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German Pages [339] Year 2014
© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350782 — ISBN E-Book: 9783647350783
Analysen und Dokumente Band 36
Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU)
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Renate Hürtgen
Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz
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Umschlagabbildung: Halberstadt, Breiter Weg mit Blick auf Martinikirche, 1970, Photo-Studio-Mahlke, Halberstadt.
Mit einem Diagramm und 4 Tabellen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-35078-2 ISBN 978-3-647-35078-3 (E-Book)
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Inhalt Danksagung ........................................................................................... 7 Einleitung............................................................................................... 9 1
Der Kreis Halberstadt .................................................................. 23 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Begegnungen 2009 ............................................................. 23 Von der Domstadt zur Ruinenstadt .................................... 24 Der Kreis Halberstadt und sein Zentrum ............................ 30 Wohnen im Kreis Halberstadt ............................................ 36 Halberstädter Lebenswelten ................................................ 39
2
Das Leben mit der Grenze ........................................................... 47 2.1 Der Landkreis Halberstadt bis zum Mauerbau 1961 ........... 47 2.2 Nach dem Mauerbau: Kein »Schlupfloch« mehr in den Westen ................................................................................ 55
3
Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt ..................... 61 3.1 Antragstellungen in den 1970er und 1980er Jahren ............ 61 3.2 Wer hat im Kreis Halberstadt einen Antrag auf Ausreise gestellt? ............................................................................... 72
4
Warum stellten Bürger aus dem Kreis Halberstadt einen Antrag auf Ausreise? ..................................................................... 81 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5
»Keiner fragt da mehr, wo man herkommt« ........................ 83 »Ich geh hier nicht raus, bevor ich nicht fahren kann!«........ 87 »Ich will meine Art zu leben« .............................................. 90 »Wieso zerreißt man hier Familien?« ................................... 93 »Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um noch mal neu anzufangen« ........................................................................ 96 4.6 Der »kleinste gemeinsame Nenner« ................................... 103 5
Von der Antragstellung bis zur Ausreise ..................................... 105 5.1 Die Lebenswelten der Antragsteller: Familie, Ehe, Partnerschaft ..................................................................... 105 5.2 Die Kinder der Halberstädter Antragsteller ....................... 113
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Inhalt
5.3 Das Leben nach der Antragstellung: Im »Netzwerk« aufgefangen oder allein? .................................................... 123 5.4 Mythos Westen? ............................................................... 130 5.5 Das Bild vom Westen ....................................................... 138 5.6 Im Westen angekommen .................................................. 141 6
Der Charakter der »hartnäckigen« Antragsteller: Immer radikaler und politischer ............................................................ 155 6.1 »… wird hier in Gruppe gehandelt«? Von der Vereinzelung zum Zusammenschluss ................................ 161 6.2 Antragsteller im Kreis Halberstadt und ihr Verhältnis zu Kirche und Opposition ..................................................... 173
7
Herrschaft im Kreis Halberstadt ................................................ 195 7.1 Die »gesellschaftliche Front« zur Zurückdrängung der Antragsteller ...................................................................... 198 7.2 Die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit im Kreis Halberstadt .............................................................. 222 7.3 Die Rolle der Staatssicherheit in Halberstadt: Rückgewinnen, Verfolgen, »Zersetzen«, Verhaften ............ 242 7.4 Von der operativen Personenkontrolle zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens .............................................. 253
8
Das Ende der alten Herrschaft – das Ende der Antragstellungen auf Ausreise aus der DDR .............................. 287 8.1 Die Situation der Antragsteller 1989 ................................. 287 8.2 Die staatlichen Sicherheitsorgane im letzten Jahr ihrer Existenz............................................................................. 296 8.3 Die demokratische Revolution im Herbst 1989 im Kreis Halberstadt .............................................................. 309
Abkürzungen ...................................................................................... 323 Literaturverzeichnis ............................................................................ 327 Angaben zur Autorin .......................................................................... 339
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Danksagung
Mein Dank gilt den vielen Halberstädtern und Halberstädterinnen, die mir in zahlreichen Gesprächen und oft stundenlangen Interviews ihre Geschichte erzählten und sich dabei nicht scheuten, auch sehr Persönliches zu berichten. Ohne ihre Offenheit hätte dieses Buch über die Antragsteller auf Ausreise im Kreis Halberstadt so nicht geschrieben werden können. Ich bedanke mich bei Katja Böhme, die Zuarbeiten geleistet hat, welche weit über ihre Funktion als studentische Hilfskraft hinausgingen. Am wichtigsten aber waren für mich die gemeinsamen Fahrten nach Halberstadt und die vielen Gespräche, in denen die Erkenntnisse langsam reiften. Das Buch habe ich wohl allein geschrieben, doch ohne die Zusammenarbeit mit Katja Böhme wäre es nicht so geworden, wie es nun vorliegt. Wundern Sie sich also nicht, wenn ich im Buch auf das »wir« zurückgreife. Es soll auf die Kollektivität der Forschungsarbeit verweisen, eine Form des wissenschaftlichen Arbeitens, die sich bisher immer noch als die produktivere erwiesen hat.
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Einleitung
Das Leben in der DDR war ein Leben mit der Grenze. Für die Mehrheit der DDR-Bevölkerung schloss sie sich nach dem 13. August 1961 fast vollständig. Damit war für viele Menschen die Trennung von Familienangehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen, die im Westen lebten, verbunden. Wer sich mit dem Zustand, eingeschlossen zu sein, nicht abfinden wollte und die Flucht in den Westen wagte, hatte mit harten Repressionen, sogar mit dem Tod zu rechnen. 1 Folgenreich war die geschlossene Grenze aber auch für die Herrschaftspraxis von Partei und Regierung, die nun in einem weit höheren Maße als zuvor ihre Vorstellungen darüber, wie »ihre Menschen« zu denken und zu handeln hatten, durchzusetzen vermochten. Eine Vielzahl von Verboten, die in keiner Verordnung festgelegt waren, bestimmte das Leben in der DDR. Zu ihnen gehörte sprichwörtlich »alles, was nicht ausdrücklich erlaubt war«. Das strikte Verbot, irgendeine Form der Öffentlichkeit zu wählen, so sie nicht von der Partei oder einer sogenannten Massenorganisation organisiert wurde, war ein solches ungeschriebenes Gesetz. Desgleichen strikt untersagt war es in der DDR, sich außerhalb der offiziellen Institutionen kollektiv zusammenzuschließen, selbst dann, wenn so ein quasi zivilgesellschaftliches Treffen keinen »staatsfeindlichen« Inhalt hatte. Auf Streiks, spontane Belegschaftsversammlungen und andere »Gruppenbildungen« reagierte die Staatsmacht mit besonderer Härte. Wurde eine schriftliche Beschwerde nicht individuell, sondern von mehreren Personen verfasst, stand die »Kollektiveingabe«, wie sie genannt wurde, umgehend unter besonderer Kontrolle der Staatssicherheit. Die größte Sorge bereitete der Geheimpolizei nicht die Tatsache, dass in ihr massive Kritik an der Politik von Partei und Regierung formuliert wurde, sondern dass deren Inhalt öffentlich werden könnte sowie die Tatsache, dass sich Menschen unkontrollierbar zu einer gemeinsamen Handlung zusammengefunden hatten. Die Mehrheit der DDR-Bürger hatte sich – spätestens nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953 – darauf eingestellt, dass die Staatsmacht auf solche Kollektivaktionen repressiv reagierte. Sie setzte ihre Interessen zunehmend individuell und privat durch. Hinzu kam, dass es seit 1 Vgl. Hertle; Nooke: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ergebnisse eines Forschungsprojektes. In: DA 43(2010)4, S. 672–681; Nooke: Erfolgreiche und gescheiterte Fluchten. In: Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf, S. 15–30, sowie Podiumsdiskussion mit Dr. Maria Nooke, Dr. Hans-Hermann Hertle und Alesch Mühlbauer; ebenda, S. 31–45.
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Ausreise per Antrag
1961 kein »Schlupfloch« mehr gab, um vor möglichen Repressalien in den Westen zu flüchten. Zudem wurde das Leben auch ohne Streiks und andere Formen des offenen Ungehorsams freundlicher und bunter; die Nachkriegszeit war auch in der DDR vorbei. Man richtete sich im Land der diversen Grenzziehungen ein, akzeptierte sie missmutig und nur wenige versuchten, die inneren und äußeren Grenzen der »geschlossenen Gesellschaft« zu durchbrechen. 2 Dieses Buch handelt von den Antragstellern auf Ausreise aus dem DDRKreis Halberstadt, von Menschen, die ab Mitte der 1970er Jahre – nach über zehn Jahren besonders fest verriegelter Grenzen – an die zuständige Behörde des Rates des Kreises einen Antrag stellten, ins westliche Ausland übersiedeln zu dürfen. 3 Derartige Übersiedlungsgenehmigungen waren schon seit über zehn Jahren im Rahmen von »Familienzusammenführungen« sowie an Rentner und Invaliden erteilt worden. 4 Zunehmend stellten jedoch Menschen einen solchen Antrag, ohne einer dieser Gruppen anzugehören. Die Einbindung der DDR in internationale Vertragswerke, namentlich die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975, brachten eine veränderte innenwie außenpolitische Lage und auch Genehmigungspraxis der DDR-Regierung mit sich. Sie ließ die Antragsteller – wie wir sie im Folgenden nennen werden – auf einen positiven Bescheid hoffen. 5 Für eine solche ständige Ausreise in das westliche Ausland gab es keine gesetzliche Grundlage. Interne Anweisungen des Ministeriums des Innern der DDR regelten für die Behörden den Umgang mit den Antragstellern. Die Antragstellungen von Personen, die nicht zur Gruppe der Rentner und Invaliden gehörten oder unter die Rubrik »Familienzusammenführung« fielen, verblieben bis 1988 im rechtsfreien Raum. Die Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises wiesen in Abständen namentlich die »hartnäckigen Antragsteller« darauf hin, dass ihr Begehren »rechtswidrig« sei. 6 2 Lindenberger: SED-Herrschaft als soziale Praxis, Herrschaft und »Eigen-Sinn«. Problemstellung und Begriffe. In: Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 23–47; Ders.: Diktatur der Grenze(n). In: Hertle; Jarausch; Kleßmann (Hg.): Mauerbau und Mauerfall, S. 203–213. 3 Vgl. Eisenfeld: Gründe und Motive von Flüchtlingen und Ausreiseantragstellern aus der DDR. In: DA 37(2004)1, S. 89–105. 4 Vgl. Kapitel 3 in diesem Band. 5 Vgl. Kapitel 4 in diesem Band, sowie Eisenfeld: Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZE-Prozesses. In: DA 38(2005)6, S. 1000–1008; Hanisch: Die DDR im KSZEProzess 1972–1985. 6 Im September des Jahres 1983 gestattete die »Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung« für eine bestimmte Personengruppe eine Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Diese Gruppe schloss Rentner, Invaliden und Menschen ein, die Verwandte ersten Grades im Westen nachweisen konnten, alle anderen Antragstellungen verblieben im rechtsfreien Raum. Vgl. auch Eisenfeld: Flucht und Ausreise – Erkenntnisse und Erfahrungen. In: Vollnhals; Weber (Hg.): Der Schein der Normalität, S. 341–372, sowie Ders.: Gründe und Motive von Flüchtigen und Ausreiseantragstellern aus der DDR. In: DA 37(2004)1, S. 89–105, hier 90; Eisenfeld verweist auf die Verordnung über Reisen von Bürgern nach dem Ausland und zur Gewährung des
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Einleitung
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Die meisten Antragsteller, auch die aus dem Kreis Halberstadt, ignorierten solche Belehrungen und setzten ihre eigene Auffassung von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns dagegen. Das war und ist auch noch aus heutiger Sicht ein bemerkenswerter und wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der DDR. Zwar wurden diese Menschen damit mehrheitlich nicht zu politischen Widerständlern oder gar Oppositionellen, doch indem sie hartnäckig das Regelwerk der Partei und des Staates infrage stellten, trugen sie zweifellos zu deren Destabilisierung bei. Bedenkt man, dass sich in derselben Zeit die überwiegende Mehrheit der DDR-Bevölkerung in den vorgefundenen Bedingungen »missmutig« eingerichtet hatte, wächst die politische und lebensweltliche Bedeutung der Antragsteller. Sie gehörten zu der kleinen Gruppe von DDR-Bürgern, die Widerspruch und Konfliktverhalten jenen praktisch vorlebten, die derartige Verhaltensweisen als »unklug« und »unrealistisch« für sich abgelehnt hatten, die lieber Ruhe wollten und sich häufig sogar von solchen »Störenfrieden« abwandten. Seit den 1990er Jahren ist eine reichhaltige Literatur über die »Antragsteller auf ständige Ausreise« respektive Übersiedler entstanden, deren Gesamtzahl inzwischen auf über 3,8 Millionen geschätzt wird. 7 Im Zentrum des Interesses stehen dabei der repressive Umgang der Staatssicherheit mit ihnen, Fragen nach ihren Motiven sowie nach ihrer Integration in das bundesrepublikanische Gemeinwesen. Eine, die Diskussion der letzten 24 Jahre beherrschende Frage ist die nach der Bedeutung der Antragsteller für den Niedergang des Regimes. Haben sie mit ihrem Ausreisebegehren das Regime gestärkt oder geschwächt, waren es Oppositionelle oder Verräter an der Sache der Opposition? 8 Die etwas befremdliche Fragestellung erschließt sich erst auf den zweiten Blick: Hinter ihr verbirgt sich der Streit darüber, ob die sehr kleine DDROpposition der eigentliche und entscheidende Impulsgeber für eine revolutionäre Veränderung gewesen war oder ob sie sich die Rolle mit den Antragstellern und der im Sommer 1989 eskalierenden Ausreisebewegung zu teilen hat. Leider wird diese, zwischenzeitlich auch sehr emotionale Auseinandersetzung, nicht zuvörderst darum geführt, den historischen Platz der verschiedenen Akteure zu bestimmen, zu denen neben den Antragstellern und der Opposition noch die Kirche, die Demonstranten, die zahlreichen, eher unbekannten Akteure in den Betrieben und viele andere gehörten. Sie verbleibt meist in der ständigen Wohnsitzes, 30.11.1988; GBl. Teil I, Nr. 25, S. 271 ff., in der erstmalig eine Ausreise von DDR-Bürgern gesetzlich geregelt wurde. Die Verordnung trat im Januar 1989 in Kraft. Siehe auch Kapitel 3 und Kapitel 7 in diesem Band. 7 Einen aktuellen Überblick bei Effner; Heidemeyer: Die Flucht in Zahlen. In: Dies. (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, S. 27–31. In dem hier behandelten Zeitraum zwischen 1975 und 1989 registrieren die Autoren über 700 000 Antragsteller, die über die Notaufnahmelager in den Westen kamen. Ebenda, S. 28. 8 Vgl. Schwabe; Eckert (Hg.): Von Deutschland Ost nach Deutschland West.
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Ausreise per Antrag
gegenseitigen Zuweisung von Defiziten, mit dem Ziel, die eigene Bedeutung höher gewichten zu können. 9 Aus der Sicht einer tatkräftigen Opposition, die mit der Beseitigung der herrschenden Strukturen beschäftigt war, musste jeder, der sich nicht dort einreihte, sondern das Land verließ, eine große Enttäuschung sein. Allerdings gab es weder eine sichtbare Opposition in der DDR, noch dezimierten die Ausreisenden dieses Milieu, denn sie gehörten in der übergroßen Mehrheit nicht zu ihm. Die meisten Antragsteller hatten ihren Widerspruch in der DDR überhaupt nicht öffentlich gemacht, sie hatten ihre Stimme nicht erhoben, also konnte ihr Weggang auch nicht zu einem Verlust für diejenigen führen, die ihre Kritik hatten laut werden lassen. 10 Es gibt noch einen weiteren Grund, warum solche Darstellungen über die Antragsteller derart stark auf einen Vergleich des Beitrags von Opposition und Antragstellern zum Gelingen der 1989er Revolution fokussiert sind. Im Mittelpunkt dieser Literatur stehen nämlich jene »Ausreisewilligen«, die schon in den 1970er Jahren ihr Begehren öffentlich gemacht hatten und sich bald in Gruppen zusammenfanden. Damit rückt sie ihr couragiertes Verhalten in widersprüchlicher Weise als Vergleichsobjekt in die Nähe der Opposition. Sie haben in den großen Städten und in den industriellen Zentren wie Jena häufig in den gleichen kirchlichen Räumen wie die oppositionellen Gruppen agiert, die sich anderen Themen zugewandt hatten. Gemessen an der in den 1980er Jahren wachsenden Zahl von Antragstellern bildeten die derart Aktiven unter den Antragstellern jedoch eine Minderheit; ihre Verbindungen zur Opposition und zur Kirche stellten eine Ausnahme dar. Unser Forschungsinteresse richtete sich dagegen auf die Mehrheit der Antragsteller. Wir wollten herausfinden, welche Motive den »Durchschnittsantragsteller« bewegten, das Land zu verlassen, wie sich seine Situation nach der Antragstellung veränderte, wie Staat und Staatssicherheit reagierten und mit welchen Erwartungen an den Westen er »rübergehen« wollte. Die mikrohistorischen Forschungen im Kreis Halberstadt boten für diesen Zweck eine geeignete Grundlage. Sie ermöglichten, fast die Gesamtheit aller zwischen 1975 und 1989 aus dieser Region gestellten Anträge, die in den Akten des Rates des 9 An verschiedenen Stellen des Buches wird diese Auseinandersetzung wieder aufgegriffen. Vgl. Kapitel 6.2 u. Kapitel 8 in diesem Band. 10 Das von dem Ökonomen Albert O. Hirschman vorgeschlagene Modell von »Exit« und »Voice«, das nach 1989 zur Erklärung der Rolle der in den Westen ausgereisten oder geflüchteten Bürger herangezogen wurde, ist so nicht auf die DDR zu übertragen. Es verbleibt in dem Schema »Abwanderung als Gegenspieler von Widerstand«, das ungeeignet erscheint, die Rolle und den Charakter der Antragsteller zu begreifen. Vgl. Hirschmann: Abwanderung, Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen Republik. Ein Essay zur konzeptionellen Geschichte. In: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaften 20(1992)3, S. 330–358. Vgl. die Kritik an Hirschman bei Offe: Hauptwerke der Soziologie, S. 197–201, sowie bei Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«. Die Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin als innerdeutsches Migranten-Netzwerk. Berlin 2009.
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Einleitung
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Kreises Halberstadt und der Kreisdienststelle des MfS registriert worden waren, zu erfassen. 11 Damit verschob sich nicht nur das Bild vom Antragsteller, das uns medial vermittelt wird; auch die Frage nach den Motiven, die bisher ausschließlich den bereits übergesiedelten DDR-Bürgern gestellt worden war, ergab neue Antworten. Dadurch, dass in dieser Studie die Situation der Antragsteller im gesellschaftlichen Kontext der Kleinstadt und des Dorfes beschrieben wird, konnte ihr Ausreisebegehren aus der jeweiligen lebensgeschichtlichen Entwicklung begriffen und die Logik von Herrschaft und Unterdrückung in ihrer ganz konkreten Gestalt nachgezeichnet werden. Dieser Perspektivenwechsel hat bisherige Ergebnisse der Forschung bestätigen, aber auch relativieren und ergänzen können. Der Blick auf den Herrschaftsalltag in der DDR ist mit der Arbeit zu den Halberstädter Antragstellern facettenreicher geworden. 12 Der am nördlichen Rand des Harzes, im damaligen Bezirk Magdeburg liegende Kreis repräsentierte hinsichtlich seiner Größe von 665 km², seiner Einwohnerzahl von über 90 000 Menschen und seiner sozialen Zusammensetzung einen durchschnittlichen DDR-Kreis. Seine Besonderheiten waren ein etwas stärker ausgeprägter Landwirtschaftssektor, folglich eine geringere Beschäftigtenzahl in der Industrie als etwa im Süden der DDR. Eine weitere Besonderheit war die 47,3 km lange Westgrenze. Sowohl die spezifische sozialstrukturelle Situation im Kreis Halberstadt als auch die nahe Grenze sollten Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Gruppe der Antragsteller haben. 13 Im Rahmen der Regionalstudie interessierten darüber hinaus die Geschichte, das Gewordensein der Strukturen und des sozialen Zusammenlebens der Einwohner. Wie war die Atmosphäre entstanden, in der seit 1975 auch in Halberstadt immer mehr Menschen einen Antrag auf Ausreise stellten, obwohl dies die Gesetze der DDR nicht vorsahen? Und wie erklärt sich das eher dis11 Die Bestände der KD des MfS und der BKG des MfS Bezirk Magdeburg im BStU-Archiv der Außenstelle Magdeburg konnten eingesehen werden. Hier wurden auch die Personenakten der Antragsteller und über 40 sogenannte IM-Akten zur Verfügung gestellt. Des Weiteren wurden die Akten der Abt. Innere Angelegenheiten und des Rates des Kreises sowie des Vorsitzenden des Rates des Kreises Halberstadt im Archiv des RdK, im Stadtarchiv sowie im LHASA Magdeburg die Bestände Rep. M 24 der BDVP sowie Rep. M 1 eingesehen. Darüber hinaus wurden mit 22 ehemaligen Halberstädter Antragstellern und 10 weiteren Zeitzeugen Interviews geführt. Zu den Quellen siehe auch Kapitel 3 in diesem Band. 12 Das Projekt ist Bestandteil des Forschungsvorhabens »Herrschaft und Alltag in der DDRProvinz«, das in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) entwickelt wurde. Der Kreis Halberstadt wurde dort ausgewählt, weil er sozialstatistisch repräsentativ für die DDR-Provinz ist und die besondere, mit dem Grenzregime verbundene Sperrzonenproblematik sowie eine gute Quellenlage aufweist. Vgl. Engelmann: Eine Regionalstudie. In: Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 167–186. Ich bedanke mich bei Roger Engelmann für seine gründliche Korrekturarbeit am Text. 13 Die Entwicklung des Kreises Halberstadt, seine soziale, kulturelle und industrielle Struktur wird ausführlich im Kapitel 1 dieses Bandes dargestellt.
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Ausreise per Antrag
tanzierte Verhalten vieler Halberstädter gegenüber ihren Antrag stellenden Mitbürgern, das wir noch 2010 auf unseren Reisen nach Halberstadt spürten? Der historischen Entwicklung des Kreises, namentlich nach 1945, ist aus gutem Grund ein größerer Platz eingeräumt worden; nicht zuletzt, um das Halberstädter Lebensgefühl der 1970er und 1980er Jahre und damit das der Antragsteller, aber auch deren Verhältnis zu ihrem unmittelbaren Umfeld, den Freunden, Nachbarn, Kollegen, besser begreifen zu können. Neben vielen DDR-typischen Problemen war die Bevölkerung dieser Vorharzregion mit einigen spezifischen Bedingungen konfrontiert. Ohnehin gestaltete sich das Leben in der Provinz deutlich anders als zum Beispiel in Berlin oder Leipzig. Die im April 1945 völlig zerstörte und nicht wieder aufgebaute Altstadt wurde für viele Halberstädter zu einem sie besonders bedrückenden Zeichen des Verfalls. 14 Der Mangel an Wohnraum lag im Kreis bis in die 1980er Jahre hinein über dem DDR-Durchschnitt. Neben dem Wohnungsproblem dominierten auch in Halberstadt die typischen Schwierigkeiten eines DDRLandkreises: Eine schlechte Versorgung mit zahlreichen Gütern und kleinen handwerklichen Dienstleistungen, die jährlich anfallenden »Ernteschlachten« und ein stets störanfälliger Berufsverkehr bestimmten den Alltag. Trotz des permanenten Mangels wurde das Leben jedoch auch im Kreis Halberstadt allmählich bunter, neue Konsum- und Freizeitangebote weckten Bedürfnisse, die längst nicht befriedigt werden konnten. Für einige Halberstädter führte dieses Spannungsverhältnis zwischen Anspruch und Realität zu ihrem Entschluss, einen Ausreiseantrag zu stellen. (1. Kapitel) Die Entwicklungen an der Halberstädter Westgrenze, mit allen Folgen für die Bewohner nicht nur der sogenannten Sperrzone, gehören ebenfalls zum »Basiswissen« über eine Gesellschaft, deren Alltag in besonderer Weise von dieser Grenze bestimmt war. Zudem zeigten sich enge Zusammenhänge von Fluchten und Übersiedlungen aus den 1950er und 1960er Jahren mit den Antragstellungen aus den 1970er und 1980er Jahren. Die vor dem Mauerbau Übergesiedelten übernahmen eine Vorbildfunktion, fungierten als Kontaktpersonen oder wurden von den Antragstellern als Anlaufadressen nach der Übersiedlung bei den Behörden angegeben. (2. Kapitel) Das darauffolgende Kapitel gibt einen Überblick über die Anzahl der Antragstellungen im Kreis zwischen 1975 und 1989. Auf der Grundlage einer breiten Quellenbasis konnte darüber hinaus ermittelt werden, aus welchen sozialen Schichten, aus welchen Berufen, Altersgruppen und Orten des Kreises die Halberstädter Antragsteller kamen. Die Datenlage ermöglichte es, Aussa-
14 1945 wurden 1 850 Häuser beim Bombenangriff zerstört, 1 800 weitere Häuser gingen »bei den Kommunisten« verloren. Vgl. Interview mit Herrn Hartmann, 11.8.2009.
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Einleitung
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gen über ihre Bildung und Qualifikation, ihren Familienstand und die Anzahl der Kinder zu machen und so den »typischen Halberstädter Antragsteller« zu bestimmen. (3. Kapitel) Im Anschluss an diese Befunde gingen wir der Frage nach, welche Motive die Antragsteller hatten und ob sich ihre Gründe für das Verlassen der DDR in Motivgruppen oder vergleichbare Lebenssituationen einordnen lassen. Wir haben dabei nicht nur auf die offiziellen Begründungen, die in den Anträgen formuliert wurden, zurückgegriffen, auch nicht auf die unmittelbaren Anlässe, die häufig der Auslöser für eine Antragstellung waren, sondern sind der Biografie jedes Antragstellers nachgegangen, um aus ihr zu rekonstruieren, wie es zu diesem Schritt gekommen sein könnte. Die dann vorgenommene Unterscheidung von fünf lebensweltlichen Begründungszusammenhängen erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; Forschungen in anderen Gegenden oder Milieus können sie ergänzen. 15 Jedoch bereits das auf diese Weise entstandene Spektrum an Biografien, Lebenswelten und Motivlagen ergab ein aufschlussreiches Bild der Halberstädter Gesellschaft. (4. Kapitel) Im dann folgenden Kapitel wenden wir uns der Situation in den »Antragsgemeinschaften« 16 zu. Uns interessierte, wie sich das alltägliche Leben in den Familien nach der Antragstellung, aber auch wie sich die Beziehungen zu Freunden und Kollegen gestalteten. Wir wollten wissen, welches Selbstverständnis die Akteure mit Blick auf ihr Tun hatten und wie die Kinder der »Antragsgemeinschaft« mit der Situation zurechtkamen. In einem letzten Abschnitt dieses Kapitels wird der Frage nachgegangen, welche Rolle der Westen für die Antragsteller spielte und welche Erwartungen die Halberstädter Antragsteller an ein Leben im Westen hatten. (5. Kapitel) Eine besondere Veränderung erlebten während der oft jahrelangen Wartezeiten die sogenannten hartnäckigen Antragsteller; sie wurden immer radikaler und politischer in ihrem Auftreten. Aber nur sehr wenige traten aus der Vereinzelung heraus. Diese schlossen sich zusammen, stützten sich gegenseitig und nutzten am Ende der 1980er Jahre – dies war einmalig im Kreis Halberstadt – sogar den halböffentlichen Raum der Kirche für ihr Anliegen. Wir räumen dieser Gruppe trotz ihrer Marginalität einen besonderen Platz im Buch ein, denn gerade am untypischen Beispiel des Verhaltens einer Minderheit lässt sich ein scharfes Bild von der Halberstädter Gesellschaft zeichnen. Am Schluss des Kapitels wird das vieldiskutierte Verhältnis zwischen Antragstellern, Oppo15 Wir haben den Gruppen Zitate aus Interviews vorangestellt oder aus Gesprächen, die in MfS-Akten zitiert wurden.: »Keiner fragt da mehr, wo man herkommt«; »Ich geh hier nicht raus, bevor ich nicht fahren kann!«; »Ich will meine Art zu leben«; »Wieso zerreißt man hier Familien?«; »Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um noch mal neu anzufangen«. 16 Als »Antragsgemeinschaft« bezeichnet Gehrmann die Personen, die zusammen einen Antrag gestellt hatten. Wir übernehmen im Buch diesen Begriff. Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 416–422.
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Ausreise per Antrag
sition und Kirche behandelt, welches im Kreis Halberstadt erheblich von der Situation in den Städten und Zentren der Opposition in der DDR abwich. (6. Kapitel) Im vorletzten Kapitel des Buches wird die Rolle der für Anträge auf ständige Ausreise zuständigen Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises und der Kreisdienststelle des MfS dargestellt. Bevor die besonders repressiven »Maßnahmen« der Staatssicherheit gegen einen wenn auch nur kleinen Teil der Halberstädter Antragsteller geschildert werden, wenden wir uns der »gesellschaftlichen Front« zu, den Betriebs- und Schulleitern, den kleinen Funktionären und »Genossen«, die auf durchaus unterschiedliche Weise ihrem Auftrag der »Rückgewinnung« und Disziplinierung von Antragstellern nachkamen. Die mikrohistorische Herangehensweise ermöglichte es, die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit (IM), die im Kreis Halberstadt im Rahmen der Kontrolle und Verfolgung von Antragstellern eingesetzt worden waren, aus der Anonymität zu holen und sozial zuzuordnen. Anhand der detailliert beschriebenen Verfolgungspraktiken, »Zersetzungen« und Verhaftungen von Halberstädter Antragstellern ließen sich die Akteure der Macht und die Funktionsweise der Machtstrukturen im konkreten Raum darstellen. (7. Kapitel) Das Buch schließt mit dem Jahr 1989, in dem mit dem Ende der SEDHerrschaft auch das Kapitel der »rechtswidrigen Antragstellungen« durch Bürger der DDR nicht nur im Kreis Halberstadt endete. Wir schildern die widersprüchliche Stimmung unter den Antragstellern, die sich zwischen Hoffen auf eine Genehmigung und Bangen angesichts einer unberechenbaren Regierungspolitik bewegte. Auch jetzt traten nur wenige Halberstädter mit deutlichen Zeichen des Widerstandes in die Öffentlichkeit; die Zahl der über Botschaften flüchtenden Halberstädter war dagegen höher als im Magdeburger Bezirksdurchschnitt. Für die zuständigen Mitarbeiter der Abteilung Inneres in der Kreisdienststelle des MfS und für die zahlreichen inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit brach im Herbst 1989 das Machtgefüge zusammen, die Führung gab keine Anweisungen, die autoritäre Herrschaft funktionierte nicht mehr. In unserem kurzen Ausblick auf die revolutionären Ereignisse im Herbst 1989 in Halberstadt kommen die Antragsteller nicht mehr vor, neue Akteure hatten die Bühne betreten. (8. Kapitel) Anders als in zahlreichen soziologischen Studien und Arbeiten der historischen Migrationsforschung standen in diesem Projekt nicht die bereits in den Westen Übergesiedelten im Zentrum des Interesses. 17 Die Frage der Integration in das bundesdeutsche Gesellschaftssystem, welche Probleme dabei auftraten, wie erfolgreich oder weniger erfolgreich der Prozess verlief, wird in diesem Buch nur kursorisch behandelt. Zweifelsohne sind im Rahmen einer Gesamt17 Vgl. z. B. Ronge: Die soziale Integration von DDR-Übersiedlern in der Bundesrepublik Deutschland. In: APuZ v. 5.1.1990, S. 39–47.
