierung und Enttäuschung Der Aufbau der Stadt war nur mit Hilfe der Bevölkerung möglich. Daher mussten die Menschen mobilisiert werden. Die Veröffentlichung von optimistischen Zukunftsentwürfen in der Presse oder in speziellen Broschüren war ein häufig genutztes Mittel, um die Rostocker zu begeistern und sie zugleich mit ihrer Stadt zu identifizieren. Lokale Funktionäre wie Karl Deuscher, der Erste Sekretär der Rostocker SED, beschworen zusätzlich bei jeder Gelegenheit ein vielversprechendes Bild von der künftigen Entwicklung der Stadt.64 In den schillerndsten Farben dargestellt wurde vor allem der beabsichtigte Aufbau des Stadtzentrums im Rahmen des Siebenjahrplans 1958 bis 1965 mit dem Zentralen Platz, der Warnowbrücke und einem Theater. Die in der Stadt tätigen Architekten wie Albrecht Jäger und Joachim Näther veröffentlichten regelmäßig Presseartikel über die geplanten Baumaßnahmen und übten Selbstkritik, wie an den Bauten der Langen Straße – mit dem Versprechen, es in Zukunft besser zu machen.65 In der Hochglanzbroschüre Rostock – Wie wir es bauen aus dem Jahre 1961 wird dargestellt, wie die Stadt mit vereinten Kräften in wenigen Jahren aussehen würde. Zeichnungen von modernen Schulen, neuen Wohnblocks und einer Einkaufspassage, vor allem aber von einem großen Volkspark mit Kultur- und Vergnügungseinrichtungen in der Nähe zu Lütten-Klein sollten für Aufsehen sorgen (siehe Abb. 3). Ein Jachthafen, eine Art Prater an der Warnow und sogar ein Flugplatz wurden den Bürgern versprochen. In Rostock, so die Botschaft, wird ebenso modern und auf der Höhe der Zeit geplant wie im Westen. Realisiert wurde davon jedoch nichts.66 Diese „Inszenierungen“ der zukünftigen Stadt dienten dem Zweck, von den gegenwärtigen Unzulänglichkeiten des Alltags abzulenken und eine strahlende sozialistische Zukunft zu verheißen. Die Probleme bei der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs oder mit Wohnraum und die persönliche Gängelung hatten bis zum Mauerbau eine ständige Abwanderung von Fachkräften, wie Lehrern, Ärzten, Ingenieuren oder Handwerkern – überwiegend bürgerlicher Herkunft – in den Westen zur Folge, die für das Funktionieren des städtischen Lebens schmerzliche Verluste darstellten.67 64 Ostseezeitung, Nr. 192 vom 20.8.1958. Von 1961 bis 1969 war Karl Deuscher Vorsitzender des Rates des Bezirkes. 65 Ostseezeitung, Nr. 38 vom 13./14.2.1960, Heute noch Plan, morgen Wirklichkeit. Eine Betrachtung über die Entwicklung des Rostocker Stadtzentrums im Siebenjahrplan, von Joachim Näther. Hier übt Näther Selbstkritik daran, dass durch die Lange Straße der Blick zur Warnow versperrt wurde. Am neuen Theaterplatz solle dieser Fehler wieder gut gemacht werden. Tatsächlich wurde das gesamte Projekt nie realisiert. 66 Rostock – Wie wir es bauen, Hrsg. von der SED-Stadtleitung Rostock, 1961. Interview mit AK. M. am 15.8.2002. 67 Vgl. von Saldern, Einleitung, S. 20–22. Über die Republikflucht wird in den Akten sehr verhalten gesprochen, z. B. in: StA Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 4547, Bl. 67 ff.
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Abb. 3: Geplanter, aber nicht verwirklichter Volkspark an der Unterwarnow bei Lütten Klein; Quelle: Rostock – wie wir es bauen, hg. von der SED-Stadtleitung Rostock, 1961
Eine offizielle Aufgabe dieser Pläne wurde in der offiziellen Propaganda jedoch nie verlautet, in der Regel hieß es, dass sie den neuen Erfordernissen oder Erkenntnissen angepasst würden. Das eigentliche Ziel, der Aufbau des Zentrums, wurde nicht außer Sicht gelassen. Tatsächlich realisiert wurden jedoch lediglich einzelne Gebäude wie das „Haus Sonne“ (1967/68) am Neuen Markt oder das Hotel „Warnow“ (1964–67). Vor allem das immer wieder angekündigte Theater und der Zentrale Platz, zwei der wichtigsten Bestandteile der Umgestaltung, blieben Vision. Rostock verfügte auch im Vergleich zu anderen Großstädten der DDR im Bereich der Stadtplanung über ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Während in kleineren Städten die Stadtplanungsämter aufgelöst wurden, erhielt Rostock als Aufbau- und Bezirksstadt 1953 einen Stadt- und 1954 einen Chefarchitekten mit eigenem Entwurfsbüro. Ende der fünfziger Jahre aufgelöst und dem Wohnungsbaukombinat angegliedert, wurde 1968 wiederum ein Chefarchitekt mit einem nachgeordneten Büro für Stadtplanung eingerichtet, um die lokale Stadtplanung in Vorbereitung der beabsichtigen Umgestaltung der Stadtzentren zu stärken.68 Über die Hauptauftraggeberschaft (HAG) war die Stadt ebenfalls seit den späten sechziger Jahren von der Standortsuche bis zur Bauabnahme selbst für den größten Teil seines Baugeschehens verantwortlich. Selbstverständlich mussten aber auch dort alle größeren Projekte in der Regel mit unterschiedlichen Projektierungsbüros, wie dem des Wohnungsbaukombinats oder dem Entwurfsbüro für Hochbau, abgestimmt und vom Bezirk oder in Berlin bestätigt werden.69 68 Vgl. den Aufsatz Betker in diesem Band. 69 Zur Hauptauftraggeberschaft siehe z. B. StA Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 6712 (Neugestaltung des Stadtzentrums 1968–1971).
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Die bedeutendste städtebauliche Utopie war der Plan der Umgestaltung des Stadtzentrums 1968/69. Geplant war die Durchlegung einer Nord-Süd-Magistrale durch die westliche Innenstadt mit der Warnowbrücke und dem „Platz der Wissenschaften, Bildung und Kultur“, der den nie verwirklichten Zentralen Platz in seinen Dimensionen noch übertraf. Architektonischer Höhepunkt war das von Hermann Henselmann entworfene Hochhaus in der Form eines gigantischen Segels. Die Umsetzung der Pläne hätte die weitgehende Beseitigung der dort vorhandenen Altbebauung zur Folge gehabt. Im November 1970 wurde das Projekt gestoppt. Dennoch wurde die auf der Trasse der Nord-Süd-Achse stehende katholische Christuskirche noch im August 1971 gesprengt. Auf diese Weise konnte man sich noch eines unliebsamen Mitkonkurrenten um die Deutungshoheit über die Innenstadt entledigen.70 Anders als beispielsweise in Schwerin stand die Altstadt in Rostock jedoch nie ganz zur Disposition. Zudem wurden hier stärker als in anderen Städten regionale Bautraditionen beachtet. 1964 beschlossen Stadt und Bezirk eine Architekturkonzeption, nach der die Bewahrung des historischen Gesamtbildes durch die Verwendung typischer Materialien wie Klinker und Waschputz auch im industriell gefertigten Neubau gewährleistet werden sollte. Über die architektonischen Entwürfe wachte eine Architekturkommission aus Vertretern der Stadt und der SED-Bezirksleitung.71
Abb. 4: Bebauungskonzeption Stadtzentrum, Büro für Stadtplanung und Wohnungsbaukombinat Rostock, 1969. Modell. Blick von NO. Am linken Bildrand sind die geplante Warnowbrücke und das Haus der Wissenschaften, Bildung und Kultur zu erkennen, dahinter die Altstadt, rechts die Kröpeliner-Torvorstadt und im rechten Bildhintergrund die Südstadt mit der (erst 1979 eröffneten) Sport- und Kongresshalle; Quelle: IRS, Wiss. Sammlungen 70
Stadtzentrum Rostock. Planung und Aufbau, Rat der Stadt Rostock, Stadtbauamt, Büro für Stadtplanung, Rostock [ca. 1970], S. 8. Zur Sprengung der Kirche, vgl. Georg M. Diederich, Aus den Augen aus dem Sinn. Die Zerstörung der Rostocker Christuskirche 1971, Bremen, u.a. 1997. 71 STA Rostock, Rep. 211, Nr. 5192, StVV-Sitzung vom 16.1.1969; Prämiert und ausgeschieden, S. 15 und 122–123, zu Schwerin S. 124–125.
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Der Umgang mit der Altbausubstanz Die Brüche in der städtebaulichen Entwicklung des Zentrums prägen bis heute das Gesicht der Altstadt. Die gelungenen, stadtbildprägenden Aufbaumaßnahmen der Langen Straße oder des Hauptpostamtes (1953–1956) am Neuen Markt finden noch heute eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung. Demgegenüber wurden in den sechziger und in den siebziger Jahren zahlreiche kulturhistorisch und städtebaulich bedeutsame Bauwerke und Wohngebäude aus zum Teil propagandistischen Gründen oder wegen mangelnder Erhaltungskapazitäten abgerissen. Vor allem die Ruine der Jakobikirche und auch das teilzerstörte Petritor bei der Petrikirche fielen dem Drang zum Opfer, die Kriegsruinen aus dem Stadtbild zu tilgen, obwohl im ersten Fall bereits über verschiedene Nutzungen, beispielsweise als Mahnmal oder Museum, nachgedacht wurde, im zweiten Fall ein Wiederaufbau möglich gewesen wäre. Der Abriss des Turms der Jakobikirche war Teil einer „Stadtbildsäuberungsaktion“ im Vorfeld der Ostseewoche 1960. Den Besuchern sollte eine möglichst heile Welt der sozialistischen Errungenschaften präsentiert werden. Ruinen störten da nur.72 In den siebziger Jahren wurden große Teile der nördlichen Altstadt vernichtet, da hier eine Sanierung als zu aufwendig und kostspielig erachtet wurde. Wohngebäude aus der Zeit vor 1870 wurden nach der Wohnungsbaukonzeption des Bezirks von 1972 bis auf einige „Vorzeigeobjekte“ generell als nicht mehr erhaltungswürdig eingestuft. Knapp 4.000 Wohnungen fielen so bis 1980 dem Abriss zum Opfer. Viele Altbauten verfielen nach dem Krieg langsam und unrettbar, da ihre undichten Dächer und Fenster oder die beschädigten Mauerwerke nicht repariert oder saniert wurden.73 Auch in Rostock bildeten sich aufgrund der unterschiedlichen Lebensbedingungen in den Neu- und Altbauvierteln segregative Tendenzen heraus. In den Altbauquartieren blieben vor allem ältere Menschen wohnen, während die jungen Familien in die Neubauviertel zogen. Zudem wurden in der teilweise heruntergekommenen Kröpeliner-Torvorstadt und in der östlichen Altstadt sozial Schwache und Randgruppen eingewiesen, so dass hier in den achtziger Jahren Problembereiche entstanden.74 Die Erfolge der Rostocker Stadtplanung für die Innenstadt lagen eher im Kleinen, im Detail einzelner Lösungen, die sich in das Gesamtbild einfügten. Ein besonders gelungenes Beispiel für die Zusammenarbeit von Stadt und Bezirk gegen den anfänglichen Widerstand aus Berlin war die große Sport- und Kongress-
72 IRS, Sammlungen, NL Urbanski, Aufbau Stadtzentrum. Zur Jakobikirche vgl. STA Rostock, Rep. 211, Nr. 4242 (Stadtbauamt, 1957–1960). Zur Ostseewoche vgl. Lu Seegers, „Die Zukunft unserer Stadt ist bereits projektiert“. Die 750-Jahrfeier Rostocks im Rahmen der Ostseewoche 1968, in: Von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit, S. 61–106. 73 LA Greifswald, Rep. 200, 3.1.1., Nr. 165, Bl. 184–196 (Büro für Territorialplanung) 74 In den Akten sind die Beschwerden der Bewohner an den Rat der Stadt bzw. das Stadtbauamt nachzulesen, z. B. in: STA Rostock, Rep. 211, Nr. 4228 (Stadtbauamt, 1961).
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halle, die 1979 nahe dem Hauptbahnhof eingeweiht wurde. Sie kam nur im Zuge intensiver Aushandlungsprozesse von Vertretern der Stadt mit der Bezirks-SED zustande, die das Projekt in Berlin „durchbringen“ konnte. Ohne diese Lobbyarbeit wäre es bei der zuvor aus Berlin bestätigten kleinen Lösung geblieben.75 Großsiedlungsbau der siebziger und achtziger Jahre Die bandstadtartige Entwicklung entlang der Unterwarnow wurde in den siebziger Jahren mit dem Bau der Großsiedlungen Evershagen (1971–1974), Lichtenhagen (1974–1976), Schmarl (1976–1978) und Groß-Klein (1979–1981) für insgesamt über 130.000 Bewohner fortgesetzt. Der Überseehafen und umfangreiche Nachfolgeinvestitionen trugen zur Sicherung des Wachstums der Stadt bei. 1975 erreichte Rostock die Zahl von 200.000 Einwohnern. Zu Beginn der achtziger Jahre erfolgte im Wohnungsbau der Wechsel auf die östliche Warnowseite mit den Wohngebieten Dierkow (1981–1983) und Toitenwinkel (1987–1989). Die große Entfernung der Wohngebiete zum Zentrum bedingte für einen Teil der Bewohner, die nicht bei den nahe gelegenen Betrieben wie der Warnowwerft beschäftigt waren, lange Wege zur Arbeit. Die Anbindung über den öffentlichen Nahverkehr war aber vergleichsweise gut, auch wenn der Ausbau der Verkehrsmittel mit dem schnellen Bevölkerungswachstum kaum mithalten konnte. Vor allem im Arbeiterberufsverkehr kam es regelmäßig zu Engpässen.76 Die Versorgung in den Wohnkomplexen war auch in Rostock in den ersten Jahren nach deren Fertigstellung in der Regel noch mangelhaft. Bereits 1956 war in der Staatlichen Plankommission festgestellt worden, dass der Bau der Nachfolgeeinrichtungen gegenüber dem Bevölkerungszuwachs nicht mithalten konnte. Selbst die Zahl der Kaufhallen war zunächst zu gering für die große Anzahl der neuen Bewohner, Dienstleistungs- und Freizeitangebote, Gaststätten oder Jugendklubs fehlten anfangs oft vollständig. Frauen klagten regelmäßig über mangelhafte Waschund Trockenmöglichkeiten. Erst nach einigen Jahren und nach Protesten der Bevölkerung besserte sich dieser Zustand allmählich. Die Versorgung mit Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten war hingegen zumeist schon zu Beginn ausreichend. Hier war die Klassenfrequenz oft günstiger als in der Altstadt. Das generelle Problem der Unterversorgung der Wohngebiete konnte jedoch bis 1990 nicht behoben werden.77
75 Entwurf von Konrad Brauns und Rudolf Lasch, Architekturführer Rostock, S. 31; Interview mit H. Gundlach, Mitgl. des Rates des Bezirkes, am 11.11.2002. 76 Zur Geschichte des Nahverkehrs vgl., Rostocker Straßenbahn AG. Menschen, Technik, Episoden, Rostock 2001. 77 SAPMO/BArch Berlin, DE 1 (Staatliche Plankommission), Nr. 4677; STA Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 4868, StVV-Sitzung vom 14.2.1966.
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Abb. 5: Großsiedlungsbau im Nordwesten Rostocks. Blick von Evershagen nach Lütten Klein, um 1975; Quelle: IRS, Sammlungen, NL Urbanski, K 26 Lütten Klein I
Die Revitalisierung der Altstadt in den achtziger Jahren Im letzten Jahrzehnt der DDR erlebte die Innenstadt von Rostock eine Renaissance. Zwischen 1983 und 1986 wurden im Rahmen des innerstädtischen Wohnungsbaus in der nördlichen Altstadt in einer modifizierten Plattenbauweise mit glasierten Klinkerelementen über 500 Wohnungen geschaffen. Dabei orientierten sich die Architekten am überkommenen Straßennetz und an historischen Vorbildern, vor allem am Typus des gotischen Speichers. Gastronomische Einrichtungen und Geschäfte wurden angesiedelt, Straßen und Plätze durch Wasserläufe und Plastiken gestaltet. Das ästhetische Ergebnis der Wohnbauten war aber auch in Rostock, wie schon in anderen Städten, insgesamt mäßig, da der starre industrielle Plattenbau nicht angemessen auf die kleinteiligen Strukturen der gewachsenen Altstadt reagieren konnte.78
78 Erich Kaufmann, Gedanken zum innerstädtischen Bauen in der nördlichen Altstadt von Rostock, in: Architektur der DDR, Nr. 11 (1984), S. 647–653.
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Abb. 6: Der neu gestaltete Universitätsplatz und die Kröpeliner Straße, um 1987. Im Vordergrund der 1980 eingeweihte „Brunnen der Lebensfreude“, dahinter der ein Jahr zuvor fertig gestellte Eckbau zur Breiten Straße mit dem „Cafe Rostock“ in einer modifizierten Plattenbauweise. Der Bau markierte den Beginn des innerstädtischen Wiederaufbaus. Die daran anschließenden Giebelhäuser wurden zum Teil in den 1980er Jahren rekonstruiert; Quelle: IRS, Sammlungen, NL Urbanski, K 25 Stadtzentrum
Auch in Rostock trugen das Denkmalschutzjahr 1975 und die 1977 in der Stadt ausgetragene ICOMOS-Konferenz zu einem Umdenken hinsichtlich des Umgangs mit dem baulichen Erbe bei. Östlich des Abrissgebietes in der Nördlichen Altstadt wurde nun dazu übergegangen, den noch vorhandenen Bestand zu erhalten. In der Wokrenter Straße wurde eine komplette Straßenseite von historischen Giebelhäusern rekonstruiert, bauhistorisch wertvolle Ensembles wie das Kloster zum Heiligen Kreuz wurden restauriert. Die Baumaßnahmen respektierten und tradierten im Wesentlichen die hanseatischen Traditionen der Stadt an der Warnow. Verwendet wurden offene Backsteinfassaden oder Schmuckelemente aus Terrakotta und typische Giebelformen in Anlehnung an die historischen Patrizierhäuser, so am Universitätsplatz (Hopfenmarkt) und in der Kröpeliner Straße. Hier entstanden in traditioneller Weise errichtete Rekonstruktionen und teilweise industriell gefertigte Neubauten, vor allem das 1986 fertig gestellte Fünfgiebelhaus. 79 In Verbindung mit 79 Architekt, Peter Baumbach. Von Kriegsende bis 1983 hatten dort provisorische Baracken gestanden. Vgl. dazu auch den Aufsatz von Frank Betker in diesem Band sowie Dirk Weise,
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einer attraktiven Neugestaltung des öffentlichen Raums mit Brunnen, Bänken und Grünanlagen trugen sie erheblich zu einer Neubelebung des Zentrums bei. Auch die Planungen zur Sanierung der östlichen Altstadt Mitte der achtziger Jahre ließen einen behutsameren Umgang mit der alten Stadt erkennen. Ein Kahlschlag wie in der nördlichen Altstadt war hier nicht mehr vorgesehen. Dennoch hätten auf Dauer weitere Teile der Altbausubstanz dem Ersatzneubau weichen müssen, da die Kapazitäten zur Erhaltung fehlten. Die Wende kam auch in Rostock für viele Gebäude in letzter Minute.80 Bürgerschaftliches Engagement in Rostock Zahlreiche Menschen engagierten sich für die Entwicklung ihrer Stadt, ließen sich aber dennoch nicht für die Ziele des Staates instrumentalisieren. Klagen von Seiten der SED über die ungenügende freiwillige Mitarbeit der Bevölkerung in den Stadtbezirks- und Wohnbezirksausschüssen der Nationalen Front oder als Haus- und Straßenvertrauensleute ziehen sich in den Akten über fast den gesamten Zeitraum der DDR hin.81 Nach dem Krieg und in den fünfziger Jahren stand die Aufbauarbeit im Vordergrund: die Enttrümmerung und die Arbeit im Nationalen Aufbauwerk (NAW). Zahlreiche Gebäude wurden unter Mithilfe der Einwohner errichtet oder instand gesetzt. Dabei spielte die Herkunft eine geringe Rolle. Die Arbeit im Betrieb und die Aufbauhilfe machten alle zu Bürgern der Stadt.82 Die Ausgestaltung der Stadt lag vielen Menschen am Herzen. Sie machten Vorschläge, beispielsweise für die Anlage von Parks oder die Bebauung des Neuen Marktes. Andere nahmen Stellung zu bestimmten Projekten oder übten Kritik an Mängeln, etwa in der Versorgung oder beim Nahverkehr. Häufig wurden mehr Spielplätze gefordert, damit die Kinder nicht gezwungen waren, auf der Straße zu spielen. Andere beschwerten sich über unfreundliches Verkaufspersonal oder herablassende Beamte.83 Massive Kritik bis hin zu offenen Protesten kam vereinzelt in besonderen Situationen auf, wie bei der Sprengung der Christuskirche.84 Ein ständiger Streitpunkt mit der Stadtverwaltung war der Zustand der Altbauten, der sich kontinuierlich verschlechterte. Der Verfall der Stadt war auch in Ro-
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Fünfgiebelhaus am Universitätsplatz in Rostock, in: Architektur der DDR, Nr. 12 (1987), S. 20–22. Zur Sanierung der östlichen Altstadt vgl., STA Rostock, Thematische Dokumentensammlung, Kasten 2.4.4./2 die städtebauliche Leitkomposition (Grundplan) vom 30.10.1985 (BfS) für die östliche Altstadt sowie die Entwicklungskonzeption der Stadt Rostock 1986–1990 vom 15.10.1986; darin sind weitere Abrisse in den Bereichen Reutershagen, östliche Altstadt, Wilhelm-Pieck-Ring/Saarplatz vorgesehen. Zum Beispiel STA Rostock, Rep. 211., Nr. 4800, Sitzung vom 20.10.1953. Zu den Problemen mit den Vertriebenen vgl. Möller, Wunder an der Warnow?, S. 34–37. Zahlreiche Zeichnungen und Pläne finden sich in den Akten, z. B. in: STA Rostock, Rep. 211, Nr. 4227 (Beschwerden und Hinweise der Bevölkerung). Diederich, Aus den Augen, S. 129–129. Vgl. auch Thomas Wolfes, Zwischen Gigantomanie und Pragmatismus, in: Reif u.a., Industriestädte in der SBZ/DDR, Abschlussbericht, S. 133– 135.
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stock eine Ursache für das Aufbegehren.85 In den achtziger Jahren entstand eine kleine politische und soziale Gegenkultur. Junge Menschen betätigten sich in kirchlichen und ökologischen Gruppen. Sie schufen eigene Kommunikationsstrukturen und setzten sich für die Belange des Umweltschutzes ein, etwa bei Bebauungsplänen, Verkehrsprojekten oder gegenüber den Kombinaten. In der östlichen Altstadt etablierte sich eine Musik- und Literaturszene. Aus diesen Gruppen entwickelten sich im Herbst 1989 die Bürgerbewegungen.86 Bilanz Die Entwicklung der Städte in der DDR folgte unter den Bedingungen der zentralen Planung, der politisch-ideologischen Zielsetzung und des ökonomischen Mangels mit zunehmender Tendenz einem starren Grundschema, das bestimmt wurde durch die unterschiedlichen wechselnden städtebaulichen Leitbilder, den großflächigen Verfall der überkommenen Bausubstanz zugunsten des Baus von überwiegend peripheren, später auch innerstädtischen Wohngebieten, einen geringen Eigenheimbau, eine hohe Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs und eine schwache Umlandzersiedlung. In der Territorialplanung wurde zur effizienten Nutzung der knappen materiellen Ressourcen ein möglichst effizientes Siedlungs- und Versorgungsnetz und damit ein System der kurzen Wege angestrebt. Das Ausmaß der Entwicklung wurde im Wesentlichen von den Interessen des Staates an der jeweiligen Stadt bzw. von ihrer ökonomischen und administrativen Bedeutung bestimmt. Abweichungen von diesem System waren die Ausnahme und von den lokalen Verwaltungen nur durch besondere Gegebenheiten zu rechtfertigen und zudem von Berlin zu bestätigen. Mit der Relevanz einer Stadt für die DDR, mit ihrer Bedeutung im hierarchischen Städtesystem, wuchs prinzipiell ihr Gestaltungsspielraum, andererseits konnte bei wichtigen Projekten die Einflussnahme durch Staat und Bezirk zunehmen. Die größeren Industrie- und Bezirksstädte verfügten in ihren Verwaltungsapparaten und nachgeordneten Dienststellen über die mit entsprechenden Kompetenzen ausgestatteten Mitarbeiter, beispielsweise mit den Chefarchitekten und den Büros für Stadtplanung (BfS), aber auch in anderen Bereichen, wie dem medizinischen oder sozialen Sektor. Da diese Städte in der Regel über Universitäten und Fachhochschulen verfügten, konnten sie kontinuierlich neue qualifizierte Fachkräfte aus diesen Institutionen gewinnen oder Experten für besondere Aufgaben, etwa als Mitglieder in den Kommissionen der Stadtverordnetenversammlung oder als externe Berater, heranziehen.87 Daher begnügten sich Partei und Staat hier 85 Von Saldern, Zusammenfassung, S. 391–392; Beschwerden über die Vernachlässigung finden sich in den Akten in großer Zahl, z. B. in: STA Rostock, Rep. 211, Nr. 6533, Sitzung vom 14.03.1985. 86 Lothar Probst, „Der Norden wacht auf“. Zur Geschichte des politischen Umbruchs in Rostock 1989–1991, Bremen 1993. 87 In den Protokollen der Stadtverordnetenversammlung finden sich zahlreiche Hinweise auf die Arbeit externer Fachleute, z. B. in: STA Rostock, Rep. 211, Nr. 4808 (Sitzung vom 16.10.1956).
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häufig mit ihren Kontroll- und Bestätigungsrechten. Andererseits konnte Berlin jederzeit die Leitung eines Projektes an sich ziehen, wenn dies für notwendig erachtet wurde. Mehrfach belegt ist auch die persönliche Einmischung Walter Ulbrichts in laufende Planungen.88 Der Einfluss der städtischen Ebene ließ sich durch eine enge Abstimmung mit dem Bezirk und über informelle Wege, wie die Bildung von Netzwerken, ausweiten. Mit der Unterstützung der Funktionäre des Rates des Bezirks und der SED-Bezirksleitung konnte ein Projekt in Berlin leichter durchgesetzt werden, gegen den Bezirk hingegen kaum. Doch kam es nicht selten auch zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen beiden Ebenen. Die Bezirksverwaltungen mischten sich in der Regel sehr viel stärker in die lokalen Angelegenheiten ein als der Staat. Die Aushandlung von Kompromissen mit der übergeordneten Ebene und der Partei spielte eine zentrale Rolle für eine aussichtsreiche Stadtentwicklungspolitik. Kleinere Städte, die weder die Unterstützung der Regierung noch des Bezirks erwarten konnten, hatten einen schwereren Stand. Hier bestand die Möglichkeit, Kontakte zu örtlichen Betrieben und Institutionen und die Unterstützung der Bevölkerung über Aufbauaktionen zu nutzen.89 Auch die Entwicklung Rostocks folgte im Wesentlichen dem Muster der DDRStadtentwicklung. Aufgrund der Bedeutung, der Größe und des raschen Wachstums der Stadt war die Umsetzung der jeweiligen Leitbilder hier sehr ausgeprägt, vom Städtebau der fünfziger Jahre mit der Langen Straße, dem Großsiedlungsbau der siebziger Jahre und der Vernachlässigung der Altbausubstanz bis hin zur Wiederbelebung der Innenstädte in den achtziger Jahren. Dasselbe lässt sich zudem für die sozialräumlichen Prozesse, vor allem das Auseinanderdriften von Alt- und Neubaugebieten und die zunehmende Segregation sowie die Unzufriedenheit mit der Ausstattung der Wohngebiete, feststellen. Die insgesamt relativ erfolgreiche Entwicklung Rostocks seit 1945 resultierte zu einem nicht unwesentlichen Teil aus dem engen Zusammenwirken von Stadt und Bezirk sowie der Nutzung informeller Netzwerke, wie die nicht vorgesehene Beteiligung an der Planung von Investbauten, der Konflikt mit Berlin 1958/59 um das Ausmaß der Förderung sowie der Bau der Sport- und Kongresshalle 1978/79 zeigen. Zudem verfügte die Stadt aufgrund ihrer zentralen Funktionen und ihrer internationalen Bedeutung als Hafenstadt über eine starke Stellung innerhalb der Städtehierarchie, die den lokalen Funktionären vergleichsweise große Handlungsspielräume gestattete, auch im Bereich der Stadtplanung und des Bauwesens.90 Die Entwicklung zu einer stark ausgeprägten Bandstadt mit einer Ausdehnung von fast zwanzig Kilometern entsprach den örtlichen Gegebenheiten und war daher konsequent, wenn auch nicht im Sinne der 16 Grundsätze, die eine konzentrische Stadterweiterung forderten. Die Altstadt hingegen geriet damit nicht nur geogra88 Georg M. Diederich, Aus den Augen, S. 64–67. 89 Die Vorwürfe gegenüber dem Bezirk bezogen sich beispielweise auf die Aufhebung oder Abänderung kommunaler Beschlüsse. In Rostock wurde eine Einmischung beim Bau der Langen Straße beklagt, vgl. STA Rostock, Rep. 2.1.1., Nr. 4808, Sitzung der StVV vom 16.10.1956. Zu den informellen Aushandlungsprozessen vgl., Von Saldern, Zusammenfassung, S. 361–362. 90 Interview mit Henning Schleiff, 29.9.2003.
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phisch in eine Randlage, sie war im Verhältnis zur Gesamtstadt und der Einwohnerzahl spätestens seit Mitte der siebziger Jahre auch zu klein, um den Bedarf an zentralen Funktionen zu decken. Da die Wohngebiete in der Regel stark unterversorgt waren, wurde die Fahrt in die Innenstadt für die Befriedigung spezieller Bedürfnisse, für Behördengänge und zur Nutzung des kulturellen Angebots unumgänglich, obwohl das Zentrum vor allem im Sommer wegen der Urlaubsgäste ohnehin stark überfrequentiert war, so dass lange Wartezeiten und Engpässe auch in der „privilegierten Stadt“ die Regel waren. Auch die Ausstattung der Altstadt entsprach aufgrund der Kriegszerstörungen und der späteren defizitären Entwicklung nicht den Bedürfnissen einer Großstadt mit 200.000 Einwohnern. Viele der geplanten Bauvorhaben wie das Theater, die Warnowbrücke oder der Volkspark in Lütten Klein wurden aus propagandistischen Gründen zu groß und zu aufwendig projektiert, um tatsächlich realisierbar zu sein. Sie sollten das Volk beeindrucken und der städtebaulichen Inszenierung des Sozialismus dienen. Doch anstelle einer Mobilisierung hatte die ständige Aufgabe der urbanen Visionen eine Ernüchterung und Enttäuschung in der Bevölkerung zur Folge.91 Bei den zentralen Planungen, vor allem dem Bebauungsplan für die Umgestaltung des Stadtzentrums von 1968/69, hingegen bewahrte die Nichtverwirklichung die Stadt vor weitaus stärkeren Eingriffen in den Bestand. Die knappen Mittel kamen so über den Wohnungs- und Gesellschaftsbau zumindest teilweise der Bevölkerung zugute. Erfolgreich war die Stadt bei der Realisierung kleinerer Projekte, beim Wiederaufbau in den fünfziger und bei der Stadtreparatur und der Wiederbelebung der Innenstadt in den achtziger Jahren, bei der erwähnten Sport- und Kongresshalle oder auch beim innerstädtischen Wohnungsbau. Stadt und Bezirk legten zudem gemeinsam Wert auf die Bewahrung und Weitertradierung des historisch überlieferten Stadtbildes. Über die Arbeit der gemeinsamen Architekturkommission gelang es im Wesentlichen, einen Ausgleich zwischen dem fortschreitenden Wachstumsprozess und dem historischen Erbe der Hansestadt zu erzielen.92 Dies trug zur positiven Imagebildung der Stadt bei, die darüber hinaus von der Schiffbauindustrie und Rostocks günstiger Lage geprägt wurde.93 Die meisten Bewohner fühlten sich hier in der DDR-Zeit wohl und entwickelten ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu Rostock, auch wenn sie aus anderen Teilen der DDR stammten. 1981 bekundeten bei einer Umfrage 87,1 Prozent der Befragten, dass sie in Rostock wohnen bleiben wollten.94 Seit der Wende muss sich Rostock der internationalen Konkurrenz stellen. Seitdem hat die Stadt infolge des weitgehenden Verlustes der Industrie, des Geburten91 STA Rostock, Rep. 211, Nr. 5869, Eingaben zum Abriss der Christuskirche. Die Eingaben enthalten auch zahlreiche kritische Bemerkungen zu den Umgestaltungsplanungen des Stadtzentrums 1969/70; Interview mit A.-K. M., 15.8.2002. 92 STA Rostock, Rep. 211, Nr. 5192, StVV-Sitzung vom 16.1.1969. 93 Thomas Wolfes, Rostocks Entwicklung zur sozialistischen Industriestadt, in: Reif u.a., Industriestädte in der SBZ/DDR, Abschlussbericht, S. 113–118, hier S. 113. 94 Thomas Krickhahn, Stadtsoziologische Erhebungen in acht Städten der DDR (= Der Hallesche Graureiher. Forschungsberichte des Instituts für Soziologie), MLU Halle-Wittenberg 1985, S. 40 ff.
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rückgangs und der Abwanderung mehr als 50.000 Menschen verloren. Zudem hat der Verlust der Funktion als Bezirksstadt Rostock empfindlich getroffen. Dennoch zeichnet sich derzeit eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation und der Einwohnerentwicklung ab, wenn auch auf einem niedrigeren Niveau als bis 1990. Der Hafen, der Fährverkehr und der Tourismus bilden die Basis für die weitere Entwicklung Rostocks.
VISIONEN UND REALITÄTEN IN DER ENTWICKLUNG DER STADT NEUBRANDENBURG Brigitte Raschke Einleitung In den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs löschte eine von Soldaten der Roten Armee gelegte Feuersbrunst fast die gesamte Innenstadt Neubrandenburgs aus. Obwohl sofort mit planerischen Überlegungen zum Wiederaufbau begonnen wurde und die Stadt im Zuge der Bezirksreform eine erhebliche Funktionsaufwertung erfuhr, dauerten der Wiederaufbau und der mit dem neuen Status verbundene Neubau administrativer und repräsentativer Gebäude bis weit in die siebziger Jahre. Worin lagen die Ursachen, wenn ein dem Bedarf entsprechender zügigerer Bauund Entwicklungsverlauf der Stadt nicht richtig anlief und oftmals sogar ausgebremst wurde? Die Gründe hierfür sollen im Folgenden an Beispielen von Planungs-, Entwurfs- und Bauvorgängen der wichtigsten innerstädtischen Bauaufgaben anschaulich gemacht werden. Als Neubrandenburg 1952 zur Bezirksstadt erhoben wurde, war ihr zuvor der Status einer Aufbaustadt der vierten und damit untersten Kategorie zuerkannt worden. Die mit dieser Eingruppierung verbundene Förderung vermochte den Wiederaufbau nicht in Gang zu bringen, denn ‚vierte Kategorie‘ bedeutete nicht mehr als ein propagandistischer Appell zum Wiederaufbau mit einem gesetzlich untermauerten Versprechen zur finanziellen Unterstützung. Der politisch-territorialen Funktionszuweisung von 1952 ein politisch-ideologisches Kalkül zu unterstellen und damit die Begünstigung der unbedeutenden Kreisstadt Neubrandenburg vor der benachbarten ehemaligen Residenzstadt Neustrelitz zu begründen, verweist nur auf den pragmatischen Aspekt dieser Entscheidung. Hinsichtlich der Bevorzugung der Stadt Neubrandenburg vor Neustrelitz dürfen vielmehr zwei Aspekte nicht unterschätzt werden: Das bereits als Aufbaustadt erworbene Anrecht auf finanzielle Zuwendung für den Wiederaufbau sowie die günstige Verkehrslage, die schon als Begründung für die Zuerkennung des Status der Aufbaustadt herangezogen wurde. Dementsprechend hieß es jetzt – im gleichen Wortlaut wie zur Begründung der Erklärung zur Aufbaustadt: „Neubrandenburg liegt ganz zentral. Verkehrsmäßig ist es der Schnittpunkt der Verbindung von Berlin zur Ostsee und der Ost-West-Verbindung Hamburg-Stettin. […] Als Bezirksstadt kann kein besserer Punkt gewählt werden.“1
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Sitzung zum Stadtbebauungsplan in Neubrandenburg, 6.7.1954, B-Arch, DH1 38569.
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Der Status Aufbaustadt war nicht mehr als ein – schlechter – Listenplatz in der Gruppe der Aufbaustädte. Daraus resultierte auf der einen Seite der Auftrag, dem Status Aufbaustadt gerecht zu werden und, wie es das Aufbaugesetz forderte, baldmöglichst mit dem Wiederaufbau des Stadtzentrums zu beginnen. Auf der anderen Seite verhinderte der schlechte Listenplatz eine Ausstattung mit dem zum Aufbau nötigsten. Neubrandenburg verfügte über keine eigenen Entwurfsbüros und hatte mit deren Einrichtung und der Entsendung kompetenten Planungspersonals zu warten, bis wichtigere Städte wie Wismar, Rostock, Warnemünde, Boizenburg, Stralsund, Saßnitz, Wolgast und Peenemünde mit ‚Kollegen‘ versorgt waren. Erste Aufbaupläne Auch den Bebauungsplan für die zerstörte Innenstadt brachte 1951 der Architekt Albrecht Jaeger2 vom überregional tätigen ‚Entwurfs- und Bauleitungsbüro Mecklenburg‘ ein. Da sich dessen Zuständigkeit über eine Vielzahl anderer mecklenburgischer Ackerbürgerstädte mit ähnlicher Aufgabenstellung erstreckte, konnte er keinen den tatsächlichen Anforderungen angepassten Bebauungs- und Entwurfsplan anfertigen. Sein Bebauungsplan blieb folglich schematisch und ohne gesicherte Finanzierungsgrundlagen. Unter vergleichbaren Bedingungen kamen in der DDR eine Reihe erster städtebaulicher Wettbewerbe zur Auslobung. Die meisten dieser Wiederaufbauprojekte wurden dann ohne bestätigte Aufbauplanungen auch begonnen. Nicht so in Neubrandenburg: Hier scheiterte 1953 der erste Entwurf für ein Kulturhaus an der viel zu hoch angesetzten Bausumme von acht Millionen Mark, welche weder die Plankommission noch die Stadt in der Lage waren aufzubringen.3 Völlig konträr dazu steht die Kritik des Architekturbeirats, der eine ungenügende städtebauliche Dominanz des Kulturhauses gegenüber den Entwurfsvorstellungen für das Hotel beanstandete, dessen Hauptgesimshöhe das Kulturhaus um eineinhalb Meter überragen sollte. Beides, die Unfähigkeit zu einer klaren Abschätzung der Baukosten sowie die Klärung zur Frage der Beschaffung der Investitionsmittel zum Bau auf der einen Seite und die Forderung nach Dominanz des Repräsentativbaus Kulturhaus durch den Beirat auf der anderen Seite, ist symptomatisch für den Wiederaufbau in Neubrandenburg und noch viel mehr für seine Verzögerung. Höhere Investitionssummen konnte die Stadt nur mit einem Bedeutungszugewinn erwirken und dieser wiederum speiste sich – vereinfacht gesagt – aus einer positiven Wahrnehmung der Stadt im Politbüro und aus einem Zuwachs der Einwohnerzahl. Weder die überaus gute Verkehrslage noch der zu erwartende Zuwachs an bezirklichen Verwaltungsaufgaben wie im städtebaulichen Regelwerk der 16 Grund2
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Albrecht Jaeger, geb. 1.1.1900 in Breslau, Architekturstudium, 1952 Chef des Stadtplanungsamts in Rostock als Nachfolger von Kurt W. Leucht, 1953 Stadtarchitekt in Rostock, später Chefarchitekt, 1958 Übersiedelung in die Bundesrepublik Deutschland. Vgl. Brigitte Raschke, Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung von Neubrandenburg in der Zeit zwischen 1945 und 1989, München 2005, S. 87. Städteplanungskommission 15.4.1953, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 167.
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sätze des Städtebaus fixiert, reichten aus, um für die Stadt eine günstige städtebauliche Prognose aufzustellen, denn:
„Städte ‚an sich‘ entstehen nicht und existieren nicht. Die Städte werden in bedeutendem Umfang von der Industrie für die Industrie gebaut.“4
Für das Territorium der DDR galten, abgesehen von der mit der Teilung Deutschlands entstanden Notwendigkeit, im Osten Schwerindustrie zu etablieren, andere Kriterien für den Begriff Industrie als etwa in Westeuropa. „Industrie ist nicht nur im engen Sinne zu verstehen, sondern sie ist der für eine Stadt bestimmende wirtschaftliche Faktor wie: Handel, Verkehr, Kulturbetriebe.“5
Dies waren die so genannten städtebildenden Faktoren, es sei denn, sie dienten nur der Versorgung der Wohnbevölkerung einer Stadt. Die städtebildenden Faktoren bildeten die legitimierende Basis für die Existenz und Größe einer Stadt. Zur Bestimmung der Faktoren wurden Fachministerien und der Rat der Stadt, der für die einzelnen Planwerke verantwortlich zeichnete, angehört. Die volkswirtschaftliche Planung hatte damit einen bis dahin nie da gewesenen Einfluss auf den Städtebau erlangt und sollte in der Folgezeit bestimmend für die Standortwahl und Investition beim Wohnungsbau werden. Die Stadtentwicklung Neubrandenburgs war zudem untrennbar an die wirtschaftlichen Voraussetzungen des schwach besiedelten Nordbezirks gebunden. Der galt als industriell und kulturell rückständig und gleichzeitig als der bäuerlichste in der gesamten DDR. Überdies wies Neubrandenburg den höchsten Zerstörungsgrad in Mecklenburg auf. Was die Stadt vor dem Kriege an Industrie, oder besser gesagt an Gewerbe der Lebensmittelherstellung und Landmaschinenreparatur hatte, war demontiert. Als das Ministerium für Aufbau im Dezember 1951 die Aufstellung einer städtebaulichen Gesamtanalyse veranlasste, wurde im Ergebnis ein weit unter den Erfordernissen liegender Anteil Erwerbstätiger in der Wohnbevölkerung ermittelt. Das Ministerium schloss deshalb auf einen ‚biologischen Schwund‘. Daher werde die Stadt: „auch in ferner Zukunft eine Einwohnerzahl von 30.000 kaum erreichen“.6
Noch einmal sei das Bild von einem günstigen oder schlechten Listenplatz bemüht, denn als die Stadt Bezirksstadt wurde, stieg ihr Ansehen im Vergleich zu anderen Städten ganz erheblich, und doch war sie bis Anfang der siebziger Jahre zumeist das Schlusslicht in der Gruppe der Bezirksstädte. Unter dem Druck der Umstände und in Ermangelung einer schnellen Lösung hatte der Bezirksrat bereits Mitte August 1952 beschlossen, die Bezirksverwaltung wegen des Fehlens von Verwaltungsräumen und Wohnraum für ihre Mitarbeiter vorläufig in Neustrelitz unterzubringen. Diese Interimslösung sollte bis 1969 andauern.
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Vgl. 16 Grundsätze des Städtebaus, Punkt 3. 27. Besprechung im Ministerium für Städtebau der SU, 29.4.1950, B-Arch, DH1 44475. Gesamtanalyse zur städtebaulichen Planung von Neubrandenburg, des Ministeriums für Aufbau, gez. Leucht, 28.12.1951, S. 3, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 167.
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Handlungsspielräume Schärfere Konturen nahmen die Definition eines städtischen Selbstverständnisses und die Aktivitäten zum Wiederaufbau an, als Hans Jendretzky nach dem 15. Plenum des Zentralkomitees im Juli 1953 Vorsitzender des Bezirksrats wurde.7 Mit ihm kam ein Politiker in den Nordbezirk, der mit städtebaulichen Fragen aus seiner Berliner Zeit aufs Beste vertraut war. Dort war er Mitglied einer Kommission gewesen, die vermittelnd zwischen den Planern der Stalinallee und dem Politbüro agierte. Darüber hinaus zeichnete er für die Organisation des Programms des Nationalen Aufbauwerks verantwortlich.8 Jendretzky verfügte über ausgewiesene Kontakte und Kenntnisse in der Organisation des Wiederaufbaus und verstand es, die sich daraus ableitbaren Handlungsspielräume zu nutzen. Da er überdies seine Abordnung in die Provinz als Makel begriff, war er umso mehr bemüht, die Bezirksstadt aufzuwerten. Kaum im Amt und noch in der Anfangsphase der Debatte um die städtebildenden Faktoren, ging Jendretzky in der Frage der anstehenden Zentrumsbebauung in die Offensive. Er nutzte seine alten Kontakte zum Architekten Hermann Henselmann, der ihm einen im Städtebau erfahrenen Mitarbeiter seiner Meisterwerkstatt, den Architekten Walter Franek,9 schickte. Dieser übernahm sogleich die Aufstellung eines Bebauungsplans. Aber solange die städtebildenden Faktoren nicht ausreichend bestimmt waren und damit keine klare Perspektive für das Stadtwachstum vorlag, konnten die Volumina und das Raumprogramm für die Bebauung am Zentralen Platz nicht hinreichend definiert werden. Sollte zügig geplant und gebaut werden, musste Jendretzky auch die Ermittlung der städtebildenden Faktoren forcieren. Im Einklang mit der örtlichen SED-Leitung konfrontierte er das Ministerium für Aufbau, das, angelehnt an die Gesamtanalyse von 1951 von einer maximalen Einwohnerzahl von 35–40.000 ausging, mit der Forderung, die Stadt auf 80–100.000 Einwohner zu entwickeln. Er argumentierte mit dem völligen Fehlen städtischer, sozialer und kultureller Einrichtungen, das nur mit einer 7
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Jendretzkys glänzende und ehrgeizige Karriere in Berlin geriet mit den Ereignissen des 17. Juni, der Affäre um Wilhelm Zaisser und Rudolf Herrnstadt und deren Sturz vorübergehend ins Stocken. Seine Position in Neubrandenburg kam einer Degradierung gleich, blieb jedoch nur ein Intermezzo. Nachdem 1956 die über ihn verhängte Parteistrafe wieder aufgehoben worden war, wurde er 1957 rehabilitiert und kehrte in das Zentralkomitee der SED zurück. Vgl. Raschke, Wiederaufbau von Neubrandenburg, a.a.O., S. 94 f. Werner Durth/Jörn Düwel/Nils Gutschow, Architektur und Städtebau der DDR, 2 Bde., Frankfurt/Main, ect. 1998, Bd. 1, Ostkreuz, S. 272. Walter Franek, geb. 18. Dezember 1901 in Leipzig, Maurerlehre, Besuch der Städtischen Gewerbeschule und der Höheren Staatsbauschule in Leipzig, ab 1922 in verschiedenen Architekturbüros in Bremerhaven, ab 1926 in Halle/Saale. 1923–1926 Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Berlin mit mehreren Unterbrechungen, danach bis 1950 eigenes Architekturbüro in Leipzig, Jüterbog und Bernburg/Saale. 1935–1950 Bebauungspläne für 22 Städte und Dörfer, 1951 Eintritt in die Deutsche Bauakademie als Leiter der Planungsgruppe Berlin. 1953 bis ca. 1955 Chefarchitekt von Groß-Berlin unter H. Henselmann und Leiter einer Meisterwerkstatt Städtebau, 1952 1. Preis beim Wettbewerb für die zentrale Achse der Magistrale in Stalinstadt, 1953 1. Preis beim Wettbewerb um die Bebauung der Magistrale, des Zentralen Platzes und des Werkseingangs in Stalinstadt, gestorben April 1970. Vgl. Raschke, Wiederaufbau von Neubrandenburg, a.a.O., S. 124 f.
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Erhöhung der Einwohnerzahl zu überwinden sei.10 Seine Initiative, die Ausdehnung der Stadt mit allen Mitteln zu rechtfertigen, zeugt entweder von seiner gänzlichen Unkenntnis des Verfahrens, das von der Staatlichen Plankommission unmissverständlich vorgegeben war, oder von absichtlicher Ignoranz diesem Verfahren gegenüber. Ganz gegen die Bestimmungen der 16 Grundsätze des Städtebaus, welche die Legitimierung der Städte und ihrer Größe vom Vorhandensein der Industrie abhängig machten, trachtete er genau umgekehrt nach der Schaffung materieller, gesellschaftlicher und kultureller Anreize, um die Einwohner zum Bleiben in der Stadt zu bewegen oder um neue in die Stadt zu holen. Gleichzeitig plädierte er für eine stärkere Förderung des Wohnungsbaus, der bisher materiell nicht einmal mit dem Nötigsten versorgt sei. Er forderte den Ausbau der heimischen Lebensmittel- und Holz-Industrie, gekoppelt an die agrarischen Voraussetzungen des Nordbezirks, und setzte sich für eine bessere Berufsausbildung im landwirtschaftlichen Sektor ein.11 Dazu nutzte Jendretzky noch einmal seine Berliner Kontakte und wandte sich persönlich an den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission Bruno Leuschner.12 Was er darlegte, bezeichnete der Leiter des im Sommer 1954 vom Aufbauministerium hinzugezogenen Staatlichen Entwurfsbüros für Stadt- und Dorfplanung in Halle, Hans Mertens, als ein Aufblähen der örtlichen, also für gesteuertes Stadtwachstum irrelevanten Faktoren.13 Die Berlin-Pankower Plankommission ließ Jendretzky mitteilen, dass die von ihm angestrebte Einwohnerzahl der Errichtung einer zusätzlichen Industrie in der Stadt bedürfe, die nur unter größten Anstrengungen und Überforderung der gesamten Volkswirtschaft möglich wäre. Die daraus resultierende Belastung, einschließlich der nötigen Wohnungs- und Folgebauten käme einem Aufwand gleich, der derzeit nur bei ökonomischen Schwerpunktvorhaben unter äußerster Konzentration geleistet werden könnte.14 Die bei der Ermittlung der städtebildenden Faktoren vom Staatlichen Entwurfsbüro geleistete Arbeit empfand man in Neubrandenburg als Einmischung – schon weil die Hallenser Berechnungen nur eine Einwohnerzahl von maximal 44.000 prognostizierten. Zwischen dem staatlichen Entwurfsbüro und der Stadt kam es zum offenen Streit.15 Der Stadtrat hielt an der eigenen Einwohnerberechnung fest und überschrieb die offizielle Prognose kurzerhand mit ‚50.000‘.16 Der Flächennut10 Sitzung zum Stadtbebauungsplan […] Neubrandenburg, 6.7.1954, B-Arch, DH1 38569. 11 Schreiben der Plankommission an den Bezirksrat, 17.6.1955, B-Arch, DE1 4638; Erläuterungsbericht zur städtebaulichen Planung, 28.3.1957, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 381. 12 Schreiben von Jendretzky an den Vorsitzenden der SPK, 21.5.1955, B-Arch, DE1 4638. 13 Schreiben von Mertens an das Ministerium für Aufbau, Koll. Karthaus HV Städtebau und Entwurf, 19.3.1956, B-Arch, DE1 4638. 14 Schreiben der SPK an den Bezirksrat, 17.6.1955, B-Arch, DE1 4638. 15 Schreiben von Mertens an das Ministerium für Aufbau, Koll. Karthaus – HV Städtebau und Entwurf, 19.3.1956, B-Arch, DE1 4638. 16 Schreiben des 1. Stellvertreters des Ministers Staatssekretär Kosel (Ministerium für Aufbau) an den Rat des Bezirks, die Bezirksleitung der SED und den Rat des Kreises, 2.5.1956, B-Arch, DH1 39035; Erläuterungsbericht zur städtebaulichen Planung, 28.3.1957 StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 381.
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zungsplan wurde sogar auf eine Zielgröße von 75.000 Einwohnern angelegt.17 Die Zusammenhänge zwischen einem Stadtwachstum, einem Bedeutungszuwachs und der Freigabe von Investitionsmitteln war längst erkannt. Schien die Auseinandersetzung zur zukünftigen Stadtgröße bis dahin von persönlichem Ehrgeiz und Eitelkeit mitgetragen zu sein, wurde sie 1958, als Otto Rühle,18 der Leiter der Gruppe Perspektivplanung im Wirtschaftsrat des Bezirks, eine Perspektivplanung für die Stadt aufstellte, auf eine wissenschaftlich fundierte Ebene gehoben. Weder dessen Prognosen, noch die Anfang der sechziger Jahre vom Rat des Bezirks mit Billigung des Politbüros in Auftrag gegebene Studie zur Stadtökonomie brachten neue Erkenntnisse. Wohl blieb es bei einer Prognose von 45.000 Einwohnern in naher Zukunft. Gleichzeitig wurde aber nicht mehr ausgeschlossen, dass die Stadt, auch wenn gegenwärtig noch keine ausgeprägte industrielle Spezialisierung zu erkennen sei, auf circa 77.000 Einwohner anwachsen könne.19 Diese Lockerung bei der Festlegung einer industriellen Spezialisierung und damit der städtebildenden Faktoren ging in erster Linie auf die Erkenntnis zurück, dass keines der Industrieministerien und keines der großen Kombinate Anstalten machte, sich in Neubrandenburg niederzulassen. In zweiter Linie war sie Folge der bereits von Jendretzky vertretenen Einsicht, dass Städte keineswegs ihre Berechtigung nur aus dem Vorhandensein von Industrie erhielten, sondern die Bereitstellung von Wohnraum Anlass für Migration und Faktor für das Wachstum der Städte war.20 Im Mittelpunkt der Stadtplanung stand längst die Standortwahl des Wohnungsneubaus, dessen vorgegebenes Volumen als primäre Ausgangsgröße der Stadtentwicklung gesetzt wurde. Mehr Erfolg blieb Hans Jendretzky bei seiner Initiative zum Wiederaufbau beschieden. Es gelang ihm, den von Henselmann protegierten Architekten Walter Franek an die Spitze der Neubrandenburger Entwurfstätigkeit zu setzten und ihm dabei die Option auf den Weg zu geben:
17 Ordentl. Stvv., 15.6.1956, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 3/8, Wissenschaftlich-technische Untersuchungen zur grundlegenden städtebaulichen Planung von Neubrandenburg. Staatliches EB für Stadt- und Dorfplanung des Ministeriums für Aufbau, Halle, S. 70–71; Vermerk über die Besprechung zur Stadtplanung, 10.7.1956, B-Arch. DH1 38992. 18 Otto Rühle war von 1954–1958 stellvertretender Vorsitzender des RdB und 1958 Leiter der Gruppe Perspektivplanung im Wirtschaftsrat beim Rat des Bezirks Neubrandenburg. 1960 leitete er die Forschungsgemeinschaft ‚Nordgebiet‘ (Greifswald/Neubrandenburg), um die Möglichkeiten und Erfordernisse der Entwicklung dieser Region zu konzipieren. Vgl. Raschke, Wiederaufbau von Neubrandenburg, a.a.O., S. 107. Zielsetzung für 1960–1980 war es, den Industrialisierungsgrad von 59 auf 80–120 je 1.000 Einwohner zu erhöhen. 1978 lag er bei 125, Schwerpunkte bildeten Rostock, Schwerin und die anderen Küstenstädte. 19 Forschungsgemeinschaft Nord, Untergruppe Städtebau, 29.11.1960, B-Arch, DE1 4616, Aktenvermerk über Information des Gen. Pisternik über das Ergebnis der Politbürositzung zu der Planung der Stadt Neubrandenburg, 14.8.1961, IRS, Bestand Wettbewerbe. 20 Forschungsgemeinschaft Nord, Untergruppe Städtebau 4.8.1960 (nur persönlich), B-Arch, DE1 4616.
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„die Stadt möglichst großzügig als Bezirkshauptstadt auszubauen. Von der Stadtmauer aus soll eine dreigeschossige Bebauung bis zur Magistrale und Zentralen Platz auf fünf Geschosse ansteigend erfolgen.“21
In Anbetracht solch städtisch-repräsentativer Wohnbebauung wäre eine adäquate Wirkung des Kulturhauses, auch hinsichtlich der Enge auf dem ehemaligen Marktplatz, nunmehr dem Zentralen Platz, kaum zu erzeugen gewesen. Trotz Jendretzkys ausdrücklichem Wunsch nach städtischer Repräsentation blieb Franeks Bebauungsplan maßvoll und angepasst an die vertikalen Vorgaben der historischen Stadtmauer und der Kirchen. Seine Vision vom Neubrandenburger Stadtzentrum sprengte jedoch den mit der Stadtmauer vorgegebenen horizontalen Rahmen, indem er der Raumnot am Marktplatz einen zweiten Zentralen Platz als Standort des Bezirksverwaltungsgebäudes außerhalb der östlichen Stadtmauern beistellte. Einen so herausragenden Verwaltungsbau in einen Bereich außerhalb des Zentralen Bezirks zu verlegen, war nach den Grundsätzen von 1950 noch undenkbar und rief den Beirat für Architektur auf den Plan, der letztendlich über die Bauvorhaben zu befinden hatte. Nach langer und intensiver Diskussion schloss sich der Beirat dem Vorschlag an, zugunsten der Wahrung des historischen Stadtgrundrisses und Stadtbildes ein zweites Zentrum außerhalb der Stadtmauer zu schaffen. Ungeachtet der Tatsache, dass nun ein eindeutiger Beschluss für den Standort des Bezirksverwaltungsgebäudes vorlag, verblieb dieses Gebäude in allen weiteren Ausschreibungen im Bauprogramm des Zentralen Platzes und sorgte bis zum Zeitpunkt der Platzbebauung für Verwirrung und Verzögerungen. Eine Unaufmerksamkeit, die meines Erachtens aus der täglichen Arbeitsüberlastung der Planer und Architekten vor Ort herrührte, die für jede neue Ausschreibung das Anforderungsprofil übernahmen. Die am Platz verbliebenen Verwaltungsbauten, das Rathaus, die Gebäude der Partei und Massenorganisationen sowie das Kulturhaus hatten nun Ausmaße wie sie Jendretzky als adäquat für eine Bezirksstadt ansah. Nicht so der Beirat, der die Größe der Bauten als völlig irreal und überzogen bewertete und die Zusammenlegung des Rathauses mit dem Parteigebäude empfahl.22 Da für die Belange der Stadtverwaltung kurz zuvor eine praktikable Interimslösung gefunden worden war, stand die Errichtung eines Rathauses ohnehin vorerst nicht im Mittelpunkt der Planungsaktivitäten. Mit dieser Überlegung war schließlich das Signal für einen Aufschub, nicht aber eine Aufhebung des Bauvorhabens Rathaus gegeben.23 Überdies erforderte die eingeschränkte Funktion einer Stadtverwaltung völlig neue Gestaltungsü-
21 Besprechung über die Planung für das Zentrum und den Zentralen Bezirk, 18.12.1954, B-Arch, DH1 38569. 22 Ministerium für Architektur, Hauptabteilung Architektur, Stadtplanung Neubrandenburg, gez. Pisternik, 14.6.1954, B-Arch, DH1 38569. 23 In Neubrandenburg kam es daher m. E. nicht zu einer völligen Eliminierung der Bauaufgabe Rathaus, wie Knauer-Romani dies für Eisenhüttenstadt attestiert, sondern zu einem Aufschub und zur Verlagerung seiner kommunalen Bedeutung, letztendlich nur noch als Gebäude städtischer Repräsentanz etwa für Trauungen. Vgl. Elisabeth Knauer-Romani, Eisenhüttenstadt und die Idealstadt des 20. Jahrhunderts. Weimar 2000, S. 99.
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berlegungen für die Bauaufgabe Rathaus, das nunmehr vornehmlich Repräsentationsaufgaben zu übernehmen hatte. Für das Kulturhaus war nur noch eine Bausumme von fünf Millionen Mark vorgesehen. Die für den Entwurf verantwortlichen Architekten Dietrich Zahn und Walter Lauermann24 widersprachen, unterstützt von Hans Jendretzky, dieser Herabsetzung der Bausumme von ursprünglich acht Millionen Mark.25 Ihr Protest erwirkte zwar deren minimale Erhöhung, konnte aber nicht die Verringerung des Volumens und der vertikalen Ausdehnung des Kulturhauses verhindern, so dass das auf dem Zeichentisch eines anderen Entwurfsbüros geplante Hotel weiterhin über den Kulturbau dominierte.26 Jendretzky, der die würdevolle Wirkung des Kulturbaus gefährdet sah, unterstellte dem vom Beirat zum ständigen Berater für Neubrandenburg benannten Architekten Hanns Hopp die Haltung eines ‚Kleingeistes‘ und erklärte, dass die Dominanz eines Gebäudes nicht zwingend von seinen Maßen abhängig sei.27 Auf der Grundlage von Franeks Bebauungsplan wurde noch 1954 mit der Entwurfsarbeit für das Bezirksverwaltungsgebäude begonnen. Der renommierte Architekt Hanns Hopp und Chefideologe zu Fragen der so genannten „Nationalen Tradition“ zeichnete persönlich für die Entwurfzeichnungen verantwortlich. Umso mehr verwundert das völlige Fehlen dieser zeichnerischen Überlegungen in der maßgeblichen Zeitschrift „Deutsche Architektur“. Hopp scheiterte an der Unmöglichkeit, dieser Bauaufgabe innerhalb des auch von ihm propagierten Gestaltungsrahmens einer „Nordischen Renaissance“ eine angemessene und würdige Form zu geben. Seine Zeichnungen zeigen Vorstellungen, die mehr mit der Schlossarchitektur als mit dem Bautypus Verwaltungsbau verwurzelt sind. Die Problematik bestand, ähnlich wie beim Rathausbau, wohl auch darin, dass es sich um einen ersten Entwurf für einen derartigen Funktionsbau handelte, denn alle anderen Bezirksstädte waren mit Flächen für Büroräume besser gestellt. Wie bei der Konzeption des Kulturhauses kam man zunächst über die Gestalt- und Formsuche nicht hinaus. Aus dem begleitenden Schriftverkehr lassen sich im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte extrahieren, welche eine zügige Realisierung be- und verhinderten und symptomatisch für diese Phase der städtebaulichen Entwicklung waren. Hopps überbordender Entwurf resultierte aus dem Zwang, das Gebäude an seinem abgelegenen Standort zu exponieren. In einem Briefwechsel zwischen Beirat und Bezirksrat ist von einem Höhenakzent, einem Hochhaus, die Rede, das jedoch die Dominanz des Kulturhauses nicht in Frage stellen durfte.28 Als aber der Entwurf schließlich vorlag, war 24 Walter Lauermann, geb. 14. Juni 1917 in Schluckenau, Zimmermanns- und Maurerlehre, Architekturstudium, 1948 Bezirksarchitekt in der ‚Bauleitung 209‘ zur Errichtung von Neubauernstellen, 1953 Vorsitzender des Architekturbeirats des Bezirks Neubrandenburg. 1957 siedelte er nach Köln über, Vgl. Raschke, Wiederaufbau von Neubrandenburg, a.a.O., S. 87. 25 Schreiben von Zahn an die Meisterwerkstatt Hopp, 7.4.1955, B-Arch, DH2 II/07–25/6. 26 Besprechung über das Vorprojekt ‚Kulturhaus Neubrandenburg‘, 6.4.1955, B-Arch, DH2 II/07–25/6; Vorlage für die Sitzung des Beirats für Bauwesen, 21.9.1955, ebenda DH2/A/65B. 27 Schreiben von Hopp an den Beirat für Bauwesen, 5.9.1955, B-Arch, DH2 II/07–25/6. 28 Ministerium für Aufbau, Hausmitteilung, gez. Pisternik, 20.10.1954, B-Arch, DH1 38569; Beiratssitzung beim Ministerrat, 23.2.1955, IRS, Best. Wettbewerbe, Sitzung des Beirats für
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die Vorgabe zur „Nordischen Renaissance“ längst dem Gebot zur Sparsamkeit gewichen, das eine Verringerung des Bauschmucks nach sich zog. Das andere Manko war, dass wieder schon mit der Entwurfsarbeit begonnen worden war, ohne die Entscheidung der Staatlichen Plankommission über den geplanten Umfang oder das Raumprogramm abzuwarten. Inzwischen traten der Mangel an Bauarbeitern und Bauhelfern sowie das Fehlen von Werkzeugen und Baustoffen offen zu Tage und waren Gegenstand vieler Besprechungen in den Entwurfsbüros und Kommissionen. Die vorhandenen Kapazitäten reichten schon nicht aus um beim Wohnungsbau dem dringendsten Bedarf nachzukommen und noch viel weniger um eine Großbaustelle einzurichten, sei es am Zentralen Platz oder dem externen Bezirkszentrum. Infolgedessen wurden die Überlegungen zur Errichtung des Bezirksverwaltungsgebäudes in eine nähere Zukunft verlegt und der ursprüngliche Plan eines Umzugs der Verwaltung von Neustrelitz in die Bezirksstadt Ende der fünfziger Jahre nicht weiter verfolgt. Erst eine völlige Neuplanung kam schließlich zur Ausführung. Die Grundsteinlegung dieses achtgeschossigen Scheibenhochhauses fand schließlich im Juni 1967 statt, Anfang 1969 war das Gebäude fertig und der Umzug konnte beginnen. Der Wiederaufbau beginnt im Wohnungsbau und beschäftigt die Fachöffentlichkeit Franeks Bebauungsplan und die nachfolgende Entwurfsarbeit konnten noch nicht dazu beitragen, die als vorrangig geltenden Funktionsbauten, wie sie die 16 Grundsätze des Städtebaus vorgaben, planerisch voranzubringen. Dagegen bildete er die Grundlage für den weitaus dringenderen Wohnungsbau, der in der Fachöffentlichkeit aus gutem Grund heftig diskutiert wurde. Franeks Bebauungsplan war zwar maßvoller als das, was Jendrezky sich ausmalte, doch wie der Konflikt um die Bausumme für das Kulturhaus zeigt, nur eine unter vielen maßlosen Wiederaufbauvisionen. Unter Hanns Hopps beratender Anleitung war die Friedländer Straße wieder mit Wohnreihenbauten bebaut worden. In der Folgezeit wurde der Straßenzug zum landesweit fachöffentlich diskutierten Beispiel für die Grenzen und Chancen des durch Typisierung vereinfachten Bauens. Die Straße stand nach ihrer Verbreiterung und platzartigen Aufweitung maßstablos zur Stadtbefestigung und vernichtete die Struktur des aus dem Mittelalter herrührenden Stadtgrundrisses zugunsten der bevorzugten Merkmale sozialistischen Städtebaus, der Wiederholung und Reihung gleicher Bauelemente. Wenn diese Bebauung der Versuch war, die Großartigkeit sozialistischen Städtebaus in der Stadt zu demonstrieren, so muss auch das Misslingen des Versuchs angeführt werden ihr ein individuelles und von anderen Städten unterscheidbares Erscheinungsbild zu verleihen. Obgleich eine Kommission des Beirats erst mit großem Aufwand das Typische und Einzigartige des Stadtbildes Bauwesen beim MR der DDR, 25.2.1955,B-Arch, DH2 A/65A, Schreiben von Collein an Hiller und Lauermann, 9.3.1955,DH2/65B.
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ermittelte, wurde das wieder aufzubauende Neubrandenburg in ein allgemeines norddeutsches Stilkonglomerat eingebettet. In diesem Sinne galt es nach Übereinkunft mit dem Beirat für Architektur, anders als für die bedeutenderen Städte wie Rostock oder Dresden, in Neubrandenburg nicht einen individuellen Fassadenstil zu extrahieren, sondern den eines ‚geographischen Milieus‘, das ohne weiteres von Bremen über die Küstenstädte der Ostsee bis Elbing reichte.29 Ähnlich wie beim Gestaltungsrahmen der „Nordischen Renaissance“ wurden weitläufig vertraute Bilder in einen neuen, breiteren Bedeutungszusammenhang gefasst und auf unterschiedlichste Bauaufgaben anwendbar gemacht. Diese Maßnahme muss in erster Linie als ein Akt der Rationalisierung betrachtet werden, denn der Wirkungsbereich der in der Stadt tätigen Architekten erstreckte sich in jedem Fall auch über die vielfältigsten Bauaufgaben im gesamten Bezirk. Der langsame Kurswechsel im Neubrandenburger Städtebau Der Städtebau der DDR stand in seiner Frühzeit in Abhängigkeit von den Tendenzen und Weisungen aus Moskau, hatte aber auch auf gesamtdeutsche Ereignisse auf der gesellschaftlichen oder politischen Bühne zu reagieren. Als der DDR nach dem Scheitern der Außenministerkonferenz Anfang 1954 die ‚erweiterten Souveränitätsrechte‘ zugestanden wurden, begann man langsam von einer Zwei-StaatenTheorie zu sprechen.30 Damit war die Gründungslegende einer – gesamtdeutschen – Nationalen (Bau-)Tradition obsolet. Das hatte auch Auswirkungen auf die Neubrandenburger Zentrumsplanung, denn es war ein Entwurf für ein Kulturhaus vorgelegt worden, dessen Fassade große Ähnlichkeiten mit dem Bremer Rathaus aufwies. Die Zeichnungen waren 1955 unter der Aufsicht der Meisterwerkstatt von Hanns Hopp entstanden. Hopp selbst soll den entwerfenden Architekten das Bremer Vorbild im Kontext einer „Nordischen Renaissance“ zur Nachahmung empfohlen haben. Es war aber auch eine bewusste Anweisung an jüngere Architekten, die mit der Verwendung des historischen Formenvokabulars nicht mehr ausreichend vertraut waren. Alle rhetorischen Versuche, die Ähnlichkeit zu dem westdeutschen Rathausbau argumentativ zu verschleiern, konnten nicht verhindern, dass sich das Politbüro einschaltete und die Neuausschreibung eines Architektur-Wettbewerbs forderte. Der Ausgang des nachfolgenden und für das Planungsgeschehen am Zentralen Platz vorletzten Wettbewerbs ist weniger aufgrund seines Ergebnisses von Interesse, sondern wegen der offensichtlichen Absicht des Beirats, die Entwurfsarbeit an Neubrandenburger Büros zu vergeben. Es war ein ‚engerer Ideen-Wettbewerb‘, zu dem, neben den Entwurfsbüros des Bezirks, eine Reihe staatlicher Entwurfsbüros, Hochschulen und renommierte Architekten, unter anderem Hermann Henselmann, 29 Bautechnischer Erläuterungsbericht und Baubeschreibung für den Vorentwurf des Kulturhauses, 2.6.1955, B-Arch, DH2 A/65b; vgl. Gabriele Wiesemann, Der Aufbau des Stadtzentrums von Neubrandenburg (1945–1965). Magisterarbeit (Masch. schr.) 1991, S. 85. 30 Hermann Weber, Geschichte der DDR (aktualisierte und erweiterte Neuausgabe) München 1999, S. 176 f.
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zur Teilnahme eingeladen waren. Obgleich im Ausschreibungstext unmissverständlich die neuen Tendenzen des Städtebaus, wie eine offene Anordnung der Baukörper und eine moderne Fassadeauffassung zur Bedingung gemacht waren, vergab das Preisgericht die ersten beiden Preise an Neubrandenburger Kollektive, die nicht zwingend die geforderte Modernität und offene Anordnung der Baukörper in ihren Entwürfen erkennen ließen.31 Angesichts der Teilnahme weitaus routinierterer Architekten ist diese Entscheidung verwunderlich. Die Vergabe eines ersten Preises an ein örtliches Entwurfsbüro lag im Interesse des Ministeriums, das die Entwurfsarbeit in Zukunft ohne die Hilfe auswärtiger Entwurfsbüros vor Ort gebündelt sehen wollte.32 Dies muss aber eine Vermutung bleiben, da nicht gesichert ist, wie anonym die Wettbewerbsteilnehmer ihre Arbeiten präsentierten. Denn die Anonymität konnte bei engeren Wettbewerben außer Kraft gesetzt werden.33 Letztendlich unterband das Politbüro dieses Taktieren, indem es den Bau eines modernen Stadtzentrums einforderte, das nicht wieder den Eindruck einer verträumten Kleinstadt vermitteln durfte.34 Der darauf folgende letzte Wettbewerb, die Art seiner Durchführung und sein Ergebnis spiegeln ganz deutlich die Einsicht wider, dass die fachlichen Kapazitäten in den Entwurfsbüros vor Ort nicht ausreichten, einen qualitativen Entwurf für ein Kulturhaus vorzulegen und seine Realisierung zu begleiten. Wieder wurde ein beschränkter Wettbewerb ausgelobt. Die Tatsache, dass man sich diesmal an junge Hochschulabsolventen wandte, lässt vermuten, dass hier mit einer flexiblen Kraft das Fachpersonal vor Ort dauerhaft verstärkt werden sollte. Jedoch wollte man sich in Neubrandenburg nicht mehr das Zepter aus der Hand nehmen lassen und schickte eigene Kandidaten ins Rennen. Beide Parteien wollten also das gleiche, wenn auch die Beweggründe nicht deckungsgleich waren. In die engere Wahl kamen schließlich zwei Entwürfe, einer aus Neubrandenburg und der einer Mitarbeiterin aus Henselmanns Berliner Büro. Obgleich das Preisgericht eine Vielzahl von Übereinstimmungen in beiden Entwürfen erkannte, befasste es sich nur mit dem der Architektin Iris Dullin. Es ist anzunehmen, dass Hermann Henselmann, der schon zuvor mehrfach aus dem Hintergrund in das Stadtbaugeschehen hineingewirkt hatte, seiner Mitarbeiterin hilfreich zur Seite stand. So begleitete er sie zu ihrer ersten Projektvorstellung vor dem Rat der Stadt nach Neubrandenburg. 31 Auswertung des städtebaulichen Wettbewerbs, 5.6.1958, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 381. 32 Schreiben des Vorsitzenden der Bauakademie Edmund Collein zur Generellen Stadtplanung von Neubrandenburg an das MfA, 21.8.1957, B-Arch, DH1 39035. 33 „Bei engeren Wettbewerben kann von der Wahrung der Anonymität abgesehen werden. Dies muss jedoch bereits in der Einladung festgelegt sein.“ (Grundsätze des BDA für die Durchführung von architektonischen und städtebaulichen Wettbewerben – Wettbewerbsordnung – vom 11. Juni 1957, §8.2). Heidede Becker verweist – wenn auch für die siebziger Jahre – auf eine eher laxe Handhabung in der Wahrung der Anonymität, zumal die eingereichten Arbeiten ‚maßgeblicher Institutionen‘ ohnehin den Preisrichtern bekannt waren. Heidede Becker, Zum Wettbewerbswesen in der DDR. in: IRS Erkner (Hrsg.), Prämiert und ausgeschieden, Erkner 1998, S. 187–191, hier 190. 34 Sitzung der Ständigen Kommission für Kultur, 25.11.1959, StA NB, Best. Rat der Stadt, AENr. 400.