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Einleitung
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betrachtung der deutsch-deutschen Migration die Befindlichkeiten und die weiteren Lebensverläufe der Auswanderer, auch die Bedingungen, die sie im »Zielland« vorfanden, zu analysieren. Wie war die Lage auf dem Arbeitsmarkt in dem Jahr, in dem Familie Großmann nach Braunschweig ausreiste? Was für eine gesellschaftliche, namentlich politische Atmosphäre empfing sie? 18 Doch erst der Rückgriff auf die Biografien der Ausgereisten, auf ihr Leben im »Herkunftsland«, lassen uns die unterschiedlichen Integrationsvorgänge verstehen. Sicher kann von einigen Präferenzen und Verhaltensmustern der Übersiedler auf deren DDR-spezifische Sozialisationsmuster rückgeschlossen werden. Doch ohne eine differenzierte Analyse der Situation der Antragsteller in der DDR, ihrer sozialen, kulturellen und politischen Erfahrungen, wird diese spezifisch deutsch-deutsche Wanderungsbewegung nicht tatsächlich umfassend dargestellt werden können. Dieses Forschungsdefizit hilft das vorliegende Buch zu schließen. Mit unserer Methode, die Lage im »Herkunftsland« in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen und das Phänomen der Antragstellung auf Ausreise aus den Lebenswelten der Betroffenen selbst heraus zu begreifen, sind wir auf überraschende Befunde gestoßen. 19 Auf einige interessante Ergebnisse wollen wir den Leser vorab aufmerksam machen. Die erste Abweichung von anderen Forschungsergebnissen, die sich vorrangig mit jenen Antragstellern beschäftigen, die in Städten wohnten, ist den industriellen und sozialen Bedingungen im Kreis Halberstadt geschuldet. Hier dominierten, wie bereits erwähnt, ländliche Strukturen; die einzige größere Stadt war die Kreisstadt mit über 40 000 Einwohnern. Eine relevante Industrie gab es vor 1945 nicht, und auch danach bestimmten landwirtschaftliche und Dienstleistungsbetriebe das Bild. So erklärt sich, dass ein beträchtlicher Teil der Antragsteller Männer und Frauen waren, die einem eher gering qualifizierten Beruf, bevorzugt im Dienstleistungssektor des Kreises, nachgingen. In den 1980er Jahren nahm der Anteil gut ausgebildeter Facharbeiter/innen gegenüber den 1970er Jahren allmählich zu. Auch der Charakter der örtlichen Intelligenz, die kaum Merkmale von Illoyalität gegenüber der Staatsmacht aufwies, wirkte sich auf die Zusammensetzung der Gruppe der Antragsteller aus: Hochschulabsolventen, Akademiker, Angestellte in kulturellen und wissenschaftli18 Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung. Siehe auch die Diskussion um den politischen Flüchtling, der »immer auch ein Kampf um den Begriff des Politischen und damit letztlich um das eigene Selbstverständnis« war. Ackermann: Der »echte« Flüchtling (Klappentext). 19 Auf der 69. Sitzung der Enquete-Kommission 1994 wurden verschiedene Vorträge zu den Motiven und Hintergründen von Flucht und Ausreise gehalten; Zeitzeugen schilderten ihre Erlebnisse und Erfahrungen. Vgl. Enquete-Kommission. Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland. Bd. VII/1, Widerstand. Opposition. Revolution. Frankfurt/M. 1995, S. 315–449. Vor allem Bernd Eisenfeld hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, auf seine Forschungsergebnisse wird hier wiederholt zurückgegriffen.
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Ausreise per Antrag
chen Bereichen oder aus kirchlichen Kreisen waren nur minoritär vertreten. Antragsteller auf Ausreise, die oppositionellen Gruppen angehörten, gab es in Halberstadt wie wohl in den meisten anderen DDR-Kreisen nicht. Das Bild vom Antragsteller muss darüber hinaus noch in anderer Hinsicht präzisiert werden. 20 Nicht der jüngere Mann war im Kreis Halberstadt der typische Antragsteller, sondern das zwischen 32 und 35 Jahre alte Ehepaar mit einem Kind. In der Mitte ihres Lebens entschieden sie sich, den Neuanfang im Westen zu wagen. Einige hatten schon als Jugendliche mit diesem Gedanken gespielt, für andere war er angesichts einer als unerträglich empfundenen gesellschaftlichen Stagnation in den 1980er Jahren erst aufgekommen. Einige hatte ihre Biografie längst zu Außenseitern der DDR-Gesellschaft gemacht, andere hatten bis dahin ein durchaus angepasstes normales Leben in der DDR geführt. Sie waren irgendwann aber an Grenzen gestoßen, für deren Erweiterung es nun eine realistische Chance gab. Mit der Methode, die Gründe, die zu einer Antragstellung geführt haben, aus der jeweils spezifischen biografischen Situation zu begreifen, waren wir aus der unbefriedigenden Lage befreit, eine Vielzahl von politischen und materiellen Gründen für Unzufriedenheiten aufzuzählen, und sie womöglich noch in ihrer Bedeutsamkeit hierarchisch zu ordnen. Die Entscheidung, die DDR auf immer zu verlassen, war ein komplexer Vorgang, den wir aus den Lebensgeschichten der Antragsteller zu rekonstruieren versuchen. So gut wie allen Halberstädter Antragstellern war gemeinsam, dass sie ihre Entscheidung als eine persönliche Angelegenheit begriffen, die allein sie zu verantworten hätten und die nicht in die Öffentlichkeit gehörte. In dieser Sicht verquickte sich das unbedingte Befolgen der Staatsdoktrin mit dem Selbstverständnis als unpolitischem Akteur. Dieses Verständnis sowie die distanzierten Reaktionen nicht etwa nur staatsloyaler Halberstädter auf die Antragstellung ihrer Mitbürger führten die meisten »Antragsgemeinschaften« in eine Isolation. Das widerspricht den Darstellungen, die von einem großen Zusammenhalt ausgehen, gar von einem »Netzwerk« sprechen, welches Antragsteller in der DDR typischerweise ausgebreitet hätten, um sich gegen die staatlichen Repressalien wirkungsvoller schützen zu können. 21 Die Realität sah anders aus. Nur wenige pflegten Verbindungen untereinander und nur ein kleiner Teil von diesen bildete einen Gruppenzusammenhang. Wir haben im Kreis Halberstadt zwischen 1974 und 1989 lediglich zwei solcher Gruppen 20 In Anhang zu Richard Hilmer: Motive und Hintergründe von Flucht und Ausreise aus der DDR. In: ebenda, S. 435. 21 Vgl. Kapitel 5 in diesem Band. Diese Vorstellung durchzieht fast die gesamte Literatur zu den Antragstellern in der DDR, besonders zentral ist der Gedanke bei Manfred Gehrmann entwickelt, hier als Bestandteil eines Konzeptes von der Bedeutung der Netzwerke für die deutsch-deutsche Wanderungsbewegung, welches wir in anderen Zusammenhängen teilen. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«.
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Einleitung
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ausfindig machen können, wovon nur der Zusammenschluss am Ende der 1980er Jahre einem Netzwerk nahe kam. Diesen Halberstädtern, die mit der besonderen Härte des Regimes zu rechnen hatten, wurde im Buch ein eigener Platz eingeräumt. Auch die sogenannten hartnäckigen Antragsteller, die nicht tatenlos auf eine Entscheidung der Abteilung Inneres warteten, erlebten Repressionen. Ihr zunehmend radikaler und politischer werdendes Auftreten gegenüber den Behörden änderte allerdings nichts am privaten Charakter ihres Anliegens. Diesen zu überwinden erreichten letztlich nur diejenigen, die den Raum der Kirche nutzten oder die Straße, um ihr Anliegen öffentlich zu machen. Der Halberstädter »Durchschnittsantragsteller« vollzog diesen Schritt nicht. Dafür geben uns sein Verhalten, seine Erfahrungen mit Freunden und Kollegen in der oft langen Wartezeit differenzierte Einblicke in das Alltagsleben einer DDR-Provinz. Die mikrohistorische Nahaufnahme schärfte auch den Blick für die Herrschaftsmechanismen und Repressionspraktiken des Staates. Der regionale Bezug ermöglichte es, die Institutionen der Macht, die Strukturen und Akteure der Herrschaft konkret zu benennen und ihre durchaus unterschiedlichen Verhaltensweisen gegenüber den Antragstellern herauszustellen. Es bestätigte sich die enge personelle Verflechtung zwischen staatlicher Administration und geheimpolizeilicher Kontrolle: So hatten drei Viertel aller mit den Antragstellern befassten inoffiziellen Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS zugleich eine höhere Funktion im Staat, in der Partei oder einer staatsnahen Organisation inne. Das für die Antragsteller vielleicht folgenreichste Merkmal der Herrschaft im Kreis Halberstadt war der willkürliche und damit unberechenbare Umgang mit den Betroffenen. In einer Diktatur wie der DDR sind im rechtsfreien Raum getroffene, willkürliche und nicht überprüfbare Entscheidungen an der Tagesordnung gewesen. Die legendäre Eingabenpraxis, in der massenweise Bittstellungen an die Obrigkeit gerichtet wurden, steht als Sinnbild für eine, an feudale Verhältnisse erinnernde, Herrschaftsstruktur. 22 Was jedoch die Antragsteller erlebten, ging über solche Erfahrungen weit hinaus. Weder war für sie kalkulierbar, wie sich die Abteilung Inneres verhalten würde, ob und wann sie eine Genehmigung erteilte, wer diese Entscheidung überhaupt traf und wie aufzutreten war, um die Antragstellung positiv zu beeinflussen. Noch erschloss sich ihnen, warum der eine Antragsteller »zugeführt« oder sogar verhaftet und verurteilt wurde, ein anderer dagegen trotz vergleichbar enger Westkontakte nach kurzer Wartezeit in den Westen ausreisen durfte. Wohl 22 Vgl. Zatlin: Ausgaben und Eingaben. Das Petitionsrecht und der Untergang der DDR. In: ZfG 45(1997)10, S. 902–917, sowie das Kapitel: Der erfolgreiche Ausweg über die Eingabe?, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 284–298.
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Ausreise per Antrag
sprachen sich Erfahrungen aus dem Umgang der Staatsmacht mit den Antragstellungen herum oder wurden über Westmedien kolportiert. Da sich jedoch die Genehmigungspolitik des MfS ständig änderte, war auf solche Berichte kein Verlass. Als besonders dramatisch erfuhren die verhafteten Halberstädter Antragsteller diese Willkür. Die meisten von ihnen begriffen ihre Lage nicht und konnten sie auch nicht begreifen, weil ihre Inhaftierung Regeln folgte, die ihnen unbekannt waren und auf die sie ohnehin keinen Einfluss hatten. Diese, nicht nur im Kreis Halberstadt verbreitete Praxis hatte maßgeblich Anteil daran, dass die Antragsteller insgesamt viel weniger rational handelnd konnten, als ihnen allgemein unterstellt wird. 23 Sie waren in hohem Maße Objekte von Repression durch eine unberechenbare Staatsmacht. Eine solche Einschätzung schmälert jedoch keinesfalls ihre aktive Rolle und ihr zivilcouragiertes Verhalten, das sie von der Bevölkerungsmehrheit deutlich unterschied. Dem Projekt zu den Antragstellern im Kreis Halberstadt liegt ein Konzept von Geschichte als ergebnisoffenem, kontingentem Prozess zugrunde. 24 Es hängt letztlich vom Handeln der Menschen ab, auf welche Weise und in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickelt. Sie können durchaus und trotz der vorgefundenen Bedingungen verändernd in den Gang der Ereignisse eingreifen. Manchmal übernehmen unerwartet andere Akteure die Initiative und geben der Geschichte eine überraschende Wendung. Wenn der Verlauf der Entwicklung aber nicht eindeutig feststeht – eben offen ist – können auch die Handlungen der Menschen nicht als Vorwegnahme eines später notwendig und zwangsläufig so und nicht anders eintretenden historischen Ereignisses gedeutet werden. Der Untergang der DDR musste nicht schicksalhaft in die deutsche Einheit münden. Das hieße, die Geschichte von ihrem Ende her erklären zu wollen und auszuschließen, dass sie nicht auch anders hätte verlaufen können. Demnach konnten die Antragsteller auch nicht die frühen Akteure eines geschichtlichen Ereignisses gewesen sein, für das die Weichen endgültig erst im Januar 1990 gestellt worden sind. Angesichts unserer Untersuchungen teilen wir auch nicht die Überlegung, dass den Antragstellern für die DDR ein »grundlegender Systemwechsel hin zu einem westlichen Gesellschaftsmodell« 25 vorgeschwebt habe. Weder wollten sie 23 Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 406–428. Auch die Charakterisierung der Antragsteller als Widerständler impliziert ein solches aktives Subjektverhalten. Vgl. Eisenfeld: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe; Eckert; Kowalczuk (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 192–223. 24 Vgl. Kosselleck: Zeitgeschichten. 25 Schroeder: Ursachen, Wirkungen und Folgen der Ausreisebewegung. In: Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf, S. 46–68, hier 63. Selbst noch die Umfragen im Herbst 1989 ergaben, was auch in den Haltungen der Halberstädter Antragsteller deutlich wurde: Sie wollten eine Gesellschaft, in der die »guten Seiten« beider Systeme erhalten blieben, wovon es allerdings ihrer Erfahrung nach im Westen mehr geben würde. Ansonsten hätten sie wohl keine Ausreise angestrebt.
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Einleitung
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subjektiv mit ihrer Ausreise die deutsche Einheit beschleunigen, noch waren sie »objektiv die wesentlichen Triebkräfte« der »Wiedervereinigung Deutschlands unter bundesdeutschem Vorzeichen«. 26 Steigende Antragstellerzahlen und Massenfluchten hatten einen erheblichen Anteil am Sturz des Regimes im Herbst 1989. Nachdem jedoch die Grenze geöffnet war und die Mehrheiten Anfang 1990 einer schnellen Einheit zustrebten, gab es keine Antragsteller mehr, die in diesem Prozess eine »wesentliche Triebkraft« hätten sein können. Ohnehin hatten die meisten Antragsteller, auch die der 1980er Jahre, genauso wenig wie alle anderen Halberstädter angenommen, dass sich die Einheit bald und möglicherweise durch ihr Tun beschleunigt herstellen würde. Sie gehörten eher zu den Bürgern, die resignierten und angesichts der Stagnation kaum an eine Veränderung im Lande glaubten. Ihre Ausreise verstanden sie zu diesem Zeitpunkt mitnichten als einen privaten Weg der Wiedervereinigung, also quasi als individuelle Vorwegnahme eines nach 1990 massenweise von den Ostdeutschen vollzogenen Integrationsprozesses. 27 Sie reisten aus, weil sie unter den gegebenen Umständen nicht mehr leben und arbeiten wollten. Ihre Geschichte ist somit als Teil einer Gesellschaftsgeschichte der DDR zu schreiben und nicht als Vollstreckung der Idee von der deutschen Einheit. Das vorliegende Buch versteht sich als ein Beitrag zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR. Dass immer mehr Menschen seit den 1970er Jahren, auch im Kreis Halberstadt, einen sogenannten rechtswidrigen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellten, wird im Zusammenhang mit einer historisch ganz bestimmten internationalen Situation gesehen, die ihre Auswirkungen auf die DDR hatte. Die Entscheidung der Antragsteller wie auch ihr weiteres Verhalten ließen sich aus der damaligen Lebenswelt und dem Lebensgefühl in der Provinz erklären. Was die Antragsteller charakterisierte und ihre Besonderheit ausmachte, haben wir nicht im Vergleich zur Opposition herausfinden wollen, sondern in Beziehung zum Verhalten der Mehrheitsbevölkerung gesetzt. Ihre Bedeutung haben wir nicht in der Vorbereitung auf den Jahre später stattfindenden Einigungsprozess gesehen, sondern aus ihrer Rolle in der damaligen DDR erklärt. Danach ist ihr Abweichen von der herrschenden Norm, die nicht nur eine Norm der Herrschenden war, als kleiner, aber wichtiger Ausdruck dafür zu werten, dass auch in der DDR Regelverletzungen und Eigensinn möglich waren. Die Antragsteller gehörten zu einer Minderheit in der DDR, sie überschritten aus durchaus eigennützigen Gründen staatliche »Grenzziehungen« und trieben damit zugleich die Entwicklung voran. Die Antragsteller waren keine Widerständler und keine Oppositionellen, ihr von
26 Eisenfeld: Ausreiseantragsteller und Opposition in der Endphase der DDR. In: Vaterlandslose Gesellen, S. 33–44, hier 43. 27 Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung.
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der Norm abweichendes Verhalten, ihre Devianz, jedoch war – wie immer und in jeder Gesellschaft – auch in der DDR eine »kreative Notwendigkeit für sozialen Wandel«.28 ***** Die im Text vorkommenden Antragsteller auf ständige Ausreise und andere Privatpersonen sind durchweg anonymisiert, das heißt, sie werden mit Pseudonymen genannt. Es wird darüber hinaus darauf verzichtet, Informationen wiederzugeben, die Anhaltspunkte für eine Identifizierung bilden könnten. Amtsträger und Inhaber politischer Funktionen werden dagegen mit ihren tatsächlichen Namen genannt. Das gilt auch für Gemeindepfarrer, die – im Hinblick auf ihre öffentliche Rolle – als relative Personen der Zeitgeschichte eingestuft werden.
28 Lemert: Social Problems and the Sociology of Deviance. In: Ders.: Human Deviance, Social Problems, and Social Control, 2. Aufl., Englewood Cliffs, N.J., S. 14, zit. bei: Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 55 f. Devianz meint hier ein von der allgemeinen Norm abweichendes Verhalten im progressiven, vorwärtsweisenden Sinn.
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Der Kreis Halberstadt
1.1
Begegnungen 2009
Den DDR-Kreis Halberstadt, so wie er diesen Untersuchungen zugrunde liegt, gibt es heute nicht mehr. 2007 gingen die Landkreise Halberstadt, Wernigerode, Quedlinburg und die Stadt Falkenstein mit nunmehr über 240 000 Einwohnern im Landkreis Harz auf. Die »Rivalen« Wernigerode und Halberstadt sind sich auf diese Weise zumindest amtlich näher gerückt. Auf administrativer Ebene hat zwar Halberstadt das Rennen gemacht und ist Kreisstadt geworden, Wernigerode aber scheint, was Beliebtheit und Besucherzahlen betrifft, die Nase vorn zu haben. Hier floriert der Tourismus und die Einwohnerzahlen nehmen lange nicht so rasch ab wie in Halberstadt. Dort bleiben die Hotels oft leer, und lediglich Tagesausflügler kommen, um den 2008 restaurierten Dom zu besichtigen. Die nach 1990 teilweise wiederhergestellte Altstadt lockt nur wenige Urlauber, die reizvolle Harz-Landschaft beginnt erst einige Kilometer entfernt. Die Bahnhöfe im heutigen Harzkreis, die man, mit dem Regionalzug von Magdeburg kommend, auf dem Weg nach Halberstadt passiert, wirken noch 2010 wenig einladend. Kaum etwas wurde neu gestaltet. Wo wir bei unserem ersten Besuch in Halberstadt Einheimischen begegneten, im Zug, am Abend in der Gaststätte, im Hotel, in den Bibliotheken und Archiven, erzählten wir von unserem Projekt: Zunächst in der Hoffnung, auf diese Weise Hinweise oder Kontakte zu ehemaligen »ASTA«, wie die Staatssicherheit in den letzten Jahren die »Antragsteller auf ständige Ausreise« aus der DDR im Bürokratendeutsch nannte, zu erhalten; dann vor allem mit zunehmendem Interesse an den Reaktionen der Befragten. Die ersten Antworten auf die Frage, ob man in seinem Bekanntenkreis einen Antragsteller kenne, waren unerwartet zurückhaltend bis ablehnend ausgefallen: Man kenne keinen, es interessiere auch nicht besonders. Ja, die Ausreiser. Man erinnere sich dunkel. Das klang nicht besonders entgegenkommend. Waren wir auf lauter Halberstädter Sympathisanten des DDR-Regimes und ehemalige SED-Genossen getroffen? Es stellte sich schnell heraus, dass der »normale Durchschnittsbürger« so antwortete, als hätte er wenig Neigung, sich positiv an seine aufmüpfigen oder doch wenigstens unangepassten Mitbürger zu erinnern. Auf dieses erstaunlich distanzierte Verhältnis der Halberstädter zu den Antragstellern sollten wir wiederholt stoßen. »So was gab's bei uns nicht, bei uns war alles ruhig«, antwortet mir eine Mitarbeiterin vom Stadttheater Halberstadt rasch,
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Ausreise per Antrag
als ich sie am Telefon danach frage, ob sie – die seit den 1970er Jahren am Theater tätig war – jemanden nennen könne, der einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Inzwischen weiß ich aus den Akten, dass ihre Antwort nicht der Wahrheit entspricht. Es begann uns zu interessieren, ob wir hier einem allgemeinen Phänomen im Umgang der DDR-Bevölkerung mit »ihren Ausreisern« auf die Spur gekommen waren. Verweist uns diese eigentümliche Amnesie der Halberstädter auf den isolierten, ohne jede Öffentlichkeit verlaufenden Charakter der Antragstellung? Konnten die Mitbürger damals tatsächlich nicht gewusst haben, wer einen Antrag gestellt hat? Oder fand hier statt, was in allen Gesellschaften, auch der DDR, zur Stabilität der herrschenden Verhältnisse beiträgt: man distanziert sich von den Störenfrieden, den Aufmüpfigen, den Spielregelverletzern? Und wie viel Anteil hat die Geschichte, hat das Gewordensein in dieser Region, am Verhältnis zwischen den Antragstellern und der Mehrheitsbevölkerung im Kreis Halberstadt? Als wir 2009 unsere ersten Gespräche in Halberstadt führten, lag ein Ereignis fast zwei Jahre zurück, das republikweit Schlagzeilen gemacht hatte. Eine Gruppe von Schauspielern des Halberstädter Theaters war von rechten Jugendlichen zusammengeschlagen worden. 1 Einige Jahre zuvor, erfuhren wir, gab es heftige Angriffe von ebenfalls rechten Jugendgruppen gegen einen 1991 gegründeten Jugendtreff in der Altstadt, die »ZORA«. Auf unsere Nachfragen, diese Vorkommnisse betreffend, reagierten die Gesprächspartner unisono verärgert darüber, dass »man so aufeinander losgegangen sei« und keine Ruhe gegeben habe. Politische Polarisierungen sind vielen Halberstädtern offensichtlich fremd und sich zu positionieren und einzugreifen ist wenig verbreitet. Wie war das alles entstanden, was hatte die Halberstädter Bevölkerung, wie es scheint, mehrheitlich so werden lassen?
1.2
Von der Domstadt zur Ruinenstadt
Halberstadt, erstmals im Jahr 804 urkundlich erwähnt, war Bischofssitz und eine Domstadt mit vielen prächtigen Kirchen. Dank ihrer verkehrsgünstigen Lage in der Mitte Deutschlands war sie jahrhundertelang ein ökonomisches, kulturelles und Verwaltungszentrum. Seit dem 19. Jahrhundert entwickelte sich ein lebhafter bürgerlicher Unternehmergeist in der Stadt. »Fachwerk, Barock, schiefwinklige Ställe, Innenhöfe. 42 000 Einwohner hatte die Stadt um 1900, die Bilder signalisieren Wohlstand, vor allem Emsigkeit, Geschäfte überall, Märkte, Markisen vor den Läden. Die Conditorei Caiserhof am 1 Vgl. Berliner Zeitung v. 17.9.2001, S. 26; Berliner Zeitung v. 10.10.2007, S. 3; Berliner Zeitung v. 7.7.2009, S. 9 (Neuer Prozess wegen Überfalls in Halberstadt).
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1 Der Kreis Halberstadt
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Fischmarkt bediente die Kundschaft unter Sonnenschirmen auf einer Terrasse im ersten Stock. Ab 1887 gab es eine Pferdebahn, abgelöst 1903 von der Elektrischen. Seit 1888 konnten die Halberstädter telefonieren.« 2 So beginnt Wibke Bruhns Geschichte einer deutschen Familie, der Klamroths. Die angesehene Kaufmannsfamilie war Teil und Repräsentant der bürgerlichen Elite in Halberstadt, die preußisch-fleißig, streng und tugendsam, deutsch-national war und mit dieser Gesinnung eine erstaunlich eifrige Bereitschaft zeigte, sich dem Nationalsozialismus Hitlers anzudienen. Nicht die eher sozialdemokratisch oder kommunistisch gesinnten Arbeiter Halberstadts, sondern die »Crème de la Crème« der Gesellschaft, wie Wibke Bruhns es nennt, jubelte Hitler und seiner Partei schon sehr früh auf dem Domplatz zu. 3 Sie ist es auch gewesen, die sich eilfertig der Prüfung arischer Ahnenabstammung stellte und der Zerstörung der großen jüdischen Gemeinde Halberstadts tatenlos zusah. Die bürgerlichen jüdischen Unternehmer, mehrheitlich orthodoxe Juden, galten ohnehin als lästige Konkurrenten, sodass ihre Vertreibung und Vernichtung für die protestantischen Unternehmer durchaus Vorteile für das eigene Geschäft nach sich zogen. Neben dem protestantisch-bürgerlichen Unternehmergeist prägte zudem das Militärische den Alltag der Stadt. Von 1623 bis 1994 war Halberstadt fast durchgehend Garnisonsstadt. Über 300 Jahre lang waren hier die Truppen der jeweiligen Herrscher stationiert, Kasernen und militärische Übungsplätze umlagerten die Stadt, Militärkapellen spielten sonntags auf dem Holzmarkt auf und Soldaten und Offiziere prägten im Wechsel der Zeiten das Straßenbild der Kleinstadt. 4 Insbesondere war Halberstadt eine bedeutende Fliegerstadt, wie Chronisten heute noch betonen. 5 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden den Halberstädter Flugzeugwerken zwar die Kriegsproduktion und die Ausbildung an der Fliegerschule verboten, aber bereits 1934 war beides wieder in vollem Gang. 6 Im Zweiten Weltkrieg traf die Wehrmacht dann Vorbereitungen, die Geschützrohrfertigung und die Produktion der berüchtigten »V 2«-Raketen in unterirdische Stollen der umliegenden Hoppelberge zu verlagern. Zwischen Halberstadt und Blankenburg wurde ein Außenlager des KZ Buchenwald errichtet, das KZ Langenstein-Zwieberge, in dem zwischen April 1944 und 1945 mehr als 7 000 Häftlinge inhaftiert waren. Darunter waren auch Häft-
2 Bruhns: Meines Vaters Land, S. 25. Vgl. auch Hartmann (Hg.): Halberstadt. 3 Bruhns: Meines Vaters Land, S. 248 f. 4 Mahlke: Fips-Auge, der Flug zum Nordpol und ein blutendes Herz. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 230. 5 Fliegergeschichten gibt es auch in dem Erinnerungsbuch. In: ebenda, S. 121–125. 6 Hartmann (Hg.): Halberstadt, S. 41–46.
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Ausreise per Antrag
linge aus den Junkerswerken Halberstadt, die in der Harslebener Straße in der Flugzeugfertigung schufteten. 7 Nach 1945 waren sowjetische Truppen (GSSD) und seit den frühen 1950er Jahren der Stab einer Grenzbereitschaft (ab 1961 Grenzregiment) in Halberstadt stationiert. Eines von sieben Grenzausbildungsregimentern der DDR befand sich ebenfalls in Halberstadt. 8 Die sowjetischen Truppen lagen in der einstigen Fliegerhorstkaserne. Es handelte sich insbesondere um ein Gardepanzerregiment, eine Eliteeinheit mit besonderer strategischer Bedeutung. Zum Standort gehörte auch ein Übungsplatz mit Panzerschießbahnen. In unseren vielen Gesprächen mit alteingesessenen Halberstädtern haben weder diese militärischen Einrichtungen, noch die KZs je ein Wort der Erwähnung gefunden. 9 Halberstadt war in den 1930er und 1940er Jahren ein beliebtes Reiseziel, nicht zuletzt seiner hübschen alten Fachwerkhäuser wegen. Es war ein idyllisches mittelgroßes Städtchen im Nordharzvorland. Von Halberstadt aus machte der Besucher Ausflüge in die nahegelegenen Spiegelberge. In meinem Familienalbum gibt es Bilder von der Altstadt, Ostern 1945 aufgenommen, wohin meine Eltern ihre Verlobungsreise machten. Das war eine Woche vor der Bombardierung des Halberstädter Stadtzentrums durch amerikanische und englische Geschwader. Am 8. April 1945 fiel ein Großteil der altstädtischen 7 Vgl. Verschrottung durch Arbeit. In: Kluge: Chronik der Gefühle, S. 101–127. Hier beschreibt der Autor die Situation im 1944 eingerichteten Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge als Außenstelle des KZ Buchenwald. Neben einer Untertunnelung des Harzsandsteingebirges für die Rüstungsproduktion wurde – nach Kluge – gezielt »Vernichtung durch Arbeit« betrieben. Über 2 500 Häftlinge starben auf dem »Todesmarsch«, auf den die gehfähigen Häftlinge des Lagers am 9.4.1945 geschickt worden waren. 1949 wurden am Ort der Massengräber ein Mahnmal und Gedenktafeln eingeweiht, 1976 ein Museum. Alexander Kluge ergänzt diese Fakten durch Beschreibungen des »unternehmerischen Umfelds«: Organisation und Selbstversorgung des Lagers, Schikanen der SSWachführer, Verbesserungsvorschläge der Häftlinge, Führungsproblem der Wachtruppe, Protokoll der Auflösung und Zerstreuung, Denkmalsplanung zu DDR-Zeiten. Kluge beschäftigt sich in diesem Text mit der widersprüchlichen Rationalität der beteiligten lokalen Akteure, die am Funktionieren des Vernichtungsbetriebes des KZ beteiligt waren: Der KZ-Leiter, ein Obersturmführer, der das NSVernichtungsziel verfolgte; die Meister des zivilen Bauunternehmens Bilfinger & Co., die ein Produktionsziel verfolgten und zum Teil in merkwürdige Kooperation mit den Häftlingen traten; Landjäger Feuerstake, der durch die Halberstädter Gegend zog, um entflohene Häftlinge aufzuspüren; der Bauer Andreas Holzhauer, der seiner persönlichen ökonomischen Rationalität folgend, »nie unfreundlich zu den Häftlingen, die noch lebten«, die Leichen der Häftlinge gegen 2 RM pro Person zur Verbrennungsstätte nach Quedlinburg brachte; Regierungsinspektor und SS-Obersturmführer Madloch, der die Ausbeutung der Arbeitskraft in den Außenlagern »wissenschaftlich« untersuchte und den Begriff »Verschrottung durch Arbeit« prägte; Häftlinge des Todesmarsches; Obersturmführer Hofmann (Nachfolger Lübecks), der die Rache der KZ-Häftlinge fürchtete und diese in den Stollen treiben wollte und die Eingänge zu sprengen plante. 8 Siehe König: Halberstadt. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 132–140. 9 In einem Erinnerungsbuch ehemaliger Halberstädter, das 2007 erschienen ist, erwähnen drei von einhundert Bürgern eher am Rande die Arbeitslager. Vgl. Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 171, 258 ff. u. 281 f.
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Bausubstanz den Bomben zum Opfer. An diesem Tag sind 1 200 Fachwerkhäuser niedergebrannt. Dabei kamen rund 2 500 Menschen ums Leben. Die Trümmermenge betrug etwa 1,5 Mio. Kubikmeter. Am 11. April war für die Halberstädter der Krieg zu Ende. Nach den Amerikanern kamen die Engländer und wenige Wochen später die Russen. 10 Ende Mai 1945 kam James N. Eastman jr. im Auftrag einer amerikanischen Forschergruppe nach Halberstadt, um Material für eine psychologische Studie über die Bevölkerung deutscher Städte zu sammeln, die am Ende des Zweiten Weltkriegs bombardiert worden waren. Darunter war auch Halberstadt, wie der Schriftsteller und gebürtige Halberstädter Alexander Kluge in einem dokumentarischen Essay über den »Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945« 11 erzählt. Eastman hätte keine große Mühe gehabt, die Halberstädter zum Reden zu bringen. Sie antworteten mit einem stereotypen Narrativ, das ihm aus seinen Studien in anderen deutschen Städten schon bekannt war: »An jenem furchtbaren Tag, an dem unsere schöne Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde…« Die Bürger aus Halberstadt betrachteten sich als Opfer. Dem amerikanischen Oberst schlug kein Hass entgegen, kein Sinnen auf Rache, aber auch kein Zeichen der Reue. Eher Lethargie. »Sie hatten sich«, so kolportiert Kluge die Erfahrung von James N. Eastman, »in der elenden staubigen Gegend eingerichtet, an den Rändern der Zerstörung, an denen sie siedelten wie an einem ausgetrockneten See.« 12 Ob je ein solches Psychogramm 1945 oder später von den Halberstädtern erstellt worden ist? Tatsächlich wird die Bombardierung der Stadt ein traumatisches Erlebnis gewesen sein, dessen historische und politische Dimension sie mehrheitlich nicht begriffen und nicht begreifen wollten und das in den Folgejahren nicht aufgearbeitet werden konnte, weil die allgemeine und die besondere politische Lage im Land dies nicht zuließen. In einem 2007 erschienenen Buch, in dem 100 Halberstädter über ihre Stadt schreiben und die ältere Generation die Bombardierung thematisiert, heißt es: »Der II. Weltkrieg kam am 8. April auch in die schöne Harzvorstadt Halberstadt. Innerhalb weniger Minuten versank meine Heimatstadt unter dem Bombenhagel in Schutt und Asche … Es kam eine schwere Zeit auf die Bevölkerung zu.« 13 Man spürt die bis heute anhaltende Empörung über dieses »Verbrechen an unschuldigen Menschen«. Heimlich machte der Fotograf Mahlke aus Halberstadt 1946 Fotos von der zerstörten Innenstadt, die heute in seinem Atelier in der Friedrich-EngelsStraße in den Schubkästen liegen. Sein Sohn, Burkhard Mahlke, führte das 10 11 12 13
Vgl. Hartmann (Hg.): Halberstadt, S. 14 u. 84. Kluge: Der Pädagoge von Klopau, S. 215–298. Ebenda, S. 296. Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 218 u. 64.
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Geschäft in den letzten 30 Jahren, dessen Sohn wird es bald übernehmen. Burkhard Mahlke hat – gleichfalls heimlich und ohne Wissen der Behörden – den weiteren Zerfall dieser Ruinen fotografiert, die 1982 von sowjetischen Panzern »zusammengeschoben« wurden. Da liegen sie im Großformat nebeneinander auf dem Fußboden im Fotoatelier Mahlke, die Bilder von der zerstörten Innenstadt im Mai 1945 und die Nachtaufnahmen von Panzern und Bulldozern im Sommer 1982, mit deren Hilfe die ohnehin zerfallenen Ruinen dem Erdboden gleichgemacht wurden. An eine Restauration war damit nicht mehr zu denken. Dem Fotografen stehen heute noch Trauer und Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als er uns die Bilder zeigt. Im Gespräch mit ihm wird ganz konkret, was sich hinter einem solchen Satz verbirgt: Das fehlende Zentrum, diese Wunde im Stadtbild, hat den Halberstädtern ein Stück Identität geraubt. Vielleicht hat hier ein, wie mir scheint, über das DDR-übliche Maß hinausgehender Fatalismus seinen Anfang genommen, der in den Erzählungen immer wieder aufscheint. Ein ehemaliger Halberstädter Lehrer erinnert sich »an die Ohnmacht gegenüber den Maßnahmen und Entscheidungen, die unsere Stadt betrafen. ›Wir können ja doch nichts machen‹ sei ein häufig formulierter Satz gewesen.« 14 Eine unentschlossene Haltung und willkürliche Entscheidungen der DDRKommunalpolitiker, wie mit der zerstörten Altstadt und dem Dom umzugehen sei, haben in dem eher ruhigen Halberstadt zu einem ungewöhnlichen Verhalten von Zivilcourage geführt. Soweit ich sehe, blieb dies bis zum Herbst 1989 ein einmaliges Ereignis. Es waren einige kulturinteressierte Bürger, ein Lehrer, ein Drogist, ein Handwerker, ein Arzt und zwei Künstler, die auf das Dilemma des zerfallenden Kulturgutes aufmerksam machten. Als 1968 beschlossen wurde, die Kirchenruine abzureißen und hier ein neues Wohnviertel zu errichten, forderten sie den Stopp des Abrisses und den Ausbau der Ruine zu einer Konzert- oder Ausstellungshalle, einer Galerie bzw. einem Gemeindezentrum. Eine diesbezügliche Unterschriftenaktion wurde geheimdienstlich überwacht. Der Initiator wurde von der Staatssicherheit für seine Initiative bestraft und verlor seine Arbeitsstelle. Als die Türme der Kirche 1969 gesprengt wurden, war das Fotografieren des Abrisses polizeilich untersagt worden. Der Name Paulskirche blieb über Jahre ein Tabu. 15 Ende der 1980er Jahre porträtierte ein heimlich gedrehter Film die Verwahrlosung der Bausubstanz in Halberstadt. In den Jahren 1980 bis 1989 wurden circa 800 der mehr oder weniger zerfallenen Innenstadt-Bauten abgerissen. 16
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Ecksturm: Nie wieder Halberstadt? In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 68. Hartmann (Hg.): Halberstadt, S. 83 f. Ebenda, S. 111.
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Die Gruppe der Halberstädter Bürger, die diese Petition wagten, war sehr klein. Einige ihrer Protagonisten gehörten zu jenen, die sich zu DDR-Zeiten für ihre Heimatgeschichte besonders interessierten und ihrem Hobby organisiert im Kulturbund der DDR nachgingen. 17 Aber ob sie dies nun organisiert oder auf eigene Faust betrieben: Die Staatssicherheit registrierte ihr Tun akribisch und mit Argwohn. Als kommissarischer Leiter des Stadtarchivs wurde Werner Hartmann in den folgenden Jahrzehnten zu einem der bestinformierten Chronisten von Halberstadt, was die Beobachtung seiner Person durch die Staatssicherheit nach sich zog. Die Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS machte besonders misstrauisch, dass er ohne Aufsicht in den Archiven arbeiten konnte und sich eine umfangreiche private Sammlung angeschafft hatte. Akribisch notierten sie jeden Schritt, den Werner Hartmann in Sachen Heimatforschung unternahm, bis sie 1983 die Akte schlossen. Es konnten »keine strafbaren Handlungen des Erfassten herausgearbeitet und eine noch bestehende Verbindung zu dem Dr. D. nicht nachgewiesen werden«. 18 Während wir den Personeneinschätzungen des MfS aus gutem Grund prinzipiell misstrauisch gegenüberstehen sollten, scheint diese im Fall von Werner Hartmann der Realität nahe zu kommen. 19 So heißt es in einem Bericht der Kreisdienststelle Halberstadt von 1983: » … wird eingeschätzt, dass der H. bürgerlich erzogen wurde und teilweise noch mit kleinbürgerlichem Denken behaftet ist, sich jedoch loyal zu unserem Staat verhält und auch die ihm übertragenen Aufgaben im Rahmen seiner beruflichen und gesellschaftlichen Tätigkeit konsequent durchsetzt. (…) Der H. wird weiterhin als ein Mensch eingeschätzt, der im Rahmen seiner Heimatgeschichtsschreibung eine klare politische Aussage vermissen lässt, jedoch die staatlichen Verhältnisse als gegeben und unveränderlich hält.« 20 17 Auch ein ausschließlich Männern vorbehaltener privater Club namens »Hercynia« wird für die 1960er Jahre erwähnt. Markowsky: Der Männerclub und Gemms Geschenk. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 233–238. 18 Der Vater von Werner Hartmann – Lehrer seinerzeit und ebenfalls ein leidenschaftlicher Sammler und Heimatforscher – hatte nach 1945 Verbindungen zum »Bund ehemaliger Halberstädter« in Westdeutschland gehalten. Eine OPK-Akte über den Sohn wurde angelegt, um dessen Verbindungen zu Mitgliedern des Harzclubs e.V. und den Heimatzeitschriften »Unser Harz« und »Heimatfreund«, einem »Mitteilungsblatt für alle in der Verstreuung lebenden Heimatfreunde aus Halberstadt, Wernigerode, Oschersleben und Quedlinburg«, zu erkunden. Vgl. Abschlussbericht zur OPK »Lehrer«, 6.12.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Reg.-Nr. VII 129/83 (OPK »Lehrer«), Bl. 125. Das MfS beobachtete die »Aktivitäten des ›Vereins zur Förderung der Gemeinschaft der Halberstädter e.V.‹«, der sich 1946 aus ehemaligen Halberstädtern zusammengefunden hatte und in Osterode seinen Sitz hatte. Vgl. Information der BV Magdeburg KD Halberstadt, an 1. Sekretär der Kreisleitung der SED, Gen. Gerhard Winkler, 13.10.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, Nr. 771, Bl. 322–325. Vgl. auch zur deutsch-deutschen Heimat- und Traditionspflege in Goslar: SchmiechenAckermann: Goslar. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 141–145. 19 Vgl. Interview mit Herrn Hartmann, 11.8.2009. 20 Abschlussbericht zur OPK »Lehrer«, 6.12.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Reg.-Nr. VII 129/83 (OPK »Lehrer«), Bl. 124.
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Ausreise per Antrag
Werner Hartmann gehörte zu einem Milieu, das sich in der DDR wenn auch in kleinem Umfang in den offiziell vorhandenen Strukturen, zum Beispiel des Kulturbundes, eine Nische geschaffen hatte. Angehörige dieses Milieus verstanden sich selbst dann als unpolitisch, wenn sie mit ihrem Blick auf die Dinge an die Grenzen des staatlicherseits Erlaubten stießen. Werner Hartmann war nicht in der SED, lediglich bis 1969 in der NDPD. Charakteristische Merkmale dieser Gruppe waren ihre Heimatverbundenheit, ihr ausgeprägtes Traditionsbewusstsein, ihr Kunst- und Naturverständnis, mit dem sie die Umwelt- oder Städtebaupolitik der DDR-Führung infrage stellten. Sie repräsentierten kein widerständiges Milieu, unter ihnen dominierten ohnehin die partei- und staatsloyalen Kulturträger. In ihrem Geschichtsverständnis bezogen sie sich auf gesamtdeutsche Traditionen. Die 1931 geborene und spätere Lehrerin Erika Lange spricht für ihre Generation Halberstädter Lyzeums- und Gymnasialabsolventen, wenn sie sagt: »Unsere Erziehung war streng nationalistisch«. 21 Diese derart erzogenen und mehrheitlich aus einer deutschnationalen Herkunftsfamilie stammenden jungen Menschen, bildeten, so sie nicht in den Westen gegangen waren, einen nicht unerheblichen Teil der Halberstädter Nachkriegselite. Sie wurden Lehrer, Angestellte, Wissenschaftler, Ärzte und arbeiteten in den zahlreichen kommunalen und kulturellen Einrichtungen der Stadt. 22 Zu einem oppositionellen Milieu gehörten sie nicht.
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Der Kreis Halberstadt und sein Zentrum
Es sind vor allem zwei Entwicklungen, die den Kreis Halberstadt seit 1949 prägten und weitgehende Veränderungen für das Leben seiner Bewohner mit sich brachten. Zum einen der Ausbau zahlreicher Industriebetriebe, in deren Folge sich die soziale Struktur der Halberstädter Bevölkerung rasch veränderte, und zum anderen eine für die ganze DDR, also auch den Landkreis Halberstadt, typische Zentralisation des Machtapparates, infolge derer der Kreisstadt eine wachsende Bedeutung zufiel. 23 Der Kreis Halberstadt war ein maßgeblich durch die Landwirtschaft geprägtes Territorium. 24 1965 wurden 27 Prozent der Fläche im Kreis landwirtschaftlich genutzt, und 1981 lag der Anteil dieser Fläche mit 16 Prozent immer noch über dem DDR-weiten Durchschnitt. Die auf dem Land arbeitende 21 Lange: Die verlorene Stadt meiner Kindheit. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 214. Sie setzt noch hinzu: »und trotzdem war es eine glückliche Kindheit«. 22 Vgl. Toschner (Hg.): Aus meiner Feder. 23 Statistisches Jahrbuch des Bezirkes Magdeburg 1975 – Kreisübersichten. Hg. v. d. Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der Bezirksstelle Magdeburg, Magdeburg 1975. 24 1974 gab es im Kreis Halberstadt 44 Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), sieben Volkseigene Güter und eine Gärtnerische Produktionsgenossenschaft.
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Bevölkerung nahm dagegen stetig ab. Deren Anzahl halbierte sich, so dass dort in den 1980er Jahren nur noch knapp 7 000 Berufstätige in der Land- und Forstwirtschaft tätig waren. 25 Der größte Teil der Halberstädter arbeitete seit Beginn der 1970er Jahre in einem der 52 um die und in der Kreisstadt liegenden Industrie- und Baubetriebe, im Dienstleistungsbereich und im sogenannten nichtproduzierenden Bereich. 26 Vor allem letzterer war mit dem Ausbau der Verwaltungsstrukturen in der Kreisstadt enorm angewachsen und trug mit dazu bei, dass »alles in die Stadt drängte«. 27 Die »Landflucht« war auch in der DDR seit den 1960er Jahren eine bekannte zivilisatorische Erscheinung. Vor allem die vielfältigeren Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, aber auch eine bessere Versorgungslage zogen die Menschen in die Kreisstadt. Dort dehnten sich der Staats- und Parteiapparat, die öffentliche Verwaltung und alle dem Kreis und der Stadt unterstellten Ämter, einschließlich der Kreissparkasse, personell gewaltig aus. In den 1970er Jahren sperrte die Abteilung Inneres des Rates des Kreises zeitweilig den Zuzug nach Halberstadt, nicht zuletzt der prekären Wohnungslage wegen. Die Halberstädter fanden Möglichkeiten, solche Grenzen zu überwinden. Wir haben einige Frauen gesprochen, denen es auch in dieser Zeit gelungen war, durch Heirat von ihrem Dorf in die Kreisstadt ziehen zu können. Nicht zufällig wird uns die Flucht aus dem Elternhaus zugleich als großer Schritt in die Selbstständigkeit und in ein ganz neues Leben geschildert. Auf jeden Fall waren sie den im Elternhaus häufig herrschenden autoritären und patriarchalen Verhältnissen erst einmal entkommen. Doch nicht nur die Binnenwanderung in die Kreisstadt dezimierte den Bevölkerungsanteil auf dem Land, immer mehr Bürger verließen den Kreis und zogen in andere Landesteile. 1956 lebten 114 000 Halberstädter im Kreis, 1981 zählte der Kreis nur noch 92 187 Einwohner, davon lebten 46 724 in der Kreisstadt. 28 Viele gingen nach Magdeburg, in die Bezirkshauptstadt, man25 Statistisches Jahrbuch des Bezirkes Magdeburg 1982 – Kreisübersichten. Hg. v. d. Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der Bezirksstelle Magdeburg, Magdeburg 1982. In der Landwirtschaft arbeiteten 6 500 Personen, darunter waren auch Rentner und Lehrlinge gefasst. Statistisches Jahrbuch Bezirk Magdeburg 1979. Hg. v. d. Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik Bezirksstelle Magdeburg, Nur für den Dienstgebrauch, 1979. Vgl. auch Rat des Kreises Halberstadt Ratssitzungen. 26 Vgl. auch Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Magdeburg, Struktur des Kreises, 30.4.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 330–332. Allein im VEB Maschinenbau, RAW, Wohnungsbaukombinat und VEB Fleischwarenfabrik arbeitete die Hälfte aller in der Industrie Tätigen des Kreises. 27 Vgl. Konzeption zur weiteren Entwicklung der Siedlungsstruktur im Kreis Halberstadt; Archiv RdK Halberstadt Vorsitzender, 79. Ratssitzung 1973. Alle Gemeinden verloren zwischen 1966 und 1972 Einwohner, die Kreisstadt hatte einen Zuwachs von 749 Personen. 28 Seit 1970 sank die Bevölkerungszahl kontinuierlich von 98 977 (1970) auf 95 933 (1974) Menschen im Kreis Halberstadt. 1974 betrug die Bevölkerungsdichte 144 Einwohner/innen pro km². Vgl. Sievert: Die territorialen Veränderungen des Kreises Halberstadt. Vgl. auch Statistisches Jahrbuch Bezirk Magdeburg, S. 18 f. Die meisten Kreisbewohner wohnten in Gemeinden unter 2 000 Einwohnern.
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Ausreise per Antrag
che in das nahegelegene Wernigerode. Der benachbarte Kreis Wernigerode, einigen Äußerungen der Halberstädter nach zu urteilen ein begehrterer Wohnort, verzeichnete im gleichen Zeitraum einen Bevölkerungszuwachs. 29 Zu den jährlich etwa 800 Halberstädtern, die den Kreis verließen, 30 müssen bis 1961 auch die in den Westen Geflohenen sowie die »Ausreiser« der folgenden Jahrzehnte gerechnet werden, unter ihnen namentlich die Rentner und Invaliden, die den weitaus größten Anteil der genehmigten Ausreisen ausmachten. 31 Während die Bevölkerungszahlen insgesamt sanken, stieg in den 1970er Jahren der Anteil derer, die im sogenannten arbeitsfähigen Alter waren, leicht an. 32 Die meisten von ihnen arbeiteten in der Industrie und im produzierenden Handwerk. 33 Ein deutlicher Anstieg der Beschäftigten ließ sich im Baugewerbe verzeichnen, gegenüber 1970 verdoppelte sich die Zahl auf rund 2 600. Hier schlug das in den 1970er Jahren begonnene Wohnungsbauprogramm zu Buche. Die beiden Großbetriebe, die das Leben im Kreis bestimmten, befanden sich ebenfalls im Einzugsgebiet der Kreisstadt. Das waren das Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) und der VEB Maschinenbau Halberstadt, der zum Kombinat Schwermaschinenbau »Karl Liebknecht« zählte, mit jeweils circa 2 000 Beschäftigten. Hinzu kamen 30 weitere kleine und neun mittlere Betriebe, darunter der Kunststoffproduzent für Konsumgüter VEB Polyplast Halberstadt sowie der wegen seines Produktes wohl einzige DDR-weit bekannte Betrieb des Kreises, der VEB Halberstädter Fleisch- und Wurstwarenwerke. Er produzierte die »Halberstädter Würstchen«, die jedoch in erster Linie für den Export hergestellt wurden. Von Osterwieck abgesehen, wo sich noch einige Industriebetriebe und ein Krankenhaus befanden, arbeitete der größte Teil der Halberstädter im Einzugsgebiet der Kreisstadt, wohin sie jeden Morgen ein Bus brachte. Der private Besitz eines Autos nahm in der DDR erst am Ende der 1980er Jahre ein relevantes Ausmaß an. Der Werkverkehr ersetzte den wenig ausgebauten Schienenverkehr und wurde zu einem der wichtigsten Dienstleister im Kreis, der – 29 Unberücksichtigt bleibt bei diesen Rechnungen, wie hoch bzw. niedrig die Geburtenrate jeweils war. 30 1974 sind es 606 Einwohner, in diesem Jahr gehen die meisten nach Magdeburg. 31 Ihre Zahl betrug bis 1961 bis zu Tausend Personen im Jahr, die Zahl der Antragsteller in den 1970er und 1980er Jahren durchschnittlich etwa 100 im Jahr, wovon allerdings maximal ein Drittel der »Politischen« tatsächlich in den Westen gelangte. Die größere Gruppe der tatsächlich Ausgereisten waren wie zuvor Rentner und Invaliden. So trugen die Richtung Westen aus der Staatsbürgerschaft Entlassenen insgesamt – und vor allem die Fluchtwellen in den fünfziger und am Ende der 80er Jahre auf ihre Weise – zu dem Bevölkerungsschwund im Kreis Halberstadt bei. 32 1974 hatte der Kreis Halberstadt einen Anteil von 56 218 Einwohner/innen im arbeitsfähigen Alter. Davon waren 40 571 berufstätig. Das ist im Vergleich mit 1970 trotz Bevölkerungsrückgang eine Steigerung um fast 4 000. 33 Auf die Wirtschaftsbereiche verteilten sich die Berufstätigen wie folgt: 12 181, und damit fast ein Drittel, arbeiteten in der Industrie. Im produzierenden Handwerk (exklusive Bauhandwerk) gab es 1 378 Berufstätige.
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ungeachtet aller Schwierigkeiten – die Werktätigen pünktlich zur Arbeit bringen musste. Aber auch die 7 546 Beschäftigten in den sogenannten nichtproduzierenden Bereichen arbeiteten seit 1980 mehrheitlich in der Kreisstadt. 34 Dort konzentrierten sich fast alle Institutionen der Kultur, der Volksbildung, einschließlich Berufsbildung, und die medizinischen Einrichtungen. Das »gesellschaftliche Arbeitsvermögen« gerade jener Bereiche, die »nicht nach der wirtschaftlichen Rechnungsführung« arbeiteten, hatte sich in der Kreisstadt versammelt. 35 Die Kulturangebote, auch die für Jugendliche, waren ebenfalls in der Kreisstadt konzentriert: Vier Kultur- bzw. Klubhäuser und vier Kinos gab es in den 1980er Jahren. Für Bürger auf dem Land waren diese Freizeitstätten schwer erreichbar. Angesichts unzureichender privater Transportmittel und eines auf den Berufsverkehr ausgerichteten öffentlichen Nahverkehrs kann davon ausgegangen werden, dass die Angebote in erster Linie von den Kreisstädtern genutzt worden sind. An diese Einrichtungen wird sich gern erinnert, zumal viele von ihnen heute geschlossen sind. 36 In den im Jahr 2009 geführten Gesprächen beschreiben Halberstädter ihre damaligen zahlreichen Besuche in Jugendklubs und Kinos an den Wochenenden als besondere Ereignisse. Da in der Kreisstadt viele Schulen und so gut wie alle Berufsschulen lagen, kann davon ausgegangen werden, dass fast jeder aus der Halberstädter Nachkriegsgeneration, so er nicht nach der 8. Klasse abgegangen ist und in seinem Dorf zu arbeiten begonnen hatte, einmal Kreisstadtatmosphäre schnuppern durfte. In den Schulen, den Bibliotheken, dem Theater, den Kulturhäusern, den medizinischen Einrichtungen arbeiteten jene Halberstädter, die einen Hochoder Fachschulabschluss besaßen. Es gab in Halberstadt bildende Künstler/innen, Musiker/innen und Schauspieler/innen, die am städtischen Theater engagiert waren. Insgesamt lag die Zahl der Kulturschaffenden im ganzen Kreis bei gut 250 Personen. Zählt man noch die in den 1970er Jahren in den Kreis gekommenen Ingenieure und Mathematiker aus dem VEB Kombinat Zentronik Sömmerda, Betriebsteil Halberstadt, hinzu sowie die an der medizinischen Fachschule und der Ingenieurfachschule für Milchwirtschaft Beschäftigten, 37 kann Anfang der 1980er Jahre von einer kulturellen und technischen Intelli34 Dabei war der nichtsdestotrotz noch sehr hohe Anteil (7 447) der in der Landwirtschaft Tätigen aber bereits rückläufig. Auf Verkehr-, Post- und Fernmeldewesen fielen noch einmal 4 081, fast ebenso viele (4 624) waren im Handel tätig. Im Kreis existierten 28 PGH mit 1 323 Beschäftigten und 88 Lehrlingen. 1974 gab es im Kreis noch 378 private Handwerksbetriebe mit 974 Beschäftigten. 35 Beschlussvorlage RdK Halberstadt; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, 15. Ratssitzung 1980, o. Pag., Differenzierung der staatlichen Planauflagen 1980 für den Kreis Halberstadt. 36 Vgl. auch den Beitrag von Falk: Zeitreise zu »Yvette« und den Helden meiner Kindheit. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 74–78. 37 Die Medizinische Fachschule mit 600 Student/innen und die Ingenieurfachschule für Milchwirtschaft mit 150 Student/innen. Beides sind keine universitären, sondern stark berufsorientierte Ausbildungsorte gewesen.
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genz im Kreis Halberstadt ausgegangen werden, die rund 3 000 Personen umfasste. 38 Selbstverständlich waren in der Kreisstadt auch die SED-Kreisparteileitung und alle entscheidenden staatlichen respektive kommunalen Einrichtungen versammelt, einschließlich der Abteilung Inneres des Rates des Kreises, die seit den 1970er Jahren auch über die Anträge auf Ausreise aller Bürger des Kreises entschied. Einem kulturellen oder lebensweltlichen oppositionellem Intelligenzmilieu hingegen fehlte einfach die soziale Basis. Lehrer, Funktionäre, Mitarbeiter verschiedenster kultureller Einrichtungen und viele staatliche Angestellte in der Verwaltung, den Organisationen und Parteien waren ihnen zahlenmäßig weit überlegen. In einem 2007 herausgegebenen Buch mit vielen kurzen Erinnerungen ist ein breites Spektrum dieser Halberstädter Intelligenz vertreten. Es schreiben Künstler, Journalisten, Wissenschaftler, Bibliothekarinnen, leitende Angestellte, wenige nichtleitende Angestellte und Lehrer aller Richtungen. Einige waren bereits viele Jahre vorher in den Westen gegangen. Arbeiter oder Kellnerinnen sind nicht darunter, Antragsteller auf Ausreise auch nicht. Fast alle haben ein Abitur gemacht. Es ist ein eigenartig idyllisches Erinnerungsbuch geworden. Nur einer unter ihnen, der nach 1945 als Lehrer und Hochschullehrer tätig war, erinnert sich schamvoll an die eigene Rolle in der NS-Zeit: »Wir haben nichts getan. Diese moralische Gleichgültigkeit und Unfähigkeit belastet heute noch meine Halberstädter Erinnerung.« 39 Und ein junger Journalist beschreibt, dass er sich zu DDR-Zeiten alles andere als wohl in seiner Haut gefühlt habe: »Die Zeit schien mir in den Achtzigern stehen geblieben zu sein. Und ich schob sie nicht mit an.« Alle übrigen Zeitzeugen erinnern sich humorvoll-witzig, gefühlvoll-heimatlich an schwere Zeiten und anstrengende Wohnungssuche, an nette Lehrer und lustige Streiche. Keiner thematisiert sein Mittun in der einen oder anderen Diktatur. Keiner denkt offen darüber nach, ob er oder sie vielleicht auf der falschen Seite gestanden haben könnte, was angesichts der Tatsache, dass ein großer Teil von ihnen Mitglied der SED gewesen sein dürfte, nahe gelegen hätte. Historische Daten aus DDR-Zeiten werden überhaupt nicht erinnert, weder der 17. Juni 1953 in Halberstadt noch der 13. August 1961. Dies könnte sich zum einen aus ihrem geringen 38 Im Kreis Halberstadt gab es 37 Schulen und 14 869 Schüler/innen, davon gingen 499 auf die Erweiterte Oberschule Clara Zetkin in der Kreisstadt. Die Klassenstärke lag mit 27,2 Schülern pro Klasse im Bezirksdurchschnitt. Es gab vier Sonderschulen und fünf Berufsschulen mit 2 696 Berufsschüler/innen. In den Schulen des Kreises waren insgesamt 903 Lehrer/innen, Sonder- und Berufsschullehrer/innen tätig, die die ständige Aufmerksamkeit der Sicherheitsorgane erhielten. Die ca. 200 Mitarbeiter/innen in den allgemeinen und Gewerkschaftsbibliotheken waren für die Abteilung Inneres nicht so interessant. Der Kreis Halberstadt besaß 65 Kindergärten bzw. Kinderwochenheime und Plätze für 3 788 Kinder. 4 025 wurden tatsächlich betreut. Der Bedarf konnte jedoch in den 70er Jahren nicht gedeckt werden. 39 Gert Schliephake: Schwieriges Erinnern. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 281; Krauss: Buchstabensuppe rühren. In: ebenda, S. 193.