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Unzweifelhaft schuf die Bauakademie hier Fakten. Die Erkenntnis, dass die Kräfte vor Ort nicht ausreichten, dürfte die Entscheidung für Iris Dullin gefördert haben. Sie konnte man eigens für diese Bauaufgabe nach Neubrandenburg senden. Aber auch die junge Architektin selbst schuf Fakten. Wenn sie rückblickend erklärte, „wir standen dieser ‚Nati-Tradi‘ sehr ablehnend und voller Protest gegenüber. Mein Entwurf für das Kulturzentrum war eher eine Protestdemonstration als ein Antrag zum Bauen“35,
dann gibt dies das Unbehagen wider, das die Mitglieder der Bauakademie empfunden haben müssen. Hatten sie sich doch mit einer zeichnerischen Kampfansage, formuliert in moderner Architektur und deutlichen Vertikalakzenten wie einem fünfzehngeschossigen Turmhaus, inmitten eines in historisierender Weise geleisteten Wiederaufbaus auseinanderzusetzen. Das Ensemble umfasste Kulturbauten mit Kino und Vortragssaal, mehrere Bibliotheken, einen Theatertrakt sowie Zirkelräume, ferner ein Ledigenheim, ein Hotel mit einer Ladenpassage und ein Wohnhochhaus sowie noch immer ein Bezirksverwaltungsgebäude. Das zu bebauende Areal griff weit über das ursprünglich vorgesehene hinaus, ohne Rücksicht auf den noch Mitte der fünfziger Jahre hochgeschätzten Stadtgrundriss zu nehmen. Zu einem derart harten Bruch mit den Relikten einer historisch gewachsenen Innenstadt konnten sich die Mitglieder der Bauakademie nicht ohne weiteres durchringen, was durchaus mit einer in der Architektenschaft vorhandenen besonnenen Haltung gegenüber dem historischen Bestand zu erklären ist. Vor diesem Hintergrund mussten sie das kritisieren, was das Wesentliche des Entwurfs war, nämlich das Turmhaus sowie die anderen Höhendominanten. Auch die Stadtvertreter artikulierten ihr Unbehagen, da man bisher „diesen Dingen etwas fern gestanden“ habe und sich „an dieses Neue erst gewöhnen“ müsse.36 In der Tat war der Entwurf neuartig und für die Sehgewohnheit der Neubrandenburger Bürger fremdartig. Doch die Erwartung, mit dem Bau des Kulturzentrums werde die Stadt endlich ihre würdige Bestimmung erhalten, schlug die Stimmung rasch in Zustimmung für das Projekt um, und nur unter Protest nahmen die Stadtvertreter die Wegnahme des Theaters aus dem ursprünglichen Bauprogramm hin. Stattdessen wollte man auf das Kino verzichten, denn ein Theater hob stärker das kulturelle Ansehen der Stadt und half bei der Überwindung der kulturellen Ödnis im Bezirk. Bislang kam mit dem einzigen Theater in Neustrelitz ein Theaterplatz auf tausend Einwohner.37 Der größte Teil des Bauprogramms fiel jedoch der Halbierung des Etats für die Baufinanzierung zum Opfer. Es verblieben das Kulturhaus mit eingeschränktem Raumprogramm und die Bibliotheken. Auch die Ausführung des Kulturhauses in Glas und Stahl sowie des Turmhauses als Stahlkonstruk35 Iris Grund, Stadtarchitektin a. D. von Neubrandenburg. Vgl. Helga Faßbinder, Wichtig war das Bewußtsein der Frauen, Einfluss zu haben, Hamburg 1996, S. 241–257, 248–249. 36 StVV., 22.9.1960, StA NB, Best. RdSt., AE-Nr. 13/2. 37 Empfehlung der Kommission für Städtebau und Architektur des Ministeriums für Bauwesen für die weitere Bearbeitung der Planung der Stadt Neubrandenburg, 31.8.1960, IRS, Best. Wettbewerbe; Bericht des Büros der BL der SED Neubrandenburg und des RdB Neubrandenburg über den Aufbau des Stadtzentrums der Bezirkshauptstadt Neubrandenburg, 8.8.1961, BArch, DY30 JIV 2/2 A/843.
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tion wurde auf das preisgünstigere Verfahren einer Stahlbeton-Skelettbauweise reduziert.38 Die städtebauliche Konsequenz des zurückgefahrenen Bauprogramms war eine unvollendete Platzanlage, deren einzige räumliche Definition die ornamentale Flächengestaltung bildete. An der für das Theater vorgesehenen Platzseite wurde eine Grünanlage angelegt, die per definitionem als Reservefläche für einen zukünftigen Rathausbau stand. Das Turmhaus lobten SED und Bezirksrat schließlich als neues Wahrzeichen – als eine über den Kirchen und Stadttoren dominierende Stadtkrone, denn, „der Bezirk Neubrandenburg [arbeitet] inzwischen vollgenossenschaftlich in der Landwirtschaft […] und die Errungenschaften beim Aufbau des Sozialismus […] [sind] besonders groß […]. So wird das neue Kulturzentrum in architektonischer Form diese Entwicklung allen sichtbar machen und das Gesicht der neuen sozialistischen Bezirkshauptstadt mitbestimmen.“39
Bereits kurz nach seiner Fertigstellung 1965 war das ‚Haus der Kultur und Bildung‘ räumlich überlastet und die Zirkelleiter mussten mit ihren Gruppen nach geeigneten Räumen in den Wohngebieten Ausschau halten.40 In Berlin blickt man wohlwollend auf Neubrandenburg Die auch über die Bezirksgrenzen hinaus zur Kenntnis genommene bauliche Manifestation der Bezirksstadt festigte ohne Zweifel ihr landesweites Ansehen. Hinzu kamen der bevorstehende Umzug der Bezirksverwaltung und ein ganz erheblicher Fortschritt bei der Bereitstellung von Wohnraum. Endlich waren für das größte Neubrandenburger Wohnungsbauvorhaben, die Oststadt, akzeptable Bebauungspläne vorgelegt und genehmigt worden. Mit dem Wohnungsangebot für Arbeitskräfte schien nun auch der Nachzug von Industrie und Gewerbe gesichert. Auf der Grundlage dieser neuen Perspektiven stimmte 1968 das Politbüro, als nach fast eineinhalb Jahrzehnten Planungs- und Gestaltungsarbeit ein Bebauungsplan für das größte Wohnungsbauvorhaben Neubrandenburgs, die Oststadt, vorlag mit der „Direktive […] über die sozialistische Umgestaltung und Erweiterung von Neubrandenburg“ einer großstädtischen Entwicklung auf 100.000 und mehr Einwohnern zu. Gleichzeitig herrschte noch immer keinerlei Klarheit darüber, aus welchem industriellen Segment die Bereitstellung von Arbeitsplätzen für eine Neuansiedelung geleistet werden sollte.41 38 4. ordentl. Ratssitzung, 21.2.1961 u. 6. ordentl. Stvv., 23.3.1961, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 72. 39 Bericht des Büros der BL der SED Neubrandenburg und des RdB Neubrandenburg über den Aufbau des Stadtzentrums der Bezirkshauptstadt Neubrandenburg, 8.8.1961, B-Arch, DY30 JIV 2/2 A/843. 40 Iris Grund, Zur räumlichen Organisation der kulturellen Freizeitbeschäftigung, in: Fred Staufenbiel/Dieter Ulle (Hrsg.), Wechselwirkung technischer und kultureller Revolution. BerlinOst 1966, S. 253–258, hier S. 255–256. 41 Vorlage für das Politbüro des ZK der SED zur Konzeption für die baukünstlerische Gestaltung des weiteren Aufbaus der Stadt Neubrandenburg, Juni 1968, unterzeichnet: Lenz, Bürgermeister, Adolf Garling, Vorsitzender des Rat des Bezirks, Müller, 1. Sekr. der KL der SED, Chem-
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Die „Direktive […] über die sozialistische Umgestaltung und Erweiterung von Neubrandenburg“ stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Direktive „Über die weitere Arbeit an der städtebaulichen und architektonischen Gestaltung der wichtigsten Stadtzentren und Siedlungsschwerpunkte in Vorbereitung des 20. Jahrestags der DDR“.42 Neubrandenburg hatte sich aus seinem Schattendasein wegentwickelt. Die Direktive fixierte die zukünftige Stadtentwicklung, die mit der Aufwertung zum selbstständigen Stadtkreis anfangen und in einer Großstadt enden würde. Damit reichte das Politbüro der Stadt den sprichwörtlich kleinen Finger, doch die vor Ort für Stadtplanung und Stadtentwicklung Zuständigen griffen nach der ganzen Hand. Beauftragt vom Rat des Bezirks und der Bezirksleitung der Partei loteten Planer und Architekten des Büros für Städtebau und Architektur in Zusammenarbeit mit dem Stadtbauamt die Chancen einer exorbitanten Stadtentwicklungsprognose aus. Das Ergebnis war ein Generalenergieversorgungsplan und die „Information über die Planung der Stadtstruktur der Bezirksstadt Neubrandenburg“,43 die beide Prognosen enthielten, welche weit über die des Politbüros hinauswiesen. So einigte man sich auf ein prognostiziertes Stadtwachstum auf 120.000 Einwohner bereits 1980 und nicht erst 1990. Auf Grund der territorialen Ressourcen bescheinigte man der Stadt sogar die Voraussetzung zur Entwicklung auf etwa 400.000 Einwohner.44 Auch stadtkompositorisch war eine flächige Ausdehnung des Stadtgebiets in der Direktive verankert, denn sie zielte auf die noch ausstehende Vollendung der Innenstadt, ganz besonders aber auf die Schaffung eines zentralen Bezirkszentrums, anschließend an das Areal, auf dem gerade das Bezirksverwaltungsgebäude gebaut wurde. Unter Vollendung der Innenstadt verstand man jetzt, in der Phase des „umfassenden Aufbaus des Sozialismus“, in der es galt, die gewachsene Stadt durch die neue Sozialistische Stadt zu verdrängen, die Zerstörung historischer und stadtbildprägender Gebäude zugunsten von Neubauten. Für ein Centrum-Warenhaus sollten Teile der als Republikdenkmal gewürdigten Stadtmauer sowie das nahe gelegene Schauspielhaus von 1780 fallen.45 Parallel zur Entwurfsarbeit wurde sogleich mit
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nitzer, 1. Sekr. der BL der SED, S. 3, B-Arch, DY30 JIV 2/2 A – 1.310; Festsitzung der StVV. aus Anlass der Verleihung des Statuts eines Stadtkreises, 14.12.1968. StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 44/1. Direktive des Politbüros […] und des Ministerrates […] über die weitere Arbeit an der städtebaulichen und architektonischen Gestaltung der wichtigsten Stadtzentren und Siedlungsschwerpunkte in Vorbereitung des 20. Jahrestags der DDR, 3.4.1968, B-Arch, DY 30 IV2/2A 606/48. Information über die Planung der Stadtstruktur der Bezirksstadt Neubrandenburg, Stand Juni 1969, S. 4, StA, AE-Nr. 9, Best. Büro des Chefarchitekten. Arbeitsbericht der zeitweiligen Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der generellen Stadtstruktur und der weiteren Präzisierung der Grundlinie der städtebaulichen architektonischen Gestaltung, 20.2.1969, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 104; Generelle Stadtplanung Neubrandenburg, 1969, S. 2, StA NB, Best. BSA, AE-Nr. 1056. Sitzung des Politbüros, 25.6.1968, B-Arch, DY30 JIV 2/2 1175, Beschlussentwurf, 23.6.1968, StA NB, Best. Rat der Stadt, AE-Nr. 117. Ausschlaggebend für die Aufnahme als zweites von 35 Objekten in die Denkmalliste war, dass die mittelalterliche Stadtbefestigung – Mauer, Wiekhäuser, Tore und Türme, Wall- und Grabensystem – wie keine andere der DDR nahezu vollständig erhalten sei, ebenso der mittelalterliche Stadtgrundriss, die Marienkirche, das ehema-
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dem Abriss von Teilen des Altbaubestands begonnen. Sogar die Marienkirche wollte man abreißen und an deren Stelle ein Museums- und Informationszentrum errichten. Dieses Vorhaben wurde schnell wieder verworfen, da es kurz zuvor bei der Sprengung der Leipziger Universitätskirche zu Unruhen unter den Leipziger Bürgern gekommen war.46 Während der Status der Kreisfreiheit und die Überlegungen zum Stadtwachstum auf langjährige Vorarbeiten zurückgriffen, kam die Option der innerstädtischen Vollendung kurzfristig. Seitens der Bauakademie waren Überlegungen vorausgegangen, für jede der begünstigten Städte eine individuelle Grundkonzeption zu erarbeiten, die wesentlich aus der Formulierung einer einfach deutbaren Symbolsprache bestand und abgestimmt war auf deren städtebildende Faktoren. Auf dem Höhepunkt der Vernichtung alter, städtischer Bildzeichen galt es nun, neue Zeichen zu setzen. Für Neubrandenburg einigte man sich auf die Losung Stadt der Landwirtschaft.47 Wieder stand Hermann Henselmann den Architekten beratend zur Seite. Unter seiner Betreuung legten sie zusammen mit Künstlern Studienvarianten und bauvorbereitende Unterlagen für eine forumsartige Platzanlage vor, auf der das Bezirksverwaltungsgebäude mit weiteren Gebäudeteilen ergänzt werden sollte.48 Der Bauplatz war orientiert an der städtebaulichen Wachstumserwartung und um ein Vielfaches größer als der bisherige Zentrale Platz. Das Bauprogramm entsprach ganz den Erwartungen, auf deren Grundlage die Stadt zur Großstadt anwachsen sollte. Schon Jendretzky war für die Einrichtung einer Landwirtschaftlichen Hochschule eingetreten und nun, da:
lige Franziskanerkloster, die Bürgerhäuser aus dem 17. und 18. Jahrhundert und die Wassermühle am Stargarder Tor aus dem 18. Jahrhundert. 46 Ende der siebziger Jahre erstarkte die Wertschätzung für die Kirche erneut. Im Hinblick auf ihre Bedeutung für die norddeutsche Backsteingotik entschied man sich für umfangreiche Erhaltungs- und Sicherungsarbeiten und einen späteren Ausbau als Konzerthalle und Kunstgalerie. Bei aller neuen Wertschätzung war jedoch darauf zu achten, dass durch die Kirche keinesfalls die sozialistischen Wahrzeichen, der Turm des Hauses der Kultur und Bildung sowie das Hochhaus in der Waagestraße beeinträchtigt würden. Noch 1980 lehnte der Rat die Reparatur der Turmspitze nicht nur wegen der volkswirtschaftlich nicht zu vertretenden hohen Aufwendungen ab, sondern auch mit dem Argument, dass es nur mehr wenige Bürger gäbe, die den alten Zustand des Kirchturms vor seiner Zerstörung 1945 noch kannten. Doch darf ein derartiges Meinungsbild nicht überbewertet werden, denn nach 1970 war die Stadt von weit mehr Menschen bewohnt, die das ursprüngliche Neubrandenburg tatsächlich nicht mehr kannten. Auch die Stadtvertreter entstammten weitgehend dieser in die Stadt gezogenen neuer Klientel. Die wesentlichen Sicherungsmaßnahmen und der Umbau zur Konzerthalle begannen unter großer Zustimmung der Bürger aber erst nach 1990. 47 Direktive des Politbüros des ZK der SED und des MR der DDR über die sozialistische Umgestaltung und Erweiterung von Neubrandenburg, 25.6.1968, B-Arch, DY30 JIV 2/2 – 1175; Ule Lammert, Städtebau und Architektur bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der DDR. In: Neue Anforderungen an Städtebau und Architektur bei der Gestaltung des entwickelten Systems des Sozialismus in der DDR. 22. Plenartagung der Deutschen Bauakademie, Oktober 1968. Berlin-Ost 1969, S. 17. 48 Vorlage für das Politbüro zur Konzeption des weiteren Aufbaus der Stadt, Juni 1968, S. 4, BArch, DY30 JIV 2/2 A–1.310.
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Brigitte Raschke „Größe, Charakter und Profil der Städte […] in entscheidendem Maße durch die Industrie als dem bedeutendsten stadtbildenden Faktor geprägt und zunehmend durch die Zentren der Wissenschaft und Forschung beeinflusst“49
seien, sollte Neubrandenburg eine zweigliedrige Hochschule für Landwirtschaft und Pädagogik erhalten. Ebenso waren Verwaltungsbauten der Bau- und Elektroindustrie vorgesehen. Damit leistete die Stadt zum einen formell der Weisung aus Berlin Folge, in den Zentren verstärkt die Einrichtung von Arbeitsstätten des tertiären Sektors vorzusehen. Wesentlicher aber war die Einschätzung in der Direktive des Politbüros, wonach die Stadt als einer der Standorte der „Fortschrittsindustrien“ Elektronik und Elektrotechnik angesehen wurde, und die jetzt als zukünftig profilbestimmend für die nächsten zehn Jahre eingeschätzt wurden.50 Dagegen sollten die alteingesessene Lebensmittelindustrie und Holzverarbeitung zurückgedrängt werden. Das Vorhaben setzte ohne ausreichend gesicherte Grundlagen auf einen Industriezweig, der in der übrigen Republik seit Mitte der fünfziger Jahre wirtschaftliches Wachstum versprach. Weder beim Rat noch in der Berliner Plankommission gab es gesicherte Kenntnisse über eine beabsichtigte Niederlassung der Elektroindustrie in Neubrandenburg. Die herausragenden Gebäude waren zweifelsohne diejenigen der Hochschule für Landwirtschaft, die Bezirksparteischule und Studentenwohnheime. Das wohl imposanteste Gebäude des Ensembles war ein Hochschulturm von 115 Meter Höhe, der in der Form eines überdimensionierten Stadttors, zusammen mit einem bandartig dem Schwung der Stadtmauer folgenden Bauwerk das Forum dominiert hätte. Wieckhäuser zitierend waren „Maisonette-Penthäuser für Professoren“ aufgesetzt. Nicht weniger imposant war der Entwurf eines Auditoriums, platziert inmitten des Forums. Mit seinem Faltdach zitierte der Rundbau expressionistische Formvorstellungen wie beispielsweise Hans Poelzigs Volkshallen. Die zu knapp angesetzte Zeit für den Entwurf und Henselmanns Fähigkeiten zu exorbitanten Architekturfantasien sind nur ein Argument für das, was die Architekten als völlig überdimensionierte Planung vorlegten. Alles in allem ließen die Ideenskizzen, vor allem für das Bezirksforum, an die Leichtigkeit utopischer Architekturfantasien denken. Diese These lässt sich noch durch das Ansinnen stützen, die Stadt auf Grund ihrer territorialen Ressourcen auf etwa 400.000 Einwohner zu entwickeln.51 Dass diese Vorhaben vom Politbüro wieder zu Fall gebracht wurden, liegt meines Erachtens schon im Anlass für die Planung, dem 20. Jahrestag der Republik begründet. Im Zeichen dieses runden Geburtstags beschenkten sich auch andere Städte mit Zentrumsbauten, Berlin beispielsweise mit der Weltzeituhr am 49 Grundsätze der Planung und Gestaltung der Städte der DDR in der Periode des umfassenden Aufbaus des Sozialismus. DA 1965, S. 4–8, 5. 50 Direktive des Politbüros des ZK der SED und des MR der DDR über die sozialistische Umgestaltung und Erweiterung von Neubrandenburg, 25.6.1968, S. 3, B-Arch, DY30 JIV 2/2 – 1175. 51 Arbeitsbericht der zeitweiligen Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der generellen Stadtstruktur und der weiteren Präzisierung der Grundlinie der städtebaulichen architektonischen Gestaltung, 20.2.1969; StA NB, Best. Rat der Stadt AE-Nr. 104, Generalenergieversorgungsplan, 30.6.1970, S. 5, ebenda, AE-Nr. 1294.
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Alexanderplatz und Leipzig mit dem Centrum-Kaufhaus. Mit solcher Bedeutung und solchem Pathos überfrachtet, konnten Ausführungsvorstellungen rasch aus den Fugen geraten. Da wieder nicht ausreichend Zeit für eine fundierte Entwurfsarbeit vorhanden war, konnte sie zudem nicht in eine realisierbare Form transformiert werden, und Ulbricht war nicht noch einmal, wie beim Haus der Kultur und Bildung, gewillt, ein kostenintensives Hochhaus für Neubrandenburg zu genehmigen. So griff er in der Politbürositzung im wörtlichsten Sinne persönlich ein und brach zum Zeichen seines Missmuts das Hochhaus aus dem Modell.52 Als sich im Oktober 1968 die 22. Plenartagung der Bauakademie mit der vom Politbüro anlässlich des 20. Jahrestags der Republik angewiesenen Umgestaltung der „10 bedeutendsten Städte der DDR“ befasste,53 war die Planung für Neubrandenburg, die dort unter anderem erörtert wurde, längst wieder passé. Die eilig zum Politbürobeschluss vorgelegten und auf Papier gebannten städtebaulichen und architektonischen Vorschläge beeinflussten dennoch die weitere Stadtentwicklung. Der Bauplatz am Harryplatz blieb weiterhin für ein Bezirksverwaltungszentrum vorgesehen. 1975 kam anstelle des Hochschulturms auf dem Harryplatz die Bezirksparteischule „Kurt Bürger“ als vierzehngeschossiges Hochhaus zur Ausführung. Als Anklang an die ursprüngliche Planung von 1968 war dem Komplex ein polygonales Lehrgebäude beigestellt. Für die seit 1960 als Dependance zum Landwirtschaftlichen Institut in Greifswald geplante Hochschule wurde ein neuer Standort an der Rostocker Straße ausgewählt.54 Konträr zu einer Verortung dieser Ideenskizzen als utopische Architekturfantasien steht die städtebauliche Gesamtkomposition, die vor allem in den siebziger Jahren alles planerische Handeln diktierte, denn Stadt war nun nicht mehr ohne eine Verdichtung der Innenstädte mit Hochhäusern denkbar. Für Neubrandenburg mit seinem Stadtring und den strahlenförmigen Ausfallstraßen, den so genannten Hauptkommunikationslinien, bedeutete das die Planung von Hochhäusern als städtebauliche Fixpunkte entlang des Rings und der Ausfallstraßen. Die Standortwahl für diese Verwaltungsbauten war eine Korrektur des städtebaulichen Status quo, entstanden aus dem räumlichen Dezentralisieren von Wohn- und Industriegebieten. Mit innenstadtnahen Arbeitsplätzen sollten im Sinne der Losung ‚Ökonomie der Zeit‘ die Wege zwischen Arbeit, Wohnen und Freizeit verkürzt werden.
52 Gespräch mit dem Architekten und Stadtplaner Günter Gisder in Neubrandenburg am 14.03.2002. Bei Hans Modrow ist beschrieben, wie Ulbricht selbstherrlich bei Besichtigungen von Modellen Änderungsfestlegungen traf, gegen die sich die Fachleute nicht zu wehren wagten, auch wenn sie fachlich anderer Überzeugung waren. Um dergleichen einzudämmen, sollen die Architekten dazu übergegangen sein, die Modellbauten fest mit der Grundplatte zu verschrauben, damit Ulbricht sie nicht hin und herschieben konnte. Vgl. Hans Modrow (Hrsg.), Das große Haus von außen. Erfahrungen im Umgang mit der Machtzentrale der DDR. Berlin 1996, S. 20. 53 Vgl. Joachim Palutzki: Architektur in der DDR. Berlin 2000, S. 222. 54 Direktive des Politbüros […] über die sozialistische Umgestaltung und Erweiterung von Neubrandenburg, 25.6.1968, B-Arch, DY30 JIV 2/2 – 1175.
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Fazit Generell waren alle Unwägbarkeiten, wie das lange Verharren in Unklarheit zur zukünftigen Stadtentwicklung sowie die ungenügende Ausstattung mit Finanzmitteln, Personal und nicht zuletzt mit Bau- und Arbeitsmaterial auch in anderen DDRStädten vorzufinden. Nur, und das kam für Neubrandenburg erschwerend hinzu, musste die Stadt mangels industrieller Attraktivität sehr viel weiter in den hinteren Reihen an den Start gehen. Diese schlechten Startvoraussetzungen wirkten ungleich stärker, da mit jedem städtebaulichen Vorhaben ein enormer Anspruch an Repräsentativität transportiert wurde. Eine Repräsentativität, die der Stadt im Selbstverständnis der jungen DDR als Nicht-Industriestadt verwehrt bleiben musste. Folglich war jeder Entwurf, und sei er auch noch so überdimensioniert, ein Versuch den Status abzubilden der Neubrandenburg mit der Bezirksreform zugewiesen worden war. Das Vakuum, das mit diesem Status entstanden war, galt es mit Stadtwachstum zu füllen. Darin bestand Einigkeit zwischen den Berliner Stellen sowie der Stadtund Bezirksverwaltung. Stadtwachstum war aber nur durch eine günstige Konstellation der städtebildenden Faktoren zu erreichen. Doch weder im Bezirk noch überregional war der Standort Neubrandenburg unverzichtbar. Seine Bedeutung konnte erst wachsen als mit der Fertigstellung des Bezirksverwaltungsgebäudes ein hoher Zuzugsbedarf an bezirklichen Mitarbeitern entstanden war und mit ihnen Familien in die Stadt zogen. Als mit der Oststadt, einem Wohnungsbauvorhaben mit enormer Identitätskraft und weiteren Wohnungsbaugroßvorhaben auch der Wohnungsbedarf für Hinzuziehende bereitgestellt werden konnte, stieg die Attraktivität der Stadt ungemein. Auch kleinere Industrie begann sich nun hier niederzulassen, jetzt, da Arbeitskräfte und Wohnraum zur Verfügung standen. Diese Voraussetzungen lösten in den 1970er Jahren fast so etwas wie ein goldenes Jahrzehnt der Stadtentwicklung aus. Weder der Status, noch der politische Wille einer Planwirtschaft waren geeignet das Stadtwachstum voranzubringen. Geeignet war einzig und allein die Bereitstellung von Wohnraum. Eine Erfahrung die auch anderswo in der DDR gemacht wurde.
TECHNOPOLIS. JENA ALS MODELLSTADT DER SPÄTEN ULBRICHT-ÄRA Rüdiger Stutz
Der 20. Gründungstag der DDR am 7. Oktober 1969 markierte im politischen Kalendarium der SED-Führung einen ganz besonderen Glanzpunkt. Dem entsprechend wurden die zentralen Feierlichkeiten in Berlin vom Partei- und Staatsapparat akribisch vorbereitet. Das umfangreiche Rahmenprogramm sah auch eine Ausstellung über die Baukunst, bildende Kunst und das so genannte bildnerische Volksschaffen vor. In ihr sollten solche Werke der Architektur, bildenden Monumentalkunst und Grafik präsentiert werden, die den von der Politbürokratie gesetzten Normen für eine „sozialistische Umgestaltung“ der Städte und Siedlungsschwerpunkte entsprachen. Zudem hoffte die um internationale Anerkennung ringende UlbrichtRiege, mit dieser Exposition die Ausstrahlung des sozialistischen Realismus auf das Ausland verstärken zu können. Vorbereitend hatten im Frühjahr 1969 Ausstellungen in den Bezirken der DDR stattgefunden, auf denen die Exponate für die zentrale Schau im Alten Museum bzw. auf dem Freigelände im Lustgarten ausgewählt worden waren. Die Abteilung Bauwesen des Zentralkomitees der SED hatte dafür folgende Kriterien festgelegt: „Es dürfen nur solche städtebaulichen Projekte bzw. Modelle gezeigt werden, die im Politbüro und Ministerrat beschlossen sind. Deshalb sind aus der Konzeption herauszunehmen: Aufbau des Stadtzentrums Rostock, Rekonstruktion der Innenstadt von Erfurt.“ Vielmehr seien solche Beispiele der Stadterneuerung herauszustellen, die durch den technologischen Strukturwandel in der Volkswirtschaft ausgelöst wurden. Besonders vorzeigenswert erschienen den SED-Funktionären in diesem Zusammenhang die Entwürfe für Halle-Neustadt, Schwedt, Jena und Eisenhüttenstadt, während sie auf ein Modell von Hoyerswerda „aufgrund der unbefriedigenden städtebaulichen Qualität“ ausdrücklich verzichten wollten. Dem Thema „Strukturpolitik und Stadtentwicklung“ wurde sogar ein eigener Ausstellungsraum gewidmet. In ihm konnte die hauptstädtische Öffentlichkeit zum ersten Mal Planungsansätze begutachten, die eine großflächige Überbauung der Städte Jena und Schwedt erahnen ließen.1 1
Vgl. für den gesamten Abschnitt Joachim Palutzki, Architektur in der DDR, Berlin 2000, S. 226–231. Zit. nach: S. 227 u. 228. Ein ADN-Foto präsentierte der Presse immerhin Admiral Waldemar Verner, Chef der Politischen Hauptverwaltung der NVA, als hochrangigen Ausstellungsbesucher beim Betrachten des Jena-Modells. Vgl. Thüringische Landeszeitung, Nr. 258 v. 30. Oktober 1969, S. 1. Abgelegt in: Unternehmensarchiv der Carl Zeiss Jena GmbH (UACZ), Verwaltungsarchiv des Kombinates VEB Carl Zeiss (VA), Nr. VA 02536.
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In zwei Artikeln der Fachzeitschrift des Bundes der Architekten der DDR klang an, dass die etwa 100.000 Ausstellungsbesucher das Modell für die „Neugestaltung“ der Jenaer Innenstadt2 mit gemischten Gefühlen beurteilt haben müssen. Gerade über diesen Entwurf sei „oft diskutiert und gestritten“ worden, erwähnte ein Diplomingenieur, der die vorgestellte Konzeption für die Gestaltung des Zentralen Platzes allerdings verteidigte. Die überdimensioniert erscheinende Komposition des Zentrums sei lediglich als Ausgangspunkt für die Umgestaltung der gesamten Stadt zu betrachten, was schließlich zu einem völlig neuen städtebaulichen Maßstab und günstigeren visuellen Eindruck führen werde.3 Ein Gesellschaftswissenschaftler konnte „die lebhaften Diskussionen“ über das Jena-Modell besser nachempfinden. Er meinte, die Errichtung immer gewaltigerer Kompaktbauten für die expandierenden Zeiss-Werke würde die mittelalterlich geprägte Struktur der Stadt förmlich sprengen, was zu diesem Zeitpunkt bereits wörtlich genommen werden konnte.4 Zweifellos beurteilten viele Zeitgenossen die von der SED-Führung in den späten 1960er Jahren forcierte Umgestaltung ausgewählter Stadtzentren höchst kontrovers. Nur änderten sich nach dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker die Vorzeichen, weil nunmehr in Ost und West die Kritik bei weitem überwog. So betonte der Direktor des Ostberliner Instituts für Architektur und Städtebau in seinem Rückblick auf ein Vierteljahrhundert Architekturentwicklung in erster Linie, zwischen 1963 und 1970 seien in der DDR 585.000 Wohnungen entstanden. Vom Städtebau war kaum noch die Rede, schon gar nicht vom Jenaer Modellvorhaben, das nur fünf Jahre zuvor in den Mittelpunkt einer zentralen Architekturausstellung gerückt worden war. Mit Blick auf Berlin und die detailliert vorgestellten Bezirksstädte hieß es lediglich, dass in relativ kurzer Zeit eine spürbare Verbesserung des architektonischen und städtebau-künstlerischen Niveaus erreicht worden sei. Dunkel ergänzte der Autor „aus kritischer Sicht“, allerdings seien „die ökonomischen Probleme“ nur unzureichend gemeistert worden.5 Weitaus schärfer ging der bundesdeutsche DDR-Experte Manfred Ackermann mit der Architektur und dem Städtebau der 1960er Jahre ins Gericht. Er verknüpfte mit ihnen Monotonie und Gigantismus, Industrialisierung und Verkehrsplanung im großen Stil, irreparablen Abriss bzw. den Verfall der Altstädte. Dass dieses Dezennium von der Warte des Jahres 1986 besonders kritisierenswert erscheine, läge neben dem fehlenden zeitlichen Abstand vor allem an den erweiterten bautechnischen Möglichkeiten jener Jahre. Zudem irritiere die Rigorosität und Schnelligkeit, mit der die städtebaulichen Konzepte der politischen Herrschaftsträger gegenüber den Kommunen und der städ2
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Vgl. Architektur und bildende Kunst. Ausstellung zum 20. Jahrestag der DDR, Berlin 1969, S. 90. [Stadtzentrum Jena. Zentraler Platz. Modell]. Ein nur wenige Wochen zuvor veröffentlichter Überblick über das Bauwesen im Bezirk Gera enthielt noch keinen Hinweis auf die Umgestaltung des Jenaer Stadtzentrums. Vgl. Werner Lonitz, Aufbau im Bezirk Gera, in: Deutsche Architektur 18, 1969, S. 552–555. Vgl. Hans-Jürgen Kluge, Architektur und bildende Kunst – Ausstellung zum 20. Jahrestag der DDR, in: deutsche architektur 19, 1970, S. 8. Vgl. Alfred Hoffmann, Aktuelle Probleme der Synthese von Architektur und bildender Kunst, in: deutsche architektur 19, 1970, S. 196 f. Gerhard Krenz, Architektur zwischen gestern und morgen. Ein Vierteljahrhundert Architekturentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin [1974], S. 21–23, hier: S. 23.
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tischen Öffentlichkeit durchgesetzt werden konnten.6 Zu einem ähnlichen Urteil gelangte Joachim Palutzki Ende der 1990er Jahre, der mit Blick auf die Pläne für die Jenaer Innenstadt von einer „radikalen Neugestaltung ohne Rücksicht auf die vorhandene Bausubstanz“ sprach. Diesen Planungen habe die großräumige Überbauung des Altstadtkerns von Karl-Marx-Stadt als Vorbild gedient. Im Falle ihrer Verwirklichung wäre im mittleren Saaletal „eine völlig neue Stadt“ entstanden.7
Abb 1: Hermann Henselmann u.a., Modell: Innenstadt von Jena, Planung nach 1975, Planungsstand 1968/Anfang 1969; Quelle: Unternehmensarchiv der Carl Zeiss Jena GmbH, Bestand Verwaltungsarchiv des Kombinates VEB Carl Zeiss, Nr. VA 01025
Im Frühjahr 1999 gestalteten Studierende des Kunsthistorischen Seminars der Universität Jena eine Ausstellung über den zwischen 1969 und 1972 errichteten „Turm von Jena“, der die Dominante eines neuen Gebäudeensembles im Stadtzentrum bilden sollte.8 Diese studentische Initiative zur bewussten Auseinandersetzung mit der jüngsten Architektur- und Lokalgeschichte würdigend, urteilte Jens-F. Dwars zwei Jahre später, der Turmbau habe nicht nur den Einbruch der Moderne in den Binnenraum einer bis dahin eher kleinbürgerlich-konservativ geprägten Stadt versinnbildlicht. Darüber hinaus würden sich in ihm auch übergreifende Wandlungsprozesse des DDR-Sozialismus in der Reformperiode des Neuen Ökonomischen Systems und internationale Einflüsse widerspiegeln. Denn die „Grundsätze“ der 6 7 8
Vgl. Manfred Ackermann, Veränderungen in Architektur und Städtebau der DDR, in: Tradition und Fortschritt in der DDR. Neunzehnte Tagung zum Stand der DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland 20. bis 23. Mai 1986, Köln 1986, S. 141–168, hier: S. 145. Palutzki, Architektur, S. 231. Vgl. Der Turm von Jena. Architektur und Zeichen, hrsg. v. Michael Diers, Stefan Grohé und Cornelia Meurer, Jena 1999.
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Deutschen Bauakademie zu Berlin (DBA) über die Planung und Gestaltung der Städte aus dem Jahre 1965 hätten auf eine Modernisierung der Architektur orientiert, Funktionalität sei ihr neues Fahnenwort gewesen.9 Dieser vorrangig bautechnologische Entwicklungstrend sollte aber nicht vergessen machen, dass die autoritären und dogmatischen Grundlagen des „DDR-Sozialismus“ in der Ulbricht-Ära davon unberührt blieben. Zum gesellschaftspolitischen Kontext des DDR-Städtebaus in den 1960er Jahren Fraglos wiesen Architektur und Städtebau in der DDR einen sozial fundierten Kern auf, in dem auch bestimmte Facetten der frühen städtebaulichen Moderne auf die 1960er Jahre nachwirkten. Nicht nur dem Anspruch nach sollte sich die Sozialstruktur der „sozialistischen Stadt“ ausgeglichen entwickeln.10 Darin wurde ein Garant ihrer Lebens- und Zukunftsfähigkeit erblickt. Denn die Stadt galt den Machtund Planungseliten der SED auf absehbare Zeit als die Hauptform der Ansiedlung des Menschen. Eine ‚Ausuferung der Städte‘ in ihr Umland sollte unter allen Umständen vermieden werden, allen Tendenzen zur Auflösung der Stadt, hieß es in einer 1969 veröffentlichten Darstellung, werde entgegengewirkt.11 Dies beinhaltete eine deutliche Absage an das 1941 begründete Konzept der Stadtlandschaft, das vor allem in den 1950er Jahre den Städtebau in der Bundesrepublik geprägt hatte und dort bis etwa 1970 einflußreich geblieben ist.12 Die offiziöse Ablehnung einer Zersiedelung der Städte – realiter wurden freilich seit Anfang der 1960er Jahre weit in die „Landschaft“ ausgreifende Stadterweiterungen vorgenommen – schloss das Bekenntnis der Staatsführung zur ‚kompakten Stadt‘ ein. Es gipfelte in der Wahrnehmung des Zentrums als politischem und kulturellem Mittelpunkt der „sozialistischen Stadt“ und ihres ländlichen Einzugsbereiches mit der größten Verdichtung aller gesellschaftlichen Kommunikationsbeziehungen. Wobei Architekturtheoretiker und Stadtsoziologen vor allem den letzteren Gesichtspunkt akzentuiert wissen wollten. Von den genannten Wissenschaftlern wurde aber auch das vielfach gegeißelte Schreckbild der ‚kapitalistischen City‘ beschworen, aus denen gerade die Kultur- und Wohnfunktionen zusehends verdrängt würden. Deshalb bildete die Revitalisierung der Innenstädte eine wichtige Forderung auf der Agenda des Städtebaus im Staatssozialismus. Neben Verkehrsberuhigung oder angedachten Fußgängerzo9
Vgl. Jens-F. Dwars, Der Turm zu Jena. Zwischen Hybris und Redlichkeit, in: Erinnerung an die Zukunft. Jenas Aufbruch in die Moderne. Anspruch und Scheitern eines komplexen Reformversuchs am Ende des NÖS, hrsg. v. Jens-F. Dwars, Jena 2001, S. 111–120, hier: S. 112. 10 Vgl. exemplarisch das Interview mit dem Chefarchitekten beim Rat der Stadt Rostock, Wolfgang Urbanski, in: Erika Runge, Eine Reise nach Rostock, DDR, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1972, S. 225–230, hier: S. 229. 11 Vgl. Städte und Stadtzentren in der DDR. Ergebnisse und reale Perspektiven des Städtebaus in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin [1969], S. 17. 12 Vgl. 1945. Krieg – Zerstörung – Aufbau. Architektur und Stadtplanung 1940–1960, Berlin 1995, S. 174.
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nen sollten zentrumsnahe Wohnstätten die „Lebendigkeit des Zentrums“ erhöhen. Wenn man so will, antizipierten die Städteplaner unter diesem Aspekt bereits nachmoderne Bemühungen um die (Wieder-) Verflechtung der Funktionen Arbeit, Wohnen und Kultur/Freizeit.13 Doch verdeutlichten alle Neugestaltungsvorgaben und -entwürfe auch eine starke Tendenz zur Monumentalisierung der geplanten Zentrumsbauten, die mit einer erneuten Ideologisierungswelle im Städtebau und in der Architektur der DDR Hand in Hand ging. In diesem Zusammenhang merkte der Architekturhistoriker Ulrich Hartung an, aus dem Fehlen historistischer Gliederungen und Ornamente dürfe eben nicht ohne weiteres auf die Übernahme modern-funktionalistischer Architekturkonzepte in den 1960er Jahren geschlossen werden. Denn die Anordnung, zum Teil auch die Gestaltung von Gebäudetypen dieser Zeit würde belegen, dass essentielle Bewertungsmaßstäbe des Traditionalismus bis in die Ära Honecker in Kraft geblieben seien, d. h. einzelne Leitvorstellungen der „Sechzehn Grundsätze des Städtebaus“ aus dem Jahre 1950.14 Die Planungen für die Innenstadtbebauungen der Bezirksstädte offenbarten in jenen Jahren noch weitere Rückbezüge auf den Weltanschauungshimmel des Spätstalinismus. So sahen die Entwürfe für die Domstadt Erfurt nicht nur vor, den gesamten Altstadtbereich außerhalb des Gerabogens zu überbauen und den Kranz der Hochhäuser am Juri-Gagarin-Ring noch zu verdichten. Vielmehr sollte auf dem Petersberg ein Jugendtouristik-Hotel entstehen, um die ehrwürdige Baugruppe des Domes und der Severikirche durch eine neue „sozialistische“ Stadtkrone zu marginalisieren.15 Diese antiklerikale Stoßrichtung äußerte sich in den städtebaulichen Leitkonzepten der späten 1960er Jahre auf mannigfache Weise. Starrsinnig und machtversessen wurden alle Einsprüche gegen die Sprengung der Leipziger Paulinerkirche im Mai 1968 zurückgewiesen. Hermann Henselmanns expressiver Gestaltungsvorschlag für den Neubau einer Landwirtschaftlichen Hochschule sah ebenfalls einen Abriss der Überreste der Neubrandenburger Marienkirche vor. Dass es nicht dazu kam und die Entwurfsvorlagen für die Umgestaltung der Innenstädte von Erfurt und Neubrandenburg im SED-Politbüro nicht bestätigt wurden, könnte in der Tat lediglich den unterdrückten Unmutsbekundungen Leipziger Bürger(innen) gegen die Kirchensprengung zu danken gewesen sein. Diese Vermutung stützt sich auf die 13 Vgl. Ursula Flecken, Zur Genese der Nachmoderne im Städtebau: Entwürfe 1960–1975 in Westdeutschland, Berlin 1999, S. 350. 14 Vgl. Ulrich Hartung, Funktionstypen und Gestalttypen in der DDR-Architektur der sechziger Jahre, in: Christoph Bernhardt/Thomas Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner bei Berlin 2005, S. 181–207, hier: S. 182 u. Simone Hain, Über Turmbauer und Schwarzbrotbäcker: Gebaute Landschaft DDR, in: Zwei deutsche Architekturen: 1949–1989. Eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen e.V. in Kooperation mit der Föderation Deutscher Architektursammlungen, Stuttgart 2004, S. 26–39, hier S. 31 f. 15 Vgl. Thomas Topfstedt, Städtebau in der DDR 1955–1971, Leipzig 1988, S. 116–118; Architektur und Städtebau in der DDR. Herausgeber: Deutsche Bauakademie Berlin, [Berlin 1969], S. 38; Dietrich Kautt, Stadtkrone oder städtebauliche Dominante: Herkunft und Wandel einer Idee, in: Die alte Stadt. Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 11, 1984, S. 139–150.
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Erinnerungen von Iris Grund, zum genannten Zeitpunkt Stadtarchitektin von Neubrandenburg und ein Protegé Henselmanns.16 Jedenfalls wurde den Kirchen und insbesondere den evangelischen Christen in Ulbrichts Gesellschaftskonstrukt einer „sozialistischen Menschengemeinschaft“ nur ein Randplatz zugewiesen. Selbstredend wies die Städtebaupolitik der SED-Führung auch eine Spitze gegen den ‚äußeren Klassenfeind‘ auf, also gegen das von Willy Brandt geführte sozialliberale Bundeskabinett, das seit 1969 in Bonn regierte. Die Ulbricht-Riege, zentrale Institute der DBA und die Bau- und Montagekombinate bzw. Büros für Industrieprojektierung auf der Bezirksebene zielten übereinstimmend auf eine „Neukomposition“ der in der Hierarchie ihrer Bedeutungszuschreibungen hervorgehobenen Städte, die zudem ein „einmaliges, unverwechselbares Antlitz“ erhalten sollten. Hierbei war an die ‚Konservierung‘ von kulturhistorisch wertvoll erachteten Denkmalinseln gedacht und an eine Synthese aus moderner Architektur und „Sozialistischem Realismus“ in der bildenden Kunst bzw. Wandmalerei.17 Auf diese Weise hofften die Großplaner eine stärkere Heimatverbundenheit unter den Einwohnern der ‚neuen Städte‘ wecken zu können. Der Sozialismus strebe eben nicht nur zweckmäßige, sondern auch schöne Städte an. Hierin klang durchaus Kritik an den modern, aber langweilig gestalteten ersten Bauabschnitten der Planstadt Hoyerswerda an, dezidiert wurde gegen „Schematismus und Monotonie“ im Städtebau Front bezogen, zumindest publizistisch.18 Summa summarum lassen sich die Grundsätze der baulichen ‚DDR-Moderne‘ in den 1960er Jahren „nicht eins zu eins mit westeuropäischen Architekturvorstellungen übersetzen“, wie Holger Barth gestützt auf neuere sozialwissenschaftliche Modernisierungstheorien herausarbeitete.19 Sie erwiesen sich als vielschichtig, aber auch als inkonsistent und widersprüchlich. Es drängt sich ein Vergleich mit Janus auf, dem römischen Gott der Tür, des Beginns und des Ein- und Ausgangs. Auf der Schwelle zur damals gegenwärtigen Funktionalarchitektur stehend, blieb sein Blick rückwärtsgewandt, den Leitideologien eines autoritär-repressiven Sozialismus fest verhaftet, und zugleich auf durchaus zukunftsweisende Gestaltungsideen gerichtet. Dem entsprechend beruhte der Planungsentwurf der DBA zur städtebaulichen Umgestaltung des Zentrums von Jena auf einer systemspezifischen Verknüpfung von moderner Architektur, traditionalistischer Kunst und aufgesetzter Heimatideologie. 16 Vgl. Gabriele Wiesemann, Die Hochschule für Landwirtschaft in Neubrandenburg. Eine neoexpressionistische Architekturphantasie von Hermann Henselmann, in: hochschule ost 7, 1998, 1. Quartal, S. 55–68, hier: S. 67 f. 17 Vgl. Hubertus Adam, Zeichen der Universität oder platzbeherrschendes Monument? Zur Planungs- und Entstehungsgeschichte des Leipziger Universitätsreliefs, in: Ebd., S. 89–103, hier: S. 89 und zum Stellenwert des Denkmalschutzes: János Brenner, Über den städtebaulichen Wert vorhandener Bausubstanzen, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 18, 1969, 1, S. 87–89 u. Horst von Tümpling, Was wird aus unseren alten Städten, in: deutsche architektur 19, 1970, 3, S. 187. 18 Städte und Stadtzentren in der DDR, S. 18. 19 Holger Barth, „Porträts in miniature“. Architekten und Stadtplaner in der DDR, in: Ders. (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001, S. 21–47, hier S. 38.
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So zitierten die Publikationen der DBA und die Entwürfe des einflussreichen Architekten Hermann Henselmann zu dieser Zeit die urbanistischen Utopien von Le Corbusier und Auguste Perret. Zugleich votierten sie aber für „bewusstseinsbildende“ Wirkungen einer „sozialistischen Baukunst“ sowie für eine „unverwechselbare“ Stadtgestalt und sinnstiftende Raumorganisation der Innenstädte.20 Die SEDFührung verfolgte mit ihrer Städtebaupolitik wiederum macht- und ideenpolitische Ziele, die sich in der Formgebung der neuen Zentrumsbauten geradezu manifestieren sollten. Die ohne Frage griffige Formel „Jenas Aufbruch in die Moderne“ verkleistert diese Herrschaftsintentionen nur. Eine erfolgreich bewältigte Stadterneuerung sollte nicht zuletzt die Überlegenheit der zentralistischen Planwirtschaft im Systemwettstreit bezeugen, was gerade mit einer wachsenden Abgrenzung von der Moderne des Westens einherging. Die planokratische Bauwut der späten UlbrichtÄra und die seinerzeit unter Leitarchitekten, Soziologen und Kulturwissenschaftlern lebhaft diskutierten Anforderungen der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ an den Städtebau erscheinen uns daher denkbar ungeeignet, „um Fragen an eine Gegenwart zu schärfen, in der ein erneuter Modernisierungsschub wieder nach Reformen verlangt.“21 Daneben wird im Folgenden nachdrücklicher betont, welche stadtkulturellen Verluste den Einwohnern von Jena aus diesem Modernisierungsansatz erwachsen sind. Der Städtebau im Fokus der zentralen Wirtschafts- und Standortplanung In offiziösen Verlautbarungen über das Strukturprofil von Jena offenbarte sich 1968 ein industriepolitisch bedingter Leitbildwandel. So lautete die Zuschreibung der DBA nunmehr „Stadt von Zeiss und der Universität“.22 Diese demonstrative Umkehrung der stadtbildenden Faktoren in der traditionsreichen Universitäts- und Industriestadt zugunsten des Optik-Standortes trug einer seit dem VII. Parteitag der SED im Jahre 1967 allenthalben spürbaren Rangordnung Rechnung. Natürlich ent20 Vgl. Hermann Henselmann, Bauwesen und Lebensweise der Bevölkerung. Vortrag auf der Konferenz des Präsidiums der URANIA am 17./18. Januar 1967. Als Manuskript gedruckt, o. O. o. J.; Ders., Lebensweise in der Stadt von morgen, in: Blick ins nächste Jahrzehnt. Entwicklungswege der Wissenschaften, Leipzig, Jena u. Berlin [1968], S. 174–183, hier: S. 180 f.; Bauen und Wohnen in der DDR. Moderne Städteplanung im Sozialismus, Berlin 1970 u. Brigitte Reimann/Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen. Briefwechsel, hrsg. v. Ingrid Kirschey-Feix, Berlin 2001, S. 93–96. 21 So Jens-F. Dwars, Jenas Aufbruch oder: Der Einbruch der Moderne ins Saaletal, in: Erinnerung an die Zukunft, S. 7–13, hier: S. 10. 22 Ule Lammert, Städtebau und Architektur bei der Gestaltung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Neue Anforderungen an Städtebau und Architektur. 22. Plenartagung der Deutschen Bauakademie 16. und 17. Oktober 1968, hrsg. v. der Deutschen Bauakademie zu Berlin, Berlin 1969, S. 9–24, hier: S. 17; vgl. ferner Die Zeiss- und Universitätsstadt Jena im 20. Jahr der DDR, hrsg. v. Rat der Stadt Jena, o. O. o. J. [Jena 1969], S. 11 u. Rüdiger Stutz, „Durchbruchstellen“ des technischen Fortschritts – Walter Ulbricht und die Umgestaltung der Jenaer Innenstadt (1967–1971). Beilage zu „Der Turm von Jena“, S. 2.
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sprach sie auch den Festlegungen des so genannten Arbeitsbesuches von Walter Ulbricht in der Saalestadt. Der Erste Sekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzende des Staatsrates der DDR führte am 25. und 26. April 1968 an der Spitze einer vielköpfigen Politbüro- und Regierungsdelegation mehrere Gesprächsrunden in den Zeiss-Werken und an der Universität Jena durch. Mit dem Oberbürgermeister der Stadt konferierte Ulbricht indessen nicht. Bereits am ersten Besuchstag hatte er sich in einer streng vertraulichen Beratung mit der Kombinatsleitung des VEB Carl Zeiss sogar scharf gegen die Jenaer Kommunalpolitiker und Architekten ausgesprochen: Der Teufel solle sie holen, hatte sein vernichtendes Urteil gelautet. Man könne eine Stadt mit einem Werk von Weltgeltung nicht in diesem traurigen Zustand belassen. Jena sei sehr verbaut, nun würde auch noch damit begonnen, den jüngsten Stadtteil Lobeda zu verunstalten. Im Sozialismus könnten die Häuser nicht so „hingeklatscht“ werden, wie es im Kapitalismus gang und gäbe sei. Das entspräche nicht der Qualitätsarbeit und den Spitzenleistungen der Mitarbeiter von Zeiss. Die Architekten der Stadt müssten sich daher anstrengen, ebenfalls „Weltniveau“ zu erreichen, und zwar rasch. An den anwesenden Präsidenten der Deutschen Bauakademie und an den Minister für Bauwesen, Wolfgang Junker, gewandt, ordnete Ulbricht abschließend an: „Wir verbessern diesen Bau und bauen einige Hochhäuser dazu, um aus dem Dorf noch eine Stadt zu machen. Jetzt verstehe ich, daß die Architekten nicht gewagt haben, das Stadtzentrum in Angriff zu nehmen. […] Mein Vorschlag ist: In Lobeda weiterbauen, aber für den Stadtkern einen Generalbebauungsplan erarbeiten. Festlegen, welche Baudenkmäler erhalten bleiben müssen. Die Bauakademie und das Ministerium für Bauwesen müssen entsprechende Leute bereitstellen. Es besteht ein zu großer Gegensatz zwischen Zeiss und der Stadt, die wie eine Provinzstadt wirkt.“23
Die von Ulbricht vor Ort erteilten Anweisungen nahmen Jena vornehmlich aus der Perspektive eines Industriegiganten wahr. Die Stadt erschien ihm als ein bloßes Gestaltungsobjekt der Machtsphäre, so dass drängende Probleme der städtischen Eigenentwicklung wie die Suburbanisierung durch Stadtteil- und Wohngebietszentren von vornherein ausgeblendet blieben.24 Daneben bezeugten seine Anordnungen den unerschütterlichen Glauben, die Institute der DBA und das Bauwesen der DDR verfügten über das erforderliche Theoriewissen und die Ressourcen, Bautechnologien und Arbeitskräfte, um die voluminösen Bauleistungen für die Modernisierung der Leitindustrien und den Ausbau der Stadtzentren gleichzeitig gewährleisten zu können.25 23 Protokoll der Beratungen Ulbrichts im VEB Carl Zeiss Jena, 25.04.1968, SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2.021/577, Bll. 119–140, hier: Bl. 137. 24 Vgl. Bruno Flierl, Stadtgestaltung in der ehemaligen DDR als Staatspolitik, in: Peter Marcuse/ Fred Staufenbiel (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch: Perspektiven der Stadterneuerung nach 40 Jahren DDR, Berlin 1991, S. 49–65, hier: S. 60. 25 Die Investitionsprojekte des technologischen Strukturwandels überforderten die Baukapazitäten in den industriellen Ballungsgebieten und beanspruchten in einigen Bezirken fast 100% des Bauvolumens. Gleichzeitig legte die Plankommission fest, der zentralgeleiteten Industrie und den Baukombinaten nur 21% der Bruttobauproduktion zur Verfügung zu stellen, um den Wiederaufbau der Stadtzentren absichern zu können. Damit war ein unlösbarer Ressourcenkonflikt
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Auf der Basis solcher grundsätzlichen Vorgaben der Staatspartei, aber auch einem wachen städtebaulichen Interesse verpflichtet, wurde die Neugestaltung der Stadtzentren auf der 22. Plenartagung der DBA von Architekten, Stadtplanern, Stadtsoziologen, Denkmalschützern und bildenden Künstlern im Oktober 1968 ausführlich diskutiert. Ihr Vizepräsident, Ule Lammert, versuchte in seinem Hauptreferat, Städtebau und Architektur – in dieser Reihenfolge im Titel genannt – als aktive Gestaltungselemente einer Gesellschaftspolitik der SED zu umreißen, die die Zukunft fest im Blick habe. Zunächst bestimmte er die „Wesenszüge“ einer typisch westlichen Architektur, die in der räumlichen Organisation und architektonischen Vermittlung der den Kapitalismus prägenden Ware-Geld-Beziehungen bestünden. Das äußere sich in der Massierung von Konzernbauten in den Zentren der Städte und münde in eine Stadtgestalt, die den „Dschungelaspekt der Konkurrenzgesellschaft“ veranschaulichen würde.26 Seine Ausführungen über die „neue sozialistische Stadt als Strukturform der sozialistischen Gemeinschaft“ bildeten dazu natürlich eine Kontrastfolie. Sie gipfelten in der Aussage, jede bauliche Maßnahme zur Umgestaltung der Stadt in der DDR müsse als Teil ihrer Erneuerung von Grund auf, als Teil ihrer Umgestaltung zur sozialistischen Stadt begriffen werden. Dieses Ziel vor Augen, sei es notwendig, „alle Neubau- und Rekonstruktionsmaßnahmen von vornherein kombiniert durchzuführen, vom Stadtzentrum ausgehend zielgerichtet die Struktur der Stadt zu erneuern und unter diesen Aspekten den Wohnungszuwachs, den Wohnungsersatz, die Werterhaltung und den Bau gesellschaftlicher Einrichtungen zu betreiben.“ In Jena werde der Versuch unternommen, eine solche komplexe und tief greifende Überbauung der historisch gewachsenen Stadt in die Tat umzusetzen. Es ginge also darum, „die sozialistische Stadt als Ganzes zu bauen.“27 Diese programmatischen Aussagen entbehrten mit Blick auf frühere Debatten um die Konzeptionen der Neubau-Städte nicht einer gewissen systemimmanenten Logik. Denn Hans Schmidt hatte schon 1963 kritisiert, es dürfe nicht unentschieden bleiben, ob das alte Schwedt wieder aufgebaut werden würde oder radikal neu gebaut werden solle. Ende der 1960er Jahre wurde diese Frage eindeutig zugunsten einer rigorosen Überbauung entschieden.28 Auch in dieser latenten Kontroverse hatte Ulbricht während seines Besuches in Jena die Linie vorgegeben: In Jena müsse „eine Anzahl Häuser“ abgerissen werden, um „neue Hochhäuser hinsetzen“ zu können.29 Er verwies ausdrücklich auf den vom Politbüro bestätigten Generalbebauungsplan für das Stadtzentrum von Suhl, das ebenfalls in einem Flusstal lag. Es sollte zukünftig durch den Rundbau einer Stadthalle, kombiniert mit zwei Hoch-
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vorprogrammiert! Vgl. André Steiner, Die DDR-Wirtschaftsreform der sechziger Jahre. Konflikt zwischen Effizienz- und Machtkalkül, Berlin 1999, S. 456. Lammert, Städtebau und Architektur, S. 15. Diese Rede wiederholte die Kernforderungen der Politbürovorlage vom 03.04.1968 über die städtebauliche und architektonische Gestaltung der wichtigsten Stadtzentren und Siedlungsschwerpunkte in Vorbereitung des 20. Jahrestages der DDR. Vgl. Palutzki, Architektur, S. 221 f. Lammert, Städtebau und Architektur, S. 22. Vgl. Klaus von Beyme, Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München u.a. 1987, S. 286. Protokoll des Besuchs von Ulbricht im VEB Carl Zeiss Jena, 25.04.1968, zit. nach: Erinnerung an die Zukunft, S. 143–154, hier: S. 152.
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häusern, und einer Gruppe von vier weiteren Wohnhochhäusern dominiert werden. Offenbar stand Ulbricht eine ähnliche Gestaltungsvariante für die Innenstadt von Jena vor Augen. Nach Auffassung von Thomas Topfstedt sei es den Architekten und Bauingenieuren in der südthüringischen Stadt allerdings weitaus besser gelungen als in der Saalestadt, den historischen und modernen Zentrumsteil miteinander in Beziehung zu setzen.30 Dass Jena überhaupt in einem Atemzug mit vorrangig geförderten Bezirksstädten wie Suhl genannt wurde, resultierte einzig und allein aus der sektoral orientierten industriepolitischen Strategie der SED-Führung.31 Diese zielte zwischen 1967 und 1971 auf den beschleunigten Übergang zu moderneren chemischen Technologien, zu einer effektiveren – technisch, ökonomisch und räumlich besser organisierten – Bauwirtschaft sowie zu einem weitgehend automatisierten Werkzeugmaschinenbau. Auf der Grundlage von Entwicklungsprognosen der einzelnen Industriezweige verabschiedete das Politbüro 1968 ein planwirtschaftliches Grundsatzdokument, die „strukturpolitische Konzeption“. Aus ihr wurden wiederum ca. 100 „strukturbestimmende Aufgaben“ für einzelne Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen und Verfahren abgeleitet. Auf letztere sollten die Investitionsmittel der Jahrespläne konzentriert werden, d. h. auf Automatisierungs- und Rationalisierungsmittel, EDV-Anlagen, optoelektronische Geräte, Kunststoffe, synthetische Fasern und andere Produkte der modernen Erdölchemie, Leichtbauteile, Erzeugnisse der Veredelungsmetallurgie sowie Bauelemente der Halbleitertechnik.32 Vor diesem Hintergrund sollten an den Hauptstandorten solcher Großkombinate wie Zeiss die städtebaulichen Beziehungen zwischen den technologie- und wissensintensiven Fertigungsbetrieben einerseits und der Industrieforschung bzw. den entsprechenden Ausbildungsstätten andererseits mit neuem Leben erfüllt werden, wie sich Ule Lammert ausdrückte.33 Er forderte vor allem, die Stadtentwicklung mit den mittelund langfristig erwarteten und prognostizierbaren Veränderungen in der Volkswirtschaft zu verknüpfen. Aus ihnen sei die „Standortverteilung der Produktivkräfte“ ableitbar, was den Funktionären, Stadtplanern und Architekten die Möglichkeit eröffne, die Generalbebauungs- und Generalverkehrspläne als strategische Planungsinstrumente zu erarbeiten. Die von ihm für jeden städtischen Investitionsschwerpunkt geforderte gesellschaftspolitische Konzeption müsse von diesen Grundlagen ausgehen. In ihr würden natürlich auch die lokalen Besonderheiten, die politische, ökonomische und kulturelle Zukunftsperspektive, die vorhandene Bausubstanz und die Tradition der jeweiligen Stadt ihre gebührende Berücksichtigung finden. Was Lammert seinen Zuhörern vorenthielt, war ein Hinweis auf das streng hierarchisch geordnete Städtesystem der DDR. Neben der Größe und Struktur des Einzugsge30 Vgl. Topfstedt, Städtebau, S. 120. 31 Vgl. Johannes Bröcker/Frank Richter, Entwicklungsmuster ostdeutscher Stadtregionen nach 1945, in: Lothar Baar/Dietmar Petzina (Hrsg.), Deutsch-deutsche Wirtschaft 1945–1990. Strukturveränderungen, Innovationen und regionaler Wandel. Ein Vergleich, St. Katharinen 1998, S. 98–135, hier: S. 134 u. Beyme, Wiederaufbau, S. 284. 32 Vgl. System und Entwicklung der DDR-Wirtschaft. Hrsg. v. Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Sonderheft 98, Berlin 1974, S. 25 f. u. Steiner, DDR-Wirtschaftsreform, S. 450 f. 33 Vgl. Lammert, Städtebau und Architektur, S. 17.
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bietes und der erwähnten Perspektivplanung im Rahmen des „Generalschemas der Standortverteilung der Produktivkräfte“ entschieden stufenbezogene Ausstattungsnormative der Planungsbehörden, welche Chancen sich einer Stadt für ihre zukünftige Entwicklung eröffnen würden.34 Die so genannte Strukturpolitik bildete also den Ausgangspunkt für eine in wenigen Wochen und Monaten ausgearbeitete und beschlossene Kapazitätserweiterung der Jenaer Großindustrie. Zwei Ministerratsbeschlüsse aus den Jahren 1967 und 1968 sahen vor, zwischen 1969 und 1975 etwa 6.900 Hoch- und Fachschulabsolventen mit ihren Familien in neu erbauten Wohnungen anzusiedeln. Ein Großteil von ihnen sollte nach diesen zentralen Vorgaben an industrienahen Instituten der FriedrichSchiller-Universität ausgebildet werden. Die Größenordnung des geplanten Modernisierungskomplexes verdeutlichte eine Prognose der SED-Bezirksleitung Gera, nach der die Stadt Jena im Jahre 2000 bereits 183.000 Einwohner zählen sollte. Selbstverständlich sah der Arbeitskräfteplan vor, in erster Linie Naturwissenschaftler, Ingenieure und Präzisionsarbeiter an den Industrie- und Wissenschaftsstandort Jena zu binden.35 Real vergrößerte sich die Einwohnerzahl Jenas nach den offiziellen Statistiken zwischen 1964 und 1976 um 16.500 Personen auf 101.000 Einwohner, womit dieser Stadtkreis in einer Rangliste aller Wachstumsregionen der DDR immerhin an neunter Stelle lag.36 In den 1950er Jahren war in gründlichen stadtgeografischen Studien noch eindringlich vor einer weiteren Bevölkerungszunahme und Industrieansiedlung im Stadtkreis Jena gewarnt worden, weil die topografischen und infrastrukturellen Voraussetzungen dafür nicht gegeben seien.37 Die Verantwortlichen im Politbüro des Zentralkomitees der SED und im Präsidium des Ministerrates glaubten jedoch, die aus dem Anwachsen der Einwohnerzahlen resultierenden Belastungen für das regionale Bauwesen und die örtlichen Versorgungseinrichtungen schultern zu können. Sie vertrauten vor allem auf neue Instrumentarien der zentralen Planwirtschaft. Ulbricht hatte auf dem VII. Parteitag gefordert, „den Räten der Bezirke eine größere Verantwortung für die Entwicklung des Bauwesens“ zu übertragen.38 Tatsächlich wurden Ende der 1960er Jahre Büros für Städtebau und Architektur bei den Räten der Bezirke wieder begründet, die vordem in den zwischen 1963 und 1968 gebildeten Bau- und Montagekombinaten aufgegangen waren. Diese mächtigen Verflechtungen wurden von den Bezirksverwaltungen kontrolliert und fassten die örtlichen Baubetriebe mit dem VEB Industrieprojektierung zusammen. Neben diesen Institutionen auf der Bezirksebene konstituierten sich 1968 Büros für Stadtplanung bei den Räten der Städte, die der Leitung 34 Vgl. ebd., S. 11 u. Dietrich Henckel, Entwicklungschancen deutscher Städte – die Folgen der Vereinigung, Stuttgart u.a. 1993, S. 373. 35 Vgl. Analytisch-prognostische Untersuchungsergebnisse am Beispiel Jena, undatiert, Thüringisches Staatsarchiv Rudolstadt (Th Rud), Bezirksparteiarchiv (BPA), Bezirksleitung der SED Gera (BL SED Gera), IV B–2/6/459, Bll. 241–255, hier: Bl. 253; zum Vergleich: im Jahre 1968 lebten 84.140 Einwohner in Jena. 36 Vgl. Angela Scherzinge/Herbert Wilkens, Regionalplanung und regionale Wirtschaftsstruktur in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1979, S. 39 f. 37 Vgl. Joachim H. Schultze, Jena. Werden, Wachstum und Entwicklungsmöglichkeiten der Universitäts- und Industriestadt, Jena 1955, S. 262–265. 38 Zit. nach: Beyme, Wiederaufbau, S. 280.
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eines Stadtarchitekten unterstanden. Sie ersetzten die kleineren Entwurfsgruppen für Stadtplanung in den kommunalen Bauämtern, die mehr oder weniger in die Bezirksplanung eingebunden gewesen waren. Denn nicht etwa die Städte, sondern die Bezirke und Kreise bildeten die unteren Verwaltungseinheiten in der DDR, wodurch den Kommunen nur geringe bauplanerische Entscheidungskompetenzen verblieben. Die kommunalpolitischen Gremien konnten bei der Standortwahl und planung der Staatlichen Plankommission und ihrer nachgeordneten Planungsbehörden lediglich mitwirken. Zu ihren Schwerpunktaufgaben zählten ferner die Beaufsichtigung der wenigen, ihnen unterstellten Baubetriebe und die Durchführung zentraler Wohnungsbauauflagen.39 In den übergeordneten Planungsstäben hoffte man, durch die Ausarbeitung von Generalbebauungs- bzw. Generalverkehrsplänen die regionale Wirtschafts- und Städtebauplanung wirkungsvoller aufeinander abstimmen zu können. „Die im Zusammenhang mit dem Neuen Ökonomischen System eingeführte Generelle Planung, seit 1966 Generalbebauungsplanung genannt, sollte die Einheit zwischen der ökonomischen und der technisch-gestalterischen Entwicklung der Stadt herstellen und die Perspektivplanung der Volkswirtschaft mit den für die prognostische Entwicklung der Stadt notwendigen städtebaulichen Maßnahmen und Investitionen koordinieren.“40 Und in der Tat resultierte aus dem Ulbricht-Besuch vom 25./26. April 1968 neben zahlreichen weiteren Festlegungen auch die Auflage, für das Stadtzentrum der Saalestadt einen neuen Generalbebauungsplan zu erarbeiten. Die Strukturpolitik orientierte darauf, die angewandte Grundlagenforschung, Entwicklung, Produktion und Ausbildung an den modernsten Industriestandorten räumlich zu konzentrieren, wo sich zwangsläufig auch die Nachfrage nach Arbeitskräften und betrieblichen Versorgungs- und Dienstleistungen spürbar erhöhen musste. Dieses Problem verschärfte sich durch die Festlegung, in den großstädtischen Ballungskernen und „in solchen wichtigen städtischen Industriezentren wie Jena, Erfurt, Magdeburg und anderen die dynamische Entwicklung volkswirtschaftlicher Strukturlinien in den entscheidenden Kombinaten und Betrieben einschließlich Großforschungszentren in erster Linie durch die Mobilisierung der inneren Potenzen dieser Territorien zu gewährleisten“. Das klang lapidar, zog jedoch in den betroffenen Bezirken und Kreisen erhebliche Veränderungen nach sich. Zum einen verband sich mit dieser Äußerung die Vorstellung, die Verstädterung gleichsam steuern zu können. Es gehe darum, diesen Prozess „bewusst zu gestalten“ und über „eine innerbezirkliche Wanderung die Groß- und Mittelstädte weiter auszubauen.“41 39 Vgl. Adelheid von Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, in: Dies. (Hrsg.), Inszenierte Einheit: Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 9–58, hier: S. 22; vgl. ferner Bruno Flierl, Gebaute DDR: über Stadtplaner, Architekten und die Macht. Kritische Reflexionen 1990–1997, Berlin 1998, S. 55 f. u. Frank Betker, Handlungsspielräume von Stadtplanern und Architekten in der DDR, in: Holger Barth (Hrsg.), Planen für das Kollektiv. Dokumentation des 4. Werkstattgesprächs vom 15.–16. Oktober 1998, Erkner (bei Berlin) 1999, S. 11–29, hier: S. 18. 40 Thomas Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991, S. 293. 41 Manfred Voigt, Zu einigen Problemen der Prognose der Standortverteilung der Produktivkräfte in der DDR, in: Generalbebauungsplanung der Städte der Deutschen Demokratischen Repu-
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In praxi führte diese Herangehensweise zu einer Abwanderung aus den Landkreisen, namentlich aus dem Umland der Ballungszentren in die größeren Industriestädte. Zum anderen fiel den bezirksgeleiteten Bau- und Montagekombinaten die drängende Aufgabe zu, die erforderlichen Wohnungen bereitzustellen und die infrastrukturellen Voraussetzungen für eine Ansiedlung der neuen Arbeitskräfte zu schaffen. Ulbricht hatte in diesem Zusammenhang während seines Besuches in Jena klargestellt, die Umgestaltung der Jenaer Innenstadt und die Errichtung des Werkes Zeiss II in Jena-Lichtenhain müssten „im Wesentlichen mit Mitteln und Kapazitäten des Bezirkes Gera“ erfolgen.42 Allerdings sah der zuständige Minister gerade das Bauwesen dieses Bezirks als das leistungsschwächste der gesamten DDR an. In einer Beratung über die Beschlussvorlage „Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena zum Zentrum der Forschung und Produktion für die Rationalisierungs- und Automatisierungstechnik der DDR“ im Präsidium des Ministerrates informierte er über Sofortmaßnahmen seiner Ministerialverwaltung, um die Situation rasch zu verbessern. Junker kam nicht umhin, das gesamte Bauwesen der DDR in die Pflicht zu nehmen, um kurzfristig 5.000 Bauarbeiter und 500 Millionen Mark in Jena einsetzen zu können. Zudem flehte er seine Ministerkollegen um jede Form der Unterstützung an, „besonders was die moderne Bautechnik betrifft.“ Als habe er eine Vorahnung des Scheiterns, fügte Junker an, sollte das nicht geschehen, stünde das Bauwesen vor einem „unlösbaren Problem“. Sein Ministerium könne nicht noch weitere Arbeitskräfte für die ‚größte Baustelle der DDR‘ zur Verfügung stellen.43 Ulbrichts Strukturpolitik und die „Neugestaltung“ der Jenaer Innenstadt Von der Chemisierung oder Komplexautomatisierung in volkswirtschaftlichen Dimensionen erhoffte sich Ulbricht für die rohstoffarme, aber mit hoch qualifizierten Fachkräften gesegnete Industriewirtschaft der DDR ungeahnte Entwicklungschancen. Auf einer Klausurtagung seines Strategischen Beraterkreises, bestehend aus hauptamtlichen Staats- und Parteifunktionären sowie einer ganzen Reihe von angesehenen Fachexperten, verlangte er denn auch, wissenschaftlich abgesicherte Prognosen „für bestimmte entscheidende Finalprodukte“ auszuarbeiten. Er bezeichnete letztere als die „Lokomotiven der Entwicklung“, wie beispielsweise die „Geräte von Zeiss, Haupterzeugnisse der chemischen Industrie, Erzeugnisse der Datenverarbeitung“.44 Neuentwickelte Gerätesysteme der feinmechanisch-optischen Industrie spielten auch nach Auffassung des Generaldirektors von Zeiss, Ernst Gallerach,
blik. Ein Beitrag zur prognostisch begründeten hocheffektiven Strukturpolitik, Berlin 1970, S. 25–30, hier: S. 29. 42 Protokoll der Beratungen Ulbrichts im VEB Carl Zeiss Jena, 25.04.1968, SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2.021/577, Bll. 119–140, hier: Bl. 137. Vgl. Erinnerung an die Zukunft, S. 152. 43 Niederschrift über die Behandlung dieses Beschlussvorschlages, 28.08.1968, zit. nach: Erinnerung an die Zukunft, S. 155–179, hier: S. 163 u. 164. 44 Zit. nach: Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 404.
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eine ähnlich revolutionierende Rolle für den technischen Fortschritt in der Großindustrie „wie heute die Chemie oder die Elektronik.“45 Mit seiner Bedeutung wuchs auch der Flächenbedarf des Zeiss-Werkes, worüber es aber zu handfesten Differenzen mit der Stadtverwaltung und dem Oberbürgermeister von Jena kam. Der Rat der Stadt hatte 1967 einen städtebaulichen Ideenwettbewerb für die Umgestaltung des Stadtzentrums von Jena ausgeschrieben. In diesem Papier wurde der Wohnungsbau an die erste Stelle der zu lösenden Aufgaben gerückt. Erst an der vierten Position rangierte die Industrie. Demnach sollte das im Stadtzentrum gelegene Hauptwerk von Zeiss nach 1975 rekonstruiert und an dessen Nordseite ein 8- bis 10-geschossiges Forschungsgebäude errichtet werden, das in die städtebauliche Bearbeitung einzubeziehen sei. Darüber hinaus seien weitere 10.000 m2 Nettofläche für Forschung, Entwicklung und Verwaltung bereitzustellen. Dieses Programm könne zwar nicht innerhalb der bestehenden Zeiss-Grundstücke untergebracht werden, Erweiterungen seien jedoch nicht in Richtung der Altstadt möglich, sondern nur südlich und nördlich des Hauptwerkes.46 Das konnte die Kombinatsleitung nicht akzeptieren, da sie auf einen weitläufigen Ausbau der Jenaer Stammwerke bestehen musste. In ihrem Beschluss vom 22. Februar 1967 über die „Rationalisierung, Rekonstruktion und Erweiterung des VEB Carl Zeiss Jena“, nebst einem entsprechenden Maßnahmenkatalog des Ministerrats vom 12. April 1967 hatte die SED-Führung angeordnet, die seit langem für Zeiss geplanten neuen Fertigungsflächen nicht erst 1974, sondern bereits 1971 zu übergeben. Ein umfangreicher Katalog von streng geheimen Lieferanforderungen verschiedener sowjetischer Industrieministerien hatte diese überstürzte Terminverkürzung ausgelöst.47 Um diese Exportverpflichtungen mittel- und langfristig erfüllen zu können, bestand die Kombinatsleitung aber auf dem Neubau von Forschungs- und Entwicklungsbüros an ihrem Hauptstandort in der Innenstadt. Vor diesem betriebsinternen Hintergrund wandte sich Zeiss über den Jenaer Architekten Hans Schlag Ende November 1967 an die DBA. Das Industriekombinat erteilte der Bauakademie den Auftrag, eine Modellstudie für den Bereich des Jenaer Stadtzentrums auszuarbeiten und dabei den „städtebaulich bestimmenden Faktor VEB Carl Zeiss Jena“ einzubeziehen. Die Bestrebungen der Direktoren des Großbetriebes, ein großes Areal im angrenzenden Altstadtkern für dessen räumliche Erweiterung zu nutzen, bildete auch für alle späteren Entwürfe zur Umgestaltung des Stadtzentrums eine unabdingbare Vorgabe.48 Zum ersten Mal in der Stadtgeschichte sollte die Bebauung der Zeiss-Werke den altstädtischen Gra45 Ernst Gallerach, Diskussionsbeitrag, in: Protokoll der Verhandlungen des VII. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 1.bis 3. Beratungstag, Bd. 1, Berlin 1967, S. 353. 46 Vgl. Städtebaulicher Ideenwettbewerb für die Umgestaltung des Stadtzentrums von Jena, Jena [1967], S. 34. 47 Vgl. BArch, DG 10/526, unpag., Hans-Joachim Pohl, Zur Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena im NÖS, in: Katharina Schreiner (Hg.): Politkrimi oder Zukunftsmodell? „Neues Ökonomisches System“ im VEB Carl Zeiss Jena, Jena 2002, S. 94–113, hier: S. 102–110 u. Cornelia Meurer, Das Architektenbüro Schreiter & Schlag in Jena. Vom Siedlungsbau bis zur Neugestaltung des Stadtzentrums, in: Barth, Planen für das Kollektiv, S. 115–122, hier: S. 121. 48 Cornelia Meurer/Petra Weigel, Planung und Wettbewerb – Die Baugeschichte des Forschungshochhauses des VEB Carl Zeiss Jena, 1967–72, in: Turm von Jena, S. 23–41, hier: S. 26.