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Interesse an politischen Ereignissen erklären, zum anderen aber damit, dass die Autor/innen in DDR-Zeiten zu den Vertretern dieser Partei- und Staatspolitik gehörten, woran sie sich nur ungern erinnern. Die Konzentration fast der gesamten geistigen und Machtelite, der Betriebe sowie der wichtigsten Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen in der Kreisstadt war kein Ergebnis zufälliger Entwicklungen. Partei und Staat arbeiteten seit Beginn der 1970er Jahre gezielt daran, der »Zersplitterung der Siedlungsstruktur« entgegenzuwirken und eine »territoriale Konzentration der wirtschaftlichen Entwicklung und des gesellschaftlichen Lebens« zu schaffen. 40 Wie in der gesamten DDR wurden mit den Kombinaten immer größere Betriebseinheiten aufgebaut, die verbliebenen Privatbetriebe verstaatlicht und die Machtzentralen weiter gestärkt. Von Halberstadt aus wurde alles geplant und entschieden, hier fanden die größten Investitionen statt, hier sollten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen »spürbar und schnell verbessern«. Geplant war, Halberstadt bis 1985 zum »bedeutendsten politischen, ökonomischen und geistig-kulturellen Zentrum« des Harzvorlandes zu entwickeln. 41 Zu einem derartigen Aufschwung kam es nie. Wie überall in der DDR führten die Zerschlagung der dezentralen Strukturen und der Gigantismus der Kombinatsbildungen im Gegenteil eher zu einem noch größeren Mangel und mehr Desorganisation. Nachdem die in den Gemeinden noch tätigen kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden Anfang der 1970er Jahre quasi enteignet waren, wurde in der Kreisstadt ein Dienstleistungskombinat eröffnet, das sämtliche anfallenden Reparaturen privater Haushalte im Kreis sowie Dienstleistungen aller Art anbot. Das Unternehmen war ein Desaster. In Hunderten von Eingaben beschwerten sich die Bürger darüber, dass es zu Wartezeiten von einem halben Jahr kam, weil Ersatzteile fehlten oder die Reparatur nicht ordnungsgemäß ausgeführt war. 42 Eine weitere Lücke in der Versorgung der Bevölkerung war entstanden, weil zunächst kaum Kaufhallen als Ersatz für die geschlossenen kleinen Läden gebaut wurden. Nach einigen Jahren begann der Rat des Kreises damit, »Maßnahmen zur Erhöhung der Produktion von Erzeugnissen der 1 000 kleinen Dinge« sowie »Direktiven zur Förderung des Handwerks« zu erlassen. Zahlreiche Gewerbegenehmigungen wurden an Kraftfahrer, Bäcker, Friseure, Gaststättenleiter, Schuster und Dachdecker erteilt, deren Geschäftsgründung der Kreis mit günstigen Krediten und Prämien unterstützte. 1987 erbrachten die privaten 40 Der Kreis bestand aus 3 Städten: Halberstadt (46 995 EW) Osterwieck (5 167 EW) Wegeleben und Schwanebeck (7 435 EW) und 38 Gemeinden (38 985 EW); Vgl. Archiv RdK Halberstadt, Sekretär des Rates, 79. Ratssitzung 1973, o. Pag. 41 Konzeption zur weiteren Entwicklung der Siedlungsstruktur im Kreis Halberstadt; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, 79. Ratssitzung 1973, o. Pag. 42 RdK Halberstadt: Analyse über die Arbeit mit den Eingaben; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, 8. Ratssitzung 1970, o. Pag.
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und genossenschaftlichen Handwerks- und kleinen Handelsbetriebe zwei Drittel der Reparatur-, Dienst- und Versorgungsleistungen für die Halberstädter Bevölkerung. Eine Steigerung um 128,1 Prozent war geplant. 43
1.4
Wohnen im Kreis Halberstadt
Die Wohnungsfrage war für viele Halberstädter Bürger während der gesamten 40 Jahre des Bestehens der DDR das größte Problem. Es rangierte vor der immer schlechter werdenden medizinischen Versorgung und dem ständigen Mangel an bestimmten Gütern und Dienstleistungen. »Die Hauptprobleme der Eingaben der Bürger beschäftigen sich in der absoluten Mehrzahl mit Unzulänglichkeiten der Wohnverhältnisse«, heißt es 1971 in einer Analyse des Rates der Stadt. 44 Zu lange Wartezeiten, zu kleine oder gar unzumutbare Wohnraumverhältnisse wurden beklagt. 1971 lagen 1 600 »Probleme wohnungssuchender Bürger« vor, von denen der Planung nach im darauffolgenden Jahr 500 gelöst werden sollten. 45 Mit statistischen Tricks versuchte der Rat des Kreises diese selbst gesetzten Ziele wenigstens auf dem Papier zu erreichen. 46 Die Schwerpunkte der Wohnungsbaupolitik lagen seit Ende der 1960er Jahre im Neubau von Wohnsiedlungen. In den 1970er Jahren entstanden in der Kreisstadt drei neue Wohnkomplexe (der Clara-Zetkin-Ring, die Neubausiedlungen am Hermann-Matern-Ring und der Wilhelm-Pieck-Komplex). Das Neubauviertel Ernst-Thälmann-Ring ist ein Produkt der 1980er Jahre. Diese Neubebauung ging wie überall in der DDR mit einer Vernachlässigung der Altstadt einher. Die Häuser dort zerfielen und viele ehemalige Altstadtbürger/innen bezogen nun notgedrungen oder auch mit Erleichterung und Freude eine Neubauwohnung. 47 43 RdK Rat für Finanzen und Preise: Beschluss des Rates des Kreises Halberstadt über Förderungsmaßnahmen für Handwerks- und Gewerbebetriebe; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, 1580. Ratssitzung 1987, o. Pag. 44 Analyse über die Bearbeitung der Eingaben für die Zeit v. 1.1.–30.11.1971, Büro des Rates, S. 8, Stadtarchiv Halberstadt, Sg. 763. 45 Ebenda. 46 Die Abteilung Wohnungspolitik des Rates des Kreises Halberstadt informierte 1983 darüber, dass sich die 1981 vorliegenden 6 334 Wohnungsanträge bis zum März 1983 auf 5 213 Anträge reduziert hätten. Dieses aus ihrer Sicht gute Ergebnis konnte nur erfüllt werden, weil zwischenzeitlich eine »Bereinigung der Antragstellerkartei« durchgeführt worden war. Information über die Erfüllung der wohnungspolitischen Aufgaben im Kreis Halberstadt, Beschlussvorlage, 13.4.1983. In: Archiv des RdK Halberstadt, 101. Ratsvorlage 1983, o. Pag. 47 »Ich habe solange in der Altstadt gewohnt, nun will ich auch eine vernünftige Wohnung« oder: »Es wird ja jetzt so viel gebaut, da muss doch eine Wohnung für mich da sein.« Mit solchen Forderungen traten Altstadtbewohner/innen an den Rat der Stadt heran. Doch nicht alle wollten die Altstadt wirklich verlassen. »Wenn ich morgens aufstehe, zum Fenster heraus sehe und wie 1945 vor meinem Haus die Trümmer sehe, werde ich noch verrückt«, schreibt Ruth St. 1972 an das Stadtbau-
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Die Stimmung unter den Bewohnern der Neubausiedlungen war ambivalent: Es gab Kritik an der Eintönigkeit der Typenbauweise und daran, dass es keine kulturellen Einrichtungen dort gäbe. 48 Und es gab Freude und Erleichterung darüber, dass man aus einer zerfallenden und viel zu kleinen Wohnung in eine bewohnbare mit etwas Komfort ziehen durfte. Immerhin bestand die Bevölkerung in diesen Siedlungen überwiegend aus ehemaligen Altstadtbewohnern. Zwar betont die Abteilung Wohnungswirtschaft den erheblichen Fortschritt in der Wohnungsausstattung gegenüber 1970, weist dann aber aus, dass 1981 lediglich 75 Prozent aller Wohnungen über eine öffentliche Wasserversorgung, 53 Prozent über eine Warmwasserversorgung und 55 Prozent über ein WC verfügten. 49 Damit gehörte Halberstadt zu den Kreisen mit dem schlechtesten Modernisierungsstand von Wohnungen in der DDR. Die auch in den Städten und Gemeinden des Kreises in kurzer Zeit entstandenen Neubauten konnten den Bedarf nicht annähernd decken. Die kommunale Verwaltung und die politisch Verantwortlichen im Kreis wussten sehr genau um diese Situation. »Große Probleme«, so heißt es in der Abteilung Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft 1976, »bereiten uns ebenfalls die jungen Ehen. Diese jungen Leuten erhalten von unserem Staat alle Unterstützung, aber trotzdem haben wir noch gegenwärtig 449 Ehepaare ohne eigenen Wohnraum, bei einer Gesamtzahl von 3 369 wohnungssuchen-
amt und forderte eine klare Linie des Rates der Stadt und eine Mitgliederversammlung, bei der die Bevölkerung endlich informiert wird, was für die Altstadt vorgesehen ist. Einige Häuser wurden abgerissen, dann wurde die Arbeit unterbrochen und Trümmer blieben unbeseitigt liegen. »Die Menschen werden ja so mutlos, so gleichgültig. Sie finden sich mit dem unmöglichen Milieu einfach ab.« Nicht so Herr H. in einer Eingabe an den Bürgermeister: »Mit dem intensiven Abriss der doch oft noch sehr wertvollen Fachwerksubstanz der Altstadt kann ich mich als Halberstädter Bürger nicht identifizieren«, schrieb er und verwies auf umfangreiche Diskussion darüber in seinem Bekanntenund Freundeskreis. Er drückte mit diesem Brief ein inneres Bedürfnis aus, sein »Nichteinverständnis (…) zum Ausdruck gebracht zu haben.« Eingabeanalysen 1970–1973; Stadtarchiv Halberstadt, Ratsbüro, Sg. RDS 763. 48 Bereits seit 1967 hatte es Pläne zur Bebauung des Stadtzentrums gegeben. Im Rahmen dieser Planungen in den 1960er Jahren, die immer wieder zurückgestellt wurden und deren Realisierung erst nach der Wende gelang, wurden durchaus realistische Bilanzen von den Verantwortlichen gezogen: »Trotz Würdigung der bisher gebrachten Leistungen beim Wiederaufbau besagen viele Diskussionen der Bevölkerung und Besucher der Stadt, dass Halberstadt sehr unvollkommen geblieben ist. Die sich dem Betrachter der wieder gebauten Stadtteile eröffnenden Erwartungen, eine moderne Wohnstadt zu finden, erfüllen sich deshalb nicht.« Stattdessen zeige sich eine »durch Typenwohnungsbau hervorgerufene Eintönigkeit«, es fehlten gesellschaftliche Bauten wie eine Stadthalle, ein Kulturhaus, Hotels, eine Bibliothek oder Theater. Siehe Bericht über den Stand der Vorbereitung des Stadtzentrums der Stadt Halberstadt im Zusammenhang mit der Vorbereitung des perspektivischen Entwicklungsprogramms des Kreises bzw. der Stadt, 6.9.1967; RdK Halberstadt, Stadtarchiv Halberstadt, Sg. 720. 49 Dies hätte sich bis 1983 nicht wesentlich verändert. Vgl. Bericht über die Wohnungsbestandsentwicklung unter Berücksichtigung der neuen Formen der Wohnungsbestandsfortschreibung, 1983; Archiv RdK Halberstadt, Sekretär des Rates, 103. Ratssitzung 1983.
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Ausreise per Antrag
den Bürgern.« 50 Noch 1985 betrug die Wartezeit auf eine eigene Wohnung für junge Eheleute im Kreis Halberstadt im Durchschnitt 1,6 Jahre. Ein im letzten Jahrzehnt der DDR initiiertes Programm für den privaten Eigenheimbau entschärfte die Lage trotz fehlender Baustoffe etwas, führte jedoch auch im Kreis Halberstadt nicht dazu, dass sich die Anzahl der Wohnungssuchenden verringerte. Am Ende der DDR machten die Eingaben zu Wohnungsproblemen 52,7 Prozent aller schriftlich vorgetragenen Beschwerden aus. 51 Auch für die Betriebe des Kreises war die Wohnungssituation ihrer Mitarbeiter/innen ein existenzielles Problem, denn in Halberstadt herrschte wie überall in der DDR ein permanenter Arbeitskräftemangel. Die eigens gegründeten Wohnungskommissionen in den Betrieben erarbeiteten Schwerpunktpläne für ihre Wohnungssuchenden. »Die Kollegin E. bewohnt gemeinsam mit der Kollegin H. 1 Zimmer und 1 Küche. Die Küche kann nicht als Wohnküche bezeichnet werden, da einmal der Raum zu klein, zum anderen ohne Fenster ist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass beide in einem Raum wohnenden Kolleginnen nicht miteinander verwandt sind. Ein Kind der Kollegin E. ist zurzeit im Kinderheim untergebracht. Es besteht durch den knapp bemessenen Wohnraum keine Möglichkeit für die Mutter ihr Kind zu sich zu nehmen.« 52
Der gleiche Betrieb wandte sich zur Unterstützung weiterer Betriebsangehöriger an den Rat der Stadt: »Kollege M. bewohnt mit seiner Frau und 2 Kindern 2 Zimmer und Küche. Alle Räume der genannten Wohnung sind feucht. Die Wohnung ist nicht unterkellert, so dass die Erdfeuchtigkeit in den Wänden aufsteigt.« 53
Die Wohnungsmisere ist an dieser Stelle darum so ausführlich beschrieben worden, weil die Problematik auch im Zusammenhang mit den Ausreiseantragstellern von Bedeutung ist. Wiederholt finden sich unter den Gründen für eine Antragstellung die »menschenunwürdigen Wohnbedingungen«. Einige Antragsteller lebten in solchen oben beschriebenen verfallenden Wohnungen und warteten bereits seit Jahren auf einen angemessenen Wohnraum. Jetzt versuchten sie, ihr Problem mithilfe einer Antragstellung endlich einer Lösung zuzuführen. 54 Die Abteilung Innere Angelegenheiten überraschte ein solches 50 Rat der Stadt, Abt. Wohnungspolitik und Wohnungswirtschaft, Information über die Erfüllung des Vergabeplans 1976, 22.7.1976, S. 2, Stadtarchiv Halberstadt, Sg. 603. 51 Beschlussvorlage RdK, Information über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im Jahre 1989, 21.2.1990; Archiv RdK 21. Ratssitzung 1989, o. Pag. 52 Brief des VEB (K) Verkehrsbetriebe der Stadt Halberstadt an den Rat der Stadt, 14.12.1970, Betreff: Schwerpunktplan der Wohnungssuchenden unseres Betriebes, Abt. Wohnungswirtschaft, Stadtarchiv Halberstadt, Sg. 703, o. Pag. 53 Ebenda. 54 »3,4 % schieben Versorgungsprobleme vor, 2,4 % berufen sich auf unzureichende Wohnbedingungen«. In: Beschlussvorlage RdK, Ergebnisse und Erfahrungen bei der weiteren Unterbindung
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Begehren nicht besonders, sie versuchte zunächst herauszufinden, ob dies der Wahrheit entsprach und signalisierte dann der Abteilung Wohnungspolitik Handlungsbedarf. Tatsächlich werden auf diesem Wege einige Halberstädter zu einer Wohnung gekommen sein. Da aber die kommunale Wohnungsvergabe unter einem realen Mangel an beziehbaren Wohnungen litt, blieb dies die Ausnahme; in der Regel wurden auch diese Halberstädter auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet. 55 In keinem Fall wurde die Antragstellung in Verbindung mit einer Forderung nach Wohnraum ein probates Mittel für die Halberstädter. Es wurde in letzter Not angewandt, nachdem zahlreiche Vorsprachen und Eingaben an den Rat der Stadt abgewiesen worden waren. Erst dann gingen die Familien das Risiko eines »Erpressungsversuches« ein, der durch die Verbindung mit der Antragstellung einen immanent politischen Charakter bekam. Die Behörde war äußerst bedacht darauf, dass ein positiver Entscheid nicht öffentlich wurde, damit kein Nachahmungseffekt eintrat. Aus der Perspektive der Abteilung Wohnungspolitik erschien der Zusammenhang zwischen einer zunehmenden Zahl von Antragstellern und der eklatanten Wohnungsnot noch in einem ganz anderen Licht. Ihre Planung des Wohnungsbestandes kalkulierte naturgemäß die »Abgänge« ein. Darunter verstanden sie den »voraussichtlich freiwerdenden Wohnraum aus der natürlichen Bevölkerungsbewegung«, wozu auch sämtliche Wegzüge aus dem Kreis gerechnet wurden. 56 Die Hälfte derjenigen, die versorgt werden konnten, zog in eine solche Wohnung, darunter auch eine, die von »Westabgängen« zurückgelassen wurde. Von den Rentnern, die in den Westen ausreisen durften, abgesehen, war die Zahl der ausgereisten Antragsteller nicht sehr groß. Sie besaßen jedoch nicht selten eine gute Wohnung, viele auch ein Eigenheim, so dass sich entsprechende Begehrlichkeiten bei den Mitarbeitern des Rates des Kreises einstellten.
1.5
Halberstädter Lebenswelten
Mit einer Aneinanderreihung von Mängeln und Alltagsschwierigkeiten ist das Lebensgefühl der Halberstädter zu DDR-Zeiten sicher nicht hinreichend erfasst. Zudem gilt für die Beschreibung von gesellschaftlichen Atmosphären stets der Grundsatz, eine voreilige Verallgemeinerung zu vermeiden, um die und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen, 2.12.1987; Archiv des RdK Halberstadt 93. Ratssitzung 1987, o. Pag. 55 Die Abteilung Wohnungspolitik hatte stets alles verplant und keine Reserven. Vgl. Wohnraumvergabeplan 1988; Archiv des RdK Halberstadt, Sekretär des Rates, außerordentliche Ratssitzung, 16.1.1988, o. Pag. 56 Vgl. ebenda.
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Ausreise per Antrag
sozialen, biografischen oder generativen Unterschiede nicht zu verwischen. Zweifellos war die schlechte Wohnraumsituation ein notorisches Problem für viele Halberstädter. Dennoch gab es Bürgerinnen und Bürger, vor allem in der Kreisstadt, die – wie sie 2009 erzählten – damals gern in einen Neubau gezogen waren. Zudem gab es in der Kreisstadt viele neue kulturelle Einrichtungen, so dass es sich dort durchaus gut hat leben lassen. Nicht zu vergessen ist, dass das Leben in der Stadt gegenüber dem auf dem Dorf tatsächlich erhebliche Vorzüge gebracht hat. Das betraf vor allem die Versorgung und zahlreiche Freizeitangebote, die wie das Stadtbad zum Teil bereits vorhanden waren, zu größeren Teilen jedoch erst in der DDR hinzukamen, so die Diskothek »Yvette«, zahlreiche Gaststätten und Kinos. Das Leben in der Kreisstadt war ungeachtet aller Schwierigkeiten im Laufe der Zeit bequemer, bunter und reicher geworden. Die Bewältigung der vielen Mängel gehörte ohnehin zum Leben und wurde wie anderes auch zur Gewohnheit. Der Kampf um ausreichend Kohlen im Winter und um das fehlende Ersatzteil für den Staubsauger, das jahrelange Warten auf die Wohnungszuweisung, alles war irgendwann Alltag geworden. Selbst die Ruinen und nach dem Abriss der verfallenen Häuser die klaffende Wunde im Stadtzentrum waren für die in den 1950er Jahren Geborenen zur Normalität geworden. 57 Das alles galt nicht nur für die Bürger Halberstadts, die Mehrheit der DDR-Bevölkerung war mit der Organisation und Reproduktion ihres Lebens vollauf beschäftigt. Und wie die meisten DDR-Bürger hatten auch die Halberstädter ihr ganz spezielles Verhältnis zu dieser Misere entwickelt: Mann und Frau waren stolz darauf, alles geschafft zu haben, trotz schwierigster Umstände. Nachdem Frau Bein ihre dramatische Wohnungsnot in Halberstadt geschildert hat, die zu DDR-Zeiten nie gelöst werden konnte, setzt sie hinzu: »Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Früher war nicht alles schlecht und heute ist alles besser. Diese Geschichte zeigt, welche tiefgreifenden Veränderungen im Leben eines Menschen vor sich gehen können. Und dass er alles meistern kann.« Frau Bein möchte auf keinen Fall zu den »Meckerern« gezählt werden. 58 Die eigene gegenwärtige prekäre Lage lässt zudem bei manchem Halberstädter die DDR-Vergangenheit in der Rückschau in einem weit besseren Licht erscheinen, als es selbst die offiziellen Quellen etwa der Abteilung Wohnungswirtschaft des Rates des Kreises wiedergeben. Die geschilderten Veränderungen im Kreis Halberstadt der 1960er und 1970er Jahre bedeuteten für die Bevölkerung eben nicht nur Anstrengung und Frust. Sie gingen mit einem sozialen und kulturellen Wandel einher, der Er57 Vgl. Dieckmann: Packt an. In: Der Flug der Hummel, S. 5–12, hier 6. 58 Bein: Wohnen mit Windhaube und Schrankbadewanne. In: Toschner (Hg.): Aus meiner Feder, S. 29.
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wartungen auf ein besseres Leben weckte. Man verließ die Schule nicht mehr nach der 8. Klasse und blieb danach im Dorf, sondern besuchte nach der 10. Klasse eine Fachschule oder nahm die Lehre außerhalb des Kreises auf. Die eigenen Kinder kamen auf die neugebaute Schule, ein Gaststättenbesuch wurde möglich und verbreiteter, nachdem eine Reihe solcher Lokalitäten eröffnet hatte. Mit dem Bau eines Eigenheimes, der seit dem Ende der 1970er Jahre viele Halberstädter Familien beschäftigte, war auch die Vorfreude auf seine Fertigstellung verbunden. Dank der entsprechenden kommunalen Politik konnte endlich das immer schon gewünschte Gewerbe angemeldet werden, jetzt war man sein eigener Herr und probierte seine Fähigkeiten aus. Dies alles war angesichts der Desorganisation in der DDR-Wirtschaft mühselig und am Ende oft zum Scheitern verurteilt, trug aber dennoch zu einem veränderten Lebensgefühl bei. Erst in den 1980er Jahren schlug die Stimmung der DDR-Bevölkerung, auch die der Halberstädter, in ein Gefühl der Perspektivlosigkeit um. Alles schien in diesem Jahrzehnt stillzustehen, die Aussicht auf eine Veränderung war eher düster. Ohne diesen Stimmungsumschlag, der auf einer zum Teil realen Verschlechterung der Lage beruhte, lassen sich die Motive von Antragstellern auf Ausreise in dieser Zeit nicht erklären. Die Situation im Bereich der medizinischen Versorgung in der DDR steht beispielhaft für diese Entwicklung. Der Kreis Halberstadt hatte in den 1970er Jahren nur ein Krankenhaus mit 694 Betten und neun Apotheken, später kam noch ein zweites Krankenhaus in Osterwieck hinzu, das jedoch bald auf zwei medizinische Schwerpunkte beschränkt wurde. Vergleicht man die Situation mit der im Kreis Wernigerode, wo nur einige Tausend Einwohner/innen mehr als in Halberstadt lebten, wird die prekäre Lage deutlich: In Wernigerode gab es zur gleichen Zeit sechs Krankenhäuser mit doppelt so viel Betten sowie zwölf Apotheken. Es gab im Kreis Halberstadt 109 Ärzte und 42 Zahnärzte, in Wernigerode waren es 187 Ärzte und 51 Zahnärzte. Ein Arzt kam in Halberstadt auf 893, in Wernigerode auf nur 573 Einwohner. In diesem Bereich scheint Halberstadt offensichtlich unterversorgt gewesen zu sein. Die defizitäre Situation war allerdings nicht neu. Wer eine Arbeit im Krankenhaus Halberstadt aufnahm, wusste davon. Bekannt war auch, dass die Einstiegsgehälter von jungen Ärzten ebenso wie die vom Kranken- und Pflegepersonal katastrophal waren, dass die Aufstiegsmöglichkeiten für Ärzte häufig nicht an fachliche Kompetenz gebunden wurden und dass Ärzte alles in allem nicht den gesellschaftlichen Stellenwert besaßen, den sie nach ihrem Selbstverständnis hätten erhalten müssen. Dennoch kulminierten diese Defizite erst in den 1980er Jahren, wo der Mangel an Medikamenten und medizinischem Gerät bedrohliche Ausmaße annahm. Die dramatische Situation im Gesundheitswesen war ein Grund dafür, dass so viele Ärzte und Teile des Pflegepersonals einen Ausreiseantrag stellten. Es war die Perspektivlosigkeit, die Angst
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Ausreise per Antrag
davor, dass sich in absehbarer Zeit nichts ändern würde und im eigenen Leben keine positiven Entwicklungen mehr zu erwarten seien. Zur Beschreibung des Lebensgefühls gehört auch die Frage nach einem widerständigen Milieu oder auch nur einem Alternativmilieu, in dem die Unzufriedenen und Unangepassten hätten Schutz finden können. Das Arztehepaar Gräfe suchte es in kirchlichen Kreisen, was jedoch bedeutete, sich als »Außenseiter« der Gesellschaft zu offenbaren. Einige wenige Antragsteller auf Ausreise fanden hier Hilfe in den Monaten oder Jahren, in denen sie auf die Genehmigung ihrer Ausreise warteten. In der Diakonie des Cecilienhofes Halberstadt bekamen einige nach ihrer politisch bedingten Entlassung eine Arbeit. Solche vereinzelten Verbindungen zur Kirche führten jedoch nicht zu einer Milieubildung. Die Antragsteller waren bereits »auf dem Absprung« und nicht an einer stabilen Gruppe interessiert. Zudem hatte ihre Antragstellung sie bereits zu »Ausgestoßenen« gemacht. Für die große Mehrheit der Halberstädter Bevölkerung, die nach 1945 nicht zu den aktiven Kirchengängern gehörte, hätte dieser Schritt die Überwindung einer hohen Schwelle bedeutet. 59 Ohnehin öffneten die Kirchen in Halberstadt sich erst im Herbst 1989. 60 Zu diesem Zeitpunkt bekamen sie als Treffpunkt für Nichtchristen auch in Halberstadt eine Funktion, die sie zu DDR-Zeiten nie gehabt hatten. Jetzt begegneten sich hier Menschen mit und ohne bisherige kirchliche Anbindung. Es bildeten sich Gruppenzusammenhänge in den halböffentlichen Räumen der Kirchen, deren Akteure zu einer der treibenden Kräfte in der Revolution wurden. 61 Hier treffen wir auch auf die bis dahin meist vereinzelt agierenden, späteren Halberstädter »Wendeakteure«, die vor 1989 mehrheitlich nicht zu dem oben beschriebenen »Kulturbundmilieu« gehört hatten. Viele von ihnen waren Christen, Mitglieder der jungen Gemeinde, Pfarrer, Gemeindepädagogen und Diakone. Anders als in der Gruppe der heimatverbundenen Intelligenz fanden sich unter ihnen eine Reihe von Arbeitern, Kunsthandwerkern und anderen Berufsgruppen ohne Hochschulbildung. 62
59 1984 gab es 13 000 zahlende Gemeindemitglieder in der evangelischen Kirche im Kreis Halberstadt, 5 797 in der katholischen Kirche. Etwa 400 Halberstädter waren Zensiten in einer Religionsgemeinschaft. Siehe Auskunftsdokument Kirchenfragen beim Stellvertreter des Vorsitzenden des RdK für Inneres, 20.6.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 50, Teil II, Bd. 8, Bl. 170– 175. Diese Zahlen sagen allerdings nichts darüber aus, wie viele Kirchgänger tatsächlich unter ihnen waren. 60 Aber auch am Friedenskreis unter dem Dach der Kirche hätten keine Pfarrer teilgenommen, vgl. OV »Huy« (Reg.-Nr. VII 1499/88); BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614, Bd. 3, Bl. 70. 61 Vgl. Kapitel 8 in diesem Band. 62 Vgl. Der Flug der Hummel. Hier erinnern sich 50 Halberstädter an die »Wende«, an der sie in der einen oder anderen Weise aktiv beteiligt waren.
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Bis 1989 spielte die Kirche, einschließlich der Jungen Gemeinde, in Halberstadt keine Rolle für ein alternatives, unangepasstes Milieu. Ungeachtet dessen stand ihre Arbeit auch in Halberstadt unter ständiger Kontrolle, die Gemeindeglieder, die an einer Verlesung des Hirtenbriefes teilgenommen hatten, wurden penibel gezählt, jedes Auftreten von Pfarrern und Pfarrerinnen in ihren Gemeinden wurde »operativ« ausgewertet. 63 Die Sektorenleiterin für Kirchenfragen im Rat des Kreises und IM »Elina Otte« war permanent mit der politisch-ideologischen Einschätzung der Pfarrer im Kreis befasst. Sie listete auf, wie hoch deren Wahlbeteiligung war und ordnete kirchliche Amtsträger beider Konfessionen in progressiv, loyal, schwankend und negativ ein. 64 Die Kirchgänger gehörten neben der Jugend, den Ärzten, den Lehrern, den Nichtwählern und den Grenzbewohnern zu den Schwerpunktgruppen der staatssicherheitlichen Überwachung, ungeachtet der Tatsache, dass sich unter ihnen keine strafrechtlich relevanten »politisch-operativen« Sachverhalte ermitteln ließen. 65 Die monatlich, bei Bedarf auch wöchentlich, von der Kreisdienststelle des MfS Halberstadt angefertigten »Einschätzungen der »politisch-operativen« Lage im Kreis Halberstadt« bestätigen diesen Befund auch für den außerkirchlichen Bereich. Die Lage sei »stabil« und »normal«, die »tschekistische Wachsamkeit« zeitigte auch in diesem Monat wieder ihre Erfolge. Zu den erwähnenswerten Vorkommnissen in den Berichten der Kreisdienststelle gehörten »Schmierereien« und laute Beschimpfungen der Staats- und Parteiführung, die Namen von Nichtwählern, der schlechte Gesundheitszustand der Angehörigen der Kampfgruppe, die private Benutzung von Diensttelefonen, der unerlaubte Waffenbesitz, Vergewaltigungen und Rowdytum. Wenn sich in einem Ort des Kreises Jugendliche in einer Gruppe zusammenfanden, meldete dies die Kreisdienststelle des MfS umgehend dem Bezirk. Ihr oberstes Gebot war es, den Anfängen einer möglichen »Feindtätigkeit« zu wehren. »Unter der Jugend sind immer wieder Tendenzen negativer Verhaltensweisen festzustellen. Diese Verhaltensweisen tendieren zum asozialen Verhalten wie beispielsweise in Osterwieck die Jugendlichen [es folgen fünf Namen] und neigen zur Grup-
63 Vgl. Information über die Verlesung eines Hirtenbriefes, 15.3.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 788, Bl. 457 f. In den sechs Kirchen sowie dem Cecilienstift waren insgesamt 195 Gemeindemitglieder bei der Verlesung. 64 1984 wäre die Wahlbeteiligung der katholischen Pfarrer bei 100 % angekommen, die der evangelischen bei 71,4 %; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 50, Teil II, Bd. 8, Bl. 141 u. 178. 65 Einschätzung des Leiters der Kreisdienststelle für Staatssicherheit zur militärischen und politisch-operativen Lage im Kreis Halberstadt, 17.7.1981; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702, Teil 1, Bl. 34. Im Kreis gab es einen sogenannten politisch-operativen Sachverhalt mit strafrechtlichen Folgen. Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88).
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Ausreise per Antrag
penbildung […] Die Jugendlichen stehen unter Kontrolle.« 66 Auf diese Weise konnte die Staatssicherheit verhindern, dass sich solche »Tendenzen« ausweiteten. 67 Die Zuständigkeiten der Volkspolizei und der Staatssicherheit im Kreis waren eng verzahnt. Die Kreisdienststelle des MfS meldete nicht nur den Tierpfleger, der die DVP beschimpft hatte, und erwog dessen Umsiedlung aus dem Grenzgebiet. 68 In der Berichterstattung über» politisch-operativ« bedeutsame Vorkommnisse tauchen auch die Zerstörung von Verkehrszeichen, Schul- und Arbeitsbummelei, intime Beziehungen von Funktionären, Hamsterkäufe von Zucker, unerfüllte Planstände aus den Betrieben, Brände, Störungen im Produktionsablauf und fehlerhafte Tierfütterungen auf. Tatsächlich mischte sich die Stasi in die Belange der Volkspolizei massiv ein, namentlich bei Personalund Kaderfragen hatte sie das letzte Wort und verstand sich ohnehin auch als politisch-moralische Überwachungsinstanz für die staatlichen und politischen Funktionsinhaber im Kreis, darunter auch der »Genossen« der Volkspolizei. 69 Die örtliche Staatssicherheit arbeitete wie ein politischer und moralischer Seismograph: Sie meldete negativ-feindliche Stimmungen aus Schulen und Betrieben, lange bevor sie als strafrechtlich relevant eingeschätzt werden konnten. Es wurden ganz konkrete Meinungsäußerungen von Personen wiedergegeben, die fast immer mit Namen und Adresse bekannt waren. In einer solchen Atmosphäre konnte nur sehr schwer ein widerständiges Milieu entstehen. Nicht zufällig gab es im Kreis Halberstadt zwischen 1982 und 1988 keinen Jugendlichen, der den Wehrdienst verweigerte. 70 Selbst die in den 1980er Jahren republikweit verbreitete Punkkultur unter den Jugendlichen der DDR fand im Kreis Halberstadt keine Anhänger bzw. wurde unterdrückt, bevor sie
66 Einschätzung des Leiters der Kreisdienststelle für Staatssicherheit zur militärischen und politisch-operativen Lage im Kreis Halberstadt, 28.3.1980; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702, Teil 1, Bl. 288. 67 Die vier Jugendlichen wurden rasch isoliert, nachdem sie 1985 mitgeteilt hatten, nicht am Wehrkundeunterricht teilnehmen zu wollen. Es waren Kinder von »Eltern im kirchlichen Dienst«; von ihnen hatte das MfS diese Verweigerung offensichtlich erwartet. Die Einschätzung der Situation als »nicht besorgniserregend und seit Jahren fast gleichbleibend« lässt darauf schließen, dass die Staatssicherheit nicht davon ausging, dass noch weitere Schüler den Wehrdienst verweigern würden. BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 4205, Informationen über außergewöhnliche Vorkommnisse an der EOS, 1985, Bl. 247. Vgl. auch Kapitel 6.2 in diesem Band. 68 Gegen den Tierpfleger wird ein Ermittlungsverfahren ohne Haft eingeleitet. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702, Teil 2, Sachverhalt der öffentlichen Herabwürdigung, 5.8.1982, Bl. 535. 69 Vgl. Münkel: Staatssicherheit in der Region. Die geheimen Berichte der MfSKreisdienststelle Halberstadt an die SED. In: DA 43(2010)1, S. 31–38, hier 36. 70 Das waren die Jahrgänge 1964 bis 1969. Aus den Jahrgängen 1962 und 1963 gab es insgesamt 3 Wehrdienstverweigerer. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 127, Bl. 82.
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öffentlichkeitswirksam werden konnte. Die beteiligten Jungen und Mädchen waren »einsichtig« und legten ihr Outfit rasch wieder ab. 71 An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass eine derartig wirksame politisch-soziale Kontrolle durch staatliche Organe nur im Rahmen einer allgemeinen Atmosphäre von eher angepasstem Verhalten möglich und erfolgreich sein konnte, einer Atmosphäre, in der es jene Halberstädter besonders schwer hatten, die sich wie die Antragsteller auf Ausreise außerhalb des staatlich Erlaubten bewegten. Und so ist es nur folgerichtig, dass sie in den Lageeinschätzungen der Kreisdienststelle des MfS einen besonderen Platz einnahmen. Unter den Halberstädter Antragstellern vermutete das MfS die »Tatbestände der politisch-ideologischen Diversion« und der »politischen Untergrundtätigkeit«. Die Observierung von Antragstellern wurde für die Kreisdienststelle Halberstadt in den 1980er Jahren zu einer der wichtigsten Aufgaben. Dagegen vermeldeten die Berichte der Bezirksverwaltung des MfS zum Kreisgeschehen im letzten Jahrzehnt der DDR weder öffentlichkeitswirksame Aktivitäten noch politisch negative Stimmungen. In den Betrieben von Halberstadt war nicht die allgemeine Zufriedenheit ausgebrochen – auch das steht in den Berichten – aus Sicht der Staatssicherheit konnte hier jedoch von einer »stabilen Lage« ausgegangen werden. Und nicht nur in den Industriebetrieben herrschte Ruhe, auch nach Volksfesten und anderen »gesellschaftlichen Höhepunkten« konnte die Kreisdienststelle des MfS während der ganzen 1980er Jahre verkünden, dass ihre »zielgerichtete vorbeugende Wachsamkeit« jegliche Art von Provokationen und »Störungen der staatlichen Sicherheit« verhindert habe. 72
71 Interview mit Frau Gabriel, 16.4.2008. 72 Vgl. z. B. BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 94, Bl. 253. Das hinderte sie nicht daran, die Berichte im Tonfall einer angespannten Kampfsituation gegen die Feinde im eigenen Land zu formulieren und von »hoher Einsatzbereitschaft, tschekistischer Wachsamkeit und kameradschaftlichem Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte« zu sprechen, die das Schlimmste verhindert hätten. Feindtätigkeit und bedeutsame Vorkommnisse im Monat Juni 1986, 23.7.1986; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 19, Bl. 15–20.
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2.1
Das Leben mit der Grenze
Der Landkreis Halberstadt bis zum Mauerbau 1961
»Die Region im nördlichen Harzvorland ist reich an reizvoller Landschaft und historischen Denkmalen.« So beginnt eine 1991 geschriebene Geschichte Halberstadts. Und der Herausgeber setzt fort: »Jahrzehntelang fristete das Gebiet im Schatten der unmenschlichen Grenze ein Dornröschendasein. Seitdem nun aber Reisen in Deutschland wieder grenzenlos geworden ist, ist es in die Mitte unseres Landes gerückt.« 1 Tatsächlich war aus dem Mittelpunkt Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ein Stück Vorharzland an der Grenze zu Niedersachsen geworden. Die nach der Kreisreform von 1952 zu Halberstadt gehörende Westgrenze umfasste 47,3 Kilometer. 2 Sie führte in einem großen Bogen entlang des Großen Bruches nördlich der Gemeinde Huy, westlich rund um den Fallstein bis südlich nach Lüttgenrode. Nur ein kleiner Teil davon war passierbar, der größere Abschnitt führte durch das Große Bruch und war für Grenzübergänge wenig geeignet. Nicht zuletzt dieser Grenzverlauf wird dazu geführt haben, dass die »versuchten Grenzverletzungen« seit Mitte der 1960er Jahre im Kreis Halberstadt unter der Anzahl von denen im Kreis Wernigerode blieben. Die Ost-West-Grenze schloss sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etappenweise. Die Flüchtlingsströme bewegten sich vor allem von Ost nach West bzw. von der sowjetisch besetzten Zone in die englische oder amerikanische Zone. Vor allem in den ersten Jahren nach Ende des Krieges war noch ein lebhafter Rückstrom zu verzeichnen. 3 Ganz risikolos aber waren auch diese Grenzübertritte nicht. So konnte es geschehen, dass man entweder von den DDR-Grenzern oder von den britischen Soldaten abgefangen und inhaftiert bzw. zurückgeschickt wurde. Dennoch florierte trotz Passierscheinverordnung der Handel, namentlich der Schwarzhandel, auch an der Grenze zum späteren 1 Hartmann (Hg.): Halberstadt, S. 9. 2 Die gesamte Westgrenze des Bezirkes Magdeburg war 319 km lang. Vgl. Statistisches Jahrbuch Bezirk Magdeburg 1979, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik Bezirksstelle Magdeburg, S. 4. 3 Vgl. Wendt: Von der Massenflucht zur Binnenwanderung. Die deutsch-deutschen Wanderungen vor und nach der Vereinigung. In: Geografische Rundschau, 46(1994), S. 136–1140, sowie Roesler: »Abgehauen«. Innerdeutsche Wanderungen in den fünfziger und neunziger Jahren und deren Motive. In: DA 36(2003)4, S. 562–574.
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Kreis Halberstadt. 4 Aus der Perspektive des Bürgermeisters von Goslar, der Halberstadt am nächsten liegenden »Zonenrandstadt« auf der Westseite des Harzes, nahmen diese Bewegungen von Ost nach West sogar bedrohliche Züge an. Die vielen Flüchtlinge führten zu Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit, der Schwarzhandel bedrohte die Existenz einer ohnehin schrumpfenden Wirtschaft in seiner Stadt. 5 Eine junge Interviewpartnerin, die in einem kleinen Dorf nahe Goslar aufgewachsen ist, hörte dagegen freundliche Geschichten aus der Zeit des Handelns und Wandelns mit den Leuten aus dem anderen Teil Deutschlands. Ihre Großmutter hatte ihr viel über die »Versorgungsfahrten« nach 1945 berichtet, was dazu führte, dass ihr, die 1975 geboren wurde, die DDR immer recht nahe gewesen war. Als in den 1980er Jahren ein Mädchen aus der DDR in ihre Klasse kam, das mit den Eltern zusammen ausgereist war, habe sie sich sehr für deren Leben interessiert. 6 Die »grüne Grenze« mit dem sogenannten kleinen Grenzverkehr wurde 1952 zur geschlossenen innerdeutschen Grenze, die nur derjenige unkontrolliert passieren konnte, der ortskundig war oder ortskundige Helfer hatte. Eine großangelegte Aussiedlungskampagne der DDR-Regierung sollte zur »Säuberung des Grenzgebietes von unzuverlässigen Personen« führen. 7 Es waren, entsprechend der damaligen Sozialstruktur der Kreise in Thüringen und im Harz, vor allem Bauern, Landarbeiter und kleine Gewerbetreibende, die manchmal nur in Stunden aus den Sperrgebieten verwiesen wurden. 8 Damit begann die SED zugleich mit dem Aufbau eines politisch besonders zuverlässigen Herrschaftsapparates im Sperrgebiet. Die Anzahl der Grenzposten wurde erhöht und erste Sperranlagen errichtet. Vierzehn Gemeinden gehörten seitdem zu dem fünf Kilometer breiten Sperrgebiet, das zwischen der eigentlichen Grenze und dem restlichen Kreisgebiet errichtet worden war. 9 Hinzu kam ein 4 Vgl. König; Meyerhoff: Eckertal: »Anschauungsunterricht an der Zonengrenze«. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 127–131; Schmiechen-Ackermann u. a.: Goslar. In: ebenda, S. 141–146. 5 Vgl. ebenda, S. 141–146. Tatsächlich hatte die Grenzziehung der DDR-Regierung zahlreiche Folgen auch für das sogenannte Zonenrandgebiet im Westen. 6 Vgl. Interview mit Christiane Reither, April 2011. Vgl. zum Thema: Flucht aus der DDR und ihre Bedeutung in Westdeutschland: Heidemeyer: Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR. 7 Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands, 26. Mai 1952. In: van Melis: »Republikflucht«. Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer. München 2006, S. 137–139. Vgl. zur »Aktion Grenze« im Kreis Wernigerode: Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode. Hg. v. Landkreis Wernigerode, Schulverwaltung und Kulturamt, 2001, S. 10 ff. 8 Vgl. Bennewitz; Potratz: Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze, S. 59–62. 9 Münkel: Kontrolle und Überwachung im Grenzraum – Das Beispiel des Kreises Halberstadt. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 231–235, hier 232.
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500 Meter breiter Schutzstreifen entlang der Grenze. Aus Bewohnern des Harzvorlandes in der Mitte Deutschlands waren nun »Grenzbewohner« geworden, aus den Jugendlichen, die im Sperrgebiet wohnten, die »Grenzjugend«. Das Hin-und-her der Bewohner der Alliierten Besatzungszonen mit Lebensmitteln oder Brennholz zwischen der ost- und der westdeutschen Harzregion war mit der innerdeutschen Grenzschließung 1952 vorbei. Wer nun in den Westen wollte, verließ die DDR vor allem über die noch weitgehend durchlässige Grenze in Berlin. Dieses Vorhaben wurde allerdings bereits damals als »Flucht« oder »Republikflucht« bezeichnet und zu verhindern versucht. Und das, obwohl die Verfassung von 1949 einen Artikel beinhaltete, der jedem Bürger der DDR das Recht auf Auswanderung zubilligte. 10 Erst 1968, in der zweiten Verfassung der DDR, wurde die Freizügigkeit auf das Staatsgebiet der DDR beschränkt. 11 Die Praxis der staatlichen Organe war in den Jahren bis zur neuen Verfassung allerdings bereits auf Verbot und Verfolgung der Auswanderer gerichtet. 12 Vergleichbar mit dem Streikrecht, das ebenfalls erst 1968 aus der neuen Verfassung gestrichen worden war, lebten die Bürger der DDR mit dem Widerspruch, dass politisch verboten, was verfassungsrechtlich erlaubt war. Viele von ihnen werden vielleicht gar nicht gewusst haben, dass Streik und Auswanderung zunächst noch ihre verfassungsmäßigen Rechte gewesen waren, in keinem Fall pochten sie darauf. Staatliche Willkür und Uneinklagbarkeit von Rechten gehörten zum Lebensgefühl eines jeden DDR-Bürgers, auch der Menschen aus dem Kreis Halberstadt. Die »Sicherung der Grenze« zur Bundesrepublik war für die »Sicherheitsorgane« in Halberstadt von Anbeginn ein Schwerpunkt ihrer Arbeit. Die seit September 1961 zum Zuständigkeitsbereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung gehörenden Grenztruppen (vormals Grenzpolizei), die Volkspolizei und die Staatssicherheit teilten sich die Zuständigkeiten bei der Grenzüberwachung. Das dazugehörige haupt- und ehrenamtliche Personal nahm im Laufe der Jahre zu. 13 So wurden 22,6 Prozent aller in der Kreisdienststelle Halberstadt registrierten inoffiziellen Mitarbeiter (IM) 1981 vom Referat
10 Artikel 10: »Jeder Bürger ist berechtigt, auszuwandern. Dieses Recht kann nur durch Gesetze der Republik beschränkt werden.« Verfassung der DDR v. 7.10.1949, S. 15. 11 »Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat im Rahmen der Gesetze das Recht auf Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes«, Verfassung der DDR v. 6.4.1968, S. 33, sowie v. 7.10.1974, S. 21. 12 Die »Verordnung über die Rückgabe Deutscher Personalausweise« vor dem Verlassen der DDR oder die Genehmigungspflicht für den Umzug nach Westdeutschland von 1954 hatten das verfassungsmäßige Recht längst eingeschränkt. Vgl. van Melis: »Republikflucht«. Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Schriftenreihe der VfZ, Sondernummer. München 2006, S. 47–49, sowie Dokumententeil; ebenda, S. 131–264. 13 Münkel: Staatssicherheit in der Region. Die geheimen Berichte der MfS-Kreisdienststelle Halberstadt an die SED. In: DA 43(2010)1, S. 31–38, hier 31.
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Grenzsicherung geführt. 14 Grenztruppen und Volkspolizei hatten sich einen Stab von freiwilligen Helfern im Sperrgebiet geschaffen, zuverlässige Kader aus dem Partei- und Staatsapparat, auch letztere fast ausnahmslos Mitglieder der SED. Ein ehrenamtliches Heer von »freiwilligen Grenzhelfern« sollte über jede Grenzbewegung wachen und Grenzverletzungen bereits in der Phase ihrer Vorbereitung melden. 15 Beständig gab es Klagen darüber, dass die Zusammenarbeit der verschiedensten »Kräfte« im Sperrgebiet unzureichend sei. 16 Eine weitere »Kaderbereinigung« fand vorsorglich 1961 statt, alle »Verantwortungsträger« im Sperrgebiet wurden überprüft und wieder wurden leitende Mitarbeiter ausgetauscht. Dennoch kam es nach dem 13. August 1961 auch im Kreis Halberstadt zu erfolgreichen Grenzübertritten. 17 »Trotz der am 13. August 1961 durchgeführten Maßnahmen zur Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik ist die Zahl der im Berichtsmonat festgestellten illegalen Abwanderungen noch sehr hoch«, musste die Bezirksdienststelle der Volkspolizei Magdeburg an die übergeordnete Behörde melden. Der sorgfältig ausgesuchte Kreis von Kontrolleuren im Grenzgebiet hatte nicht verhindern können, dass trotz der Grenzschließung DDR-Bürger über die Grenze nach Niedersachsen fliehen konnten. Wie sollten die KontrollPersonen, die von der Bevölkerung als »150-Prozentige« bezeichnet wurden, auch zu ihren Informationen gekommen sein? Einem »freiwilligen Helfer der Grenzpolizei« gegenüber wird kein potenziell Flüchtiger seine Absicht mitgeteilt haben. Es blieb nur die Möglichkeit, dass der Ehrenamtliche verdächtige Personen im Sperrgebiet meldete und die Kontrolle durch den Abschnittsbevollmächtigten (ABV), der dafür verantwortlich war, dass die Passierscheinregelung von den Bewohnern des Sperrgebietes eingehalten wurde, tatkräftig unterstützte. 18 Die Zwangsumsiedlungen von Bewohnern aus dem Sperrgebiet in den Jahren 1952 und 1961 19 hatten zwar dafür gesorgt, dass »Grenzgänger« und Per14 Münkel: Kontrolle und Überwachung im Grenzraum – Das Beispiel des Kreises Halberstadt. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 231–235, hier 234. 15 Ebenda, S. 232. 16 Münkel: Kontrolle und Überwachung, S. 233. 17 Im Monat August des Jahres gab es »illegale Abwanderungen« im Kreis Halberstadt in Höhe von 0,337 % zur Einwohnerzahl, das waren etwa 38 Personen. Im ganzen Bezirk Magdeburg flohen 3 093 Personen im August 1961 – das sei ein Anstieg um 92,9 % gegenüber dem Vormonat gewesen. Im September waren es immer noch 1 330 Personen. Vgl. auch BDVP Magdeburg, Abt. PM, Illegale Abwanderungen im Monat August 1961, 9.9.1961, sowie Bericht zum Monat September, 7.10.1961; LHASA, MD, M 24, BDVP 1961–1975, Nr. 839, Bl. 83–85 u. 89–111. 18 Verstöße gegen den Passierscheinbeschluss konnte er mit 10 Mark, später 50 Mark der DDR ahnden. Siehe Sachsen-Anhalt, 30.10.99, »Zurück, hier ist immer noch Grenze!« 19 Als »unzuverlässig« eingestufte Personen wurden ab 3. Oktober 1961 im Rahmen der »Aktion Festigung« aus dem Sperrgebiet ausgesiedelt. Aus dem Kreis Halberstadt mussten 19 Personen mit ihren Familienangehörigen ihren Wohnort im Grenzbereich verlassen, in der gesamten DDR waren es
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sonen mit »negativer Einstellung« »entfernt« und durch zuverlässige Personen ersetzt worden waren. Mehrheitlich jedoch wohnten weiterhin »normale« Leute im Sperrgebiet, die eher weniger mit der Staatssicherheit und anderen staatlichen Organen zu tun haben wollten. Von einer besonderen »sozialen Kontrolle« in dem Sinne, dass ein allgemeines Denunziantentum unter der Bevölkerung verbreitet gewesen war, ist also selbst für das Grenzgebiet nicht zu sprechen. Wie überall in der DDR gab es auch in den Sperrgebieten unter den SED-Mitgliedern besonders viele staatliche und kommunale Leiter, Funktionäre, ehrenamtliche Helfer und einen hohen Prozentsatz an inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. Diese für die Kontrolle des Sperrgebietes politisch besonders gut gerüstete Personengruppe wird in Halberstadt – ähnlich wie im Landkreis Wernigerode – 20 Prozent der dort lebenden Bevölkerung ausgemacht haben. 20 Sie war die politische Stütze der Herrschaft in diesem sicherheitsrelevanten Gebiet. In besonderem Maße misstraute das MfS seinen eigenen Kadern, was dazu führte, dass sich die gegenseitige Kontrolle der Angehörigen des Staats- und Parteiapparates – auch dies war ein DDR-weites Phänomen – von Jahr zu Jahr verstärkte. So wurde Familie Murks, die von sich selbst sagt, eine solche 150prozentige Familie im Sperrgebiet gewesen zu sein, einige Male von der Staatssicherheit »getestet«, indem diese zivile Personen zu ihnen schickte, die sie nach dem Weg in den Westen fragten. Familie Murks war nach ihrem eigenen Dafürhalten »nicht dumm« und erkannte gleich, wer die Auftraggeber waren. 21 Dieses Phänomen der Selbstüberwachung des Apparates kennen wir aus den Betrieben, wo eine Funktionshäufung von betrieblichen Leitern, SEDMitgliedern, Reisekadern und IM in einer Person dazu führen konnte, dass am Ende in den »eigenen Reihen« jeder jeden bespitzelte. Gerade auch die Grenzsoldaten, über die manche Bewohner berichteten, dass es gute Kontakte zu ihnen gegeben habe, waren für die Staatssicherheit potenzielle Sicherheitsrisiken, auf die die »freiwilligen Helfer« besonders zu achten hatten. Seit 1962 kamen sie als Wehrpflichtige an die Grenze, waren also eine schwer zu disziplinierende und zu kontrollierende Personengruppe. Penibel wurde darauf geachtet, dass die Grenzer nicht erfuhren, an welchen Stellen sich die Minen und Selbstschussanlagen befanden. Unter den Grenzern war die IM-Dichte besonders hoch. 22 920 Einzelpersonen und Familien, Vgl. Münkel: Kontrolle und Überwachung im Grenzraum – Das Beispiel des Kreises Halberstadt. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 231–235, hier 231. 20 Darunter machten die freiwilligen Grenzhelfer etwa 10 % aus. Vgl. Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode. Hg. v. Landkreis Wernigerode, Schulverwaltung und Kulturamt, 2001, S. 30, 21 Siehe Sachsen-Anhalt, 30.10.1999, »Zurück, hier ist immer noch Grenze!« 22 Vgl. Gieseke: Der Mielke-Konzern, S. 136–138.
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Es ist anzunehmen, dass die meisten Fluchten auch aus dem Kreis Halberstadt nach 1952 über die Grenze nach Westberlin realisiert wurden. Im ersten Halbjahr 1953, als die Repressalien gegen Kirchenmitglieder, Bauern und Gewerbetreibende zunahmen, stiegen die Zahlen der »Republikfluchten« an. Zwischen Januar und März 1953 erhöhten sie sich im Bezirk Magdeburg von insgesamt 1 479 auf 4 178 Personen. In der Reihenfolge ihrer sozialen Stellung bzw. des ausgeübten Berufes waren es Arbeiter (449), Angestellte (347), Großbauern (316) und Geschäftsleute/Handwerker (197). Dass sich in allen Jahren auch Mitglieder der SED darunter befanden (1953: 85), beschäftigte die Volkspolizei ebenso stark wie der Umstand, dass nicht nur die Großbauern, sondern viele Landarbeiter flohen, sowie ausgerechnet jene Arbeiter, die in den Volkseigenen Betrieben (VEB) und Sowjetischen Aktiengesellschaften (SAG) des Bezirkes beschäftigt waren. Gesonderte Analysen befassten sich mit der Abwanderung von Lehrern, Ärzten oder Ingenieuren. Nach einem kurzen Abschwung im April und Mai 1953 stieg die Zahl der »Republikfluchten« im Juni wieder auf insgesamt 3 225 Personen im Bezirk Magdeburg an. 23 Nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im Juni 1953, an dem in Halberstadt Arbeiter aus dem Reichsbahnausbesserungswerk, dem Bahnbetriebswerk, dem VEB Maschinenbau, dem Wippertaler Holzwerk, einigen Privatgeschäften und kleineren Privatbetrieben sowie der Schultheiss Harzbrauerei teilnahmen, gelang es Streikenden zu flüchten. Darunter auch Hermann Großmann, der als Ortskundiger dafür die Kreisgrenze nach Niedersachsen nutzte. 24 Der Brief einer Frau aus dem Kreis Halberstadt, die im März 1953 an ihre Tochter schrieb, fiel der Volkspolizei in die Hände. Er lässt die Atmosphäre der 1950er Jahre aufscheinen, in denen hunderttausende DDR-Bürger »auf dem Sprung« waren. »Liebes Annelieschen!«, so beginnt die Mutter den Brief an ihre Tochter. »Will Dir kurz mitteilen, dass ich Dir etwas Neues schreiben will. Die Woche nach Ostern fahren wir alle nach dem Westen. Ich bleibe nicht mehr hier, wenn Du denkst hierzubleiben, dann gib mir Bescheid. Familie B., Sch.s Junge, die wollen alle fort. Hier ist nichts mehr los, aber nur fort, denn es gibt Hungersnot. Hier im Mai gibted [sic!] Ausweise, da können wir nicht mal zu Dir hin. Also, quäle Dich nicht so, packe Deine Freundin am Kragen und haut schon vorher ab. Wenn Du mit willst, dann musst Du sehen, dass du etwas Sachen vorher wegschickst, an Horst, ich mache auch so.«
23 Aufstellung über Republikfluchten und Zuwanderungen in der Zeit v. 1.1.1953–1.9.1953; LHASA, MD, M 24 BDVP Magdeburg 1952–1960, Nr. 251, Bl. 17. 24 Vgl. Telefongespräch mit Hermann Großmann; Vgl. auch 17. Juni 1953. Halberstadt – Schauplatz der Zeitgeschichte, Halberstadt 2009; Dilßner: 17. Juni 1953. Aus dem Zeitzeugenbericht eines Sozialdemokraten. Halberstadt 1990. Darin die Schilderung der Vernichtung der sozialdemokratischen Tradition in Halberstadt, die schon vor dem Juni 1953 begonnen hatte.
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Dann beschreibt sie ihr den Weg über Potsdam nach Berlin und wie sie mit der U-Bahn in den Westsektor gelangen kann. Sie könne auch mit dem Auto – sie meint per Anhalter – nach Berlin, schlägt die Mutter vor und warnt abschließend, keinem etwas davon zu sagen, dass sie nach Ostern abhauen werden. »Also, Du weißt Bescheid«, schließt sie den Brief, der keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen lässt.25 Einen erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen gab es 1955 und kurz vor dem Mauerbau 1961. Eine Jahresanalyse von 1955, erstellt von der Abteilung Pass- und Meldewesen (PM) des Volkspolizeikreisamtes in Halberstadt, weist aus, dass 1 695 Personen in diesem Zeitraum »Republikflucht« begangen hatten, 307 Personen waren legal übergesiedelt.26 Das war gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 120 Prozent. Von den Parteiangehörigen waren die SED-Mitglieder mit 36 Personen unter den Flüchtigen am stärksten vertreten. Den höchsten Anteil bildeten Jugendliche und Jungerwachsene zwischen 18 und 25 Jahren.27 Häufig flohen junge Familien: Aus der LPG Zilly-Sonnenburg »wurden drei befreundete Familien zu gleicher Zeit rep. flüchtig«. Eigentlicher Schwerpunkt im Kreis Halberstadt blieben jedoch auch nach 1955 die Arbeiter aus den Betrieben. Das Volkspolizeikreisamt sah die Schwerpunkte im RAW, Kreisbaubetrieb, VEB Halberstädter Fleisch- und Wurstwaren und dem VEB EKM (Maschinenbau). Es wies die jeweiligen Kaderabteilungen an, »bei Ausstellung von Urlaubsbescheinigungen den Vermerk aufzutragen, gegen eine Reise nach Westdeutschland bestehen keine Bedenken, da die Leitungen der einzelnen Betriebe ihre Arbeiter besser kennen als wir.«28 Es ist nicht bekannt, ob die Betriebe dieser Bitte der Polizei Folge geleistet haben, einen Rückgang an flüchtenden Arbeitern, Angestellten und Personen anderer sozialer Gruppen hat die Maßnahme jedenfalls nicht bewirkt. Zwischen 1955 und 1959 flohen 7 960 Personen aus dem Kreis Halberstadt nach Westdeutschland. Das waren 0,8 Prozent der Bevölkerung des Kreises, jedoch über 27 Prozent (1959) der Jugendlichen Halberstadts.29 Die 25 BDVP Magdeburg, Abt. PM, Analyse über Schwerpunkte in der Republikflucht. 10.4.1955; LHASA, MD, M 24, BDVP 1952–1960, Nr. 251, Bl. 16. Interpunktion und Wortwahl deuten auf eine Schlesierin hin. 26 676 Personen waren aus dem Westen in den Kreis zurückgekehrt bzw. zugewandert. Vgl. LHASA, MD, M 24, BDVP Magdeburg 1952–1960, Nr. 251, Bl. 32. 27 Zahlreiche Analysen beschäftigen sich mit dieser Personengruppe, z. B. Abwanderung von Jugendlichen im Monat Mai 1955; LHASA, MD, M 24, BDVP Magdeburg 1952–1960, Nr. 251, Bl. 209–210. 28 LHASA, MD, M 24, BDVP Magdeburg 1952–1960, Nr. 251, Bl. 34. 29 VP-Kreisamt Halberstadt an Kreisleitung der SED, Kontrollkommission: Analyse illegale Abwanderungen, Rückkehrer und Erstzuzüge und Reiseverkehr im Jahre 1959, 19.12.1959; LHASA, MD, M 24, BDVP 1952–1960, Nr. 251, Bl. 90 f. Genaue Aufschlüsselung nach Gemeinden im Kreis Halberstadt, siehe VP-Kreisamt Halberstadt, Abt. PM, an Bezirksbehörde der VP, Abt. PM: Analyse über R-Fluchten 56/57, 30.9.1957; LHASA, MD, M 24, BDVP 1952–1960, Nr. 251, Bl. 53–66. Osterwieck hatte einen besonders hohen Anteil.