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benring und damit eine Art Rubikon überschreiten, der im Selbstverständnis vieler Jenenser bislang als eine ausgleichende Grenze zwischen dem großindustriellen Jena und der kleinteiligen Altstadt gewirkt hatte.49 Die vom Zeiss-Kombinat geplanten Baumaßnahmen erläuterte Günter Mittag erstmals am 10. April 1968 dem Partei- und Staatschef. Bereits zu diesem Zeitpunkt war vorgesehen gewesen, einige Neubauten für Zeiss in Leichtstahlbauweise zu erstellen. Für den Bau der beiden neuen „Produktionssysteme“ in Lichtenhain und im Südwesten der Stadt, deren Ausrüstung mit Maschinen und die Errichtung eines großen Ausbildungskomplexes für Lehrlinge in Göschwitz, veranschlagte der Sekretär für Wirtschaft im ZK der SED lediglich ein Jahr.50 Außerdem galt als beschlossene Sache, im Neubaugebiet von Lobeda ein modernes ‚Universitätsforum‘ zu errichten. In diesem Zusammenhang räumte Ulbricht während seines Besuches in Jena allerdings ein, er bezweifle, dass die Staatliche Plankommission in der Lage sei, diese Idee zu verwirklichen. Er gab die Parole aus, es müsse „periodenweise“ gebaut werden. Die naturwissenschaftlichen und technischen Abteilungen der Universität hätten Vorrang, weil sie besonders eng mit der Jenaer Industrieforschung verbunden wären. Erst im Anschluss könnten Ergänzungsbauten für die geistesund sozialwissenschaftlichen Hochschulbereiche entstehen.51 Wie eine interne Mitteilung an Mittag vom 10. Mai 1968 ausweist, war erst während der Besprechungen mit den Partei- und Regierungsspitzen in Jena oder unmittelbar danach die Planungsidee entstanden, im Rahmen der Innenstadtüberbauung ein „neues Forschungshochhaus“ für die Entwicklungs- und Konstruktionsabteilungen von Zeiss zu errichten. Allerdings wäre noch keine Klarheit über 49 Vgl. Michael Diers, Einleitung, in: Turm von Jena, S. 9–14, hier S. 12. Bereits 1941 erwogen führende Politiker des NS-Gaues Thüringen, Jenaer Kommunalbeamte und der „Betriebsführer“ von Zeiss mit dem Rektor und dem Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Jena unter Leitung des Thüringischen Ministerpräsidenten Pläne, Teile der südwestlichen und nördlichen Altvorstadt zu überbauen. Vgl. Uwe Hoßfeld/Jürgen John/Oliver Lemuth/Rüdiger Stutz, „Kämpferische Wissenschaft“: Zum Profilwandel der Jenaer Universität im Nationalsozialismus, in: Dies. (Hrsg.), „Im Dienst an Volk und Vaterland“. Die Jenaer Universität in der NSZeit, Köln, Weimar und Wien 2005, S. 1–126, hier: S. 103–108. 50 Vgl. Hausmitteilung von Mittag an Ulbricht, 10.04.1968, SAPMO-BArch, NY 4182/1021, Bll. 70 f. Zum Produktionssystem Göschwitz, Werk I des VEB Carl Zeiss Jena, 1968/70 errichtet, vgl. Architekturführer DDR. Bezirk Gera, Berlin [1981], S. 131. 51 Protokoll des Besuchs von Ulbricht im VEB Carl Zeiss Jena, 25.04.1968, zit. nach: Erinnerung an die Zukunft, S. 143–154, hier: S. 151. Da diesen Planungen für den naturwissenschaftlichtechnischen Bereich 1968 Priorität zukam, mussten die überfälligen Projekte der Arbeitsgruppe „Medizinische Hochschulbauten“ letztlich aufgegeben werden. Obwohl Jena dringend ein neues Klinikum benötigte! Es sollte eine Komplexstruktur aufweisen, wodurch die traditionellen Universitätskliniken als selbstständige Einrichtungen aufgehoben worden wären, was für die Medizinischen Fakultäten der DDR innovativ gewesen sei. Vgl. Gerhard Weber, Wissenschaftspolitische Überlegungen zur baulichen Planung an der Friedrich-Schiller-Universität, in: Alma mater und moderne Gesellschaft, hrsg. v. Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft e. V., Jena 2004, S. 117–122. Diese Arbeitsgruppe unternahm Mitte der 1960er Jahre mehrere Studienreisen in die Bundesrepublik, nach Schweden, Finnland, in die Schweiz, čSSR, nach Ungarn und Polen, um moderne Krankenhausbauten aufzusuchen. Vgl. Gerhard Weber/Alfred Hecht, Reiseeindrücke vom medizinischen Hochschulbau in Schweden und Finnland, in: Deutsche Architektur 15, 1966, S. 309–311.
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dessen architektonische Gestaltung erzielt worden.52 Denn die für die detaillierte Projektierung vor Ort verantwortliche Planungsgruppe von Vertretern der Stadt Jena, des Zeiss-Werkes, des Büros für Stadtplanung Gera, des BMK Erfurt und der DBA griff wieder auf die Entwürfe eines Zeiss-Verwaltungshochhauses mit rechteckigem Grundriss zurück, die Schlag schon im Herbst 1967 der Bauakademie vorgelegt hatte. Solche oder ähnliche Vorschläge für den Bau eines 35 Etagen umfassenden Scheibenhochhauses belegte Henselmann aber am 7. November 1968 mit dem Verdikt des „Amerikanismus“.53 In den Monaten nach dem Ulbricht-Besuch wurde schließlich die endgültige Konzeption für die städtebauliche, architektonische und bildkünstlerische Neugestaltung der Jenaer Innenstadt entwickelt und am 14. Januar 1969 vom Politbüro des ZK der SED bestätigt. Ihren Kern bildete die Projektstudie „Zentrales Ensemble“, die von einer Arbeitsgruppe der DBA unter Henselmanns Leitung angefertigt worden war. Der hatte sich übrigens 1967/68 nicht an dem von der Stadt ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerb beteiligt. Demnach sollte das neue Forschungshochhaus mit einem Rehabilitationszentrum zu einem „völlig neuartigen Gebäudetyp“ kombiniert werden, wofür sich insbesondere der Ingenieur Rudolf Müller, Technischer Direktor des Zeiss-Werkes, gegenüber der DBA stark gemacht hatte. Der Entwurf sah ferner vor, den neuen Haupteingang zum Werk durch dieses Bauensemble an einem öffentlichen Platz zu führen, um auf diese Weise „die neue Qualität der Einheit von sozialistischer Großproduktion und städtischem Leben“ zu betonen. Diesem Gebäudekomplex ordnete die Studie ein Haus der Wissenschaft, Kultur und Bildung an der Südseite des zentralen Platzes zu, das allerdings niemals über eine Ideenskizze hinauswuchs. Der Höhenunterschied zur Platznordseite sollte drei Meter betragen und durch einen monumentalen Bildfries überbrückt werden, um „die Einheit von sozialistischer Revolution und wissenschaftlich-technischer Revolution künstlerisch umzusetzen.“54 Ergänzend konzipierte eine Prognosegruppe beim Sekretariat der SED-Bezirksleitung Gera „qualitativ neue Verflechtungen zwischen der Universität, dem Kombinat des VEB Carl Zeiss und der Stadtentwicklung insgesamt“ sowie durchgreifende Problemlösungen des innerstädtischen Verkehrs durch eine Einschienenbahn. Eine solche Direktverbindung zwischen den Produktions-, Forschungs- und Bildungsstätten im Zentrum und den neuen Wohngebieten am Rande der Stadt galt den Funktionären sicherlich als Inbegriff der Modernität.55 52 Hausmitteilung der Abt. Maschinenbau und Metallurgie des ZK der SED an Mittag, 10.05.1968, SAPMO-BArch, DY 30/IV A 2/2.021/577, Bll. 151–153, hier: Bl. 152. 53 Vgl. Christian Graudenz, Das Jenaer Universitätshochhaus 1968–1972. Ein Beitrag zur Stadtgeschichte, Ms., Magisterarbeit, Jena 1996, S. 17 u. Meurer/Weigel, Planung und Wettbewerb, S. 29. 54 Konzeption zur Umgestaltung des Stadtzentrums Jena, Vorlage für das Politbüro des Zentralkomitees der SED, Januar 1969, zit. nach: Turm von Jena, S. 164–166, hier: S. 165. Vgl. Meurer/Weigel, Planung und Wettbewerb, S. 30. 55 Zu Grundfragen der Entwicklung des Kombinates VEB Carl Zeiss Jena, 01.07.1970, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/6/460, Bll. 37–65, hier: Bl. 65; vgl. auch die Verkehrsplanung im Wettbewerbsentwurf „Neugestaltung Stadtzentrum Jena 1968“ des Lehrgebietes Städtebau der Technischen Universität Dresden von Prof. János Brenner und Dr. Bernhard Gräfe, der den 1.
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Im Selbstverständnis des Ersten Sekretärs der SED-Bezirksleitung Gera entwickelten die politischen Führungskräfte für Jena sogar „ein Realmodell für die sozialistische Lebens- und Verhaltensweise der Bürger in einer sozialistischen Stadt“.56 So charakterisierte Herbert Ziegenhahn das Jenaer Großprojekt am 17. August 1970 gegenüber Ulbricht, ohne die eigentlichen Beweggründe der Parteispitze zu erwähnen – die technologische wie bauliche Modernisierung der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten einer Schlüsselindustrie. Die Gesamtinvestitionen beliefen sich bis zum 31. Dezember 1971 auf mehr als 1,4 Milliarden Mark, wobei laut dem Präsidiumsbeschluss des Ministerrates vom 28. August 1968 1,7 Milliarden Mark und für den Zeitraum bis 1975 sogar sechs Milliarden Mark veranschlagt worden waren.57 Eine Mehrheit der Fachminister hatte in der entscheidenden Präsidialsitzung des Ministerrates die ursprünglich höheren Forderungen des VEB Carl Zeiss auf die genannten Summen reduziert. Immerhin sah sich die DDR-Regierung zum ersten Mal veranlasst, als Gesamtgremium eine kollektive Verantwortung für dieses gewaltige Investitionsvorhaben zu übernehmen. Der Ulbricht-Vertraute und 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Alfred Neumann, resümierte mit einem Seitenhieb auf den ‚Prager Frühling‘ pathetisch: „Wenn wir das schaffen, dann kann Jena echt zum Mekka werden, zu dem alle hinpilgern und fragen, wie habt ihr das gemacht. Wir würden damit, ohne unsere Geheimnisse preiszugeben, auch für die čSSR einen Markstein setzen, wie man solche Fragen lösen muss.“58 Die neue Höhendominante der „Zeiss-Stadt“ und ihre Kritiker Nach dem Willen der SED-Bezirksleitung Gera sollte die Projektierung der Jenaer Innenstadt schon im August 1968 abgeschlossen sein. Immerhin lag am 24. Juli 1968 eine Generaldirektive vor, die allen weiteren Detailentwürfen als Arbeitsgrundlage diente. Der Direktor des Büros für Städtebau beim Rat des Bezirkes Gera, Lothar Bortenreuter, schaltete zwischenzeitlich den Leiter der Experimentalwerkstatt im Institut für Städtebau und Architektur der Deutschen Bauakademie, Prof. Preis des Städtischen Ideenwettbewerbs gewann. Das Forschungshochhaus sollte danach „in Form von zwei Dreieckprismen“ gestaltet werden. Vgl. deutsche architektur 19, 1970, S. 24 f. u. Konrad Spath, Einschienenbahnprojekte in der ehemaligen DDR, Ms., Jena 2004, S. 3–5. Der Vf. dankt Herrn Spath, Jena, für seine zahlreichen Hinweise. 56 Monatsbericht von Ziegenhahn an Ulbricht, 20.07.1970, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/2/241, Bll. 76–84, hier: Bl. 80; vgl. die Paraphen von Mittag und Ulbricht auf den Schreiben Herbert Ziegenhahns vom Juli 1970, in: SAPMO- BArch, DY 30/IV A 2/2.021/578, Bll. 104– 111. 57 Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK, 03.11.1971, UACZ, Verwaltungsarchiv des Kombinates VEB Carl Zeiss, Bestand Industriekreisleitung der SED (IKL), Nr. 1200, unpag. u. Niederschrift über die Behandlung der Beschlussvorlage „Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena zum Zentrum der Forschung und Produktion für die Rationalisierungs- und Automatisierungstechnik der DDR […]“ im Präsidium des Ministerrates, 28.08.1968, in: Erinnerung an die Zukunft, S. 155–179, hier: S. 163. 58 Ebenda, S. 175.
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Hermann Henselmann, ein.59 Gestützt auf die „Iconic Signs“-Theorie konnte von ihm der Entwurf eines Baukörpers erwartet werden, der dem Zentrum der „Stadt der Wissenschaft und Technik“60 sein Gepräge geben würde. Denn die Idee der „Stadtkrone“ hatte in den 1960er Jahren unter den Architekten der DDR eine Neuinterpretation erfahren. Nunmehr wurden in den Entwürfen zur Neubebauung der Innenstädte die Hauptgebäude der in den jeweiligen Bezirken vorherrschenden Kombinate und Forschungseinrichtungen hervorgehoben.61 „Großbauten der Wissenschaft“ sollten im Zuge einer „Ökonomisierung der Revolution“ ausgesprochene Dominanten der politischen Herrschaft verdrängen. Die Hochhäuser der großen volkseigenen Industriebetriebe seien somit zum Pendant der westdeutschen Konzernzentralen wie dem Thyssenhaus in Düsseldorf geworden.62 Diese Interpretation stützt die These, die Architekten und Stadtplaner der 1960er Jahre ließen sich hüben wie drüben in eine ungebrochene Kontinuität der architektonischen Moderne einreihen. Nur habe das von den Partikularinteressen der Privatwirtschaft entlastete Zentralplanungsgebaren die Fehlentwicklungen des modernen Städtebaus in der DDR noch krasser hervortreten lassen als in der Bundesrepublik.63 Was auf den Massenwohnungsbau in den ost- und westdeutschen Trabantensiedlungen weithin zutreffen mag, lässt sich indes nicht ohne weiteres auf die hier in Rede stehende Umgestaltung der Stadtzentren übertragen. Die neuen Höhendominanten verkörperten eben gerade keine klassischen Machtsymbole, weder der Staatspartei noch der Kombinatsleitungen. Vielmehr sollten sie die urbanen Mittelpunkte der gewandelten sozialen Beziehungen in der Gesellschaft städtebaulich aufwerten – oder wie es in der Propagandasprache dieser Jahre hieß, die Kommunikationszentren der „sozialistischen Menschengemeinschaft“. Diese Wahrzeichen setzten im Selbstverständnis der Parteielite wie der Architekturtheorie ganz eigene, stadttypische Akzente, um bürgernahe Identifikationsmöglichkeiten mit der als „Heimat“ begriffenen Stadt zu stiften. Intentional entsprach das ganz und gar nicht der unterkühlten Dominanz von Bankhochhäusern im Stadtbild westlicher Metropolen. Jedenfalls gelangte die Zentrenarchitektur der DDR 1968/69 durch ihre positive Bezugnahme auf den Ideologie-Begriff zu Deutungsangeboten, die eine neuartige Kombination von Gestaltungselementen der „zweckmäßigen“, „schönen“ und emotional ansprechenden Stadt propagierten.64 59 Vgl. Graudenz, Das Jenaer Universitätshochhaus, S. 17; zu Henselmanns Karriere und Stil vgl. Ulf Häder, „Ich habe Türme gebaut“ – Hermann Henselmann als Architekt des Forschungshochhauses, in: Turm von Jena, S. 43–56 u. Thomas Tebruck, Der Turm in Jena – Ein Hochhaus des International Style, in: Ebenda, S. 115–123. 60 Vgl. Hans-Ulrich Hochbaum, Jena – eine Stadt der Wissenschaft und Technik, in: Sozialistische Universität. Organ der SED-Parteileitung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Nr. 5 v. 8. März 1970, S. 1. 61 Vgl. Topfstedt, Städtebau, S. 64. 62 Beyme, Wiederaufbau, S. 300. 63 Vgl. Ralf Lange, Architektur und Städtebau der sechziger Jahre: Planen und Bauen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR von 1960 bis 1975, Bonn 2003, S. 45. 64 Städte und Stadtzentren in der DDR. Ergebnisse und reale Perspektiven des Städtebaus in der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1969, S. 18; vgl. Fred Staufenbiel, Kultursoziologie und Städtebau, in: Deutsche Architektur 15, 1966, S. 326 f.
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In der „Zeiss – und Universitätsstadt“ lag es nahe, dem geplanten Forschungshochhaus des VEB Carl Zeiss eine solche Dominanten-Funktion zuzuschreiben. Mit ihm sollte erstmals in der Architekturgeschichte der DDR ein „Gebäude der Forschung und Produktion“ die „bestimmende Rolle für den Charakter“ einer Stadt symbolisieren.65
Abb. 2: Dieter Bankert: Hochhausgruppe für Wissenschaft und Forschung mit mehrgeschossigen Brücken über dem Rehabilitationszentrum, Vogelschauperspektive für Hermann Henselmann, Privatsammlung Bankert
Allerdings blieb diese Gestaltungsvariante nicht unumstritten. Einerseits leitete sie eine Art Hypertrophie der Stadtkronen-Idee ein, die auf dem Prinzip der ikonenhaften Hervorhebung eines gesellschaftspolitisch bedeutungsvollen Aspekts und dessen Monumentalisierung beruhte. „Wie alle wichtigen DDR-Städte mit Henselmannscher Symbolik ausgestattet wurden, bekam die Zeiss-Stadt Jena ein Fernrohr. Das sah im Entwurf der Architekten so ganz schick aus. Ich sollte die Perspektiven zeichnen: Die waren dann doch mit der Stadt zusammen zu ehrlich konstruiert und führten zum Erblassen des Meisters, die Zeichnungen wurden nicht mehr gebraucht. Aus Geldmangel und vielleicht Einsicht blieben später die beiden kleineren Türme 65 Zeiss- und Universitätsstadt, S. 13 f. Vgl. Zwei deutsche Architekturen: 1949–1989, S. 193. In Industriezentren respektive Wohnstädten großer Kombinate wie Halle-Neustadt, Magdeburg, Rostock und Eisenhüttenstadt sollten ähnliche Baukomplexe entstehen; diese Projekte wurden bekanntlich nicht realisiert. Vgl. Bruno Flierl, Das ‚Zentrale Gebäude‘ in der DDR: Zur Sinnstiftung der Stadtmitte, in: Städte im Wandel – Stadtentwicklung, Berlin 1994, S. 22–38.
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der Megastrukturen weg.“66 Andererseits gelang es mit diesem Ausdrucksmittel nicht im erhofften Maße, die so leidenschaftlich debattierte „echte Synthese“ von moderner Architektur und staatssozialistischer Kunst hervorzubringen. So monierte der Gesellschaftswissenschaftler Lothar Kühne, die plastischen Baukörper der Bildzeichen-Architektur würden wie Denkmale der bildenden Kunst erscheinen und damit an architektonischer Ausstrahlungskraft verlieren. Sie verwiesen ausschließlich auf sich selbst, wodurch es baukünstlerisch eben nicht gelänge, diese Hochhäuser als die wirklich dominierenden Gebäude der Ensemblebebauung in den weiträumigen Zentren hervortreten zu lassen.67 Auch die Generaldirektion von Zeiss wollte sich nicht mit dem Gedanken eines zylindrischen Rundbaus anfreunden. Als Hauptauftraggeber erfuhr die Werkleitung offenbar erst am 5. November 1968 von solcherart Vorüberlegungen Henselmanns.68 Gemäß einer Direktionsvorlage „Zeiss - Bauten im Stadtzentrum Jenas“ wurde der Technische Direktor der Jenaer Stammwerke daher ermächtigt, dem ideenreichen Architekten in Berlin die Einwände der Kombinatsleitung vorzutragen. Diese Aussprache fand am 11. November 1968 statt. An ihr nahm auch Lothar Bortenreuter teil, der am 14. Oktober 1968 vom Herbert Ziegenhahn im Beisein des Ministers für Bauwesen zum Leiter des Aufbaus der Jenaer Innenstadt ernannt worden war.69 Einer ausführlichen Gesprächsnotiz von Hermann Henselmann sind die nüchternen Nutzeranforderungen von Carl Zeiss an den „Forschungsneubau 71“ zu entnehmen. Der Großbetrieb verlangte nach durchrationalisierten Arbeitsflächen für Konstruktion, Entwicklung und Direktion, d. h. der Projektierung und Bauausführung des Gebäudekomplexes sollte ausschließlich dessen spätere Funktion zugrunde gelegt werden. Das Beharren auf einem funktionsgerechten Bauen gipfelte in der Unterbreitung eines verkappten Gegenentwurfs. Dabei gab der Zeiss-Beauftragte den beiden verantwortlichen Architekten im Einzelnen zu bedenken, die vorgeschlagene Bau66 Dieter Bankert, Lust und Todsünden der Architekten, aus geringer Entfernung betrachtet. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Arcum Verlages, Köln 2004, S. 3. Zur Biographie von Dieter Bankert vgl. Barth, Grammatik, S. 33 f. Der Vf. dankt Herrn Bankert, Dessau, für seine freundliche Unterstützung. 67 Zur Kritik von Lothar Kühne vgl. Palutzki, S. 225 f.; vgl. ferner Hermann Henselmann, Gedanken, Ideen, Bauten, Projekte. Mit Beiträgen von Wolfgang Heise und Bruno Flierl, Berlin 1978, S. 45 u. 47 f., Bruno Flierl, Architektur und Kunst: Texte 1964–1983, Dresden 1984, S. 26, Beyme, S. 285 u. Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht, S. 229–234. 68 Vgl. Graudenz, Das Jenaer Universitätshochhaus, S. 17. 69 Bortenreuter war in den Jahren 1960 bis 1969 als Direktor des Büros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung (ab 1965 Büro für Städtebau) beim Rat des Bezirks Gera tätig gewesen. 1958 bis 1963 errichtete er unter Mitarbeit von Karl Sommerer den Wohnkomplex (WK) Jena-Nord I, bis 1968 den WK Jena-Nord II, und zwar nach seinen gemeinsam mit Erika Lorenz und Horst Eckardt entworfenen Plänen. Auch in den 1970er Jahren zeichnete B. als stellvertretender Bezirksbaudirektor und Bezirksarchitekt für die großen Neubaukomplexe im Bezirk Gera verantwortlich. So entstand in Lobeda bis 1975 das größte Neubauwohngebiet der Stadt Jena, hier unterstützten ihn die Architekten Hans-Peter Kirsch und Siegfried Klügel. Vgl. Christoph Glorius, Lothar Bortenreuter (Bez. Gera), in: Vom Baukünstler zum Komplexprojektanten. Architekten in der DDR. Dokumentation eines IRS-Sammlungsbestandes biographischer Daten, Erkner bei Berlin 2000, S. 50 f.
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körperform widerspreche nicht nur „bisher gewohnten Vorstellungen“, sondern vor allem den Anwenderbedürfnissen der späteren Nutzer. Das Hochhaus müsste mit einer „vorgehängten Glasfassade“ gestaltet werden, um auf diese Weise die geplanten Betriebskosten von 200 Mark pro m2 einhalten zu können. Denn eine Glasfläche würde „weniger Klimatisierung“ beanspruchen als eine geschlossene Fläche mit linsenförmigen Fenstern, wie es die ersten Entwürfe von Henselmann unter Bezugnahme auf die optische Gerätefertigung vorsahen. Außerdem schlug Müller vor, die Großraumbüros mit einer maximalen Raumtiefe von sechs bis acht Metern wesentlich kleiner zu bemessen. Nach „allen internationalen Erfahrungen“ würde aber „die rationelle Arbeitstechnologie“ in solchen Arbeitsräumen „eine Tiefe von mindestens 12 m“ erfordern, lautete der Einwand Henselmanns. Rudolf Müller störte sich ferner daran, dass die städtebauliche Konzeption am 29. Oktober 1968 ohne Zutun eines „autorisierten Vertreters von Zeiss“ im Rat der Stadt verabschiedet worden war.70 Hinter den Kulissen bedurfte es sogar einer Intervention des Bauministers und eines Briefes des Präsidenten der DBA an den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Gera vom 18. September 1968, um die Leitlinie der DBA für Jena festzurren zu können.71 Nach diesen „Hinweisen“ aus Berlin „sollte der Hochhauskörper oder eine entsprechende bauliche Gruppe zur beherrschenden Dominante des Platzes werden“. Also kein Großkaufhaus, wie es den „ursprünglichen Vorstellungen“ der Generaldirektion von Zeiss entsprochen habe.72 Beide Seiten befürworteten eine Spitzenbesprechung zwischen Werner Heynisch und Gallerach, um nach einer einvernehmlichen Lösung zu suchen. Die Idee eines Rundbaus war Henselmann indes nicht mehr auszureden. Immerhin beschrieb Ziegenhahn in seinem Monatsbericht vom 23. Dezember 1968 eine Gestaltungsvariante der Arbeitsräume des Forschungshochhauses von Carl Zeiss, die „den Anforderungen des Betriebes“ entsprechen werde. Nach Ziegenhahns Einschätzung würden es diese Planungsentwürfe erlauben, im Interesse einer effektiven Geräteentwicklung „jederzeit ohne größeren Aufwand eine Umgestaltung der Räume“ vorzunehmen.73 Trotzdem vermochte die Bildzeichen-Architektur keineswegs die kos70 Vgl. Graudenz, Das Jenaer Universitätshochhaus, S. 26 f. 71 Die amerikanische Sozialhistorikerin B. Heckart spricht sogar von einer kleinen Bürgerinitiative, die gegen den Flächenabriß in der Jenaer Altstadt opponiert habe („Protest as Citizens` Initiative“). Deren Kern bildete demnach eine ad hoc konstituierte „Arbeitsgruppe Denkmalpflege“, bestehend aus dem Jenaer Stadtarchitekten Gerhard Schulz, dem Vorsitzenden der Jenaer Kulturbundorganisation, Wolfgang Schütz, dem Vorsitzenden der Kreiskommission Natur und Heimat, L. Lepper und dem Vorsitzenden der Arbeitsgemeinschaft Stadt- und Heimatgeschichte, D. Peterhoff. Vgl. Beverly Heckart: The Battle of Jena: Opposition to „Socialist“ Urban Planning in the German Democratic Republic, in: Journal of Urban History, 32. Jg. (2006), S. 546–581, hier S. 554 u. 555. 72 Aktennotiz Henselmanns (Abschrift), 11. oder 12.11.1968, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 4/13/068, Bll. 71–74; zit. nach Bl. 71 und 72. Die Erwartung eines nutzergerechten Bauens kam auch darin zum Ausdruck, dass Müller den beiden Architekten eine Konzeption des Direktors für Grundlagenforschung von Carl Zeiss mit der Bemerkung übergab, sie enthielte „funktionsbedingte Anforderungen an den Forschungsbau“. Vgl. Meurer/Weigel, Planung und Wettbewerb, S. 29 f. 73 Monatsbericht von Ziegenhahn an Ulbricht, 23.12.1968, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/3/239, Bll. 126–134, hier: Bl. 134.
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tenrentablen und funktionalen Erwartungen des Hauptauftraggebers zu erfüllen.74 Im Grunde strebte Müller nach einer Ökonomisierung und Henselmann nach einer baukünstlerischen Überhöhung des geplanten Hochhauses. Insofern war die Einschätzung von Hans Schmidt nicht ganz abwegig, wonach eine „industrielle Architektur“ dem rationalen Denken des „Ingenieurs“ näher stünde als dem emotionalen Fühlen des „Künstlers“. Während Ersterer effiziente Forschungs- und Entwicklungsflächen nachfragte, strebte Letzterer nach einem unikalen ‚Kunstwerk‘. Beide Seiten verband aber auch ein Grundkonsens, der sich aus der Erwartung speiste, in der Innenstadt einen Begegnungsraum für die „Gemeinschaft“ der Menschen gestalten zu können.75 Es spricht allerdings einiges dafür, dass sich im Zentrum Jenas kein „sozialistisches Bürgerforum“ konstituiert hätte, selbst wenn das Rehabilitationszentrum mit seinen Saunen, Bädern und Kegelbahnen allen Einwohnern zugänglich gewesen wäre. Tatsächlich wurden hier die Sicherheitsinteressen von Zeiss und des Staates berührt. Vermutlich wäre das Forschungszentrum von der Stadt und ihrer Öffentlichkeit hermetisch abgeriegelt worden.76 Befremden in der Öffentlichkeit und fehlende stadtkulturelle Urbanität Im Alltag der Bürgerinnen und Bürger von Jena verbanden sich mit der Umgestaltung ihrer Innenstadt ohnehin weitaus nüchternere Erfahrungen, weil mit ihr umfangreiche Verkehrsbehinderungen einhergingen und die Versorgungsprobleme ‚vor Ort‘ noch zunahmen. Zunächst mussten die vom Bombenkrieg verschonten Häuser rund um den alten Eichplatz dem Walten des Sprengmeisters weichen. Der Flächenabriss betraf ein Wohnquartier, das ohne Zweifel einer Grundsanierung bedurft hätte, aber dennoch im kollektiven Gedächtnis der Jenenser bis dato lebendig geblieben ist. Dank seiner zahlreichen Einzelhandelsgeschäfte und privaten TanteEmma-Läden hatte sich hier so mancher Einkaufswunsch erfüllen lassen. ‚Volkes Stimme‘ machte sich vor allem in betrieblichen Gewerkschaftsversammlungen Luft, wo bereits vor Beginn der Abrissarbeiten Befürchtungen laut wurden, dass in Zukunft „bedeutend mehr Lauferei“ notwendig sein würde, um die täglichen Einkäufe zu erledigen.77 74 Das offenbarte sich nicht erst im Falle des späteren Jenaer Universitätshochhauses, sondern schon in Henselmanns früheren Entwürfen für die Leipziger Höhendominante. Vgl. Topfstedt, Städtebau, S. 169 f. 75 Vgl. Klaus Andrä, Zentren – Stätten der Menschengemeinschaft. Zu einigen Fragen des neuen Inhalts der Stadtzentren, in: deutsche architektur 19, 1970, S. 262–264, Hans Schmidt, Fragen der Komposition im Städtebau, in: Neue Anforderungen, S. 88–90, hier: S. 90, Rudolf Müller, Neue Anforderungen an Städtebau und Architektur aus der Sicht der sozialistischen Industrieleitung, in: Ebenda, S. 55 f. u. Flierl, Gebaute DDR, S. 57 f. 76 Vgl. Meurer/Weigel, Planung und Wettbewerb, S. 27. Zit. nach: Andrä, Zentren, S. 262. 77 Informationsbericht der IGL des VEB Carl Zeiss an den Kreisvorstand (KV) des FDGB JenaStadt, 27.02.1969, Th Rud, FDGB Bezirksarchiv Gera, KV Jena-Stadt, Nr. 7983, unpag. Vgl. „Öffentliche Plätze“. Am Beispiel des Eichplatzes in Jena. Semestergruppenarbeit am Institut für Geographie, Bereich Anthropogeographie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Sommersemester 1998, MS., S. 24.
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Außerdem liefen in der Öffentlichkeit alsbald Gerüchte um, wonach selbst die Gründungsstätte der Friedrich-Schiller-Universität der riesigen Baugrube für das Forschungshochhaus geopfert werden solle.78 Beunruhigt über die drohende Zerstörung des Collegium Jenense, hatte sich daher eine kleine Gruppe couragierter Wissenschaftler um Prof. Hans Knöll an bekannte Persönlichkeiten aus dem Umfeld von Ulbricht gewandt, um deren Unterstützung für einen Erhalt des ältesten Bauensembles der Universität zu gewinnen. Der bekannte Jenaer Mikrobiologe hatte indes vergeblich versucht, den Präsidenten des Nationalrates der Nationalen Front, Erich Correns, gegen dieses Ansinnen zu mobilisieren. Immerhin fand Knöll aber die Unterstützung von Günter Steiger, dem stellvertretenden Direktor der Jenaer Universitätsbibliothek, sowie die der Professoren Herbert Bach, Max Steenbeck, Georg Uschmann und Bernhard Wächter. Steenbeck galt zu diesem Zeitpunkt neben Manfred von Ardenne als einer der renommiertesten deutschen Naturwissenschafter. Als Vorsitzender des Forschungsrates der DDR verfügte er über einen privilegierten Zugang zu Ulbricht. Steenbeck hatte am 7. März 1969 tatsächlich von Letzterem näheren Aufschluss über das Schicksal der historischen Jenaer Universitätsgebäude erbeten. Aber auch diesem Wissenschaftlerfunktionär wurde vom Staatsratsvorsitzenden lediglich beschieden, es sei ausgehend von der prognostischen Entwicklung und Gestaltung der Stadt Jena nicht zu vertreten, das Collegium Jenense in der Gesamtkomposition des neuen Stadtzentrums zu belassen. Um die aufgebrachten Geister an der Universität Jena und am Zentralinstitut für Mikrobiologie und experimentelle Therapie zu beruhigen, stellte Ulbricht in Aussicht, „in einem der neuen Gebäude am alten Markt von Jena“ ein Universitäts-Museum einrichten zu lassen. Der Universitätsrektor Prof. Dr. sc. med. Dr. h. c. Franz Bolck und Gallerach ließen sich überdies von Knölls Zweifel nicht anfechten. Gegenüber Kurt Hager befürworteten sie nur wenige Tage später im März 1969 den Totalabriss des ehemaligen Dominikanerklosters.79 Am 30. April 1970 wurde der Grundstein des Forschungshochhauses gelegt und am 10. September konnte bereits das Richtfest gefeiert werden. Doch der Fassaden- und Innenausbau nahm noch einmal fast zwei Jahre in Anspruch; erst 1972 wurde es seiner Bestimmung übergeben. Auch andere Investitionsobjekte von Zeiss zogen sich hin und die Kosten der störanfälligen Anlaufphasen überstiegen bald alle Vorberechnungen. Die Zeiss-Kombinatsleitung sah sich zu einer weit höheren Kreditaufnahme veranlasst als ursprünglich vorgesehen, eine Eigenerwirtschaftung der Investitionsmittel war ohnehin illusionär geworden. Vor diesem Hintergrund forderten verschiedene Gremien des Ministerrates, die von seinem Präsidium bestätigte Investitionssumme von 137,6 Millionen Mark für die Errichtung des Forschungshochhauses nicht zu überschreiten. Neben einer Arbeitsgruppe der SED-Bezirksleitung wachten darüber die Industrie- und Handelsbank, Industriebankfiliale Jena und die im Jahre 1968 gebildete Zentrale Arbeitsgruppe 78 Vgl. Johanna Sänger, Der veröffentlichte Turm – Die Debatten während der Bauzeit, in: Turm von Jena, S. 71–80, hier: S. 74. 79 Zit. nach: Graudenz, Das Jenaer Universitätshochhaus, S. 93; vgl. das Kapitel „Die städtische Neubebauung und die Jenaer Öffentlichkeit – Der Kampf Jenaer Wissenschaftler für den Erhalt des Collegium Jenense“, ebenda, S. 28–43 u. S. 89–92.
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des Ministerrates „Wissenschaftlicher Gerätebau“ beim Minister für Elektrotechnik und Elektronik, Otfried Steger, mit Argusaugen. Tatsächlich wurden bis zum Abschluss der Bauarbeiten im Jahre 1973 sogar nur 124,005 Mio. Mark verbaut.80 Vordem hatten Ministerpräsident Willi Stoph und ZK-Wirtschaftssekretär Mittag im Bunde mit dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission schon auf der Politbüro-Sitzung vom 8. September 1970 einen verdeckten Kurswechsel in der Industrie- und Energiepolitik der SED-Führung eingeleitet. Denn der Staatshaushalt war durch die „außerplanmäßigen“ Investitionen im Perspektivplanzeitraum 1964 bis 1970 unter höchste Spannung geraten. Offiziell erfuhr die Öffentlichkeit erst im Dezember 1970 aus dem Munde des Regierungschefs, dass in den Stadtzentren der Baubeginn neuer Objekte zurückgestellt worden sei.81 Aber die Bezirksleitung Gera der SED hatte den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes bereits am 6. Oktober 1970 angewiesen, eine minimierte Gesamtkonzeption für die Investitionsvorhaben in Jena vorzulegen. Schließlich informierte der Vorsitzende der Bezirksplankommission am 28. September 1971 nur noch lapidar, mit dem Bau des Rehabilitationszentrums werde nicht mehr begonnen. Demzufolge unterbleibe auch der Abriss des „Collegia-Jenense“ (sic!).82 Nach einer Intervention der Wirtschaftspolitischen Abteilung der SED Bezirksleitung Gera beim Ministerrat gegen den neuen Planansatz von Zeiss avancierte zum 1. Januar 1972 der „Forschungsneubau 71“ des Kombinates zum Hochhaus der Universität Jena, um den Grundmittelfonds des VEB Carl Zeiss um etwa 100 Millionen Mark entlasten zu können.83 Rektor Bolck hatte sich diesem Rechtsträgerwechsel, d. h. der Übernahme des Turmes im Oktober 1971 nicht mehr länger verweigert. Schließlich hätte die einzige „Alternative“ zur Übernahme des ungeliebten Turmes für die Universitätsleitung darin bestanden, heruntergewirtschaftete Hallen inmitten des damaligen Hauptwerkes von Zeiss für Lehrveranstaltungen nutzen zu müssen. Gegen eine solche Zumutung seitens der Kombinatsleitung hatte 80 Vgl. Bericht des Auftragsleiters des Ministerrats für den Strukturkomplex Jena, 31.01.1973, UACZ, VA, Bestand IKL der SED, Nr. 1273, unpag. u. Unterredung mit dem Generaldirektor des Kombinats VEB Carl Zeiss Jena, 16.06.1970, Th Rud, Staatsbank, Nr. 330, unpag. Zuvor hatte eine dem BMK Erfurt unterstehende Arbeitsgruppe der Industrieprojektierung Jena die Investitionssumme des Forschungshochhauses drastisch „heruntergerechnet“. Der ambitionierte Entwurf des ‚Baukünstlers‘ Henselmann wandelte sich unter der Hand von lokalen Architekten und Bauingenieuren zum Turm von Jena. Vgl. Meurer/Weigel, Planung und Wettbewerb, S. 33. 81 Vgl. Kaiser, Machtwechsel, S. 410, Topfstedt, Städtebau, S. 157, Anm. 129 u. Gerhard Naumann/Eckhard Truempler, Von Ulbricht zu Honecker: 1970 – ein Krisenjahr, Berlin 1970, S. 97. 82 Vgl. Schreiben des Leiters der Arbeitsgruppe Prognose beim Sekretariat der BL SED Gera an Horst Wenzel, 06.10.1970, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/6/459, Bl. 179 und Standpunkt des Rates des Bezirkes Gera, Bezirksplankommission, zur Entwicklung des VEB Carl Zeiss Jena, 28.09.1971, ebenda, IV B – 2/6/469, Bl. 28. 83 Vgl. Vorlage für das Politbüro des ZK, 03.11.1971, UACZ, VA, Bestand IKL der SED, Nr. 1200, unpag. Zuvor war aus Jena sehr zum Ärger der SED Bezirksleitung in Gera vorgebracht worden, im neuen Forschungshochhaus könnten keine Zeiss-Geräte aufgestellt werden, „da zu große Schwankungen des Gebäudes vorhanden seien.“ Notiz der Abt. Wirtschaftspolitik der BL SED Gera, 24.05.1971, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/6/492, Bl. 148.
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der Rektor vordem bei Berliner Verwaltungsstellen in ungewöhnlich scharfer Form protestiert und in einem weiteren Schreiben auf die prekäre Raumnot der Universität verwiesen.84 Mit der Übernahme des Hochhauses im Stadtzentrum durch die Alma mater Jenensis wurden freilich auch die im Mai 1971 vom Ministerrat noch bestätigten Neubauten für die fünf „strukturbestimmenden Sektionen“ der Universität Jena ersatzlos gestrichen.85 Fazit Flaniert heute ein Besucher über den neuen Eichplatz der Universitätsstadt Jena, beschleicht ihn nicht selten ein zwiespältiges Gefühl. Es ist den überdimensionierten Raumverhältnissen in dieser Citylage geschuldet. Der heute stattliche 159 Meter aufragende „Intershop- bzw. Jen-Tower“ dominiert die angrenzende Freifläche des einstigen Fest- und Aufmarschplatzes der SED-Kampfgruppen zwar augenfällig, vermag jedoch die gähnende Leere im Herzen der Stadt nicht auszufüllen. Wie andere Zeitgenossen sprach auch Manfred Ackermann von einem besonders abschreckenden Beispiel des gescheiterten Versuchs, den Stadtbewohnern durch eine forcierte Rekonstruktion ausgewählter Stadtzentren und die monumentale Typik der Bildzeichen-Architektur ein Stück „Heimat“ zu vermitteln.86 Obendrein bürdete dieser Umgestaltungsprozess der Stadtgesellschaft eine schwere Hypothek auf, da er das Problem der ohnehin mangelnden kulturellen Urbanität in dieser Mittelstadt weiter verschärfte, was bekanntlich kein Einzelfall im Städtesystem der DDR geblieben ist. Das „Jenaer Ensemble“ verkörperte nach dem Willen von SED-Führung und DBA eine Gebäudeeinheit aus modernen Forschungs-, Gesellschafts- und Wohnbauten, die durch bau- und bildkünstlerische Stilmittel des sozialistischen Realismus eine Art übergeordnete Raumwirkung erlangen sollten. Ulbricht und Henselmann meinten, auf diese Weise würde sich dem Betrachter das „Zeitalter der wissenschaftlich-technischen Revolution“ durch eine ‚sozialistische‘ Architektursprache offenbaren. Realiter blieb die Innenstadtbebauung bis in die 1990er Jahre ein Torso. Dem übermächtigen Turmsolitär am Rande der westlichen Altstadt wuchs entgegen den ursprünglichen Absichten der Großplaner eine nicht gewollte Symbolkraft zu. Er ‚kündete‘ fortan von den jäh zerstobenen Fortschrittsphantasien der späten Ulbricht-Ära, Jena als eine „moderne Großstadt von innen heraus neu zu gestalten“.87
84 Vgl. Schreiben von Bolck an Berliner Verwaltungsstellen (Abschriften), undatiert, zweite Hälfte 1971, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/6/469, Bll. 44–49. 85 Zum Hintergrund vgl. Information der Abt. Wirtschaftspolitik der BL SED Gera an Ziegenhahn, 24.09.1971, Th Rud, BPA, BL SED Gera, IV B – 2/6/469, Bll. 55–58. 86 Vgl. Ackermann, Veränderungen, S. 145 f. 87 Zeiss- und Universitätsstadt, S. 13.
STADTPLANUNG IN SIBIRISCHEN STÄDTEN NACH 1945 Ivan Nevzgodin Dieser Aufsatz analysiert Aspekte der Transformation der sozialistischen Stadt in Sibirien nach dem Zweiten Weltkrieg. Als Beispiele für die unmittelbare Nachkriegszeit werden der Wiederaufbau der sibirischen Hauptstadt, Novosibirsk, sowie das erste Projekt der sibirischen Stadtplanung nach 1945, Angarsk, behandelt. Die Entwicklung des sowjetischen Städtewesens nach dem dramatischen Bruch, den die politische Intervention Chrustschows 1955 hervorgerufen hatte, wird im Folgenden anhand der zwei sibirischen Wissenschaftstädte Akademgorodok und Krasnoobsk nachgezeichnet. Zusammen genommen werden damit die sozialistischen Städte Sibiriens aus mehreren Perioden mit unterschiedlichen städtebaulichen Leitbildern erörtert. Dabei werden Grundgedanken der Stadtplanung wie die Verwendung standardisierter Typenentwürfe, das Konzept der Mikrodistrikte und das des sozialistischen Stadtzentrums in ihrer Umsetzung auf sibirischem Boden analysiert. Diverse überregionale Strukturprobleme, die generellen Defizite des sowjetischen Planungssystems sowie Unzulänglichkeiten der regionalen Planung und die einseitige Bevorzugung der Industrie wirken als Ursachen von Entwicklungsproblemen sibirischer Städte bis heute nach, so dass das Ende der sozialistischen Utopie stark problembehaftete urbane Gefüge hinterließ. Die Auswirkungen des Krieges Die allgemeine Entwicklung des sowjetischen Städtesystems nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wesentlich geprägt von der Verlagerung der Bevölkerung und der Industrie während des Krieges. In den ersten Kriegsjahren hatte die Sowjetregierung in großem Umfang Menschen und Fabriken in den Osten evakuiert. Beispielsweise wurden nach Novosibirsk zwischen Juli und November 1941 rund 50 Fabriken verlagert. Dies geschah in großer Eile und ohne System. Der maßgebliche Gesichtspunkt bei der Standortwahl für die Betriebe war die unverzügliche Wiederaufnahme der Produktion; daher war in vielen Fällen das Vorhandensein eines Bahnanschlusses ausschlaggebend. Das daraus resultierende siedlungsstrukturelle Chaos zerstörte das System der Funktionstrennungen in den sibirischen Städten, zudem hatte die Verlagerung der Fabriken und der Bevölkerung eine massive Verschlechterung der Wohnungsversorgung zur Folge. Betrug die durchschnittliche Wohnungsversorgung vor
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Abb. 1: Karte der UdSSR und Sibiriens. Die im Folgenden untersuchten Städte sind eingerahmt; Quelle: Maurice Frank Parkins, City planning in Soviet Russia, Chicago 1953, bearbeitet durch Ivan Nevzgodin.
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dem Krieg in Novosibirsk ohnehin nur etwas über drei Quadratmeter pro Person, so sank sie während des Krieges auf zwei Quadratmeter pro Person.1 Während des Krieges wich der die Stadtplanung der Vorkriegszeit beherrschende Monumentalismus dem Primat des Pragmatismus. Um den dringend benötigten Wohnraum zu schaffen, entwickelten die Architekten möglichst rationelle Entwürfe sowie Leichtbaukonstruktionen und verwandten preiswerte regionale Baustoffe. Sie erwogen zudem, die Gebäude von ungelernten Arbeitern errichten zu lassen. Beim Wohnungsbau hatten Baracken und einfache Wohnunterkünfte in Arbeitersiedlungen nahe der Fabriken Priorität, so dass ein- oder zweigeschossige Häuser in den Gebieten der Städte errichtet wurden, die in den Bebauungsplänen eigentlich für mehrgeschossige Gebäude vorgesehen waren. Architektur und Stadtplanung in Sibirien um 1950 Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierte die Sowjetunion alle Ressourcen auf den Wiederaufbau der Industrie und der Städte im Westen des Landes. Demgegenüber hatte die Entwicklung des Gebietes östlich des Urals eine geringere Bedeutung. Dennoch wurde der Bau von niedriggeschossigen Wohnbauten in der Nähe der Industriebetriebe an der Peripherie der sibirischen Städte bis in die Mitte der 1950er Jahre fortgesetzt. Die Bevölkerungsdichte war sehr gering. Die sibirische Stadt wurde so zu einem Konglomerat von Betriebssiedlungen, die verstreut über ein riesiges Gebiet lagen. Dies verteuerte den Bau der Verkehrsnetze, von Wasser- und Abwassersystemen sowie anderen städtischen Einrichtungen extrem. Doch die Architekten konzentrierten sich vorrangig auf ein gänzlich anderes Problem, nämlich die Schaffung eines künstlerisch anspruchsvollen Stadtbildes der sowjetischen Nachkriegsstadt. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist die sibirische Hauptstadt, Novosibirsk. Die Errichtung eines Stadtensembles: das Beispiel Novosibirsk Nach dem Ende des Krieges begannen das Stadtbauamt und der Chefarchitekt von Novosibirsk mit der Ausarbeitung eines Generalbebauungsplanes für die Stadt.2 Der Plan wurde 1952 fertiggestellt, aber nie bestätigt, doch übte er trotz seines informellen Status nachhaltigen Einfluss auf die städtische Entwicklung aus. Da ein gültiger Masterplan fehlte, bestimmte die unkoordinierte Planung einzelner Bereiche der Stadt die Entwicklung, und die Planer verfügten über kein Instrument zur Gewährleistung einer ganzheitlich gesteuerten Stadtentwicklung. 1
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Unter dem Wohnraum waren das Wohnzimmer, das Esszimmer und die Schlafräume, nicht jedoch die Küche, das Bad, die Diele, Toiletten und Arbeitsbereiche zu verstehen. Diese und die folgenden Ausführungen beruhen, sofern nicht anders ausgewiesen, auf meiner Dissertation: Ivan Nevzgodin, The Architecture of Novosibirsk, Novosibirsk 2005. Im September 1940 führte der Sovnarkom (Rat der Volkskommissare der UdSSR) die Position des Chefarchitekten ein. In einem speziellen Dekret des Ministerrates der UdSSR vom 13. Oktober 1944 wurden dessen Aufgaben formuliert.
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Der informelle Masterplan unterteilte das Stadtgebiet in acht Bezirke. Jedem Bezirk wurde ein eigenes architektonisches Leitbild zugrunde gelegt, verbunden werden sollten sie durch Magistralen. Zur Hauptachse des Stadtzentrums wurde der Krasny-Prospekt (Rote Allee) mit 53 Metern Breite und mehreren Kilometern Länge, der mit allen Attributen einer sozialistischen Stadt ausgestattet werden, das heißt weitläufig, „durchflutet von Licht und Luft“ angelegt werden sollte, mit einem Grünstreifen in der Mitte und gesäumt von den wichtigsten städtischen Gebäuden. In Richtung des Zentralen Platzes, des Stalinplatzes, sollte die architektonische Wertigkeit noch gesteigert werden. Zunächst sollte der Detailplan für das Stadtzentrum realisiert werden, wobei die Stadtplaner den Entwürfen für die Fassaden der Gebäuden besondere Aufmerksamkeit widmeten. Zwischen 1946 bis 1952 wurden mehrere Entwürfe für die wichtigsten Bereiche der Stadt erarbeitet, in denen der künstlerische Anspruch die Stadtplanung dominierte. Die Architekten suchten nach einer Antwort auf die Erwartungen und Hoffnungen der Bevölkerung auf ein neues und besseres Leben in einer schönen Stadt nach dem Großen Sieg.3 Aber ebenso hatten sie die propagandistischen Ziele des Sowjetstaates zu befriedigen. Die Kommunistische Partei benötigte „neue monumentale Ensembles“ für „die künftige große Epoche“, die den gezielt stimulierten Patriotismus befördern sollte.4 Die Architekten in Novosibirsk sahen sich insofern großen Herausforderungen gegenüber, als unter anderem genaue Kalkulationen für die zukünftige ökonomische und industrielle Entwicklung der Stadt fehlten. Ebenso war unklar, ob es möglich sein würde, mindestens einige der Fabriken, die besonders ungünstig in zentralen Bereichen der Stadt lagen, an die Peripherie zu verlagern. Die stark fragmentierte Stadtstruktur war geprägt von einem Zentrum, dessen Charakter wesentlich von den Gebäuden des Konstruktivismus bestimmt war, und den sich anschließenden, verstreut liegenden Arbeitersiedlungen. Die Architekten konzentrierten sich vorrangig auf die Schaffung einer ästhetischen Einheit (‚tselostnost‘), bei der die sozialistische Stadt als ein System architektonischer Ensembles betrachtet wurde. Das „Gesicht der Stadt“ sollte sich in einer geordneten Gliederung des urbanen Raumes und in harmonischen neoklassizistischen Kompositionen ausdrücken. Große Bedeutung wurde auch der Schaffung eines Panoramablicks vom Fluss aus beigemessen. Trotz der ungünstigen Anordnung der Straßen und Plätze sollte die Herstellung einer prägnanten Stadtsilhouette erreicht werden. Die Architekten gingen dabei von dem Szenario der Wahrnehmung der Stadt durch einen Reisenden auf seinem Weg vom Ankunftsort bis zum Zentralen Platz als dem Höhepunkt der Komposition aus. Der Platz vor dem Hauptbahnhof erhielt daher in der Struktur der gesamten Komposition als „Eingangsbereich der Stadt“ eine architektonisch herausgehobene Bedeutung. Die Vokzal’naja Magistrale (Bahnhofsmagistrale), das „beeindruckende Vestibül der Stadt“, sollte diesen Platz mit dem Zentralen Platz, dem Stalinplatz (heute Leninplatz) verbinden. Die Magistrale wurde als Diagonale über das 3 4
Zum sozialpolitischen Kontext dieser Periode siehe. Elena Zubkova, Russia After the War: Hopes, Illusions, and Disappointments, 1945–1957, Armonk 1998. Ignatii Belogortsev, Arkhitektory Novosibirska (Architekten von Novosibirsk), Novosibirsk, 1943, S. 19.
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vorhandene Straßenraster gelegt und besaß lediglich einen repräsentativen und kaum einen funktionalen Zweck, da die bestehenden Straßen zwischen dem Bahnhofsplatz und dem Stalinplatz dem Verkehrsbedarf genügten. Zahlreiche Gebäude mussten für die neue Magistrale abgerissen werden. Ihr Zuschnitt zog darüber hinaus auch Probleme in der städtebaulichen Komposition des Zentralen Platzes nach sich, da die neue Verbindung nicht mittig auf dem Stalinplatz verlief, sondern an der rechten Seite des Platzes vor dem grandiosen Theater für Oper und Ballett. Als architektonisches Problem erwies sich zudem die Gestaltung der aufgrund der Diagonale scharf geschnittenen Ecken der Gebäude.
Abb. 2: Ausschnitt aus dem Plan von Novosibirsk mit der projektierten Vokzal’naja Magistrale, 1950er Jahre; Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
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Abb. 3: Entwurf für die Vokzal’naja Magistrale am Kreuzungspunkt mit dem Dmitrov Prospect. In der Perspektive ist der Zentrale Platz, der Stalinplatz (Leninplatz) mit dem Theater für Oper and Ballett zu sehen. Novosibirsk, 1951. Architekt: V.K. Petrovskii; Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
Zwar wurde die 1,3 Kilometer lange Magistrale verwirklicht, doch dauerte dies mehr als 25 Jahre. Funktional besser begründet war der Bau einer zweiten Diagonale, der Oktober-Magistrale, die als wichtige Verbindung zwischen dem zentralen Bezirk und dem Oktober-Bezirk diente. An dem Kreuzungspunkt der Oktober-Magistrale mit der Hauptachse der Stadt, dem Krasnyi-Prospekt, wurde ein monumentaler Platz mit großen öffentlichen Gebäuden und Wohnblöcken projektiert. In den 1940er Jahren besaß Novosibirsk drei Plätze von besonderer städtebaulicher Bedeutung: den Stalinplatz, den Bahnhofsplatz und den Platz des Oblispolkom (des regionalen Exekutivkomitees der KPdSU). Vorrangig auf diese Plätze bezogen sich die Entwürfe der Stadtplaner in den 1950er Jahren. Die Dimensionen des Stalinplatzes (250x275 Meter) und des Bahnhofsplatzes (340x170 Meter) waren bereits in einem Bebauungsplan aus den 1930er Jahren festgelegt worden. Im Vergleich dazu war der Platz des Oblispolkom mit einer Abmessung von 180x130 Metern bescheiden. Doch war die Bebauung um den Platz noch in den 1950er Jahren nicht vollendet. Da die Gebäude am Leninplatz und am Platz des Oblispolkom weder zur gleichen Zeit noch im gleichen Stil errichtet worden waren, konnten sie kein Ensemble bilden. Diese städtebaulichen Strukturen, vor allem jene im Stil des Konstruktivismus, sollten nach den Planungen der 1950er Jahre ersetzt oder zumindest überformt werden.5 Nach dem neuen Plan sollte der Bahnhofsplatz seine riesigen Ausmaße 5
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behalten, jedoch von sechs- bis siebengeschossigen Gebäuden im neoklassizistischen Stil umgeben werden. Diese Höhe ergab sich aus der strengen hierarchischen Gliederung des Stadtensembles: Die höchsten Gebäude sollten die zentralen Achsen, den Krasnyi-Prospekt und den Zentralen Platz, den Stalinplatz (bzw. Leninplatz) begrenzen. Die Hauptplätze und -straßen sollten zudem vertikale Dominanten erhalten. Die Architekten entwarfen daher Türme, die von Spitzen gekrönt wurden, um möglichst eindrucksvolle Perspektiven zu bilden.
Abb. 4: Entwurf für die Umgestaltung des Zentrums von Novosibirsk, Ende der 1940er Jahre. Architekt: I.I. Sokolov-Dobrev; Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
Wohnungsbau an der Peripherie: offizielle Programme und städtische Realität Die Realität im Bauwesen wich sehr stark von der Theorie der Planungen ab. Im Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen zur Bedeutung der Umgestaltung des Stadtzentrums konzentrierte sich das tatsächliche Baugeschehen weitgehend auf die Randbereiche der Stadt. So wurden im Jahr 1951 70.000 m² Wohnraum erstellt, davon jedoch lediglich 10.000 m² im zentralen Bereich. Entlang der Hauptstraßen des Zentrums wurden nur wenige Neubauten errichtet. Die Betriebe bauten unterdessen weiterhin eigenständig Wohnsiedlungen für ihre Belegschaften, darunter auch zweibis vierstöckige Wohnblöcke im neoklassizistischen Stil. Die niedrigen Wohnbauten sollten „Stalins Sorge für den einfachen Mann“ demonstrieren, die Arbeiter in schönen, gemütlichen und warmen Häusern wohnen, um das Leben zu genießen.6
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klassizistische Überformung der Bauten der Moderne siehe: Ivan Nevzgodin, The Architecture of Novosibirsk, Novosibirsk 2005. Es sollte erwähnt werden, dass es vor allem Kriegsgefangene waren, die zahlreiche dieser schön verzierten, optimistischen, neoklassizistischen Ensembles errichteten. So waren im Ja-
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Abb. 5: Wohnhaus in der Arbeitersiedlung des Betriebes Tjazhstankogidropress. Mira (Friedens-) Straße im Distrikt Kirov von Novosibirsk, 1954. Architekt: V. Majkov; Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
nuar 1952 3.062 Gefangene auf Baustellen in Novosibirsk eingesetzt. Siehe. Leonid M. Gorjushkin (Hrsg.), Novosibirsk. 100 let. Sobytija. Ljudi (100 Jahre Novosibirsk. Ereignisse. Menschen), Novosibirsk, 1993, S. 243.
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Der Großbetrieb Sibselmash für Agrarmaschinen errichtete z. B. mehrstöckige Wohngebäude entlang der Hauptstraßen im Zentrum des Bezirks Kirov am westlichen Rand von Novosibirsk. Auf einem 1952 von Leningrader Architekten entworfenen Plan ist die Bedeutung zu erkennen, die den Bauten an den Hauptstraßen zugemessen wurde. Die inneren Bereiche der Blöcke blieben hingegen weitgehend unbeplant.
Abb. 6: Entwurfsskizze für das Zentrum des Distrikts Kirov in Novosibirsk, 1952. Architekten: M.A. Aronshtam und T.Ja. Gladshtein (Entwurfsbüro Gorstrojprojekt, Leningrad); Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
Der ortsansässige Architekt Nikolai Khranenko entwarf und baute zwischen 1949 und 1954 mehrere fünf- bis siebenstöckige Wohnkomplexe an der rechten Seite der Hauptstraße des Kirovskii Distriktes. Er entwickelte neoklassizistische Fassaden mit Erkern, Balkonen und Loggien und verwendete erstmals in Novosibirsk Wandmalereien und dekorative Fliesen für die Fassaden. Einige Details, wie z. B. die Gesimse, bestanden dabei aus vorgefertigten Elementen.
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In den 1950er Jahren widmeten die Architekten der künstlerischen Durchbildung der Blöcke besondere Aufmerksamkeit. In die Fassaden der Wohnbauten wurden Laubwerk und Details wie Fontainen, Skulpturen, Dekorvasen und Balustraden integriert, die ein „schönes, kulturell reiches Leben der Arbeiter“ gewährleisten sollten.7 Jedem Wohnkomplex wurde ein ausgedehnter, begrünter Hof mit unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten zugeordnet. Diese ästhetischen, detailreichen Entwürfe schufen einen Kontrast zum kargen Alltagsleben in Novosibirsk, der für zahlreiche Menschen noch vom Leben in Baracken und Erdhäusern bestimmt war, die selbst im Stadtzentrum vorzufinden waren. Diese illegalen Behausungen waren während der Industrialisierungsphase in den 1920er und 1930er Jahren errichtet worden und nahmen in den neuen sozialistischen Städten einen erheblichen Raum ein. Ursprünglich als Provisorien gedacht, waren sie während des Krieges noch weiter angewachsen. Der sogenannte Nakhalovka – Bezirk in der Schlucht von Kamenka und am Fluss El’tsovka bildete einen Schandfleck in Novosibirsk. Die 500 Meter breite Schlucht des Kamenka Flusses trennte die Distrikte Central and Oktober. Sie war völlig ungeordnet bebaut mit nicht genehmigten Häusern aus Putz, Flecht- und Fachwerk ohne jeden Komfort und sanitäre Einrichtungen.
Abb. 7: Ein Schandfleck in der sozialistischen Stadt Novosibirsk. Nakhalovka (Schändlicher Distrikt) in der Schlucht des Kamenka Flusses. Die Fotografie stammt aus den 1950er Jahren. Die Slums existierten noch bis in die 1960er Jahre; Quelle: Privatsammlung, Novosibirsk
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Arkhitektura Sibiri. Ezhegodnik Novosibirskogo otdeleniia Souza sovetskih architectorov (Architektur Sibiriens. Das Jahrbuch der Novosibirsk Abteilung der Sowjetarchitektenunion), Novosibirsk, Juli 1951, S. 16.
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Grundprobleme der Stadtplanung und Architektur in Novosibirsk in den frühen 1950er Jahren 1951 wurde der Architekt Evgenii Ashchepkov von der Akademie für Architektur nach Novosibirsk entsandt. Sein Bericht ist eine aussagekräftige Quelle über den Stand der Stadtplanung und Architektur in der Stadt.8 Ashchepkov kritisierte die unterschiedlichen Stile und Maße der neuen Wohngebäude, die ohne übergeordnete Planung von einzelnen Architekten entworfen wurden. Um eine gewisse Einheitlichkeit in der Architektur zu erreichen, schlug Ashchepkov vor, die Stadt in Bezirke zu unterteilen, für deren städtebauliche Gestaltung jeweils eine Gruppe von Architekten verantwortlich zeichnen sollte. Er bestand darauf, dass die Architekten für die Anordnung größerer Gebäude eine hierarchisch gegliederte städtebauliche Planung erarbeiten müssten. Die unbebauten Bereiche am Stalinplatz sollten so schnell wie möglich mit mehrstöckigen Gebäuden bebaut werden. Ashchepkov befürwortete auch die Verwendung von dekorativen Wandziegeln und Wandmalereien mit hellen Farben.9 Der Fachmann aus Moskau berichtete auch über die schwache Position des Chefarchitekten, der außerstande war, eine Konzentration mehrstöckiger Gebäude im Stadtzentrum durchzusetzen. Ashchepkov unterbreitete daher Vorschläge zur Position des Bezirksarchitekten10 und forderte, dass der Chefarchitekt der Stadt nur Entwürfe genehmigen sollte, bei denen moderne Konstruktionen und Materialien aus örtlicher Produktion Verwendung fanden. Ein besonderes Problem war aus seiner Sicht, dass weiterhin Industrieunternehmen den Wohnungsbau dominierten und eigenständig Arbeitersiedlungen an der Peripherie der Städte errichteten. Der Bericht Ashchepkovs unterstreicht nicht nur die schwache Position der Chefarchitekten, sondern auch den geringen Einfluss der Stadtverwaltung auf die Entwicklung von Novosibirsk. Er plädierte daher unter anderem dafür, „die sowjetische Akademie für Architektur zu bitten, eine Anfrage an das Komitee für Bauwesen des Ministerrats zu richten mit dem Ziel, die alten Holzgebäude im Zentrum der Stadt abzureißen.“11 Seiner Meinung nach wurde Hilfe von Seiten der Akademie auch bei der Lösung anderer Probleme benötigt. Diese sollte dafür Fachleute von Moskau nach Novosibirsk entsenden, 12 da die Abteilung für Architektur der Stadt nur wenige qualifizierte Kräfte besaß. So verfügte die Gruppe Gorprojekt, die Entwürfe für Novosibirsk erstellte, nicht über genügend qualifizierte Architekten. Andere Entwurfsbüros wie Giproshakht, Transprojekt, Giprorechtrans, etc. arbeiteten lediglich für die ihnen vorgesetzten Ministerien oder Unternehmen und waren kaum am Bauwesen der Stadt beteiligt. Die Zahl der in Novosibirsk tätigen qualifizierten Archi8
Evgenii Aschchepkov, Predlozhenija po uluchsheniju planirovki i zastroiki gor. Novosibirska (Vorschläge zur Verbesserung der Stadtplanung in Novosibirsk), RGANTD (Das Büro Zentralarchivs für wissenschaftliche und technische Dokumentation der Russischen Föderation in Samara), f. R. 147, op. 2-6, d. 31 „a“, S. 14–17. 9 Evgenii Aschchepkov, Predlozhenija po uluchsheniju planirovki, S. 16. 10 Ebd., S. 17. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 16
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tekten war nach 1945 niedriger als in den 1920er und 1930er Jahren. Zu dieser Zeit hatte die Sowjetunion ausländische Architekten ins Land gerufen, während viele russische Architekten nach Sibirien abgestellt worden waren. Nachdem die zeitweise relativ hohen Gehälter der Planer gesunken waren, gingen viele von ihnen zurück nach Moskau und Leningrad und nur noch wenige den umgekehrten Weg nach Sibirien. Deshalb wandte sich Ashchepkov an die Akademie für Architektur der UdSSR mit der Bitte, „das Komitee für Bauwesen beim Ministerrat der UdSSR zu ersuchen, die Planungsabteilung der Stadt zu unterstützen, indem sie höhere Gehälter gewährte, um qualifiziertere Planer gewinnen zu können.“ 13 Es ist nicht bekannt, welche Konsequenzen der Bericht hatte, da in den Archiven dazu keine Quellen zu finden sind. Er scheint eher in den Tiefen der sowjetischen Bürokratie verschwunden zu sein. Auch der Wechsel der Leitbilder und der Grundausrichtung in der sowjetischen Architektur und im Städtebau als Folge der politischen Intervention Nikita Chrustschows ließ einige von Ashchepkovs Vorschlägen für „die neue Epoche“ hinfällig werden, während er selbst eine Zeitlang aus Sibirien abgezogen wurde: 1952 sandte ihn das Ministerium für Höhere Bildung der UdSSR für drei Jahre auf eine Dienstreise nach China. Angarsk – die erste sozialistische Planstadt der Nachkriegszeit in Sibirien Angarsk in Ost-Sibirien ist die bekannteste der neuen Städte, die in der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut wurden. Der Bau der 50 km von Irkutsk entfernten Stadt für die Bedürfnisse der Ölindustrie begann im September 1947. Allerdings wurde der Entwurf für den Generalbebauungsplan von Angarsk, den eine Architektengruppe mit u.a. E. Vitenberg, I. Davydov, L. Timofeev zusammen mit den Ingenieuren M. Zernitskii, M. Smolich, V. Karro und L. Yuzbashev vom Büro für Architektur und Stadtplanung des Leningrader Entwurfsbüros Gorstrojprojekt erarbeitete, erst 1949 fertig. Nachdem die Förderung von Planstädten für die Industrie Priorität erlangt hatte, sollte zunächst das am besten geeignete Gebiet für die Fabrik bestimmt werden. Dies geschah durch eine spezielle Kommission im April 1945. Die ersten Bauarbeiter wurden im Sommer 1946 in Maiskii angesiedelt (heute Teil des Zentrums von Angarsk). In der Nähe dieser Siedlung entwarfen die Leningrader Architekten eine kompakte Stadt für 35.000–50.000 Einwohner. Als Standort für die neue Stadt in der Taiga wurde der Zusammenfluss der Flüsse Angara und Kitoi gewählt. Ein zwei Kilometer breiter Grünstreifen trennte Wohngebiete und Industriezone voneinander. Ein Kulturund Erholungspark sollte am unteren Ufer des Kitoi-Flusses angelegt werden, die Stadt mit ihrem rechtwinkligen Straßenraster auf dem rechten, höher gelegenen Ufer. Aufgrund der geografischen Gegebenheiten des Gebietes entwickelte sich die Stadt in Richtung Süden. Die beiden Hauptstraßen (Kirov- und Leninprospekt) verliefen parallel zueinander in Ost-West-Richtung. Die Stadt war unterteilt in einen Bereich für private Bauprojekte und einen für den Neubau unter öffentlicher Regie, in dem Gebäude mit zwei bis fünf Stockwerken. Die rechtwinkligen Blöcke der 13 Ebd.
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ersten Baustufe umfassten ein Gebiet von vier bis sieben Hektar Größe mit einer Nord-Süd-Ausrichtung, um eine gute klimatische Positionierung der meisten Gebäude zu gewährleisten. Die Architekten entwarfen eine strenge Hierarchie der Straßen. Für die Zone der zwei- bis dreigeschossigen Gebäude wurden die einfachsten Standardentwürfe verwandt. Die Blöcke wurden unterteilt in Gebäudegruppen mit jeweils eigenen Höfen.14 Vorhandene Bäume wurden soweit wie möglich erhalten. Krippen und Kindergärten bekamen Bauplätze an ruhigen Wohnstraßen. Die Hauptstraßen bilden die Grenzen einer Gruppe von Blöcken. Jede Gruppe sollte eine Schule erhalten, so dass die Kinder nicht gezwungen sein sollten, auf dem Weg zur Schule eine Hauptstraße zu überqueren. Dieses Prinzip kam dem westlichen Konzept der Nachbarschaftseinheit (neighbourhood) sehr nahe. Geschäfte, Kinos, Kantinen und andere Dienstleistungsangebote wurden gleichmäßig über die Stadt verteilt und als separate Gebäude errichtet oder in die Wohnhäuser integriert. Die Prinzipien, die in der ersten Aufbaustufe von Angarsk angewandt wurden, waren mit den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ der DDR von 1950 vergleichbar. Die beherrschende Idee war das traditionelle Leitbild der kompakten Stadt. Wie auch die deutsche Charta vorgab, bestand das Wohngebiet von Angarsk aus Wohnbezirken mit jeweils eigenem Zentrum, das die Anwohner mit allen notwendigen soziokulturellen Einrichtungen und Dienstleistungen versorgen sollte. Die nächstkleinere Einheit in dieser Hierarchie war der Wohnkomplex. Er bestand aus einer Gruppe von Häusern und öffentlichen Gebäuden für den täglichen Bedarf (Schulen, Kindergärten, Krippen etc.). Ähnlich wie in der DDR konzentrierten die Architekten in Angarsk in ihrem Gesamtentwurf ihre Aufmerksamkeit auf das Stadtzentrum. 15
Abb. 8: Angarsk. Leninplatz. Chefarchitekten E. Vitenberg and L. Timofev, 1954–1956; Quelle: Nikolai V. Baranov, Sovremennoe gradostroitel’stvo: glavnye problemy (Moderne Stadtplanung: Hauptprobleme), Moskau 1962, S. 218–219. 14 Zum ursprünglichen Entwurf für Angarsk siehe N.V. Baranov, N.P. Bylinkin (Hrsg.), Istoriia sovetskoi arkhitektury 1917–1958 (Die Geschichte der sowjetischen Architektur 1917–1958), Moskau 1962, S. 238–240. 15 Zu den „16 Grundsätzen des Städtebaus“ siehe: Christoph Bernhardt, Planning Urbanization and Urban Growth in the Socialist Period. The Case of East German New Towns, 1945–1989, in: Journal of urban History, vol. 32, no. 1, November 2005, S. 104–119, hier S. 107; dort ist auch eine Analyse zu Eisenhüttenstadt und anderen ostdeutschen Planstädten zu finden, die mit den sibirischen Beispielen vergleichbar sind. Vgl. ebd. sowie N.V. Baranov, N.P. Bylinkin (Hrsg.), Istoriia sovetskoi arkhitektury 1917–1958, S. 238–240.
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Da der Entwurf für Angarsk von einer Architektengruppe stammte und die Bauausführung von einem Bauunternehmen übernommen wurde, war es möglich, die sowjetische Bürokratie weitgehend zu umgehen und den Aufbau der Stadt relativ zügig durchzuführen. Der Aufbau des Zentrums begann im Norden mit einer ansteigenden Gebäudehöhe von zwei- bis fünfstöckigen Gebäuden. Damit waren die sich entwickelnden Kapazitäten der Bauindustrie gut ausgelastet. Verglichen mit anderen sowjetischen Städten bekam Angarsk einen hochwertigen kommunalen Wohnungsbestand. Die Wohnungen waren durchweg mit Warmwasser, Elektrizität, Zentralheizung, Abwassersystem sowie Radio und Telefon ausgestattet. Die Stadt besaß sogar ein Regenwasserauffangsystem, ein Luxus, der in den 1950er Jahren sonst lediglich in einigen Hauptstraßen der großen Provinzstädte Sverdlovsk (Jekaterinburg) und Novosibirsk vorhanden war. Die Verwendung von standardisierten Entwürfen erlaubte die industrielle Produktion der Konstruktionen und Hauselemente. 1954 bestanden bereits 60 Prozent des Wohnungsbaus aus vorgefertigten Teilen. Der stalinistische Neoklassizismus bestimmte das Bild von Angarsk. Die Komposition der Stadt basierte auf der Schaffung eines Ensembles von Hauptstraßen und -plätzen. Wohnbauten flankierten die Hauptstraßen, hier und da unterbrochen von großen, herausgehobenen öffentlichen Gebäuden. Dreistöckige Gebäude umgaben den zentralen Platz der Stadt, den Leninplatz: das Rathaus Gorsovet, das Haus der Kultur, die Stadtbibliothek und das Hauptpostamt. Der von einer Spitze gekrönte Eckturm und das Haus der Kultur mit einem von sechs Säulen getragenen Portikus und einem Dreiecksgiebel dominierten die architektonische Komposition des Platzes. Trotz der umfangreichen Verwendung von Standardentwürfen vermitteln die Bereiche von Angarsk, die um 1950 errichtet wurden, keinen monotonen Eindruck. Die Typisierung bot vielmehr die Möglichkeit, sich auf funktionale und künstlerische Aspekte der Stadtplanung zu konzentrieren. Die Vielfalt an Kombinationen von öffentlichen Gebäuden und Wohnbauten in den Blöcken, die Einbeziehung von landschaftlichen Besonderheiten und die intensive Farbgebung schufen eine angenehme Lebensumwelt. Das Fehlen von Hochhäusern und der megalomanen stalinistischen Architektur gaben den Stadtteilen einen menschenfreundlichen Maßstab. Heute nennen die Stadtbewohner diesen Teil von Angarsk die „Altstadt“, deren Architektur sehr geschätzt wird. Nach 1954 wurden beim Aufbau des östlichen Teils der Stadt anstelle von Blöcken Mikrodistrikte geplant, in denen die Dienstleistungseinrichtungen für den täglichen Bedarf direkt in die Wohngebäude integriert wurden, während die öffentlichen Einrichtungen für den ganzen Bezirk in einem Park angesiedelt wurden. Diese Mikrodistrikte umfassen ein Gebiet von 12, 14 oder 24 Hektar und wurden bebaut mit großen Wohnblöcken. Später wurde das so genannte Prinzip der „freien Planung“ auf diese Mikrodistrikte angewandt. 1956 war Angarsk auf 80.000 Einwohner angewachsen und eine vollständig ausgestattete, kompakte Stadt mit einem funktionierenden Zonensystem, einem gut gestalteten Stadtzentrum und einem umfangreichen System an öffentlichen Einrichtungen. Es war zugleich eine grüne Stadt mit in die Stadtblöcke integrierten Grünzonen, Parks und einer Kaianlage. Seine urbane Struktur entsprach der einer
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kleinen Stadt, die eine Fläche von 380 Hektar einnahm. Doch schon 1952 erarbeitete das Stadtplanungsinstitut Giprogor in Moskau einen Regionalplan für den Rayon Irkutsk-Cheremhovskii.16 Danach sollte Angarsk in eine Großstadt transformiert werden. Es zeigte sich nun, dass das Fehlen eines solchen Regionalplanes in den Anfängen des Aufbaus von Angarsk gravierende Probleme in der Stadtentwicklung verursacht hatte: Nicht nur war die Bevölkerungsentwicklung falsch berechnet worden, sondern auch grundlegende Standortentscheidungen erwiesen sich als problematisch. So drohte durch die rein ökonomisch motivierte Ansiedlung des Wasserkraftwerkes am Angara Fluss die Überschwemmung von großen Teilen der Stadt. Auch bei der Ansiedlung der Industrie waren Fehler gemacht worden. Trotz des Grüngürtels und der Erhaltung der Kiefernwälder um die Stadt litten die Wohngebiete unter den Abgasen der Fabriken.17 Dem Regionalplan folgend entwarfen die Architekten E. Vittenberg, I. Davydov, A. Tarantul, L. Timofeev und der Ingenieur M. Zernitskii 1956 einen neuen Generalbebauungsplan für eine Bevölkerungszahl von 200.000 Einwohnern. Die Stadt sollte in südlicher Richtung entlang des Kitoi Flusses wachsen. Zwischen 1964 und 1976 wurden noch weitere Bebauungspläne erstellt und die angestrebte Bevölkerungszahl auf 400.000 angehoben. Dafür wurde ein neues Stadtzentrum projektiert, da das alte nur für eine Kleinstadt angelegt war. Vor allem der Bau der Wasserkraftwerke in Irkutsk und später in Bratsk stimulierte das Wachstum der chemischen und der Ölindustrie in Angarsk. 1979 besaß die Stadt bereits 238.000 Einwohner und wuchs weiter, bis mit der Perestroika eine Wende und ein beginnender Niedergang eintrat. Im Kontext des allgemeinen Verfalls der russischen Industrieproduktion und des Absinkens des Lebensstandards in den Industriestädten der Provinz sank die Bevölkerungszahl von Angarsk von 265.600 im Jahr 1989 auf 247.100 im Jahr 2002. Nur eine Erweiterung des Stadtgebietes bewirkte eine numerische Vergrößerung der Einwohnerzahl, in deren Folge in Angarsk 2004 offiziell 281.200 Einwohner auf einem Gebiet von 92.500 Hektar lebten.18 Bei einem Spaziergang vom Norden in den Süden von Angarsk sind die verschiedenen Perioden des Konzeptes der sozialistischen Stadt klar zu erkennen. Der Wechsel in den Prinzipien der Stadtplanung von den zweistöckigen neoklassizistischen Häusern bis zu den Mikrodistrikten mit vorgefertigten neunstöckigen Gebäuden ist ebenso typisch für die sowjetischen Nachkriegsstädte in der Provinz wie der Übergang bei den verwendeten Materialien von Ziegelsteinen über die Blockbauweise zu industriell gefertigte Platten. Angarsk kann als Modellfall einer Nachkriegsstadt in Sibirien gelten.
16 Giprogor – Staatliches Institut für Stadtplanung, Moscow. 17 Nikolai V. Baranov/Oleg A. Shvidkovskii (Hrsg.), Vseobshaja isorija arkhitektury (Geschichte der Architektur), Bd. 12, Buch 1, Moskau 1975, S. 346. 18 Über die städtische Entwicklung von Angarsk in den 1990er Jahren siehe Bella M. Vjatkina, Besonderheiten der Entwicklung der Planungs- und Kompositionsstruktur von Angarsk, in: Volker Martin/Barbara Engel (Hrsg.), Die Zukunft der blauen Städte Sibiriens, Cottbus 2002, S. 148–153.
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Die Wende unter Chruschtschow: Ablehnung des Neoklassizismus und Beginn des industriellen Massenwohnungsbaus Die Rede „betreffend die umfassende Einführung industrieller Methoden, die Verbesserung der Qualität und die Senkung der Baukosten“ des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, auf der Allunionskonferenz der Baufunktionäre, Architekten und Arbeiter am 7. Dezember 1954 eröffnete eine neue Epoche in der Entwicklung der sowjetischen Architektur und Stadtplanung.19 Chruschtschow betonte die Notwendigkeit einer Senkung der Bau- und Produktionskosten und der Eliminierung aller dekorativen Elemente im architektonischen Design. Alle Anstrengungen beim Bau und Entwurf sollten sich fortan auf die Verbesserung des Komforts und des Gebrauchswertes der Gebäude konzentrieren, die architektonischen Formen von den Eigenschaften der Baustoffe bestimmt werden. Bereits 1947–1948 bereitete die Akademie für Architektur der UdSSR eine Serie von Standardentwürfen für Wohnbauten vor. Diese Serie variierte entsprechend den klimatischen Gegebenheiten, den Wohnbedingungen und den Besonderheiten der Bauindustrie in den fünf Hauptklimazonen der Sowjetunion. Der Ural und Sibirien bildeten die dritte Klimaregion. In den 1950er Jahren wurde von diesen Entwürfen beim Bau der sibirischen Städte umfassend Gebrauch gemacht. Aber erst nach dem Leitbildwandel 1954 beherrschten die standardisierten Entwürfe vollständig den Bau von Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden. Die großen Projektierungsbüros in Moskau, Leningrad und Novosibirsk entwickelten ganze Serien von standardisierten Entwürfen. Die Qualität der Entwürfe und der Komfort der Wohnungen nahmen mit der Zeit ebenso zu wie die Berücksichtigung von Klima und Demografie. Aber die sibirische Bauindustrie wurde so langsam modernisiert, dass sie weiterhin vorgefertigte Elemente nach Entwürfen produzierte, die 15 Jahre alt oder noch älter waren. Auch die Qualität der Bauten war schlecht, und zudem wurde in den neuen Mikrodistrikten die Planung von Grünanlagen und Fußwegen oft vernachlässigt. Zu Beginn der Umsetzung des Massenwohnungsbauprogramms wurden zunächst zahlreiche fünfstöckige Wohnbauten errichtet. Der dazu entwickelte Standardentwurf hatte ungeachtet des jeweiligen Materials und der Konstruktion (Ziegelsteine, Blocksteine oder Platten) einen einheitlichen Zuschnitt, der nicht variiert wurde. Sehr große Areale, die mit dem gleichen Gebäudetyp bebaut wurden, vermittelten einen monotonen Eindruck. Generell führte die ausgedehnte Anwendung standardisierter Entwürfe zu einem hohen Grad an Uniformität im urbanen Gefüge und drückte äußerlich eine relative soziale Homogenität der sowjetischen Gesellschaft aus.
19 Später wurde ein offizielles Dokument herausgegeben, das die Verwirklichung der Ideen aus Chruschtschows Rede anordnete, das Dekret des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR „betreffend die Ausschaltung der Verschwendung in Entwurf und Bauausführung“ vom 4. November 1955.
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Das Konzept der Mikrodistrikte Der Zuschnitt der Wohnbezirke spielte die wichtigste Rolle in der lokalen Planung der sibirischen Städte nach 1954. Das grundlegende Entwurfskonzept der Mikrodistrikte (mikrorajon) wurde seinem Kernprinzip nach vom Westen adaptiert. Tatsächlich aber hatte es auch seine zumeist übersehenen russischen Wurzeln. Sowjetische Stadtplaner hatten sich bereits seit den 1930er Jahren mit der Gestaltung von Wohnbezirken befasst. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb das Komitee für Architektonische Fragen in Moskau einen Wettbewerb zur „Vervollständigung von experimentellen Entwürfen für Wohn-Mikrodistrikte der Stadt“ (1945– 1946) aus. Die große Anzahl an ausländischen Presseberichten über den Städtebau in Großbritannien und Nordamerika nach 1945 hatte dabei einen Einfluss auf die Entscheidung des Komitees ausgeübt, diesen Wettbewerb auszuloben. Jedoch erfolgte mit den ideologischen Kampagnen gegen kosmopolitische Einflüsse ein Richtungswechsel in der Diskussion über die Ergebnisse des Wettbewerbs und die abschließende Entscheidung der Jury.20 Die Ähnlichkeit der Mikrodistrikte mit dem westlichen Konzept der Nachbarschaftseinheiten war so offensichtlich, dass das Konzept zurückgezogen wurde und der Begriff „Mikrodistrikt“ seit 1947 sogar aus den sowjetischen Architekturzeitschriften verschwand. Erst die Initiative von Chruschtschow für den industriellen Massenwohnungsbau bewirkte die Wiederauferstehung des Mikrodistrikt-Konzeptes. Die grundlegende Idee bestand darin, Wohnen und soziale Einrichtungen in weitgehend selbstständigen Wohnbezirken zu kombinieren. Nach 1954 formten in den sibirischen Städten Tausende von standardisierten, vor allem fünfgeschossigen Ziegel- und Plattenbauten die Mikrodistrikte. Die Gestaltung der Bezirke wurde aus dem Bau von Blöcken und der Anwendung von Zeilenbauten zum so genannten Schema der „freien Planung“ weiter entwickelt. Die Größe der Mikrodistrikte stieg auf 6.000 bis über 10.000 Einwohner oder mehr. Die Mikrobezirke wurden an der Peripherie der Städte errichtet. Deren Bewohner hatten anfangs kein gemeinsames Verantwortungsgefühl für ihre städtische Lebensumwelt, und zwar auch deshalb, weil das Wachstum der Bevölkerung in Sibirien sich überwiegend aus der Migration der Landbevölkerung in die Städte speiste. Bauern, die zu Städtern wurden, waren zunächst nicht in der Lage, Verantwortung für ihre Wohnhäuser, Blöcke oder die Stadt zu übernehmen. Der sowjetische Staat war formell zuständig für das kommunale Wohnungswesen, die soziokulturelle Infrastruktur und den öffentlichen Verkehr, praktisch aber war er unfähig, die Einrichtungen in einem guten Zustand zu erhalten.
20 Zum Inhalt dieses Wettbewerbs vgl. Yulija Kosenkova, Konkurs na sostavlenie eksperimental’nykh proektov zhilogo mikrorajona goroda 1945–1946 (Ein Wettbewerb zur Fertigstellung experimenteller Entwürfe für Mikrodistrikte der Stadt 1945–1946), in: Arkhitekturnoe nasledstvo (Das architektonische Erbe), Bd. 40, 1996, S. 177–184.
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Das Problem der Stadtzentren Ein grundlegender Unterschied zwischen den westlichen und den sowjetischen Städten besteht in der sehr unterschiedlichen Gestaltung des Stadtzentrums. Während westliche Innenstädte im Regelfall von weiträumigen Geschäftsvierteln geprägt werden, besitzen die sowjetischen Zentren praktisch keine kommerzielle Funktion. Ihre Rolle ist vor allem politisch, administrativ und kulturell bestimmt. Diese Funktionen waren jedoch nicht imstande, ein lebendiges urbanes Zentrum zu schaffen, so dass die sowjetischen Innenstädte zumeist nur während der Austragung von Jubiläen oder Demonstrationen zum Leben erwachten. Auch führte das Fehlen eines gewinnorientierten privaten Grundbesitzes dazu, dass die Zentren der sozialistischen Städte weniger dicht bebaut wurden als im Westen. Der Kreml, die Kathedrale und der Marktplatz formten traditionell das Zentrum der russischen Stadt. In den 1930er Jahren ließ die Sowjetregierung die Kathedralen in den historischen Städten Sibiriens sprengen. Neue Stadtplätze mit den Häusern der Sowjets wurden angelegt, die aber sehr langsam und ohne klares architektonisches Konzept entstanden. Eines der Kardinalprobleme der Moderne-Bewegung in den 1930er Jahren war die Unfähigkeit, Zentren für die neuen sibirischen Städte zu schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte keine klare Vorstellung über die Gestalt des Zentrums einer sozialistischen Stadt. Dies führte zu dem Glauben, nur hervorragende Architekten, d. h. Mitglieder der Akademie für Architektur der UdSSR, wären in der Lage, intuitiv Lösungen dafür zu finden, selbst wenn die Aufgabe nicht eindeutig formuliert war. In dieser Logik wurde das Moskauer Atelier des Akademiemitglieds Ivan V. Zholtovskii in die Planung des Zentrums der linken Flussseite von Novosibirsk einbezogen. Für die Stadt Prokopjevsk, das Zentrum des Kohlebergbaus von Kuzbass, existiert sogar die Legende, Ivan Zholtovskii sei dorthin verbannt worden, um herausragende Stadtensembles zu bauen. In Prokopjevsk ist auch eine Straße zu Ehren Zholtovskiis benannt worden.21 Und in der Tat verfügt Prokopjevsk über ein für Sibirien untypisches Stadtzentrum, das dem Konzept einer modernen Akropolis folgt. Dieses Konzept entstand nach dem Krieg ursprünglich während des Wiederaufbaus der Städte im Süden der UdSSR, wo die Architekten sich von der lokalen Geschichte oder der historischen Architektur inspirieren ließen. Daher sprachen bekannte Architekten, die am Wiederaufbau beteiligt waren, von der „modernen Akropolis“ (Grigorii B. Barkhin), der „kleinen Akropolis“ (Alexei V. Shchusev) oder von dem „Amphitheater der Stadt“ (Boris M. Iofan), und das Zentrum von Prokopjevsk erhielt auf ungewöhnlichem Weg ein neugriechisches Ensemble. Ein anderes Modell für den Zentrumsbau der Nachkriegszeit war die Ausführung von drei Radialstraßen. Diejenigen von Leningrad (St. Petersburg) wurden sogar in einem vergleichbaren Maßstab für den Masterplan von Stalinsk (Novokuznetsk) kopiert. In Stalinsk begannen diese Straßen am Bahnhofsplatz. Dieses histo21 Ivan V. Zholtovskii war beim Sowjetregime zeitweise in Ungnade gefallen und entwarf keine Bauten. Beweise für seine Verbannung nach Sibirien konnten jedoch bisher in den Archiven nicht gefunden werden.
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rische Modell, das formal auf die neuen Städte übertragen wurde, verursachte jedoch stadtstrukturelle Probleme, die bis in die Gegenwart reichen. Offensichtlich gab es unter den Stadtplanern von Novokuznetsk keine eindeutige Meinung, welche der drei Straßen die Hauptstraße werden sollte. Im Gegensatz zu den neoklassizistischen Fassaden des Zentrum von Prokopjevsk und Novokuznetsk repräsentiert die lineare Komposition des Zentrums der neuen Wissenschaftsstadt Akademgorodok ein modernistisches Konzept. Hier basierte die Anlage auf dem Kontrast des Wechsels zwischen der Reihung von Wohntürmen und von niedrigen öffentlichen Gebäuden wie z. B. Kinos, Kaufhallen, Restaurants oder der Post. Die Perspektive der Hauptachse, einer 700 Meter langen Fußgängerzone, wurde vom Haus der Wissenschaften und einem vielstöckigen Hotelkomplex eingefasst. Errichtet wurden einige öffentliche Gebäude von hoher architektonischer Qualität, doch der Plan des Zentrums von Akademgorodok wurde nur teilweise verwirklicht. Seine Komposition weist Ähnlichkeiten mit der monumentalen Achse des Verwaltungszentrums von Brasilia von Lúcio Costa (Planung) und Oscar Niemeyer (Bauten) aus dem Jahre 1956 auf.22 Der Grundfehler in der Planung des Stadtzentrums von Akademgorodok war seine Anlage abseits der alltäglichen Wege der Einwohner zwischen den Forschungsinstituten und den Wohngebäuden. Die Inspiration durch Oscar Niemeyer war kein Ausnahmefall, da die sowjetischen Stadtplaner die Erfahrungen amerikanischer, west- und osteuropäischer Länder aufmerksam studierten. Einige Entwürfe wurden auch weithin kopiert. Beispielsweise ist die Konstruktion des nördlichen Teils der Hauptachse von Novosibirsk (1965–1969), des Krasnyi-Prospekts (Architekten: A.A. Sabirov and M.N. Starodubov), mit der 1958–1960 angelegten Leninallee in Eisenhüttenstadt vergleichbar. Später tauchte die gleiche städtische Anlage in Kemerovo noch einmal auf. Für die existierenden älteren sibirischen Städte gelang es den sowjetischen Planern nur selten, qualitativ hochwertige städtische Kompositionen zu erarbeiten, da sie die historischen Zentren der Städte gering schätzten. So konnte in den 1970er Jahren nur der massive Protest der örtlichen Intelligenz die Verwirklichung des Generalbebauungsplans für Tomsk verhindern. Der Plan sah den weitgehenden Abriss der reich dekorierten alten Holzhäuser und der Ziegelgebäude aus dem 19. Jahrhundert im historischen Zentrum der Stadt vor. Für die alte sibirische Hauptstadt Tobolsk planten Architekten des Leningrader Giprogorinstituts im Generalbebauungsplan von 1974 eine „Musealisierung“ des historischen Stadtzentrums. Durch die Diskussionen um die Schaffung eines neuen Zentrums wurde dessen Verfall stark gefördert. Heute hat Tobolsk eine heruntergekommene Altstadt und ein nach wie vor unvollendetes neues Stadtzentrum in der vom Kombinat der Erdölraffinerie errichteten Industriesiedlung. Während diese Neustadt mit fünf- bis neungeschossigen, vorgefertigten Wohngebäuden und der notwendigen Infrastruktur ausgestattet wurde, blieben staatliche Investitionen in das historische Zentrum aus, das darüber zu einem sozial benachteiligten Viertel wurde. In Novosibirsk entschieden sich die Stadtpla22 Oscar Niemeyer besaß gute Kontakte in die UdSSR. Es ist durchaus möglich, dass die Urheber des Masterplanes für das öffentliche Zentrum von Akademgorodok von seinen Vorträgen in Moskau im Jahre 1955 beeinflusst wurden.
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ner, das Stadtzentrum in das geografische Zentrum der Stadt zu verlegen. Aber die Vorstellung, das Zentrum in den Oktober Bezirk zu rücken und einen Zugang zum Ob zu schaffen, misslang vollständig, während das alte Zentrum angesichts fehlender Investitionen über Jahrzehnte hinweg nicht weiter entwickelte wurde. Regionalplanung und die Rolle der Industrie Schon in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde deutlich, dass die sowjetische Regierung in Sibirien den Industriebau bevorzugte und nicht über die Mittel und den Willen verfügte, die Arbeiter angemessen mit Wohnraum zu versorgen. Auch die Investitionen im sozialen Bereich blieben weit hinter denen für die Industrie zurück. Fehler in der Stadtplanung Mitte der 1930er Jahre führten zu der Einsicht, die Regionalplanung als Mittel gegen die Fehlkalkulationen beim Bau der neuen Städte zu entwickeln. Die Regionalplanung sollte vor allem die ganze Breite ökonomischer, sozialer und städtebaulicher Faktoren berücksichtigen, die von Bedeutung für die Planung neuer Städte waren. Die sowjetischen Planer erforschten zunächst vorrangig Fragen des Transportwesens und der Arbeits- bzw. Funktionsteilung zwischen den Städten. Doch trotz der fortgeschrittenen Theorie der Regionalplanung entwickelten sich die sibirische Städten zunehmend chaotisch. Vor allem die Dominanz der Interessen der Industrie rief zahlreiche Probleme hervor. Beispielsweise nahm die Belästigung durch Abgase nach dem Ausbau einer metallurgischen Fabrik in Stalinsk (Novokuznetsk) derart zu, dass der Bau der Siedlung Verknjaja Koloniia (Hohe Kolonie) gestoppt und die Bewohner an einen anderen Ort untergebracht werden mussten.23 Seit Mitte der 1950er Jahre wurde die Luftverschmutzung der Hauptfaktor bei der Standortwahl der Wohngebiete in Novokuznetsk. Heute besteht die Stadt aus einer Reihe von Industriesiedlungen, die über ein riesiges Gebiet verstreut und schlecht miteinander vernetzt sind. Dasselbe geschah in Kemerovo, wo die Ansiedlung der gesundheitsschädlichen Industrie die Arbeiter dazu zwang, jeden Tag 10– 15 Kilometer zwischen Wohnung und Arbeit zurück zu legen. In den 1940er bis 1980er Jahren wurden in den sibirischen Städten auch umfangreiche, nicht genehmigte private Wohnsiedlungen errichtet. Doch selbst bei den von den staatlichen Wohnungsbauunternehmen errichteten Wohngebäuden wurden die einfachsten Prinzipien der Zonenplanung ignoriert. Anzhero-Sudzhensk und Prokopjevsk sind Beispiele für die Entwicklung des Wohnungsbaus nach dem Prinzip „jeder Mine ihre Siedlung“. Diese planlose Platzierung der Wohnungen erwies sich vor allem in der Region von Kusbass, wo die Gebäude viele Jahre lang über früheren Minen errichtet wurden, als überaus kostspielig. So bestand Novosibirsk aus einer Ansammlung von Industriesiedlungen, die separate Bezirke der Stadt bildeten. Die unkoordinierte Errichtung von Werken und Werkswohnungen durch eine Zentrale Regierungsabteilung (Vedomstvo) war typisch für die Situation in der Sowjetunion. 23 Boris E. Svetlichnyi/Pavel I. Oturin, Stalinsk, Moscow 1958, S. 6–8.
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Eine sozialistische Modellstadt neuen Typs: die sibirische Stadt der Wissenschaften Akademgorodok 1957 fällte die sowjetische Regierung die Entscheidung, in der Nähe von Novosibirsk ein wissenschaftliches Zentrum für die sibirische Abteilung der Akademie der Wissenschaften zu errichten. Im selben Jahr begannen mehrere Entwurfsbüros in Moskau, Leningrad und Novosibirsk mit der Arbeit an dem Projekt für Akademgorodok, das auf den neuesten Prinzipien der Stadtplanung beruhen sollte. Als Standort für die Baustelle von Akademgorodok wurde ein Kiefernwald 20 Kilometer südlich von Novosibirsk ausgewählt. Das Gebiet der künftigen Stadt (1,370 Hektar; einschließlich 350 Hektar Wald) wurde in drei funktionale Hauptzonen unterteilt: eine Wissenschaftszone, eine Wohnzone und eine Zone für die öffentlichen Einrichtungen. Für die Wohnzone sah der Plan vier- bis neungeschossige Gebäude sowie Häuser mit den nötigen kommunalen Einrichtungen vor. In Akademgorodok beruhte der individuelle Lebensstandard auf dem jeweiligen sozialen Status, was dem Anspruch einer egalitären Gesellschaft als Ideal der kommunistischen Stadt eindeutig widersprach. Große Anstrengungen wurden unternommen, um mit attraktiven Bedingungen Wissenschaftler aus Moskau und Leningrad zum Umzug nach Sibirien zu bewegen. Der Gestaltung des Zentrums der öffentlichen Einrichtungen, das das Haus der Studenten, ein Hotel, ein Kino und ein Einkaufszentrum beherbergen sollte, wurde besondere Sorgfalt gewidmet. Die Prinzipien des neuen Systems der funktionalen Anordnung der Wohngebäude in Mikrobezirken spiegelten sich im Generalbebauungsplan für Akademgorodok wider. Das Wohngebiet liegt im Wald, der das Hochschulgelände bereichert. Die Erbauer verstanden es, Bäume sogar in unmittelbarer Nähe zu den Gebäuden zu erhalten. Zudem ist Akademgorodok eine der wenigen Städte Russlands mit einem speziellen Netz von Radwegen.24 Im Herbst 1959 besuchte Nikita Chruschtschow Akademgorodok, um sich über den Fortgang der Bauarbeiten zu informieren. Der Erste Sekretär war jedoch irritiert vom Hochhausbau, den aufgelockerten Baugruppen und dem Fehlen von „architektonischen Ensembles“ sowie von den Fußwegen, die sich um Baumgruppen wanden. Chruschtschow forderte eine entschiedenere Orientierung an „wahrer Schönheit und ökonomischer Kalkulation“. Er riet dazu, „Sparsamkeit zu praktizieren und die Kostenvoranschläge beim Bau von Akademgorodok nicht zu überschreiten“. Nach der Kritik des Ersten Sekretärs an dem Projekt wurden vielgeschossige Wohnbauten nicht mehr errichtet und statt dessen mit dem Bau von vorgefertigten vier- bis fünfgeschossigen Wohnhäusern begonnen. Infolgedessen fehlten in der Stadt vertikale Akzente und ein übergreifender Zusammenhang in der Stadtplanung, der die bauliche Integration gewährleistet hätte. Nur die Waldparkanlagen, Gärten und Plätze hoben sich ab von der Architektur einer Kleinstadt aus standardisierten Großplattenbauten. Die industrielle Bauweise führte dazu, dass Akademgorodok „in seiner äußeren Erscheinung wie jede andere sowjetische Neue Stadt aussieht“.25 24 1967 wurden die Architekten des Akademgorodok-Projektes mit einem staatlichen Preis für ihr Werk ausgezeichnet. 25 D.M. Smith, Siberian city of science. Geographical Magazine, Bd. 51 (3), 1978, S. 238–242.
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Abb. 9: Der Wohnring der Stadt für den sibirischen Ableger der „Lenin Allunions-Akademie für Agrarwissenschaft“, VASKhNIL (Krasnoobsk). Architekten: A. Karpov, A. Panfil, Yu. Platonov, G. Tyulenin, E. Sudarikov, A. Levenstein, B. Shubin, und G. Lykov (Masterplan), Novosibirsk 1970; Quelle: Privatsammlung. Novosibirsk
Der „jüngere Bruder“ von Akademgorodok Eine interessante stadtplanerische Lösung sowie eine – bezogen auf den räumlichen Umfang – ungewöhnliche Komposition wurde für den „jüngeren Bruder“ von Akademgorodok gewählt, ein neues Wissenschaftszentrum für den sibirischen Ableger der „Lenin Allunions-Akademie für Agrarwissenschaft“, VASKhNIL (heute Krasnoobsk), das 1970 zehn Kilometer außerhalb von Novosibirsk gebaut wurde. Geplant wurde es als sowjetische Wissenschaftsstadt einer neuen Generation. Im großen Maßstab angelegte Ringe von Wohnbauten wurden den regelmäßigen, sehr langen Reihen von Gebäuden der Akademie gegenüber gestellt, verbunden durch Passagen, das Präsidium der Akademie, eine Bibliothek und das so genannte ForschungsgeZur Beschreibung der aktuellen Situation in Akademgorodok siehe. Paul R. Josephson, New Atlantis Revisited: Akademgorodok, the Siberian City of Science, Princeton 1997.
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bäude. Die Ringe von neungeschossigen, industriell gefertigten Wohnhäusern wurden als Schutz vor dem Wind benötigt, der in diesem Teil Sibiriens, der Steppe, herrscht. Innerhalb der Ringe wurde so ein angenehmes Mikroklima geschaffen. Dort wurden fünfgeschossige Wohngebäude, Schulen, Kindergärten, Kinderkrippen, Geschäfte und öffentliche Einrichtungen für den täglichen Bedarf angesiedelt.26 Novosibirsk nach 1954: auf dem Weg zu einer Agglomeration In den späten 1950er Jahren entwickelte sich Novosibirsk durch den Bau von Akademgorodok für den sibirischen Ableger der russischen Akademie der Wissenschaften zu einem der führenden Wissenschaftszentren der UdSSR. Sowohl in der Stadtplanung als auch bei den individuellen Bauprojekten kam es zu einer Renaissance der Ideen einer modernen Architektur. Multifunktionalität, Flexibilität im Raum und das Pavillonkonzept bestimmten nunmehr die Architektur der öffentlichen Bauten. Die Wende der sowjetischen Architekturdoktrin hin zu ökonomischen und funktionalen Grundsätzen erfolgte abrupt und war so nur in einer totalitären Gesellschaft möglich. Der Kampf gegen „architektonische Extravaganzen“ brachte die Architekten von „Eskapaden“ ab und führte zu einem Diktat der Bauunternehmern. Der industrielle Wohnungsbau im großen Maßstab trug dazu bei, die Wohnungsnot zu lindern. Viele Menschen konnten nun ihre Baracken und Slums gegen modern ausgestattete Wohnungen tauschen. Jedoch diskreditierten die Monotonie der Typenbauten, die ständige Wiederholung derselben, von den Möglichkeiten einer primitiven Bautechnologie bestimmten Elemente sowie die Minimierung des Lebensraumes in den Augen des einfachen Bürgers sehr schnell die modernen städtebaulichen Ideen. Die Begriffe „khrushchevkas“ und „korobkas“ (Box, Arbeiterkiste) kamen in Umlauf. Die sowjetische Planungsbürokratie brachte zahlreiche Fehlkalkulationen hinsichtlich der künftigen Bevölkerungszahl von Novosibirsk hervor. So hatte die Abteilung Novosibirsk von Gorprojekt von 1942 bis 1945 einen auf 850.000 Bewohner ausgelegten Generalbebauungsplan für die kommenden 20 Jahre erarbeitet, obwohl die damalige Einwohnerzahl bereits 605.000 betrug. Aber das aussagekräftigste Beispiel ist die Reduzierung der erwarteten Bevölkerungszahl der Stadt durch die zentrale Planungsbehörde der UdSSR, Gosplan (Staatliches Planungskomitee der UdSSR). 1959 berechnete das örtliche Planungsinstitut Novosibgrazhdanproekt die voraussichtliche Bevölkerungszahl im Jahre 1980 auf 1,52 Mio. Einwohner. 1960 billigte das Exekutivkomitee der Sowjets diese Berechnung, dennoch reduzierte Gosplan sie auf 1,3 Millionen. Doch bereits 1968 erreichte Novosibirsk diese Zahl. Die Reduzierung der erwarteten Einwohnerzahl bot Gosplan die Möglichkeit, auch das Budget der Stadt abzusenken. Das hatte negative Folgen: das Tempo des 26 1958 entwarfen die Architekten die Stadt für den sibirischen Ableger der „Lenin Allunionsakademie der Agrarwissenschaften“, VASKhNIL, A. Karpov, A. Panfil, Yu. Platonov, G. Tyulenin, E. Sudarikov, A. Levenstein, B. Shubin, G. Lykov wurden mit dem Nationalpreis der UdSSR ausgezeichnet.
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Wohnungsbaus wurde verlangsamt; Investitionen in die städtische Infrastruktur waren unzulänglich.
Abb. 10: Die Region Novosibirsk (Ausschnitt). Aus: Po Leninu zhivem i stroim. Atlas Novosibirskoi oblasti („Wir leben und bauen nach Lenin“. Atlas der Region von Novosibirsk), Moskau 1970, S. 14.
1958 begann das Moskauer Entwurfsbüro Giprogor mit der Ausarbeitung eines Regionalplanes für die Industrieregion Priobskii nahe dem Fluss Ob, zu dem auch der Großraum Novosibirsk gehörte. Das Wachstum der Kernstadt wurde begrenzt, während die Siedlungen um Novosibirsk entwickelt werden sollten. Im Juli 1962 zählte die Stadt eine Million Einwohner. Gemäß dem sowjetischen Planungssystem stand einer Millionenstadt eine Untergrundbahn zu. Doch in Novosibirsk begann der Bau der Metro, der ersten in Sibirien, erst 1979. Die Stadt wuchs nun über ihr Territorium hinaus. Neue Mikrodistrikte, Wohnungskomplexe und Satellitenstädte entstanden. Dem Zentrum hingegen wurden zu dieser Zeit nicht die nötige Aufmerksamkeit zuteil. Auch die massiven Umweltprobleme, die von der verstreuten Lage der Industriebetriebe herrührten, wurden ignoriert. Trotz der großen Anzahl an Entwürfen für einen Zugang zum Ob blieb die Stadt durch die Trasse der Eisenbahn vom Fluss abgeschnitten.
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Traum und Realität: Die Ergebnisse der Stadtplanung in Sibirien Als Folge der sowjetischen Aufrüstung konzentrierte sich die Industrie in der UdSSR zunehmend auf die Produktion von Waffen, Energie und Rohmaterialien. Stahlproduktion und Schwerindustrie dominierten, die Urbanisierung blieb ein Nebenprodukt von Industrialisierung und Militarisierung. Die Militarisierung der UdSSR drang kontinuierlich in Richtung Osten und Norden vor. So besaßen Mitte der 1980er Jahre 80–90 Prozent der sibirischen Industrie einen militärischen Charakter. Durch die geheime Militarisierung der Industrie und der wissenschaftlichen Forschung entstanden rund 100 „geschlossene Städte“, die auf keiner sowjetischen Karte verzeichnet waren. Die typische sowjetische Stadt in Sibirien war eine Summe industrieller Siedlungen. Die zentrale Regierung, das Stadtparlament (Sowjet), das örtliche Exekutivkomitee der Partei und die Zentrale Regierungsabteilung Vedomstvos regelten das städtische Leben und den Bau der sowjetischen Städte. Letztere hatte einen großen Einfluss auf die städtischen Angelegenheiten, da sie den Bau und die Arbeit der Industrieanlagen finanzierte und deren Beschäftigte mit Dienstleistungen und Waren des täglichen Bedarfs versorgte. Die Hierarchie der sowjetischen Städte bestimmte nicht nur die Verteilung der Konsumgüter, sondern auch die Normen für die Höhe der Baukosten (pro Quadratmeter) der Wohngebiete. Moskau, die Hauptstadt der Sowjetunion, einige Urlaubsorte sowie die „Geschlossenen Städte“ besaßen privilegierte Positionen. Die knapp angesetzten Kostenrichtwerte pro Quadratmeter Wohnraum für Sibirien verhinderten die Entwicklung von Fertigbauten besserer Qualität. Infolge der ideologisch begründeten Begrenzung des Wachstums der großen Städte bildeten die sibirischen Großstädte besondere räumliche Strukturen aus,27 die wesentlich durch den Bau von Satellitenstädten bestimmt waren. Die sowjetische Großstadt besaß daher zumeist eine konzentrische Struktur mit traditionell errichteten flachen Gebäuden im Zentrum und suburbanen Gebieten mit industriell hergestellten hohen Gebäuden. Die nächste Zone bestand aus Datschen und Wochenendhäusern, deren Ursprünge in der vorrevolutionären Zeit lagen und die von Adligen, Kaufleuten und wohlhabenden Städtern auf dem Land gebaut worden waren. Ursprünglich zur Erholung gebaut, wurden sie in sowjetischen Zeiten vielfach für die Anbau von Nahrungsmitteln benutzt. Bis zum Ende der UdSSR glaubten die sowjetischen Behörden an die Möglichkeit einer administrativen Steuerung des urbanen Wachstums. Die Stadtplanung war zentralisiert; die Entwürfe für Städte der Provinz wurden in der Regel 27 Bis 1991 bestimmten die Ideen von Marx, Engels, und Lenin die Stadtplanungstheorien für die sowjetische Stadt. Die Partei war bestrebt, „die Unterschiede zwischen Stadt und Land auszugleichen“. Die Idee einer „gleichmäßigen Verteilung von Industrie und Bevölkerung über das Land“ bildete die Basis der Theorie der sozialistischen Ansiedlung der Produktivkräfte. Die sowjetische Regierung versuchte, das exzessive Wachstum der Großstädte zu verhindern. Bereits 1931 hatte das ZK der KPdSU eine Resolution erlassen, den Bau neuer Werke in Moskau und Leningrad zu verbieten. Auf dem 18. Parteitag 1939 wurde das Verbot des Baus neuer Industrieanlagen auf fünf weitere Industriestädte im westlichen Teil der UdSSR ausgedehnt.
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von Architekten in Moskau oder Leningrad mit Unterstützung lokaler Architekten und Entwurfsbüros angefertigt. Alle Generalbebauungspläne mussten nach der Billigung durch die Stadträte noch einmal in Moskau genehmigt werden. Das komplizierte und ineffektive, bürokratische System staatlicher Kontrolle der Stadtplanung, das sich gegen Ende der 1930er Jahre herausgebildet hatte, änderte sich bis zum Ende der UdSSR nicht wesentlich. So wurde für Novosibirsk, heute eine Stadt mit mehr als 1,4 Millionen Einwohner, lediglich ein einziger Generalbebauungsplan im Jahr 1968 offiziell genehmigt, der allerdings auf der erwähnten gravierenden Fehlkalkulation der zu erwartenden Bevölkerung beruhte. Zwar hatte es die Sowjetunion gegen Ende ihres Bestehens immerhin erreicht, dass nahezu 100 Prozent der Klein- und Großstädte einen Generalbebauungsplan aufweisen konnten, doch wurden diese in Sibirien lediglich zu zehn bis fünfzehn Prozent umgesetzt.28 In vielen dieser Pläne entwarfen die Architekten grandiose Komplexe, ohne auf die Möglichkeit der Realisierung zu achten, während die Stadtplaner stets auf großmaßstäbliche städtische Umgestaltungsmaßnahmen fixiert waren. Vor allem die Entwürfe für die Zentren wurden wegen der hohen Kosten für die Umsetzung der Bewohner von Abrisshäusern nur bruchstückhaft verwirklicht. Gemäß sowjetischem Recht hatte die Stadtverwaltung diesen Menschen, sofern sie registriert waren, neue, dem gültigen Standard entsprechende Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Die Einwohner der Altbauten kannten diese Vorschrift und ließen auch ihre Familienangehörigen und Freunde unter ihrer Adresse registrieren, um neue, kostenlose Wohnungen zu bekommen. Die Folge dieser Blockadesituation war, dass sich in einigen sibirischen Städten die eingeschossigen Bauten in den Altstädten bis heute erhalten haben. Ein anderes aus der sozialistischen Epoche überkommenes Problem praktisch aller sibirischen Städte ist die relativ zentrumsnahe Lage der Industriegebiete. Die Verlagerung der schadstoffreichen Betriebe von ihren historischen Standorten erwies sich vielfach als ökonomisch nicht durchsetzbar. Insgesamt gesehen versuchten die sowjetischen Planer während der gesamten Nachkriegsperiode dem Ideal einer neuen, utopischen Stadt, nahe zu kommen. Dazu forschten sie nach dem idealen Modell für die sowjetische Stadt, das überall im Land anwendbar sein sollte. Darin liegt der Grund, dass die Plattenbauten in den Mikrodistrikten der sibirischen Hauptstadt Novosibirsk, exakt jenen in Simferopol, der Hauptstadt der subtropischen Krim, entsprachen. Das ideale Modell der sowjetischen Stadt veränderte sich mit der Zeit und hinterließ seine Spuren in der urbanen Struktur in Form von unvollendeten Masterplänen, nur teilweise verwirklichten Bauensembles sowie der großflächigen Vernichtung der historisch gewachsenen Strukturen. Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Wolfes und Christoph Bernhardt
28 Marina R. Kolpakova, Strategija gradostroitel’nogo razvitija sibirskogo goroda (Die Strategie urbaner Entwicklungen für sibirische Städte), Novosibirsk 2000, S. 7.
ALLTAGE UND ÖFFENTLICHKEITEN IN DDR-STÄDTEN Adelheid von Saldern Einleitung „Es lässt sich leben“, das war wohl die verbreitetste Devise der DDR-Bürger und Bürgerinnen über lange Zeit hinweg,1 bis vielen klar wurde, was der Verfasser eines Briefes in den Satz zusammenfasste: „Seit 40 Jahren warte ich auf das ‚Morgen‘, aber es rückt immer mehr in weite Ferne“.2 Alltag in der DDR bestand also aus der Fähigkeit der Menschen, sich einzurichten, mit der Diktatur zu leben, die Gegebenheiten hinzunehmen und auf die bessere Zukunft zu hoffen. Doch ein solches Bild vom Alltagsdenken der Menschen zu zeichnen, wäre zu einfach. Zwar macht es einen großen Unterschied aus, ob man auf die Machtzentrale in Berlin schaut oder auf die Lebenswelten vor Ort,3 aber Herrschaft vollzog sich bekanntlich nicht allein von oben nach unten, sondern war selbst in die Alltagshandlungen der Menschen inkorporiert und formte beziehungsweise deformierte die Öffentlichkeiten in Stadt und Land. Alltag ist eine Konstruktion derjenigen, die den Alltag erleben. Sie wird durch eigene Sinngebung, aber auch durch äußere Einflüsse bestimmt. Alltage sind das subjektiv bestimmte Substrat jeweiliger Wahrnehmungen, Erfahrungen und Deutungsweisen von Routinen, Gegebenheiten und Geschehnissen, wobei das Außergewöhnliche, das Nichtalltägliche, zur Konturierung des Alltäglichen wesentlich beiträgt. In der DDR wurde der Alltag im Kontext des Bitterfelder Weges eigens thematisiert und stilisiert. Außerdem übten sich Mitglieder der Betriebsbrigaden im Protokollieren ihrer Erfahrungen, die sie mit den verschiedenen Aktivitäten im Kollektiv machten. Zu denken ist ferner an die Literaturströmung „von fast protokollarischer Authentizität der Alltagsbeobachtung, die nach Brigitte Reimanns Roman Ankunft im Alltag schlicht Ankunftsliteratur genannt wurde.“4 Eine quasi zweite Konstruktion ist „der Alltag“ dann aus der Sicht der Historiker und Historikerinnen 1
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So Mary Fulbrook, Methodologische Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Richard Bessel/Ralph Jessen (Hrsg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 274–297, hier: S. 290. Für Kritik und Hinweise danke ich Dorothee Wierling, Schreiben von Helmut Voland, 25.10.1988, in: Ina Dietzsch, Grenzen überschreiben? Deutschdeutscher Briefwechsel 1948–1989, Köln etc. 2004, S. 163. Dazu Thomas Lindenberger, Alltagsgeschichte und ihr möglicher Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Bessel/Jessen, S. 299–325. Simone Hain, Die Salons der Sozialisten. Geschichte und Gestalt der Kulturhäuser in der DDR, in: Dies./Stephan Stroux (Hrsg.), Die Salons der Sozialisten. Kulturhäuser in der DDR, Berlin 1996, S. 89–149, hier: S. 141. Siehe auch Ilse Nagelschmidt, Frauenliteratur der DDR im Spannungsfeld zwischen Aufbegehren und Aufbruch: Zwischen Identitätsverlust und Identitätsge-
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– mit dem Resultat, dass dessen Beschreibung einheitlicher und homogener ausfällt als er tatsächlich war. Denn in Wirklichkeit waren die Alltage in der DDR recht verschieden, weil ungeachtet aller Egalisierungstendenzen die Lebensbedingungen in der DDR durchaus differierten. So galten das Industriedreieck Halle-Borna-Bitterfeld und die Oberlausitz als soziale Problemgebiete.5 Von Schwedt hieß es, dass man dort zwar wohnen und arbeiten, aber nicht leben könne.6 (Ost-) Berlin bot mehr Möglichkeiten zur abwechslungsreichen Alltagsgestaltung; Leipzig, Dresden und Rostock folgten. Kleinstädte galten als perspektivlos, und sie waren es in der Regel auch. Verfall der Bausubstanz und Wanderungsverluste schon zu DDR-Zeiten7 vermittelten eine Alltagserfahrung der Marginalisierung und eines unwirtlichen Stadtraums. Doch auch in den Städten unterschieden sich die Alltage. Es machte einen Unterschied aus, in welcher Branche und in welchen Betrieben man arbeitete; die Lebenssituationen differierten auch, je nach dem, ob man in nicht-modernisierten Innenstadtwohnungen oder in den großen Neubausiedlungen am Stadtrand lebte, die wegen ihrer besseren Ausstattung im Vergleich zu den Altbauwohnungen die erste Zeit nach ihrer jeweiligen Fertigstellung ein relativ gutes Image hatten und deshalb den jungen, dynamischen Leistungsträgern vorbehalten waren.8 Rentner, vor allem Rentnerinnen, waren nicht nur bei der Wohnungsverteilung benachteiligt, sondern auch im Hinblick auf ihre sonstigen finanziellen und sozialen Möglichkeiten, was häufig zu beträchtlichen Einschränkungen im Alltag führte.9 Der Alltag bürgerlicher Familien wurde, soweit sie nicht in den Westen gingen, durch die Entmachtung des Bürgertums als gesellschaftliche Deutungsinstanzen und durch die sukzessive Entbürgerlichung der Öffentlichkeiten bestimmt. Was blieb, das waren berufliche Anpassungen, die Kultivierung der Privatsphäre sowie die unauffällige Teilnahme am Theater- und Konzertleben. Die Geschichte von Alltagen ist zwar mit jener über Öffentlichkeiten nicht deckungsgleich, doch haben sie, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, eine Reihe gemeinsamer Schnittflächen und wechselseitiger Bezugspunkte. Das setzt freilich voraus, dass der Begriff der Öffentlichkeit in entnormierter und pluralisierter Form verwendet wird, das heißt, dass Öffentlichkeiten lediglich als reale oder mediale Kommunikationsräume gesehen werden, die unterschiedlich genutzt werden konnten.10 Die diversen Formen von Öffentlichkeiten setzen sich zwar alle winn, in: Lothar Mertens, Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S. 81–102. 5 Zu den regionalen Disparitäten siehe Siegfried Grundmann, Räumliche Disparitäten in der DDR, in: Mertens, S. 159–202. 6 In: Frank Werner, Stadt, Städtebau, Architektur in der DDR, Erlangen 1981, S. 127. Dazu siehe den Beitrag von Philipp Springer in diesem Band. 7 Christine Hannemann, Marginalisierte Städte. Probleme, Differenzierungen und Chancen ostdeutscher Kleinstädte im Schrumpfungsprozess, Berlin 2004; Siegfried Grundmann/Ines Schmidt, Wohnortwechsel, Berlin 1988, S. 38. 8 Adelheid von Saldern, Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, Bonn 1995, S. 314–348. 9 Siegfried Grundmann, Zur Sozialstruktur der DDR, in: Evemarie Badstübner (Hrsg.), Befremdlich anders. Leben in der DDR, Berlin 2000, S. 19–62, hier: S. 54 f. 10 Dazu siehe auch Adelheid von Saldern, Öffentlichkeiten in Diktaturen. Zu Herrschaftsprakti-
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begrifflich von der so genannten Privatsphäre ab, doch sind beide, wie gezeigt werden soll, aufeinander bezogen. Alltags- und Öffentlichkeitsgeschichte der DDR ist in vielfacher Hinsicht eine Erfahrung von Grenzen, deren Öffnung schließlich 1989 zur Auflösung des Regimes führte. Zu der äußeren, stark militarisierten Grenze in Form der 1961 errichteten Mauer kamen die inneren Grenzen in Bezug darauf, was gesagt und getan werden durfte. „Die an der Mauer exekutierte Staatsgewalt wirkte als Gewaltdrohung in die Gesellschaft zurück: In deren Alltag konnte der SED-Staat auf geräuschlose Fügsamkeit, Mitmachen und Loyalität in den von ihm eng gesetzten Grenzen rechnen“.11 Hinzu kamen die ideologischen Grenzziehungen gegenüber dem „Klassenfeind“ im Inneren des Landes und jenseits der Mauer. Die äußeren und inneren Grenzen der DDR machten dieses Land zu einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘. Das zeigte sich auch im Umgang mit den Fremden. Während beispielsweise in Ritualen die imaginierte deutsch-sowjetische Freundschaft herausgestellt wurde, dominierte an den Standorten im Alltag oftmals Distanz gegenüber den befreundeten Fremden.12 Grenzziehungen gab es auch gegenüber jenen Menschen, denen eine „asoziale parasitäre Lebensweise“ nachgesagt wurde. Davon waren in den 1970er Jahren beispielsweise 5.000 bis 7.000 Menschen betroffen.13 Eine wiederum andere Bedeutung erhält der Grenzbegriff, wenn von „Grenzen der Diktatur“14 die Rede ist. Hierbei fällt der Blick auf die Aushandlungsprozesse, auf die komplexen Alltagsstrategien der Menschen sowie auf das Entstehen von subkulturellen Öffentlichkeiten und – insbesondere während der 1980er Jahre – von alternativen Netzwerken. Die folgenden Ausführungen thematisieren die drei Hauptsphären alltäglichen Lebens: die Berufssphäre, die Privatsphäre und die öffentliche Sphäre, wobei letztere noch in besonderer Weise ausdifferenziert wird: Es geht um die situativen bzw. Ersatzöffentlichkeiten, die Öffentlichkeiten in Kulturhäusern sowie die Veranstaltungsöffentlichkeiten. Schließlich fällt der Blick auf die eben erwähnten subkulturellen Öffentlichkeiten sowie auf alternative Netzwerke.
ken im Deutschland des 20. Jahrhunderts, in: Günther Heydemann/Heinrich Oberreuter (Hrsg.), Diktaturen in Deutschland. Strukturen, Institutionen und Verhaltensweisen im Vergleich, Bonn 2003, S. 442–475. 11 Thomas Lindenberger, Diktatur der Grenze(n). Die eingemauerte Gesellschaft und ihre Feinde, in: Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch/Christoph Kleßmann (Hrsg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen, Verlauf, Auswirkungen, Berlin 2002, S. 203–214, hier: S. 204. 12 Vgl. jetzt: Silke Satjunkow, Besatzer. Die „Russen“ in Deutschland 1945–1994, Göttingen 2008. 13 Lindenberger, Diktatur, S. 208 f.; ausführlich: Ders./Jan C. Behrends/Patrice G. Poutrus (Hrsg.), Fremde und Fremd-Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2003. 14 Siehe den Titel von Bessel/Jessen, Die Grenzen der Diktatur.
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Berufliche und betriebliche Alltage Zahlreiche Untersuchungen haben hervorgehoben, dass die DDR eine Arbeitsgesellschaft gewesen sei und deshalb die Arbeit das zentrale Erfahrungsfeld ausmachte,15 dies umso mehr, als auch in der Öffentlichkeit in Wort und Bild die Arbeit als Zentrum des gesellschaftlichen und individuellen Sinnzusammenhanges dargestellt wurde. Erhielt die Arbeit also das Siegel des Lebensmittelpunktes zugesprochen, so wurde ihre Bedeutung noch dadurch hervorgehoben, dass die Betriebe als teilautonome Handlungs- und Wertegemeinschaften fungierten, in denen auch tradierte ‚unpolitische‘ Normen, wie Disziplin, Sauberkeit und Ordnung, inkorporiert waren. Die Bildung innerbetrieblicher Gruppen, die Teilnahme an Wettbewerben, Repräsentationen, Werksversammlungen und am Kantinenleben sowie die vielseitigen Freizeit- und Kulturangebote banden die Menschen an ‚ihre‘ Betriebe, füllten ihren Alltag auch außerhalb der Arbeitszeiten, strukturierten ihr Kräfte- und Zeitbudget, boten vielseitige Kontaktmöglichkeiten und ließen engmaschige Netzwerke entstehen. „Wo die Arbeit als Tätigkeit enttäuschte, wurden die Arbeitsbeziehungen zum Ersatz“, so die Historikerin Dorothee Wierling.16 Arbeitsbrigaden bildeten soziale Substrukturen heraus, die, je länger sie existierten, desto häufiger auch Bedürfnisse nach Geselligkeit und gemeinsamen Freizeittätigkeiten befriedigten.17 In den Brigaden wurden betriebliche Forderungen formuliert und subkulturelles Eigenleben entwickelt, wobei in der Regel die vorgegebenen politischen Grenzziehungen zu überschreiten nicht ratsam war.18 Teils agierten die Brigaden als Quasigewerkschaften, teils als sozialintegrative Gruppenöffentlichkeiten mit Ventilfunktion – letzteres insofern, als sie Arbeiterinnen und Arbeitern Gelegenheiten boten, sich über Missstände zu beschweren.19 Soziale Auseinandersetzungen und Konfliktlösungen verliefen häufig ebenfalls betriebsintern, auch wenn das Risiko der von außen gesteuerten, direkten Politisierung immer vorhanden war.20 Auf den Betriebsversammlungen vermittelte die Betriebsführung ihrer Belegschaft spezifische Deutungen der Werksentwicklung, bestimmter Geschehnisse oder erhöhter Anforderungen so lange ‚mit Nachdruck‘, bis sie den erwünschten Konsens nach außen hin erreichte. Die den Werksangehörigen vorgesetzten Interpretationen mussten formell von diesen akzeptiert werden, auch wenn ihre eigenen Wahrnehmungen dem entgegenstanden. Die Unterschiedlichkeit in den Deutungen 15 Francesca Weil, Herrschaftsanspruch und soziale Wirklichkeit. Zwei sächsische Betriebe in der DDR während der Honecker-Ära, Köln 2000, S. 196. 16 Dorothee Wierling, Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S. 557. 17 Annegret Schüle, „Die Spinne“. Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit im VEB Leipziger Baumwollspinnerei, Leipzig 2001, S. 257–266. 18 Peter Hübner, Konsens, Konflikt und Kompromiss. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945–1975, Berlin 1995, S. 211–245. 19 Thomas Reichel, Die „durchherrschte Arbeitsgesellschaft“. Zu den Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnissen in DDR-Betrieben, in: Renate Hürtgen/Thomas Reichel (Hrsg.), Der Schein der Stabilität: DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker, Berlin 2001, S. 85–110, hier: S. 107. 20 Hübner, Konsens, S. 210.
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konnte, falls sie von Dauer war und sich häufig wiederholte, dazu führen, dass die Betroffenen ihrerseits eine besondere Fähigkeit zur ‚doppelten Sichtweise‘ von realen Vorgängen entwickelten. Mit der Zeit beschränkte sich dieses Können nicht nur auf die von den Werksangehörigen selbst wahrnehmbaren und von ihnen teilweise gut einschätzbaren Betriebsangelegenheiten, sondern bezog sich auch auf solche Geschehnisse, die die Werksangehörigen nicht selbst erfahren konnten. In diesen Fällen waren die Menschen hauptsächlich auf Gerüchte und auf die öffentlichkeitsprägenden Deutungen der Staats- und Parteirepräsentanten angewiesen. Die ‚doppelte Sichtweise‘ konnte schließlich dazu führen, dass an das offiziell Gehörte oder Gelesene in höchst widersprüchlicher Weise ‚geglaubt‘ und gleichzeitig nicht geglaubt wurde, weil Zweifel blieben. Die meisten Arbeiter und Arbeiterinnen folgten der Devise, das Bestmögliche aus der jeweiligen Situation zu machen, sich anzupassen ohne die eigene Würde und den Stolz auf das Geleistete zu verlieren – ein mentaler Balanceakt, der sicherlich nicht immer einfach durchzuhalten war. Die potenzielle Macht der Beherrschten als die ‚eigentlichen Produzenten‘ mischten sich mit realen Ohnmachtsgefühlen und Mangelerfahrungen. Die daraus resultierende Spannung konnte – jenseits aller Bindungen an den Betrieb – negative Einstellungen gegenüber dem DDR-System mit sich bringen; doch umgekehrt ist auch eine „Bindung an die DDR durch Arbeit“ (Helmut Zwahr) konstatiert worden. Die hohe Frauenerwerbstätigkeit in der DDR trug dazu bei, das Selbstbewusstsein vieler weiblicher Beschäftigten zu stärken.21 Gleichwohl blieben Frauen in die traditionellen Frauenberufe eingebunden und erhielten geringeren Lohn als ihre männlichen Kollegen. Nur wenige Frauen stiegen die Karriereleiter hoch, auch in „Frauenbetrieben“.22 Nicht selten lag dies daran, dass der Aufstieg mit mehr Arbeit sowie mit einer größeren sozialen und politischen Kontrolle verbunden war. Wie in einer Studie über den betrieblichen Alltag nachgewiesen wurde, dominierten pragmatische Auffassungen und Handlungsweisen den Frauenarbeitsalltag. „Kollegialität, Harmonie und Zusammenarbeit spielten in den beiden [hier untersuchten] Betrieben bis 1989 eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Beschäftigten. Man strebte ein Sich-Einrichten in einer ‚kleinen, heilen‘ Welt an“.23 Seit den 1960er Jahren bezogen sich die Prototypen der DDR-Gesellschaft weniger auf die Arbeiter, sondern mehr auf die Ingenieure als Kerngruppe der so genannten neuen Intelligenz. Die gehobene Berufstätigkeit trat in den Vordergrund medialer Öffentlichkeiten. Sie konnte sowohl persönliche Interessen befriedigen und gleichzeitig dem Regime dienen.24 Im Lauf der 1970er und 1980er Jahre verschoben sich allerdings die Gewichte zu Gunsten des persönlichen Bereichs. Gleich21 Weil, Herrschaftsanspruch, S. 138, 152. So arbeiteten im Jahre 1986 rund 87 Prozent der erwerbstätigen Frauen. Wenzel Müller, Leben in der Platte. Alltagskultur der DDR der 70er und 80er Jahre, Wien 1999, S. 20. 22 Weil, Herrschaftsanspruch, S. 125; Grundmann, Zur Sozialstruktur, S. 50 f. 23 Francesca Weil, Betriebliches Sozialverhalten in der DDR der 70er und 80er Jahre am Beispiel zweier sächsischer Betriebe, in: Peter Hübner/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Arbeiter in der SBZ/ DDR, Essen 1999, S. 321–354, hier: S. 354. 24 Wierling, Geboren, S. 320.
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zeitig verschlechterten sich die betrieblichen und beruflichen Aufstiegsmöglichkeiten, nachdem die Zeiten vorbei waren, in denen die alten Funktionseliten durch neue ersetzt wurden. Hinzu trat in den achtziger Jahren eine wachsende innere Verweigerungshaltung. Privatsphäre und häusliche Alltage „Wie ist es möglich, dass Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Hause die Filzlatschen anziehen und sich begnügen?“ fragte Brigitte Reimann 1962 erstaunt.25 Und in der Tat, die Geschlechterordnung blieb weitgehend den alten Mustern treu: Die Frauen waren für Haushalt und Kinder zuständig, die Männer für Autos (falls vorhanden), für Gartenarbeiten und Reparaturen in der Wohnung sowie für das Funktionieren der Schattenwirtschaft.26 Sicherlich gab es von offiziöser Seite immer wieder Bemühungen, einen neuen Typus von Mann zu entwerfen, doch die traditionellen Strukturen erwiesen sich gerade im Privatbereich als langlebig. Zwar wurde die Doppel- bzw. Dreifachbelastung der Frauen einerseits durch das Kantinenessen sowie durch die Versorgung des Nachwuchses in Kinderkrippen, Kindergärten und der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule (POS) ein Stück weit verringert, doch erschwerte die Mangelwirtschaft andererseits die Hauhaltsführung gravierend. Der Privatbereich war ferner durch die Enge der meisten Neubauwohnungen gekennzeichnet. Ordnung und Sauberkeit waren unter diesen Umständen zwar notwendig, aber oftmals nur mittels autoritärer Familien-Strukturen durchzusetzen bzw. einzuhalten. Auf der Basis solcher alltagsprägenden Normen breitete sich seit den 1960er Jahren eine gepflegte Häuslichkeit und ein bescheidener Luxus aus.27 Mit der Familie, unter Freunden und guten Bekannten verstanden es die Menschen, sich innerhalb der bestehenden Handlungsgrenzen einen „rudimentären individuellen Freiraum“ zu verschaffen“,28 wozu auch das Sexualleben gehörte. Es wurde „inniger, öfter und früher geliebt“ als im Westen, so der Soziologe Kurt Starke.29 25 Zit. nach Christoph Kleßmann, Arbeiter im „Arbeiterstaat“. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell und westdeutsches Magnetfeld, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/2000, S. 20–28, hier: S. 26. 26 Sieht man von solchen Arbeiten der Männer im Reproduktionsbereich ab und konzentriert sich nur auf die Hausarbeit im engeren Sinne, dann wandten nach einer Untersuchung des Instituts für Marktforschung im Jahre 1970 Frauen 37,1 Stunden in der Woche für Hausarbeit auf, die Männer 6,1 Stunden und Sonstige 3,9 Stunden. Gerlinde Petzoldt, Erforschung der Freizeit durch Ökonomen und Sportwissenschaftler der DDR in den sechziger Jahren. Kommentierte Auswahlbiographie, in: Mittelungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 19, 1986, S. 5–56, hier S. 28. 27 Wierling, Geboren, S. 317. 28 Konrad H. Jarausch, Die gescheiterte Gegengesellschaft. Überlegungen zu einer Sozialgeschichte der DDR, in: AfS 39, 1999, S. 1–18, hier: S. 10. 29 Zit. nach Müller, Leben in der Platte, S. 98; siehe auch Dietrich Mühlberg, „Leben in der DDR“ – warum untersuchen und wie darstellen?, in: Badstübner, Befremdlich anders, S. 648– 696, hier: S. 682 f.
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Wer vom elterlichen Heim ausziehen und eine neue Wohnung mieten wollte, heiratete vielfach in sehr jungem Alter und bekam meist ein bis zwei Kinder, für die auch die reguläre Dreizimmer-Neubauwohnung ausgerichtet war. Wenn das Zusammenleben nicht mehr funktionierte, ließ man sich allerdings auch relativ schnell wieder scheiden.30 Zweit-Ehen folgten dann oft. Das führte zu einer dichten Vernetzung menschlicher Beziehungen im Privatbereich, die häufig mit jenen in den jeweiligen Betriebskollektiven verzweigt waren. Zwar gab es in der DDR ‚geschlossene‘, das heißt abschließbare Wohnungen, doch waren die Wohnungstüren im übertragenen Sinne gleichwohl recht durchlässig. Zum einen konnten die Bewohner und Bewohnerinnen nie sicher sein, dass sie nicht gerade von IMS-MitarbeiterInnen beobachtet oder belauscht wurden. Jeder Kollege, Verwandte oder Freund konnte zum Kreis der informellen Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gehören. Damit waren die Grenzen zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre aufgehoben, der Schutz der eigenen vier Wände hörte auf zu bestehen, besonders nachdem die familiäre Vernetzung mit den informellen Mitarbeitern der Stasi zugenommen hatte und die MfS-Wohngebiete ausgebaut worden waren.31 Doch die der Privatsphäre verbliebenen Funktionen wurden noch auf andere Art vermindert. Gemeint sind die wenn auch sehr begrenzten Kollektivierungstendenzen von häuslichen Teilbereichen in Form der Wohn- und Hausgemeinschaften, die – wie auch die „Wohngebietszentren“ und kleinen Klubs –32 vor allem in den Neubausiedlungen eine beträchtliche Rolle im Alltag spielten. Das bedeutete zum einen Kontrolle und Erziehung durch Hausverwalter und Nachbarn. Das implizierte zum anderen die gemeinschaftliche Nutzung von Räumen und dichte nachbarschaftliche Kommunikation. Trockenräume und Fahrradkeller wurden nicht selten in den Neubaugebieten zu Gemeinschaftsräumen umgestaltet und von Kindern und ihren Eltern genutzt.33 Gemeinsame Aktivitäten, wie Häuserreparaturen, Kinderspiel, Medienkonsum und Häuserschmücken sowie das Organisieren von Festen, verbanden die Menschen untereinander. Wer die staatlichen Rahmensetzungen einhielt, fand hier Möglichkeiten der wohnungsnahen Kommunikation und Freizeitbetätigung. Aus zahlreichen Untersuchungen geht hervor, dass die Bedeutung der Privatsphäre für die Menschen im Laufe der DDR-Geschichte, vor allem seit den 1970er Jahren, zugenommen und gleichzeitig das gesellschaftliche Engagement abgenommen hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auf die nach der Wende aufgeworfene Frage, worauf er oder sie im Rückblick besonders stolz sei, mit dem Hinweis auf die eigenen Kinder beantwortet wurde34 und nicht etwa, wie man hätte erwarten können, auf die geleistete berufliche Tätigkeit. Mit der Herausstellung der Kinder ist auch die gelungene Bewältigung des häuslichen Alltags eingeschlos30 In den 1980er Jahren ging jede dritte Ehe in die Brüche. Müller, Leben in der Platte, S. 95. 31 Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit. Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989/90, Berlin 2000, S. 547. 32 Hein, Die Salons, S. 146. 33 Ebd., S. 147. 34 Wierling, Geboren, S. 551.
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sen – allerdings nur in Form eines indirekten Sprechens über sich und die eigenen Anstrengungen. Wie in der Bundesrepublik wurde auch in der DDR der häusliche Alltag immer mehr durch Medien bestimmt. 39 Zeitungen und Zeitschriften gab es zu DDRZeiten.35 Bücher, inklusive der Klassiker der Weltliteratur, öffneten Grenzen und weiteten die Horizonte. Mittels der Medien drang das Öffentliche in den Privatbereich vor, strukturierte den häuslichen Alltag vor allem in den Abendstunden. Zwar dienten die staatlich kontrollierten audiovisuellen Medien als Instrumente der politischen Information und Propaganda, der „Massenverbundenheit“ sowie der Verbreitung von selektierten Kulturangeboten, doch das einseitig politisierte bzw. bildungsorientierte Programm stieß bei der breiten Bevölkerung auf wenig Gegenliebe. Unterhaltung, wenn auch meist in belehrender Form, machte schließlich, vor allem nach dem 17. Juni 1953, einen wesentlichen Teil der Programme von Radio und Fernsehen aus. Diejenigen, die Westsender empfangen konnten, nutzten die sich bietende Chance zur medialen Grenzüberschreitung, aber längst nicht ausschließlich. Die ‚richtige‘ individuelle Mischung von West- und Ostsendern im Radio und Fernsehen war stattdessen angesagt.36 Zur Bewältigung des häuslichen Alltags gehörte auch die Versorgung der Familie. Der tägliche Einkauf von Nahrungsmitteln, der ebenfalls in der Regel den Frauen oblag, brachte vielfach nach einem langen Arbeitsalltag zusätzlichen Stress mit sich, vor allem wenn es zu Schlangenbildungen vor den Geschäften kam. Schlangen entstanden insbesondere dann, wenn eingebildete oder tatsächlich bevorstehende Warenverknappungen und Preiserhöhungen erwartet wurden. Man wisse „aus sicherer Quelle“37 hieß es zuvor, und die Botschaft ging flugs von Ohr zu Ohr. Gerade der Konsumalltag in der DDR war bekanntlich durch Mangelerfahrung geprägt. In einem 1961 geschriebenen Brief aus Leipzig an Verwandte im Westen wurde die Versorgungslage wie folgt geschildert: „[…] es fehlen uns Zitronen, als Beispiel“, doch dann gibt es „bestimmt gerade in den nächsten Tagen welche. Mit Südfrüchten werden wir recht knapp gehalten. Nur getrocknete Datteln und getr. Bananen werden seit langem angeboten. Nüsse gibt es auch mitunter, aber recht teuer“.38 Immer wieder wurden Vergleiche mit dem Westen angestellt, Lebensstandard und Preise hüben und drüben gewichtet,39 auch wenn man nicht tagtäglich die Autos auf den Transitstrecken verfolgte, die, wie der Historiker Axel Doßmann schreibt, „Fließbändern der westlichen Warenwelt“ glichen.40 Gerade auf die Wahr35 Müller, Leben in der Platte, S. 24. 36 Michael Meyen, Das unwichtige Medium. Radiohören in der DDR, in: Klaus Arnold/Christoph Classen (Hrsg.), Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR, Berlin 2004. S. 341–358; Konrad Dussel, Deutsche Rundfunkgeschichte. Eine Einführung, Konstanz 1999, S. 175–179. 37 Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur: Alltag und Herrschaft in der Diktatur, Berlin 1998, S. 156. 38 Zit. nach Dietzsch, Grenzen, S. 155. 39 Heinz Niemann, Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED, Köln 1993, Dokument XV. 40 Axel Doßmann, Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR, Essen 2003, S. 392.
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nehmung des Konsumalltags wirkte der Bezugspunkt Bundesrepublik besonders stark ein und bildete ein klassenunspezifisches Charakteristikum ost-westdeutscher Beziehungsgeschichte.41 Hatten ursprünglich vielleicht noch Hoffnungen bestanden, dass sich die DDR-Konsumkultur in alternative „Vorstellungen von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung“42 einfügen ließe, so verkümmerten diese Erwartungen mit den Jahren; stattdessen verinnerlichten die Menschen immer mehr die Auffassung, dass die DDR unter einer Mangelwirtschaft leide und dass diese Mangelwirtschaft ein Symbol für ein defizitäres System sei. Ferner zeichnete sich der Versorgungsbereich durch ungleich verteilte Konsumchancen aus. Denn neben den HO-Läden existierten seit 1962 die Equisitläden und seit 1966 die Delikatgeschäfte. Hinzu kamen der Geschenkdienst Genex und die Intershops, durch die man bei Westgeldbesitz Westwaren ordern bzw. kaufen konnte. Ansonsten waren Netzwerke, besonders jene, die ‚nach oben‘ führten, wichtig, wollte man sich mit Besonderem versorgen. Auf diese Weise konnten gesellschaftliche Defizite partiell ausgeglichen und der Kauf knapper Güter ermöglicht werden. Die Marktmechanismen wurden durch persönliche Tauschbeziehungen ersetzt. „Sozialismus ohne Beziehungen ist wie ein Kapitalismus ohne Geld“, wurde zum geflügelten Wort.43 Die Negativseite dieses Klientelsystems betraf vor allem die von solchen Beziehungsnetzwerken Ausgeschlossenen und sozial Benachteiligten, die zwar registrierten, dass es ein solches Netz von Sozial- und Machtbeziehungen gab, denen aber meist die Einsicht in das ganze Ausmaß dieses Systems fehlte. Ihnen blieb nur übrig, sich selbst ein Tauschsystem von Dienstleistungen und Gebrauchtwaren auf ihrer sozialen Ebene aufzubauen, was denen am besten gelang, die Zugänge zu Materialien und Waren hatten. Wie in Westdeutschland, so wurde auch in der DDR der berufliche Arbeitsalltag durch das Wochenende unterbrochen. Und ebenfalls wie im Westen bildete sich, vor allem seit den 1960er Jahren, in der DDR eine privat bestimmte Freizeit- und Wochenend-Kultur heraus. Seit dieser Zeit setzte sich in der DDR auch offiziell „langsam ein positives Verhältnis zum Freizeitbegriff durch“.44 Veranstaltungen aller Art, inklusive Kinos und Konzerte, kleinere Reisen innerhalb der nicht sehr großen DDR zu Verwandten oder Bekannten sowie Eigenaktivitäten im Sport- oder im Kulturbereich prägten das Bild der privat organisierten Freizeit und der Wochenenden. Die Partei bemühte sich, sozialistisch ausgerichtete Freizeitangebote und Normen „guter Unterhaltung“ zu popularisieren, etwa indem sie die ‚richtigen‘ Bücher und Schallplatten anpries.45 Doch der Impetus gesellschaftlich hochwer41 David F. Crew, Consuming Germany in the Cold War: Consumption and National Identity in East and West Germany, 1949–1989, an Introduction, in: Ders. (Hrsg.), Consuming Germany in the Cold War, Oxford/New York 2003, S. 1–20, hier: S. 14 f. 42 Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln etc. 1999, S. 415. 43 Zit. nach Müller, Leben in der Platte, S. 72. 44 Petzoldt, Erforschung der Freizeit, S. 5. 45 Gerlinde Petzoldt, Erforschung des Freizeitverhaltens in der DDR und der Sowjetunion. Drei Studien, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, 25, 1988, S. 5–107, hier: S. 78 f.
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tiger, und bildungsorientierter Freizeitbetätigungen wich seit den 1960er Jahren langsam einem Pragmatismus,46 bei dem Erholung, Vergnügen und Ablenkung an vorderer Stelle standen. Eine besondere Bedeutung kam den „Datschen“ zu, deren Anzahl 1989 offiziell 1,2 Millionen betrug.47 An sich waren die Schrebergärten, die es seit dem späten 19. Jahrhundert gegeben hatte, stets jenseits von Politik angesiedelt, doch erhielten sie in den einzelnen Phasen ihrer Geschichte eine unterschiedliche Bedeutung, mitunter auch verbunden mit politischen Dimensionen. Die „Datschen“ in der DDR galten als weniger von oben kontrolliert als die Wohnungen; sie boten den gärtnerischen und bauhandwerklichen Talenten ein ergiebiges Betätigungsfeld; zudem konnte durch Verkauf der Gartenerträge ein Zusatzverdienst erreicht und die eigene Versorgung mit Obst und Gemüse verbessert werden.48 Es waren Orte, an denen nicht nur Familienmitglieder, sondern auch Verwandte und Freunde zusammenkamen und bewirtet wurden. Die Kleingärten gaben allen das Gefühl, der Enge der Wohnungen für einige Stunden entkommen zu sein und dienten nicht selten sogar als verschwiegene Orte der Liebe. Dieses Gefühl des Entkommens aus beengenden Alltagsstrukturen sollten auch die Ferien- und Urlaubsreisen vermitteln – und sie taten es auch, wäre da nicht die Grenze gewesen. „Ja, dieses mühelose Fahren von Land zu Land ist hier völlig undenkbar. Nur mit einem bestimmten Einkommen und bei Vorliegen spezieller Voraussetzungen kann man einmal in ein anderes östliches Land gelangen“,49 hieß es noch in einem Brief von 1963, der in die Bundesrepublik geschickt wurde. Von Reisen in den Westen war erst gar nicht die Rede. Doch die Menschen arrangierten sich mit den Einschränkungen und genossen dann ihre Ostsee und ihr Mittelgebirge teils in den Ferienheimen des FDGB, teils in privat organisierten Unterkünften oder in Zeltlagern.50 Allein die 400 Quadratkilometer große Sächsische Schweiz musste jährlich rund 2,5 Millionen Touristen verkraften.51 Und im Berliner Rundfunk I konnte man am 9. Juli 1959 den medialen Ersatz des ganz großen Urlaubserlebnisses aus den Worten heraushören: „In unserer letzten Sendung „Unter der Leselampe“ entführte ich Sie, der schönen Reise- und Urlaubszeit entsprechend, in fremde, ferne Länder“.52
46 Ebd., S. 96, 101 f. 47 Es handelt sich hier um die Anzahl der organisierten Kleingärtner. Isolde Dietrich, Hammer, Zirkel, Gartenzaun. Die Politik der SED gegenüber den Kleingärtnern, Berlin 2003, S. 11. 48 Müller, Leben in der Platte, S. 72. 49 Schreiben von Herbert Buch, 24.11.1963, in: Dietzsch, Grenzen, S. 160. In späteren Jahren war es leichter, in östliche Länder zu reisen, was auch von DDR-BürgerInnen reichlich ausgenützt wurde. Vor allem wurde Ungarn zum beliebten Reiseziel. 50 Die in der DDR auffallend weit verbreitete Freikörperkultur mag den Wunsch nach selbstbestimmtem Umgang mit dem eigenen Körper ausgedrückt haben. 51 Heinz Wehner, Die Entwicklung der Sächsischen Schweiz zum Fremdenverkehrsgebiet, in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 24, 1988, S. 46–60, hier: S. 41. 52 Deutsches Rundfunkarchiv Berlin, BR 59/712.