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meisten von ihnen flohen über die Berliner Grenze, die sogenannten Durchbrüche an der Grenze zu Niedersachsen wurden häufig vereitelt. In den Jahren bis 1960 kehrte ein Drittel der Geflohenen in die DDR zurück, nicht selten versuchten die Rückkehrer nach einiger Zeit erneut in den Westen zu gelangen. Ein ähnliches Bild ergeben die Berichterstattungen über die sogenannten Bevölkerungsbewegungen in den Jahren 1959 und 1960. Für das Jahr 1959 konnte die Pass- und Meldestelle der Deutschen Volkspolizei noch 617 »Republikflüchtige« (RF) aus dem Kreis Halberstadt melden, denen 417 »Rückkehrer« gegenüberstanden. Im Januar 1960 hatte sich dieses Verhältnis bereits deutlich zugunsten der »RF« verschoben und glich sich den anderen Kreisen merklich an, die weniger Rückkehrer zu verzeichnen hatten. 30 In diesen Jahren flohen viele Menschen, weil sie politisch verfolgt wurden oder staatliche Repressalien erlitten, aus Angst vor Gefängnisstrafen, weil das Abgabesoll nicht erfüllt war oder die Enteignung des Betriebes bevorstand. Daneben ist für die Zeit vor dem Mauerbau 1961 das Gefühl verbreitet gewesen, nicht der Letzte sein zu wollen, der das sinkende Schiff verlasse. Das ähnelte sehr jener am Ende der 1980er Jahre aufkommenden panikartigen Angst, nicht mehr »rauszukommen«, die in Massenfluchten über Ungarn ihren Ausdruck fand. 31 Martin Kraft, der heute mit seiner Frau in Halberstadt lebt, ist 1955 aus Magdeburg über Westberlin »abgehauen«. 32 »Flucht« will er es gar nicht mal nennen, offensichtlich erscheint ihm das zu spektakulär. Der 19-jährige Speditionskaufmannslehrling erlebte, wie Tag für Tag einer nach dem anderen aus dem Büro oder der Nachbarschaft verschwand. »Na, der wird wohl nicht mehr kommen?«, sagten die Kollegen dann. »Der ist weg«. Der Inhaber der Speditionsfirma ging in den Westen, drei Freunde von ihm ebenfalls. Martin Kraft sei ganz aufgeregt gewesen und hätte auch überlegt, »rüberzumachen«. Den letzten Anstoß gaben die Werber für die Kasernierte Volkspolizei, der Martin Kraft auf keinen Fall angehören wollte. Seine Eltern verstanden ihn, und zusammen mit einem etwas kundigeren Freund fuhr er wenige Tage später nach Ostberlin, um mit der S-Bahn in den Westteil zu gelangen. Sicher, sie waren aufgeregt, hatten Schweiß auf der Stirn und Herzklopfen, aber als Teil einer Massenbewegung – in dieser Zeit kamen täglich bis zu 2 000 Menschen im Übergangslager Marienfelde an – bekam ihre Aktion so etwas wie Normalität. Tatsächlich hatte es 1955 wieder einen sprunghaften Anstieg von etwa 30 000 30 Vgl. Bezirksbehörde Deutsche Volkspolizei: Einschätzung über die Bevölkerungsbewegung im Jahre 1959 und 1960, 25.2.1960; LHASA, MD, M 24, BDVP 1952–1960, Nr. 241, Bl. 193–199 u. 47–56. 31 Zu den Motiven für die Flucht bis 1961 Eisenfeld: Gründe und Motive für Flucht und Ausreise aus der DDR. In: DA 37(2004)1, 89–105, hier 94–96. 32 Vgl. das Interview mit Martin Kraft, 3.3.2009.
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Flüchtigen aus der DDR in den Westen gegeben, im Juli 1961 gab es noch einmal einen solchen Höhepunkt. Insgesamt verließen zwischen 1949 und dem Mauerbau rund 3,5 Millionen Menschen die DDR, darunter nur 500 000 auf legalem Weg. 33 Aus dem Landkreis Halberstadt verließen seit 1952 bis zum Mauerbau über 10 000 Personen illegal die DDR. Das Leben an und mit der Grenze im Landkreis Halberstadt unterschied sich bezüglich des »Fluchtgeschehens« bis 1961 nicht wesentlich von dem in anderen Kreisen des Bezirkes Magdeburg. Trotz Grenznähe flohen im Durchschnitt nicht mehr Personen als aus den grenzfernen Kreisen. 34 Im Gegenteil lag die Anzahl der Republikfluchten 1959 im Kreis unter dem Bezirksdurchschnitt von 18 Prozent. 35 Obwohl Halberstadt ein landwirtschaftlich geprägter Kreis war, verließen auch hier vor allem Arbeiter den Osten.
2.2 Nach dem Mauerbau: Kein »Schlupfloch« mehr in den Westen Die Grenzanlagen zur Bundesrepublik wurden nach dem August 1961 noch einmal verstärkt gegen Fluchten von DDR-Bürgern gesichert und Jahr für Jahr ausgebaut. Nun hieß es tatsächlich: »Da war kein Rüberkommen mehr«. Von einigen Schlupflöchern in der ersten Zeit nach dem Berliner Mauerbau abgesehen, begann auch für die Halberstädter die Zeit der »geschlossenen Gesellschaft«. 36 Es wuchs eine Generation heran, die noch nie einen offenen Grenzverkehr erlebt hatte; für sie gehörten die undurchlässigen Grenzanlagen und Sperrzonen zum Alltag. 37 Es gehörte zum Alltag, dass die Kinder ermahnt 33 Es werden auch höhere Zahlen genannt, die Zählung ist kompliziert, da sich auf unterschiedliche Erhebungen bezogen wird. Vgl. zum Beispiel Effner; Heidemeyer: Flucht im geteilten Deutschland. In: Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, S. 11–26, sowie Dies.: Flucht in Zahlen. In: ebenda, S. 27–32. Vgl. Wendt: Die deutsch-deutschen Wanderungen – Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise. In: DA 24(1991)4, S. 386–396, sowie van Melis, »Republikflucht«. Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Schriftenreihe der VfZ, Sondernummer. München 2006. 34 Gegenüberstellung der Republikfluchten für die Zeit v. 1.1.1959–31.3.1959 und v. 1.1.1960–31.5.1960, LHASA, MD, Rep. M 24, BDVP Magdeburg 1952–1960, Nr. 244, Bl. 240– 255. 35 Grenzdurchbrüche an der Kreisgrenze gab es in diesem Jahr 14; 31 Personen konnten gestellt werden. Vgl. LHASA, MD, Rep. M 24, BDVP 1952–1960, Nr. 248, Bl. 50 u. 53. 36 Vgl. Illegale Abwanderungen im Monat August 1961 bis Dezember 1961; LHASA, MD, Rep. M 24 BDVP Magdeburg 1961–1975, Nr. 839, Bl. 83–113. Aus dem Bezirk Magdeburg flüchteten monatlich zwischen 150 und 300 Personen, darunter auch aus dem Kreis Halberstadt. Dies liegt jedoch unter der Anzahl von »RF« aus anderen Kreisen. 37 Vgl. Kutzner: »Irgendwie ist das dann normal«. Zeitzeugen über ihr Leben im Grenzgebiet. In: Horch und Guck. Zeitschrift zur kritischen Aufarbeitung der SED-Diktatur, 21. Jg., Heft 78, 4/2012, S. 42–47.
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wurden, nicht das verbotene Gelände im Wald zu betreten und dass bestimmte Spiel- und Wanderplätze nun tabu waren. Allmählich wird man sich daran gewöhnt haben, die Erzählungen unserer Interviewpartner lassen diesen Schluss zu. Die Situation für jene Halberstädter, die im Sperrgebiet wohnten, wurde nicht einfacher. Sie waren »angeschissen«, sagt Werner Hartmann, der heutige Ortschronist, und beschreibt dann deren Lage: Sie konnten keine spontanen Besuche empfangen, mussten jeden Besuch beantragen, konnten selbst nur mit Passierscheinen das Gebiet betreten und standen so ständig unter Kontrolle. Familienfeste verlegten sie nach außerhalb des Sperrgebietes, um jedem Familienmitglied die Teilnahme zu garantieren. Für den Thüringer Ort Böseckendorf hat Heike Möller dies wie folgt beschrieben: »Strenge staatliche Vorschriften prägten den Alltag der Bewohner im Grenzgebiet. Alle Bürger, deren Arbeitsstätte im Schutzstreifen lag, mussten sich beim zuständigen Kommando der Deutschen Grenzpolizei registrieren lassen. […] Alle anderen Personen durften diese Zone nicht betreten. Bei Zuwiderhandlungen drohten Geldstrafen, bei Wiederholung sogar Gefängnisstrafen. Besonders in der Öffentlichkeit – ob auf der Straße, bei der Feldarbeit oder in der Gaststätte – war die Bevölkerung im Grenzgebiet fast ständig von Grenzpolizisten umgeben.« 38 Und als 1973 infolge und auf der Basis des Grundlagenvertrages zwischen den beiden deutschen Staaten Tagesreisen von westdeutschen Bürgern in die DDR möglich wurden, durften diese nicht in die Sperrzonen zu ihren Verwandten und Freunden einreisen. 39 Auf diese Weise entstand in den Sperrgebieten zur Westgrenze auch in Halberstadt ein eigentümliches »Biotop«, ein politisches Sondergebiet mit einem besonders dichten Kontroll- und Überwachungsnetz und vielen Einschränkungen, aber auch mit Privilegien und Vergünstigungen. Es entwickelten sich ganz eigene Beziehungen mit spezifischen Arrangements, die sich von denen im übrigen Landkreis unterschieden. Die Vergünstigungen, die der Kreis den Bewohnern gewährte – etwa eine Sperrzonenzulage, einen um 20 Prozent höheren Lohn oder eine gesicherte Versorgung mit Backwaren und Obst – konnten die insgesamt benachteiligte Situation nicht aufwiegen. Das verwundert etwas, denn in den Akten des Rates des Kreises sind erhebliche Bemühungen zu erkennen, es den Bewohnern der Grenzgebiete Recht zu machen. Dennoch kam keine allgemeine Zufriedenheit der »Grenzbevölkerung« auf. Planungen waren das eine, deren Realisierung das andere: Die umfangreichen Vorhaben zur Verbesserung der Versorgungen im 38 Möller: Böseckendorf. »Böseckendorf ist abgehauen!«. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 106–107, hier 106. 39 Vgl. Küster: Duderstadt. Der kleine Grenzverkehr. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 108–111.
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Sperrgebiet scheiterten häufig an den fehlenden Transportmitteln oder daran, dass die Mittel für andere Zwecke umgeleitet werden mussten.40 Die Aufforderung an alle »örtlichen Organe«, das Sperrgebiet in besonderer Weise in ihrer Planung zu berücksichtigen, blieb nicht selten Makulatur. Der allmähliche Rückgang von versuchten und gar gelungenen Grenzdurchbrüchen auch im Landkreis Halberstadt ist nicht darauf zurückzuführen, dass die Staatsloyalität gewachsen und die Zusammenarbeit der Bevölkerung mit dem MfS oder anderen »Organen« im Sperrgebiet intensiver geworden wäre. Einziger Grund war die Tatsache, dass die Grenzanlagen seit Anfang der 1970er Jahre auch in Halberstadt kein Durchkommen mehr zuließen. Ein Signalzaun, ein Graben und ein 3,20 Meter hoher Grenzzaun mit SM-70Selbstschussanlagen verhinderten nun so gut wie jeden Grenzdurchbruch.41 Obwohl die »stärkere Einbeziehung der Bevölkerung und eine vorbeugende Grenzsicherung« nach 1961 konsequent betrieben wurden, konnten die »Kontaktaufnahmen« und gelungenen Grenzübertritte erst mit dem Aufbau der Todesstreifen mit Minen und Selbstschussanlagen so gut wie gänzlich unterbunden werden.42 Selbst eine genaue Kenntnis der Grenzanlagen und Örtlichkeiten machte eine Flucht nun zu einem risikovollen, auch körperlich anstrengenden Unternehmen. So ist es nicht verwunderlich, dass diesen Weg vor allem junge Männer einschlugen.43 Zwei Beispiele von Fluchtversuchen aus der Harzregion sollen diesen Befund illustrieren. Der erste fand 1962 an der Grenze nahe Schierke statt, der zweite 1979 ebenfalls im Landkreis Wernigerode, nahe Sorge. Dort wurden im Juni 1962 ein 19-Jähriger, der sich zum zweiten Mal in den Westen aufmachte, und im Dezember 1979 ein Schüler, der aus Schulfrust und Elternverdruss »abhauen« wollte, erschossen.44 Das MfS kontrollierte folgerichtig besonders intensiv die sogenannte »Grenzjugend«, die innerhalb ihres Arbeitsbereiches »Grenzsicherung« höchsten Stellenwert bekam.
40 Vgl. Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode. Hg. v. Landkreis Wernigerode, Schulverwaltung und Kulturamt, 2001, S. 26 f. 41 Vgl. die Beschreibungen für den Landkreis Wernigerode, die für Halberstadt gleichermaßen gegolten haben dürften. In: Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode. Hg. v. Landkreis Wernigerode, Schulverwaltung und Kulturamt, 2001, S. 15–21. Die SM-70 waren die sog. Selbstschussanlagen, die am Grenzzaun montiert waren (SM für: Splittermine, die offizielle DDRBezeichnung lautete: »kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung«). 42 Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode. Hg. v. Landkreis Wernigerode, Schulverwaltung und Kulturamt, 2001, S. 29, sowie Lebegern: Mauer, Zaun und Stacheldraht. 43 Zwischen 1961 und 1989 flohen 38 000 Bürger über die Grenze in den Westen, darunter 40 % unter 40 Jahren, 70 % unter 30 Jahren. Vgl. Eisenfeld: Gründe und Motive für Flucht und Ausreise aus der DDR. In: DA 37(2004)1, S. 89–105. 44 Vgl. Müller: Schierke. »Schießen Sie doch endlich!«. In: Schwark; Schmiechen-Ackermann; Hauptmeyer (Hg.): Grenzziehungen. Grenzerfahrungen. Grenzüberschreitungen, S. 118–121, sowie Abrolat, Sorge: Flüchtende Jugendliche. In: ebenda, S. 115–117.
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1986 konnte die Kreisdienststelle des MfS Halberstadt melden, dass es in ihrem Überwachungsgebiet – anders als in den anderen Grenzkreisen – keine versuchten ungesetzlichen Grenzübertritte gegeben habe. 45 Auf die Bedeutung der unwegsamen bzw. für Fluchten ungeeigneten Grenzlage im Kreis war bereits hingewiesen worden. Die meisten tatsächlichen oder vermeintlichen Fluchtversuche wurden ohnehin bereits weit vor der Grenze vereitelt. Oft griff die Transportpolizei Personen auf Wegen in Richtung Grenze, auf Bahnhöfen und in Zügen auf, die sich nahe der Grenze befanden. 46 Ihnen wurde ein Fluchtversuch unterstellt, unabhängig davon, ob dies den Tatsachen entsprach oder nicht. So wuchs die Zahl der »versuchten und verhinderten Grenzdurchbrüche« an, und die Statistik wies eine besonders wachsame Arbeit der Halberstädter Grenzorgane aus. Auf diese Weise wurde der Plan erfüllt und die Bedeutung ihrer Tätigkeit nachgewiesen; vielleicht führten die vielen verhinderten Fluchten auch zu einer finanziellen Anerkennung der Mitarbeiter der Kreisdienststelle. Grenzdurchbrüche und Fluchten im Kreis standen bald nicht mehr im Vordergrund der Aufmerksamkeit zuständiger Organe. 47 Die Problemlage änderte sich. Ab den 1970er Jahre beschäftigten die Grenzsicherung der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises Halberstadt ganz andere Fragen. Die Grenze von West nach Ost wurde schon wenige Jahre nach dem Mauerbau durchlässiger, denn Bürger der Bundesrepublik Deutschland konnten mithilfe eines Tagesvisums in die DDR einreisen. Für den Kreis Halberstadt brachte die Einführung des sogenannten kleinen Grenzverkehrs im Jahr 1972 und in der Folgezeit einige Unruhe. Zum einen rückte der Westen in Gestalt von Besuchern, auch ganzer Besuchsgruppen, plötzlich wieder viel näher, zum anderen hatte es zunächst die irrtümliche Hoffnung im Kreis Halberstadt gegeben, dass nun auch für die DDR-Bürger die Grenze durchlässiger werden würde. 48 Der Besucherstrom war groß, von April 1974 bis März 1975 reisten fast 28 000 Personen aus der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin in den Kreis Halberstadt ein. 49 Die Tätigkeit der Halberstädter Volkspolizei, der Grenzsicherungsorgane und der MfS-Kreisdienststelle bestand im intensiven Überprüfen und Überwachen der westdeutschen Besucher, vor allem ihrer Kontakte zu den ansässigen Bürgern. Über solche Einreisen von Westbürgern 45 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AKG, Nr. 1792, Bl. 17. 46 Vgl. auch Die Innerdeutsche Grenze im Landkreis Wernigerode, S. 25. 47 Lage an der Staatsgrenze, Schwerpunkte 1977–1981; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702. 48 Vgl. Münkel: Staatssicherheit in der Region. Die geheimen Berichte der MfSKreisdienststelle Halberstadt an die SED. In: DA 43(2010)1, S. 36–37. 49 Einschätzung über Umfang, Intensität und Auswirkungen der Ein- und Ausreisetätigkeit im Zeitraum v. 1.4.1974–31.3.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 332.
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sowie über ein zunächst meist zufälliges Zusammentreffen mit Westdeutschen im Rahmen einer Auslandsreise nach Ungarn oder in die ČSSR entstanden die von Staatswegen so gefürchteten Ost-West-Freundschaftsbeziehungen. Einige Jahre später waren es Bau- und Montagearbeiter aus dem westlichen Ausland, die auch im Kreis Halberstadt in ihrer Freizeit Kontakte zur Bevölkerung knüpften. In den monatelangen Wartezeiten auf die Ausreise waren diese Freundschaften eine wichtige moralische und politische Stütze für die Antragsteller. Einige Halberstädter Frauen verlobten sich mit Arbeitern aus der Bundesrepublik oder Schweden und stellten nach deren Rückkehr in den Westen einen Antrag auf Ausreise zum Zwecke der »Familienzusammenführung«. Aber auch von Ost nach West begann die 1961 geschlossene Grenze infolge verschiedener staatlicher Erlasse für bestimmte Personenkreise durchlässiger zu werden. Seit 1964 durften DDR-Rentner – also Frauen über 60 und Männer über 65 Jahren – bald auch mehrmals im Jahr in den Westen reisen. Das führte zu einer Flut von Besuchsanträgen in den Abteilungen für Genehmigungswesen der Pass- und Meldestellen der Kreisämter. Monatlich stellten zwischen 500 und 1 500 Personen aus dem Kreis Halberstadt einen Besuchsreiseantrag. Anfang der 1970er Jahre kamen Besuchsgenehmigungen für Bürger der DDR hinzu, die in sogenannten dringenden Familienangelegenheiten – wie dem Tod eines nahen Verwandten – erstellt wurden. 50 Den größten Anteil daran hatten die Rentnerreisen. 51 Die Rentner kamen in der Regel mit vollen Taschen und der Botschaft zurück, dass es »drüben« einfach alles gäbe, was angesichts des permanenten Mangels in der DDR seine Wirkung zeigte. Von diesen Besuchsreisen kehrte eine Reihe von DDRBürgern, darunter auch Halberstädter, regelmäßig nicht mehr zurück. Dieser Umstand hatte konkreten Einfluss auf die Antragsteller auf Ausreise. Viele Antragsteller aus dem Kreis begründeten in den 1970er und 1980er Jahren ihr Begehren mit Fürsorgepflichten gegenüber den erkrankten Eltern im Westen. Hinzu kam die Genehmigungspraxis für Rentner, Invaliden und einige Fälle von Familienzusammenführungen. Eine »[z]ahlenmäßige Aufstellung von genehmigten Übersiedlungen in die BRD ab 1961 bis 1970« der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises Halberstadt belegt für diesen Zeitraum, dass 1 182 Alters- und Invalidenrentner, 36 Jugendliche und Kinder bis zu 18 Jahren sowie 13 Personen »im staatlichen Interesse« in den Westen übergesiedelt waren. 52 Die »Verbleiber«, wie das MfS jene nannte, die nach
50 Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 84 f. u. 184. 51 Im Bezirk Magdeburg lag ihr Anteil in den Jahren 1974 und 1975 bei 93,77 %. Vgl. Einschätzung über Umfang, Intensität und Auswirkungen der Ein- und Ausreisetätigkeit im Zeitraum v. 1.4.1974–31.3.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 335. 52 RdK Halberstadt, Abt. I A, an RdB Magdeburg, Abt. I A, 6.4.1971; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Akte Nr. 112, o. Pag. Selbst bei den Rentneranträgen
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Ausreise per Antrag
einer Besuchsreise nicht in die DDR zurückgekehrt waren, die tatsächlich Ausgereisten und die zuvor Geflohenen wurden so etwas wie eine »Vorhut« für die am Ende der 1970er Jahre anwachsende Gruppe von Antragstellern auf ständige Ausreise aus der DDR.
gab es diverse Ablehnungen, etwa wegen SED-Zugehörigkeit. Vgl. Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Akte Nr. 112, o. Pag.
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Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
3.1
Antragstellungen in den 1970er und 1980er Jahren
Dieser historische Exkurs in die Entwicklung an der innerdeutschen Grenze zeigt eindrucksvoll, wie eng die Beziehungen zwischen Ost und West stets gewesen waren. Zu jeder Zeit gab es auch im Kreis Halberstadt verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen alter und neuer Provenienz zum Westen, die intensiv gepflegt wurden. Und selbst nachdem die geschlossene Grenze ein direktes Durchkommen von DDR-Bürgern unmöglich gemacht hatte, entwickelte sich rasch ein Informations- und Beziehungsnetz, maßgeblich getragen von jenen, die die Bundesrepublik besuchen konnten sowie den »von drüben« in die DDR einreisenden Verwandten und Freunden. Die günstigeren Einreisebedingungen nach Ungarn oder in die ČSSR ermöglichten Treffs mit vor Jahren Ausgereisten, die eine Reihe von Halberstädtern in den 1970er Jahren zur Beziehungspflege nutzte. Ohne Kenntnis dieser Vorgeschichte, die trotz mehr als widriger Umstände eine erstaunliche Kontinuität in den Beziehungen von Ost- und Westdeutschen aufzeigt, bliebe unerklärlich, warum derart viele »unbescholtene« Bürger einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellten und damit ihrem Leben häufig eine dramatische Wendung gaben. Dennoch bedurfte es darüber hinaus einer gesellschaftlich veränderten Situation, die den Anstoß dafür gab, das Bedürfnis nach offenen Grenzen mittels einer »rechtswidrigen Antragstellung« auf Ausreise geltend zu machen. Zurecht wird darauf verwiesen, dass die veränderte Außenpolitik der Honecker-Regierung, die sich 1972 mit dem Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR, mit der Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen und 1975 mit der Unterzeichnung des Abschlussdokumentes der KSZE-Konferenz in Helsinki nun in einem international anerkannten menschenrechtlichen Kontext wiederfand, ein Anstoß für die bald massenhaften Antragstellungen gewesen war. 1 Und dies unabhängig davon, dass selbst Korb III der Schlussakte von Helsinki lediglich Forderungen wie »Direktbeziehungen, menschliche Kontakte, Familienzusammenführungen, Erleichterungen von Eheschließungen« enthielt, aber keine rechtlichen
1 Eisenfeld: Reaktionen der DDR-Staatssicherheit auf Korb III des KSZE-Prozesses. In: DA 38(2005)6, S. 1000–1008.
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Ausreise per Antrag
Verbindlichkeiten. 2 Dennoch zitierten auch die Halberstädter Antragsteller Passagen aus diesen Dokumenten, sie beriefen sich auf die darin enthaltenen Verpflichtungen und leiteten aus ihnen die Rechtmäßigkeit ihres Begehrens ab. Der Abdruck des Schlussdokumentes von Helsinki im Neuen Deutschland lieferte dafür die »Steilvorlage«. 3 Allerdings waren die »gelernten« DDR-Bürger stets und ständig mit dem Widerspruch zwischen offizieller Ideologie und Realität konfrontiert; vor einem solchen Hintergrund ist es bemerkenswert, dass sie in dieser Sache die Politiker nicht nur beim Wort nahmen, sondern sich auch Erfolg versprachen. 4 Es war letztlich ein veränderter innenpolitischer Umgang mit »Ausreisewilligen«, der berechtigten Anlass für solche Hoffnungen gab. Für eine bestimmte Personengruppe hatte sich zu Beginn der 1970er Jahre die Zahl der Genehmigungen einer endgültigen Ausreise in die Bundesrepublik erhöht. 5 Interne Anweisungen des Ministers des Innern und des Chefs der Deutschen Volkspolizei an die Abteilung Inneres bei den Räten der Kreise legten fest, dass Rentner, Invaliden sowie Personen, die ihren Antrag mit einer besonders definierten Art der Familienzusammenführung begründen konnten und bei denen keine »Versagensgründe« vorlagen, eine solche erhalten können. 6 Der Zeitpunkt für die Ministeranweisungen war nicht zufällig gewählt, denn die DDR hatte sich mit den innerdeutschen Verträgen und der Einrichtung von westlichen diplomatischen Vertretungen und Konsulaten auf ihrem Territorium in eine Situation gebracht, die sie zwang, ihre bisherige Praxis der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft zu überprüfen und zu modifizieren. 7 Es 2 Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 57 f. 3 ND v. 2./3.8.1975, S. 5–10. 4 Eine repräsentative Befragung aus den 1990er Jahren hat ergeben, dass nur für die Hälfte der Probanden die internationalen Verträge eine Rolle für ihre Antragstellung gespielt hätten. Das ist bemerkenswert, da vorrangig politisch Oppositionelle befragt worden waren. Vgl. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 33 f. 5 Dies stellte auch die Regierung der Bundesrepublik fest. Siehe Vorlage des Referats III B4 an den Leiter der Abteilung III des Bundesnachrichtendienstes Pullach, 10.1.1975. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, VI. Reihe, Bd. 4, 1. Januar 1975 bis 31. Dezember 1976. Bearb. v. HansHeinrich Jansen, Monika Kaiser in Verbindung mit Daniel Hofmann. München 2007, S. 9–11. 6 Vgl. dazu Anweisung Nr. 042/71 v. 15.1.1971. In: BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10746, Bl. 1–8; Anweisung Nr. 042/71 in der Fassung v. 16.3.1972. In: MfS, BdL/Dok., Nr. 10743, Bl. 1– 10; Anweisung Nr. 042/71 in der Fassung v. 6.6.1973; MfS, BdL/Dok., Nr. 10744, Bl. 1–25. Die Eheschließungen waren bereits 1968 in der Anweisung Nr. 03/68 des Ministers des Innern und Chef der Deutschen Volkspolizei geregelt. Erst 1983 wurden die bislang in internen Anweisungen des Ministeriums des Innern verfügte Umgang in Sachen Familienzusammenführung zum Gesetz. Vgl. Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern v. 15.9.1983. In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 150–152. 7 Überprüft und präzisiert wurde 1971, 1972 und 1973 auch im Rahmen interner Anweisungen das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1965. Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 130–131, 135 f.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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wurden genaue Kriterien festgelegt, wer zu den Begünstigten gehörte. So musste ein Antragsteller im Falle der Invalidität nachweisen können, dass seine Arbeitsunfähigkeit nicht nur temporär, sondern bis zum Eintritt in das Rentenalter Bestand haben würde. Einer besonders spitzfindigen Prüfung unterzog man vor allem die Familienzusammenführungen, die nur unter ausgewählten Umständen genehmigt wurden und eine unverhohlene Praxis der Selektion unliebsamer oder dem Staat Kosten verursachender Mitbürger belegen. So durften Kinder unter 16 Jahren nur dann zu ihren vor 1961 in den Westen geflohenen Eltern übersiedeln, wenn sie »– körperliche oder geistige Gebrechen besitzen, – an chronischen Erkrankungen leiden, – Hilfsschüler sind oder erhebliche Erziehungsschwierigkeiten bereiten, die das Heimkollektiv gefährden und von denen eine positive Entwicklung nicht zu erwarten ist.« 8 Zweifellos versuchte die DDR auf diesem Weg einerseits internationale Anerkennung zu gewinnen, andererseits die ihnen als »wertlos« erscheinenden Alten, Kranken oder »schwierigen Kinder« loszuwerden. 9 Der aufmerksame Zeitgenosse konnte jedoch beobachten, dass nicht nur die Genehmigungen für diesen Personenkreis zügiger erteilt wurden, sondern bemerkte auch, dass hin und wieder Menschen ausreisten, auf die solche Merkmale gar nicht zutrafen. Tatsächlich enthielt der interne Kriterienkatalog eine Anordnung, nach der Personen auch dann ausreisen durften, wenn dies »bedeutsame Vorteile für die DDR« verspräche oder Schaden von der DDR abwenden helfe. 10 Mit dieser in Ziffer 11 der Anweisung des DDR-Innenministers vom Januar 1971 gefassten Begründung für die Ausreisegenehmigung war der staatlichen Willkür Tür und Tor geöffnet. 11 Die ganze Ausreiseprozedur blieb für die Betroffenen bis zum Ende der DDR Teil einer undurchsichtigen Herrschaftspraxis, deren Handhabung nur durch Erfahrungen anderer Antragsteller und durch westliche Medien nachvollziehbar wurde. Zudem war mit diesen intern aufgestellten Kriterien keiner-
8 Anweisung Nr. 042/71 des Ministers des Innern und des Chefs der DVP über die Bearbeitung und Entscheidung von Anträgen zur Übersiedlung von Bürgern der DDR nach der westdeutschen Bundesrepublik und der selbstständigen politischen Einheit Westberlin, 15.1.1971; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10746, Bl. 2 9 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 801, Bl. 280. 10 Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 24. 11 Die Fassung der Anweisung 042/71 vom Juni 1973 enthält ein Formular, das es den Bearbeitern in den Kreisen ermöglichte, einen Vorschlag zur Übersiedlung zu begründen, ohne das eines der bisherigen Kriterien wie Invalidität, Rentnerstatus oder Familienzusammenführung erfüllt sein musste. Hier sollte die Ziffer 11 greifen, eben das Interesse der DDR, diesen Bürger in den Westen zu entlassen. Vgl. Anweisung Nr. 042/71 in der Fassung v. 6.6.1973; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10744, Bl. 20 f.