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Situative Öffentlichkeiten und Ersatzöffentlichkeiten Alltagskommunikationen führten zu situationsbedingten informellen Öffentlichkeiten. Diese entstanden beispielsweise beim Schlange-Stehen vor Einkaufsläden, am Arbeitsplatz, in der Kneipe und bei sonstigen Gelegenheiten, wie gemeinsamen Unternehmungen und Feiern. Zum Teil waren diese auch im halböffentlichen Raum angesiedelt, bildeten sich zu bestimmten Gelegenheiten um den Kreis von Verwandten, Freunden, Bekannten, Genossen und Kollegen heraus. Im Zentrum stand der Austausch von Informationen über öffentliche oder halböffentliche Angelegenheiten. Dabei kam den Gerüchten eine besondere Bedeutung zu, weil diese die fehlenden frei vermittelten Informationen ersetzten. Missstände und Geschehnisse, oftmals recht personenbezogen, wurden kolportiert, Autoritäten in Staat und Gesellschaft nicht selten demontiert. Die Gerüchte betrafen keineswegs nur politische Themen und Personen, sondern auch kriminelle Handlungen. Weil einerseits die Medien wenig über Straftaten berichteten sowie eine Boulevardpresse fehlte und weil es andererseits in einem sozialistischen Staat ja keine Kriminalität geben durfte, schürte dies die Gerüchteküche. Hinzu kamen Gerüchte über bevorstehende Preiserhöhungen und Warenverknappungen.53 In solchen informellen Öffentlichkeiten bildeten sich doppelbödige Redeweisen heraus, denn kritisches und affirmatives Sprechen überlappten sich häufig. Vorsicht wurde bei den meisten Menschen zur zweiten Natur, und diese prägte ihrerseits weite Teile der informellen Öffentlichkeiten. Deshalb kam den Anspielungen, Mehrdeutigkeiten sowie Witzen erhöhte Bedeutung zu. So wurde beispielsweise das Monumentaldenkmal Karl-Marx-Kopf im ehemaligen Chemnitz eine sprudelnde Quelle für satirische Bemerkungen über den realen Sozialismus.54 Die fehlenden freien Artikulationschancen in der Öffentlichkeit führten nicht nur zu Gerüchten, sondern zudem zu einer Vielzahl von Eingaben. In der DDR konnten sich Privatpersonen bekanntlich bei Partei- und Verwaltungsstellen oder gar beim Staatsrat und seinem Vorsitzenden oder bei den Redaktionen der Medien, inklusive bei jenen der Lokalzeitungen, über Missstände beschweren und Problemlagen schildern.55 Mit den Eingaben ‚verließ‘ zwar das persönliche Wissen über einen Sachverhalt die Privatsphäre, erreichte aber weder vorher noch hinterher die verschiedenen Öffentlichkeiten. Wolfgang Engler konstatierte diesbezüglich, dass Erfahrungen, „derer man sich nicht interkollektiv vergewissert, die nicht miteinander kommunizieren, […] unsicher zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen 53 Wolle, Die heile Welt, S. 156–158. 54 Alice von Plato, (K)ein Platz für Marx. Die Geschichte eines Denkmals in Karl-Marx-Stadt, in: Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDRStädten, Stuttgart 2003, S. 147–182, hier: S. 178–181. 55 Eine spezifische Rolle spielten die Ausreiseanträge. Die Gesamtzahl diesbezüglicher, als rechtswidrig angesehener Eingaben bzw. Beschwerden an örtliche und zentrale Stellen belief sich 1978 auf rund 18.500. Die Zahl der Eingaben stieg kontinuierlich an und erreichte 1987 bereits die Höhe von 130.400. Bernd Eisenfeld, Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens, in: Ulrike Poppe/Rainer Eckert/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR, Berlin 1995, S. 353–376, hier: S. 206.
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hin und her“ schweben.56 Die massenhaften Eingaben in die nach oben weisenden Kommunikationsschächte führten zu einer spezifischen Art von Ersatzöffentlichkeit. Ihr kam eine Ventilfunktion zu, weil tatsächlich auf diese Weise den Adressaten immer wieder einmal ‚unbürokratisch‘ geholfen wurde, ohne dass strukturelle Reformen auf breiter Front zu erfolgen brauchten. Außerdem vermittelten die Eingaben den Staats- und Parteiorganen aufschlussreiche Einblicke in die Alltagsprobleme und deren Wahrnehmungen durch die Betroffenen. Die massenhaften Eingaben galten aus der Sicht der Herrschaftsträger als Mittel der Konfliktbewältigung zwischen BürgerInnen und der Verwaltung. Häufiges Thema bis 1989 war die Wohnungsfrage. In diesem für die Menschen im Alltag so wichtigen Bereich machten sich die fehlenden Ressourcen am stärksten bemerkbar.57 Es bildete sich sogar eine bestimmte Technik des Schreibens heraus: Die Kritik bezog sich in der Regel auf die Nicht-Einhaltung der vom Regime selbst gesetzten Normen und gemachten Versprechungen bei gleichzeitiger Betonung der grundsätzlichen Übereinstimmung in den Zielsetzungen und einer positiven Selbstdarstellung des Absenders, in der die alten Tugenden, wie Fleiß, Ordnung, Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit herausgestellt wurden.58 Wem der Kragen platzte, der oder die drohte sogar dem Regime mit Verweigerung, insbesondere damit, am Wahltag zu Hause zu bleiben.59 Institutionalisierte Öffentlichkeiten und Veranstaltungsöffentlichkeiten Institutionalisierte Öffentlichkeiten konzentrierten sich vielfach um die Kulturhäuser.60 Seit den frühen 1950er Jahren erbaut, stieg deren Zahl bis zum Jahre 1988 auf 1.838 an.61 Diese fungierten vielfach, vor allem in den 1950er Jahren, als Betriebskulturhäuser. Um ein größeres Klientel ansprechen zu können, wurden in den 1960er und 1970er Jahren neugebaute Kulturhäuser häufiger in den Ortszentren platziert. Seit Ende der 1970er Jahre, als sich die Kulturhäuser zu Freizeitzentren erweiterten, wanderten die seither erstellten Gebäude an die Ränder der Städte, dort, wo sich die Großsiedlungen befanden.62 56 Wolfgang Engler, Die zivilisatorische Lücke. Versuche über den Staatssozialismus, Frankfurt/ Main 1992, S. 135. 57 Felix Mühlberg, Eingaben als Instrument informeller Konfliktbewältigung, in: Badstübner, S. 233–270, hier: S. 238. 58 Ebd., S. 248 f. 59 Zu den Hörerbriefen an den beliebten Radiokommentator und Stellvertretenden Leiter des Staatlichen Rundfunkkomitees, Gerhart Eisler, siehe Uta C. Schmidt, Radioaneignung, in: Adelheid von Saldern/Inge Marßolek (Hrsg.), Zuhören und Gehörtwerden, Bd. 2: Radio in der DDR der fünfziger Jahre. Zwischen Lenkung und Ablenkung, Tübingen 1998 (unter Mitarbeit von Daniela Münkel, Monika Pater, Uta C. Schmidt), S. 259–368, hier: S. 308–317. 60 Sandrine Kott, Zur Geschichte des kulturellen Lebens in DDR-Betrieben. Konzepte und Praxis der betrieblichen Kulturarbeit, in: AfS 39, 1999, S. 167–195, hier: S. 171. 61 Hain, Die Salons, S. 146; siehe auch S. 111, 141. 62 Christine Meyer, Vom Kulturhaus zum Freizeitzentrum. Entwicklungslinien von Kulturbauten
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In den Kulturhäusern wurde gefeiert, Theater gespielt, gemeinsam ferngesehen und Lesungen abgehalten. Sie boten auch den so genannten Volkskunstzirkeln Raum. Im Zuge des Bitterfelder Weges (1959) wurde das Laienschaffen offiziell aufgewertet. Mitte der 1960er Jahre zählte man in den registrierpflichtigen Volkskunstzirkeln 180.000 Aktive. In den folgenden Jahren trat eine schleichende Entideologisierung der offiziösen Kulturarbeit ein; eine Vielfalt von Veranstaltungen und Freizeitbeschäftigungen kam zum Tragen.63 Teilweise offene Räume und einladende Foyers sollten dazu dienen, die subkulturellen Aktivitäten, wie sie sich in den seit 1963 entstandenen vielen Jugendclubs entfaltet hatten, zu kanalisieren.64 In den Kulturhäusern sowie in den offiziellen Klubs überlappten sich formelle mit informellen Öffentlichkeiten sowie Direktiven mit Eigeninitiativen. Zwar waren solche Öffentlichkeiten mehr oder weniger in herrschaftskonforme Institutionen eingebettet, aber keineswegs handelte es sich hierbei immer um völlig von der Staats- und Parteidoktrin bestimmte Öffentlichkeiten. Und falls Klubräte zu isoliert von den Wünschen der Hausgemeinschaften arbeiteten und ihre Programme zu streng gemäß den Direktiven der ZK der SED durchzusetzen versuchten, fielen ihre Erfolge dementsprechend bescheiden aus.65 Zu den institutionalisierten Öffentlichkeiten zählten auch jene der Massenorganisationen. Ein Fünftel der Bevölkerung war in den 1980er Jahren Mitglied der SED.66 Fast alle arbeitenden Menschen gehörten dem FDGB an. Und auch der Druck der FDJ auf die Jugendlichen war enorm hoch, selbst wenn ihre Bedeutung für den Alltag der Heranwachsenden seit den 1960er Jahren zurückging.67 Mit „Schallplattenunterhaltern“, die in den Jugendclubs der FDJ und der Kulturhäuser arbeiteten, wollte man die jungen Leute bei der Stange halten. Diese und andere Massenorganisationen beharrten nicht nur auf stummen Mitgliedschaften, sondern verlangten von den Menschen auch eine Reihe von Aktivitäten, vor allem das Erscheinen zu bestimmten Veranstaltungen. Dazu gehörten die alljährlichen Feiern und Feste, besonders an den Jahrestagen zum 7. Oktober, bei dem sich das SED-Regime preisen ließ. Große Inszenierungen sollten Glanz verbreiten und die Nähe zwischen Führung und Volk demonstrieren. Die Festkultur bestand aus Fackelzug, Kundgebung und Demonstration, aus Auszeichnungen und Ehrungen sowie einem Volksfest.68 Obligatorisch waren der Vorbeimarsch der Ju-
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in der DDR, in: Holger Barth (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001, S 187–197, hier: S. 195. Kott, Zur Geschichte, S. 195. Hain, Die Salons, S. 141. Lu Seegers, „Schaufenster zum Westen“. Das Elbefest und die Magdeburger Kulturfesttage in den 1950er und 1960er Jahren, in: von Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit, S. 107–144, hier: S. 124. Fulbrook, Methodologische Überlegungen, S. 290. Wierling, Geboren, Kap. 2.3., auch S. 330. Dazu einführend: Birgit Sauer, Politische Leiblichkeit und die Visualisierung von Macht. Der 40. Jahrestag der DDR, in: Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller (Hrsg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert, Wien etc. 1998, S. 125–145.
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gendlichen an der Ehrentribüne, die „sozialistischen Wettbewerbe“ sowie die Militärparade, die Totenehrung und das Heldengedenken.69 Etwas aufgelockerter ging es bei den Pressefesten, den Rundfunkveranstaltungen und den Stadtfesten zu. Tausende von Menschen trugen vor allem zum Gelingen der Stadtjubiläen bei, sei es durch gemeinsames Chorsingen, durch LaienkunstDarbietungen oder durch Beteiligung an den historischen Festzügen. Recht beliebt war auch das Lichterfest, das anlässlich der Internationalen Gartenbauausstellung in Erfurt 1961 gefeiert wurde. Viele Menschen stellten Windlichter auf und erfreuten sich am Glanz des hellen Scheins.70 Zum Volksfest, das anlässlich der Rostocker Ostseewoche und der gleichzeitig abgehaltenen Stadtjubiläumsfeier veranstaltet wurde, erschienen bereits am ersten Tag 100.000 Menschen.71 Während bei solchen Feiern die formalisierten und politisierten Teile am häufigsten auf Akzeptanzprobleme stießen,72 wurde das vielfältige Unterhaltungsprogramm, das beispielsweise anlässlich der Internationalen Gartenbauausstellung in Erfurt ablief, in der Regel gut angenommen. Filmvorführungen, Blasmusik- und andere Konzerte, Puppenspiele und Modenschauen, Volkskunst- und Tanzveranstaltungen boten allen Bevölkerungsgruppen etwas.73 Obwohl auch solche Darbietungen als Leistungen des Sozialismus angepriesen wurden, dominierten bei den Rezipienten wohl lebensweltlich-vorpolitische Zugänge und Aneignungsweisen. Außer der freiwilligen und unfreiwilligen Teilnahme bei öffentlichen Veranstaltungen wurden im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes von der Bevölkerung so genannte „Mach-Mit“-Aktivitäten verlangt.74 Gefordert wurde ein Engagement von Bürgern und Bürgerinnen, im Vorfeld von Veranstaltungen bei der Bewältigung anstehender Aufgaben mit zu helfen. Während die einen gebeten wurden, sich an der Vorbereitung und an den Feierlichkeiten aktiv zu beteiligen, wurde gegenüber anderen, nämlich allen ‚unerwünschten‘ Personengruppen, eine Politik der Exklusion betrieben.75 Die zwar herrschaftsbezogenen, aber nur teilweise offen politisierten Veranstaltungen sollten die Bindungen an das DDR-Regime indirekt stärken, und zwar über das gemeinsame Erleben von Nicht-Alltäglichem in der Gruppe und über die Erzeugung eines engeren Verhältnisses der Menschen zu ihrer Stadt und ihrer Re69 Näheres: Monika Gibas, „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt!“ Politische Feier- und Gedenktage der DDR, in: Sabine Behrenbeck/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/71, Köln 2000, S. 191–220, hier: S. 193–198. 70 Alice von Plato, „Gartenkunst und Blütenzauber“. Die Internationale Gartenbauausstellung als Erfurter Angelegenheit, in: von Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 183–234, hier: S. 219. 71 Lu Seegers, „Die Zukunft unserer Stadt ist bereits projektiert.“ Die 750-Jahrfeier Rostocks im Rahmen der Ostseewoche 1968, in: von Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 61–10, hier: S. 99. 72 Ebd. 73 Von Plato, „Gartenkunst“, S. 199. 74 Dazu siehe den Beitrag von Lu Seegers in diesem Band. 75 Näheres siehe den Beitrag von Lu Seegers in diesem Band; siehe auch Karsten Schröder/Ingo Koch (Hrsg.), Rostocker Chronik. Ein Streifzug durch das 20. Jahrhundert in Bildern und zeitgenössischen Pressestimmen, Rostock 1999, S. 295.
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gion.76 Nicht der offizielle Teil der Feiern, der mit Großformationen und Reden bestückt war, blieb als positive Erinnerung im Gedächtnis vieler Menschen haften, sondern die informellen Festteile ‚danach‘, insbesondere die Volksfeste und Jahrmärkte. Die Feste verfehlten zwar vermutlich nicht ihre sozialintegrative Wirkung, die auch auf den Alltag ausstrahlte,77 doch das bedeutete noch lange nicht, dass das SED-Regime davon profitierte.78: „Das ist ja grade das Komische, diese Inszenierung hat in der DDR ja keiner ernst genommen, aber irgendwie mitgemacht hat man doch, und das gibt ein komisches Gefühl.“
meinte eine Zeitzeugin in der Erinnerung an die Internationale Gartenbauausstellung in Erfurt.79 Aus dieser Aussage kann sowohl auf die integrative Wirkkraft solcher kollektiven Praktiken geschlossen werden als auch auf die mehrschichtige Haltung gegenüber dem Regime, die in diesem Fall Distanz und Teilhabe bedeutete. Subkulturelle Öffentlichkeiten und alternative Netzwerke Zwar ging es auch in den von der FDJ geführten Clubs sowie in den Kulturhäusern nicht immer streng nach den Direktiven sozialistischer Kulturarbeit zu, aber die punktuellen Auflockerungen reichten meist nicht aus, um bei Jugendlichen den Eindruck der Gängelung zu vermeiden. Eigenveranstaltete Treffen waren deshalb für sie vielfach attraktiver. Für die 1950er Jahre ist vor allem an die Jazz-Clubs zu erinnern. Gerade sie wurden von den Herrschenden über viele Jahre hinweg als eine Form subversiver Öffentlichkeit bewertet, insbesondere weil sie der in der DDR verpönten amerikanischen Massen- und Konsumkultur anhingen. Auf Unverständnis stieß in den 1960er Jahren auch die Beatmusik, die in diversen Städten, etwa in Magdeburg, bei den Jugendlichen recht beliebt war. Die am westlichen Rand der DDR gelegene Großstadt galt in den sechziger Jahren als eine Hochburg des Beats.80 Begünstigt wurde diese Entwicklung durch das etwas liberalere Jugendkommuniqué von 1963, das aber nach kurzer Zeit wieder von einer härteren Linie abgelöst wurde.81 Zwar konnten die selbstorganisierten Jugendclubs zeitweise eine beachtliche Nischenexistenz führen, doch blieb die permanente Bedrohung, denen solche subkulturellen Öffentlichkeiten ausgesetzt waren, bestehen. Das wiederum erhöhte ne76 Von Saldern, Inszenierte Einigkeit, passim. 77 Näheres siehe den Beitrag von Lu Seegers in diesem Band. 78 Siehe auch Jan Palmowski, Building an East German Nation: the Construction of a Socialist Heimat, 1945–1961, in: Central European History 37 (2004), H. 3, S. 365–399. 79 Zit. nach von Plato, „Gartenkunst“, S. 229. 80 Seegers, „Schaufenster“, S. 124 f. 81 Leonore Krenzlin, Vom Jugendkommuniqué zur Dichterschelte, in: Günter Agde (Hrsg.), Kahlschlag. Das 11. Plenum der ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991, S. 154– 164, hier: S. 156; siehe auch Uta C. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley etc. 2000, S. 215; Michael Rauhut, Beat in der Grauzone. DDR-Rock 1964 bis 1972 – Politik und Alltag, Berlin 1993, S. 104.
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ben der Bedeutung von Musik auch die Bedeutung von Symbolen und Gesten, die beispielsweise durch Körper und Kleidung hergestellt wurde. Da offene Bekenntnisse Gefahren provozierten, erhielten stumme Zeichen im Alltag eine Relevanz, die über die üblichen Erkennungssignale Jugendlicher hinausgingen: Gemeint sind beispielsweise die ‚echten‘ Jeans, die körperbetonten Tanzarten oder die längeren Haare.82 Neben den Clubs wurden auch manche Kaffeehäuser zu wichtigen Treffpunkten, etwa das Cafe Espresso in Berlin seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre. Hierbei handelte es sich um den Versuch, alternative Kulturszenen aufzubauen, eine „intellektuelle Spielwiese für den Austausch von Meinungen und Moden, Gerüchten und Intrigen“ zu schaffen, jedoch keinesfalls um einen „Ort der Opposition und des Widerstands“.83 Freilich gab es auch eine kleine Minderheit 84, die sich dem Regime verweigerte. Einige kann man sogar als Aussteiger betrachten. „Während sich gut 6.000 Künstler des ehemaligen DDR-Künstlerverbandes an herkömmliche Ikonographien klammern, sind dieser Übermacht doch zumindest ein Dutzend Outsider entkommen“, so urteilt der Kunstkritiker Christoph Tannert im Rückblick. Und er nennt als Beispiel Thomas Florschuetz. Für die DDR-Funktionäre waren Künstler wie Florschuetz, die „an einem ästhetischen, mithin politischen Indifferent-Werden“ arbeiteten, verdächtig.85 Andere Unangepasste engagierten sich in Friedens- und Menschenrechtsgruppen seit dem Ende der 1970er Jahre. 86 Die einzige Institution, in denen in der DDR alternative Netzwerk-Öffentlichkeiten entstehen konnten, waren die Kirchen. So ist es kein Zufall, dass sich Friedenskreise und verwandte Basisgruppen in den Schutzraum der Kirche, insbesondere der Evangelischen Kirche, begaben, obwohl auch sie kontrolliert und teilweise vom Staatssicherheitsdienst infiltriert war. Die Netzwerke bildeten einen Ersatz für die fehlenden Möglichkeiten zur öffentlichen Interessenartikulation der Akteure: „Ihre Hochschätzung der informellen Beziehungen und ihre Abwertung alles Institutionalisierten, ja teilweise ihre Vereinnahmungsangst durch institutionalisierte Formen erklären sich aus ihren Entmündigungserfahrungen in der Gesellschaft und ihren Anerkennungserfahrungen in der Gruppenszene.“87 Es ging ihnen um die Herstellung von Öffentlichkeit, ein 82 Rainer Eckert, Opposition und Repression in der DDR vom Mauerbau bis zur Biermann-Ausbürgerung (1961–1976), in: AfS 39, 1999, S. 355–391, hier: S. 373. 83 Wolle, Die heile Welt, S. 161. 84 Fulbrook, Methodologische Überlegungen, S. 291. 85 Christoph Tannert, „Nach realistischer Einschätzung der Lage…“ Absage an Subkultur und Nischenexistenz in der DDR, in: Poppe/Eckert/Kowalczuk, Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 353–376, hier: S. 370. 86 Patrick von zur Mühlen, Aufbruch und Umbruch in der DDR. Bürgerbewegungen, kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft, Bonn 2000, insb. S. 26. Siehe auch diverse Aufsätze in: Günther Heydemann/Lothar Kettenacker (Hrsg.), Kirchen in der Diktatur: Drittes Reich und SED-Staat, Göttingen 1993; Dieter Rink, Soziale Bewegungen in der DDR: Die Entwicklungen bis Mai 1990, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschlands, Bonn 1991, S. 54–70, hier: S. 58 f. 87 Detlef Pollack, Politischer Protest. Politisch alternative Gruppen in der DDR, Opladen 2000, S.
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Unterfangen das allerdings erst nach zunehmender Erosion des Regimes gelingen sollte. Vorher wurden oppositionell Eingestellte vielfach in die Privatsphäre abgedrängt. So trafen sich Regimekritiker in den 1960er Jahren in Wolf Biermanns Wohnung.88 Gleichwohl reagierte der Staat mit direkten Repressionen, hier mit Ausweisung, in anderen Fällen mit Behinderung der Berufskarrieren oder gar mit Strafverfahren, die Gefängnisstrafen nach sich zogen. Hinzu kamen die vielen subtilen Druckmittel. Dazu gehörten auch die von oben gezielt lancierten ‚Andeutungen‘ und die üble Nachrede, die dazu dienten, die oppositionelle Gruppe zu „zersetzen“ und in der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Im Zuge des Zerfallsprozesses der DDR kehrten dann bezeichnenderweise regimekritisch Eingestellte vermehrt aus ihren Privaträumen in den öffentlichen Raum der Städte zurück: Aktionen, wie etwa die Aufstellung von Mahnwachen seit 1987, waren auf öffentliche Wirkung bedacht und sollten als stumme, aber im öffentlichen Stadtraum visuell wahrnehmbare Protestkultur erfahren werden.89 Mit zunehmenden Auflösungstendenzen des Regimes wurden die zahlenmäßig anwachsenden „öffentlichen Erklärungen“ von Protestgruppen bedeutsam, die – wie Patrick von zur Mühlen für die 1980er Jahre herausarbeitete – „durch Mundpropaganda, durch informelle Kanäle wie Gespräche, Telefonate, Briefe etc. weitergeleitet und dadurch bekannt wurden.“90 Damals, in den späten 1980er Jahren, kamen auch Initiativen zustande, bei denen es um eine Politik der Stadterhaltung ging. Gestoppt werden sollte der voranschreitende, symbolträchtige Städteverfall, der im Kontext einer gegenüber früheren Jahrzehnten veränderten Wahrnehmungsmatrix auch als Zeichen für den Verfall der ganzen DDR gedeutet wurde. Durch die Erneuerung der räumlichen Strukturen sollten die Möglichkeiten zur Neubildung von Öffentlichkeiten gefördert werden. Die Akteure der Initiativen trugen deshalb auf ihre Weise „zur Entstehung einer städtischen Öffentlichkeit in der DDR“ bei, und zwar einer Öffentlichkeit, „die unter DDR-Verhältnissen als oppositionell gelten musste.“91 Alltage und Öffentlichkeiten im Kontext von Zeitwahrnehmung und Erinnerungsproduktion Deutungen des DDR-Alltags speisten sich von Anfang an aus einem Konglomerat. Dieses bestand zum einen aus eigenen Beobachtungen und eigenen Erfahrungen und zum anderen aus Sinnzuweisungen, die die Vertreter des Regimes, nicht zuletzt unter Zurhilfenahme der Medien, den Menschen offerierten. Durch die offiziösen Deutungsvorgaben sollten die alltagscharakteristischen Routinehandlungen sowie 88 89 90 91
260. Eckert, Opposition, S. 374. Von zur Mühlen, Aufbruch und Umbruch, S. 221–249. Ebd., S. 230. Brian Ladd, Altstadterneuerung und Bürgerbewegung in den 1980er Jahren in der DDR, in: Holger Barth (Hrsg.), Planen für das Kollektiv. Dokumentation des 4. Werkstattgesprächs vom 15.–16. Oktober 1998, Erkner 1999, S. 89–93, hier: S. 91.
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die auf den Alltag einwirkenden außergewöhnlichen Erlebnisse von vornherein in systemkonformer Weise im Gedächtnis gespeichert werden. Bücher, Zeitungen, Bilder und Reportagen trugen vielfach zur Formung des Erfahrenen und Wahrgenommen bei. Bereinigte Bildwelten, nicht zuletzt in Form von Postkarten, dienten dazu, ein positives Image von Stadt und Land, von Arbeit und Freizeit, von den neuen Wohnsiedlungen und den einladenden Kulturhäusern zu vermitteln. Filme über die jeweilige Stadt, in der man lebte, machten die Zukunft zur unmittelbar bevorstehenden Gegenwart und deuteten die Alltagswelten als eine seit 1945 ständig erfolgreiche Aufstiegsgeschichte, wie beispielsweise zwei werbend-dokumentierende Filme über Rostock und Magdeburg zeigen. Die Medien waren eine Art social tableaux, die zum einen die sozialen Erwartungen der Bevölkerung auffangen und zum anderen diese in die ‚richtigen‘ Bahnen lenken sollten. Die jeweils problembeladene Gegenwart wurde einerseits in die jüngste, als erfolgreich apostrophierte Zeitgeschichte eingebettet und andererseits das Gelingen der Problemlösungen in die angeblich unmittelbar bevorstehende Zukunft projiziert. Das Überlappen der Zeitschichten trug sicherlich mit dazu bei, dass sich ein „suggerierte[r], inszenierte[r], erzwungene[r] oder freiwillige[r]“ Konsens herausbildete,92 der auch einen großen Teil der Alltage und der Öffentlichkeiten prägte. Doch dann, spätestens in den achtziger Jahren, wurden die Zukunftserwartungen immer brüchiger. „Man sagte früher ständig, wie wir heute arbeiten, so werden wir morgen leben,‘“93 schrieb 1988 Helmut Voland an seine Verwandten im Westen. Die seit den 1970er und 1980er Jahren allmählich angewachsene Distanzierung vom ‚Spiel‘ mit den Zeiten rückte die ‚graue Gegenwart‘ stärker in den Vordergrund des Wahrgenommenen. „So sitze ich an meinem Freizeittisch, schaue zum Fenster heraus in den hohlen, trüben Alltag“, heißt es in einem anderen Brief Volands.94 Zur ‚grauen Gegenwart‘ zählten die konkreten Alltagserfahrungen mit Reisebeschränkungen, Konsummangel, reparaturbedürftigen Häusern sowie verfallenden Stadtarealen. Die Gegenwart erhielt ein neues Gewicht, Ungeduld machte sich breit: „Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an“, heißt es bei Christa Wolf 1986 vielsagend.95 Von dieser stärkeren Fixierung auf das Jetzt und Sofort waren auch die Öffentlichkeiten betroffen. Die offiziellen Feiern, die verschiedenen „Mach-Mit“-Aktionen sowie die kulturellen und kommunikativen Angebote der Massenorganisationen, der Betriebe und Kulturhäuser sollten zu den letztlich nicht ausreichend kontrollierbaren informellen Öffentlichkeiten ein Gegengewicht bilden. Dies gelang einigermaßen, solange das ‚Spiel‘ mit den Zeiten bei der Bevölkerung angenommen wurde, brach jedoch dann zusammen, als die Menschen vorrangig auf die ‚graue Gegenwart‘ diesseits der Grenze und die rosig erscheinende Gegenwart jenseits der Grenze blickten. 92 Martin Sabrow, Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Ders./Konrad Jarausch (Hrsg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 83–118, hier: S. 90. 93 Schreiben von Helmut Voland, 25.10.1988, in: Dietzsch, S. 163. 94 Schreiben von Helmut Voland, 29.1.1989, in: ebd., S. 163 f. 95 Zit. nach Nagelschmidt, Frauenliteratur, S. 93.
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Deshalb unterscheiden sich die Alltagsdeutungen in der DDR sehr voneinander, je nachdem auf welches Jahrzehnt man schaut. Waren in den 1950er und frühen 1960er Jahren die Alltage noch von der Hoffnung vieler Menschen auf eine gute sozialistische Gesellschaft samt ‚guten‘ Lebensverhältnissen in relativ naher Zukunft durchdrungen, so schwächte sich diese Deutungsweise des erlebten Alltags in den 1970er und erst recht in den 1980er Jahren beträchtlich ab, und zwar zu Gunsten einer Alltagsinterpretation, die – vor allem bei Jüngeren – mehr die eigenen Interessen und Bedürfnisse als die des Kollektivs, der Gesellschaft und erst recht des Staates in den Vordergrund rückte. Insofern gehören die Alltage auch zum Interpretament von veränderten Generationserfahrungen. Nach der Wiedervereinigung ist ein Kampf um die Erinnerung an den DDRAlltag ausgebrochen. Viele verklären ihn, viele wollen ihn möglichst schnell vergessen, viele suchen nach einer differenzierten Sichtweise. Wie immer die selektierte und ‚bearbeitete‘ Erinnerung ausfällt, bei den meisten „Ossis“ haben sich die DDR-Alltage in den Erzählgemeinschaften einen festen Platz erobert und sie geben ein ganz anderes biografisches Erinnerungsfeld ab, als es die „Wessis“ haben. Aus dem geteilten Erfahrungsfundus gilt es, ein gemeinsames historisches Erbe zu machen.
„ORDENTLICH WAS KAUFEN KÖNNEN“ – DIE BEDEUTUNG DES KONSUMS FÜR HERRSCHAFTSLEGITIMATION, STÄDTISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS UND ALLTAG AM BEISPIEL VON SCHWEDT/ODER Philipp Springer Einleitung Als im Jahr 1981 der Rat der Stadt Schwedt das 20jährige Jubiläum des Stadtkreises – und damit die in der DDR recht seltene Kreisfreiheit – mit einer umfangreichen Bildbroschüre feierte, trug der Umschlag des Heftes ein Farbfoto, in dessen Mittelpunkt das 1972 eröffnete Centrum-Warenhaus stand.1 Der Bau war bei seiner Eröffnung erst das zwölfte Centrum-Warenhaus der Republik und hatte Schwedt somit in die exklusive Gruppe von DDR-Städten eingereiht, die über ein solches Warenhaus verfügten.2 Das Titelbild der Broschüre belegte die herausragende Rolle, die der Konsum und die Konsummöglichkeiten für das Selbstverständnis der Stadt spielten. Nicht nur auf der zentralen politischen Ebene, sondern eben auch und ganz besonders vor Ort wurde in der DDR der Konsum durch die SED zur Herrschaftslegitimation genutzt. Und wenn im März 1974 der „Rote Treff“, die SED-Betriebszeitung der Schwedter Papierfabrik, akribisch die im vorangegangenen Jahr im Centrum-Warenhaus verkauften Kühlschränke, Waschmaschinen, Tapeten, Fernseher und Schrankwände auflistete,3 so sollten auf diese Weise den Lesern die scheinbaren Vorteile des Wirtschafts- und Herrschaftssystems für den Alltag konkret nahe gebracht werden.4
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Vgl. Rat der Stadt Schwedt, (Hrsg.), Schwedt (Oder). 1961–1981: Zwanzig Jahre Stadtkreis, Eine Bilddokumentation von Herbert W. Brumm, Schwedt 1981. In den drei brandenburgischen Bezirken Potsdam, Cottbus und Frankfurt/Oder verfügte bis 1989 außer Schwedt bezeichnenderweise nur Hoyerswerda ebenfalls über ein Centrum-Warenhaus; vgl. Detlef Kotsch, Das Land Brandenburg zwischen Auflösung und Wiederbegründung. Politik, Wirtschaft und soziale Verhältnisse in den Bezirken Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus in der DDR (1952 bis 1990), Berlin 2001, S. 371. Vgl. Was im CENTRUM u.a. 1973 verkauft wurde, in: Roter Treff 15 (1974) Nr. 3 (März 1974), S. 8. Nicht zufällig wurden dabei hochwertige Konsumgüter genannt – Güter, die das in Schwedt in besonderer Weise gewandelte Konsumbedürfnis spiegelten.
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Abb. 1: Titelseite der Broschüre: Schwedt (Oder). 1961–1981: Zwanzig Jahre Stadtkreis. Eine Bilddokumentation von Herbert W. Brumm, hrsg. vom Rat der Stadt Schwedt, [Schwedt 1981] (Sammlung des Verf.)
Blickt man nun auf diejenigen, die durch diese Konsumpolitik angesprochen werden sollten, so lässt sich in Schwedt beobachten, dass der Konsum nicht nur auf der parteioffiziellen Ebene zentraler Bestanteil der städtischen Identität der Bewohner war. „Hört doch uff! Ihr lebt doch schon im Sozialismus. […] Wir müssen ja erstmal noch dahin kommen! […] Ihr habt ja alles.“5
Mit solchen und ähnlichen Sätzen, an die sich der 75-jährige Günther P. im Interview erinnert, sahen sich die Schwedter konfrontiert, wenn sie zu DDR-Zeiten mit Menschen aus anderen Städten zusammentrafen. Für die Einwohner der Oderstadt 5
Interview des Verfassers mit Günther P. am 29.8.2001. Dieses und die im folgenden zitierten Interviews führte der Verf. im Rahmen des Dissertationsprojektes „Verbaute Träume – Herrschaft, Gesellschaft, Stadtentwicklung und Alltag in der Industriestadt Schwedt/Oder 1945– 1989“.
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war dies alles andere als eine bedrückende Erfahrung, belegte die Einschätzung der Auswärtigen doch die bevorzugte Behandlung ihrer Stadt seitens der zentralen Herrschaftsebene und damit zugleich auch die herausragende Stellung, die Schwedt innerhalb des DDR-Städtesystems einnahm. Das für DDR-Verhältnisse ausgesprochen gute Angebot an Waren in der Stadt wurde, so lässt sich die noch heute mit einem gewissen Stolz berichtete Fremdeinschätzung deuten, zum wichtigen Element städtischer Identität. Die Beispiele aus der lokalen Alltagsrealität des Konsums in einer DDR-Stadt zeigen, dass der Blick auf Konsumpolitik und Konsumpraxis auch für die DDRStadtgeschichte wichtige Perspektiven eröffnet, die sich nicht nur auf die Feststellung mangelhafter Versorgungslage beschränken. Die für die Frage nach dem „Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR“6 so wichtige Frage nach der Herrschaftslegitimation im Lokalen kommt dabei ebenso zum Tragen wie die nach den Formen städtischer Identität. Zugleich lässt sich durch die Analyse der Konsumpraxis der Blick auf den Alltag von DDR-Bürgern schärfen. Nicht zuletzt ermöglicht die Untersuchung der Realität des Konsums „vor Ort“, Aspekte der Stadtpolitik in der DDR deutlicher erkennbar werden zu lassen, die durch eine vermeintlich nicht existente, tatsächlich aber durchaus vorhandene Städtekonkurrenz geprägt war. Hinzu kommt, dass dem Konsum innerhalb des städtischen Lebens und im Rahmen der Machtlegitimierung eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde. Die Versorgungslage, zu der auch die Ausstattung der Stadt mit Handelseinrichtungen zählte, war die „verwundbarste Stelle“7 der SED-Führung, sowohl auf zentraler als auch auf lokaler Ebene. Über Unmutsäußerungen der Bevölkerung, die sich insbesondere im Eingabengeschehen widerspiegelten, konnten gerade vor Ort die Parteiund Staatsorgane nicht hinweggehen, ohne die Fassade der Begründung ihrer Herrschaft ernsthaft zu gefährden. Dabei steht die Forschung in der Frage des städtischen Lebens wie in so vielen Bereichen der DDR-Stadtgeschichte nach wie vor noch weitgehend am Anfang. Als Problem erweist es sich, dass vorliegende Studien zur Sozialgeschichte der DDR meist ohne Bezug zu dem Ort bleiben, an dem sich ihre jeweilige Geschichte „ereignet“ hat – die Dimension des städtischen Alltags also in der Regel völlig fehlt. Die Vorstellung von der „sorgsam arrangierte[n] Verinselung des Gesellschaftlichen an der lebensweltlichen Basis“, die als „Bestandsgrundlage staatssozialistischer Herrschaftspraxis“8 interpretiert worden ist, konnte bislang noch nicht von einer intensiveren stadthistorischen Forschung abgesichert werden. Das Wohnen, die Naherholung, der Konsum, die Kultur, der Verkehr, all diese Bereiche des städtischen Lebens wurden, wenn überhaupt, meist aus der Perspektive der zentralen 6 7 8
Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945–1989, Frankfurt a.M. 1992. Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999, S. 38. Thomas Lindenberger, Die Diktatur der Grenzen. Zur Einleitung: in: Ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999, S.13–44, hier S. 42.
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Herrschaftsebene analysiert und kaum als – natürlich massiv von oben bestimmte – Bestandteile eines Gesamtsystems vor Ort. Eine Gesellschaftsgeschichte des Lokalen, die mit der notwendigen Vielzahl an Blickwinkeln die Entwicklungen vor Ort untersucht, gibt es bislang für die DDR nicht. Die rund 100 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegene Stadt Schwedt/Oder bietet sich für einen solchen Blick in besonderer Weise an, gehört sie doch zu den Kommunen, die noch stärker als andere Städte durch das Herrschaftssystem und die gesellschaftliche Entwicklung der DDR geprägt wurden. Ihre Geschichte spiegelt den Auf- und Abstieg einer Kommune im Sozialismus wider.9 Einstmals ländlich geprägt, war die Stadt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs erheblich zerstört worden. Seit 1958 erlebte Schwedt dann ein geradezu explosionsartiges Wachstum, als die Errichtung eines Erdölverarbeitungswerkes und einer Papierfabrik beschlossen wurden und anschließend ein massiver Wohnungsbau einsetzte. Als Resultat der industriepolitischen Vorstellungen der SED gleichsam aus dem Nichts kommend, vollzog die Stadt innerhalb weniger Jahre einen Schnelldurchlauf von Industrialisierung und „Entagrarisierung“. Im Entscheidungsprozess, der zur Standortwahl für die beiden Werke führte, hatten Fragen wie die nach dem Alltag der ansässigen und der zukünftigen Bevölkerung so gut wie keine Rolle gespielt. Dies sollte sich in den folgenden Jahrzehnten negativ auf die städtische Gesellschaft auswirken. Zunächst als zukünftiges „Sanssouci […] des Sozialismus“10 verklärt, wurde die Stadt in den 1970er und 1980er Jahren in der gesamten Republik zum Inbegriff des grauen und monotonen DDR-Städtebaus, für den die Einwohner der Stadt, so die Schwedterin Ingeborg M. im Interview, sarkastisch den Begriff der „Arbeiterintensivhaltung“11 prägten. Die Drosselung der Erdöleinfuhren aus der Sowjetunion läutete schließlich Anfang der 1980er Jahre den Abstieg Schwedts ein, der sich schon vor 1989 in einem leichten Bevölkerungsverlust bemerkbar machte. Konsumpolitik in den ersten Aufbaujahren Vor dem Beginn des Aufbaugeschehens konzentrierten sich die Handelseinrichtungen in Schwedt hauptsächlich im Bereich der Vierradener Straße und der ErnstThälmann-Straße. Hier befanden sich die privaten Handwerksbetriebe und die Einrichtungen der Handelsorganisation und der Konsumgenossenschaft.
9
Zur Geschichte der Stadt Schwedt in der Zeit der DDR vgl. Philipp Springer, Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2006. 10 Harry Bär [i.e. Herbert W. Brumm], Frühling in Schwedt, Berlin [1961], S. 123. Brumm zitiert dabei den Architekten Selman Selmanagic. Dieser war von 1960 bis zu seiner Absetzung 1962 Schwedter Chefarchitekt und verantwortlich für bedeutsame Entscheidungen in der Stadtentwicklung. 11 Interview des Verfassers mit Ingeborg M. am 12.7.2001.
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Abb. 2: Geschäfte in der Vierradener Straße. Ansichtskarte von 1962. Verlag Konsum Foku Magdeburg (Sammlung des Verf.)
Entsprechend der allgemeinen Lage in der DDR kam es auch in den Geschäften in Schwedt immer wieder zu Engpässen im Warenangebot. So wurden beispielsweise 1956 im Rat der Stadt „Mängel in der Versorgungslage“ beklagt, die zum Teil darauf zurückzuführen seien, dass die Käufer „nicht bedarfsgemäß einkaufen“12 würden – angesichts der schwierigen Situation im Konsumbereich unternahm die Bevölkerung demnach Hamsterkäufe. Anderthalb Jahre später hatte sich die Situation nicht verbessert: „Die Versorgung der Schwedter Bevölkerung ließ in den letzten Wochen sehr viel zu wünschen übrig.“
Diesmal machte der Rat der Stadt die bevorzugte Behandlung der Kreisstadt Angermünde für die Missstände verantwortlich. Es sei zum Beispiel ein Eisenbahnwaggon Pflaumen, der für Schwedt bestimmt gewesen war, nach Angermünde gebracht worden und erst nach Entnahme der Pflaumen nach Schwedt gefahren worden. Der Rat protestierte wegen der behaupteten Benachteiligung beim Rat des Kreises und verlangte, „im Hinblick auf die Versorgung der Kreisstadt Angermünde gleichgestellt [zu] werden“13. Vor dem Hintergrund dieser unzureichenden Versorgungslage wurde in Schwedt die Entscheidung, in der Stadt so republikweit bedeutsame Industriebetriebe anzu12 Protokoll der Ratssitzung, 29.3.1956, StdAS [Stadtarchiv Schwedt]. 13 Protokoll der Ratssitzung, 12.9.1957, StdAS.
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siedeln, auch als Chance gewertet, die Konsummöglichkeiten zu verbessern – insbesondere in Konkurrenz zur Kreisstadt. Doch die frühen Aufbaujahre erwiesen sich dabei zunächst als wenig verheißungsvoll. In der Folgezeit standen auf der einen Seite die erhebliche Erweiterung der Verkaufsflächen und auf der anderen Seite die Erhöhung und Verbesserung des Warenangebots im Vordergrund.14 Beide Fragen bildeten bis in die 1980er Jahre hinein zentrale Probleme des städtischen Lebens. Als erste nichtprovisorische Konsumeinrichtung nach Beginn der massiven, das Schicksal der Stadt bis heute prägenden Auf- und Umbaumaßnahmen wurde zwischen 1961 und 1963 eine HO-Kaufhalle für Lebensmittel errichtet. Als Teil eines „Wohngebietszentrums“ befand sie sich an der Kreuzung von Bahnhofstraße und Leninallee, der beiden wichtigsten Achsen der Stadt. Die Anlage um die HOKaufhalle umfasste außerdem Dienstleistungseinrichtungen und die Gaststätte „Centra“ und bedeutete für Schwedt einen deutlichen Fortschritt im Bereich des Konsums. Die Kreiszeitung „Der Uckermärker“ feierte dementsprechend die Eröffnung der Kaufhalle vor allem als Modernisierungsleistung: „Auf einer Fläche von 450 qm Verkaufsraum steht jetzt den Schwedtern ein reichhaltiges Sortiment an Nahrungs- und Genußmitteln zur Verfügung. Mußten bisher die Bewohner des umliegenden Stadtviertels für den Einkauf von Lebensmitteln, Fleisch, Obst und Gemüse, Brotund Backwaren, Milch- und Molkereiprodukten mehrere Geschäfte aufsuchen, so können sie jetzt alle diese Waren in der Halle bei einem Rundgang kaufen und brauchen an der Kasse nur einmal bezahlen.“15
Auch im äußeren Erscheinungsbild stellte das Geschäft, das mehrfach auf Ansichtskarten präsentiert wurde,16 eine einschneidende Neuerung dar – und dies nicht nur aufgrund der neuen architektonischen Formen des Flachbaus. So gehörten die an der Vorderfront angebrachten Leuchtschriften wie „bediene dich selbst“ zu den in dieser Zeit noch nicht sehr zahlreichen öffentlichen Lichtern der Stadt und demonstrierten auch nachts die Modernität des Schwedter Handelslebens.17 Den Eindruck des Außergewöhnlichen, den die neueröffnete Kaufhalle bei der Bevölkerung hin-
14 Geprägt wurde diese Entwicklung auch durch die – politisch motivierte – Auseinandersetzung zwischen HO und Konsumgenossenschaft in Schwedt. Vgl. dazu Philipp Springer, „Angespanntes Verhältnis“. Konsumgenossenschaft und HO in Schwedt, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.), Konsum. Konsumgenossenschaften in der DDR, Köln/Weimar/ Wien 2006, S.109–119. 15 Gerhard Netzel, Briefkästen mal anders, in: Der Uckermärker 4 (1963) Nr. 12 (24.3.1963), S. 5. 16 Vgl. zum Bild der Stadt Schwedt auf Ansichtskarten Philipp Springer, Ansichten einer Stadt im Sozialismus. Der Wandel des fotografischen Blicks auf Schwedt/Oder, in: SOWI 33 (2004) H.1, S. 23–34. 17 Vgl. Foto der nächtlichen HO-Kaufhalle „Centra“, März 1964, StdAS, Fotosammlung. Weitere Leuchtschriften lauteten „fleisch“, „obst“ und „gemüse“; vgl. Ansichtskarte des Verlags Konsum Foku Magdeburg, 1967, Sammlung des Verf. Eine Aufnahme aus dem Jahr 1969 zeigt geänderte Texte der Leucht- und anderer Schriften, unter anderem hieß es nun „Alles in einem Haus – Sie sparen Zeit“; vgl. Foto der nächtlichen HO-Kaufhalle „Centra“, März 1969, StdAS, Fotosammlung.
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terließ, bestätigen die Erinnerungen von Dietrich S., des evangelischen Pfarrers der Stadt: „Da sagten wir, wir kommen uns vor wie im Westen. So war also das Empfinden.“18
Die Veränderungen im alltäglichen Konsum stellten zwar keineswegs eine Schwedter Besonderheit dar, doch wurden Anfang der 1960er Jahre industrielle Aufbaugebiete wie Halle und eben Schwedt schwerpunktmäßig zur Entwicklung solcher neuen Handelsformen auserkoren. Bereits in den 1950er Jahren hatte man in der DDR über Maßnahmen nachgedacht, wie Selbstbedienung und neue Einkaufsgewohnheiten in der Bevölkerung durchgesetzt werden könnten. „Modernes“ Einkaufen sollte das Ziel sein, das durch die damit verbundene Rationalisierung einerseits ökonomische Erfolge versprach und andererseits den Konsumbereich an den Modernisierungsbestrebungen der gesamten Gesellschaft teilhaben lassen sollte. Bedarfsdeckung, Steigerung der Arbeitsproduktivität und Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die im Handel Beschäftigten bildeten die zentralen Aufgaben der weitgehenden Maßnahmen.19 Pläne und Realitäten des „modernen“ Einkaufens Wesentlich stärker als Modernisierungsleistung in der Öffentlichkeit präsentiert wurde das zweite große Projekt einer neuen Konsumeinrichtung – seit Beginn der Errichtung des für die erste Phase der neuen Stadtentwicklung bedeutsamen WK II – im zentralen Bereich der Stadt. Der Vizepräsident der Deutschen Bauakademie Richard Paulick, der nach dem Herausdrängen des Architekten Selman Selmanagic mit der Stadtplanung beauftragt worden war, hatte den Bau zweier Kompaktbauten vorgeschlagen, die Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen enthalten und zusammen mit einem „Arbeiterwohnhotel“ das neue Zentrum der Stadt bilden sollten.20 Klar gegliedert, mit großer Fensterfront und Horizontaldach bildete der Kompaktbau I, dessen Errichtung der Rat der Stadt aufgrund zentraler Vorgaben Anfang 1963 beschlossen hatte,21 einen noch schärferen Kontrast zu den bisherigen Schwedter Handelsgebäuden als die HO-Kaufhalle am „Centra“ und strahlte Effizienz und Großzügigkeit aus. 18 Interview des Verfassers mit Dietrich S. am 12.9.2001. 19 Vgl. Silke Rothkirch, „Moderne Menschen kaufen modern“, in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hrsg.), Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln/Weimar/Wien 1996, S. 112–119; Merkel, Utopie, S. 202–208; Annette Kaminsky, Wohlstand, Schönheit, Glück. Kleine Konsumgeschichte der DDR, München 2001, S.50–60; Dies., Illustrierte Konsumgeschichte der DDR, Erfurt 1999, S. 30–35; Dies, „Mehr produzieren, gerechter verteilen, besser leben“. Konsumpolitik in der DDR, in: APuZ B 28/99, S. 12–20. 20 Zur Tätigkeit Richard Paulicks in Schwedt vgl. Philipp Springer, „Er war ein seltener Gast hier“. Richard Paulick und die „dritte sozialistische Stadt“ Schwedt/Oder, in: Wolfgang Thöner/Peter Müller (Hrsg.): Bauhaus-Tradition und DDR-Moderne. Der Architekt Richard Paulick, München/Berlin 2006, S. 136–155. 21 Vgl. Protokoll der Ratssitzung, 13.2.1963, StdAS.
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Abb. 3: Blick von der Gaststätte „Centra“ auf die Selbstbedienungshalle an der Leninallee. Ansichtskarte von 1967. Verlag Konsum Foku Magdeburg (Sammlung des Verf.)
Die radikale Abkehr von traditionellen Gestaltungsformen, für die auch der Anschluss an Weltmaßstäbe als Begründung geliefert wurde, bildete einen wichtigen Faktor in der öffentlichen Darstellung der künftigen Konsumeinrichtungen. So hieß es in einem Bericht des „Uckermärker“ über eine Veranstaltung, in der „jungen Chemiewerker[n] und Bauleute[n]“ die Konzeptionen präsentiert wurden: „Neu für Schwedt wird sein: Hier werden keine Ladenstraßen gebaut! Der internationale Erfahrungswert stand bei der Projektierung mit Pate, folglich spricht alles für Versorgungs- und Einkaufszentren. Damit respektiert man die Wünsche und Träume der Käufer – auch Ihre, werte Leser, so glauben wir.“22
Im „Jungen Erbauer“, der mit einem Aufmacher die Eröffnung ankündigte, wurde die neue Selbstbedienungshalle „HOL-fix“, deren Einweihung am 1. April 1965 stattfand, als „größte Einkaufshalle der Republik“23 gefeiert und besonders die durch acht Kassen gewährleisteten kürzeren Wartezeiten hervorgehoben.
22 Harry Jahnel, Unser Glück fällt nicht vom Himmel, in: Der Uckermärker 5 (1964) Nr. 28 (11.7.1964), S. 4 f., hier S. 4 f. 23 Kompaktbau I in Schwedt: Größte Einkaufshalle der Republik … wird am 1. April eröffnet, in: Junger Erbauer 5 (1965) Nr. 9 (25.3.1965), S. 1. Vgl. auch: Der Uckermärker 6 (1965) Nr. 14 (3.4.1965), S. 1.
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Unter dem Dach des Kompaktbaus befanden sich neben der Kaufhalle, die über eine Ladenfläche von 680 m2 verfügte, auch ein Reisebüro, ein Friseursalon und eine gastronomische Einrichtung, die aus einer Selbstbedienungsgaststätte, einem Restaurant, einem Tanzcafé, einer Milchbar und einer Verkaufsstelle für Konditoreiwaren bestand.24 Ebenso wie die Anlage am „Centra“ war der Kompaktbau, oft zusammen mit dem schräg gegenüber stehenden Arbeiterwohnheim, in den 1960er Jahren häufiges Motiv auf Ansichtskarten der Stadt – ein weiteres Zeichen für die große Bedeutung, die der Bau für die Selbstdarstellung und für die Außenwahrnehmung Schwedts in dieser Zeit hatte. Neben diesen beiden Vorzeigeprojekten im neuen Zentrum wurden in den 1960er Jahren weitere Kaufhallen, die die Versorgung der Bevölkerung mit Waren des täglichen Bedarfs gewährleisten sollten, innerhalb der Wohngebiete errichtet, unter anderem zwei Einrichtungen am Julian-Marchlewski-Ring, der zentralen Straße des WK II.
Abb. 4: Kompaktbau mit Kaufhalle, Milchbar und Tanzcafé an der Leninallee. Ansichtskarte von 1971. Foto: Rudolf Kampmann. VEB Bild und Heimat Reichenbach/Vogtland (Sammlung des Verf.)
Für die Bewohner des Wohnlagers, in dem die für den Bau der Werke und der Stadt verantwortlichen Bauarbeiter lebten, gab es weitere Verkaufseinrichtungen, die in Baracken auf dem Lagergelände untergebracht waren. Später wurden diese abgelöst durch Einkaufsmöglichkeiten auf dem Werksgelände, die allein Werksangehörigen offen standen. Und auch im WK IV wurde nach dem Beginn des Aufbaus von 24 Vgl. Protokoll der Ratssitzung, 13.2.1963, StdAS. Rudolf Krebs/Ernst Altmann, Die Gaststätten im Kompaktbau I in Schwedt (Oder), in: DA 13 (1964) H. 6, S. 340 f., hier S. 340.
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Wohngebäuden die Errichtung einer Selbstbedienungshalle konzipiert. Die Fertigstellung erfolgte jedoch nach erheblichen Verzögerungen erst im August 1967 – solange mussten die Bewohner dieses Stadtteils mit unzureichenden Versorgungsmöglichkeiten leben.25 Die Errichtung zusätzlicher Kaufhallen abseits des Zentrums fügte sich ein in die Vorstellung effizienten, „modernen“ Einkaufens, das in Schwedt nicht nur innerhalb der Gebäude, sondern auch durch die Einfügung der Bauten in den Stadtgrundriss modellhaft realisiert werden sollte. Dies zeigte sich beispielsweise in der 1963 in der „Deutschen Architektur“ veröffentlichten Konzeption, die die Entwicklung eines Handelsnetzes für Schwedt zum Thema hatte.26 Darin hoben die Autoren hervor, dass durch die Veränderung Schwedts zu einer „sozialistischen Industriestadt“ auch der „Warenbedarf der Bevölkerung […] auf das Niveau der Norm industrieller Gebiete“ ansteigen werde – industrialisierten Regionen und deren Gesellschaften wurde demnach grundsätzlich eine bessere Bereitstellung von Waren zugestanden. Der eigentliche Entwurf, der die Stadt anhand der Einwohnerzahlen in mehrere Versorgungsbereiche aufteilte, sah die Beibehaltung und Neueinrichtung von Spezialgeschäften im Zentrum der Stadt vor – für nichtalltägliche Einkäufe wäre demnach für alle Einwohner ein gleich langer Weg zurückzulegen gewesen. Schließlich sollten sich „die Kapazitätsbemessung sowie die Standortverteilung der einzelnen Kaufhallen […] nach der zu erwartenden Größe der Versorgungsbereiche, in Abhängigkeit von der Lage und Dichte der Wohnbebauung sowie von der Führung der Fußgängerverbindungen von Wohnung zu Haltestelle und von Wohnung zum Zentrum“,
richten. Deutlich erkennbar ist hier der Versuch, das Leben in der Stadt nach ökonomischen Kriterien zu organisieren und durch Zeitsparen die Effektivität des Alltags zu erhöhen. „Die Einkaufswege waren ja relativ kurz, […] das war alles gut zu erlaufen“27, bestätigt Ingeborg M. den partiellen Erfolg dieser Idee, der allerdings zum Teil dadurch aufgehoben wurde, dass die Einwohner durch die Versorgungsengpässe dann doch zu längeren Wegen und Schlangestehen gezwungen wurden. Das „Centrum-Warenhaus“ und die Probleme des Konsums am Stadtrand Die Menschen vor Ort bewegten in dieser Zeit jedoch andere Probleme. Sie nahmen den Bau der neuen Konsumeinrichtungen vor allem unter dem Gesichtspunkt seiner Verspätung wahr. So wurde im Rat der Stadt 1963 kritisiert, dass „der Zugang von Handelseinrichtungen […] nicht Schritt [halte] mit dem Wachstum der Bevölkerung“ – ein Grund dafür, dass „eine proportionale Entwicklung der Stadt 25 Vgl. Vorlage von OB Hermann Mattscherodt zu Handel und Versorgung, 7.3.1966, BLHA Bez. FFO Rep. 731/504 SED-KL Ang.; Protokoll der Sonderratssitzung, 28.9.1966, StdAS; Verkaufshalle im WK IV wurde eröffnet, in: Junger Erbauer 7 (1967) Nr. 33 (22.8.1967), S.8. 26 Vgl. Herbert Paeper/Werner Prendel, Die Planung des Netzes der Versorgungseinrichtungen in Schwedt, in: DA 12 (1963) H. 7, S. 411 f. 27 Interview mit Ingeborg M. am 12.7.2001.
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zum Aufbau der Großbetriebe“28 bislang nicht erreicht worden sei. Auch in Eingaben wurde die „weitere Entwicklung des Handelsnetzes“29 immer wieder gefordert. Bei der Realisierung der zweiten großen Konsumeinrichtung im neuen Zentrum der Stadt kam es wie so oft zu ganz erheblichen Verzögerungen. Nicht wie ursprünglich geplant im Jahre 1966 sondern erst im September 1972 öffnete das Centrum-Warenhaus seine Pforten. Über 5.200 m2 Ladenfläche auf zwei Etagen standen nun in Schwedt für den Verkauf von Industriewaren zusätzlich zur Verfügung, bislang waren es in der gesamten Stadt nur 3.200 m2 gewesen.30 Fast drei Viertel des Umsatzes in diesem Warensektor erfolgte zukünftig durch das Warenhaus, das zudem über 27 Verkaufsbereiche, eine 150 Meter lange Schaufensterfront, eine „Moccabar“ und ein Restaurant mit 100 Plätzen verfügte – es war die größte und modernste Einkaufseinrichtung im gesamten Bezirk Frankfurt/Oder.
Abb. 5: Kaufhalle am Julian-Marchlewski-Ring. Ansichtskarte von 1989. Foto: Rudolf Kampmann. VEB Bild und Heimat Reichenbach/Vogtland (Sammlung des Verf.)
Das Warenhaus stellte den vorläufigen Abschluss der Konzentrationsbestrebungen im Handel der Stadt dar. Durch die Errichtung eines solchen Einkaufszentrums wollte man, „ausgehend von den modernen zeitsparenden Einkaufsforderungen der 28 Jahresanalyse 1962 von Erich Dannehl, Abt. Bilanzierung und Planung, 21.2.1963, StdAS. 29 Vorlage des Sekretärs des Rates, Georg Müller, zur Eingabenanalyse für das 2. Halbjahr 1964, 4.1.1965, StdAS. 30 Vgl. 13 Fragen, die jeden interessieren, in: Junger Erbauer 12 (1972) Nr. 25 (19.7.1972), S. 4. Durch Schließung und Umwandlung bestehender Geschäfte reduzierte sich die Gesamtladenfläche bei Industriewaren auf 7.400 m2.
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Bevölkerung und den volkswirtschaftlichen Erfordernissen“31, die Zahl von Spezialläden möglichst umfassend reduzieren. Nach Auffassung der Abteilung Handel und Versorgung des Rates der Stadt boten sich gerade kleinere und mittlere Neubaustädte wie Schwedt dazu an, den gesamten Bedarf an Industriewaren durch ein Warenhaus abdecken zu lassen – die annähernd vollständige Zusammenfassung der verschiedenen Sortimente von Bekleidung und Schuhen über Briefmarken und Anglerbedarf bis hin zu Schreibwaren und Stoffen unter einem Dach erschien zu diesem Zeitpunkt als Fortschrittsleistung. Allerdings gab es vor Ort auch andere Meinungen. So erinnert sich der frühere Stadtarchitekt Eckehard Tattermusch im Gespräch an umfangreiche Diskussionen in der Stadt, die sich auch in Eingaben niederschlugen, in denen die Frage der Ladenstraßen aufgeworfen wurde. „Und das wurde dann einfach unter der Version ‚wir bauen ein Warenhaus‘ […] abgewimmelt“32,
beschreibt er den Vorgang, wie das Centrum-Warenhaus die innerstädtische Entwicklung blockierte. Aus diesem Grund sei die Umgestaltung der altstädtischen Vierradener Straße, die bereits in den 1960er Jahren angedacht worden sei, erst so spät, in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, vorgenommen worden. Der Überblick über die kontinuierliche Erweiterung des Schwedter Handelsnetzes, die in der Eröffnung des Centrum-Warenhauses ihren Höhepunkt fand, täuscht allerdings leicht darüber hinweg, dass über lange Zeit das Einkaufen in Schwedt vor allem durch Provisorien bestimmt wurde. Insbesondere auf die Verschiebung des Warenhausbaus musste mit der Errichtung von Leichtmetallhallen und Barackenbauten als Zwischenlösung reagiert werden. Hinzu kam, dass sich die Käufer wegen Veränderungen des Handelsnetzes oder Renovierungsarbeiten nicht selten auf kurz- oder langfristige Verlagerungen von Geschäften einstellen mussten. Klagen über unzureichende Einkaufsbedingungen waren deshalb an der Tagesordnung. An den Problemen, die die verspätete Fertigstellung von Konsumeinrichtungen in der ersten Phase des Stadtaufbaus etwa im WK II bereitet hatte, änderte sich allerdings auch mit dem Baubeginn der zweiten großen Phase des Schwedter Städtebaus, die auf der so genannten „oberen Talsandterrasse“ abseits der eigentlichen Stadt realisiert wurde, kaum etwas. Auch hier in WK VI und VII wurden die Wohngebäude bezogen, lange bevor die entsprechenden Kaufhallen und sonstigen Dienstleistungseinrichtungen zur Verfügung standen – ein durchgängiges Phänomen in Neubaugebieten der DDR. Die große Entfernung zum Stadtzentrum erschwerte zusätzlich die Situation für die Schwedter Neubürger, die in diesem Teil der Stadt wohnten.
31 Erläuterungen und Begründung von Paul Puls, Leiter der Abt. Handel und Versorgung, zum Plan für die Entwicklung des Verkaufs- und Gaststättennetzes der Stadt Schwedt bis zu den Jahren 1980/85, 25.6.1966, StdAS. 32 Interview des Verfassers mit Eckehard Tattermusch am 17.9.2001.
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1973 gab es für die mittlerweile über 7.000 Einwohner im WK VII außer zwei provisorischen Handelseinrichtungen keine weiteren Geschäfte.33 Erst in den folgenden Jahren entstanden in WK IV, VII und VIII eine Reihe von Kaufhallen, darunter die Kaufhalle „Freundschaft“, die mit fast 1.200 m2 Verkaufsfläche die zu diesem Zeitpunkt größte Kaufhalle im Bezirk Frankfurt/Oder war.34 In der öffentlichen Darstellung wurden die Eröffnungen dieser Handelseinrichtungen wie in den 1960er Jahren als bedeutende Leistungen gewürdigt und die fertig gestellten Geschäfte gleichsam als Geschenk des Staates an die Bewohner gefeiert. Diese konnten solchen Inszenierungen spätestens zu diesem Zeitpunkt nichts mehr abgewinnen. Die Sehnsucht nach einem vielfältigen Warenangebot Entscheidend für die Wahrnehmung der Einkaufsmöglichkeiten war dagegen die mangelnde Vielfalt innerhalb des Handelsnetzes. Durch den Vergleich mit anderen Städten – vor allem den mit dem konkurrierenden Angermünde – wurde dies den Einwohnern deutlich:
„Wir sind nach Angermünde gefahren, weil da mehr Geschäfte waren. […] Also Textilien oder sowas konnte man in Angermünde viel besser kaufen. Da gab’s mehr Geschäfte. […] Da [in Schwedt] war ja nur das eine Centrum-Warenhaus, und wenn’s in dem nichts gab, […] dann brauchte man in Schwedt nirgendwo mehr gucken. Da war nichts mehr zum Gucken. […] [In Angermünde dagegen,] da gab’s die alten kleinen Geschäfte: Konsum und HO und ehemalige Privatläden, die dann Konsum geworden waren. […] Ganze Straße entlang, ein Geschäft am andern. Das war schon schön. Da gab’s auch ’ne Konditorei! […] meine Kinder waren ja ganz happy, wenn wir mal nach […] Angermünde gefahren sind einkaufen, na dann mußte unbedingt auch in die Konditorei gegangen werden. Das gab’s ja in Schwedt nicht. In Schwedt gab’s keine Konditorei.“35
Die Fahrten von Ingeborg M. und ihrer Familie in die Nachbarstadt zeigten das Scheitern der konsumpolitischen Vorstellungen in Schwedt. Zwar hatte Paul Puls, Leiter der Abteilung Handel und Versorgung, anderthalb Jahre vor der Eröffnung des Centrum-Warenhauses in einer Tagung der Stadtverordnetenversammlung noch beteuert, dass „wir unsere Stadt nicht in den Straßen totmachen, sondern ein Leben in den Straßen beibehalten wollen“36. Doch die Realität sah anders aus. „Stadtbummel […] ging […] gar nicht. […] Das Einzige ist ja immer das Warenhaus gewesen“37,
berichtet Gudrun E. Marianne R. ging gern in den Urlaubsorten der Familie einkaufen: 33 Vgl. Vorlage des Rates der Stadt zum 1. Entwurf des VWP 1974, 4.8.1973, BLHA Bez. FFO Rep. 731/224 SED-KL Schwedt. 34 Kaufhalle „Freundschaft“ gestern im WK VII eröffnet, in: Neuer Tag v. 18.12.1973, S. 8. 35 Interview mit Ingeborg M. Ähnliches berichten auch andere Interviewte. 36 Diskussionsbeitrag des SVV-Abgeordneten, Stellv. des OB und Leiters der Abt. Handel und Versorgung, Paul Puls bei der SVV-Tagung, 1.7.1971, StdAS. 37 Interview mit Gudrun E. am 28.11.2001.
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Philipp Springer „Für uns war das ja ein besonderes Erlebnis, immer in der Stadt spazieren zu gehen, wo dann eine Einkaufsstraße war, weil wir das ja in Schwedt nicht kannten.“38
Erst Mitte der 1980er Jahre begann der Rat der Stadt sich intensiver mit dem Problem auseinanderzusetzen – nicht nur die veränderte zentrale Städtebaupolitik war dafür verantwortlich, sondern auch eine gewandelte Haltung vor Ort. So lässt sich die Umgestaltung der Vierradener Straße, die erst Ende der 1980er Jahre in einem Teilabschnitt abgeschlossen wurde, als Versuch werten, das Einkaufen attraktiver zu gestalten. Einen „Boulevard“39 wollte man schaffen, der „zum Bummeln und Verweilen“40 einladen sollte. Nicht nur durch einen Springbrunnen, Sitzbänke und künstlerisch gestaltete Ladenausleger, mit denen auf die Geschäfte hingewiesen wurde, wertete der Rat die Straße auf. Auch neue Geschäfte, zum Beispiel ein Gewürzgeschäft, der Miederwarenladen „Form und Figur“ und die Kunstgalerie, ergänzten den bisherigen Bestand zu dem bereits eine Blumenverkaufsstelle, die Verkaufsstelle „Philatelie und Souvenirs“ und der Kurzwarenladen „Nähkästchen“ gehörten.41 Insgesamt zwanzig Geschäfte, Dienstleistungseinrichtungen und Gastronomiebetriebe umfasste der betroffene Straßenabschnitt nun, allerdings zeigt die Aufzählung, dass sie vermutlich nur zum Teil das Bedürfnis zum „Bummeln“ und vielfältigen Einkaufen befriedigen konnten.
Abb. 6: Centrum-Warenhaus an der Leninallee. Ansichtskarte von 1974. Foto: Corazza. PlanetVerlag Berlin (Sammlung des Verf.) 38 39 40 41
Interview mit Marianne R. am 6.6.2001. Karin Ernst, Vierradener Straße zum Kleinod machen, in: Neuer Tag v. 3.10.1986, S. 6. Eva-Martina Weyer, Perle mitten im Zentrum, in: Neuer Tag v. 1.6.1988, S. 8. Vgl. ebd.; Karin Ernst, Von der ersten Minute an herrschte buntes Treiben, in: Neuer Tag v. 1.6.1988, S. 8.
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Erst am Ende der DDR ließ sich das Bemühen erkennen, Konsum nicht nur als eine Tätigkeit zu begreifen, die rational und zeitsparend zu erledigen war. Dieses in den 1960er Jahren unter dem Vorzeichen der Modernität in Schwedt eingeführte Prinzip, nach dem Handelseinrichtungen möglichst konzentriert unter einem Dach untergebracht sein mussten, hatte sich jedoch schon seit langer Zeit als untauglich erwiesen, dem städtischen Leben „Fluidum“42 zu geben. Bereits Anfang der 1970er Jahre war zwar durchaus beim Rat die Gefahr erkannt worden, die in der Konzentration auf größere Einkaufseinrichtungen und in der gleichzeitigen Vernachlässigung der Altstadt lag. Eine veränderte Entwicklungskonzeption war angesichts der zentralen Bau- und Konsumpolitik und möglicherweise auch aufgrund ablehnender Meinungen lokaler Funktionäre jedoch nicht durchsetzbar gewesen. Der Niedergang des Einzelhandels Ein entscheidender Grund für den fehlenden Charme des Schwedter Konsumlebens bestand allerdings im weitgehenden Zurückdrängen des privaten Einzelhandels und des privaten Handwerks. In der Stadt spielten diese Konsum- und Dienstleistungsformen eine noch geringere Rolle als anderswo. Bereits im Jahre 1962 lag der private Anteil am Einzelhandelsumsatz nur bei 5,3% – Schwedt bildete damit das Schlusslicht in den Kreisen des Bezirks Frankfurt/Oder.43 Daran sollte sich in den folgenden Jahren nicht viel ändern. Erst in den 1970er Jahren begann der Rat der Stadt analog zu den geänderten Vorgaben der Herrschaftszentrale Neuansiedlungen zuzulassen. Dabei handelte es sich um Betriebe, deren Arbeit dringend in der Stadt benötigt wurde und nicht durch das staatliche System abgedeckt werden konnte. So existierten 1976 in der Stadt 18 private Handwerksbetriebe, fünf Jahre später waren es 28. Hinzu gekommen waren in dieser Zeit unter anderem ein Glaser, ein Uhrmacher, ein Rundfunk- und Fernsehtechniker, ein Goldschmied, ein Plakat- und Schriftmaler, eine Nähmaschinenreparatur, ein Klavierstimmer, eine Druckerei, ein Schneider und zwei Autolackierer.44 Die verhaltene Wende im Umgang mit dem privaten Handwerk äußerte sich auch in der Zeitungsberichterstattung. So titelte der „Neue Tag“ 1981 über ein Bäckerehepaar, das seit 1947 sein Geschäft in Schwedt besaß: „Die Geschichte unserer Stadt mitgeschrieben: Irmgard und Hans Vorpahl“. Und anderthalb Jahre später wurde die Arbeitsleistung des anderen Schwedter Bäckers, Gerhard Hein, gewürdigt, der bereits in dritter Generation das Geschäft führte.45 Insgesamt betrachtet fehlten in der Stadt jedoch das private Handwerk und der private Einzelhandel als Versorgungselement und Erlebnisfaktor. Dies war einerseits Folge des massiven, durch die Herrschaftszentrale ausgeübten Drucks, dem sich diese Konsum- und Wirtschaftsbereiche seit den 1950er Jahren ausgesetzt sahen. Doch 42 Interview mit Gudrun E. 43 Vgl. Statistischer Jahresbericht Bezirk Frankfurt/Oder 6/7 (1961/62), S. 300. 44 Vgl. Ratsvorlage der Abt. ÖVW zur Entwicklung des genossenschaftlichen und privaten Handwerks, 19.10.1981, StdAS. 45 Karin Ernst, Zuerst nur Roggenbrot …, in: Neuer Tag v. 26.9.1981, S. 6; Jörg Matthies, Brot und vieles mehr, in: Neuer Tag v. 23.4.1983, S. 8.
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auch die spezielle Schwedter Situation – Kriegszerstörungen, strengere Reglementierungen in der „neuen“ Stadt, bessere Versorgungslage – trug dazu bei, dass die für die „bürgerliche“ Stadt einstmals so bedeutsame Privatwirtschaft weitgehend ausfiel. Die Entwicklung des Schwedter Handelsnetzes lässt sich somit – abgesehen von der Frage der Eigentumsformen im Handel – vor allem als ein Prozess beschreiben, in dem Verzögerungen bei Planung und Bau neuer Einrichtungen, Unzulänglichkeiten der Organisation der Versorgung und das Einkaufen in Provisorien im Vordergrund standen. Insbesondere in den ersten Jahren der jeweiligen Wohngebiete gehörten weite Wege selbst für täglich benötigte Waren zum Alltag der Bevölkerung. Warteschlangen, mit denen Käufer immer wieder zu rechnen hatten, waren nicht nur Folge eines unzureichenden Angebots, sondern auch Konsequenz der beschränkten Einkaufsverhältnisse. Auf der anderen Seite stellte die Stadt vor allem in den 1960er Jahren einen Investitionsschwerpunkt im Bereich der Konsumeinrichtungen dar. Modernste Kaufhallen wurden errichtet, die sich radikal von den Einkaufsbedingungen beispielsweise in den ländlichen Herkunftsgebieten der Neuzugezogenen unterschieden. Selbstbedienung, lange Fensterfronten und mehrere Kassen verhießen ein angenehmeres Einkaufen. Höhepunkt der Entwicklung des Schwedter Handelsnetzes war sicherlich die Errichtung des Centrum-Warenhauses, das groß, wenn nicht sogar weltstädtisches Flair nach Schwedt holte. Erst zwei Jahre zuvor war am Berliner Alexanderplatz das entsprechende Pendant entstanden, das wohl die meisten Schwedter durch häufige Besuche kannten. Fehlendes Obst und schlechte Eier – Engpässe im Warenangebot Doch nicht nur beim Bau von Konsumeinrichtungen gehörte Schwedt zu den privilegiertesten Städten der DDR. Noch deutlicher wird dies beim Blick auf das „Objekt“ des Einkaufens, nämlich auf die Frage, in welcher Weise sich das Warenangebot in der Stadt entwickelte. Das erkennbare Privileg wog dabei die in der DDR grundsätzlich üblichen Versorgungsprobleme nur bedingt auf und obwohl die Stadt generell bevorzugt beliefert wurde, gab es auch hier zum Teil erhebliche Engpässe und damit auch die in Eingaben und anderswo geäußerte Kritik daran. In allen Phasen der Geschichte Schwedts kehrten seit 1945 Berichte über unzureichende Angebote bei unterschiedlichen Warengruppen immer wieder auf. Trotzdem gehörte die Versorgungslage zu den wesentlichen Vorzügen der Stadt, der sich jedoch erst durch den Vergleich mit den in der DDR üblichen Verhältnissen erschloss. In den 1950er Jahren stand zunächst noch die Sorge um Grundnahrungsmittel im Vordergrund. So hieß es 1957 beim Rat der Stadt:
„Die Versorgung […] ließ in den letzten Wochen sehr viel zu wünschen übrig. Es fehlte an Obst, Gemüse, Stärkeerzeugnissen, Essig und dergl. mehr. […] wir vom Rat der Stadt können uns mit der stockweisen Belieferung von den aufgeführten Lebensmitteln nicht einverstanden erklären.“46
46 Protokoll der Ratssitzung, 12.9.1957, StdAS.
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Die örtlichen Funktionäre fühlten sich in dieser Zeit durch den Rat des Kreises und durch die Kreisbetriebe von HO und Konsum gegenüber Angermünde benachteiligt. Mit dem Beginn des Aufbaus veränderte sich die Versorgungslage grundlegend. Als industrieller Schwerpunkt sollte Schwedt nun bevorzugt bei der Zuteilung mit Waren berücksichtigt werden. In den frühen 1960er Jahren gelang dies jedoch nur unzureichend. Drei Jahre nach dem Aufbaubeginn führte Karl-Heinz Schmukall, Leiter einer Kaufhalle im WK II, bei einer Sitzung der Ständigen Kommission Handel und Versorgung aus, „daß die Verkaufskapazität in der Stadt Schwedt vollkommen unzureichend“47 sei. Die Gründe für die Misere waren vielfältig und hatten nur bedingt ihre Ursache in der speziellen Situation vor Ort. So wirkte sich etwa die wirtschaftliche Krisensituation, in der sich die DDR vor und nach dem Mauerbau befand, auch auf Schwedt aus. Zugleich führte die Neuorganisation des Handels zu Schwierigkeiten bei Planung und Realisierung der Versorgung, die einerseits wegen der Erweiterung der Stadt und andererseits aufgrund der 1961 vollzogenen Kreisfreiheit unternommen werden musste. Ein zentrales Problem stellte auch das kurzfristige und vor Ort kaum vorhersehbare Wachstum der Zahl potenzieller Käufer – Bauarbeiter, Beschäftigte der Betriebe und deren Familien – dar. So urteilte der Rat im März 1966: „Sehr heftig und mit Recht wurde kritisiert im vergangenen Jahr die ungenügende Versorgung mit Schuhwaren, insbesondere Kinderschuhe für die kalte Jahreszeit. Die Ursachen hierfür waren die ungenügende Einschätzung der Bevölkerungsentwicklung der Stadt Schwedt durch die Fachabteilung und die ungenügende Bedarfsermittlung durch die KKG.“48
Erst mit dem Ende der chaotischen Schwedter Anfangsphase und parallel zur konsumpolitischen Konsolidierung der DDR begann sich die Versorgungslage in der Stadt zu normalisieren – das heißt, den in der DDR üblichen zeitweiligen oder langfristigen Engpässen anzupassen. Zahlreiche, auch öffentlich diskutierte Beispiele lassen sich dafür finden. So notierten im Jahre 1971 vor den Wahlen ein Sekretär einer Wohngebietsparteiorganisation und ein Vorsitzender des entsprechenden Wohnbezirksausschusses die Sorgen und Nöte der Bewohner ihres Wohngebietes, die diese ihnen bei Besuchen mitgeteilt hatten. Unter den genannten Anliegen befanden sich auch eine Reihe von Versorgungsproblemen: „Warenangebot in Schwedt wesentlich schlechter als in vergleichbaren Städten. Es werden keine preisgünstigen Textilien angeboten, die den Bedürfnissen der Mode und Qualität entsprechen. […] Schlechte Einkaufsmöglichkeiten in der Halle, in Spitzenzeiten Überbelastung. […] Öffnungszeiten der Kaufhalle günstiger gestalten. Sonntags, wie im Kompaktbau, Möglichkeiten für kleinere Einkäufe schaffen. […] Für Werktätige schlechtes Einkaufen, da Waren-
47 Protokoll des Sekretärs der Ständigen Kommission Handel und Versorgung, Bohn, über die Sitzung der Ständigen Kommission mit den Aktivmitgliedern, 28.11.1961, StdAS, 1206. 48 Vorlage von OB Hermann Mattscherodt zu Handel und Versorgung, 7.3.1966, BLHA Bez. FFO Rep. 731/504 SED-KL Ang. Mit „KKG“ ist die Kreiskonsumgenossenschaft gemeint.
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Philipp Springer angebot abends sehr erschöpft ist. […] Schlechte Versorgung mit Obst und Gemüse am Wochenende im Wohngebiet. Angebot der KH [Kaufhalle] nicht zufriedenstellend.“49
Im selben Jahr veranstaltete die Ständige Kommission des Bezirkstages für Handel und Versorgung im PCK ein Frauenforum, bei dem verschiedene Probleme des Alltags behandelt werden sollten. Die Diskussion entwickelte sich, anders als geplant, zur Generalabrechnung mit der Situation in Schwedt und gipfelte in der Aussage einer Anwesenden: „Das Leben in Schwedt ist nicht mehr lebenswert.“50 Neben diversen anderen Mängeln führten die Frauen auch Versorgungsfragen als Beleg für ihre Meinung an. So gebe es zu wenig Kaufhallen und Geschäfte in WK VI und VII, Qualität und Vielfalt der angebotenen Waren – insbesondere bei Obst und Gemüse – reichten nicht aus, bis zu 50% der verkauften Eier seien schlecht, Frauenund Kinderbekleidung lasse sowohl hinsichtlich der angebotenen Menge als auch der „Mode“ zu wünschen übrig, und schließlich würden auch die Öffnungszeiten der Geschäfte die Lebensqualität vor allem der Berufstätigen einschränken. Eine privilegierte Stadt Ein verändertes Konsumverhalten, das nun nicht mehr vorrangig auf die Befriedigung grundlegender Lebensbedürfnisse ausgerichtet war, lässt sich in dieser Kritik der Schwedter Versorgungsverhältnisse erkennen. Immer stärker waren die Kunden an qualitativ hochwertiger und modischer Ware interessiert, die zudem in einer Weise angeboten werden sollte, die ihren Lebens- und Arbeitsumständen entgegenkam. Zum Hintergrund für diesen Mentalitätswandel gehörte, dass die Bewohner der Stadt – und dabei vor allem die Beschäftigten des PCK – ihr überdurchschnittliches Lohnniveau auch in entsprechende Ware umsetzen wollten: „Wenn in Schwedt mehr Geld als wo anders im Umlauf ist, dann muß Schwedt genau so bevorzugt mit den begehrten Waren versorgt werden.“51
Zu solchen Forderungen sahen sie sich berechtigt, wurde ihnen doch fast täglich die Bedeutung ihrer Tätigkeit und ihrer Stadt vor Augen geführt. Darin konnte sich die Bevölkerung im übrigen im Einklang mit den städtischen Funktionären sehen, die immer wieder beim Rat des Bezirkes darauf drängten, „der unterschiedlichen Marktaufkommenssituation Rechnung zu tragen und eine Umbilanzierung von Warenfonds bzw. erhöhte Warenzuführungen vorzunehmen“52 – Schwedt demnach noch besser zu versorgen als andere Städte und Gemeinden. „Die Leute haben […] gut verdient […], die wollten jetzt auch für das Geld, was sie verdient hatten, or49 Bericht der Nationalen Front Schwedt/Wohnbezirksausschuß XI, WPO-Sekretär Winelmann und WBA-Vors. Hofmann, an den Rat der Stadt, Abt. Eingabewesen, 1.11.1971, BLHA Bez. FFO. Rep. 731/172, SED-KL Schwedt. 50 Brief des Vors. des Rates des Bezirkes, Siegfried Sommer, an OB Klaus-Dieter Hahn, 26.8.1971, BLHA Bez. FFO. Rep. 731/88, SED-KL Schwedt. 51 Bericht von Kleinschmidt über Stimmungen und Meinungen zu Versorgungsproblemen, 1979, BLHA Bez. FFO Rep. 731/528 SED-KL Schwedt. 52 Entwurf des Berichtes der Abt. Handel und Versorgung über die planmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Waren des Grundbedarfs an die SVV, 25.2.1972, StdAS.
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dentlich was kaufen können“53, beschreibt Manfred T. im Gespräch die damalige Situation. Das hohe Lohnniveau in der Stadt erzeugte einen Druck auf den Handel von Seiten der Bevölkerung, der eine spezifische Form des Versorgungsengpasses schuf. Anders als in den 1950er Jahren und auch noch in den frühen Aufbaujahren Schwedts ging es nun nicht mehr um die Bereitstellung von zum Überleben notwendigen Waren, auch wenn die SED-Politik weiterhin vor allem dieses Ziel im Blick hatte. Doch insbesondere die jüngere Bevölkerung verdiente mittlerweile mehr und wollte dementsprechend auch mehr einkaufen. So berichtete der Rat 1973 von den gestiegenen Nettogeldeinnahmen in der Stadt, die den Einzelhandelsumsatz im Jahre 1972 im Vergleich zum Vorjahr auf 121,9% hätten anwachsen lassen.54 Darauf konnte jedoch nur bedingt reagiert werden, weil die Konsumgüterproduktion in der DDR zu langsam wuchs. Aus diesem Grund nahmen „nach wie vor die Versorgungsprobleme […] einen breiten Raum in der Diskussion [der] Bevölkerung ein“55. Die SED-Konsumpolitik versuchte auf das Problem des hohen Lohnniveaus in der Stadt auch mit der Steigerung des Angebots an hochwertigen Waren zu reagieren. So erinnert sich Harald H. daran, dass die Handelseinrichtungen in Schwedt „teilweise besser bestückt [waren] als irgendwie ein Kaufhaus in Pritzwalk beispielsweise“. Seine erste Schrankwand, die er im Centrum-Warenhaus gekauft hatte und die er „woanders gar nicht gekriegt“ hätte, kostete 9.000,– Mark – „das war ein Vermögen“56. Auch die überdurchschnittliche Ausstattung der Wohnungen mit Waschmaschinen und Farbfernsehern deutete auf den Versuch hin, die hohe Kaufkraft bedienen zu können. Außerdem richtete man in Schwedt entsprechende Spezialgeschäfte wie den Modesalon „Exquisit“ ein, in dem modische und damit auch teure Ware angeboten wurde. Inge P., die neun Jahre das an repräsentativer Stelle an der Leninallee gelegene Geschäft leitete, berichtet: „Da haben die Ärzte eingekauft und alle die, die irgendwie Geld verdient haben. Andere konnten das nicht, gewöhnliche Bürger.“57
Insgesamt verbesserte sich das Warenangebot in Schwedt im Laufe der zweiten Hälfte der 1960er Jahre und danach, doch aufgrund der veränderten Ansprüche der Bevölkerung sank die allgemeine Unzufriedenheit über die Versorgungslage dadurch nur langsam und in begrenztem Maße. Aber trotzdem: sie sank, wie sich an den Eingaben, die das Konsumwesen zum Thema hatten, zeigte. So griffen nur zehn von 464 Schreiben des Jahres 1976, die an den Rat der Stadt gerichtet worden 53 Interview des Verfassers mit Manfred T. am 9.7.2001. Ähnliches berichten auch andere Interviewte. 54 Referat zur Begründung des VWP vor der SVV, 15.1.1973, StdAS. 55 Ebd. 56 Interview mit Harald H. am 17.5.2001. 57 Interview des Verfassers mit Inge P. am 29.8.2001. Zur Bedeutung dieser Spezialläden für hochwertige Waren im Rahmen sozialer Ungleichheit vgl. Annette Kaminsky, Ungleichheit in der SBZ/DDR am Beispiel des Konsums: Versandhandel, Intershop und Delikat, in: Lothar Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S.57–79; Merkel, Utopie, S. 243–277.
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waren, Probleme der Versorgung auf, also gerade mal 2,1%.58 In der Eingabenanalyse des Rates hieß es dazu: „Ferner wird eingeschätzt, daß ein Teil der Eingaben auf Vorstellungen der Bürger über ein gewünschtes Versorgungsniveau zurückzuführen sind [sic], das nicht in voller Sortimentsbreite gewährleistet werden kann.“59
Die Klagen über die Schwedter Versorgungslage, die sich in allen Phasen der Stadtentwicklung finden lassen, dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Stadt sich in einer sehr privilegierten Position befand. Als industrielle Schwerpunktstadt gehörte sie neben der Bezirksstadt Frankfurt/Oder und dem anderen „Leuchtturm“ Eisenhüttenstadt zu den vorrangig belieferten Städten des Bezirks. Die Ratsabteilung Handel und Versorgung berichtete 1972 vor der Stadtverordnetenversammlung:
„Die Warenfondsdifferenzierung wurde entsprechend der Bedeutung der Industriezentren des Bezirkes vorgenommen. Die Stadtkreise Schwedt/Oder und Eisenhüttenstadt als besondere Arbeiter- und sozialökonomische Schwerpunkte kommen in der Rang- und Reihenfolge unmittelbar hinter der Bezirksstadt, während alle übrigen Kreise mit Abstand folgen.“60
Zum Versorgungskonzept für Schwedt gehörten auch Sonderzuteilungen, die allein den Einwohnern der Stadt zustanden. Nur bei Vorlage eines Personalausweises, der die Herkunft des Kunden aus Schwedt nachwies, war der Kauf solcher Produkte gestattet.
„Man konnte nicht von x-wo hinkommen und denn das da wegkaufen wie in Berlin, wo sie alle nach Berlin gefahren sind und haben denn Berlin ausgekauft!“
Hiltraud P. erinnert sich an das Privileg, das vor allem die Einwohner der Nachbarstadt Angermünde „immer ’n bißchen gnatzig“61 gemacht habe. Glanz und Niedergang der Versorgung Die Privilegierung Schwedts ergab sich im übrigen nicht nur aus dem Warenangebot in Kaufhallen und Geschäften im Stadtgebiet, sondern insbesondere auch aus den Einkaufsmöglichkeiten in den Betrieben. Dort wurden „Raritäten“62 verkauft und Sonderverkäufe veranstaltet, bei denen ausschließlich Angehörige des jeweiligen Werkes als Kunden in Erscheinung treten durften. Größere Auseinandersetzungen innerhalb der Schwedter Stadtgesellschaft um diese Form der sozialen Un58 Vgl. Bericht des OB Klaus-Dieter Hahn und des 1. Stellv. des OB, Manfred Großmann, über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger für den Zeitraum vom 1.10.1975 bis zum 17.10.1976, 17.1.1977, BLHA Bez. FFO Rep. 731/370 SED-KL Schwedt. Ausgeklammert ist dabei allerdings die Kritik von Bewohnern der Wohngebiete auf der oberen Talsandterasse an der unzureichenden Ausstattung ihrer Viertel mit Geschäften. 59 Ebd. 60 Entwurf des Berichtes der Abt. Handel und Versorgung über die planmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Waren des Grundbedarfs an die SVV, 25.2.1972, StdAS. 61 Interview des Verfassers mit Hiltraud P. am 10.3.2001. 62 Ebd.
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gleichbehandlung scheint es nicht gegeben zu haben – vermutlich war der Anteil der bevorzugt bedachten Werksangehörigen an der gesamten Stadtbevölkerung so hoch, dass die meisten Menschen direkt oder indirekt davon profitieren konnten. Die Privilegierung und das überdurchschnittliche Warenangebot zeigten sich auch daran, dass die Attraktivität Schwedts für auswärtige Käufer zunahm. Nicht nur Bewohner der Umlandgemeinden, die in steigendem Maße die Schwedter Konsumeinrichtungen besuchten, waren damit gemeint – 1968 schätzte der Rat der Stadt die Zahl dieser zusätzlicher Kunden aus dem Kreis Angermünde auf 5.000 bis 6.000 Menschen.63 Vielmehr trug der Schwedter Handel auch in überregionalem Maßstab zur Versorgung bei. Bereits in den 1960er Jahren spielte dies im konsumpolitischen Geschehen eine Rolle. Im Oktober 1964 berichtete zum Beispiel der „Uckermärker“:
„Es ist bekannt, daß die Bauarbeiter in Schwedt mit verschiedenen Dingen bevorzugt werden. […] Noch ein Wort an die Bauarbeiter. Mir sind Fälle bekannt, wo die bevorzugte Versorgung dazu ausgenutzt wurde, bei der Heimfahrt reichlich einzukaufen und einen großen Kreis von Verwandten und Bekannten mit sogenannter ‚Mangelware‘ mitzuversorgen. Das ist nach meiner Meinung Betrug gegenüber einem Teil der Werktätigen, der die Schwerpunktversorgung als das betrachtet, was sie ist, nämlich ein wichtiger, ökonomischer Hebel im neuen ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft.“64
So negativ dieses Verhalten in dem Zeitungsbericht dargestellt wurde, so weit verbreitet war es jedoch in den folgenden Jahren auch unter den Einwohnern der Stadt. Georg Z. erinnert sich beispielsweise im Gespräch an vier oder fünf Kaltwäschemangeln, die von ihm und seiner Frau für Verwandte und Freunde in der Niederlausitz, ihrer Herkunftsregion, in Schwedt besorgt wurden.65 Angehörige in anderen Teilen der DDR mitzuversorgen – sei es aus uneigennütziger Hilfe, sei es zum Tausch –, bot den Einwohnern auch die Möglichkeit, ihr Selbstverständnis als Schwedter zu stärken. Auswärtige Besucher der Stadt staunten über die Versorgungslage in der Stadt und dürften die Bewohner darum beneidet haben, auch wenn sie die sonstige Gestalt der Stadt eher abgelehnt haben mögen. So erinnert sich Marianne R.: „Wenn die Leute zu Besuch kamen, haben sie gesagt: ‚Ach, jetzt erst mal ins Kaufhaus. Da gibt’s doch mehr.‘“66
Und Wolfgang P. denkt bei der Frage nach dem Konsum besonders an die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen bei Einheimischen und Besuchern. Die Privilegierung der Stadt sei eine Selbstverständlichkeit gewesen, derer man sich erst dann wieder bewusst geworden sei, wenn Menschen von anderswo gekommen seien:
„Die [Versorgung] war wesentlich besser, aber wenn man dann eine Weile hier gewohnt hat, wurden viele Sachen zur Gewohnheit und dann hat man eben über Sachen geschimpft, die
63 Vgl. Bericht von OB Klaus-Dieter Hahn zu den Grundfragen des Handels und der Versorgungseinrichtungen sowie der Gastronomie im Konzentrationsgebiet Schwedt bis zum 20. Jahrestag der DDR bzw. bis 1970, 21.8.1968, BLHA Bez. FFO Rep. 731/682 SED-KL Ang. 64 Willi Rainer, Die lieben Verwandten, in: Der Uckermärker 5 (1964) Nr. 41 (10.10.1964), S. 3. 65 Vgl. Interview mit Georg und Gertraud Z. am 26.6.2001. Ähnliches berichten auch andere Interviewte. 66 Interview mit Marianne R.
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Philipp Springer hätten dann eben noch besser sein können. […] Ich kann mich noch erinnern, als meine Eltern mich mal besucht haben – meiner Mutter ist, als sie das Warenhaus [gesehen hat] – der sind die Augen rausgefallen.“67
Doch auch auf andere Weise erhielt der Handel in Schwedt eine überörtliche Perspektive. Angesichts von Engpässen vor Ort sahen sich die Bewohner der Stadt in einem Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen Teilen der DDR. Wie bereits in dem angeführten Beispiel der Belieferung mit Kirschen im Jahre 1968 deutlich wurde, verglichen die Menschen ihre Situation mit der in anderen Regionen. Dabei ging es weniger um die – in der DDR häufig kritisierte – bevorzugte Behandlung Berlins, da die Schwedter selbst aufgrund der Nähe zur Hauptstadt von dem dortigen Angebot profitieren konnten. Vielmehr standen die Herkunftsgebiete im Süden im Mittelpunkt der Kritik: „Eine Reihe von Bürgern zieht […] Vergleiche zu dem Warenangebot zu den südlichen Bezirken […], wo das Angebot besonders in Textilien gegenüber Schwedt überaus groß ist. Deshalb verstehen sie nicht, warum solche Unterschiede zugelassen werden. […] Verstärkt wird die Forderung erhoben, daß endlich mit der unterschiedlichen Versorgung der südlichen Bezirke gegenüber den nördlichen Schluß gemacht wird. Die Genossen fordern eine bessere Bilanzierung in den Fragen der Versorgung.“68
Solche Diskussionen dürften sich Ende der 1970er Jahre noch verstärkt haben, als sich die Versorgungslage in der Stadt analog zur generellen Entwicklung in der DDR zu verschlechtern begann. Dies war nicht zuletzt an den Eingaben abzulesen. So beschäftigten sich in den 1980er Jahren in der Regel über 10% aller beim Rat der Stadt eingegangenen Schreiben mit Fragen des Konsums.69 1980 berichtete Wolfgang P., Vorsitzender der Ständigen Kommission Handel und Versorgung, vor der Stadtverordnetenversammlung von einer grassierenden „Abkaufhysterie“ und von der „vielfach“ vertretenen Meinung, „daß es 1. nichts zu kaufen“ gebe „und 2. daß alles teurer“ werde. So habe es im Bereich Bettwäsche eine 23-prozentige Umsatzsteigerung gegeben, obwohl die Bevölkerung nur um 2,2% gestiegen sei. Zwar gebe es in der DDR bei Importrohstoffen wie Baumwolle Schwierigkeiten, doch würden die dadurch ausgelösten Hamsterkäufe „nichts mit tatsächlichem und echtem Bedarf zu tun“ haben, sondern „auf das Konto der feindlichen Ideologie der BRD-Massenmedien“ gehen, „auf die leider ein Teil unserer Bürger hereingefallen“70 sei. Ende der 1980er Jahre verschärfte sich die Situation zusehends.71 Vor allem Industriewaren waren betroffen. 1987 urteilte die zuständige Ratsabteilung: 67 Interview mit Wolfgang P. am 21.6.2001. 68 Einschätzung der Mitgliederversammlungen im Monat September 1971, BLHA Bez. FFO Rep. 731/370 SED-KL Schwedt. 69 Vgl. Vorlage des Rates zur Jahreseingabenanalyse für den Zeitraum vom 1.10.1980 bis zum 30.9.1981, 30.10.1981, StdAS; Bericht des 1. Stellv. des OB über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger für den Zeitraum vom 1.11.1986 bis zum 31.10.1987, 26.11.1987, StdAS; Statistische Übersicht zur Arbeit mit den Eingaben der Bürger für den Zeitraum vom 13.10.1987 bis zum 15.10.1988, StdAS. 70 Diskussionsbeitrag des Abg. Wolfgang P[…] bei der SVV-Tagung, 18.1.1980, StdAS. 71 Vgl. zu den die Herrschaft destabilisierenden Folgen der Versorgungspolitik in den 1980er Jahren Christoph Boyer, Konsumgüterproduktion in der späten DDR im Spannungsfeld von
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„Insgesamt muß jedoch gesagt werden, daß bei wichtigen Waren keine Stabilität im Angebot und keine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr erreicht wurde. Dies betrifft insbesondere das Bekleidungssortiment, aber auch Haushaltsgeräte. Die dem Bezirk insgesamt zur Verfügung stehenden Fonds sind nicht bedarfsdeckend […].“72
Auch für Ingeborg M. stellte sich die Situation so dar, dass in dieser Zeit die Bevölkerung die Versorgungslage zu beklagen begann:
„Vielleicht etwas später als anderswo und nicht ganz […] so massenhaft […], weil die Menschen hier eben alle ’ne vernünftige Wohnung hatten und weil sie alle ’n gutes Einkommen hatten und Schwedt ja auch viele Jahre […] so ’n Sonderversorgungsprogramm hatte. Also wir haben auch manche Sachen zu kaufen gekriegt, die es in der Republik schon lange nicht mehr gab, aber dadurch war das alles ’n bißchen verdeckter, es explodierte nicht gleich so sehr. Aber gemerkt haben das die Menschen natürlich. Und sie wurden auch zunehmend unzufriedener.“73
Welche alltagspraktische Bedeutung die Verschlechterung des Warenangebots in den 1980er Jahren hatte – und auf welche Weise im übrigen Konsum die Erinnerung strukturieren kann –, zeigt sich in einer Schilderung aus dem Gespräch mit Marianne R. Sie erzählt von ihrer „Liste“, auf der vor Dienst- oder Urlaubsreisen Produkte notiert wurden, die von der Familie, von Verwandten oder Arbeitskollegen benötigt wurden. Im Jahr 1989 sei diese Liste „schon ein ganz langer Zettel“ gewesen – ein Zeichen für die schlechte Versorgungslage in den 1980er Jahren. Bei ihrem Urlaub in Thüringen hätten sie beim Einkauf keinen Erfolg gehabt:
„Wo wir hinkamen, gegrinst: ‚Haben wir nicht.‘ ‚Haben wir nicht.‘ […] Eierschneider – ‚haben wir nicht.‘ Eine Antenne hat mein Mann gesucht […] – ‚[haben] wir nicht.‘ […] Wirklich nichts mehr bekam man. Wir waren sehr, sehr unzufrieden. […] Es war unerhört.“74
Damit unterschied sich die Wahrnehmung der allgemeinen Versorgungskrise in dieser Zeit in Schwedt nur wenig von der in anderen Gebieten der DDR. Als industrieller Schwerpunkt wurde die Stadt zwar weiterhin besser beliefert, doch die Verschlechterung der Situation war auch auf dem höheren Schwedter Niveau erkennbar. Hinzu kamen die ausländischen Gäste und Bewohner, die von einem Teil der Bevölkerung vor allem im Konsumleben als ein ständiges Ärgernis betrachtet wurden. Auf der einen Seite waren dies die polnischen Besucher und Bauarbeiter, die in den späten 1970er und in den 1980er Jahren verstärkt in Schwedt einkauften. Nach Meinung vieler deutscher Einwohner nahmen die Polen den ansässigen Schwedtern die Waren „weg“ – in der Vorstellung der Kritiker hatten die polnischen Kunden Industriepolitik und Herrschaftsstabilisierung, in: Johannes Abele/Gerhard Berkleit/Thomas Hänseroth (Hrsg.), Innovationskulturen und Fortschrittserwartungen im geteilten Deutschland, Köln 2001, S. 131–144; Gernot Schneider, Lebensstandard und Versorgungslage, in: Eberhard Kuhrt/Hannsjörgf. Buck/Gunter Holzweißig (Hrsg.), Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 111–136. 72 Vorlage der Abt. Handel und Versorgung zur Einschätzung des erreichten Niveaus bei der Versorgung der Bevölkerung der Stadt mit Waren des täglichen Bedarfs und Industriewaren im I. Halbjahr 1987 und zu Schlußfolgerungen für die weitere Arbeit, 4.6.1987, StdAS. 73 Interview mit Ingeborg M. 74 Interview mit Marianne R.
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Philipp Springer
nicht das Recht zum Kauf insbesondere seltener Konsumartikel, weil diese nur den Einwohnern der Stadt zustehen würden. Neben einer latenten Ausländerfeindlichkeit zeigte sich hier eine Vorstellung von Konsum, die weniger an Markt- als an Zuteilungskriterien orientiert war und damit den zentralen politischen Konzepten entsprach – in der Mangelwirtschaft sollte nicht jeder, der das Geld aufbringen konnte, konsumieren dürfen, sondern nur derjenige, dem die Ware zustand. Dass zahlreiche Schwedter durch den Einkauf für entfernt wohnende Verwandte und Bekannte ebenso gegen die Mechanismen des „Zuteilungskonsums“ verstießen, konnte die Verbreitung der gegen polnische Kunden gerichteten Vorurteile allerdings nicht bremsen. Auf der anderen Seite schufen die durch den Aufbau von neuen Anlagen im PCK ebenfalls in der Stadt präsenten westlichen Ausländer mit ihren finanziellen und materiellen Mitteln einen ständigen Gegenentwurf zum Warenangebot, das der einheimischen Bevölkerung zur Verfügung stand. Eigene Geschäfte und Gaststätten im „Camp“ – dem abgeschotteten, nur für westliche Ausländer vorgesehenen Wohngebiet –, aber auch der „Intershop“ und der Modesalon „Exquisit“, die generelle Kaufkraft westlicher Währungen und die Präsenz westlicher Autos im Straßenbild hielten die Überlegenheit der westlichen Warenwelt nicht nur durch das Fernsehprogramm täglich im Bewusstsein.75 Selbst die Privilegierung Schwedts, die im übrigen in nicht unerheblichem Maße auch Folge der Anwesenheit der Ausländer war, konnte solchen Gegenbildern in den 1980er Jahren immer weniger entgegensetzen. Schluss Als im Alltag der Schwedter bedeutsames Element der SED-Herrschaftslegitimation verlor der Konsum seine Funktion. Lange Zeit hatten sich die Bewohner der Stadt als vom System Privilegierte betrachtetet – und zwar zurecht Privilegierte, besaßen doch die Betriebe, in denen die meisten von ihnen arbeiteten, ein enormes Gewicht für die gesamte Republik. In den 1960er und 1970er Jahren waren diese Versorgungsprivilegien, zu denen auch die bessere Wohnungsversorgung zählte, ein zentraler Stabilitätsfaktor. Durch die Kontrastierung der eigenen Situation mit der anderer Städte sahen die Bewohner ihre eigene Relevanz und die ihrer Stadt permanent bestätigt. Das Fundament war jedoch wenig stabil, zumal der Vergleich in der Alltagsrealität eine eher geringe Rolle besaß: Wer in der Kaufhalle vergeblich nach einem Produkt suchte, dem war es egal, ob man es anderswo noch seltener bekam. Hinzu kam, dass vor allem in den ersten beiden Aufbaujahrzehnten aufgrund schleppender Realisierung der Nachfolgeeinrichtungen die Bevölkerung oft lange auf geeignete Kaufhäuser und Geschäfte warten musste. Das Wissen, in einer privilegierten Stadt zu leben, sicherte in dieser Zeit demnach den Status Schwedts in erster Linie nach außen. Diese „Säule“ für das Selbstverständnis der Stadt ver-
75 Vgl. zum Beispiel Interview mit Manfred T.
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sprach jedoch nur so lange Stabilität, wie die SED-Herrschaftszentrale den Privilegienstatus sichern konnte. Und derartige Probleme deuteten sich an, als mit der Neuausrichtung der SEDPolitik in der ersten Hälfte der 1970er Jahre Schwedt die privilegierte Position verlor. So zum Beispiel im Bereich des Wohnungsbaus, wo auch in anderen Städten nun Großsiedlungen errichtet wurden. Der schleichende Verlust der herausragenden Stellung begann allerdings erst in den 1980er Jahren zu einer Bedrohung der Stabilität des Systems zu werden. Die sinkenden Rohölimporte aus der Sowjetunion ließen erkennen, dass die „goldenen Jahre“, die in Schwedt allerdings immer nur auf Kosten anderer Industriebranchen und auf Kosten der ökonomischen Gesamtsituation des Staates hatten „gelebt“ werden können, vorbei waren. Von nun an ließen sich in allen Bereichen des städtischen Lebens deutliche Anzeichen für die finale Wirtschaftskrise des Herrschaftssystems bemerken. Erstmals seit Beginn des Aufbaugeschehens geriet Schwedt in eine Phase der Stagnation, und die Versorgungslage verschlechterte sich – so wie überall in der DDR – rapide. Auch wenn der Status der privilegierten Stadt keineswegs völlig dahin war, so stellte diese Situation doch eine massive Identitätskrise dar, die schließlich mit dem Kollaps des gesamten Herrschaftssystems einherging. Zugleich erwies sich die mangelnde Urbanität der Stadt in zunehmendem Maße als Bedrohung für die Legitimation des Herrschaftssystems. In den 1960er Jahren waren die Menschen auf eine zukünftige „vollständige“ Stadt eingestimmt worden – ein Versprechen, das sich immer mehr als Illusion herausstellte. Hatte man zu Beginn die unzureichenden Bedingungen noch hingenommen, so fanden sich die Menschen seit Anfang der 1970er Jahre nicht mehr damit ab. Man könne in Schwedt nur wohnen, aber nicht leben, hieß es nun seitens vieler Bewohner kritisch über den Alltag in der Stadt. Die Stadtentwicklungspolitik hatte zu einer Zweiteilung Schwedts geführt, Nachfolgeeinrichtungen wurden erheblich verspätet errichtet – ein „Leben im Unfertigen“ war die Folge. Die veränderten Bedürfnisse – zum Beispiel der neue Wunsch nach einer sanierten Altstadt, in der man durch kleine Geschäfte „bummeln“ konnte, ließ sich mit den Mitteln des sozialistischen Planens und Bauens in Schwedt nicht realisieren. Am Ende der DDR hatte Schwedt die meisten seiner ursprünglichen Vorzüge gegenüber anderen Städten eingebüßt. Auch der in den 1960er Jahren noch Modernität und Wohlstand verheißende Konsumbereich konnte nun keine entsprechenden Visionen für das städtische Leben mehr entfalten. Als zentrales Identitätsmerkmal hatten die Bedingungen, Einrichtungen und Möglichkeiten des Konsums weitgehend ausgedient.
ALLTAGS- UND FESTKULTUR IN DER DDR DER 1960ER JAHRE Lu Seegers Einleitung „Nachdem die Ostseewoche in Rostock abgeschafft wurde, wurde Rostock irgendwie nach hinten durchgereicht. Da standen wir in der Liste der Städte – also da war ja Schwerin noch besser dran. Und das hat die Leute vergnatzt – denn es gab ja nun nichts Besonderes mehr,“
so der Rostocker Zeitzeuge Friedhelm Bohl.1 Das Zitat weist daraufhin, dass AllTag und Fest-Tag nicht voneinander getrennt zu sehen sind, sondern einander wechselseitig bedingen und somit eine lebensweltliche Einheit markieren. Feste überwinden und durchdringen den Alltag zugleich.2 Zum einen stellen Ereignisse wie Stadtjubiläen, Messen und Kulturveranstaltungen im städtischen Raum inszenierte außeralltägliche Ausnahmesituationen dar, mit denen Übereinstimmung und Gemeinschaftlichkeit erzeugt werden soll. Feste sind als „Ort des Anderen“, als „Ort einer Transzendierung des Alltags“3 zu begreifen, in denen das in den Handlungsroutinen des Alltags Ausgeblendete in inszenierten und symbolischen Formen in Erscheinung tritt und zu Emotionen und Besinnlichkeit führt.4 Dabei spielen Rituale wie z. B. die offizielle Übergabe von Geschenken eine große Rolle als Repräsentation gemeinsamer Interessen und gegenseitiger Verpflichtungen im Alltag. Zum anderen verweisen Feste und Feierlichkeiten aber stets auch auf alltägliche Wahrnehmungen sowie auf virulente Konfliktpotenziale in der städtischen Gesellschaft, die ihrerseits wieder auf den Alltag zurückwirken können.5
1
2 3 4 5
Interview mit Friedhelm Bohl. Der Beitrag stützt sich auf Ergebnisse, die in dem Forschungsprojekt der Volkswagen-Stiftung „Stadtrepräsentationen. Zum Verhältnis von urbaner Kultur und Herrschaftssystem im Deutschland der 1930er und 1960er Jahre“ am Historischen Seminar der Universität Hannover erarbeitet worden sind. Ich danke Daniela Münkel für Hinweise und Anregungen. Wolfgang Lipp, Gesellschaft und Festkultur. Großstadtfeste der Moderne, in: Paul Hugger u.a. (Hrsg.), Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, Stuttgart 1987, S. 231–249. Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch: Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Ders./Theo Sundermeier (Hrsg.), Das Fest und das Heilige. Religiöse Kontrapunkte zur Alltagswelt, Gütersloh 1991, S. 13–31, hier S. 13 u. 17. Adelheid von Saldern, Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, in: Dies. (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003, S. 9–58, hier S. 41. Ebd.
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In diesem Beitrag wird anhand von konkreten Beispielen der enge Zusammenhang zwischen Festkultur und städtischem Alltagsleben in der DDR der 1960er Jahre aufgezeigt und dabei nach herrschaftsstabilisierenden bzw. -destabilisierenden Wirkungen gefragt. Dabei soll es zunächst um die Bedeutung von städtischen Feiern als symbolische und praktische Bestätigung von gegenseitigen Verpflichtungen im „sozialistischen“ Alltag gehen. Im zweiten Teil werden mögliche Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Widersprüche zwischen Festtagsinszenierung und alltäglicher Realität aufgezeigt. Abschließend werden die Feste als Orte der Eskalation von alltäglichen Konflikten behandelt. Feiern als gegenseitige Verpflichtung im Alltag Schon Monate vor großen Ereignissen war der städtische Alltag vieler Menschen in der DDR durch die Teilnahme an diversen Vorbereitungen der Feierlichkeiten geprägt. Mehr noch: Die Organisatoren waren auf die Mitarbeit der Bevölkerung dringend angewiesen, sollten die Veranstaltungen gelingen. So wurde im Vorfeld der Internationalen Gartenbauausstellung (iga), die in Erfurt im Sommer 1961 zum ersten Mal stattfand, bereits seit Sommer 1960 in Form von Werbebroschüren und Versammlungen für die Mithilfe der Bevölkerung im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks geworben, um den vorhandenen Mangel an Arbeitskräften zu kompensieren.6 Zwar leisteten manche Menschen den Dienst im Nationalen Aufbauwerk nicht immer freiwillig, dennoch begriffen viele Erfurter Bürgerinnen und Bürger ihre monatelangen Anstrengungen für die iga nicht als anonymen Dienst für eine entfernte Institution in Berlin, sondern als konkrete Hilfeleistung für die Begrünung ihrer eigenen Stadt verbunden mit dem Stolz, eine internationale Ausstellung beherbergen zu können.7 Auch die 750-Jahrfeier der Stadt Rostock im Jahr 1968, die gemeinsam mit der jährlich veranstalteten Ostseewoche gefeiert wurde, galt im Vorfeld als eine Phase gesteigerter ökonomischer und kultureller Kräfteanspannung der Bevölkerung, die nicht zuletzt die Integration der Menschen in das gesellschaftliche System fördern sollte.8 Dies hatte darüber hinaus allerdings auch praktische Gründe, denn allein schon bei der aufwendigen Ausgestaltung der Stadt war die Stadtverwaltung mangels ausreichender Ressourcen auf die aktive Mithilfe der Menschen angewiesen. So führten die Wohnbezirksausschüsse Versammlungen durch, um die Bewohner von der Bedeutung der Feierlichkeiten zu überzeugen. Mit der Losung „Jeder eine gute Tat zum Geburtstag unserer Stadt“ wurde die Bevölkerung aufgerufen, durch die Verschönerung der Wohnbezirke, Naherholungsgebiete, Sport- und Kulturstät6 7 8
Siehe dazu Alice von Plato, „Gartenkunst und Blütenzauber“. Die Internationale Gartenbauausstellung als Erfurter Angelegenheit, in: Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 183–234, hier S. 194. Ebd., S. 196. Lu Seegers, „Die Zukunft unserer Stadt ist bereits projektiert“. Die 750-Jahrfeier Rostocks im Rahmen der Ostseewoche 1968, in: ebd., S. 61–106.
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ten an der Ausgestaltung der Stadt zur Festwoche aktiv teilzunehmen.9 Dabei waren die entsprechenden Aufrufe in der Presse nicht als strenge Gebote formuliert, sondern vielmehr als Aufforderungen an die Bürger, ihrerseits die Stadt zu „beschenken“. Die Stadt wurde auf diese Weise personifiziert, damit die Bürger sich stärker mit ihr, aber auch mit dem Staat identifizieren konnten. Unter den ökonomischen Bedingungen des Volkseigentums sollte den Bürgerinnen und Bürgern die Einsicht erwachsen, dass es nur die Freiwilligkeit der Leistungssteigerung sei, die der Gesellschaft als Ganzes zum Nutzen gereichte.10 Städtische Veranstaltungen und besonders Stadtjubiläen eigneten sich besonders gut für die Einlösung von „freiwilligen Verpflichtungen“, weil es dann um Leistungen ging, die meist im konkreten Lebensumfeld erbracht wurden. Zu solchen Ritualen gehörte ebenfalls, dass der Staat „seine“ Bürger beschenkte. In Rostock wurde anlässlich der 750-Jahrfeier die Übergabe der 20.000 Wohnung als Geschenk vom Staat an die Rostocker Bürger inszeniert. Eine ähnliche Funktion besaß die Eröffnung einer Mehrzweckhalle zum Stadtjubiläum in dem neuen Stadtteil Rostock-Lüttenklein. Diese Mehrzweckhalle beherbergte nicht nur Veranstaltungsräume für mehr als 800 Gäste und eine Gaststätte respektive Grillbar sondern auch eine Kaufhalle, die laut Presse „die modernste unserer Republik“ war, in der die Kunden auf einer Verkaufsfläche von mehr als 700 qm eine Vielzahl von Waren selbst auswählen konnten.11
Abb. 1: Die 1968 eröffnete „Mehrzweck-Halle“ in Rostock-Lüttenklein, Quelle: Stadtarchiv Rostock 9
Siehe: Willenserklärung der Bürgervertreter. Jeder eine gute Tat zur Vorbereitung der Ostseewoche und des Jubiläums, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 6.3.1968. 10 Siehe dazu Rainer Gries, „… deckt alle mit den Tisch der Republik“. Kleine Geschichte der Geburtstags-Geschenke, in Monika Gibas u.a. (Hrsg.), Wiedergeburten. Zur Geschichte der runden Jahrestage der DDR, Leipzig 1999, S. 86–91. 11 Ein Schmuckstück des Handels. Gestern Eröffnung der Mehrzweckhalle in Lütten-Klein/Acht Kassen machen’s schneller, in: Ostseezeitung vom 5.7.1968.
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Sie sollte auch nach dem Abschluss der Feierlichkeiten von der Einlösung des Versprechens auf ein besseres Leben im Sozialismus der DDR künden. In diesem Kontext hatte die Selbstbedienung – sie setzte sich auch in der Bundesrepublik gerade erst durch – eine besondere Bedeutung. Das Motto „Bediene Dich selbst!“ kündete nicht nur von der neuen Mündigkeit der Käufer, sondern wurde auch als Idealbild der zukünftigen, kommunistischen Gesellschaft antizipiert, in der sich alle nehmen können, was sie benötigen.12 Die Einführung von neuen konsumtiven Errungenschaften wie Kaufhallen und die damit einhergehende Verbesserung der Lebensverhältnisse wurde stets an außergewöhnliche Ereignisse wie Jahrestage und/oder Stadtjubiläen gekoppelt. Generell konnte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre stärker auf die materiellen Wünsche der Bevölkerung eingegangen werden als in der Zeit davor.
Abb. 2: Schaufenster in Rostock, Quelle: Stadtarchiv Rostock
Dementsprechend symbolisierte ab 1968 das sechsgeschossige „Centrum Warenhaus“ am Berliner Alexanderplatz nicht mehr das alleinige Schaufenster der DDR. Ein Jahr später kam das neu gebaute Kaufhaus „Konsument am Brühl“ in Leipzig dazu, dass Partei und Staat der Stadt im Vorfeld der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Republik geschenkt hatten.13 Gleichzeitig wurde in Magdeburg der Grundstein für ein „Centrum Warenhaus“ gelegt.14 Solche Warenhäuser und die ihnen inhärenten Versprechungen von Konsum und zunehmendem Lebensstandard dienten in nicht zu unterschätzendem Maße der Herrschaftslegitimation. Hier sollte 12 Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln etc. 1999, S. 15 u. 204. 13 Rainer Gries, Produkte als Medien. Kulturgeschichte der Produktkommunikation in der Bundesrepublik und der DDR, Leipzig 2003, S. 251. 14 Centrum Warenhaus Magdeburg. Heute Grundsteinlegung, in: Magdeburger Volksstimme vom 3.10.1969.
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für die Bürger, so das Kalkül der SED, alltäglich erfahrbar werden, dass sie im „besseren“ Teil Deutschlands lebten.15 Ebenfalls als Geschenk für den Alltag der Bürgerinnen und Bürger in Szene gesetzt wurde die Ästhetisierung der Hauptstadt sowie der Bezirksstädte Ende der sechziger Jahre. In Berlin wurde zum 20. Jahrestag der DDR 1969 der Fernsehturm am Alexanderplatz der Allgemeinheit übergeben. Als sozialistische „Höhendominante“ versinnbildlichte er technische Modernität und Konsumversprechen über die Festlichkeiten hinaus: „Die Geburtstagsfeier ist vorüber – der Alltag hat Einzug gehalten – die Berliner haben Besitz ergriffen vom neuen Alex“, hieß es in der „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI).16 In Rostock wurden Teile der Innenstadt anlässlich der 750-Jahrfeier aufwendig restauriert – zugleich erhielt die Stadt den „ersten Fußgängerboulevard“ der DDR in der Kröpeliner und der Breiten Straße.17 Im benachbarten Seebad Warnemünde wurde das neu erbaute Veranstaltungszentrum „Teepott“ eingeweiht., das sich durch eine „moderne Hyperschalenkonstruktion“ auszeichnete. Es markierte – wenn auch nicht explizit – die Wiedereröffnung des 1925 erbauten „Teepavillons“, der vor dem Zweiten Weltkrieg Touristen und die Warnemünder bzw. Rostocker Bevölkerung gleichermaßen angezogen hatte und im Mai 1945 komplett abgebrannt war.18
Abb. 3: Der „Teepott“ in Warnemünde um 1970, Quelle: Stadtarchiv Rostock 15 Vgl. Annette Kaminsky, Die Ungleichheit in der SBZ/DDR am Beispiel des Konsums: Versandhandel, Intershop und Delikat, in: Lothar Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S. 59–79, hier S. 59. 16 Alex-Bummel 1969, in: Neue Berliner Illustrierte, 1969, Nr. 44, S. 14–15 zitiert nach Rainer Gries, Rainer/Cordula Günther, »Jeden Tag ein neues Geschenk«. Gedanken zum Geschenkgestus in der DDR, in: Parteiauftrag: Ein Neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, hrsg. v. Dieter Vorsteher, Berlin, München 1997, S. 241–253, hier S. 246. 17 Boulevard mit Strickmuster zur 750-Jahrfeier, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 1.12.1967. 18 Diesen Hinweis verdankt die Verfasserin Friedhelm Bohl. Siehe auch: Ronald Piechulek, Teepavillon und Teepott – zwei Gebäude, ein Gedanke, in: Tidingsbringer, Bd. 6 (2001/2002), S. 38–40.
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Insgesamt dienten Wohnungsübergaben, Kaufhalleneröffnungen und Einweihungen von Gebäuden etc. als symbolische Bestätigung von Nähe und gemeinsamen Interessen, aber auch von wechselseitigen Verpflichtungen. Gerade diese Rituale sollten bei den Menschen das Gefühl erzeugen, den Alltag positiver zu sehen und auf ihre Stadt stolz zu sein. Zudem wurden die Feiern auf medialer Ebene – in zahlreichen Erinnerungsrückschauen in der Tagespresse – als Höhepunkte eines städtischen Gedächtnisses nochmals strukturiert und nachbereitet. Neben den Medien, die durch ihre Berichterstattung die Erinnerung formten, waren es auch zahlreiche Souvenirs die dafür sorgten, dass die Feiern im Gedächtnis der Menschen und damit auch im Alltag als schöne Ereignisse hängen blieben.19 Dies hing nicht zuletzt mit der gleichzeitig stattfindenden Ostseewoche zusammen, die zwischen 1958 und 1975 in Rostock ausgerichtet wurde. Sie war nach der Leipziger Messe das zweitgrößte internationale Ereignis der DDR, das jährlich bis zu 200.000 nationale und internationale Besucher anzog.20 Zudem galten Rostock und Umgebung als das Tourismuszentrum der DDR. Dies schlug sich auch im Alltag der Menschen nieder, in Form einer besseren Warenausstattung und einer gewissen Internationalität durch die zahlreichen ausländischen Besucher. Die Rostocker profitierten also auch in ihrem Alltag das ganze Jahr über von der Veranstaltung der Ostseewoche. Dementsprechend wurde die Lebensqualität in Rostock im Vergleich zu anderen Städten sehr hoch eingeschätzt.21 Mehr noch: Die Rostocker seien auf die Ostseewoche stolz gewesen und hätten sie gewissermaßen zu ihrer eigenen Sache gemacht, so der Tenor der befragten Zeitzeugen. Widersprüche zwischen Festtagsinszenierung und Alltag Gleichwohl bestand trotz oder gerade wegen der präsentierten Verbesserungen im Rahmen von städtischen Feiern ein Widerspruch zwischen der Festtagsinszenierung und der alltäglichen Realität, der auch öffentlichkeitswirksame Kritik und Ablehnung evozieren konnte. Dies war zum Beispiel bei der 850-Jahrfeier in Zwickau im Jahr 1968 der Fall. Zu diesem Anlass ließ etwa die Stadtverwaltung im Vorfeld des Jubiläums mit Hilfe von Sonderfonds die Außenfassade des Rathauses reinigen, das Theater ausbauen und einen neuen Marktbrunnen entstehen. 19 Allein auf der 750-Jahrfeier von Rostock gab es 110 verschiedene Artikel. Siehe: Oberbürgermeister schätzen Rostock. Sie sind beeindruckt von unserer Ostseemetropole, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 9.7.1968. 20 Die Rostocker Ostseewoche war 1958 als Konkurrenzveranstaltung zur traditionsreichen Kieler Woche initiiert worden. Unter dem Motto „Die Ostsee muss ein Meer des Friedens sein“, sollte die Ostseewoche dazu dienen, die Beziehungen zu den nordeuropäischen Staaten zu verbessern, den Friedenswillen der DDR zu bekunden und ihre internationale Anerkennung zu fördern. Siehe dazu allgemein: Michael F. Scholz, „Die Ostsee muß ein Meer des Friedens sein“ – Die Rostocker Ostseewochen in der Außenpolitik der DDR (1958–1975), Diss. Greifswald 1990. 21 Seegers, Zukunft, S. 97 f.
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Abb. 4: Der neue Marktbrunnen „Kinderreigen“ zur 850-Jahrfeier Zwickaus 1968, Quelle: Stadtarchiv Zwickau
Angesichts des Jubiläums zeigte sich, wie wichtig die Pflege der städtischen Bausubstanz zur Legitimierung des Rats der Stadt und der Stadtverordneten war. Diese Maßnahmen konnten jedoch nicht überdecken, dass das Stadtbild Zwickaus unter einer überalterten Bausubstanz und der Umweltverschmutzung durch den Kohleabbau erheblich gelitten hatte.22 An schmutzigen, tristen Fassaden, heruntergekommenen Gebäuden und wilden Müll- und Schuttplätzen auch in den Innenstadtbereichen hatten sich in den Jahren zuvor dementsprechend so große Unzufriedenheiten bei den Zwickauer Bürgern und Bürgerinnen entzündet, dass die Maßnahmen zur 850-Jahrfeier nur als der so genannte „Tropfen auf den heißen Stein“ empfunden wurden. So schilderte die Zwickauerin Wally Reiz in einem Brief an Oberbürgermeister Seifried ihre Freude über die Verschönerungsarbeiten im Zentrum der Stadt, versäumte aber nicht, auf die primitiven Bedürfnisanstalten im historischen Laubengang des Rathauses hinzuweisen, die einen Schandfleck für die Stadt darstellen würden.23 Auch CDU-Mitglied Roderich Kleemann äußerte in einem Brief an den Oberbürgermeister zunächst seine Freude über die Bemühungen der Stadtverwaltung, bevor er seiner Unzufriedenheit über die „ärmliche Ausstattung der neuen 22 Zur 850-Jahrfeier Zwickaus im Jahr 1968 siehe: Lu Seegers, Die Inszenierung Zwickaus als Vorreiterstadt. Stadtjubiläen im Nationalsozialismus und in der DDR (1935 und 1968), in: Adelheid von Saldern (Hrsg.) unter Mitarbeit von Lu Seegers, Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften 1935 bis 1965, Stuttgart 2005, S. 185–239. 23 Schreiben von Wally Reiz an Oberbürgermeister Gustav Seifried, 8.6.1968, Bl. 257 f., StA Zwickau, Akte 1439.
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Kaffeeterrasse der HO-Gaststätte ‚Goldener Anker‘ mit hässlichen Tischen und Stühlen“ Luft machte.24 Der Rat der Stadt versuchte, diese Unzulänglichkeiten zu überspielen, indem er Kleemann zur Mithilfe aufforderte. Er wurde gebeten, bei den Mitgliedern seiner Partei um Spenden für eine bessere Ausstattung des Cafés zu werben.25 Hier offenbarte sich eine Taktik des Rates der Stadt, die darin bestand, die Bürger für den Zustand der Stadt mitverantwortlich zu machen. Das ehrgeizige Gemeinschaftswerk der Zwickauer Bürger sollte durch die Masseninitiative „Mach mit – Zwickau wird schöner“ realisiert werden. Die Kampagne war Teil einer von der Nationalen Front gesteuerten Aktion unter dem Titel „Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit“.26 Sie sollte die Anstrengungen der Stadtverwaltung massenwirksam dokumentieren und die Bevölkerung zur Mitarbeit motivieren. Mit Hilfe der Losung „Ziel ist eine schöne Stadt, dass jeder seine Freude hat“ sollte Zwickau sauberer, farbenfroher und grüner werden,27 ohne dass geklärt wurde, woher die Menschen die bunte Farbe überhaupt bekommen sollten. Zugleich boten städtische Veranstaltungen den Bürgern günstige Möglichkeiten, um Missstände vor Ort durchaus öffentlichkeitswirksam zu kritisieren und damit eventuell Verbesserungen im Alltag zu erreichen. So prangerte eine Frau in einem Leserbrief im Vorfeld der iga 1969 die schmutzigen Gaststätten an. Sie berief sich dabei auf das Postulat der Erfurter Stadtverwaltung, die iga zum Stolz der Stadt zu machen und fühlte sich deshalb gegenüber Besuchern persönlich blamiert.28 Ähnliche Probleme gab es in Rostock, auch wenn die Stadt schon seit Ende der fünfziger Jahre enorm von den Ostseewochen profitieren konnte und durch ihre Ausrichtung nach Berlin und Leipzig zur drittwichtigsten Stadt der Republik wurde. Dies war im Kampf um einen Platz in einer tabuisierten, aber dennoch realen Hierarchie der Städte in der DDR und damit um finanzielle Ressourcen ein großer Erfolg, denn die Städte in der DDR verfügten nur über geringe Eigeneinnahmen und finanzierten sich im Wesentlichen durch Zuweisungen aus dem Staats- und Bezirkshaushalt.29 Die Bedeutung Rostocks für die DDR zeigte sich nicht nur in der Ausgestaltung und Pflege, sondern auch im ständigen Ausbau der Infrastruktur. Ganze Straßenzüge wurden für die Ostseewochen erneuert und 1967 entstand mit dem Hotel Warnow eines der größten Interhotels der DDR.30 Als „Schaufenster nach 24 Schreiben von Roderich Kleemann an den Rat der Stadt Zwickau, 29.6.1968. Bl. 56, StA Zwickau, Akte 1439. 25 Schreiben vom Rat der Stadt Zwickau, Abteilung Handel und Versorgung an den 1. Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Kurt Werner, 15.7.1968, Bl. 54, StA Zwickau, Akte 1439. 26 Erika Lieser-Triebnigg, Die Stellung der Gemeinden in der DDR, Melle 1988, S. 34. 27 Bericht an die 14. Stadtverordnetenversammlung, 28.3.1968, Bl. 37, StA Zwickau, Akte 4618. 28 Alice von Plato/Lu Seegers, Städte, Stadtrepräsentationen und Medien in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: Daniela Münkel/Jutta Schwarzkopf (Hrsg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Adelheid von Saldern, Frankfurt/Main etc. 2004, S. 369–380, hier S. 376. 29 Sighard Neckel, Kommunale Herrschaft im Staatsozialismus der DDR, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21 (1992), H. 4, S. 252–268, hier S. 257. 30 Karsten Schröder/Ingo Koch (Hrsg.), Rostocker Chronik. Ein Streifzug durch das 20. Jahrhundert in Bildern und zeitgenössischen Pressestimmen, Rostock 1999, S. 294.
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Skandinavien“ und als Konsensstrategie nach innen wurden Leistungen für die Bevölkerung wie z. B. das breite Warenangebot in den Geschäften präsentiert, das den hohen Lebensstandard in der DDR demonstrieren sollte. Deshalb wurde auch peinlich darauf geachtet, dass es während der Ostseewoche nirgendwo zu „Schlangenbildungen“ vor den Geschäften kam, die gleichsam für den Mangel in sozialistischen Gesellschaften standen. Schlangenbildungen waren ein Politikum, weil sie Rückschlüsse auf den Gesamtzustand der Gesellschaft geradezu herausforderten.31 Zumindest während der Ostseewochen sollte Rostock zum Ort der Inszenierung einer idealtypischen sozialistischen Republik avancieren. Obwohl die Menschen sich offensichtlich über die zur Ostseewoche gut versorgte, saubere und geschmückte Hansestadt freuten, ließen sich auch hier längerfristig die schwerwiegenden Probleme der Stadtverwaltung nicht verdecken. Jedes Jahr wurde ein Maßnahmenkatalog erstellt, der von einem der Hauptdefizite der Kommunalverwaltungen der DDR – der Verschmutzung und Vernachlässigung der Städte – ablenken sollte. Dazu gehörte die Beseitigung illegaler Müllhaufen ebenso wie Fassadenreinigungen, Straßenausbesserungen, Parkbankbemalungen und Blumenbepflanzungen.32 Dennoch setzte bei der Bevölkerung im Laufe der Jahre eine gewisse Ermüdung ein, was die Dekoration der Stadt betraf. Man sei es irgendwann einfach satt gewesen, so der Diakon und Stadtjugendwart Martin Herrbruck, dass alle Reparaturen und Verschönerungen aufgrund der Verwendung mangelhafter Materialien im nächsten Jahr wieder durchgeführt werden mussten.33 Ebenfalls ambivalent schienen manche Menschen der Diskrepanz zwischen der enormen Warenvielfalt bei Großveranstaltungen wie der Ostseewoche oder der Internationalen Gartenbauausstellung in Erfurt auf der einen Seite und dem knappen Angebot im Alltag auf der anderen Seite gegenüber zu stehen. In Rostock wurde beispielsweise gelegentlich moniert, dass während der Ostseewochen begehrtes Obst wie Bananen weggeworfen wurden, die sonst nicht im Handel waren. Während man sich einerseits freute, dass es anlässlich der Festivitäten im Alltag rare Waren gab, stellten sich manche Bürger andererseits die Frage, warum es nicht auch in normalen Zeiten mehr zu kaufen gab.34 Solche Beschwerden wurden auch anlässlich der iga in Erfurt vorgebracht. Im Jahr 1971 machte dies eine Besucherin der Gartenbauausstellung auf einer Postkarte an die Organisatoren deutlich: „Die Gartenbauausstellung ist wirklich ein Erlebnis, aber auch ein schmerzliches. Wenn man das schöne Obst u. Gemüse sieht, es lacht das Herz, aber, aber. Warum kommt so etwas nicht in den Handel? […] Ich spreche im Namen vieler, die genauso denken wie ich.“35
Die genannten Beispiele zeigen das Dilemma der Festtagsinszenierung im städtischen Raum der DDR auf. Die Festtage mussten auf der einen Seite außeralltäg31 Merkel, Utopie, S. 279 f. 32 Informationen an den Oberbürgermeister über den Stand der Vorbereitung zur 750-Jahrfeier, 9.5.1967, n.p., StA Rostock, Rep. 2.1.1., Akte 5214. 33 Interview mit Martin Herrbruck, 17.3.2001. 34 Rat der Stadt Rostock, Abteilung Örtliche Versorgungswirtschaft, Informationsbericht Nr. 7, 14.7.1966, S. 2, StA Rostock, Rep. 210, Akte 5856. 35 Postkarte vom 29.9.1971 ohne Anrede oder Absenderangabe, ThHStA Gotha, 92–108, zitiert nach Plato, Gartenkunst, S. 213.
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liche Qualitäten haben, um gemeinschaftsstiftend und repräsentativ zu wirken. Auf der anderen Seite verwies die Festtagsinszenierung aber immer auch auf Mängel des Systems und Probleme im Alltag, die angesichts einer kurzzeitigen Verbesserung der Situation um so mehr ins Auge stachen. Zugleich boten die Feste aber stets auch willkommene Anlässe, um mit Verweis auf ihre repräsentative Bedeutung auf Vernachlässigungen im Alltag hinzuweisen. Die Stadtverwaltungen sowie die SED sahen sich dadurch unter Druck gesetzt, auf solche Kritik zu reagieren. Gesellschaftliche Konfliktpotenziale im Fest Städtische Festveranstaltungen wie Stadtjubiläen – auf der lokalen Ebene politisch und propagandistisch zu Kristallisationspunkten stilisiert – stellten stets auch sensible Stimmungsbarometer dar. Die Organisatoren von Stadtfeiern und die Sicherheitskräfte waren deshalb bemüht, jede Form von Störung zu verhindern, die das Bild der positiven Atmosphäre hätte stören können. Bekanntlich bieten Feste und Feiern solche außeralltäglichen Gelegenheiten, in welchen sich im Alltag angestaute Unmutgefühle besonders unter Alkoholeinfluss und in größeren Menschenmengen entladen können. So hatte 1960 beispielsweise eine Rangelei unter so genannten jugendlichen „Rowdies“ beim Pressefest der „Lausitzer Rundschau“ in Cottbus zu einer Massenschlägerei geführt. Ähnliche Vorkommnisse dieser Art hatte die Volkspolizei im selben Jahr beim „Schlossteichfest“ in Karl-Marx-Stadt sowie beim „Herbst-Fest“ in Dresden zu verzeichnen.36 Es waren in den sechziger Jahren zumeist Cliquen von so genannten Beat-Jugendlichen, die auch im Alltag in den Augen der SED und der Volkspolizei die öffentliche Ordnung störten. Dementsprechend zielte die Überwachung solcher jugendlichen Gruppierungen vor allem auf die Verhinderung von Fehlverhalten in lokalen Öffentlichkeiten wie Stadtzentren, Gaststätten und Vergnügungsplätzen. Die Überwachung potenzierte sich, wenn herausragende festliche Ereignisse wie eben z. B. Stadtjubiläen anstanden, denn die Beat-Jugendlichen galten als potenzielle „Gefahrenherde“.37 Nach einer Demonstration von „Beat-Jugendlichen“ bei der 800-Jahrfeier in Leipzig im Oktober 196538, die sich gegen das Spielverbot von über 50 Amateurmusikgruppen richtete, wurden fortan große Veranstaltungen von den Sicherheitskräften immer auch als Vorwand und Anlass genutzt, um die Jugendlichen als „innere Feinde“ zu stigmatisieren und zu kriminalisieren, um sie vom öffentlichen Geschehen fern zu halten.
36 Siehe dazu Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln etc. 2003, hier S. 374. 37 Ebd., S. 435. 38 Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in der Erziehungsdiktatur, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 404–425, hier S. 408. Siehe auch Elfie Rembold, „Mein Leipzig lob ich mir, weil wir die Hausherr’n sind“. Das Stadtjubiläum von 1965, in: Saldern, Inszenierte Einigkeit, S. 313–354, hier S. 346–350.
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Abb. 5: Pressefest der „Freien Presse“ in Zwickau 1968, Quelle: Stadtarchiv Zwickau
Nicht in die positive Festtagsatmosphäre der Zwickauer 850-Jahrfeier passten zum Beispiel jene 30 bis 40 Jugendlichen der Clique „Lutherspinne“, die sich seit Mitte der sechziger Jahre zunächst bei der Lutherkirche und später im Stadtzentrum trafen, um öffentlich Beatmusik zu hören. Auch in einigen Gaststätten und Kulturklubs der Stadt soll die Clique für Unruhe und Schlägereien gesorgt haben. Dies war insbesondere im „Klub der Nationalen Front“ der Fall gewesen, wo die Jugendlichen nicht nur anderen Gästen den Platz wegnahmen, sondern, wie es in einer Einschätzung der Volkspolizei hieß, auch mit zahlreichen „labilen Elemente“ zusammentrafen, „die unter dem Einfluss von Alkohol Staatsverleumdungen und hetzerische Äußerungen“ machten.39 Zwar waren die so genannten „Rädelsführer“ der Gruppe bereits 1966 wegen „rowdyhafter“ Handlungen in Form von Sachbeschädigungen, 39 Volkspolizeikreisamt Zwickau, Abteilung Kriminalpolizei, Situationsbericht über die jugendliche Gruppierung „Lutherspinne“ zwecks Auswertung mit gesellschaftlichen und staatlichen Organisationen und Institutionen, 25.1.1968, n.p., HStA Chemnitz, IV B – 4/21/017.
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Körperverletzung und Diebstahl verhaftet worden. Dennoch strahlte die Popularität der Gruppe in den folgenden Jahren auch auf Jugendliche in anderen Stadtteilen und sogar im Kreisgebiet aus. Ferner wurden dem Kern der „Lutherspinne“ Verbindungen zu als besonders gefährlich eingeschätzten „langhaarigen“ Jugendlichen in Berlin nachgesagt. Die 850-Jahrfeier bot einen willkommenen Anlass, um die Gruppe im Vorfeld zu zerschlagen, zumal die Jugendlichen von der Kreisleitung der SED Zwickau-Stadt als ein erheblicher Unsicherheitsfaktor für die Feierlichkeiten eingeschätzt wurden.40 Vehementer noch als in Zwickau wurde in Rostock im Vorfeld der Ostseewochen mit auffällig gewordenen Personen verfahren. 1967 wurde gegen acht „asoziale“ Bürger durch Ratsbeschluss ein Verfahren auf Arbeitserziehung bei der Staatsanwaltschaft Rostock eingeleitet und Haftbefehle erwirkt. Zum Schutz der Gesundheit der Gäste wurden 27 Frauen, denen häufig wechselnder Geschlechtsverkehr nachgesagt wurde, einer geschlossenen Krankenanstalt zugeführt.41 Für diese Menschen stellte die Ostseewoche geradezu eine Bedrohung ihres städtischen Lebensraums dar. Als besondere Risikogruppe wurden auch hier jene Jugendliche betrachtet, die als „arbeitsscheu“ beziehungsweise als Anhänger der Beatbewegung galten. Deshalb führte die Kriminalpolizei kurz vor der Ostseewoche 1967 mit 44 Jugendlichen Aussprachen über ihr bisheriges Verhalten durch, verbunden mit der Aufforderung, ihr Leben entsprechend den Normen der „sozialistischen Lebensweise“ einzurichten. Ferner behielt die Polizei das Gebiet um den Hauptbahnhof vor und während der Festwoche unter besonderer Kontrolle, um „umherstreunende“ Jugendliche aus der Innenstadt fern zu halten und der Jugenddurchgangsstation Bramow zu überstellen.42 Als besonders gefährlich wurden „Beat-Anhänger“ aus Berlin eingestuft. In Rostock durfte auch und gerade während der Ostseewoche „kein Platz für Gammler“ sein. In einem gleichnamigen Artikel in der „Ostseezeitung“ wurden bereits im Jahr 1967 mehrere „Gammler“ bzw. „Arbeitsbummelanten“ und ihre Kriminaldelikte als abschreckende Beispiele beschrieben. Implizit macht der Artikel die Sorge deutlich, dass diese Jugendlichen insbesondere die Ostseewochen zu „Krawallen“ nutzen konnten. So hieß es beispielsweise über den straffällig gewordenen Klaus K. „Maurerlehre nicht beendet, richterliche Verwarnung wegen Diebstahls und Hehlerei, häufiges Wechseln der Arbeitsstelle, Bummelei. Wenn er nicht arbeitete, lebte er auf Kosten der Mutter. Vom Juni bis November 1966 rührte er überhaupt keine Hand. Verzogen, schlapp aber blasiert, einen ‚Helden‘ markierend, stand er vor dem Richter. Im vorigen Sommer ist er dreimal nach Berlin getrampt, hat dort Verbindung zu Gammlern aufgenommen und sie zur Ostseewoche 1966 eingeladen. Man veranstaltete Partys in der mütterlichen Wohnung, randalierte, pöbelte im CENTRUM anständige Menschen an und vergaß nur zu arbeiten. […] Arbeitsbummelanten gefährden die öffentliche Ordnung und Sicherheit. Dazu kommt, dass sie sich zusammenrotten
40 Ebd. 41 Nach dem Bau des Überseehafens hatte die Prostitution in Rostock erheblich zugenommen. Dazu Uta Falck, VEB Bordell. Geschichte der Prostitution in der DDR, Berlin 1998, S. 153– 155. 42 Rat der Stadt Rostock, Informationsgruppe, Abschlußbericht für die Jubiläums-Ostseewoche 1967, 31.7.1967, Bl. 145f, LA Greifswald, Rep. 210, Akte 119.
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(man erkennt sich ja an der Gammleruniform), Passanten anpöbeln und bei gesellschaftlichen Höhepunkten demonstrativ in Erscheinung treten (zum Beispiel bei der Ostseewoche).“43
Abweichende Verhaltensweisen, die im städtischen Alltag der DDR nicht immer kontrolliert werden konnten, sollten auch und gerade während repräsentativer, städtischer Ereignisse unterbunden werden. Insofern ragten hier die Konfliktpotenziale des Alltags in die Festlichkeiten hinein bzw. verwies ihre starke Unterdrückung während der Veranstaltungen auf ihre Relevanz im Alltag. Die Sanktionen gegen Menschen, die der sozialistischen Gesellschaftsordnung und dem sozialistischen Menschenbild nicht entsprechen wollten oder konnten, fanden zumeist im Vorfeld oder abseits des Festgeschehens statt.44 Dennoch waren solche Restriktionen allseits bekannt. Jeder habe gewusst, so der Zeitzeuge Hans Georg Bohl, dass die Sicherheitskräfte mit auffälligen Personen besonders während der Ostseewochen nicht gerade zimperlich umgegangen seien.45 Das Machtmonopol der SED musste besonders zu dieser Zeit im öffentlichen Raum aufrechterhalten werden. Zusammenfassung Die sechziger Jahre markierten für viele Bürger der DDR trotz des Mauerbaus und der damit verbundenen Freiheitsbeschränkungen eine Zeit der Hoffnung. Es zeigte sich eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards und zumindest in der ersten Hälfte des Jahrzehnts eine stärkere Bereitschaft der Herrschaftsträger, die Integration der Menschen in das politische System durch weniger repressive Mittel als in den fünfziger Jahren zu erreichen.46 Insbesondere Stadtfeiern eignen sich gut, um Integrations- und Konsensstrategien, die auf Gemeinschaftsbildung durch kollektive Praktiken auch im Alltag angelegt sind, deutlich zu machen. Dazu gehörte die Teilhabe der Bevölkerung an den Vorbereitungen der Feiern etwa durch die „Mach-Mit-Aktionen“. Sie sollten nicht zuletzt das „Heimatgefühl“ der Bevölkerung vertiefen und die Identifikation der Bürger mit ihrer sozialistischen Stadt stärken. Durch die Übergabe von Leistungen und Geschenken wurde die gegenseitige Verbundenheit und Verpflichtung von Staat, Stadt und Bevölkerung sowohl im Vorfeld als auch in der medialen Nachbereitung der Feierlichkeiten in Szene gesetzt. Und es waren gerade die Erinnerungen, nicht nur an das Fest, sondern auch an die Vorbereitungen, die bei den Menschen vielfach als Scharnier zwischen Alltag und Feiertag fungierten. 43 Kein Platz für „Gammler“, in: Norddeutsche Neueste Nachrichten, 29.8.1967, abgedruckt in: Schröder/Koch, S. 295. 44 Dies war auch bei den Weltfestspielen der Jugend in Berlin im Jahr 1973 der Fall. Mehr als 30.000 Personen waren dazu seit 1972 überprüft worden. In der gesamten DDR wurden „Asoziale“, „Geisteskranke“, vorbestrafte Personen sowie „HWG-Personen“ regelrecht „eingesammelt“. Vgl. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971– 1989, Bonn 1998, S. 165. Siehe auch: Marc-Dietrich Ohse, Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961–1974), Berlin 2003, S. 351 f. 45 Interview Bohl. 46 Saldern, Herrschaft, S. 10 f.
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Die Akteure der Kommunalpolitik nutzten ihrerseits die Feiern, um ihre Fähigkeiten zur Lösung von Strukturproblemen unter Beweis zu stellen und sinnlich erfahrbar zu machen. Die geglückte Organisation glanzvoller Feiern sollte als Symbol für die gesamtgesellschaftliche Gestaltungskraft aufgefasst werden. Zugleich galt es, die Verbundenheit vieler Bürger mit ‚ihrer‘ Stadt auf den Staat zu transferieren. Die bessere Warenversorgung während der Feiern war ebenfalls als Symbol für eine positive Weiterentwicklung der Konsumgesellschaft und als Utopie einer besseren, bald zu erreichenden Zukunft zu verstehen. Anzunehmen ist, dass die Feiern insbesondere in den sechziger Jahren durchaus in diesem Sinne wirkten. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungen wie die Ostseewochen zur Steigerung des Lebensgefühls und zur Akzeptanz des Systems im Alltag beitrugen. Doch konnte auch ein umgekehrter Effekt eintreten. Sollten die Mängel des Alltags im Fest überdeckt werden, so konnte diese Inszenierung aber auch gerade zu deren Bewusstmachung führen. Dabei wurden Mißstände, die sich nicht nur in Versorgungsengpässen, sondern auch in der Vernachlässigung der Städte zeigten, weniger der Stadtverwaltung als vielmehr dem Staat zugeschrieben. Insofern konnten die Feiern punktuell auch im Alltag eher herrschaftsdestabilisierend nachwirken. Eine destabilisierende Wirkung befürchteten die Verantwortlichen in den sechziger Jahren auch, wenn die unbeliebten Beat-Jugendlichen Festivitäten unversehens als Gegenbühnen nutzten. Die Feste sind insofern immer auch als Kristallisationspunkte von im Alltag virulenten gesellschaftlichen Konflikten zu betrachten. Nicht umsonst versuchten die Sicherheitskräfte daher im Vorfeld großer Veranstaltungen, im Alltag auffällig gewordene Cliquen zu zerschlagen. Doch ließ sich dadurch nicht verhindern, dass sich viele Jugendliche eben nicht mehr in fest gefügte Veranstaltungsformen einpassen ließen. Sie wollten selbst gestalten und sich sowohl im Alltags- als auch im Festgeschehen Freiräume schaffen.