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Ausreise per Antrag
lei Rechtsgrundlage für eine Antragstellung geschaffen, sie galt weiterhin grundsätzlich als »rechtswidrig«. 12 Seit Juni 1973 wurden die Bezirke und Kreise zur Gründung von Arbeitsgruppen angewiesen, die sich vor allem mit den Vorschlägen und Entscheidungen von »Sondergenehmigungen« gemäß Ziffer 11 zu beschäftigen hatten. 13 Auch im Kreis Halberstadt nahm die Abteilung Innere Angelegenheiten ihre Arbeit auf und informierte monatlich den Bezirk über den Stand der Antragsstellungen im Kreis. Den ersten registrierten Fall einer Antragstellung nach Ziffer 11 beschied die Abteilung im Berichtsmonat Juni 1973 ablehnend, da kein staatliches Interesse an der Ausreise dieser Personengruppe bestand. 14 Die zuständige Abteilung in Halberstadt zeigte sich allerdings weder besonders eifrig, die ministeriell angewiesene Arbeitsgruppe einzurichten, noch die monatliche Berichterstattung an den Bezirk abzuliefern. Gründe dafür mögen zum einen auf der personellen Führungsebene gelegen haben: Der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten wurde 1979 abgelöst. 15 Zum anderen lag die Zahl der Antragstellungen, die einer besonderen Behandlung bedurften, im Kreis Halberstadt zunächst recht niedrig. Im Oktober 1974 teilte die Kreisdienststelle des MfS Halberstadt mit, dass insgesamt 28 Personen in den letzten zwei Jahren einen Antrag auf »Übersiedlung in die BRD« gestellt hätten. Da sich unter ihnen noch sieben Rentner befanden, reduziert sich die Anzahl der Personen, die nach Ziffer 11 überprüft werden mussten, auf 21. 16 Dies änderte sich jedoch ab 1975. 17 Am Ende des Jahres 1976 beliefen sich die vorhandenen Anträge zur Übersiedlung im Rat des Kreises auf über 170. 18 12 In den ersten Jahren scheint es häufig vorgekommen zu sein, dass der Bezirk die Vorschläge zur Neubearbeitung zurückschickte oder ablehnte. Die Mitarbeiter der Abt. Innere Angelegenheiten saßen dann wütenden Bürgern gegenüber und teilten ihnen Entscheidungen mit, die sie nicht getroffen hatten. Vgl. Bericht über die Entwicklung der Übersiedlungen im Monat Dezember 1975, 12.1.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 311. 13 Anweisung Nr. 042/71 in der Fassung v. 6.6.1973; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10744, Bl. 3. 14 Archiv RdK Halberstadt, Abt. Inneres, Nr. 16817/1, 2 Blätter. 15 Eine vernichtende Kritik der Person und der Arbeit des Leiters der Abt. I A in Halberstadt durch die KD für Staatssicherheit Halberstadt führte offensichtlich zur Amtsenthebung. Vgl. KD MfS Halberstadt an den Vorsitzenden des RdK Halberstadt, 9.5.1978; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Vorsitzender, Akte Nr. 11695, 6 Seiten o. Pag. Nach dem »Genossen« Möcker übernahm der »Genosse« Bischoff die Abt. I A in Halberstadt. 16 Angestellte (4), Intelligenz (1), Lehrlinge (2) Arbeiter (12) Rentner (7) ohne Arbeit (1) Ordensschwester (1). KD Halberstadt an BV Magdeburg, 23.10.1974; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 343 f. 17 Bericht über die Tätigkeit der Arbeitsgruppe Übersiedlung im Kreis Halberstadt sowie die Entwicklung der Antragstellungen im Zeitraum v. 20.5.1975–30.6.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 323–329. 18 Vgl. Bericht über die Entwicklung der Übersiedlungen im Monat Dezember 1975, 12.1.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 311–318. Nicht berücksichtigt worden seien hierbei »die Bürger, die wiederholt einen Antrag stellen, da die Erfassung nur einmal erfolgt«. Ebenda, Bl. 311. Außerdem RdK Halberstadt, Abt. I A, Analyse über die Entwicklung der
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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Insgesamt wurden zwischen 1973 und 1979 im Kreis Halberstadt 219 Erstanträge auf Übersiedlungsersuchen mit 440 Personen gestellt. 19 Aufgrund der anfänglich sehr restriktiven Genehmigungspraxis sah sich die Abteilung Innere Angelegenheiten mit einer Flut von Anträgen konfrontiert und mit Antragstellern, die zum Teil wöchentliche Eingaben schrieben und sich immer zahlreicher über die Arbeitsweise des Rates des Kreises bei übergeordneten Stellen beschwerten. Der von der Abteilung Inneres und der Staatssicherheit gewählte Begriff des »hartnäckigen Übersiedlungsersuchers« war aus deren behördlicher Perspektive durchaus treffend. Die Hälfte aller Antragsteller erneuerte dauerhaft ihr Begehren und beharrte trotz Ablehnung auf ihrem Anliegen. Ein Teil der Antragsteller, die in den 1970er Jahren zur Begründung ihrer Ausreisevorhaben mit einem pflegebedürftigen Angehörigen im Westen argumentiert hatten, zog den Antrag zeitweise zurück bzw. ließ ihn ruhen, um nach einigen Jahren einen neuen Antrag zu stellen. In der für diese Studie erstellten Statistik 20 haben 23 Prozent der Antragsteller aus den 1970er Jahren ihre Antragstellung in den 1980er Jahren – nun oft in einer anderen familiären Situation – als Zweitantragstellung wiederholt. Familie Grüning etwa hatte ihren ersten Antrag bereits 1976 gestellt und ihn mit der Pflegebedürftigkeit des Bruders von Herrn Grüning begründet. Die Abteilung Inneres des Rates des Kreises Halberstadt lehnte »endgültig« ab, der Abschnittsbevollmächtigte hatte ihr geschrieben, dass der Bruder so pflegebedürftig gar nicht sei. Das Ehepaar zog daraufhin den Antrag zurück, um ihn 13 Jahre später noch einmal zu stellen, diesmal ohne den Sohn, der inzwischen in den Westen geflohen war. Im April 1989 reisten Grünings in den Westen aus. 21 Andere benutzten ihre Antragstellung als »letztes Mittel«, eine Besuchsreise in den Westen oder die Einreise von Verwandten in die DDR durchzusetzen. Oft waren sie verzweifelt, denn in der Regel war einem so begründeten Ausreiseantrag ein jahrelanges Warten auf die Genehmigung für einen Besuch vorausgegangen. Solche Beispiele zeigen, dass es nicht leicht fiel, die Antragstellung als Druckmittel zu benutzen. Der Schritt war mit existentiellen Ängsten verbunden, zumal die Reaktion der Staatsmacht unberechenbar erschien und die Folgen einer Antragstellung für die Familien nicht kalkulierbar waren. Nur wenige Antragsteller – das galt für die 1970er wie für die 1980er Jahre – verAntragstellungen zur Übersiedlung nach der BRD/WB im I. Quartal 1976 im Kreis Halberstadt, 20.4.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 266–277. Die Zahl der Antragstellungen hatte sich im Kreis Halberstadt in vier Jahren auf 250 erhöht. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 349–353, 199, 196, 193 u. 201. 19 Nicht immer ist die Anzahl der Personen ausgewiesen. Vgl. Jahreseinschätzungen 1978 und 1979; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115 u. 99. 20 Die Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3) ist als Exceldatei erstellt worden und umfasst 860 Erwachsene und Kinder, die in einer Antragstellung registriert wurden. Vgl. auch Kapitel 3.1 in diesem Band. 21 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA, Nr. 17079.
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Ausreise per Antrag
banden ihren Antrag mit einer ganz konkreten Forderung, etwa der nach einer Wohnung oder einem besseren Arbeitsplatz. Die Lebenssituation war in solchen Fällen tatsächlich dramatisch, wie selbst die Mitarbeiter im Rat des Kreises anerkennen mussten. Mit der Antragstellung wurde nie leichtfertig umgegangen. 22 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass eine ungenügend formalisierte Bearbeitung einerseits und fehlende Erfahrung der Antragsteller damit, welche Begründung Erfolg versprechend sein könnte, andererseits für die ersten Jahre nach 1973 ein spezifisches Verhältnis zwischen der Bevölkerung und den staatlichen Vertretern vor Ort schufen. Eine starke Personalisierung und damit ein besonders hoher Grad an Willkür und Zufälligkeit der Entscheidungen scheinen in dieser Zeit das Verhältnis der Antragsteller zur Staatsmacht in Halberstadt bestimmt zu haben. Im August 1973 flieht die ältere Tochter des Ehepaares Liebig über Ungarn in den Westen. 23 Frau Liebig stellt 1975 und 1976 im Rat des Kreises Halberstadt mehrere Anträge auf eine Besuchsreise zu ihrer Tochter, die inzwischen ein Kind bekommen hat. Weil diesen nicht stattgegeben wird, stellt Herr Liebig für sich und seine Frau sowie die damals 12-jährige zweite Tochter einen Antrag auf Übersiedlung. In den Akten der Kreisdienststelle des MfS Halberstadt ist vermerkt, dass Frau Liebig diesen Schritt auf Anraten der zuständigen Behörden getan hätte: »Auf die Frage, welche Möglichkeit besteht, ihre Tochter einmal wiederzusehen, wurde ihr von den betreffenden Genossen der Abt. PM [Pass- und Meldewesen, RH] gesagt, dass es nur mit einem Antrag auf Übersiedlung möglich wäre, welchen sie beim Rat des Kreises, Abteilung Inneres stellen müsste.« 24 Die »betreffenden Genossen« im Rat des Kreises hatten augenscheinlich voreilig gesprochen. Denn nach der Antragstellung der Familie Liebig beginnt eine zweijährige Wartezeit, in der es zu ablehnenden Bescheiden kommt. Frau Liebig, die die eigentlich treibende Kraft einer Übersiedlung ist, reagiert immer verzweifelter. Sie ist – auch aufgrund der entgegenkommenden Haltung im Kreis – offensichtlich überzeugt davon, hier ein ganz normales Anliegen vorzutragen. Sie beharrt darauf, dass es nur menschlich sei, wenn eine Mutter zu ihrer Tochter wolle, den Enkel kennen lernen und betreuen. Das Ehepaar verfasst verschiedene Schreiben an das Innenministerium der DDR, an Erich Honecker, an den Vorsitzenden des Ministerrates sowie an den Bischof der evangelischen Landeskirche von Magdeburg. Sie betonen stets, man solle ihre »Angelegenheit rein menschlich« betrachten, und führen aus, dass es keine politischen Gründe für sie gebe, die DDR verlassen zu wollen. Sie vermeiden jede Aggressivität. Frau und Herr Liebig nehmen wiederholt die Sprechzeiten in der Abteilung Inneres des Rates des Kreises Halberstadt wahr, wo sie versuchen, die Mitarbeiter zu einer positiven Entscheidung zu bewegen. Frau Lie22 Beispiel dafür, dass das Wohnungsproblem vom RdK gelöst wurde, der Antragsteller aber bei seinem Antrag bleibt; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOPK, Nr. 1612/83. 23 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA, Nr. 7368 u. 12201. Siehe auch Interview mit Martha, Heinz und Margrit Liebig, 24.11.2009, Transkript, S. 1–16. 24 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA, Nr. 12201, Bl. 32.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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big bringt Blumen mit, einmal ein schönes Stück Seife, sie hofft auf Verständnis bei den Mitarbeitern. Es hat sogar den Anschein, dass in der Abteilung Inneres ein solches vorhanden ist. Deren erster »Vorschlag«, die Familie ausreisen zu lassen, wird vom Bezirk abgelehnt, da die Tochter die DDR illegal verlassen habe. Frau Liebig ist verzweifelt, sie droht 1977 mit einem Suizid. Das Ehepaar hat das Gefühl großer Ungerechtigkeit, man behandle sie wie Verbrecher, obwohl sie das »Normalste von der Welt« wollten: Die Familie wieder zusammenzubringen. 25 Die Abteilung Innere Angelegenheiten begründet ihren Vorschlag zur Genehmigung mit der großen Gefahr, die von Frau Liebig und ihrem angedrohten Suizid ausgehe. Am 2. Mai 1978 genehmigt die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Magdeburg als Ausnahmefall den »legalen Verzug« der Familie Liebig. 26
Das Verhalten aller Beteiligten im Rahmen der geschilderten Antragstellung ist in dieser Weise nur für die 1970er Jahre denkbar. Einige Mitarbeiter im Rat des Kreises kannten die Familie Liebig, wussten um das besonders enge Verhältnis zwischen Mutter und Tochter, in anderen Fällen gingen die Kinder gemeinsam in die Schule oder den Kindergarten. Das führte offensichtlich vor allem in den 1970er Jahren dazu, dass der Umgang »persönlicher« war und stärker noch als in den Folgejahren von der Sympathie oder Antipathie des Bearbeiters abhing, der zwar nie eine Entscheidung zu treffen, jedoch gegenüber dem Bezirk Vorschlagsrecht hatte und entsprechende Begründungen formulieren konnte. Insgesamt entsteht gerade für die Zeit bis 1980 der Eindruck, dass viele Antragsteller die Mitarbeiter der zuständigen Abteilung persönlich für die Ablehnung verantwortlich machten, ihre Kompetenzen anzweifelten und sich sogar an anderer Stelle über sie beschwerten. 27 Zwei Antragsteller stellten gegen den Abteilungsleiter Strafantrag beim Kreisstaatsanwalt wegen Verstoßes gegen die Verfassung und wegen Einschränkung der Menschenrechte. Andere unterstellten »Kopfgeld« für jeden abgewiesenen Antragsteller oder beschwerten sich über das unflätige Benehmen und dumme Gerede während der Sprechzeiten. 28 Die abgewiesenen Antragsteller gingen fälschlicherweise davon aus, dass über ihre Anträge im Rat des Kreises entschieden werde und der Mitarbeiter, wenn er denn nur wolle, eine Genehmigung erteilen könne. Diese Annahme ist in den 1980er Jahren seltener anzutreffen.
25 Ebenda, Bl. 14. 26 Ebenda, Bl. 102. 27 In den ersten Jahren registrierte die Abt. Inneres besorgt, dass »die Bürger versuchten, die Ausführungen der betreffenden Mitarbeiter als verbindlich hinzustellen, wie z. B. ›die Übersiedlung wurde mir schon im November versprochen‹«. RdK Halberstadt, Abt. I A: Analyse über die Entwicklung der Antragstellungen zur Übersiedlung nach der BRD/WB im II. Quartal 1976 im Kreis Halberstadt, 15.7.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 294. 28 Ebenda, Bl. 295–297.
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Ausreise per Antrag
Im Juni 1975 fiel die Bilanz der Tätigkeit der »Arbeitsgruppe Übersiedlung« im Kreis Halberstadt niederschmetternd aus. 29 Sprunghaft angestiegene Zahlen von Antragstellern führten dazu, dass die Arbeitsgruppe die in persönlichen Gesprächen jedem Antragsteller zugesicherte Entscheidungsfrist von zwei bis drei Monaten nicht einhalten konnte. In dem Bericht wird darüber hinaus deutlich, dass deren Mitarbeiter eigentlich gar nicht entscheidungsfähig waren, da ihnen oft kein »Material [vorlag], welches zur Begründung entsprechend des Vorschlages nach der Ziffer 11 verwendet werden kann.« 30 Die zuständige Arbeitsgruppe konnte so ihre Vorschläge nicht einreichen, der Bezirk nicht fristgemäß entscheiden. Die Folge war eine Flut von Neu- bzw. Wiederholungsanträgen, von Beschwerden und Eingaben. Seit 1975 beriefen sich Antragsteller in ihren Eingaben auf die Schlussakte von Helsinki: »So unter anderem Frau S., die zum Ausdruck brachte, wenn unsere Regierung dieses Dokument unterzeichnet hat, muss sie auch für deren Verwirklichung einstehen.« 31 1977 registrierte der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten in Halberstadt besorgt, dass sich Antragsteller an die westliche Öffentlichkeit wenden wollten. 32 Es gebe Bürger, die nach einer Ablehnung »ihr Anliegen mit allen Mitteln durchsetzen wollen (Hinweise auf Schreiben an die UNO, an diplomatische Vertretungen in der DDR und dgl.)« 33 Für die Staatssicherheit war spätestens dies ein Signal, die »Feindtätigkeit« des Antragstellers gründlicher zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Nach den Jahren 1975 und 1976 ebbte auch in Halberstadt die Anzahl der neuen Antragstellungen ab. Erst 1984 stieg, wie in der gesamten DDR, deren Zahl sprunghaft an. In diesem Jahr waren ungewöhnlich viele Anträge genehmigt worden, um die Situation zu entspannen, doch war hierdurch ein gegenteiliger Effekt, nämlich eine Sogwirkung eingetreten. 34 Die neue Reiseverordnung vom 1. Januar 1989 (RVO) ließ dann die Zahl der genehmigten Übersiedlungen in eine bis dahin noch nicht da gewesene Höhe schnellen, was den Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises veranlasste, sich wieder stärker der Aufgabe einer »Rückgewinnung« zu widmen. 29 Bericht über die Entwicklung der Übersiedlungen November 1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 315. 30 Bericht über die Tätigkeit der Arbeitsgruppe Übersiedlung im Kreis Halberstadt sowie die Entwicklung der Antragstellungen im Zeitraum v. 20.5.1975–30.6.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 323–329, hier 323 f. u. 315. 31 Bericht über die Entwicklung der Übersiedlungen im Monat Dezember 1975, Halberstadt 12.1.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 323–329. 32 Jahreseinschätzung 1978 im Sektor Staatsbürgerschaftsfragen; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, AG Statistik, Sign. 115, o. Pag. 33 Grundsätze zur wirksamen Verhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten und provokatorischen Handlungen in der Öffentlichkeit, 8.11.1974; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 15034, Bl. 6. 34 Vgl. Eisenfeld: Strategien des Ministeriums für Staatssicherheit, S. 6–18.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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Antragstellungen und Ausreisen im Kreis Halberstadt 1973–1989 300 Antragsstellungen
250
Ausreisen 200 150 100 50 0
1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989
Einige Halberstädter Antragsteller, die bereits viele Jahre auf ihre Ausreisegenehmigung gewartet hatten, nutzten die Flucht über eine Botschaft, ebenso einige junge Leute, die bisher keinen Antrag gestellt hatten. Im März 1989 registrierte die zuständige Abteilung 14 Personen, darunter neun Antragsteller, die über die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ostberlin bzw. die Botschaft der Bundesrepublik in Prag in den Westen gelangt waren. 35 Im Oktober waren es insgesamt 109 Personen aus Halberstadt, darunter 30 Antragsteller, die diesen Fluchtweg nutzten. Mit der Maueröffnung am 9. November 1989 war für die Betroffenen die dramatische Geschichte der Antragstellung auf Ausreise aus der DDR beendet. Ungeachtet dessen traf die Abteilung Innere Angelegenheiten weiterhin Entscheidungen über Anträge auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft. Die letzte Information des stellvertretenden Vorsitzenden für Inneres an den Rat des Bezirkes datiert vom 27. Dezember 1989, sieben Wochen nachdem die Mauer an der innerdeutschen Grenze gefallen war. Von den zu diesem Zeitpunkt registrierten 275 Antragstellern im Kreis Halberstadt waren in diesem Quartal 217 ausgereist, für 50 Personen hatte sich der Antrag offensichtlich erledigt, zwölf Personen waren zurückgekehrt. 36 35 RdK Halberstadt, Stellv. d. Vors. f. Inneres: Information zur Entwicklung bei der Zurückdrängung der Antragstellungen auf ständige Ausreise, 13.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. 36 Der Rat des Kreises bearbeitet noch 16 Anträge. Interessant ist, dass diese Information eine Person i. V. unterschreibt. War vielleicht der Amtsträger nicht mehr im Amt? Vgl. RdK Halberstadt,
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Ausreise per Antrag
Im gesamten Zeitraum zwischen 1973 bis 1989 sind im Kreis Halberstadt 819 Anträge gestellt worden. 37 Gut die Hälfte der Anträge wurde genehmigt, davon allein 261 im Jahr 1989. Das letzte Jahr der DDR unterschied sich in jeder Hinsicht, auch in Bezug auf die Antragstellungen, von den vorangegangenen, welche jedoch die eigentliche Basis für Aussagen über die Situation der Antragsteller darstellen. Danach wurden bis einschließlich 1988 im Kreis Halberstadt 558 Anträge auf Ausreise gestellt, von denen 188 genehmigt worden sind. Das waren 38 Prozent aller Antragstellungen. Die 62 Prozent, die nicht in den Westen ausreisten, teilten sich in zwei Gruppen: Jene Antragsteller, die, meist nach der ersten Ablehnung, ihren Antrag wieder zurückzogen, nicht mehr aktiv wurden, verstarben oder verzogen, und solche, die als »hartnäckige Antragsteller« trotz Ablehnung bei ihrem Begehren blieben, aber keine Genehmigung erhielten. Letztere Gruppe umfasste im Kreis Halberstadt insgesamt 155 Antragstellungen mit etwa 350 Personen. 38 Den Kreis jener Personen zu beschreiben, die ihren Antrag zurücknahmen oder ohne weitere Aktivitäten ihre Antragstellung ruhen ließen, fällt angesichts der Aktenlage schwer. Ein Teil wird aus Angst vor einer Haft zurückgezogen haben, ein anderer Teil hatte resigniert, für einige gab es den Anlass nicht mehr, der zu einer Antragstellung geführt hatte oder die familiären Verhältnisse hatten sich inzwischen geändert. Die Abteilung Inneres hat die Gründe nicht erfasst, die zur Rücknahme führten. Nur ausnahmsweise finden sich entsprechende Bemerkungen in den Akten: So erfahren wir im Rahmen einer »Aufstellung der Ersucher, denen seit dem 29. September 1987 Ablehnungen ausgesprochen wurden und deren Reaktionen darauf« von drei Antragstellern, die die Ablehnung akzeptierten und von zwei Antragstellern, die keine Reaktionen zeigten. In den ersten drei Fällen scheint es um die Lösung eines Wohnungsproblems, eine Meisterqualifizierung und um die »Aufnahme eines ARV« gegangen zu sein. Alle anderen 26 Abgelehnten blieben bei ihrem Be-
Stellv. d. Vors. f. Inneres, 27.12.1989; Archiv RdK Halberstadt, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag. 37 Wie in der DDR insgesamt gab es auch im Kreis Halberstadt einige Jahre, in denen jeweils ein Anstieg der Zahl von Antragstellern zu verzeichnen war: 1975/76, 1983, 1984 und vor allem 1989. Die Gründe sind überregionaler Natur und in erster Linie im Verhalten der Staatsmacht zu suchen, die ihre Taktik gegenüber den Antragstellern änderte und somit Hoffnungen auf eine positive Bearbeitung weckte. In solchen Augenblicken aktivierten auch jene Personen ihren Antrag, die ihn zwischenzeitlich hatten ruhen lassen. Die Zweitanträge machten ca. 23 % aus, das heißt, jede fünfte Antragstellung wurde nach jahrelanger Pause reaktiviert. In Halberstadt gab es die meisten Zweitanträge in den Jahren 1978 und 1984. 38 Die Anzahl der sogenannten Rücknahmen schwankte in Halberstadt wie in der DDR insgesamt von Jahr zu Jahr erheblich. Im DDR-Durchschnitt wurden 8 % aller Antragstellungen wieder zurückgenommen, im Kreis Halberstadt – für den nicht für alle Jahre Zahlen vorliegen – ergibt die Hochrechnung einen etwas höheren Anteil. Vgl. Eisenfeld: Die zentrale Koordinierungsgruppe, S. 50, sowie Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 616.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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gehren und kündigten weitere Schritte an. 39 Weder die Staatssicherheit noch der Rat des Kreises waren daran interessiert, dass in der Bevölkerung der Eindruck entstehen könne, man würde mithilfe eines Ausreiseantrags sein Wohnungs- oder Arbeitsplatzproblem lösen. Die Begünstigten schwiegen offenbar auch. Für einige Antragsteller hatten eine Scheidung oder eine Verlobung die Ausgangssituation geändert. Welche Motive die übrigen »Rücknehmer« hatten, lässt sich nicht mehr ermitteln. Als Rücknahme wurde unter Umständen auch gewertet, wenn der Antragsteller verstarb oder aus dem Kreisgebiet verzogen war. Insgesamt lag die Anzahl der Rücknahmen durchschnittlich über der Anzahl von genehmigten Ausreisen. Aber nicht nur die Anzahl der Antragstellungen war in den 1980er Jahren gegenüber den 1970er Jahren angestiegen; der Umgang mit den Ausreisewilligen auf der einen Seite und das Verhalten der Antragsteller auf der anderen Seite hatten sich in den 1980er Jahren verändert. Im Ergebnis einer Politik, die das Verhalten der Antragsteller als »feindlich-negativ« und von »gegnerischen Kräften« ausgelöst diffamierte, änderte sich auch deren Ton und Auftreten. Bereits 1981 stellte der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten im Rat des Kreises Halberstadt diese Entwicklung so dar: »Waren in den zurückliegenden Jahren noch vorrangig Probleme der Versorgung mit Wohnraum, abgelehnte Besuchsreisen in die BRD bzw. Berlin (West), allgemeine Unzufriedenheit der Ausgangspunkt für derartige Ersuchen, so zeigte sich nunmehr, dass der jetzt verbleibende Personenkreis eine gefestigte negative Grundhaltung zu unserer Republik und zu den Grundfragen des Sozialismus hat. Die bürgerlichen Lebensgewohnheiten werden regelrecht als Maßstab angesetzt.« 40 Dies würde sich auch in den »Rücknahme-Gesprächen« mit den Antragstellern zeigen, die der »Entwicklung in der DDR pessimistisch« gegenüberstünden und falsche Erwartungen an das Leben in der BRD hätten. Der Berichterstatter macht die Ursachen hierfür »im Nichtbegreifen gesellschaftlicher Zusammenhänge«, im engen Kontakt zu den Westverwandten, dem Einfluss der Westmedien und in der ungenügenden Arbeit »aller gesellschaftlichen Kräfte« mit den Antragstellern aus. 41
39 RdK Halberstadt, Abt. I A: Aufstellung der Ersucher, denen seit dem 29.9.1987 Ablehnungen ausgesprochen wurden und deren Reaktionen darauf, 8.4.1988; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag. 40 RdK Halberstadt, Abt. I A, Sektor Genehmigungsfragen: Einschätzung der Ergebnisse und Tätigkeiten in der Zurückdrängung und Unterbindung von rechtswidrigen Ersuchen auf Übersiedlung nach der BRD bzw. nach Berlin (West) im Jahre 1981, 14.12.1981; Archiv RdK Halberstadt, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99 o. Pag. 41 Die Kritik an den anderen Ratsmitgliedern, den Betriebsleitern, Parteisekretären und anderen staatlichen Leitern wie Funktionären nimmt in diesem und den folgenden Berichten den größten Raum ein. RdK Halberstadt Abt. I A, Sektor Genehmigungsfragen: Einschätzung der Ergebnisse und Tätigkeiten in der Zurückdrängung und Unterbindung von rechtswidrigen Ersuchen auf Übersied-
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Ausreise per Antrag
Tatsächlich waren sowohl die seit dem Ende der 1970er und in den 1980er Jahren eingereichten Zweitanträge als auch die Erstanträge »systemkritischer« formuliert. »Soziale und kommunale Probleme« trugen 1987 nur noch 15 von 75 Antragstellenden vor, die anderen argumentierten mit grundsätzlichen gesellschaftlichen Mängeln. 42 Da es sich zum Teil um dieselben Personen handelte, die ihrem nicht genehmigten Antrag mit einem Wiederholungsoder Zweitantrag Nachdruck verleihen wollten, wäre die Schlussfolgerung falsch, zunächst hätten sich die eher »Staatsloyalen« und seit 1980 die »Staatsgegner« zu Wort gemeldet. Der veränderte Ton ist zu großen Teilen darauf zurückzuführen, dass das Verhalten des Staates, einschließlich der Staatssicherheit, inzwischen unmissverständlich klar gemacht hatte, dass die Antragsteller als politische Gegner zu betrachten seien. Führten die ersten Rücknahmegespräche zu keinem Erfolg, änderten die Mitarbeiter in den Sprechzeiten nun ihren Ton. Die Überwachung, Disziplinierung, Denunzierung und Bestrafung erreichte in den 1980er Jahren in dieser oder jener Weise alle Antragsteller, die nach einer Ablehnung nicht aufgaben. Die verstärkte Politisierung und Kriminalisierung durch die Staatsmacht führte aufseiten der »hartnäckigen Antragsteller« zu einer stärkeren Politisierung und zum Teil auch zu einer höheren Risikobereitschaft, die eigene Position öffentlich zu machen. Dies war ein Grund dafür, dass die Antragstellungen in den 1980er Jahren deutlich gesellschaftskritischer und politischer formuliert worden sind. 43
3.2
Wer hat im Kreis Halberstadt einen Antrag auf Ausreise gestellt?