DIE PRODUKTION DES STÄDTISCHEN RAUMS DURCH MASSENMEDIALE ERZÄHLPRAKTIKEN: DER FALL NOWA HUTA Łukasz Stanek Dieser Aufsatz behandelt die massenmedialen Repräsentationen von Nowa Huta, einer nach dem Zweiten Weltkrieg vom sozialistischen Regime errichteten Stadt in Polen, und geht deren Wirkungen auf die Wahrnehmung, das Verständnis, den Umbau, Gebrauch sowie den Aneignungen des städtischen Raums in den letzten fünfzehn Jahren nach.1 Da die nach 1989 in den Massenmedien herausgestellten Repräsentationen grundsätzlich aus der sozialistischen Epoche übernommen wurden, wird vor allem nach deren Persistenzen und Transformationen gefragt. Diese Fragestellung verlangt methodisch nach einer systematischen Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Repräsentationen des Raums und den Praktiken seiner Aneignung und Transformation. Eine Methode, die diesem Anspruch genügt, soll hier aus der Theorie der Produktion des Raums von Henri Lefebvre gewonnen werden. Nach Lefebvre werden Räume durch drei Formen von Praktiken hergestellt: Dabei handelt es sich erstens um die physische Transformation von Räumen, zweitens um Praktiken der Repräsentation von Räumen und drittens um Alltagspraktiken ihrer Aneignung. Die erstgenannten Praktiken wirken auf den wahrgenommenen Raum, die zweiten auf den gedachten Raum und die dritten transformieren Räume in gelebte „Räume der Repräsentation“.2 Lefebvres Bestimmung der Repräsentationen der Räume als deren institutionalisierte Konzeptualisierungen erfasst die hier untersuchten massenmedialen Repräsentationen von Nowa Huta angemessen.3 1
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Die hier vorgestellten Überlegungen wurden zuerst auf der Konferenz „The Work of Stories“ am Massachusetts Institute of Technology (6. – 8. Mai 2005) vorgestellt. Ich danke mehreren Kollegen für hilfreiche Hinweise. Eine erste Fassung dieses Aufsatzes wurde unter Anleitung von Ewa Kuryłowicz (Technische Universität Warschau) ausgearbeitet. Das hier ausgebreitete Verständnis der Theorie Henri Lefebvres zur Produktion von Raum basiert auf einem Forschungsaufenthalt an der ETH Zürich unter Anleitung von Ákos Moravánszky und auf intensiven Gesprächen mit Christian Schmid. Ich danke Brent Batstra (TU Delft), Christine Boyer (Princeton University), Arie Graafland (TU Delft) und Patrick Healy (TU Delft) für ihre sorgfältige Lektüre und Hinweise sowie Christoph Bernhardt für die Übersetzung. Vgl. die Interpretation von Lefebvres Theorie der Produktion von Raum in: Łukasz Stanek, The theory of production of space by Henri Lefebvre (Manuscript, Department Architecture Theory ETH Zurich 2004). Zu den „Repräsentationen des Raumes“ (auch als „mentaler Raum“ bezeichnet) zählt Lefebvre die von Planern und Städtebauern entworfenen Repräsentationen (Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991, S. 38) ebenso wie philosophische (Vgl. Ebenda, S. 1–7) und wissenschaftliche Raumtheorien (Ebd., S. 107 f.). Lefebvre betont die Gefahr von ideologis-
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Lefebvres Theorie des „gedachten Raums“ als eines Aspektes des städtischen Raums (der also nicht nur dessen Reflex oder Symptom bildet) ist für die Untersuchung von Nowa Huta, einer in engem Zusammenhang mit massenmedialen Repräsentationen gegründeten und entwickelten Stadt, besonders hilfreich. Heute ist Nowa Huta weder eine administrativ noch räumlich klar fixierbare Einheit, sondern was die als „Nowa Huta“ bezeichneten fünf Bezirke von Kraków zusammenhält, ist eine Reihe von Repräsentationen, die stark in verschiedenen sozialen Praktiken verwurzelt sind. Darüber hinaus ist Lefebvres Sensibilität für asynchrone Entwicklungen der städtischen Raume und für die Persistenzen ihrer Repräsentationen (die von sozialen Praktiken weitergetragen werden, auch wenn ihre institutionellen und ideologischen Stützen verschwunden sind) sehr hilfreich für die Analyse der Kontinuität und der Transformationen der aus dem Sozialismus stammenden Repräsentationen von Nowa Huta. Die Lefebvresche Auffassung des Raumes als durch heterogene soziale Praktiken produziert, ermöglicht es, sowohl die legitimierenden als auch die subversiven Funktionen der räumlichen Repräsentationen in den Alltagspraktiken in Nowa Huta unter dem Sozialismus zu untersuchen wie auch die Mechanismen ihrer Mobilisierung in den vielfältigen Machtkonstellationen nach 1989 zu verstehen. In seiner „Kritik des Alltagslebens“, dessen erster Band bereits 1947 veröffentlicht wurde, beschrieb Lefebvre, wie solche Repräsentationen, die mit dem Ziel der Stützung der Machtverhältnisse eingeführt wurden, die Alltagspraktiken, den Sprachgebrauch, die Nutzung der Räume und die damit verbundenen Erfahrungen durchdringen.4 Zugleich stellte er stets die Möglichkeit einer völligen Dominanz des Raums durch politische oder ökonomische Mächte in Frage. Daher untersuchte er auch die subversive Momente in den Alltagspraktiken und das emanzipatorische Potential städtischer Räume. Diese allgemeine Perspektive soll auch die hier vorgenommene empirische Untersuchung zu Nowa Huta leiten. „Die erste sozialistische Stadt in Polen“ – die Repräsentationen von Nowa Huta während des Sozialismus Der Bau von Nowa Huta, der „ersten sozialistischen Stadt in Polen“, begann 1949 in Umsetzung eines Beschlusses der sozialistischen Regierung. Die Stadt wurde 10 Kilometer entfernt von Kraków, der historischen Hauptstadt Polens, als unabhängige Industriestadt für die Arbeiter des Stahlwerkes gebaut5 und bereits 1951 ein
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chen Mobilisierungen der Repräsentationen des Raumes (Ebd., S. 44) und ihrer Abhängigkeit von sozialen und ökonomischen Beziehungen (Ebd., S. 3). Repräsentationen des Raumes sind institutionell verfasst da sie „gebunden sind an die Produktionsverhältnisse“ und eine „‚Ordnung‘, die diese Verhältnisse herstellen“ (Ebd., S. 33). Sie sind zudem systemisch, da sie die Beziehungen zwischen den „Objekten und Personen im repräsentierten Raum“ einer „Logik“ unterwerfen und daher einer Konsistenz bedürfen, obwohl diese stets in Frage gestellt werden kann. (Ebd.). Henri Lefebvre, Critique de la vie quotidienne, 3 Bände, Paris 1947/62/81. Der Name der Stadt – Nowa Huta – bedeutet auf Polnisch „Neue Stahlwerke“.
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Bezirk von Kraków.6 Der Entscheidung zum Bau der neuen Stadt folgte eine massive Propagandakampagne in den staatlich kontrollierten und zensierten Massenmedien. Die Gründe für die Standortwahl werden noch immer kontrovers diskutiert, doch stimmt die historische Forschung heute weitgehend darin überein, dass ökonomische wie politische Gründe – das Ziel, die Sozialstruktur der konservativen Stadt Kraków zu verändern – eine Rolle spielten.7 Die ersten Häuser wurden 1949 gebaut und das Stahlwerk offiziell als „Leninwerke“ 1954 eröffnet. Während der Nachkriegsjahre kamen aus dem ganzen Land, überwiegend jedoch aus ländlichen Regionen, viele junge Leute nach Nowa Huta, die von den Möglichkeiten zur Ausbildung, Arbeit und Unterkunft angezogen wurden. Der Bebauungsplan für die Stadt beruhte auf dem in der Planungstheorie der 1940er Jahren grenzüberschreitend maßgeblichen Konzept der Nachbarschaftseinheit (vgl. Abb. 1). Der Nowa Huta prägende Architekturstil des sozialistischen Realismus wurde in den 1960er Jahren zugunsten einer reduzierten Variante der Nachkriegsmoderne aufgegeben.8 Nach der politischen Wende von 1989 sahen sich die Stahlwerke (seit 1990 „Sendzimir Stahlwerke“ benannt) massiven wirtschaftlichen Problemen gegenüber, und das Gebiet wurde zunehmend in Zusammenhang mit Kriminalität und Arbeitslosigkeit gebracht. Da die offizielle Statistik diese Verbindung nicht stützt,9 sprechen Soziologen von einer „auffälligen Differenz zwischen der Statistik und der Wahrnehmung der Einwohner“ und vom Mechanismus einer „self-fulfilling prophecy der sozialen Krise“.10 Die folgende Untersuchung soll zeigen, dass sowohl die Struktur wie die Inhalte der medialen Repräsentationen von Nowa Huta zu diesem Mechanismus beigetragen haben.
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Nach der Verwaltungsreform von 1991 wurde Nowa Huta in fünf kleinere Bezirke (XIV, XV, XVI, XVII, XVIII) geteilt. Nach den Angaben der Stadtverwaltung in Kraków betrug 2005 die Einwohnerzahl dieser Bezirke 200.000, die Krakows insgesamt 800.000). 7 Vgl. Jacek Salwiński, Decyzja o lokalizacji Nowej Huty pod Krakowem. Stan wiedzy, in: J.M Małecki (Hrsg.), Narodziny Nowej Huty: materiały sesji naukowej odbytej 25 kwietnia 1998 roku/Towarzystwo Miłośników Historii i Zabytków Krakowa, Kraków 1999, S. 77–94. 8 Zur Diskussion des städtebaulichen Konzeptes von Nowa Huta vgl. Stanisław Juchnowicz, Nowa Huta, a Relict of the Past or a Chance for Cracow, in: IX International Biennale of Architecture, Kraków 2002, S. 26–39; sowie Ilse Irion/Thomas Sieverts, Neue Städte. Experimentierfelder der Moderne, Stuttgart 1991. 9 Vgl. 03.03; 04.04; 04.11. Diese Zahlen beziehen sich auf die Bibliographie der 700 ausgewerteten Artikel, die aus Platzgründen in dem vorliegenden Band nicht nachgewiesen werden konnte und komplett verzeichnet ist in: Łukasz Stanek, The Production of Urban Space by Mass Media Storytelling Practices: Nowa Huta as a Case Study, Paper für die Konferenz „The Work of Stories“, Massachusetts Institute of Technology, 6–8 May 2005, siehe: http: / /web.mit. edu/comm-forum/mit4/papers/stanek.pdf. 10 Andrzej Bukowski, The Diagnosis of Social Situation in Nowa Huta in the context of sociotherapy centers establishing – „5th transnational Meeting; Demos – improving local democracy“ (Kraków, 15.–17.05.2003)
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Abb. 1: Der Entwurf von Ptaszycki für Nowa Huta. Quelle: Ptaszycki 1959.
Die Bedeutung der medialen Repräsentationen für die Entwicklung von Nowa Huta ist am besten zu erfassen anhand der Tatsache, dass der Bau der Stadt von diesen Repräsentationen begleitet und sogar vorweg genommen wurde. Dazu trug wesentlich die typisierte Geschichte über einen Ankömmling bei, der, von den Medienberichten über die „erste sozialistische Stadt“ angezogen, an Ort und Stelle nichts als Schlamm vorfindet. Diese Geschichte – gleichzeitig persönlich und universell, individuell und doch von jedem nachvollziehbar – war in der staatlich kontrollierten Presse der späten 1940er und frühen 1950er Jahre omnipräsent und erreichte später, durch rituelle Wiederholungen, den Status eines Gründungsmythos. Zugleich enthält diese Geschichte bereits die Problematik der Repräsentation und deren wichtigste Themen, die in den meisten späteren Berichten über die Stadt wieder auftraten: Die Massenmedien als Träger der Repräsentationen des Raumes und deren Rolle als Rahmen für die Erfahrung der Stadt. Die Geschichte thematisiert geradezu dramatisch das Problem des Verhältnisses zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten, indem sie exemplarisch die Kluft zwischen dem glänzenden medialen Image der Stadt und dem Schlamm auf der Baustelle zeigt; genau diese Distanz markierte den Ort der mit Nowa Huta verbundenen Emotionen: Hoffnung, Nostalgie, Unzufriedenheit, Resignation oder Wut. Diese Art von Berichten, die Nowa Huta als fortlaufende Realisierung eines Projektes darstellte, enthielt sowohl eine Repräsentation der zukünftigen Stadt als auch eine Legitimierung ihres gegen-
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wärtigen Zustandes und sollte in den folgenden Medienberichten über die Stadt immer wieder auftreten.11 Renata Siemieńska, deren Buch von 1969 „Nowe życie w nowym mieście“ („Ein neues Leben in einer neuen Stadt“) eine der ersten systematischen Untersuchungen über die medialen Repräsentationen von Nowa Huta ist, wies darauf hin, dass die These, Nowa Huta sei „noch nicht eine sozialistische Stadt, sondern eine sozialistische Stadt im Werden“ bereits in den Medienberichten der 1950er Jahre zu finden gewesen war.12 Diese Formulierung war eine Reaktion auf den Kontrast zwischen den optimistischen privaten Geschichten der erfolgreichen Verwandlung eines Bauern in einen Arbeiter, die die erste Phase der offiziellen Berichte über Nowa Huta bestimmte, und der schockierenden Beschreibung der Stadt als eines Ortes von Verbrechen und Promiskuität durch den Poeten und Parteimitglied Adam Ważyk in seinem „Poemat dla dorosłych“ („Ein Gedicht für Erwachsene “) von 1955, dem ähnliche Texte folgten. Die Unterscheidung zwischen dem Projekt der Stadt und der dynamischen Eigenlogik ihrer Entwicklung erschien auch in einem Text von Tadeusz Ptaszycki, dem Planer von Nowa Huta, der 1952 in der Städtebauzeitschrift „Miasto“ („Die Stadt“) schrieb: „Die Planer der Stadt Nowa Huta sehen in ihrem Werk zwei Formen der Stadt: eine prospektive Form und eine Form der Stadt im Bau mit allen Einschränkungen bei den realen Lebensbedingungen, eine Stadt, die ‚noch nicht da ist‘, aber lebt und sich selbst ausbildet.“13 Ważyks Darstellung der Einwohner von Nowa Huta als junger Bauern, die, von ihrer traditionellen Umgebung getrennt, unfähig sind, unter den harten Bedingungen einer Baustelle sozial verantwortliches Verhalten zu entwickeln, beförderte eine Reihe von Versuchen, die ursprünglichen optimistischen Repräsentationen von Nowa Huta abzulösen. Seit dieser Zeit wurde die Entmythologisierung ein wichtiges Genre der Beschreibungen der Stadt: die populären Repräsentationen werden kritisiert und als Mythen zurückgewiesen, die auf Wunschdenken, Propaganda und oberflächlicher Betrachtung beruhen. Stattdessen wird die Beobachtung des „wirklichen“ Nowa Huta empfohlen, um die „Essenz“ zu entdecken und sie neu darzustellen.14 Darüber hinaus führten die Berichte aus den 1950er Jahren die Vorstellung ein, dass der Hauptgrund für die soziale Wirklichkeit in Nowa Huta in der Inkongruenz zwischen den Lebensgewohnheiten der Zuwanderer aus dem ländlichen Raum und der entstehenden städtischen Lebenswelt liege. Nach einer Erhebung von 1979 stammten zu dieser Zeit immerhin 74% der Einwohner von Nowa Huta ursprüng11
So schrieb Gorczyński (1977) in dem Artikel „Eine städtische Utopie oder Realität?“, dass Nowa Huta „noch nicht existierte“ und fragte, ob es „eine sozialistische Stadt würde“: Julian Gorczyński, Utopia miejska czy rzeczywistość?, in: Literatura (26), S. 7 12 Renata Siemieńska, Nowe życie w nowym mieście, Warszawa 1969, S. 48. 13 Tadeusz Ptaszycki, Fundamenty nowego miasta, in: „Miasto“ 1952 (Rok III), Nr. 1., S. 10. 14 Die Titel der Artikel sprechen für sich: „Wir kennen Nowa Huta nicht“, (Jerzy Steinhauf, Nie znamy Nowej Huty, in: Dziennik Polski 1969 (Nr. 10), S. 5,7); „Mythen und Realität“ (Andrzej Czarski, Mity i rzeczywistość, in: Dziennik Ludowy (25.09.1975); „Wahrheit und Legende von Nowa Huta“ (Janusz Roszko, Prawda i legenda o Nowej Hucie, in: Kultura (30) 1976, S. 9).
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lich aus dem ländlichen Raum, der die Gewohnheiten, Werte und Wohnweisen der Einwohner bestimmte. Gleichzeitig war die Stadt unbestreitbar von industriellem Charakter und das Stahlwerk der wichtigste Arbeitgeber (der in den 1980er Jahren zusammen mit den zugehörigen Unternehmen 80% der Erwerbstätigen beschäftigte) und Träger der sozialen Infrastruktur. Daher wurde die Aushandlung zwischen ländlichen und städtischen Verhaltensweisen sowohl in den Repräsentationen wie in den sozialen Praktiken in Nowa Huta eine der wichtigsten Merkmale der Stadt. Dies führte zu einer Diskussion über die Besonderheiten des städtischen Charakters von Nowa Huta (der oft mit dem von Kraków kontrastiert wurde), dessen Rhythmen sowohl von dem Stahlwerk als auch von den Gewohnheiten der ländlichen Bevölkerung geprägt wurden. In der Gründerzeit der Stadt in den 1950er Jahren wurde dieser Kontrast zwischen Nowa Huta und Kraków als Differenz zwischen einer sozialistischen und einer kapitalistischen Stadt interpretiert. Wacław Ostrowski kontrastierte in einem Artikel in der gleichen Nummer von „Miasto“, in der Ptaszycki Nowa Huta präsentierte, die kapitalistische Stadt als auf Spekulation und Segregation gegründet, die sozialistische hingegen als zentral geplant und mit flächendeckend gleichwertigen Versorgungseinrichtungen ausgestattet. Die Stadt fasste er auf als „eine Form der Siedlung, die zum sozialen Fortschritt beiträgt“, und zwar vermittels einer Intensivierung des sozialen Lebens.15 Dementsprechend wurde Nowa Huta, das größte Investitionsvorhaben des ersten Sechsjahresplans, sowohl als Symbol als auch als Instrument der Transformation Polens von einem postfeudal-bäuerlich geprägten zu einem sozialistischen Land der Arbeiter verstanden. Städtische Lebensformen wurden gefördert und zum Beispiel den Arbeitern in Nowa Huta die Möglichkeit zum Erlernen von Fremdsprachen (vor allem Russisch), zur Ausübung verschiedener Sportarten, sowie die internationale Presse, ein modernes Theater, Kino und Ausstellungen moderner Kunst angeboten.16 Die Annahme städtischer Lebensstile und kollektiver Konsummuster war also Teil des Entwurfs für Nowa Huta, dessen Planer schrieb, dass nicht nur die Stadt durch die Bewohner zu bauen sei, sondern auch die Bewohner „in die Stadt hinein geformt“ werden müssten.17 In seinem Aufsatz über die politischen Aufladungen der Wohnräume im Polen der 1950er und 60er Jahre führt David Crowley aus, dass dem Konsum per se weder oppositionelle noch legitimierende Bedeutungen zugeschrieben werden könnten, sondern „die Bedeutungen eher in Diskursen um und über Dinge und Räume etabliert und verhandelt“ würden.18 Um diese Bedeutungen zu untersuchen, analysierte 15 Wacław Ostrowski, Kształtowanie przestrzenne miasta socjalistycznego, in: „Miasto“ 1952 (Rok III), Nr. 1, S. 1. 16 Alison Stenning, Representing Transformations/Transforming Representations: Remaking Life and Work in Nowa Huta, Poland, Paper für die Konferenz „Winning and Losing in the New Economy, University of Nottingham (11.–13.09.2001); http: / /www.nowahuta.info/papers/ wes2001.shtml, S. 6. 17 Ptaszycki, Fundamenty, S. 11. 18 David Crowley, Warsaw Interiors: The Public Life of Private Spaces, 1949–65, in: David Crowley/Susan Reid (Hrsg.), Socialist Spaces. Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, Oxford 2002, S. 188,89.
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Crowley mit Bezug auf Lefebvre polnische Frauen- und Lifestyle-Zeitschriften dieser Periode. Eine analogische Durchsicht medialer Berichte über Nowa Huta aus dessen Aufbauzeit zeigt deren warme Begrüßung jeden Anzeichens von Urbanität. Die stetig ergänzten Elemente städtischer Infrastrukturen – Lampen, Abfallkörbe, Fahrzeuge der Straßenreinigung und vor allem die 1953 eröffnete Straßenbahn nach Kraków – wurden dargestellt als Belege für die besonderen Vorzüge des Sozialismus. In den 1990er Jahren sollte diese Verbindung städtischen Lebens mit seiner Interpretation als Ausdruck und zugleich Legitimation der staatlichen Ideologie zu divergierenden Perspektiven in den Massenmedien führen: Was externe Beobachter als Merkmale eines sozialistischen „social engeneering“ werteten, betrachteten die meisten Einwohner als moderne und emanzipatorische Effekte von Urbanität. Es ist bezeichnend für die Einschränkungen, denen soziologische Analyen unter sozialistischer Herrschaft unterworfen waren, dass Siemieńska in ihrem Buch die wichtigste Auseinandersetzung zwischen Repräsentationen Nowa Hutas in den 1960er Jahren nicht erwähnte: Die Kollision zwischen dem Bild einer „atheistischen“ und einer „religiösen“ Stadt. Nowa Huta war zunächst ohne Kirchen geplant und gebaut worden, doch unter dem Druck der Einwohner entschied die Verwaltung, in den späten 1950er Jahren, den Bau einer Kirche zu gestatten. Die Genehmigung wurde aber 1960 zurück gezogen, und diese Entscheidung rief eine Reihe von Unruhen und Demonstrationen hervor, gegen die die Behörden hart vorgingen. Auf diese als „Verteidigung des Kreuzes“ bekannt gewordenen Ereignisse bezog sich Johannes Paul II., der frühere Erzbischof von Kraków, bei seinem Besuch der in der Nähe von Nowa Huta gelegenen Zisterzienserabtei von Mogila 1979. In seiner Predigt sprach der Papst direkt die offizielle Repräsentation von Nowa Huta als „Arbeiterstadt“ an, wies jedoch dessen Gleichsetzung mit „sozialistisch“ und „atheistisch“ zurück und sagte: „Die gegenwärtige Problematik der Arbeit (…) beruht (…) auf einer fundamentalen Kategorie: Das ist die Kategorie der Würde der Arbeit und daher der Würde des Menschen. (…) Diese fundamentale Kategorie (…) ist eine christliche Kategorie.“19
Die Predigt stärkte die Verbindung zwischen Arbeitern und Religion in Nowa Huta, die sich am klarsten in den Streiks und Unruhen der 1980er Jahre niederschlug. Die Mobilisierung der Repräsentationen von Nowa Huta sowohl in legitimierenden wie in subversiven städtischen Praktiken reflektierte und generierte Kontrastbegriffe, die häufig zur Beschreibung der Stadt verwandt wurden. Diese stammten 19 Karol Wojtyła, Kraków – Nowa Huta, 9 czerwca 1979 roku; Homilia Jana Pawła II w czasie Mszy św. odprawiona przed opactwem oo. Cystersów w Mogile, in: Jerzy Karnasiewicz, Nowa Huta: Okruchy Życia i Meandry Historii, Kraków 2003, S. 44; vgl. auch: Karol Wojtyła, Kraków – Nowa Huta, 22 czerwca 1983 roku; Homilia Jana Pawła II w czasie konsekracji kościoła św. Maksymiliana Marii Kolbego, in: Karnasiewicz, Nowa Huta. Nicht nur der Papst, sondern auch die polnische katholische Kirche sah Nowa Huta als Ort eines wichtigen Kampfes um Symbole; Kardinal Wyszyński, Primas der katholischen Kirche in Polen (1948–81), schrieb in einem Brief vom 25.3.1977 (zitiert bei Niward Karsznia, Powstanie parafii i budowa kościoła Matki Bożej Częstochowskiej w Nowej Hucie, Kraków 1994, S. 41), dass „es in Nowa Huta nicht um ein weiteres religiöses Gebäude geht, sondern um das spirituelle Gesicht der Arbeit in Polen“.
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zunächst aus der ursprünglichen Bestimmung der Stadt in der politischen Terminologie, so dass die „sozialistische Stadt“ als „proletarisch“, „atheistisch“, „jung“, „gesund“, „stark“, „modern“, „grün“ und „geräumig“ definiert wurde im Gegensatz zu Kraków, das als „bürgerlich“, „reaktionär“, „klerikal“, „alt“, „degeneriert“, „schwach“, „ärmlich“, „altmodisch“, „steinig“ und „heruntergekommen“ dargestellt wurde. Diese Zuschreibungen wurden zu einem Gegensatz zwischen „Industriestadt“ und „großem Dorf“ zugespitzt. Auch Repräsentationen, die lose mit dem Hauptimage der „sozialistischen Stadt“ verbunden waren (zum Beispiel von Nowa Huta als „grüner Stadt“) waren in der Logik gegensätzlicher Begrifflichkeiten gefangen. So wurde zum Beispiel der Slogan der „grünen Stadt“ seit den 1970ern mit der Diagnose einer von den Stahlwerken verursachten „ökologischen Katastrophe“ grundsätzlich bestritten.20 Die letztgenannten Gegensätze wurden in den Massenmedien formuliert, und deswegen müssten sie im offiziellen Diskurs ausgehandelt werden. Die Erklärungsansätze zur Versöhnung dieser Widersprüche beruhten entweder auf der These von einem zeitlichen Wandel (vom Bauern zum Arbeiter) oder auf der marxistischen Dialektik, nach der die Widersprüche zwischen Stadt und Land von einer neuen ländlich-städtischen sozialistischen Gesellschaft überwunden worden seien.21 Das Netz dieser gegensätzlichen Repräsentationen, in dem das Hauptimage der „sozialistischen Stadt“ dominierte, wirkte nach 1989 fort, als die bis dahin subversiven Repräsentationen in die Massenmedien Eingang fanden. Die umkämpfte Stadt: Repräsentationen von Nowa Huta in den lokalen Massenmedien nach 1989 Der wichtigste Wandel in den Diskursen über Nowa Huta nach 1989 lag in ihrer Pluralisierung. Der offizielle Diskurs wurde nicht einfach ersetzt durch den bis dahin subversiven Diskurs, wie das bei vielen anderen Diskursen über kontroverse Themen in Polen nach 1989 geschah, sondern es kam zu einer Kollision der beiden Diskurse in den lokalen Medien. Dazu kam, dass eine neue räumliche Spaltung auftrat, die quer zu der politischen Spaltung verlief: Zwischen dem lokalen, von Nowa Hutas Massenmedien geführten „inneren“ Diskurs, und dem „äußeren Diskurs“, den hauptsächlich die Lokalpresse Krakóws und die Mehrheit der überregionalen Presse bestimmte. Mit diesen Diskursen verbanden sich weitere, berufsspezifische Diskurse (architektonische, soziologische, historische, geographische), die in die Massenmedien vordrangen, und an bestimmte Institutionen gebundene Diskurse, wie z. B. die von den Stahlwerken, Lokalbehörden, verschiedenen Kulturzentren bzw. -organisationen sowie Mietervereinigungen geführten. Eine aktive Rolle in der Diskussion um Nowa Huta spielten auch einige Einzelpersönlichkeiten, deren Stimmen die Orientierungspunkte der Debatte markieren.22 20 Vgl. Jan Forowicz, Potrzebny dzielnicy, potrzebny ludziom, in: Rzeczpospolita (27.07.1983); Przekrój, O Nowej to Hucie, 1984, S. 5. 21 Vgl. Z Wereksiej, Jubileuszowe obrachunki, in: WTK Tygodnik Katolicki (35) 1976, S. 1, 8. 22 Zu den aktivsten Teilnehmern der öffentlichen Diskussion um Nowa Huta gehörten: Stanisław Juchnowicz (Mitglied von Tadeusz Ptaszycki Planergruppe für Nowa Huta und Professor an
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Die folgende Untersuchung über die Repräsentationen von Nowa Huta in den Massenmedien nach 1989 konzentriert sich auf die Lokalpresse, die im Vergleich zur überregionalen Presse sensibler und schneller auf Wandlungsprozesse reagierte und kontinuierlich über lokale Themen berichtete. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Wochenmagazin „Głos Nowej Huty“ („Die Stimme von Nowa Huta“) beigemessen, das 1957 als „Budujemy Socjalizm“ („Wir bauen den Sozialismus“) gegründet wurde und seinen Namen 1991 änderte in „Głos Tygodnik Nowohucki“ („Die Stimme – die Wochenzeitschrift von Nowa Huta“).23 Alle zwischen 1988 und 2003 erschienenen Ausgaben des Magazins wurden ausgewertet, was quantitative Vergleiche ermöglicht. Andere Quellen stellten die Krakówer Tageszeitungen „Gazeta Krakowska“ and „Dziennik Polski“ (beide entstanden vor 1989) dar sowie die nach 1989 gegründeten „Czas Krakowski“ und „Gazeta w Krakowie“ (die Krakówer Ausgabe der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“). Die örtlichen Zeitschriften wurden verglichen mit anderen regionalen und Fachzeitschriften, wie z. B. dem „Suplement“, sowie der überregionalen Tageszeitung „Rzeczpospolita“ und einigen Artikeln der überregionalen Wochenmagazine „Przekrój“ und „Polityka“.24 Auf der Grundlage einer Untersuchung der in diesen Publikationen seit 1989 bis heute veröffentlichen Artikel lassen sich fünf Themen identifizieren, um die sich die Repräsentationen drehen: Die sozialistische/antisozialistische Stadt, die religiöse Stadt, die ländlich/städtische Gemeinde, die grüne Stadt und die konflikthafte Beziehung zu Kraków. Alle diese Themen stammen aus der sozialistischen Periode und sind in die komplexen Beziehungen zwischen dem Repräsentierten und den Repräsentationen eingebunden, die in dieser Periode etabliert wurden. Die sozialistische Stadt versus die antisozialistische Stadt Die Repräsentation von Nowa Huta als einer „sozialistischen Stadt“ blieb auch in der Diskussion über die Stadt nach 1989 zentral. Die Facetten dieser Repräsentation wurden nuanciert, wobei unterschiedliche Sichtweisen nicht nur auf die reale Stadt, sondern auch auf das Konzept der „sozialistischen Stadt“ deutlich wurden. Dabei wurde u.a. behauptet, dass Nowa Huta als sozialistische Stadt konzipiert war (aber
der Technischen Universität Kraków), Maciej Miezian (Direktor des Nowa Huta Musems), Jan Franczyk (Herausgeber der örtlichen Wochenzeitung „Głos – Tygodnik Nowohucki“), Mieczysław Gil (einer der Führer der antisozialistischen Opposition in Nowa Huta), Niward Karsznia (Probst von einer der Gemeinden in Nowa Huta). 23 Zwischen 1957 und 1991 gehörte die Zeitschrift den Stahlwerken, 1991 wurde sie privatisiert und wird zur Zeit nicht subventioniert, obwohl die Stahlwerke und die Bezirksbehörden mehrere Seiten finanzieren um ihre Sicht der Dinge zu verbreiten (Information aus einem Interview mit dem Herausgeber). 24 Der Aufsatz beschränkt sich dabei auf die Untersuchung der gedruckten Massenmedien und geht nicht auf die Repräsentationen von Nowa Huta in Filmen, von denen die wichtigsten die Wochenschauen sind (99.40), noch auf diejenigen im Internet ein (00.01).
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scheiterte),25 oder tatsächlich eine solche Stadt war26 oder sogar noch eine sozialistische Stadt sei.27 Was üblicherweise in den Massenmedien unter Nowa Huta als sozialistischer Stadt verstanden wurde, ist die Tatsache, dass sie auf Beschluss des sozialistischen Regimes gebaut wurde, dass sie eine Stadt der Arbeiter war (oder noch ist), die ihren sozialen Aufstieg, ihr Gemeinschaftsgefühl und eine gemeinsam verlebte Jugend dem sozialistischen Staat verdanken,28 oft nostalgisch gegenüber der Vergangenheit eingestellt sind29 und immer noch tendenziell links wählen.30 Die Stadt wurde als Schauraum des Sozialismus verstanden, wo die Geschäfte über ein reicheres Angebot verfügten und die soziale Infrastruktur (vor allem in den alten Stadtteilen) besser als in anderen Städten war. Ein anderer Grund für die Charakterisierung von Nowa Huta als „sozialistische Stadt“ war die Architektur des sozialistischen Realismus (zuweilen als „sozialistische Architektur“ benannt),31 der in einigen Artikeln ein innerer Zusammenhang zum totalitären System zugesprochen wird.32 Die Mehrheit der Artikel, die sich dem oben so benannten „äußeren“ Diskurs zuschreiben lässt, präsentieren die Architektur der Stadt als ein „Kuriosum“ oder sprechen von einem „Freiluftmuseum“, „Experiment“ oder „Themenpark“.33 Der Begriff „sozialistische Stadt“ wird auch benutzt, um eine kurz gefasste Erklärung der Krise von Nowa Huta zu formulieren:34 Die zerstörte Umwelt als von der sozialistischen Ökonomie verursacht, die sozialen Probleme und Kriminalität als von der sozialistischen Organisation des städtischen Lebens hervorgerufen, die Eigentumskonflikte als aus den forcierten Enteignungsmaßnahmen des sozialistischen Staates resultierend. Diese facettenreiche Repräsentation von Nowa Huta als „sozialistische Stadt“ wird von einer sehr starken und homogenen Repräsentation der Stadt als eines der 25 26 27 28 29 30
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Vgl. 89.19; 93.06; 99.23. Vgl. 96.22; 97.49; 01.03. Vgl. 96.11; 01.03. Die „soziale Förderung“ der Arbeiter in Nowa Huta ist eine der unumstrittenen Errungenschaften der Stadt; Vgl. 89.10; 98.18; 99.12. Vgl. 89.21; 95.35; 00.02; 00.10. Die Nostalgie bezieht sich natürlich nicht auf das totalitäre Regime, sondern auf die soziale Infrastruktur und die Atmosphäre in der Stadt. Doch wird die Nostalgie oft verneint, Vgl. 00.02; 01.11. Bei den Wahlen von 2002 wurde der politisch links stehende Kandidat Jacek Majchrowski von den Einwohnern von Nowa Huta stark unterstützt. Wahlstatistiken zeigen jedoch, dass diese weniger links als vielmehr extrem wählten, nämlich sowohl die äußerste Linke als auch politisch rechte Parteien, die viele Unterstützer haben. Vgl. 99.27 Vgl. 97.24; 00.17. Doch wurden die Behauptungen über den deterministischen Einfluss der Architektur auf das Verhalten der Menschen auch verspottet, Vgl. (99.12). Vgl. 97.06; 99.23; 99.31; 01.03. Tatsächlich existierte in Nowa Huta zeitweise ein ‚Socland‘ benannter Themenpark, der die sozialistische Realität simulierte (zur Simulation in Nowa Huta Vgl. Łukasz Stanek, Simulation or Hospitality: Ways out of the Crisis of Prepresentation in a Postcommunist City, in: L. Frers/L. Meier (Hrsg.), Encountering Urban Places – Visual and Material Performances in the City, Aldershot 2007). Gleichzeit wurde diese Besonderheit der Stadt als touristischer Anziehungspunkt gesehen (Vgl. 95.36, Stenning, Representing Transformations, S. 14). Vgl. 96.12
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wichtigsten Zentren der antisozialistischen Opposition in Polen herausgefordert: der Stadt der Streiks, Demonstrationen und Aufstände.35 Daher wurde oft das Symbol des Sozialismus in seiner Transformation zum Symbol des Antisozialismus dargestellt.36 Diese Repräsentation besitzt eine große Glaubwürdigkeit, die von zahlreichen Lebensgeschichten und Berichten über die Ereignisse der 1960er Jahre, den Streiks der 1980er Jahre und dem Tod von Bogdan Włosik, einem jungen, von einem Geheimagenten ermordeten Arbeiter, gestützt wird. Die atheistische oder religiöse Stadt Im ersten Masterplan von Nowa Huta waren keine Kirchen vorgesehen: Atheismus war ein wichtiges Element in der offiziellen Repräsentation einer „sozialistischen Stadt“.37 Dieser Aspekt wurde nach 1989 in den Massenmedien oft hervorgehoben; Nowa Huta wird bezeichnet als „Stadt ohne Gott“ und als „atheistische Stadt“, in der die Arbeiter „ohne Gott leben sollten“.38 Diese Aussagen wurden allerdings in der Regel als rhetorische Figur verwandt, mit der ein harter Kontrast zwischen den Intentionen der Behörden und der Wirklichkeit von Nowa Huta als einer „religiösen Stadt“ hervorgehoben wurde. Nachdem die politische Zensur abgeschafft worden war, begannen die Medien dieses Thema ausführlich zu behandeln.39 Die Jahrestage der “Verteidigung des Kreuzes“ von 1960 (1990, 2000) wurden in den Medien mit einer großen Zahl privater Geschichten und historischer Analysen unterlegt. Gleichzeitig widerspricht die Auffassung von Nowa Huta als einer „religiösen Stadt“ der weit verbreiteten Wahrnehmung einer Krise der sozialen und moralischen Werte in der Stadt und einer hohen Kriminalitätsrate. Das Image einer religiösen Stadt wird sogar von katholischen Priestern bestritten, die nicht nur unterstreichen, dass die These von einer besonderen Religiosität ihrer Gemeindemitglieder ein Mythos ist,40 sondern auch zu der Repräsentation von Nowa Huta als einer „atheistischen Stadt“ zurück kehren und die schlimmen Auswirkungen der atheistischen, sozialistischen Ideologie auf das Leben der Einwohner hervorheben (z. B. mit Verweis auf die hohen Zahlen von Eheschließungen zwischen Jugendlichen und die hohen Scheidungsraten).41 35 Vgl. 89.19; 91.05; 91.14; 00.04; 01.41. 36 Vgl. 89.19; 96.12. 37 Nicht jedoch für die Einwohner, die nach Stenning „keinen Widerspruch zwischen ihren religiösen Überzeugungen und dem aktiven Aufbau des Sozialismus sahen“. Siehe: Alison Stenning, Placing (Post)Socialism: the Making and Remaking of Nowa Huta, Poland, in: European Urban and Regional Studies 7/2 (2000), S. 99–118, hier S. 105. 38 Vgl. 01.13; 04.12; 91.06. 39 Vgl. 89.19; 91.05; 95.11; 99.32; 00.04. 40 Vgl. 00.05 41 Vgl. 92.52. Nirward Karsznia, ein Priester in Nowa Huta und Soziologe (Vgl. Anmerkung 22) behauptet, dass die sozialistisch-atheistische Ideologie eine Entwicklung zu „antisozialen and unmoralischen Verhaltensweisen“ hervorgebracht habe und dass „einige Ehen wegen der infolge der neuen Umgebung lockeren Moral“ zerbrochen seien. Karsznia, Powstanie parafii i budowa kościoła Matki Bożej Częstochowskiej w Nowej Hucie, S. 35. So ermittelte er, dass
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Ein großes Dorf und eine Industriestadt Die strenge, emotionale Religiosität ist in Polen traditionell dem Lande zugeschrieben. Das ist, zusammen mit den vorgeblich engen nachbarschaftlichen Beziehungen in der Stadt,42 eines der Argumente für die These, dass Nowa Huta immer noch ein „großes Dorf“ ist.43 Gleichzeitig wird die Repräsentation von Nowa Huta als einer „Industriestadt“44 und einer Stadt der Arbeiter – die zu den Verlierern der politischen und ökonomischen Wende in Polen zählen – ausgiebig herangezogen, um die sozialen Probleme in der Stadt zu erklären. Die grüne Stadt und die Stadt der Umweltkatastrophe Wenn Einwohner von Nowa Huta zu den Qualitäten ihrer Stadt befragt werden, verweisen sie oft auf deren Grünflächen. Die Stadt wird zuweilen sogar als „Gartenstadt“ bezeichnet und als „Stadt der Parks“.45 Andererseits ist nicht einmal diese Eigenschaft unumstritten, wenn auf angeblich politische oder militärische Motive für die Grünplanungen angespielt wird.46 Darüber hinaus wurden die Grünflächen seit dem Ende der 1990er Jahre in den Medien kontrovers diskutiert: Dicht gereihte Bäume verschatteten die Häuser, und ihre Wurzeln zerstörten die unterirdische Infrastruktur; daher möchten einige Bewohner die Bäume beseitigt sehen, während andere sie verteidigen. Andererseits war die Luftverschmutzung, die sowohl die Gesundheit der Einwohner als auch die Baudenkmäler von Kraków angreift, das erste gleich 1989 von den Medien breit aufgegriffene Thema.47 Nach der Restrukturierung und Modernsierung der Stahlwerke ging die Brisanz des Problems zurück, doch auf der lokalen Ebene – vor allem in der „grünen Schutzzone“ rund um die Fabrik – ist es noch längst nicht gelöst.
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zwischen 1956 und 1964 25% der Ehen zerbrachen (Niward Karsznia, Życie rodzinne w Nowej Hucie. Obserwacje i rozwiażania, Kraków 1997, S. 35). Karsznia betrachtet die zeitgenössische kapitalistische „Konsumideologie“ als in ihren Auswirkungen auf die Einwohner von Nowa Huta vergleichbar mit den sozialistischen, „materialistischen und laizistischen Tendenzen“ (Ebenda, S. 12). Vgl. 96.14. Vgl. 99.7.Vgl. Halszka Buczyńska, Czy Nowa Huta da się lubić?, Życie Warszawy (83) 1974, S. 5, 6; Wereksiej, Jubileuszowe obrachunki, 99.23; direkt bestritten in: 00.05. Vgl. 91.20; 92.05; 01.05. Vgl. 98.10, 01.8; 03.08. Vgl. 97.12. Einer der Artikel beschrieb das Verhältnis von Kraków und Nowa Huta als einen „Kreuzzug“ (90.04), andere plädierten für eine „Versöhnung von Nowa Huta und der Stadt“ (91.23).
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Kraków und Nowa Huta: Antagonismus oder Integration? Die in den Medien von 1989 bis 1991 geführte Diskussion, in der die ökologischen Argumente für eine sofortige Schließung der Stahlwerke mit denen nach Erhalt dieses für Nowa Huta wichtigsten Arbeitsgebers hart aufeinander trafen, belebten auch den alten Konflikt zwischen Nowa Huta und Kraków neu, die in den 1980er Jahren noch als in der antisozialistischen Allianz vereint schienen. Die Umweltkontroverse wurde bald mit den alten Konflikten um die politischen Gründe für die Standortwahl für Nowa Huta in der Nähe Krakóws verbunden.48 In den 1990er Jahren gab es eine weit verbreitete Tendenz, diese Thematik mit den problematischen Auswirken, die die Enteignungen und die Gründung der Stadt auf die regionale ländliche Gesellschaft hatten, zu verbinden.49 Nach 1989 wurde Nowa Huta verstärkt als „der Tradition geraubt“ und „kriminell“ betrachtet, was einer Revision der früheren offiziellen Wertungen gleichkam. Einst als „junge Stadt“ beschrieben, die der „Pensionärsstadt Kraków eine zweite Jugend bescherte“,50 wurde Nowa Huta nun selbst als „Pensionärsstadt“ bezeichnet.51 Die Lokalpresse von Nowa Huta beschuldigte daraufhin jene von Kraków einer Desinformationspolitik über die Stadt.52 Zugleich wurde aber auch der vorgebliche Gegensatz der beiden Städte bestritten und die Zugehörigkeit von Nowa Huta zur Identität, Kultur, Wirtschaft und Politik Krakóws betont.53 Eine wichtige Rolle spielten dabei die in Nowa Hutas Massenmedien veröffentlichten Berichte über die reiche Geschichte und Kultur des Gebietes in der vor-sozialistischen Zeit. Die Ersetzung der früher den Diskurs dominierenden politischen Spaltung (offiziell/subversiv) durch eine räumliche Spaltung (innerlich/äußerlich) beruht auf einer Verschiebung der zentralen Themen: Wenn vor 1989 der Gegensatz zwischen Nowa Huta und Kraków als beispielhaft für den Gegensatz zwischen der sozialistischen und der antisozialistischen Stadt angesehen wurde, galt in den 1990er Jahren der letztere Gegensatz als dem ersteren untergeordnet. Im Vorangegangenen wurde Nowa Huta als eine umkämpfte Stadt identifiziert, deren Repräsentationen von einem gravierenden Mangel an übergreifendem Kon48 Einer der Artikel behauptet, dass „Kraków bestraft wurde“ wegen seines Antisozialismus, „Traditionalismus und bürgerlichen Charakters“ (93.06), direkt im Widerspruch dazu: (98.05). Seit dem Ende der 1990er Jahre stimmt die Mehrzahl der Artikel darin überein, dass die Gründe für die Standortwahl sowohl ökonomischer wie politischer Natur waren. 49 „Wer wird für Nowa Huta zahlen?“, ist der Titel eines Artikels (91.16), der sich auf die Frage der Kompensation für enteignetes Land konzentriert. 50 Jerzy Steinhauf, Druga młodość Krakowa, in: Dziennik Polski 1970 (n. 15), S. 4. 51 Vgl. 91.01; 92.35; Der Wandel von einer „jungen“ zu einer „alten“ Stadt wurde auch in der Presse registriert, Vgl. 02.40. 52 Vgl. 92.33; 92.49; 98.21. 53 Symptomatisch war hier zum Beispiel die Aktion „Aleja Nadziei“ („Allee der Hoffung“) 2004, als das jährliche Stadtfest von Kraków das erste Mal in Nowa Huta gefeiert wurde. Eine andere wichtige Entscheidung war die Rückverlegung des wichtigen Kulturzentrums „Łaźnia“ nach Nowa Huta (ebenfalls 2004).
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sens bestimmt war.54 Fast alle Repräsentationen standen in Konfrontation mit ihrem Gegenteil,55 und es gab keine integrierende Erzählung, die sie zu einem relativ konsistenten Ganzen verband. Die gegensätzlichen Erzählungen, die sowohl im inneren wie im äußeren Diskurs mobilisiert wurden, konnten sich auf eine ausreichende Menge von Argumenten, Daten, Erfahrungen und Wahrnehmungen stützen. Seitdem die marxistische Dialektik und andere „große Erzählungen“56 als argumentative Methoden ausgedient hatten und die Persistenz der meisten Gegensätze eine Erklärung nach dem Muster einer zeitlichen Transformation behinderten, 57 sehen sich die Erzählungen gravierenden Schwierigkeiten gegenüber, mit den widersprüchlichen Repräsentationen von Nowa Huta umzugehen. Daher wurde diese Gegensätze vermehrt als „Paradoxien“ bezeichnet und damit die Erklärungsprobleme rhetorisch zugegeben; Nowa Huta wurde nun zur „Stadt der Paradoxien“, die „widersprüchliche Gefühle“ erzeugt, und gegensätzliche Meinungen auch unter Fachleuten, wie z. B. Architekten.58 Als „Stadt der Paradoxien“ erscheint Nowa Huta als etwas nicht Greifbares: ein Apriori, ein Kuriosum, ein fehlgeschlagenes Experiment.59
54 Waldemar Komorowski schrieb in einer neueren Studie dass gegen Ende der 1990er Jahre selbst unter Wissenschaftlern eher abwägende Urteile über die kulturgeschichtlichen Werte von Nowa Huta mit ideologisch begründeten Positionen – kritischen wie apologetischen – kollidierten. (Waldemar Komorowski, Wartości kulturowe Nowej Huty. Urbanistyka i architektura, in: Salwiński, Sibilia 2005, S. 98; Vgl. „Dziedzictwo kulturowe Nowej Huty“ 1997 und Małecki (Hrsg.), Narodziny Nowej Huty: materiały sesji naukowej odbytej 25 kwietnia 1998 roku.) 55 Es ist klar, dass einige der Repräsentationen kontroverser diskutiert wurden (z. B. die sozialistische gegen die antisozialistische Stadt, Feindschaft oder Integration nach Kraków) als andere. So verbesserte sich z. B. die Umweltsituation nach 1989 erheblich und die Mehrheit der Einwohner stimmen in der positiven Bewertung der Grünflächen überein. 56 Vgl. Jean-François Lyotard, The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, Minneapolis 1984. 57 Dieses Muster gilt auch für die ökologische Situation, es auf politische und religiöse Repräsentationen zu übertragen ist jedoch sehr viel schwieriger. Stenning, Representing Transformations, S. 10,1, schreibt über die verschiedenen Identitäten von Nowa Huta, dass „es keine klare Temporalität dieser Identitäten gibt.“ 58 Das Vorstehende nach 89.19; 99.40; Stenning, Representing Transformations, S. 10,1, 99.15; 02.42. 59 Das Suchwort „Stadt der Paradoxien“ ergibt bei Google etwa 250 Links zu Webseiten von Städten, darunter Wien, Washington und Mumbai. Dieses Ergebnis verweist darauf, wie eng verbunden die gegenwärtige theoretische Debatte über Städteprobleme mit dem philosophischen Projekt der Dekonstruktion traditioneller (logischer und dialektischer) Formen des Umgangs mit Widersprüchen ist. Zur kritischen Diskussion über das Verhältnis von Städteproblemen und postmodernem Diskurs vgl. Christine M. Boyer, CyberCities. Visual Perception in the Age of Electronic Communication, New York 1996 (insbes. Ende des Kapitels I); zur Diskussion über künstlerische Formen der Auseinandersetzung mit den Gegensätzen in Nowa Huta vgl. Łukasz Stanek/Piotr Winskowski, Ponowoczesne strategie w poprzemysłowym mieście, in der Publikation zur Konferenz „Kraków i Norymberga w kulturze europejskiej“, Międzynarodowe Centrum Kultury, December 2004.
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Die Art und Weise, wie Nowa Huta in den Medien repräsentiert wird, scheint wesentlich zu der oben erwähnten Krise beizutragen, die Soziologen als einen „scharfen Unterschied“ zwischen den offiziellen Statistiken und dem Bewusstsein der Einwohner wahrnehmen.60 Dabei geht es nicht nur um den Inhalt dieser Repräsentationen, sondern auch um deren Strukturmerkmale, so z. B. um die Schwierigkeiten der Weitergabe der grundlegenden Erzählungen an die nachwachsenden Generationen von Einwohnern, inklusive des „Gründungsmythos“ und der auf politischen Oppositionen beruhenden Geschichten. Der persönlich, emotional und generationell gebundene Gründungsmythos kann von den jüngeren Einwohnern nicht geteilt werden, auch wenn sie oft eine Nostalgie für solche kollektive Erfahrung ausdrücken. Auch die politischen Gegensätze – vor allem jener zwischen Sozialismus und Antisozialismus – sind von geringem Wert für die Identitätsbildung für die jüngere Generation.61 Ein zweiter Grund mag in den oben skizzierten Formen der Konzeptualisierung Nowa Hutas liegen als einer Stadt, die permanent in ihren eigenen Repräsentationen gefangen bleibt: als ein Mythos in Erwartung seiner Entfesselung und als symbolischer Ort. Diese Konzeptualisierungen haben überdauert in den Repräsentationen der Stadt, aber ihre Bedeutung hat sich in dem neuen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Kontext radikal geändert. Nowa Huta als eine überholte Repräsentation aufzufassen vermittelt das ungute Gefühl einer Stadt ohne Zukunft. Wenn man Nowa Huta als einen Mythos versteht, der wissenschaftlich entziffert werden sollt, fasst man die Stadt eher als kognitives Problem denn als tägliche Umwelt. Die Stadt als Symbol zu sehen bedeutet, das Leben der Einwohner ebenfalls als Repräsentation anzusehen.62
60 Eine psychologische Studie über den Einfluss der Medien auf das Bewusstsein ihrer Leser würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Es bleibt jedoch die übereinstimmende Meinung der zeitgenössischen Forscher festzuhalten, dass Medien einen bestimmenden Einfluss auf den Wandel oder die Festigung nicht nur der Verhaltensmuster der Leser, sondern auch auf ihre Maßstäbe zur Bewertung der Wirklichkeit, Konzeptionen und Diskurse haben, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflussen (Tomasz Goban-Klas, Media i komunikowanie masowe. Teorie i analizy prasy, radia, telewizji i Internetu, Warszawa 1999, S. 247). Im Fall von Nowa Huta bestätigt sich diese These durch die Ähnlichkeit der oben analysierten medialen Repräsentationen von Nowa Huta mit den Images der Stadt, wie sie in Interviews mit den Einwohnern deutlich werden. (Vgl. Dorata Gut, Nowa Huta w świadomości jej mieszkańców, in: J. Bujak/A. Zambrzycka – Steczkowska/R. Godula (Hrsg.), Kraków – przestrzenie kulturowe, Kraków 1993). 61 Vgl. Alison Stenning, Życie w przestrzeniach (post)socjalizmu: przypadek Nowej Huty, in: Jerzy Karnasiewicz, Nowa Huta: Okruchy Życia i Meandry Historii, Kraków 2003, S. 66–75; als Studie zum Identitätswandel der Einwohner von Nowa Huta. 62 Dies ist der Grund, warum die Einwohner vehement gegen jeden Versuch protestieren, die Stadt oder einen Teil von ihr offensiv als sozialistische Stadt zu vermarkten, wie es Historiker, Politiker und Fremdenverkehrs- und Marketing-Institutionen verschiedentlich vorschlugen. Die Einwohner sahen sich dadurch „wie die Affen im Zoo“ behandelt. (00.2; vgl. Stanek, Simulation or Hospitality).
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Die Instrumentalisierung der Repräsentationen von Nowa Huta durch Praktiken der Raumproduktion: die Rosenallee Die Analyse Nowa Hutas mit Lefebvres Theorie wirft die Frage auf, wie die angeführten Repräsentationen sich auf andere Praktiken der Raumproduktion auswirken. Dies verlangt ein theoretisches Konzept zum Verhältnis zwischen unterschiedlichen Praktiken der Raumproduktion. Lefebvre gibt nur eine skizzenhafte Beschreibung dieses Verhältnisses, das er „dialektisch“ nennt, jedoch von den klassischen Dialektiken von Hegel und Marx abgrenzt. Die meisten Interpreten Lefebvres versuchen sich an einer Rekonstruktion von dessen Dialektik, doch sind diese Versuche weder philosophisch überzeugend noch direkt anwendbar auf die städtische Realität.63 Statt über die Prinzipien der Dialektik zu spekulieren schlägt dieser Aufsatz eine alternative Interpretation vor, die auf dem für Lefebvres Philosophie grundlegenden Konzept der Praxis beruht.64 Danach werden Produkte bestimmter Praktiken der Raumproduktion von anderen solchen Praktiken als Werkzeuge benutzt. In dem hier diskutierten Fall bekommen die medial produzierten Repräsentationen des Raums sowohl verschiedene instrumentelle Rollen in anderen Repräsentationen des Raumes als auch in Praktiken seiner physischen Transformation sowie in Alltagspraktiken der Aneignung von Räumen. Ein solcher Ansatz erlaubt es Zusammenhänge zu analysieren, die in den vorhandenen Analysen über Nowa Huta übersehen oder vernachlässigt wurden. Die Untersuchung der jüngeren Vergangenheit von Nowa Huta deckt eine Vielfalt solcher Rollen auf. So wurden die Repräsentationen instrumentell eingesetzt in Entscheidungsprozessen, die zur Umgestaltung des physischen Raums führten (z. B. wurden die politischen Repräsentationen als Argument in der Diskussion um städtische Kreditgarantien für die Stahlwerke65 und um Investitionen in den Stadt63 Vgl. Edward Soja, Postmodern Geographies, London 1989, Edward Dimendberg, Henri Lefebvre on Abstract Space, in: Andrew Light/Jonathan Smith (Hrsg.), The Production of Public Space, Lanham 1998; Rob Shields, Lefebvre, Love and Struggle, London1999; Christian Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes (manuscript 2003); Stuart Elden, Understanding Henri Lefebvre. Theory and the Possible, London 2004; für eine Diskussion über diese Interpretationen vgl. Stanek, The Theory of Production of Space by Henri Lefebvre. Soja’s Beitrag, in: Thirdspace. Journeys to Los Angeles and Other Real-and-Imagined Places, Oxford 1996, ist eher eine Weiterentwicklung (oder Modifikation) der Theorie Lefebvre’s als eine Interpretation. 64 David Harvey, The Condition of Postmodernity, Oxford 1990, war einer der ersten der erkannte, dass die drei Aspekte des Raum in Lefebvre’s Theorie nur in der sozialen Praxis verbunden werden können. Zur Diskussion und Kritik von Harveys Verständnis von Lefebvre Vgl. Schmid, Stadt, Raum und Gesellschaft, und Stanek, The theory of production of space by Henri Lefebvre. 65 Die Gegner dieser Subventionen argumentierten, dass Nowa Huta als „feindlich gegenüber Kraków“ gegründet wurde, eine „Rache Stalins“ sei (93.30, 99.57) und dass dessen Interessen scharf mit denen von Kraków divergierten (vgl. vor allem die offizielle „Stellungnahme des Rates des 7. Bezirkes von Kraków“ vom 13.08.1993 in: 93.44). Dies erwies sich als erfolgreiches Argument, denn der erste Beschluss über finanzielle Garantien für das Stahlwerk war negativ (91.22; 91.30). Der Bezirksrat von Nowa Huta widersprach dieser Repräsentation mit
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Abb. 2: Teilweise realisierter Entwurf für das Zentrum von Nowa Huta. Quelle: Garliński 1953.
teilen herangezogen).66 Die medialen Repräsentationen von Nowa Huta wurden anderen Formen der Raumrepräsentation angepasst: Sie dienten als Reservoir für Straßenumbenennungen67 und formten die Behandlung architektonischer und urbanistischer Fragen in Nowa Huta.68 Sie bildeten einen wichtigen Teil des architektodem Image der antisozialistischen Stadt, die „der kommunistischen Indoktrination widerstand.“ 92.43, Vgl. 92.44, 92.48. 66 Vgl. 99.58, 91.08; 92.31; 00.18. 67 Die alten Benennungen nach sozialistischen Helden, Institutionen und Ereignissen wurden ersetzt durch Namen, die mit der antisozialistische Geschichte bzw. mit unter dem sozialistischen Regime tabuisierten Perioden der polnischen Geschichte verbunden waren. Eine weitere Quelle für die Vergabe neuer Namen war die vor-sozialistische Geschichte des Gebietes. 68 Die Repräsentation Nowa Hutas als einer Stadt die die sozialistische Ideologie „ausdrückte“ (Dariusz Kozłowski, Less Ideology – More Geometry, in: IX International Biennale of Architecture, Kraków 2002, S. 23) war grundlegend für die IX. Internationale Biennale der Architektur in Kraków 2002, die unter dem Motto: „Weniger Ideologie – mehr Geometrie“ stand. Der Einleitungstext behauptete, dass „die Stadt als Einheit von ‚Ideologie‘ und ‚Geometrie‘ gebaut wurde. Die Ideologie verging, während die Geometrie noch ihrer Vervollständigung harrt. “ (Ebenda, S. 5). Diese Behauptungen bildeten den konzeptionellen Rahmen für die Mehrheit der im Wettbewerb eingereichten Beiträge.
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nischen Kontextes und beeinflussten so die Art und Weise, wie die Räume genutzt werden.69 Eine eingehende Auseinandersetzung mit allen Einzelaspekten würden den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Stattdessen soll im folgenden die Rolle der Repräsentationen in der Wahrnehmung und Nutzung eines ikonischen Ortes in Nowa Huta näher betrachtet werden, der keinen offiziellen Namen besitzt, sondern gemeinhin als „Platz nach Lenin“ bekannt ist. Es ist eine Weitung der Aleja Róż (Rosenallee), wo vor 1989 das Lenindenkmal stand – ein Weg, der den Plac Centralny (Zentraler Platz) mit dem Plac Ratuszowy (Rathausplatz) verbindet (vgl. Abb. 2). Es ist wichtig vorauszuschicken, dass der Ort nicht als städtischer Platz geplant war und nach typologischen Kriterien auch kein solcher Platz ist. Die Gebäude rundum sind ausschließlich Wohnblöcke, deren Eingänge zu den Treppenhäusern von dem Platz aus zugänglich sind. Entsprechend dem ursprünglichen Masterplan wurden vor den Wohnblöcken Rosengärten angelegt (vgl. Abb. 3). Ein Foto von 1959 zeigt die gerade ausgeführte Planung. Das räumliche Arrangement ist symmetrisch zur Hauptachse des Ensembles angelegt, aber die Wegeführung und die Platzierung von Sitzbänken hebt die senkrechte Richtung zu dieser Achse hervor. Diese Wege zu den Hauseingängen sollen den Rosengarten für die Einwohner leicht zugänglich machen. Der Rosengarten war also als ruhiger Ort zwischen zwei offiziellen Plätzen geplant, dem Zentralen Platz (der von einem nie realisierten Theater abgeschlossen werden sollte) und, auf der anderen Seite, dem Rathausplatz (der von dem ebenfalls nie gebauten Rathaus abgeschlossen werden sollte). Weil die Behörden einen Bedarf für einen symbolischen Platz sahen, der sich für politische Feiern eignete, wurde der Ort 1973 umgebaut, und das Lenindenkmal wurde auf der Achse des Ensembles errichtet.70 Die Rosen wurden beseitigt und der ganze Platz mit Steinplatten bedeckt. Der Rhythmus des Ortes wandelte sich radikal: Die Langsamkeit des Rosengartens wurde ersetzt durch eine überwachte Leere – in der Nähe wurde ein Wachhäuschen gebaut –, unterbrochen durch offizielle Massendemonstrationen und gewaltsame antisozialistische Unruhen. Durch die Beseitigung der diagonalen Wege und die Platzierung des Denkmals auf der Achse wurde dem Ort eine klare axiale Ausrichtung verliehen. Da das Theater und das Rathaus nicht gebaut wurden, war dies der einzige Ort im Stadtzentrum, der früh vollendet und städtebaulich definiert wurde.
69 Die Raumrepräsentationen bildeten zweifellos einen wichtigen Teil des architektonischen Kontextes sowohl für die öffentlichen Gebäude (vor allem die Kirchen) als auch für die Wohnbauten (wie z. B. den postmodernen Wohnkomplex ‚Na Skarpie‘, der von seinem Planer als „Protest gegen die Architektur des sozialistischen Realismus“ deklariert wurde (94.10)). 70 Die Planung wurde über einen Wettbewerb entwickelt, den Marian Konieczny gewann (Vgl. Maciej Miezian, Nowa Huta. Socjalistyczna w formie, fascynująca w treści, Kraków 2004, S. 85).
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Abb. 3: Der erste Entwurf für die Rosenallee. Quelle: Garliński 1953.
Das Denkmal wurde verschiedentlich angegriffen, und einmal sprengte sogar eine Bombe einen Fuß der Statue des Revolutionsführers ab. Kurz nachdem die erste nicht-sozialistische Regierung gebildet wurde (1989), wurde das Denkmal von jungen Leuten mit Farbe beschmiert, die seine Entfernung verlangten. Unter diesem Druck entschieden sich die Behörden zögerlich,71 das Denkmal abzubauen und zu 71 Es ist eine historische Ironie, dass die früheren Führer der antisozialistischen Opposition das Lenindenkmal verteidigten um eine weitere Irritation der russischen Behörden zu vermeiden, deren Truppen immer noch in Polen stationiert waren (89.05).
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versteigern (es wurde an einen Themenpark in Schweden verkauft) (vgl. Abb. 4). Dennoch prägte das Lenindenkmal weiterhin das Bild von Nowa Huta in der Öffentlichkeit. Der Dichter und Musiker Marcin Świetlicki schrieb 1997: „Wenn ich an Nowa Huta denke, sehe ich das Lenindenkmal, obwohl es nicht mehr dort steht.“72 Mit der Beseitigung des Denkmals wurde der Ort eines Elementes beraubt, das ihn geprägt hatte. Es brauchte daher erstmals einen Namen und wurde üblicherweise der „Platz nach Lenin“ oder „die Leere nach Lenin“ genannt. Dieser Name zeigt nicht nur die prägende Kraft des Denkmals, sondern darüber hinaus vor allem auch, dass der Ort als „Platz“ angenommen wurde, trotz des Fehlens von kommerziellen, kulturellen oder administrativen Funktionen, die städtische Aktivitäten generieren.73
Abb. 4: Die Aleja Róż nach der Beseitigung des Lenin-Monuments. Quelle: Piotr Gajewski Architects, Kraków.
Die Einwohner und die lokale Presse verlangten eine Neugestaltung des Ortes.74 Die Diskussion war nachhaltig geprägt von den massenmedialen Repräsentationen von Nowa Huta, vor allem jenen des Antagonismus zwischen Kraków und Nowa Huta, die als Argumente benutzt wurden.75 Als Reaktion auf diese Forderungen wurde eine 72 Vgl. 97.12. 73 Zeitweise wurde zumindest eines der Treppenhäuser eines benachbarten Wohnblocks als Laden genutzt. 74 Vgl. 96.13. 75 Den Kontext dieser Forderung bildete eine breitere Diskussion in den späten 1990ern in Nowa Huta. Die lokale Presse registrierte eine rasche Verwahrlosung des Bezirkes, zu der die Politik einer ungleichen Verteilung der Investitionen in der Stadt wesentlich beitrug (nach einem Artikel von 1999 (99.01) brachte der Bezirk 35% des städtischen Haushalts auf während die Stadt nur 10% der Mittel in den Bezirk investierte). Daher wurden in der lokalen Presse massive
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neue Planung erstellt und im Jahr 2001 realisiert. Der innere Teil des Platzes wurde um drei Stufen abgesenkt, die durch Reihen von Steinsockeln flankiert wurden. In ihrer Mitte, wo früher das Lenindenkmal gestanden hatte, wurde ein erhöhtes Rosenbeet geschaffen, mit dem dieser geometrisch hervorgehobene Ort für die Öffentlichkeit unzugänglich wurde. Gegenüber dem Blumenbeet wurde ein Podium für „künstlerische Aufführungen“ (wie der Planer es formulierte) errichtet (vgl. Abb. 5).76 Auf diese Weise wurde der Blick des Betrachters umgelenkt: Er sollte in die entgegengesetzte Richtung schauen, als es die Teilnehmer der offiziellen Feiern vor dem Lenindenkmal getan hatten. Das war die einzige potenziell kritische Intervention in der Planung, die ansonsten eng der Geometrie der Planung der 1950er Jahre folgte. Die Planer nannten den Platz ein „Forum“ und betrachteten ihn als Attraktion für den ganzen Bezirk.77 Sie nahmen offensichtlich als gegeben an, was der Spitzname des Ortes suggerierte: einen Platz, an dem sich Menschen versammeln. Was dabei ausgeklammert wurde war, dass während des Sozialismus die Menschen sich wegen administrativer Einschränkungen an diesem Ort versammelten, oder weil sie gegen diese Einschränkungen protestieren wollten, was nach 1989 nicht länger der Fall war.
Abb. 5: Entwurf für die Aleja Róż (2002) von Piotr Gajewski Architects, Kraków.
Die neue Planung erwies sich nicht als erfolgreich. Außer den Mitgliedern des Stadtrates78 standen ihr auch die Einwohner von Nowa Huta sehr kritisch gegenüber.79 Viele Stimmen forderten mehr Grünflächen, und insbesondere mehr Rosen. 80 Einige stellten fest, dass die beste Lösung eine Rückkehr zu der Form des Platzes sei, wie sie vor dem Bau des Lenindenkmals bestanden hatte.81
76 77 78 79 80 81
Diskriminierungsvorwürfe erhoben, und die Diskussion wurde von dem alten Antagonismus zwischen Nowa Huta und Kraków bestimmt. Vgl. 00.30, 00.37. Dem Planer zufolge (Interview des Autors mit dem Architekten Piotr Gajewski) war die Platzierung des Blumenbeetes motiviert von dem Versuch, eine im Verhältnis zu dem Podium adäquate Proportionierung des Platzes zu erzielen. Vgl. 00.30. Vgl. 01.39. Vgl. 01.37; 02.25; 02.28; 02.36. Diese Meinungen wurde in einem Interview des Autors mit Jan Franczyk bestätigt (Vgl. Fußnote 22). Vgl. 01.37; 02.25; 02.28. Vgl. 01.37.
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Die starke und einstimmige Forderung nach mehr Grün lässt sich nicht durch seinen Mangel in der unmittelbaren Umgebung erklären. Im Gegenteil, die Wohnblöcke rund um den „Platz“ haben großzügige parkartige Innenhöfe. Zudem gibt es in unmittelbarer Nähe mit der Przyjaźni- (oder ‚Freundschafts-‘) Straße zwei Parks, und der Zentrale Platz liegt an den Überschwemmungsflächen der Weichsel mit ihrem einzigartigen, gesetzlich geschützten Ökosystem. Die Sehnsucht nach Grün an dem einzigen potenziell urbanen Platz in der ganzen Stadt und die Kritik an dem vorgelegten Entwurf kann daher nicht erklärt werden nach einem Gebrauchsmodell des funktionalistischen Städtebaus, nach dem der Gebrauch zur Befriedigung eines isolierten Bedürfnisses erfolgt, das von einem (zumeist physiologischen) Mangel ausgeht. Es ist klar, dass zur Erklärung dieses Bedürfnisses nach Grün ein anderes Konzept des Gebrauchs herangezogen werden muss. Lefebvres Arbeiten bieten ein solches alternatives Konzept, das explizit in Opposition zu funktionalistischen Konzepten formuliert wurde. Gebrauch ist, nach Lefebvre, eine Praxis der Aneignung von Raum, bei der die körperliche Erfahrung Hand in Hand geht mit einer Interpretation. Dieses Konzept ist inspiriert von einer Bemerkung Nietzsches, die Lefebvre in Deutsch am Ende des sechsten Kapitels der „La Production de l’espace“ zitierte: „Eure eignen Sinne sollt ihr zu Ende denken“.82 Lefebvres Konzept des Gebrauchs ist eng verbunden mit seiner Definition der Räume der Repräsentation, verstanden als solche, „die gelebt werden durch die mit ihnen verbundenen Bilder und Symbole.“83 Doch zeigen seine Beschreibungen existierender Räume der Repräsentation (zum Beispiel der Innenräume einer Kathedrale oder einer modernen Freizeiteinrichtung), dass sie nicht nur durch Symbole gelebt werden, sondern auch durch Repräsentationen des Raums. 84 Es ist der Gebrauch der Räume der Repräsentation, der die wahrgenommenen, die gedachten und die gelebten Aspekte des Raums verbindet;85 ein Raum der Repräsentation wird erfahren (oder „gelebt“) durch seine wahrgenommene Form und seine vorgestellte Bedeutung. Lefebvre betont stets, dass keine der drei Komponenten, die in der Erfahrung von Raum beteiligt sind, eine unbedingte Dominanz über andere hat; alle drei verbinden eine relative Abhängigkeit mit einer relativen Autonomie. Der „Platz“ in der Rosenallee ist auch ein Raum der Repräsentation, an dem – während der politischen und kulturellen Dominanz des sozialistischen Regimes – der Besucher mit der beherrschenden Repräsentation von Nowa Huta konfrontiert wurde: der einer sozialistischen Stadt. Außer der Entfernung des Denkmals wurde dieser Ort unmittelbar nach dem politischen Wechsel von 1989 keinen größeren Veränderungen unterworfen. Ein radikaler Wandel war jedoch das Ende der Dominanz einer Repräsentation des Raumes und die Entfesselung einer Konkurrenz verschiedener Repräsentationen von Nowa Huta. Dies ist keine seltene Situation für 82 Lefebvre, The Production of Space, S. 399, Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zaratustra, in: „Werke“ (II), Frankfurt/Main1972, S. 618. 83 Lefebvre, La production de l`espace, Paris 1986 S. 49. 84 Für eine ausführlichere Diskussion dieses Aspekts von Lefebvres Theorie vgl. Stanek, The Production of Urban Space. 85 Lefebvre, The Production of Space, S. 220.
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Räume der Repräsentation die, wie Lefebvre es fasst, keine „eindeutige“ Bedeutung, sondern „einen Horizont von Bedeutung haben: eine spezifische oder unendliche Vielfalt von Bedeutungen, eine wechselnde Hierarchie, in der bald die eine, bald die andere vorübergehend hervortritt, durch eine – und zugunsten einer – bestimmten Aktion“.86 Diese „Aktion“ ist nicht rein im situationistischen Sinn zu verstehen, sondern auch hinsichtlich Rolle eines architektonischen Entwurfs. Es ist der architektonische Entwurf, der zwischen verschiedenen konkurrierenden Repräsentationen des Raums vermittelt. Ein derartiges Verständnis von architektonischer Planung ist überraschend, doch klar präsent in den Äußerungen der Einwohner über den Ort (sowohl bevor die neue Planung präsentiert wurde als auch danach als Kritik an dem realisierten Projekt). Die Analyse der Repräsentationen von Nowa Huta ergibt, dass der Einwohnerprotest gegen die Planung zu verstehen ist als ein Verlangen nach dem Aufbruch aus einer Repräsentation von Nowa Huta – der Repräsentation einer in der politischen Opposition zwischen Sozialismus und Antisozialismus gefangenen Stadt – durch die Herausstellung einer anderen einflussreichen Repräsentation, nämlich der der „grünen Stadt“. Letztere kann die erstere insofern ersetzen, weil sie sowohl weit verbreitet als auch die am wenigsten politisierte Repräsentation von Nowa Huta ist.87 Wie wichtig für die Formulierung dieser Forderungen die medialen Repräsentationen von Nowa Huta waren, lässt sich exemplarisch daran zeigen, dass einer der Artikel, die die neue Planung kritisierten, illustriert war mit der Reproduktion eines Bildes des Rosengartens, das in den 1960er Jahren vor der Errichtung des Denkmals aufgenommen worden war (vgl. Abb. 6).88 Darüber hinaus ist das Votum für einen Park statt für einen städtischen Platz vielleicht als Reaktion gegen das politisierte Verständnis von Urbanität zu verstehen, das die Untersuchung der Repräsentationen des Raumes unter dem Sozialismus ergeben hat: Vor 1989 war in Nowa Huta „das Urbane“ verbunden gewesen mit dem staatlichen Projekt der „sozialistischen Stadt“, die mit der Industrialisierung, Modernisierung und dem kollektiven Konsum definiert wurde. Gleichzeitig trugen die Repräsentationen des antisozialistischen Nowa Huta auch zu seinem städtischen Charakter bei, da, auch wenn die Motive der gegen das Regime Protestierenden auf aus dem ländlichen Kontext stammenden Werten beruhten, doch die Taktik der Unruhen und Demonstrationen gänzlich städtisch geprägt war. Daher kann das Verlangen der Anwohner nach einem Park, ihr Wunsch, jedes Denkmal in der Allee der Rosen zu vermeiden und ihre Zurückweisung der Planung eines „Paradeplatzes“, weniger als anti-urbanes Gefühl denn als Versuch gelesen werden, „das Städtische“ von „dem Politischen“ zu entkoppeln.89
86 Lefebvre, The Production of Space, S. 222 87 Eine historische Untersuchung des Konzeptes einer „grünen Stadt“ würde allerdings die Verkürzung dieses Konzeptes durch das nationalsozialistische und das stalinistische Regime ergeben; die Gründe dafür waren sowohl militärischer als auch ideologischer Natur. (Vgl. Dietmar Reinborn, Städtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996, S. 157). 88 Vgl. 02.33. 89 Vgl. 96.13; 02.25.
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Abb. 6: Foto der Aleja Róż aus den 1960er Jahren, 2002 erneut publiziert als Kritik an der späteren Umgestaltung. Quelle: GTN 2002, No. 35.
Selbst wenn zweifelhaft ist, ob eine solche Entkoppelung möglich und wünschenswert für Nowa Huta ist,90 so zeigte die Analyse der Rosenallee, dass nach dem Fall des Sozialismus die Rollen der Repräsentationen des Raumes in den alltäglichen Praktiken dem Gegensatz von Legitimierung und Opposition gegen das politische System entkommen. Dies war nicht durch das Aufkommen neuer Repräsentationen des Raumes bedingt – dieser Artikel betont, dass in den 1990er Jahren die wichtigsten Repräsentationen von Nowa Huta aus der sozialistischen Vergangenheit übernommen waren –, sondern durch eine Verlagerung in den Kräfteverhältnissen in Nowa Huta. Dabei wurde das Duell zwischen dem Regime und der Opposition ersetzt durch multipolare Spannungen zwischen administrativen, politischen, kommerziellen und kulturellen Kräften sowie verschiedenen Gruppen von Einwohnern. Vielleicht kann die Zurückweisung der politischen Repräsentationen der Rosenallee, die in dem Gegensatz zwischen Sozialismus und Antisozialismus gefangen waren, als Ausdruck eines Verlangens verstanden werden, den städtischen Alltag in Nowa Huta für eine neue Vielfalt von Bedeutungen zu öffnen. Übersetzt aus dem Englischen von Christoph Bernhardt
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ZWISCHEN HERRSCHAFT UND SELBSTBEHAUPTUNG – AMBIVALENZEN SOZIALISTISCHER STADTPOLITIK UND URBANITÄT Christoph Bernhardt/Heinz Reif Wenn Karl Schlögel vor einiger Zeit von einer „Wiedergeburt der Stadt“ in Osteuropa nach 1989 sprach,1 so war diesem Diktum die These von einer dunklen Periode, einer Epoche von Niedergang, wenn nicht Bedeutungslosigkeit urbaner Kultur im Sozialismus eingeschrieben. Eingebettet in eine Industrieentwicklung, deren Folgen nach 1989 unter anderem als Versagen auf dem Weltmarkt und als massive Umweltschäden in drastischer Form hervortraten – Schlögel sprach an anderer Stelle von „Landschaft nach der Schlacht“2 – erscheint damit die Stadtgeschichte im Sozialismus, und insbesondere der Fall der Industriestädte, als ein historischer Tiefpunkt zweier Negativtrends der modernen Industriegesellschaft in Europa. Die Beiträge des vorliegenden Bandes präsentieren eine Fülle von konzeptionellen Zugriffen und empirischen Befunden, die diese – hier zugespitzt formulierte – These teils kritisch präzisieren, teils aber auch stark relativieren. Die folgende Bilanz beginnt mit einer kritischen Verortung der Rolle von Städten im zentralistischen System des Sozialismus unter besonderer Berücksichtigung der ambivalenten Privilegierung von Industriestädten. Dem schließt sich eine kritische Neu-Bestimmung der für das sozialistische System konstitutiven Institution der „doppelten Unterstellung“ der Kommunalverwaltung an. In weiteren Schritten sollen einige zentrale Ergebnisse der drei Buchabschnitte zur Kommunalpolitik, zur Stadtplanung und zu städtischen Alltagen und Öffentlichkeiten zusammen geführt werden. Sie ergeben zusammen genommen die Umrisse eines neuen Bildes der Städte im Sozialismus und enthalten einige auch für die breitere DDR- und Sozialismusforschung relevante Erkenntnisse. Zur Stellung der Stadt im DDR-Sozialismus Im Ergebnis der hier versammelten Studien ist die Rolle der Städte im DDR-System anders zu bewerten, als sie nach der formellen, stark hierarchisch strukturierten Rechts- und Verwaltungsordnung der DDR erscheint, an der sich im wesentlichen 1 2
Karl Schlögel, Die „Europäische Stadt“ aus der Sicht des Historikers, in: Werner Rietdorf (Hrsg.), Auslaufmodell Europäische Stadt? Neue Herausforderungen und Fragestellungen am Beginn des 21. Jahrhunderts, Berlin 2001, S. 23–30, hier S. 26. Karl Schlögel, Landschaft nach der Schlacht. Besichtigung der sowjetischen und amerikanischen Industriewalstatt, in: Kursbuch 131 (1998): Neue Landschaften, S. 41–54.
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auch die Forschung bislang orientiert hat. Nach dieser offiziellen und bis heute fort wirkenden Lesart war die DDR-Stadt wegen der zentral vorgegebenen Ressourcenund Identitätslogiken mit weitreichendem Konsenszwang kaum mehr als eine kleinräumige territoriale Einheit des Staates, ihre Verwaltung ein auftraggebundenes „lokales Staatsorgan“. Die Durchsetzung von „Eigensinn“ war unter diesen Bedingungen – jenseits einiger zentralistischer Lyrik über notwendige und erwünschte Dezentralisierung – auf den formellen Wegen kaum möglich. Im Rahmen dieser scheinbaren – weil zu relativierenden – Ohnmacht der Städte innerhalb der zentralen Steuerungslogiken profitierten andererseits viele Kommunen vom Primat der Industriepolitik im Sozialismus. Sie schuf eine weitreichende, vielfach abgestufte und offiziell teilweise tabuisierte Privilegierung von Städten nach dem Maßstab der politisch-ökonomischen Hierarchie unter den Industriesektoren. Ob Eisenverhüttung (Eisenhüttenstadt), Erdöl (Schwedt), Chemie (Halle), LKW- (Ludwigsfelde) oder Schiffsbau (Rostock) – Industriestädte waren, nach Maßgabe der politischen Förderung „ihres Leitsektors“, durchweg privilegiert, jedenfalls was die ihnen zugewiesenen Ressourcen betrifft. Innerhalb dieser bevorzugten Gruppe der Industriestädte besaß dabei die einzelne Kommune wiederum sehr unterschiedliche Chancen auf Ressourcenzuteilungen, die zudem im Zeitablauf in Abhängigkeit von politischen Prioritätenwechseln stark schwankten. Hinzu kamen die Folgen weiterer sehr wirkungsmächtiger Strategien der Hierarchisierung, insbesondere nach administrativer Stellung, Bevölkerungszahl und besonderen Förderschwerpunkten, wie z. B. der bis in die 1960er Jahre verfolgten Politik zum Abbau des Nord-Südgefälles.3 Die Bedeutung des administrativen Status für die Entwicklungschancen und Stadtkarrieren im Sozialismus nahm dabei eher noch zu. Dies zeigen gerade die die seitens der Kommunen zielstrebig verfolgten „Aufstiege“ auf der Stufenleiter des Systems, so z. B. von der „Aufbaustadt“ zur Bezirkstadt (Rostock, Neubrandenburg) oder von der kreisabhängigen Stadt zum selbstständigen Stadtkreis (Schwedt) sowie zur Kreisstadt (Angermünde). Für kleine Gemeinden war bereits die Stadtwerdung ein erster Schritt von weitreichender Bedeutung, wie der Fall Ludwigsfelde exemplarisch zeigt.4 Durch diese Hierarchisierung wurde nicht zuletzt eine scharfe Interessendivergenz und Konkurrenz der Städte untereinander begründet. Traditionelle Konkurrenzen zwischen unmittelbaren Nachbarstädten, wie z. B. zwischen Rostock und Schwerin, Schwedt und Angermünde oder Neubrandenburg und Neustrelitz spitzten sich noch einmal zu.5 Die ungleichen Chancen und Erfolge im Buhlen der Städte um die chronisch knappen Mittel der Zentrale bzw. der Bezirke schlugen sich unter anderem in einer unterschiedlichen infrastrukturellen Ausstattung und raschen Wechseln von Ausbau- und Stagnationsphasen nieder.6 Diese Ungleichheiten an 3 4 5 6
Vgl. dazu die von Roesler, Hübner und Karlsch in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, H.2/1987, H.1/1988 und H. 3/1990 geführte Debatte. Vgl. zu den vorgenannten Städte-Beispielen die Beiträge von Benke, Wolfes, Raschke und Springer in diesem Band. Diese und die im Folgenden angeführten Ergebnisse sind, soweit nicht anders angeführt, den in diesem Band versammelten Beiträgen entnommen. Vgl. für den Fall Eisenhüttenstadt Christoph Bernhardt, Entwicklungslogiken und Legitimati-
Zwischen Herrschaft und Selbstbehauptung
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Status, Konsum- und infrastrukturellen Angeboten bestimmten auch die Außenwahrnehmung der Städte und deren mehr oder weniger große Attraktivität für Zuwanderer oder Besucher aus der Region.7 Unter diesen Umständen war auch eine horizontale Vernetzung und Kooperation der Städte, zumal eine solche, die sich gegen die Zentrale richtete, quasi unmöglich. Zugleich erschien aus Sicht des Systems die Gewährung von Freiräumen für „eigensinnige“, begrenzt partizipatorisch ausgerichtete Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene weniger risikoreich, da räumlich begrenzt und eher beherrschbar, als bei den scharf kontrollierten und verfolgten überlokalen Bewegungen und individuellen Initiativen, zum Beispiel der Bürgerbewegung. Manche solcher lokalen Aktivitäten wirkten in ihrer Ventil- und Kompensationsfunktion sogar politisch integrierend, so dass sie für die Legitimierung des Systems instrumentell nutzbar waren.8 Einiges spricht für die These Betkers, dass die partielle Hinnahme von Eigenlogiken und parteifernen Sinnwelten auf kommunaler Ebene durch die SED als notwendiges Zugeständnis an die Funktionserfordernisse des Moderneprojektes der sozialistischen Industriegesellschaft zu erklären ist.9 Aus dieser Sicht fiel den Städten eine strukturfunktional wichtige, kompensatorische Rolle als Korrektiv einer zentralistischen Staatsform zu, und gerade die informellen, gering oder teilweise gar nicht kontrollierten Handlungsmuster und Netzwerke bildeten eine existentiell wichtige Schnittstelle zur Gesellschaft. Eine andere „doppelte Unterstellung“: Kommunalpolitik zwischen hierarchischer Randstellung und Herrschaftsanspruch Gemessen an der tatsächlichen Machtverteilung wurden die Kommunen im DDRSystem einer anderen Art von „doppelter Unterstellung“ unterworfen als von der offiziellen juristischen Terminologie und der neueren Forschung dargestellt. In dieser offiziellen Terminologie bezeichnete die mit der grundlegenden Verwaltungsreform von 1952 eingeführte doppelte Unterstellung eine Weisungsgebundenheit der Kommunen gegenüber den übergeordneten Fachbehörden einerseits und den Stadtverordnetenversammlungen andererseits.10 Faktisch blieb jedoch der Einfluss der onsmechanismen im Wohnungsbau der DDR am Beispiel der sozialistischen Modellstadt Eisenhüttenstadt, in: Ders./Thomas Wolfes (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005, S. 341–366, hier S. 345. 7 Vgl. den Beitrag von Springer in diesem Band sowie Siegfried Grundmann, Räumliche Disparitäten in der DDR, in: Lothar Mertens (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der DDR. Zu einem tabuisierten Strukturmerkmal der SED-Diktatur, Berlin 2002, S. 159–202 sowie die graphisch aufbereitete Rekonstruktion der Wanderungsbewegungen in der DDR 1969 – 1971 in Rolf Bönisch/Gerhard Mohs/Werner Ostwald (Hrsg.), Territorialplanung, 3. Aufl. Berlin 1982 S. 165. 8 Vgl. die Fülle von Fallbeispielen mit jeweils eigenen, komplexen Dynamiken in den von Adelheid von Saldern herausgegebenen Bänden: Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003, sowie: Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), Stuttgart 2005. 9 Vgl. den Beitrag von Betker in diesem Band. 10 Heinz Bartsch, Aufgaben und Struktur der örtlichen Verwaltung, in: K. König (Hrsg.), Verwal-
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Stadtverordneten marginal, so dass nur die eine Seite des Unterstellungsverhältnisses, nämlich die unter die „übergeordneten Fachbehörden“, machtpolitisch relevant war.11 Hier waren es vor allem die Räte der Bezirke, aber auch die oft unterschätzten Kreisverwaltungen, die als vorgesetzte Fachbehörde weitreichende Planungs- und Exekutivkompetenzen besaßen und existenzielle Weichenstellungen für das Wohlergehen der Städte vornahmen. So erstellte der Rat des Bezirkes zum Beispiel die für die zentralstaatliche Steuerung und Ressourcenzuteilung grundlegenden Planentwürfe und verhandelte darüber auf der vertikalen politisch-administrativen Ebene mit den Ministerien sowie horizontal mit den großen Kombinaten. Zudem steuerte er die bezirksgeleiteten Betriebe und organisierte die räumlich„territoriale Verteilung“ der Investitionen, wie z. B. der Wohnungsbaumittel, unter den Städten und Gemeinden im Bezirk.12 Aus Sicht der Kommunen und gemessen an der Tradition der deutschen kommunalen Selbstverwaltung war lokale Politik damit eingespannt in ein eisernes Korsett einer Vielzahl von der Zentrale und den Bezirken vorgegebener Richtlinien. Dementsprechend konnte sie auch nur einen Bruchteil der Finanzmittel nach eigenen Schwerpunktsetzungen verausgaben.13 Und doch markierte die 1952 dekretierte Verwaltungsreform, nimmt man die macht- und finanzpolitischen Veränderungen zusammen, keine bloße Degradierung der Städte im sozialistischen System, sondern lief in der Folgezeit auf eine janusköpfige Mischung von Kompetenzeinbußen, -gewinnen und neuen Fördermaßnahmen hinaus. So erlitt etwa Rostock gegenüber der Vorkriegszeit einerseits einen herben Verlust von Selbstverwaltungs- und Planungskompetenzen, profitierte jedoch andererseits von der mit großen Fördermitteln verbundenen Aufwertung zur Bezirkshauptstadt und fand teilweise neue Wege der direkten Interessenvertretung „nach oben“.14 Insbesondere in epochen- und systemübergreifender sowie transnationaler Perspektive treten teilweise andere Bezüge und Kontraste hervor als beim rein deutschdeutschen Vergleich. So stellte die 1952 vorgenommene Einstufung der Kommunalverwaltung zu „lokalen Staatsorganen“ in der Entwicklung der traditionell starken städtischen Selbstverwaltung in Deutschland einen tiefen Einschnitt und Bruch dar.15 Aus systemübergreifender Sicht dagegen erscheint sie eher als extreme Ausprägung einer längerfristigen gesamteuropäischen Entwicklung. Rein verwaltungstechnisch, das heißt bezogen auf die Zuordnung von Kompetenzen an verschiedene tungsstrukturen der DDR, Baden Baden 1991, S. 109–134, hier S. 109–111. 11 Vgl. den Beitrag von Benke im vorliegenden Band. 12 Zu den Kompetenzen der Bezirke siehe Christoph Hausschild, Die örtliche Verwaltung im Staats- und Verwaltungsaufbau der DDR. Auf dem Wege in den gesamtdeutschen Bundesstaat: eine vergleichende Untersuchung Berlin 1991, S. 171–174. 13 Bartsch, Aufgaben, S. 109 ff. Vgl. auch Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen vom 18. Juli 1973. Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1973, S. 313–335, insbes. §§26, 40. 14 Vgl. den Beitrag von Wolfes in diesem Band. 15 G. Püttner/A. Rösler, Gemeinden und Gemeindereform in der ehemaligen DDR. Zur staatsrechtlichen Stellung und Aufgabenstruktur der DDR-Gemeinden seit Beginn der siebziger Jahre. Zugleich ein Beitrag zu den territorialen Veränderungen der Gemeinde- und Kreisgrenzen in der DDR, Baden-Baden 1997, S. 26.
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Ebenen des Staates betrachtet, handelte es sich bei der sozialistischen Konzeption in der Tradition des auf Lenin zurück gehenden „demokratischen Zentralismus“ zunächst „nur“ um eine radikalisierte Variante der Machtübertragung an die regionale und die zentrale Ebene des Staates auf Kosten der Kommunen. Dieses Modell besaß in Europa durchaus eine längere Tradition, und so wiesen die Verwaltungsstrukturen der DDR auch manche Analogien mit dem französischen System auf und setzten etwa im Bereich der Daseinsvorsorge alte Traditionen des „Munizipalsozialismus“ in modifizierter Form fort.16 Selbst die Stadtverwaltungen in der Bundesrepublik erfuhren im 20. Jahrhundert trotz ihrer im internationalen Maßstab außergewöhnlichen Selbstverwaltungskompetenzen eine Beschneidung ihrer Handlungsspielräume, insbesondere bei der Finanzautonomie, und eine steigende Belastung mit Pflichten der staatlichen „Auftragsverwaltung“.17 Die Verlagerung kommunaler Kompetenzen an die Zentralgewalt kann daher als eine im 20. Jahrhundert systemübergreifend wirksame Tendenz angesehen werden, und die entsprechende Kompetenzverteilung in der DDR als eine extreme Variante dieser Tendenz. Den eigentlichen Bruch in epochen- und systemübergreifender Perspektive markierte demgegenüber die Aufhebung der Grundregeln demokratischer Repräsentation bei der Zusammensetzung der Stadtparlamente und bei deren Kontrolle über die Stadtverwaltungen. In der Unterwerfung der Stadtverwaltungen unter die Weisungen der SED bestand tatsächlich das zweite, machtpolitisch entscheidende Unterstellungsverhältnis, das die formalrechtliche Akzentuierung der „Unterstellung“ gegenüber der weitgehend ohnmächtigen Stadtverordnetenversammlung faktisch mehr als nur ersetzte. So vollzogen die Stadtverwaltungen vielfach die von der SED entworfenen Vorlagen für Tagesordnungen und Beschlüsse nur nach und wurden von Funktionären geleitet, die in Doppelrollen zugleich als Vertreter von Partei und Kommune agierten. Bedenkt man, dass die Auswahlmechanismen für die Rekrutierung und Wahl der Stadtverordneten und die Kontrolle der Stadtverwaltungen faktisch noch hinter die des preußischen Dreiklassenwahlrechts zurückfielen, so lag hier der entscheidende Bruch mit den Traditionen der europäischen Stadtgeschichte. Der Pate: Großbetriebe als „Ersatzanbieter“ städtischer Leistungen Die sozialistischen Großbetriebe, insbesondere die Kombinate, waren nicht nur die ökonomisch mächtigsten Akteure und im Regelfall die größten Grundbesitzer in der Stadt, sondern dienten auch als „Ersatzanbieter“ sozial- und kulturpolitischer Leistungen. Das heißt, sie übernahmen, noch weit über die traditionelle patriarchalische Sozialpolitik im Stile Krupps hinaus, zum Beispiel Funktionen des Einzel16 Ebd., S. 35–39. Vgl. zu den Potentialen eines systemübergreifenden Vergleichs zwischen dem DDR- und dem französischen Staats- und Gesellschaftssystem Hartmut Kaelble, Die Gesellschaft der DDR im internationalen Vergleich, in Ders./J. Kocka/H. Zwahr (Hrsg.), Stuttgart 1994, S. 559–580, hier S. 574 ff. 17 Vgl. Wolfgang Krabbe, Die deutsche Stadt im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1989, S. 180 ff.
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handels – so etwa bei Sonderverkaufsaktionen in Betriebsräumen – und boten eine breite Palette von Dienstleistungen für ihre Beschäftigten an, die vom Friseur bis zur Urlaubsreise reichte. Aufgaben in der sozialen Sicherung und der Kulturpolitik, z. B. mit der Organisation von Konzerten und Theateraufführungen, waren ein weiteres Betätigungsfeld der Großbetriebe von existenzieller Bedeutung. Wenn die Betriebe auf diese Weise faktisch grundlegende Stadtfunktionen ausbildeten und in der Nachkriegszeit oft als erste überhaupt derartige kulturelle und sozialpolitische Angebote machten, so bedeutete das vielfach auch eine Entlastung der Städte. Den äußeren Anschein einer solidarischen Partnerschaft mit hoher Verbindlichkeit erhielt diese Zusammenarbeit vor allem in den Fällen, in denen sich die Betriebe mit förmlich vereinbarten „Kommunalverträgen“ zur Sicherung von Infrastrukturen verpflichteten.18 Andererseits waren jedoch insbesondere dort, wo aus „Wohnsiedlungen am Werk“ erst allmählich die „neuen Planstädte“ hervorgingen, die Stadtverwaltungen auch auf längere Sicht kaum mehr als ein Mündel oder bestenfalls Juniorpartner „ihrer“ zuvor auf der „grünen Wiese“ entstandenen großen Industriekombinaten. Dadurch konnten letztere eine Übermacht, ja vielfach ein „Diktat“ über die Städte ausüben und eine „Stadt in der Stadt“ bilden (Jajesniak-Quast).19 Wie in solchen Fällen die Kraftlinien zwischen Stadt und Betrieben im Einzelnen strukturiert waren, hing nicht zuletzt davon ab, ob sich die Stadt einem einzigen Großbetrieb mit monopolartiger Position oder mehreren, potentiell konkurrierenden Unternehmen gegenüber sah, wie etwa in Schwedt. Die Kommune als „Verantwortungsträger“ und Netzwerk Trotzdem wäre die These von einer im epochenübergreifenden Vergleich extremen Machtlosigkeit der DDR-Städte zu eindimensional. Zum einen besaßen die Verwaltungen, und zwar insbesondere die Räte der kreisfreien Städte, sehr wohl eigene weitreichende Kompetenzen. So traten sie dem Bürger etwa in den Bereichen Wohnungsvergabe und -verwaltung, Stadtplanung, Konsumgüterversorgung und Kultur als „Verantwortungsträger“ (Benke) entgegen.20 Die Forschung hat auch verschiedentlich die Gestaltungsspielräume der „Stadtarchitekten“ und ihren weitreichenden Einfluss auf die Stadtentwicklung nachgewiesen,21 den Betker in dem vorliegenden Band für die kommunalen Büros für Stadtplanung analysiert. Zusammengenommen bewegten sich die Kommunalverwaltungen in einem durchaus komplexen, in sich widersprüchlichem Herrschaftsgefüge, das keineswegs nur „top-down“, sondern teilweise auch „bottom-up“ strukturiert war. Das begann mit den Eingaben der Bevölkerung, die von der ansonsten gegenüber den Bürgern oft autoritär auftretenden öffentlichen Verwaltung sehr sorgfältig ausgewertet und als wichtiger Indi18 19 20 21
Vgl. dazu den Beitrag von Wolfes im vorliegenden Band, S. 122. Vgl. den Beitrag von Jajesniak-Quast im vorliegenden Band, S. 110. Bartsch, Aufgaben, S. 109. Vgl. Ruth May, Planstadt Stalinstadt. Ein Grundriß der frühen DDR – aufgesucht in Eisenhüttenstadt, Dortmund 1999, S. 210 ff.
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kator von Stimmungsschwankungen ernst genommen wurden.22 Zusammen mit anderen institutionellen Formen der Vermittlung von Forderungen der Bevölkerung an die lokalen Machthaber – z. B. über die Nationale Front –, bis hin zu einzelnen öffentlichen Protesten bestand ein differenziertes Repertoire an Aushandlungsformen zwischen der Stadtgesellschaft und dem „lokalen Staatsorgan“. Innerhalb des Apparates bildeten sich zuweilen vertikale Koalitionen zwischen Schlüsselakteuren der Lokalpolitik und der Betriebe sowie einzelnen Vertretern der Bezirksebene – vor allem dem Wohnungsbaukombinat –, um etwa die Realisierung von Bauprojekten halb informell voran zu treiben. Das Beispiel Rostock zeigt, dass Städte über derartige halb-informelle Netzwerkbildungen (z. B. Beteiligung von bezirklichen Planern an städtischen Ratssitzungen) einen nicht unerheblichen Einfluss auch auf Planungsentscheidungen außerhalb ihres formalen Kompetenzbereichs gewinnen konnten.23 Kooperationen zwischen lokaler Verwaltung und der Bezirksleitung der SED oder zwischen Kommunalpolitik und Zentralstaat sowie „intermediäre“ Netzwerk-Initiativen wie jene zum Bau eines Schwimmbades in Ludwigsfelde stellten keineswegs Einzelfälle dar. Eine wichtige Voraussetzung für die Durchsetzungsfähigkeit der Kommunen, die oft zum Hindernis wurde, bestand in der Mobilisierung von „Humankapital“ für die städtischen Gremien, das heißt in der Elitenrekrutierung. Galt doch die Übernahme kommunaler Ämter als potentielle „Karrieresackgasse“, so dass die Breite und Stärke der lokalen Eliten gerade in Kleinstädten schwach und überschaubar blieb.24 Dass der Anteil von SED-Mitgliedern in der Kommunalpolitik vergleichsweise niedrig lag, schwächte dabei das politische Gewicht von Initiativen „nach oben“ noch zusätzlich. Andererseits waren jedoch gegenüber der „exklusiven SEDHerrschaft“, so Wiesener, informelle Netzwerkbildung und die Abwehr ideologischer Argumentationen zwei grundlegende Bedingungen für die Möglichkeit politischen Handelns in den Kommunen.25 Vom Nutzen und Nachteil der Utopien: Stadtplanung zwischen Ressourcensicherung und Moderation „Stadtplanung“ umfasste unter den realen Bedingungen des Sozialismus ein breiteres Themen- und Aufgabenfeld als zuvor und war faktisch mehr denn je umfassende „Stadtentwicklungsplanung“. Sie begann mit der Durchsetzung von hohen Bevölkerungsprognosen in zentralen Plandokumenten. Diese bildeten insofern ein 22 Vgl. stellvertretend den Bericht der SED-Bezirksleitung Leipzig für 1980, hier zitiert nach: Thomas Topfstedt, Wohnen und Städtebau in der DDR, in: Geschichte des Wohnens Bd. 5: Von 1945 bis heute, hg. von Ingeborg Flagge, Stuttgart 1999, S. 419–562, hier S. 422. Zur Organisation der Partei auf lokaler Ebene siehe Katrin Passens, Der Zugriff des SED-Herrschaftsapparates auf die Wohnviertel, Berlin 2003. 23 Vgl. das in dem Beitrag von Wolfes im vorliegenden Band S. 131 angeführte Beispiel der Rostocker Neptunschwimmhalle. 24 Vgl. den Beitrag von Benke im vorliegenden Band. 25 Vgl. den Beitrag von Wiesener im vorliegenden Band.
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hartes Instrument der Ressourcensicherung, als davon unmittelbar die Höhe der staatlichen Finanzzuwendungen abhing. Die utopisch erscheinenden Prognosen, die in DDR-Quellen zur Stadtplanung immer wieder auftreten, 26 sind daher nicht primär ein Ausdruck realitätsfernen Wunschdenkens zu lesen, sondern als Einsatz eines politisch-strategisches Mittels für die Ressourcenakquise zur Stadtentwicklung. Dieser Mechanismus bestimmte auch die Stadtplanung in anderen sozialistischen Ländern, wie z. B. in der UdSSR,27 und war insofern offensichtlich der Logik des sozialistischen Systems inhärent. Wenn es im Einzelfall dann auch noch gelang, ein zunächst utopisch scheinendes Bevölkerungswachstum tatsächlich zu erreichen – z. B. Rostocks auf 200.000 Einwohner 1975 – war dies als herausragender Erfolg der Selbstbehauptung in der Städtekonkurrenz und gegenüber der Zentrale zu werten. Zur Logik eines solchen strategischen „Zukunftsmanagements“ im Sozialismus gehörte es auch, die nicht realisierten früheren Planungen und Versprechungen später stillschweigend in den Schubladen verschwinden zu lassen. 28 Die Beiträge dieses Bandes lassen einige der Erfolge und Niederlagen, Stärken und Schwächen der Stadtplanung im Sozialismus besonders klar hervortreten. Zur Erfolgsbilanz lassen sich, zumindest was die Legitimationssicherung betrifft, durchaus die Prestigeobjekte der Nationalen Bautradition der frühen 1950er Jahre als auch das Honeckersche Wohnungsbauprogramm der 1970er und 1980er Jahre zählen. Mobilisierten die erstgenannten Baubestände eine für das Regime im Kontext der unruhigen frühen 1950er Jahre wertvolle Identifikation der Bevölkerung und besaßen insofern eine gewisse funktionale Logik, so brachte der Großsiedlungsbau der Honecker-Ära eine Hebung des Lebensstandards, insbesondere junger Familien, und verstärkte den sozialen Transformationsprozess in Richtung einer sozialistischen Konsumgesellschaft. Dass der Bau von Nachfolgeeinrichtungen der sozialen oder Dienstleistungs-Infrastruktur im Wohnumfeld (Kaufhallen, Freizeitangebote, Jugendklubs usw.) hinter dem Bedarf und auch im Vergleich zu der besseren Versorgung mit Schulen, Kinderkrippen und -gärten stark zurück- oder gar ausblieb, 29 wirkte jedoch mittelfristig in die entgegengesetzte Richtung einer massiven Legitimationserosion. Als Stärke werten lassen sich auch die Fälle von „eigenlogischen“ Abweichungen der Stadtplanungen von den vorgegebenen Leitbildern, die mit geographischen Besonderheiten oder ökonomischen Notwendigkeiten gerechtfertigt werden konnten. Allerdings war deren Realisierung in jedem Fall an die Durchsetzungsfähigkeit der lokalen Akteure gebunden. Zu solchen „eigenlogischen“ Entwicklungen zählte etwa der bandstadtartige Ausbau Rostocks, der von dem in den 16 Grundsätzen von 1950 vorgegebenen Leitbild der „kompakten“ Stadt deutlich abwich.30 Eine gewisse Flexibilität und Fähigkeit zur Neuausrichtung ist selbst dem 26 Vgl. insbesondere den Beitrag von Raschke im vorliegenden Band, S. 148 u. S. 160. 27 Vgl. z. B. die Angaben in dem Beitrag von Nevzgodin im vorliegenden Band für Angarsk sowie für Novosibirsk, S. 202 u. S. 211. 28 Vgl. zum Vorangegangenen den Beitrag von Wolfes im vorliegenden Band, S. 137. 29 Vgl. Simone Hain, Berlin-Marzahn. Vollkommen subjektive Betrachtungen vor Ort, in: Hans G. Helms (Hrsg.), Die Stadt als Gabentisch, Leipzig 1992, S. 531–541. 30 Vgl. den Beitrag von Wolfes im vorliegenden Band, S. 132.
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„mainstream“ der Stadtplanung nicht abzusprechen. So deutet die Rückbesinnung auf die innerstädtischen Altbaugebiete in den 1980er Jahren darauf hin, dass das System in Teilbereichen durchaus lern- und reformfähig war, so dass statt von einer grundsätzlichen totalen Reformblockade eher von einer fatalen Reformträgheit zu sprechen ist.31 Auch die institutionellen Strukturen der Stadtplanung waren nicht durchweg so vollständig „top-down“ geschaltet wie zuweilen dargestellt. So konnten sich einzelne Kommunen teilweise ihnen zunächst nicht zugestandene Kompetenzen erkämpfen, wie z. B. die Federführung in der Stadtplanung, die wesentlich durch den mit größeren Handlungsspielräumen ausgestatteten Stadtarchitekten erfolgte.32 Die der Systemlogik entsprechende Akteurskonstellation von zentralen Planvorgaben und deren Modifikation durch die lokalen Interventionen wurde also hier tendenziell abgelöst von dem umgekehrten Prinzip einer Planung vor Ort und deren Kontrolle von oben. Die wichtigsten Stadtarchitekten trafen sich sogar regelmäßig halb informell zu „republikweiten“ Abstimmungsgesprächen.33 Die Arbeit des Stadtarchitekten war nach „innen“ wie nach „außen“ wesentlich von Moderationsaufgaben in einem komplexen Interessen- und Machtgeflecht geprägt. Zu seinen Gesprächs- und Verhandlungspartnern gehörten dabei etwa das Forschungsinstitut für Städtebau der Bauakademie, der Rat der Stadt und des Bezirks sowie einzelne Stadträte und Vertreter der Nationalen Front.34 Institutionelle Reformen wie etwa die Einrichtung (1954), Auflösung (um 1960) und Wiederbesetzung (1968) eines Chefarchitekten-Postens und eines Büros für Stadtplanung in Rostock lassen auf wiederholte Machtverschiebungen zwischen den Vertretern einer stärker zentralistisch-behördlichen und eher dezentral-moderierenden Ausrichtung der Planung schließen. Wenn inzwischen für die Städte der DDR von Benke/ Wolfes35 und weiteren Autoren, auch des vorliegenden Bandes, eine Vielzahl unterschiedlicher Stadtkarrieren rekonstruiert werden konnten,36 dann beruhten diese ganz wesentlich auf der Summe solcher Aushandlungsprozesse, von denen viele auf der lokalen oder bezirklichen Ebene stattfanden und entschieden wurden. Von grundlegender Bedeutung für das Gelingen von Moderationen und die entschlossene Nutzung von Handlungsspielräumen war auch und gerade in der Stadtplanung die Gewinnung von Fachleuten und die Akkumulation von Expertenwis31 Vgl. als Dokumentation der Reformüberlegungen unter DDR-Städtebauern in den 1980er Jahren Bernd Hunger et al., Städtebauprognose. Städtebauliche Grundlagen für die langfristige intensive Entwicklung und Reproduktion der Städte, Berlin 1990. 32 Vgl. May, Planstadt Stalinstadt, S. 210 ff. 33 So der frühere Stadtarchitekt von Frankfurt/Oder, Vogler, auf dem zehnten „Werkstatttgespräch zur Planungsgeschichte“ im IRS/Erkner am 25.1.2008. Vgl. dazu den Tagungsbericht in: HSoz-u-Kult, 21.06.2008, . 34 Rietdorf spricht daher von einem „einigermaßen komplizierte(n) Prozeß mit vielen Akteuren“. Werner Rietdorf, Ein Traum vom Raum, in: RaumPlanung 74/1996, S. 186. 35 Carsten Benke/Thomas Wolfes, Stadtkarrieren: Typologie und Entwicklungsverläufe von Industriestädten in der DDR, in: Bernhardt/Wolfes (Hrsg.), Schönheit, S. 127–164. 36 Vgl. insbesondere die in dem Sammelband von Axel Schildt/Dirk Schubert (Hrsg.), Städte zwischen Wachstum und Schrumpfung. Wahrnehmungs- und Umgangsformen in Geschichte und Gegenwart, Dortmund 2008, versammelten Beiträge.
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sen. Städte, in denen höhere Bildungseinrichtungen wie insbesondere Universitäten und Fachhochschulen angesiedelt waren, waren hier begünstigt. Nevzgodins Hinweis, das die Rekrutierung ausgebildeter und fähiger Architekten für die Stadtplanung in sibirischen Städten geradezu eine Schlüsselfrage des Bauwesens bildete, zeigt die große Bedeutung und Brisanz der Frage des örtlich verfügbaren „Humankapitals“ insbesondere für die peripheren Regionen der sozialistischen Länder.37 Alltage Wie oben angedeutet, waren Alltag und öffentliches Leben in den sozialistischen Industriestädten von weitreichenden materiellen Privilegien bei gleichzeitig großen Unterschieden zwischen den Städten geprägt. Die Versorgungsbedingungen waren hier im Vergleich zu den meisten anderen Städten der DDR ausgesprochen vorteilhaft, es wurden fast durchgängig relativ weit mehr Wohnungen errichtet, die Ausstattung mit öffentlichen Einrichtungen und infrastrukturellen Angeboten war besser als anderswo.38 In manchen Städten wie z. B. Leipzig, Rostock und Erfurt kam die Bedeutung der jeweiligen Stadt als „Aushängeschild“ der DDR hinzu – westliche Touristen oder Angehörige ausländischer Betriebe sollten ein positives Bild der DDR-Gesellschaft und der sozialistischen Stadtentwicklung vermittelt bekommen.39 Aus diesen günstigen Bedingungen zogen die Städte deshalb häufig auch ihr Selbstverständnis und erhielten besondere identitätsstiftende Einrichtungen, wie z. B. ein Centrum-Warenhaus. Trotzdem gab es gerade auch in den zeitweise rasch wachsenden Industriestädten Defizite, die sich im Alltag der Bewohner als erhebliche Belastung erwiesen. Insbesondere in den Neubaugebieten erfolgte der Aufbau von Konsumeinrichtungen, Gaststätten, Kindergärten, Kulturinstitutionen oder anderen Zentren gesellschaftlichen Lebens oftmals äußerst schleppend, so dass sich die Bewohner über lange Zeit mit der vorhandenen Mangelsituation arrangieren oder weite Wege in andere Stadtteile oder Städte zurücklegen mussten.40 In den älteren Städten sowie in den Großstädten waren solche Defizite leichter zu kompensieren als etwa in neu entwickelten Klein- und Mittelstädten. Erstere verfügten doch immerhin über gewachsene Strukturen und oft noch über einen stärkeren Einzelhandelsektor, auch wenn dieser durch politisch motivierte Maßnahmen, wie Konzentrationsprozesse und Verstaatlichung privater Geschäfte und Betriebe, erheblich von ihrer ursprünglichen Vielfalt verloren. Auf solche gewachsenen und dabei leistungsfähigen Strukturen konnten dagegen kleinere Orte, die das Siedlungsnetz in der „Industrieprovinz“ der DDR wesentlich prägten, nicht zurückgreifen. 37 Vgl. den Beitrag von Nevzgodin im vorliegenden Band, S. 200. 38 Vgl. Andreas Ludwig, Eisenhüttenstadt. Wandel einer industriellen Gründungsstadt in fünfzig Jahren. Potsdam 2000, S. 82. 39 Alice von Plato, „Gartenkunst und Blütenzauber“. Die Internationale Gartenbauausstellung als Erfurter Angelegenheit, in: v. Saldern (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit, S. 183–234. 40 Vgl. Hain, Berlin-Marzahn.
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Von grundsätzlicher Bedeutung ist die Tatsache, dass sich städtisches Leben auch innerhalb der jeweiligen Stadtgrenzen sehr verschiedenartig gestaltete. Nicht zuletzt die Versuche der Bewohner, innerhalb der Stadt umzuziehen, belegten diese stadträumlichen Differenzierungen, die sich innerhalb der vier Jahrzehnte teilweise stark veränderten. Partei- und Staatsorgane waren lange Zeit bemüht, solchen Tendenzen sozialräumlicher Segregation entgegenzuwirken, bildete doch die Aufhebung der sozialen Segregation zwischen den Klassen und der räumlich-qualitativen Differenzen zwischen Stadt und Land ein erklärtes Staatsziel.41 So wie ein prinzipieller Ausgleich zwischen Stadt und Land zentrale Zielvorgabe der Parteiführung war, so sollten auch innerhalb einer Stadt möglichst geringe Unterschiede in der Lebensqualität herrschen. Und in der Tat hat die stadtsoziologische Forschung gewisse Erfolge beim Abbau sozialer Ungleichheit, z. B. im Wohnungswesen, konstatiert.42 Jedoch kam es gerade in den größeren Städten mit ihren in den 1970er und 80er Jahren vermehrt errichteten Großsiedlungen von sehr unterschiedlicher Qualität auf der einen und den vernachlässigten Altbaugebieten auf der anderen Seite zur Ausbildung neuer sozialräumlicher Segregationen. Spiegelbildlich zum Zuzug in die Großsiedlungen konzentrierten sich in den Altbauten zunehmend vor allem ältere Menschen und soziale Randgruppen, junge Familien mit Kindern wanderten hingegen verstärkt in die Neubauwohnungen am Stadtrand ab. Diese sozialräumlichen Differenzierungen waren auch Ausdruck einer langfristig fortschreitenden Tendenz zur nicht oder kaum gesteuerten Stadtentwicklung, die sich seit den 1970er Jahren verstärkte und mehrere von den Prinzipien sozialistischer Ideologie abweichende Entwicklungen umfasste. Dazu gehörten zum Beispiel der Bau von Eigenheimen, die (Wieder-) Zulassung privater Handwerker und Dienstleistungsbetriebe oder auch das vielfach starke und oft unkontrollierte Wachstum von Kleingartenanlagen. 43 Letzteres veränderte das städtische Leben ganz erheblich, wurden doch durch derartige „Nischen“ urbane Defizite ausgeglichen – allerdings meist weit entfernt von den Stadtzentren und oftmals sogar außerhalb der Städte, die teilweise an den Wochenenden geradezu „ausgestorben“ waren. Wie stark die von der Herrschaftszentrale vorgegebenen Spielräume zur Einrichtung von derartigen „Nischen“ genutzt wurden, hing dabei entscheidend von der jeweiligen Kommune und vom Interesse ihres Personals ab. Insbesondere die Bürgermeister spielten hier eine wichtige Rolle. Auch die Kulturpolitik prägte das städtische Leben in widersprüchlicher Weise. Zwar folgte sie in erster Linie den staatlich bestimmten Vorgaben, doch fanden auf der kommunalen Ebene auch Eigeninitiativen und innovative Ideen gewisse Handlungsspielräume. So wurden beispielsweise insbesondere zur Festigung der Identi41 Vgl. z. B. die entsprechenden Artikel 20 ff. der Verfassung vom 6.4.1968 und ihre Interpretation durch die Partei in Bezug auf die Städte bzw. Stadtverwaltungen in: Handbuch für den Abgeordneten. Staatsverlag der DDR, Berlin 1984, S. 5 ff. 42 Vgl. Hartmut Häussermann/Walter Siebel, Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, Weinheim/München 1996, S. 167 ff. 43 Vgl. dazu z. B. Carsten Benke, Ludwigsfelde, Stadt der Automobilbauer, in: Holger Barth (Hrsg.), Grammatik sozialistischer Architekturen. Lesarten historischer Städtebauforschung zur DDR, Berlin 2001, S. 83–97, hier S. 90–91.
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fikation der in großer Zahl neu zugewanderten Einwohner mit ihrer Stadt seit den späten 1970er und 1980er Jahren Elemente „traditioneller“ städtischer Kultur bewusst unterstützt und gefördert. Weihnachts- und Bauernmärkte, Heimatkalender und Karnevalsumzüge, lokal gestaltete Ausstellungen und Stadtfeste kamen auf diese Weise zu neuen Ehren, wobei nicht selten die örtlichen Partei- und Staatsorgane an bereits existierende private Initiativen in diesen Bereichen anknüpfen konnten. Langfristig setzte sich in zunehmendem Maße eine eigene städtische gegenüber der gerade in den Anfangsjahren vielfach dominanten betriebsbestimmten Kulturpolitik durch. Eine wichtige Rolle für die Identifikation der Bewohner mit ihrer Stadt spielte die Denkmalpflege, die sich – häufig unterstützt durch lokale Initiativen – seit den 1970er Jahren verstärkt für den Erhalt stadtbildprägender Gebäude und Ensemble einsetzte.44 Die Analyse lebensgeschichtlicher Interviews unterstreicht, dass die jeweilige Stadt gerade für Migranten, die in den DDR-Industriestädten eine große Rolle spielten, zum identitätsbestimmenden „Anker“ ihrer persönlichen Biographie wurde, so dass Erfahrungs- und Stadtgeschichte hier besonders eng miteinander verwoben waren. Der schwierige Prozess des „Heimischwerdens“ und der Integration in die Stadtbevölkerung verlief nicht ohne Reibungen und Konflikte. Vor allem die Flüchtlinge wurden in den ersten Jahren nach dem Krieg noch argwöhnisch betrachtet und nicht selten ablehnend behandelt, zumal sie anfangs bevorzugt mit Wohnraum und Hausrat ausgestattet wurden.45 Doch wurden sie langfristig über Arbeit und Betrieb, die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen und über die Nachbarschaft im Wohngebiet Teil der städtischen Gesellschaft, so dass von einer großen und insgesamt erfolgreichen Integrationsleistung auch der DDR-Städte nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen ist. Letztlich zeigt sich jedoch gerade im Blick auf die Realitäten städtischen Lebens der langfristig dramatische Legitimationsverfall, der das Herrschaftssystem erodieren ließ. Besonders gravierend äußerte sich dieser Niedergang im Bereich des Konsums. Philipp Springer zeigt in diesem Band am Beispiel Schwedts als einer der zeitweise besonders privilegierten Industriestädte, wie deren Status einer bevorzugten Versorgung in der Phase von Aufbruch und Stabilisierung der 1960er und frühen 1970er Jahre sogar überregional ausstrahlte. Zunehmende Schwierigkeiten des Staates, diese Privilegien weiterhin zu sichern, aber auch die steigende Nachfrage nach einer größeren Vielfalt im Bereich des Konsums führten jedoch zu einer wachsenden Unzufriedenheit, so dass Partei und Staat spätestens in den 1980er Jahren ihre Legitimation nicht mehr darauf begründen konnte. Letztlich war die Wirtschafts- und Stadtplanung der DDR, fixiert auf eine Zeitökonomie rationaler Effektivität und die quantitative Versorgung der Bevölkerung mit Gebrauchswerten, kaum in der Lage, die wichtige Dimension des Konsums als Erlebniswert zu erkennen und für diesen städtische Räume zum Bummeln, Schauen, Vergleichen und Auswählen nach symbolischen und Distinktionswerten zu schaffen. Diese Scheu44 Vgl. v. Saldern, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Inszenierte Einigkeit, S. 16 f. 45 Vgl. Karl Christian Führer, Mieter, Hausbesitzer, Staat und Wohnungsmarkt. Wohnungsmangel und Wohnungszwangswirtschaft in Deutschland 1914–1960, Stuttgart 1995, S. 389 ff.
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klappen waren in letzter Instanz auch der marxistischen Theorie geschuldet, die eine lustvolle „Verausgabung“ von Zeit (zumindest auf dem Wege zum Endziel) nicht zu kennen schien. Daher erodierte selbst in den Industriestädten, die als Städte der Arbeiter und der technischen Intelligenz besonders gefördert und in denen lange Zeit eine überdurchschnittliche Systemloyalität vorherrschte, die Machtbasis der Sozialisten. Über das ganze Territorium und die gesamte Lebensdauer der DDR hinweg betrachtet wird aus den hier versammelten Aufsätzen eine präzisere Bestimmung nicht allein der Schwächen, sondern auch der Legitimationsressourcen des Systems erkennbar. So vollzogen sich gerade auch in den 1950er Jahren unterhalb der politischen Zuspitzung rund um den 17. Juni 1953 bzw. in dessen Folge gesellschaftliche Stabilisierungsprozesse, so etwa in den neuen Städten wie auch in den Großstädten, denen neue ökonomische Funktionen und erhebliche finanzielle Mittel zugesprochen wurden. Die Konsumpolitik der 1960er Jahre wie die informellen Handlungsspielräume für Initiativen „von unten“ und nicht zuletzt die wechselnden Prioritäten der zentralstaatlichen Politik eröffneten auch später noch bisweilen unerwartete Chancen und Stadtkarrieren und förderten so mancherorts aufs Neue die Hoffnungen auf eine langfristige Besserung der Verhältnisse im Sozialismus. Lokale Öffentlichkeiten Einige der spannendsten Fragen, die die hier veröffentlichten Beiträge aufwerfen und nur zum Teil zu beantworten vermögen, richten sich auf die spezifischen Strukturen der lokalen Öffentlichkeit und auf die Ursachen für das auffällige schrittweise Schwächerwerden des Engagements der „Normalbürger“ für ihre Stadt, bei gleichzeitig entstehenden Bürgerbewegungen zur Erhaltung der zerfallenden Altstädte. Hier dominierte das als Interpretament aus der Diktaturforschung bekannte Phänomen der „doppelten Öffentlichkeit“. Zur formellen lokalen Öffentlichkeit zählen dabei der „Staat vor Ort“, die staatlich gewollten und geförderten repräsentativen sozialistischen Praktiken an festgelegten städtischen Punkten und Räumen (z. B. Aufmärsche und Feiern), aber auch die „Ersatzöffentlichkeiten“ des Eingabewesens und der Mach-Mit-Aktionen. Daneben gab es auch, „verinselt“, zum Teil aber auch über wenig sichtbare, noch kaum erforschte Kanäle vernetzt, zahlreiche informelle Öffentlichkeiten. Sie reichten von der „Schlange“ vor den Läden bis zur Familiensphäre, konzentrierten sich also an jeweils eigenen Orten, mit eigenen Diskursen und eigenen Codes. Zu den Kernelementen dieser Codes, die teilweise geradezu allergisch gegen institutionell vermittelte Bedeutungen und Vereinnahmung gerichtet waren, zählten die Ausbildung einer „doppelten Sichtweise“, eine teilweise hypersensible Neigung, das Alltagsgeschehen symbolisch aufzuladen und in „doppelbödigen Redeweisen“ umfassend zu deuten. In die gleiche Richtung wirkte die Gewohnheit, sozialkulturelle Differenzerfahrungen mit eigenen Bildwelten und in eigener Symbolik (Gestik, Mimik, Kleidung) zu artikulieren, die die Enge des Alltagslebens als Wünsche, Sehnsüchte und Träume (aber auch Proteste) transzendierten. Diese erlaubten rela-
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tiv gefahrlos, dem Versprechen der offiziellen Bilder, Symbole und Visionen von einer besseren künftigen sozialistischen Zukunft Grenzen zu setzen. Neben dem offiziellen Diskurs der Zentrale über die sozialistische Stadt, der auch in die Kommunen getragen wurde, existierten und wirkten damit vor Ort weitere, informelle, heimliche diskursive Konstruktionen. Diese parallel existierenden lokalen Bedeutungs- und Parallelwelten, ihre Koexistenz und Kollision, ihre stabilisierenden und erodierenden Heimat-/Bürger-Sein, aber auch ihre Fremdheit-/nur Einwohner-Sein vermittelnden Wirkungen werden hier erstmals identifiziert und ein Stück weit offen gelegt. Dies geschieht wesentlich über die Aufweisung von Narrativen über Dinge, Räume und Abläufe in der Stadt. Der hier offensichtlich werdende Einschätzungs- und Wertewandel wird vorwiegend als Verlust des Glaubens an eine bessere Zukunft, als „Verschwinden der Zukunft“ (Springer) fassbar. Andere Forschungen erkennen Tendenzen zu Hedonismus, Distinktion und Individualisierung, sogar eine partielle Rückkehr zur „Bürgerlichkeit“ (Bauerkämper) und verweisen als deren Hintergrund auf das fortschreitende Eindringen von konsum-, freizeit- und erlebnisgesellschaftlichen Elementen auch in die Arbeitsgesellschaft der DDR. Die Aufsätze in diesem dritten Block werfen grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Alltag, Öffentlichkeiten und politischer (De-) Stabilisierung auf, die in diesem Band nur begrenzt beantwortet werden. Die von der Forschung – auch von den hier versammelten Beiträgen – betonten, unverkennbaren langfristigen Verbesserungen in der Kaufkraft, der Freizeit, des Konsums, im Reisen und in der Wochenendkultur (die von der Enge befreiten), aber auch in der geselligen wie medialen Unterhaltung (Festkultur), im Angebot von Kulturleistungen (Theater, Bibliotheken) etc. bildeten als aufsteigende Linie nur die eine Seite der Entwicklung. Damit einher ging, wie auch in diesem Band wiederholt festgestellt wird, die Abwärtstendenz eines Verlustes sozialistischen Zukunftsglaubens, auch und vor allem in Bezug auf die eigene Stadt und deren konkrete Pflege dort, wo man sie tagtäglich nutzte. Seegers evoziert das Beispiel eines Stadtrates, der die Bürger für den Zustand der Stadt, für deren Verschmutzung und Vernachlässigung mit verantwortlich machte und damit einen grundlegenden, langfristig wirkenden Prozess thematisierte: das Erlahmen des alltäglichen, im Informellen basierten Engagements der DDR-Bürger für ihre Stadt in der Altstadt wie in den neuen Großsiedlungsgebieten. Wie ist dieser Prozess zu erklären? Inwieweit greift hier das Interpretament des „Fürsorgestaats“ (K. Jarausch)? Welchen Einfluss, welche Wünsche und Erwartungen entfalteten die vom sozialistischen Apparat gemachten Versprechungen? Die Antwort der Forschung, woher diese Stadtbewohner denn die bunte Farbe und die haltbaren Materialien hernehmen sollten für ihre Mitarbeit an einer „schöneren Stadt“ (Seegers), reicht zur Klärung dieser Fragekette nicht aus und dürfte wohl auch nicht das letzte Wort hierzu sein.
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Strukturmerkmale und zivilisatorische Leistung des sozialistischen Stadttyps Wie bereits in der Einleitung programmatisch festgehalten zeichneten sich die sozialistischen Städte aus epochenübergreifender Perspektive durch distinkte Strukturmerkmale baulicher und sozialkultureller Art aus. Als grundlegende, die Städte im sozialistischen Sinne prägende Strukturen wirkten ihre Einbindung in die zentral planende Wirtschaftspolitik und Verwaltungshierarchie und in eine kollektive Boden- und Eigentumsordnung. Daraus ergaben sich eine besondere, nicht-kapitalistische Stadtgestalt mit charakteristischen Bau-, Flächen- und Raummustern, eigene Formen sozialer Schichtung und räumlicher Verteilung der Stadtbevölkerung (wie z. B. eine relativ ausgeglichene Sozialstruktur, schwache Segregation) sowie eigene Formen von Urbanität und Alltagskultur. Im Hinblick auf Probleme von „Integration und Desintegration“, von urbaner Qualität und defizitärer Urbanisierung heben die in diesem Band versammelten Studien zwei städtische Raumtypen hervor, die von besonderer Signifikanz für die sozialistische Stadt waren: Zum einen das Zentrum als Ort des staatlichen Repräsentationsanspruchs mit der Aufgabe, durch besonders profilierte Bauensembles „das Ganze“ der sozialistischen Gesellschaft zu vertreten und sozialistische Urbanität zu demonstrieren. Zugleich war dies auch der Ort einer in spezifischer Weise maximierten und zugleich restringierten Kommunikationsdichte, die von vielen Dienstleistungsfunktionen „befreit“ und unter Ausschluss des privaten Handwerks und Kleinhandels gestaltet worden waren. Zum anderen die dezentralen, typologisierten und industriell gefertigten Wohneinheiten des Großsiedlungsbaus mit eigenen Versorgungsstrukturen des täglichen Bedarfs. Diese Raumtypen waren in der Nachfolge der „16 Grundsätze“ nach Leitbildern gestaltet, die neben den bekannten Maximen z. B. der Industrieorientierung auch Analogien zu – späteren – „westlichen“ Leitbildern, etwa der kompakten Stadt, der „Ökonomie der Zeit“, der Stadt der kurzen Wege usw. enthielten. Die Tatsache der bekannten Paradigmenwechsel im städtebaulichen Leitbild ist nicht per se kritisch zu sehen. War doch der Aufbau des Sozialismus ein schrittweiser Wandlungsprozess, in dem die „richtige“ Steuerung, die richtige Umsetzung der Theorie in Praxis als entscheidend betrachtet wurde. Hier allerdings traten, wie auch die internationalen Vergleiche zeigen, nicht nur in der DDR folgenreiche Fehlentwicklungen auf, die die hier versammelten Studien einschließlich ihrer Ursachen eindrücklich vor Augen führen. Gleichwohl setzten auch die sozialistischen Städte eine weltgeschichtlich bedeutsame, schon von Weber und Braudel stark betonte säkulare Mission städtischer Siedlungen und Lebensformen fort: Vor allem, aber nicht nur in den „neuen Städte“ wurden Zuwanderer aus den ländlichen Gebieten „urbanisiert“, das heißt im Wohnen und im Vollzug „städtischer“ Lebensweisen bis hin zu einzelnen Haushaltstechniken geschult. Die dazu vielfach eingerichteten „Wohnberatungsstellen“ zur Unterweisung in „städtische Verhaltensweisen“ (Stanek)46 waren nur die formellen 46 Vgl. den Beitrag von Stanek in diesem Band, S. 280.
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Institutionalisierungen an der Oberfläche eines viel breiteren sozialkulturellen Wandels. Die Einwohner der sozialistischen Städte wurden vielmehr, zum Beispiel in Nowa Huta, gemessen an ihren oft agrarischen Herkunft vergleichsweise umfassend gebildet und mit vielfältigen Kampagnen für Ordnung und Sauberkeit, Gewaltfreiheit usw.47 einem umfassenden zivilisatorischen Erziehungsprozess der sozialistischen Moderne unterzogen. Vertikale Netzwerkkultur und janusköpfiges Grenzregime Die hier gesammelten Einsichten zur Stadtgeschichte in der DDR verlangen im Hinblick auf die DDR – Gesellschaftsgeschichte eine Aufgabe holzschnittartiger „Top-Down“-Vorstellungen vom zentralistisch „durchregierten“ sozialistischen Staat. Diese Bilder sind zu ersetzen oder mindestens zu ergänzen um die große Bedeutung vielfältiger vertikaler Koalitionen, die die lokale Verwaltung mit bezirklichen Partei- und Verwaltungsgliederungen bis hin zu zentralstaatlichen Einrichtungen einging. „Drähte nach oben“, das heißt Kompetenzen in der vertikalen Netzwerkbildung, waren im politischen Alltag der Städte von außerordentlicher Wichtigkeit. Im Einzelfall, vor allem bei der Realisierung konkreter Projekte der Stadtentwicklung, wurden selbst gemischte Kommissionen von Stadt und Bezirk gebildet,48 so dass die DDR hier eher als stark informell gesteuertes vertikales Netzwerksystem denn als Diktatur erscheint. Die Charakterisierung der DDR als einer wesentlich von institutionellen und sozialkulturellen Grenzziehungen her funktionierenden „Diktatur der Grenze(n)“ (Lindenberger)49 erfährt auf dem Prüfstand der stadthistorischen Forschung eine grundsätzliche Bestätigung, allerdings im Sinne einer Präzisierung und zugleich Relativierung. Bei einer „verräumlichen“ Betrachtung der „Grenzkontrollmechanismen“ kommt neben den prominenten, dramatischen Beispielen der Mauer und der begrenzten Reisemöglichkeiten auch die Dimension der sozialräumlichen Exklusion in den Blick, die für die Stadtbewohner jedenfalls nicht durchweg schärfer ausgeprägt war als etwa in „kapitalistisch“ strukturierten Stadtzentren. Auch waren überkommene sozialkulturelle Grenzziehungen zwischen privater und öffentlicher Sphäre teilweise durchlässiger, so z. B. im Wohnumfeld, im Betrieb, in der sozialen Arbeit mit Familien und ganz allgemein der lokalen Sozialarbeit, nicht zu sprechen von den Überwachungspraktiken der Stasi.50 Die persönliche Netzwerkbildung über traditionelle berufliche Statusgrenzen hinweg, die z. B. in den Großsiedlungen oder beim informellen Erwerb von Konsumgütern eine wichtige Rolle spielte, spricht ebenfalls eher für eine Verflüssigung als für eine Verhärtung mancher traditioneller sozialkultureller Grenzziehungen im sozialistischen Alltag. Dies gilt, mit wichtigen Einschränkungen, auch für eine gewisse Auflockerung überkommener Grenzen zwischen Männern und Frauen in der Berufswelt. Andere Grenzziehungen 47 48 49 50
Vgl. ebd. Vgl. den Beitrag von Wolfes in dem vorliegenden Band, S. 131. Vgl. den Beitrag von v. Saldern in dem vorliegenden Band, S. 217. Vgl. ebd., S. 7.
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funktionierten hingegen dafür umso stärker, z. B. die „Schere im Kopf“ im Umgang mit Tabuthemen und Kritik sowie gegenüber offiziellen Stellen, oder die Ab- und Ausgrenzung bestimmter Personen (-gruppen), so z. B. „Asozialer“.51 Im Ergebnis ist daher nach den hier zusammen geführten Analysen die „Diktatur der Grenzen“ primär als „janusköpfiges Grenzregime“ aufzufassen, das die beiden Grundfunktionen von Grenzziehungen – der Freiheitsbeschränkung und des Schutzes – in widersprüchlicher Weise verband und historisch neu arrangierte. Sozialistische Zeitlogiken Die sozialistischen Städte, stadtrelevanten Politiken und die Gesellschaft insgesamt unterlagen nicht zuletzt spezifischen Zeitlogiken. Damit sind nicht nur die bekannten, mit der hohen Erwerbstätigkeit und der „Betriebszentriertheit“ der DDR Gesellschaft verbundenen Rhythmen des kollektiven Pendelns zwischen Betrieb, Wohnung, Einkaufen und Freizeit angesprochen. Vielmehr gehörten dazu charakteristische „Verspätungen“ – wie das Zurückbleiben infrastruktureller Ausstattung der Wohnumfeldbereiche oder die von Nevzgodin berichtete verzögerte Anwendung technologischer Neuerungen im Bauwesen –,52 wie auch starke stadtpolitische Pendelschläge, wie z. B. der Anfang der 1970er Jahre mit dem Großsiedlungsbau eingeleitete Übergang zur extensiven Stadterweiterung oder die Rückbesinnung auf die Altstädte in den 1980er Jahren.53 Eine grundlegendere, für das System konstitutive sozialkulturelle Zeitlogik bestand in starken, mit Verzichten in der Gegenwart verbundenen, utopisch aufgeladenen Zukunftsversprechen („wie wir heute arbeiten, so werden wir morgen leben“). Deren Glaubwürdigkeit nahm seit den 1970er Jahren stark ab. Infolge politischer Brüche und Umsteuerungen konnten sich gesellschaftliche Arrangements auch in kürzeren Zeitabschnitten abrupt wandeln, wie Stutz am Jenaer Beispiel der späten Ulbricht-Ära zeigt.54 Hier unterlag der Städtebau unter anderem der kurzfristigen Neuausrichtung politisch-ideologischer Leitbilder, veränderten Schwerpunktsetzungen in 5-Jahresplänen, ökonomischen Rahmenprogrammen wie dem „Neuen ökonomischen System“, Engpässen bei kurzfristigen Finanzierungsmöglichkeiten, der Verfügbarkeit neuer Bautechnologien bis hin zu den Schwankungen der deutsch-deutschen oder internationalen Beziehungen. In einem noch grundsätzlicheren Sinn ergaben sich aus kollidierenden Zeitstrukturen Dysfunktionen des Systems im Umgang mit Städten. Es ging über die Tatsache hinweg, dass alte Städte in sich Geschichtserfahrungen und verhaltensprä51 Vgl. zum Umgang der DDR mit „Asozialen“ Thomas Lindenberger: „Asoziale Lebensweise“. Herrschaftslegitimation, Sozialdisziplinierung und die Konstruktion eines „negativen Milieus“ in der SED-Diktatur, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2005) 2, S. 227–254; Christoph Bernhardt/Gerd Kuhn, Keiner darf zurückgelassen werden! Aspekte der Jugendhilfepraxis in der DDR 1959–1989, Münster 1998. 52 Vgl. den Beitrag von Nevzgodin in diesem Band. 53 Vgl. dazu Topfstedt, Wohnen sowie Bernd Hunger et al., Städtebauprognose. 54 Vgl. den Beitrag von Stutz in dem vorliegenden Band, S. 155 f.
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gende Traditionen bergen, deren Sinnpotenziale und tiefgreifende Bindungswirkungen im Alltag nicht per Anordnung aufzuheben waren, deren ganzheitlich-sozialistische Auflösung durch Umdeutung vielmehr erhebliche Zeit erforderte. Aber auch die neu gebauten sozialistischen Städte, die zugleich das Heute bedienen und das Morgen im Vorgriff repräsentieren sollten, sperrten sich, schon aufgrund ihrer extrem kostspieligen physischen Struktur, der schnellen Anpassung an neu erreichte Stufen der aufzubauenden sozialistischen Wirtschaft und Gesellschaft. Die reale Politik zielte demgegenüber, unter dem Wettbewerbsdruck der westlichen kapitalistischen Länder, auf schnelles, zu schnelles Fortschreiten. Die gebaute Stadt, die das Leben der Stadtbevölkerung unsichtbar, aber nachhaltig prägte, konnte dem nicht folgen. Der ungeduldige DDR-Staat war nicht bereit und fähig, im Städtebau die Balance zwischen Alt und Neu, zwischen der Zeit der Stadt und der Zeit der Politik, zu halten, sich durch Basisnähe im Bau-, Überbauungs- und im sozialistisch-imperialen Umdeutungsprozess (z. B. beim Hochhaus) rückzuversichern, eventuell sogar rückzusteuern. Die Folge dieser fehlenden Balance war, dass das „einmalige, unverwechselbare Gesicht“ der DDR-Stadt, die sozialistische Stadt eigener Lebensqualität und eigener Urbanität, die sich Ulbricht als Heimat einer neuen, sozialistischen Gesellschaft wünschte, nicht zustande kam. Zum einen war dies ein Ergebnis der blanken Selbstüberforderung, die sozialistische Stadt „als Ganzes“, als Schöpferin des sozialistischen Menschen und der sozialistischen Menschengemeinschaft zu bauen; zum anderen führte das Konzept einer zentralen Gesamtsteuerung von Volkswirtschaft, Staat und Gesellschaft in eine nicht mehr zu bewältigende Überkomplexität; und schließlich setzten finanzielle, planerische und kreative Defizite dem Projekt von Anfang an frühe Grenzen. Im Grunde war es ein strategischer Fehler der sozialistischen Staaten, die gebaute Stadt so zentral zum Repräsentationsort des Sozialismus zu erheben; denn sie war nur bedingt geeignet, die konsequent prozessual konzipierte Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaft zu repräsentieren und mit zu vollziehen. Gleichermaßen defizitär blieb die – aus dem stadtutopischen Denken übernommene – Vorstellung, die neue, bzw. neu überformte alte Stadt könne die neuen sozialistischen Menschen und die neue sozialistische Gesellschaft hervorbringen. Stattdessen prägten nicht eine neue, sozialistische Urbanität, sondern kumulative Defizite des Städtischen die Erfahrung der DDR-Stadtbewohner. Die Einsicht der 1980er Jahre, dass der massive „Gründerzeithass“ der sozialistischen Führungskader, die gewaltsame Umdeutung (und die daraus sich ergebende Vernachlässigung) der verachteten Innenstädte in der Bevölkerung keine Akzeptanz fand, zeigt insofern zwar aufkommende Lernfähigkeit und eine neue Bereitschaft, den Vertrautheitsbedarf und den Wunsch der Bevölkerung nach städtischem Leben, nach Urbanität, anzuerkennen, kurz: eine neue Flexibilität im sozialistischen Städtebau; aber diese kam, wie wir wissen, viel zu spät. Will man heute die ehemals sozialistische Städte lesen, so erkennt man sie aus allen diesen Gründen paradoxerweise – im krassen Gegensatz zur Absicht ihrer politischen Macher, Planer und Architekten – am ehesten noch an ihrer besonderen stadträumlichen Struktur, genauer: an ihren charakteristischen Defiziten. Sie resul-
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tierten aus theoretischen wie prozessualen Fehlern und und führten zu – gemessen an westlichen Städten – grundlegenden „stadtkulturellen Verlusten“. Zu diesen zählen stadträumliche Disproportionen und Kuriositäten, vor allem zu klein gewordene alte gegenüber zu groß ausgelegten neuen Zentren mit zumeist überdimensionierten repräsentativen Neubauten, neben denen sich oft vernachlässigte, isoliert stehende Altbaugebiete und unbebaut gebliebene Abrisslücken befinden. Daneben trifft man auf abschreckende Beispiele brutaler, verletzender Eingriffe und forcierter Überbauung im Stadtraum, insbesondere in den Zentren alter Städte und vielfältige Anzeichen für den plötzlichen Abbruch eingeleiteter städtebaulicher Entwicklungen. Stadträumliche Qualitätsmängel und stadtkultureller Substanzverlust bilden die größte den Städten eingeschriebene Hypothek der sozialistischen Epoche.
AUTORENVERZEICHNIS Carsten Benke, M.A., Historiker, Dipl.-Ing. Stadt- und Regionalplanung, Referent beim Zentralverband des Deutschen Handwerks. Forschungsschwerpunkte: Kleinstadtentwicklung, Geschichte Berlin-Brandenburgs, DDR-Stadtgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Schrumpfung im Zeitalter des Wachstums – Städtische Niedergangs- und Stagnationsprozesse während der Urbanisierung und Industrialisierung im 19. Jahrhundert, in: Angelika Lampen/Armin Owzar (Hrsg.), Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 181–201; Kleine Städte im 19. Jahrhundert zwischen Modernisierung und Provinzialisierung – Entwicklungspfade brandenburgischer Städte unter dem Einfluss von Eisenbahn und Industrialisierung, in: Axel Schildt/Dirk Schubert (Hrsg.), Städte zwischen Wachstum und Schrumpfung. Wahrnehmungs- und Umgangsformen in Geschichte und Gegenwart, Dortmund 2008, S. 45–60; Berlin, Rheinisches Viertel. Wohnen in einem kompakten Stadtteil aus einem Guss, in: Tilman Harlander (Hrsg.), Stadtwohnen: Geschichte, Städtebau, Perspektiven, Stuttgart 2007, S. 164– 169. Christoph Bernhardt, PD Dr. phil., Projektleiter am Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS), Erkner, Lehrbeauftragter an der TU Berlin und Privatdozent an der TU Darmstadt. Forschungsschwerpunkte: europäische Stadt- und Umweltgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Disparitäten als Tabu. Aspekte räumlich-sozialer Ungleichheit im Sozialismus am Beispiel von Industrieregionen der DDR und Polens, in: Friedrich Lenger/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Die europäische Stadt im 20. Jahrhundert. Wahrnehmung – Entwicklung – Erosion, Köln 2006, S. 307–322; Der Stadtrand in Bewegung. Raum-/Zeitstrukturen und Handlungsformen in der Groß-Berliner Stadterweiterung 1871–1933, in: Peter Johanek (Hrsg.), Die Stadt und ihr Rand, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 279–293; Im Spiegel des Wassers. Flussbau als europäische Umweltgeschichte am Beispiel des Oberrheins 1800–2000. Habilitationsschrift an der TU Darmstadt, 2 Bde., Berlin 2007. Frank Betker, Dr. rer. pol., Dipl.-Ing., Planungs- und Sozialwissenschaftler, Lehrbeauftragter für Stadtsoziologie an der RWTH Aachen. Promotion zum Thema Berufserfahrungen und Institutionen in der Stadtplanung der DDR. Forschungsschwerpunkte: Stadt-, Planungs- und Sozialgeschichte, Stadtsoziologie, Stadt- und Gewerbeentwicklung. Veröffentlichungen: „Einsicht in die Notwendigkeit“. Stadtplanung in der DDR und nach der Wende (1945–1994), Stuttgart 2005; Zwischen Baum und Borke. Zum Schicksal des bürgerlichen Architekten- und Stadtplanerberufs in der DDR, in: Heiner Timmermann (Hrsg.), Historische Erinnerung im Wandel, Reihe Politik und moderne Geschichte 1, Münster 2007, S. 168–178; Köln Neu-
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stadt: Urbanes Wohnen an der Ringstraße, in: Tilman Harlander (Hrsg.), Stadtwohnen: Geschichte, Städtebau, Perspektiven, München 2007, S. 140–145. Dagmara Jajeśniak-Quast, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Professur für Geschichte Ostmitteleuropas der Universität Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert, ostmitteleuropäische Grenzregionen, sozialistische Industrialisierung, Wirtschaftsnationalismus und wirtschaftliche Integrationsprozesse in Ostmitteleuropa. Neuere Veröffentlichungen: In the Shadow of the Factory: Steel Towns in Postwar Eastern Europe, in: Mikael Hård/Thomas J. Misa (Hrsg.), Urban Machinery: Inside Modern European Cities, Cambridge MIT Press 2008, S. 187–210; Reaktionen auf die westeuropäische Wirtschaftsintegration in Ostmitteleuropa: die Tschechoslowakei und Polen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren, in: Journal of European Integration History, Bd. 13, Nr. 2, 2007, S. 69–84. Ivan Nevzgodin, Dr. Ing., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Research Centre for Modification, Intervention and Transformation of the Built Environment (MIT) der Fakultät Architektur der TU Delft. Forschungsschwerpunkte: russische und niederländische Stadt- und Architekturgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: The Architecture of Novosibirsk, Novosibirsk-Rotterdam, 2005; Revolutionizing hospital architecture: experiments in the Soviet Union, in: Cor Wagenaar (Hrsg.), The architecture of hospitals, Rotterdam 2006, S. 42–57; The Uralian period in the work of Dutch docents of Bauhaus Mart Stam and Johan Niegeman, in: Astrid Volpert/Ludmila Tokmeninowa (Hrsg.), Bauhaus im Ural. Von Solikamsk bis Orsk, Ekaterinburg 2008, S. 82–89. Brigitte Raschke, Dr. phil., seit 1994 Dozentur für Design- und Kunstgeschichte und Designtheorie am Lette-Verein, Berufsfachschule für Foto- Grafik- und Modedesign in Berlin, daneben konzeptionelle Museums- und Ausstellungsarbeit mit dem Stadtmuseum Berlin und dem Mitte-Museum Berlin. Veröffentlichungen: Der Wiederaufbau und die städtebauliche Erweiterung von Neubrandenburg in der Zeit zwischen 1945 und 1989, München 2005 (zugl. Diss. TU Berlin); Frank Lloyd Wright: The Mile-High-Illinois. Utopie oder Architekturkritik?, München 1996; Rathausdämmerung. Die Diskussion um den Zentralen Platz in Neubrandenburg bis 1958, in: Holger Barth (Hrsg.), Projekt Sozialistische Stadt. Beiträge zur Bauund Planungsgeschichte der DDR, Berlin 1998, S. 203–210; Planungspräzisierung in Neubrandenburg, in: Holger Barth (Hrsg.), Planen für das Kollektiv. Handlungsund Gestaltungsspielräume von Architekten und Stadtplanern in der DDR, Erkner 1999, S. 107–114. Heinz Reif, Prof. Dr. phil., Promotion und Habilitation in Bielefeld, 1983 bis 1986 Kurator und Direktor des Ruhrlandmuseums Essen. Seit 1986 Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, seit 2003 Leiter des von ihm gegründeten Centrums für Metropolenforschung (CMS) der TUB. Forschungen und Publikationen zur Stadtgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Industriestädte, Großstädte, Nahver-
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kehrssysteme), zur Adels- und Elitengeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts und zur Geschichte von Industrialisierung, Deindustrialisierung und Revitalisierung von Industrieregionen. Mitherausgeber von Jahrbüchern, Zeitschriften und Buchreihen zur modernen Stadtgeschichte und Elitengeschichte. Sprecher des Graduiertenkollegs Berlin – New York der DFG zur „Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert“. Neuere Veröffentlichungen u.a.: Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900, Berlin 2008 (als Hrsg.); Ernst Reuter. Kommunalpolitik und Gesellschaftsreform, Bonn 2009 (als Hrsg.). Adelheid von Saldern, Prof. Dr. phil., bis 2004 Leibniz Universität Hannover. Neuere Veröffentlichungen zur Stadtgeschichte als Herausgeberin und Autorin: Inszenierte Einigkeit. Herrschaftsrepräsentationen in DDR-Städten, Stuttgart 2003; Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935– 1975), Stuttgart 2005; Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 2006. Als Autorin: Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 1–60. Lu Seegers, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 434 „Erinnerungskulturen“, Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Medien-, Stadt-, Generationen- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Neuere Veröffentlichungen zur Stadtgeschichte: Adelheid von Saldern (Hrsg.), Inszenierter Stolz. Stadtrepräsentationen in drei deutschen Gesellschaften (1935–1975), unter Mitarbeit von Lu Seegers, Stuttgart 2005; Kulturelles Leben in Magdeburg nach 1945, in: 1.200 Jahre Magdeburg, hrsg. vom Kuratorium „1200 Jahre Magdeburg“ e.V., Magdeburg 2005, S. 889–906; Symbolische Integration bei Stadtjubiläen in der DDR, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 46, 2006, S. 249–276; Die farbige Stadt. Image- und Kommunikationspolitik im Hannover der frühen 1970er Jahre, in: Adelheid von Saldern (Hrsg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten, Stuttgart 2006, S. 181–207. Philipp Springer, Dr. phil., Ausstellungskurator am Deutschen Historischen Museum in Berlin. Forschungsschwerpunkte: DDR-, Stadt- und Fotogeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002 (zus. mit Reinhard Rürup und Klaus Hesse); 1945 – Der Krieg und seine Folgen. Kriegsende und Erinnerungspolitik in Deutschland, Berlin 2005 (zus. mit Burkhard Asmuss und Kay Kufeke); Verbaute Träume. Herrschaft, Stadtentwicklung und Lebensrealität in der sozialistischen Industriestadt Schwedt, Berlin 2. Aufl. 2007. Łukasz Jan Stanek, M.A. M.S., Ph. D., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Architekturtheorie im Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Fakultät Architektur der ETH Zürich, und Forscher am Departement für Theorie an der Jan van Eyck Academie Maastricht. Forschungsschwerpunkte: moderne und
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zeitgenössische Architektur- und Städtebautheorie. Neuere Veröffentlichungen: Lessons from Nanterre, in: LOG, Winter 2008, S. 59–67; Space as Concrete Abstraction: Hegel, Marx, and Modern Urbanism in Henri Lefebvre, in: S. Kipfer/R. Milgrom/K. Goonewardena/C. Schmid (Hrsg.), Space, Difference, Everyday Life: Henri Lefebvre and Radical Politics, London 2008, S. 62–79; Henri Lefebvre and the Concrete Research of Space: Urban Theory, Empirical Studies, Architecture Practice. Dissertation, verteidigt am 19. Mai 2008 an der TU Delft. Rüdiger Stutz, Dr. phil., Stadthistoriker bei der Stadtverwaltung Jena und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: moderne Regionalgeschichte Thüringens, Jenaer Stadt- und Universitätsgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Traditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850–1995, hrsg. von der Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Weimar/Köln/ Wien 2009, S. 270–587 (Mitautor Kap. 2); Weimar als „Stadt der Arbeit“: Fritz Sauckel und die Gustloff-Werke, in: Volkhard Knigge/Imanuel Baumann (Hrsg.), „ ... mitten im deutschen Volke“. Buchenwald, Weimar und die nationalsozialistische Volksgemeinschaft, Göttingen 2008, S. 89–101; „Herzkammer“ oder „Barriere“ der Stadtentwicklung? Zum Widerstreit um die Erneuerung von Alt-Jena in der NS- und frühen Nachkriegszeit, in: Mark Escherich/Christian Misch/Rainer Müller (Hrsg.), Entstehung und Wandel mittelalterlicher Städte in Thüringen, Berlin 2007, S. 254–290. Albrecht Wiesener, M.A., Assistent des Vorstands am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF). Promotionsvorhaben am Historischen Seminar der Leibniz-Universität Hannover über „Stadt und Staat. Stadtentwicklungen und politische Kultur in Deutschland nach 1945“. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Geschichtstheorie. Neuere Veröffentlichungen: Als die Zukunft noch nicht vergangen war – der Aufbau der Chemiearbeiterstadt Halle-Neustadt 1958–1980, in: Werner Freitag/Katrin Minner/Andreas Ranft (Hrsg.), Geschichte der Stadt Halle, 2 Bände, Band 2: Halle im 19. und 20. Jahrhundert, Halle 2006, S. 442–456; Taktieren und Aushandeln – Erziehen und Ausgrenzen. Zum Verhältnis von Mikropolitik und Produktionskampagnen in den Leuna-Werken 1958–65, in: Hermann Josef Rupieper/Friedrike Sattler/Georg Wagner-Kyora (Hrsg.), Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter, Halle 2005, S. 237–258. Thomas Wolfes, M. A., Historiker im Verwaltungsinformationszentrum (VIZ) des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin. Forschungsschwerpunkte: Stadtgeschichte und Zeitgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Die Villenkolonie Lichterfelde – vom Prototypen des „grünen Vorortes“ zum Refugium für das konservative Bürgertum, in: Heinz Reif (Hrsg.), Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900, Berlin 2008, S. 175– 197; zus. mit Christoph Bernhardt (Hrsg.), Schönheit und Typenprojektierung. Der DDR-Städtebau im internationalen Kontext, Erkner 2005.