Um ein differenziertes Bild der Antragsteller in Halberstadt zu gewinnen, ist auf unterschiedliche Quellenbestände zurückgegriffen worden: Die Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises und die Kreisdienststelle des MfS haben im Rahmen ihrer Berichterstattungen Statistiken angefertigt, die einigen Aufschluss über die Antragsteller geben. Allerdings erschwerten die uneinheitlichen Standards und Bezeichnungen die Auswertung dieses Materials, das zudem aufgrund der behördeninternen Interessen, die wachsende Zahl der Antragstellungen herunterzuspielen, keinesfalls unhinterfragt übernommen werden konnte. Insofern war es notwendig, eine eigene Statistik (A) zu erarbeiten, die den größten Teil aller Antrag stellenden Personen – 860 Erwachsene und Kinder – lung nach der BRD bzw. nach Berlin (West) im Jahre 1981, 14.12.1981; Archiv RdK Halberstadt, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99 o. Pag. 42 RdK Halberstadt, Abt. I A: Konzeption zur weiteren Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen, 1987; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen Sign. Nr. 98, o. Pag. 43 Vgl. Kapitel 6 in diesem Band.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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und deren soziale, familiäre, schulische sowie berufliche Stellung für die Zeit von 1973 bis 1988 erfasst. Sie basiert auf der Auswertung der oben genannten Dokumente des Rates des Kreises und der Kreisdienststelle des MfS sowie auf Informationen aus Gesprächen und Interviews mit Antragstellern. Eine zweite Statistik (B) beinhaltet die Daten eines Großteils der Antragsteller des Kreises Halberstadt (77 Erwachsene und 47 Kinder), über die zwischen 1975 und 1989 durch die Staatssicherheit eine Operative Personenkontrolle (OPK) oder ein Operativer Vorgang (OV) angelegt worden war, wodurch eine sehr genaue Beschreibung dieser Personengruppe möglich wird, die durch ihr beharrliches Engagement, ihre Ausreise zu erreichen, in das Visier der Staatssicherheit geriet. 44 Auf dieser umfangreichen empirischen Grundlage lassen sich die Antragsteller nun recht genau charakterisieren. Untersuchungen zur Altersstruktur, der sozialen Stellung, dem Wohnort und Bildungsgrad, der bekundeten Loyalität zum Staat durch Mitgliedschaften in der SED, dem FDGB oder anderen gesellschaftlichen Institutionen ermöglichten eine differenziertere Erkenntnis über den »typischen« Antragsteller im Kreis Halberstadt. Danach kamen drei Viertel der Antragstellungen aus der Kreisstadt. 45 Neben Halberstadt nahm die zweitgrößte Stadt des Kreises, Osterwieck, einen vorderen Platz ein, gefolgt von Harsleben und Wegeleben. 46 Es gab auch Orte im Kreis, aus denen nie eine Antragstellung gemeldet wurde. Außer zur Bevölkerungszahl in der Kreisstadt, gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen höheren Antragstellerzahlen und dem Ausmaß der Ansiedlung von Industrien und Gewerbe in den jeweiligen Orten. Aus den Grenzorten wurden wider Erwarten keine höheren Zahlen als aus den anderen Orten des Kreises gemeldet. Zwischen 1974 und 1979 lag das Durchschnittsalter der erwachsenen Antragsteller im Kreis Halberstadt bei etwa 32 Jahren. 47 In den 1980er Jahren erhöhte sich der Altersdurchschnitt auf 36 Jahre, was mit dem Umstand zu tun hat, dass Paare und Familien, deren Anteil im Vergleich zur Gesamtzahl der
44 Diese Statistiken werden im Folgenden in den Fußnoten als »Exceltabelle Statistik (A)« sowie »SPSS-Statistik (B)« bezeichnet. 45 In unserer Exceltabelle Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3) sind es 281 von 361 Antragstellungen. Statistiken der KD Halberstadt bestätigen diese Relationen aus unseren eigenen Erfassungen. Vgl. z. B. II. Quartal 1976, 15 von 25 Neuanträgen wurden von Bewohnern der Kreisstadt gestellt. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 289. In der SPSS-Statistik (B) ergibt sich ein Verhältnis von 64,9 % von Antragstellern aus der Stadt zu 35,1 % aus dem übrigen Landkreis. 46 Danach kamen Dingelstedt, Groß-Quenstedt, Schwanebeck, Langenstein und Dedeleben. 47 Durchschnittsalter 1973: 26,5 Jahre; 1974: 34,7 Jahre; 1975: 36,7 Jahre; 1976: 34,5 Jahre; 1977: 28,6 Jahre; 1978: 27 Jahre; 1979: 28 Jahre. Vermutlich ist das Durchschnittsalter leicht herunter zu rechnen, da in dieser Zeit Rentner, also Personen über 60 und 65 Jahren, hin und wieder mit gezählt worden sind.
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Ausreise per Antrag
Antragstellungen in den 1980er Jahren zunahm, ihren Antrag zumeist in einem fortgeschrittenerem Alter als Einzelpersonen stellten. Das Verhältnis von Familien und Einzelpersonen lässt einige interessante Rückschlüsse auf die Motive und Erfolgsaussichten für eine Ausreise zu. In den 1970er Jahren hatte im Durchschnitt nur jede zweite Antrag stellende Familie ein Kind. In den 1980er Jahren erhöhte sich diese Anzahl auf durchschnittlich ein Kind pro Familie. 48 In den Jahren seit 1984 überstieg die Zahl der Antragstellungen von Paaren mit Kindern die Zahl der Einzelanträge fast um das Doppelte. 49 Setzt man die Anzahl der Kinder, den Familienstand und das Alter der erwachsenen Antragsteller in Beziehung, ergibt sich für die 1980er Jahre das Bild des »typischen Antragstellers« aus dem Kreis Halberstadt: Es ist das 31- bis 36-jährige Paar aus der Stadt mit mindestens einem Kind. Die meisten erwachsenen Antragsteller waren Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie machten stets über die Hälfte aller Antragsteller aus, gefolgt von den Angestellten. In unseren Statistiken erscheint häufig die Angabe »Hausfrau« bzw. »ohne Arbeit« bei den Männern, so hatte es die Staatssicherheit in ihren Akten vermerkt. Dies hängt maßgeblich mit dem Umstand zusammen, dass einige Antragsteller vor oder im Laufe der Antragstellung ihre Arbeit aufgegeben hatten, in der Hoffnung, auf diese Weise schneller eine Übersiedlungsgenehmigung zu erlangen. Anderen war gekündigt worden, weil sie, wie etwa Lehrer, aus Sicht des Staates in ihrer beruflichen Tätigkeit als politisch nicht mehr tragbar eingestuft wurden. 50 Die Arbeiterinnen und Arbeiter kamen vor allem aus der Industrie, gefolgt von der Landwirtschaft und dem Dienstleistungsbereich. Nicht alle arbeiteten in staatlichen Betrieben, ein beträchtlicher Teil der Antragsteller war in einer Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH), einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) oder in einem Privatbetrieb tätig. Die zweitgrößte soziale Gruppe der Halberstädter Antragsteller waren Angestellte aus dem Handel und dem Dienstleistungsbereich. Zusammen mit den Arbeitern machten sie über 80 Prozent aller Antragsteller aus. Die Kategorie des Selbstständigen wurde zwar auch schon in den 1970er Jahren registriert, die Bedeutung, die er in den 1980er Jahren annehmen sollte, hatte dieser soziale
48 Exceltabelle Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3): Gesamtersuchen: 118; 281 Personen, davon 144 männlich, 137 weiblich, 140 Familien und 74 Kinder, 11 Einzelpersonen mit Kind, 42 Einzelpersonen. 78 Kinder unter 14 Jahren, 10 Personen zwischen 14–17 Jahren, 39 Personen zwischen 18 und 24 Jahren:, 11 Personen zwischen 25 und 39 Jahren und 43 Personen zwischen 40 und 65 Jahren. 49 Ordnungs- und Genehmigungsangelegenheiten, Stand 23.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. In einigen Jahren wurde sogar nur ausnahmsweise von Personen, die ohne Partner b Kind die DDR verlassen wollten, ein Antrag auf Ausreise gestellt. 50 Vgl. zur Repression im Betrieb Kapitel 7.1 in diesem Band.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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Status jedoch noch nicht. Eine Hoch- oder Fachschulqualifikation hatten 7,8 Prozent der Antragsteller. 51 Bemerkenswert ist, dass viele Frauen unter den Antragstellern einfache Tätigkeiten mit einer eher niedrigeren Qualifikation ausübten. Sie arbeiteten in der Raumpflege, als Wäscherin oder Küchenhilfe, hier häufig als un- oder angelernte Kraft. Auch unter den Kellnerinnen, Verkäuferinnen und Näherinnen gab es einige ohne Fachausbildung. In den 1980er Jahren erhöhte sich der Anteil von Krankenschwestern und anderem, meist besonders niedrig entlohntem medizinischem Personal. Insgesamt gehörten die ausgeübten Berufe bzw. Tätigkeiten der Antragstellerinnen im Kreis Halberstadt eher zu den gering bezahlten. 52 Tabelle 1: Qualifikation der Antragsteller Höchste Qualifikation Facharbeiter/Handwerk
abs. Zahl
Prozent
38
49,4
Teilfacharbeiter
7
9,1
Facharbeiter/Angestellte
6
7,8
Facharbeiter/Dienstleistung
8
10,4
Technischer/medizinischer Facharbeiter
6
7,8
Höhere Qualifikation/Ingenieur/Lehrer
6
7,8
Ohne Qualifikation
5
6,5
Keine Angabe
1
1,3
77
100,0
Gesamt
Von den Männern übte ebenfalls gut die Hälfte oft schwere einfache Tätigkeiten aus. Als Genossenschaftsbauern waren zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung nur wenige Personen tätig. In den 1980er Jahren veränderten sich diese Relationen: Unter den männlichen Antragstellern waren nun viele Kraftfahrer, Lokführer, Schlosser und Mechaniker. Die Gruppe der Niedrigqualifizierten dominierte nicht mehr. 53 Die Anzahl der Künstler, Lehrer, Ärzte, Ingenieure 51 In unserer Exceltabelle Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3) sind es lediglich 5 Personen von 155, die Differenz kommt zustande, weil in der SPSS-Tabelle (Statistik B) etwas häufiger qualifizierte Berufe vorhanden sind. Siehe Excel-Tabelle (A): 88 Arbeiter, 41 Angestellte, 11 Hausfrauen, 5 Intelligenzler, 4 ohne Arbeit, 5 Rentner, 1 Selbstständiger, (Bezugsgröße 155). 52 Sachbearbeiterin, Sekretärin: 15; Raumpflege, Wäscherin: 11; Krankenschwester, Physiotherapeutin: 10; Verkäuferin: 9; Küchenkraft, Kellnerin: 6; Näherin: 6; Geflügelzüchterin: 5. Vgl. ExcelTabelle (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). 53 Kraftfahrer, KOM, Multicar: 22; Schlosser: 12; Mechaniker: 6; Beton- und Bauarbeiter: 6; Tischler: 6; Lokführer: 4; Pförtner, Wächter: 4; Maschinenarbeiter: 4. Niedrigqualifizierte, An- und Ungelernte/Männer: 46; Hofarbeiter, Hilfsarbeiter, Hilfstischler, Wagenreiniger, Transportarbeiter,
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Ausreise per Antrag
erhöhte sich leicht, ebenso jener Personenkreis, der eine Leitungstätigkeit ausübte. Meister und andere betriebliche Leiter machten insgesamt 17 Prozent aller Antragsteller aus. 54 Für die 1980er Jahre kam als ein neues Phänomen die Antragstellung von in der Kirche tätigen Menschen hinzu. Insgesamt aber blieb die Gruppe der Intelligenz marginal: nur 25 von circa 600 erfassten Tätigkeitsgruppen ließen in unserer Statistik (A) auf eine Arbeit im künstlerischen und akademischen Bereich schließen. 55 Tabelle 2: Schulbildung der Antragsteller Schulbildung
absolute Zahl
Prozent
8-Klassen-Abschluss
30
39,0
10-Klassen-Abschluss
36
46,8
Abitur
6
7,8
Keine Angabe
5
6,5
77
100,0
Gesamt
Dieser eher niedrige berufliche Qualifikationsgrad hing maßgeblich mit den »Startbedingungen« der Halberstädter Antragsteller, darunter vor allem dem niedrigen Bildungsgrad der Eltern und den Schulabschlüssen zusammen. Drei Viertel aller späteren Antragsteller war in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Eltern Arbeiter, Handwerker oder Bauern waren. Lediglich 20 Prozent besaßen Eltern, die Angestellte und kleine Selbstständige waren. Nur 3,2 Prozent der Eltern von Antragstellern gehörten der Intelligenz an. Dies ist für einen landwirtschaftlich geprägten Kreis sicher nicht ungewöhnlich. Bemerkenswert scheint uns jedoch die Tatsache, dass fast 40 Prozent aller Antragsteller nur den Schulabschluss der 8. Klasse erreicht haben. Der Umstand, dass die 1959 in der DDR eingeführte Zehnklassige Polytechnische Oberschule (POS) erst über zehn Jahre später zur Regelschulzeit wurde, ist offensichtlich im Landkreis Halberstadt von den Eltern häufig dazu genutzt worden, ihre Söhne und Töchter nur bis zur 8. Klasse in die Schule zu schicken. Zu Beginn der 1970er Jahre änderte sich dies auch im Kreis Halberstadt. Postzusteller, Kesselreiniger etc.: 22; Arbeiter: 10; Produktionsarbeiter: 14. In: Exceltabelle Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). 54 Rubrik »Funktionen im Betrieb« in der SPSS-Statistik (B) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). In der DDR-Gesamtstatistik lag der Anteil der Hoch- und Fachschulabsolventen an allen Antragstellern auch nur bei 14 %, eine Zahl, die Folge der Tatsache ist, dass die meisten Anträge in den Bezirken Dresden und Berlin gestellt worden sind. Vgl. Kowalczuk: Endspiel, S. 188. 55 Kirchlicher Bereich (Diakon, Pfarrer): 3; Sänger, Tänzer, Dramaturgen: 6; Arzt, Ingenieur, Lehrer, Wissenschaftler: 8; Leiter, auch Meister: 8. Vgl. Excel-Tabelle (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3).
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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Die Dominanz der Arbeiter unter den Antragstellern, die aus der Industrie und dem Bau, der Landwirtschaft, dem Handel und Verkehrswesen kamen, blieb während der ganzen hier betrachteten Zeit bestehen. 56 So war es nur folgerichtig, dass sich die Aufmerksamkeit der Abteilung Inneres und der Kreisdienststelle des MfS auf jene Betriebe richtete, aus denen die meisten Antragstellungen kamen. Ende der 1970er Jahre gab es »Konzentrationen« im Agrochemischen Zentrum Halberstadt, die von den staatlichen Behörden auf eine mangelnde Führungsstärke des Betriebsleiters zurückgeführt wurden. Zuvor waren es das RAW Halberstadt, das Betonwerk, das Post- und Fernmeldeamt und der VEB Halberstädter Fleisch- und Wurstwarenwerke gewesen, die als besonders »verteidigungswichtig und lebensnotwendig« galten. 57 Wie in den 1970er Jahren dominierten Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Industrie, der Landwirtschaft, dem Handel und Dienstleistungsbereich in der Gruppe der Halberstädter Antragsteller. Ab 1986 häuften sich Antragstellungen aus dem Bereich Gesundheitswesen in Halberstadt sowie den medizinischen Zentren in Osterwieck und Badersleben. 58 Die Arbeitsbedingungen in diesen gesellschaftlichen Bereichen hatten sich wie in der DDR insgesamt rapide verschlechtert. Namentlich in der Gruppe des besonders niedrig entlohnten medizinischen Personals – und nicht, wie die offizielle Propaganda glauben machen wollte, bei den auf Staatskosten hochqualifizierten Fachärzten – gab es besonders viele Antragstellungen. 59 Zwischen 1973 und 1989, so lässt sich dieser Überblick zusammenfassen, waren ebenso viele Frauen und Mädchen wie Männer und Jungen im Kreis Halberstadt als Antragsteller auf Ausreise aus der DDR erfasst. Dies erklärt sich zum einen mit dem hohen Anteil von Paaren, zum anderen mit dem Umstand, dass unter den Einzelantragstellern die Geschlechter in etwa gleich verteilt waren und nicht – wie demgegenüber die Statistiken über Fluchtversu-
56 Vgl. auch KD Halberstadt: Zahlenangaben zur Einschätzung gemäß der GVS 541/74; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 343 f. 57 Vgl. Einschätzung der Lage im Verantwortungsbereich der KD Halberstadt, 16.5.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, Halberstadt, Nr. 702, Teil 1, Bl. 389. 58 RdK Halberstadt, Abt. I A: Konzeption zur weiteren Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen, 1987; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. Nr. 98, o. Pag. 59 In einer 1987 erstellten Statistik der Anzahl von im medizinischen Bereich tätigen Übersiedlungsersuchern im Bezirk Magdeburg, werden 2 % Ärzte und andere medizinische Hochschulkader (43 Fälle) sowie 4 % Krankenschwestern, MTA, un- und angelerntes Pflegepersonal (100 Fälle) genannt. Mit insgesamt 11,2 % aller ÜE stellten sie »keinen personellen Schwerpunkt dar.« Vgl. BV Magdeburg, Bezirkskoordinierungsgruppe: Ergebnisse und operativ bedeutsame Erkenntnisse im Prozess der Zurückdrängung der Übersiedlungsersuchen des Bereichs Medizin, 15.10.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AKG, Nr. 62, Bl. 632.
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Ausreise per Antrag
che nachweisen – junge Männer dominierten. 60 Die Antragstellung auf Ausreise war eine Option geworden, die mit einem deutlich geringeren Risiko als der Fluchtversuch auch für Frauen und Familien realistischer erschien. Davon zeugt auch, dass ein Drittel aller Personen, die in einer Antragstellung erfasst wurden, Kinder waren. 61 Die Abteilung Inneres registrierte sie, unterschied auch nach Schul- und Vorschulalter der Kinder, besondere Aufmerksamkeit schenkte sie ihnen allerdings nicht. In keinem Bericht findet sich die Sorge darüber, dass hier »die Zukunft« das Land verließ, wie die junge Generation an anderer Stelle propagandistisch genannt wurde. Erst mit der Aufnahme einer Lehre oder einer Arbeit waren sie für den Staat wieder von Interesse. Trotz eines geringen Anstiegs der Zahl von Hochschulabsolventen unter den Antragstellern, wie Lehrern, Ärzten, Musikern oder Ingenieuren, blieb die größte Gruppe im Kreis Halberstadt stets die Arbeiterschaft, gefolgt von den »kleinen Angestellten« aus dem Dienstleistungsbereich, dem Handel und der Versorgung. 62 Der erreichte Schulabschluss und die Art der Tätigkeit lassen den Schluss zu, dass ein erheblicher Anteil von Angelernten und Niedrigqualifizierten darunter war. 63 Dies betraf Männer wie Frauen. Die häufigsten Berufe der Frauen waren Sachbearbeiterin, Sekretärin, Krankenschwester, Kellnerin, Reinigungskraft, Verkäuferin, Küchenhilfe oder Näherin. Die meisten Männer arbeiteten in der Industrie und im Handwerk, der Landwirtschaft, auf dem Bau und im Verkehrswesen – als Transportarbeiter, Traktorist, Melker, Heizer, Hilfs- oder Bauarbeiter. In den 1980er Jahren stieg allerdings die Anzahl der qualifizierten Facharbeiter unter den männlichen Antragstellern an. 64 Berufsgruppen wie Datenfacharbeiter oder Elektroniker, die an eine moderne Industrie gebunden sind, waren jedoch eher selten vertreten. Eine Erklärung bietet die Industrie- und Sozialstruktur des ländlichen Kreises. Sie ähnelte – von einem leichten Übergewicht des Agrarsektors abgesehen – der Struktur eines durchschnittlichen Kreises der DDR, in denen eine dörfliche und klein-
60 Von den 848 Personen, die wir in einer Tabelle erfassen konnten, waren 402 Frauen und Mädchen sowie 391 männliche Personen. Vgl. Voigt; Belitz-Demiriz; Meck: Die innerdeutsche Wanderung und der Vereinigungsprozess, S. 736. 61 Von 463 Personen waren zum Zeitpunkt der Antragstellung 165 Kinder im Alter bis zum 18. Lebensjahr. In: Exceltabelle Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). 62 Laut Exceltabelle (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3), Arbeiter: 204 (Frauen: 62, Männer: 142) Angestellte: 92 (Frauen: 71, Männer: 21) Hausfrauen: 22 (Frauen: 22), Intelligenz: 17 (Frauen 9, Männer: 8) ohne Arbeit: 14 (Frauen: 4, Männer: 10) Rentner: 5 (Frauen: 2, Männer: 3) Selbstständige: 3 (Frauen 1, Männer: 2) Lehrling: 1 (Frauen: 0, Männer 1) Bezugsgröße sind 358 Personen. 63 Formal hatten seit den späten 1970er Jahren in der DDR fast alle einen Facharbeiterabschluss, die Anzahl der An- und Ungelernten war bis Mitte der 1980er Jahre auf 15 % zurückgegangen, bei den Angestellten sogar auf 5 %. Aus: Statistisches Jahrbuch der DDR, zit. bei: Kneipp: Im Abseits, S. 47. Vgl. zur Ausbildungs- und Qualifizierungspolitik der DDR: Hürtgen: Angestellt im VEB, S. 176. 64 Vgl. Anm. 53/Kap. 3.
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3 Antragstellungen auf Ausreise im Kreis Halberstadt
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städtische Bevölkerung das soziale Leben bis in die 1980er Jahre prägte. Die Gruppe der Antragsteller spiegelt diese sozialstrukturelle Gegebenheit wider. Nach der »Wende« 1989 haben Oppositionelle und Künstler unser Bild vom ausgereisten DDR-Bürger stark geprägt. Wir müssen diesen Eindruck angesichts der Halberstädter Untersuchungen korrigieren: Nicht der Liedermacher oder der Pfarrer, aber auch nicht der Facharbeiter für Datenverarbeitung, sondern die Kellnerin aus der Bahnhofsgaststätte, die Krankenschwester aus der Poliklinik, der Kraftfahrer, der Lagerarbeiter aus dem VEB Halberstädter Fleisch- und Wurstwaren und der selbstständige Malermeister prägten es. Das ist ein bemerkenswertes, von den bisherigen Forschungen zu Antragstellern deutlich abweichendes Ergebnis. 65 Diese Studien hatten ihren Fokus auf jene Antragsteller gerichtet, die in einer der größeren Städte der DDR lebten oder in einem Industriezentrum wie Jena, in denen sich nicht nur eine künstlerische und technische Intelligenz konzentrierte, sondern in dem auch ein widerständiges Milieu ansässig war. Auf diese Weise rückte eine eher marginale soziale Gruppe der DDR-Gesellschaft ins Zentrum des Interesses und verstellte den Blick auf die Mehrheit der Antragsteller, unter denen sich keine Oppositionellen und nur wenige mit einem künstlerischen Beruf befanden. Deren Lebenslage, deren Milieu, aber auch deren Motive, das Land zu verlassen, unterschieden sich zum Teil deutlich von der Mehrheit der DDR-Bürger. Doch wie in jeder Gesellschaft prägte auch in der DDR die Provinz das Leben dieser Mehrheit. Eine Untersuchung abseits der großen Städte kommt somit dem Typus des Durchschnittsantragstellers und der »Normalität« einer Antragstellung deutlich näher.
65
Vgl. z. B. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«.
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Warum stellten Bürger aus dem Kreis Halberstadt einen Antrag auf Ausreise?
Im Vergleich zur Gesamtzahl der Bevölkerung war die Zahl der Antragsteller im Kreis Halberstadt sehr gering. Im Durchschnitt stellten nur 2,8 Personen von 1 000 Einwohnern einen Ausreiseantrag, erst 1989 stieg deren Anzahl in der Kreisstadt und in Osterwieck um ein Vielfaches. 1 Trotz eines gegenüber dem Bezirk Magdeburg leicht erhöhten Durchschnitts im Kreis Halberstadt, machen die Zahlen deutlich, dass die Entscheidung, die DDR auf diese Weise zu verlassen, nur von sehr wenigen Bürgern getroffen wurde. Warum haben diese Wenigen das Risiko staatlicher Repressionen nicht gescheut? Was unterschied sie von der Mehrheitsgesellschaft, die keinen Antrag stellte, was waren Anlass und Motive ihres Handelns? Über die Frage der Motive ist in der Fachliteratur ein heftiger Streit entbrannt, der den Charakter der Ausreisebewegung in der DDR als »politische« oder »unpolitische« Bewegung verhandelt, mithin als eine, die entweder positiv oder eher negativ und damit unbedeutend für den Zusammenbruch der DDR eingeschätzt werden muss. Die Vertreter der ersten Meinung führen als Argument an, dass die Staatssicherheit selbst die Antragsteller als »Staatsgegner« einstufte; die in den Anträgen formulierten Motive würden überdies eine hochpolitische Kritik an der Unterdrückung der Bewegungsfreiheit und an der DDR als solcher zum Ausdruck bringen. 2 Zum Beweis dienen ihnen zudem die Formulare der Notaufnahmelager, auf denen Ausreisende sich eindeutig als »Politische« definierten. Ohnehin sei alles Private gerade in der DDR höchst politisch gewesen, sodass es keines besonderen Nachweises bedurfte, die Antragstellungen als politisch motiviert zu begreifen. 3 1 Dieser Anteil lag allerdings immer etwas über dem Bezirksdurchschnitt von 2,6 Personen. Vgl. Einschätzung der Lage auf dem Gebiet der Antragsteller im August 1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 6 (hier 27,95 ASTA pro 10 000 Einwohner) sowie LHASA MD Sign. 16331, 1989, Bl. 5 u. 67. 2 Vgl. Eisenfeld: Die Ausreisebewegung – eine Erscheinungsform widerständigen Verhaltens. In: Poppe; Eckert; Kowalczuk (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung, S. 192–223. 3 So Ansorg: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR, S. 242. Ansorg argumentiert hier gegen Raschka, der in seiner Befragung von 248 Antragstellern deren Motive in »politische« und »persönliche« unterscheidet, was tatsächlich völlig willkürlich erscheint. Mit ihrem Vorschlag, alles als politisch motiviert anzusehen, trägt sie allerdings auch nicht zur Präzisierung bei. Vgl. Raschka: Die Ausreisebewegung – eine Form von Widerstand gegen das SED-Regime? In: Baumann; Kury (Hg.): Politisch motivierte Verfolgung, S. 257–274, hier 268.
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Ausreise per Antrag
Die Vertreter der entgegengesetzten Meinung verweisen auf den sogenannten wirtschaftlichen Kern des Ausreisebegehrens, auf den Wunsch nach einem besseren materiellen Leben, der die Antragsteller angetrieben habe. Sie attestieren der Ausreisebewegung einen egoistischen, konsumorientierten Charakter, den sie dadurch bestätigt sehen, dass sich die meisten Antragsteller in keiner existenziellen Notlage befunden hatten. 4 Auch der fehlende Organisationsgrad der Ausreiser und die weithin individuellen Handlungsstrategien werden herangezogen, um das eher Unpolitische der DDR-Ausreisebewegung zu betonen. Aus mehreren Gründen sind alle hier vorgetragenen Begründungszusammenhänge unbefriedigend. Die Einordnung durch die Staatssicherheit zur Grundlage der Bestimmung des Charakters der Ausreisebewegung zu machen, ist problematisch, ebenso wie die jeweiligen Selbsteinordnungen der Betroffenen. Letztere folgten in ihrem Verhalten geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen, die nur aus dem historischen Kontext heraus zu erklären sind. Das gilt für die Berufung auf das Helsinki-Abkommen ebenso wie die Selbsteinschätzung als »politisch« im Rahmen der Einreiseprozedur, welche quasi die Voraussetzung dafür war, als politischer Flüchtling überhaupt anerkannt und entsprechend vergünstigt behandelt zu werden. Nicht weniger einseitig und damit letztlich irreführend ist es, die konkreten historischen Umstände der geschlossenen Grenzen, die zu diesem massenhaften Flucht- und Ausreisebegehren in der DDR geführt haben, unberücksichtigt zu lassen und die »Anomalität« eines diktatorischen Regimes nicht zu nennen, das eine moderne Industriegesellschaft mit Menschen aufbauen wollte, die sie einsperrte. Die Haltung den Antragstellern gegenüber, dass erst eine bedrohliche materielle Lage das Ausreisebegehren legitim mache, ist ebenso wenig zu akzeptieren. Was man dem mexikanischen USA-Einwanderer zubilligt, wird dem Mechaniker aus Halberstadt abgesprochen: Der Wunsch nach einem besseren Leben. Der Versuch, den unpolitischen Charakter der Ausreisebewegung aus ihrem unorganisierten, atomisierten Zustand abzuleiten und die damit einhergehende Relativierung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung, kann ebenso wenig überzeugen. 5 Zum Maßstab für solche Einschätzungen wird die organisierte Opposition erhoben, deren gesellschaftlich relevante Motive einem nur auf individuellen Interessen beruhenden Ausreisebegehren positiv entgegengesetzt werden. Um diesem Dilemma einer wertenden Gegenüberstellung von materiell oder politisch, individuell oder gesellschaftlich konnotierten Motiven der Antragsteller zu entgehen, gibt es inzwischen den Vorschlag, die Gründe für eine
4 Vgl. z. B. Roesler: »Abgehauen«. Innerdeutsche Wanderungen in den fünfziger und neunziger Jahren und deren Motive. In: DA 36(2003)4, S. 562–574. 5 Diese Tendenz findet sich u. a. bei Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«.
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4 Warum stellten Bürger einen Antrag auf Ausreise?
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Antragstellung in einem Motivbündel zu sehen. 6 Auch wenn dieses Vorgehen, die Antragstellung aus einer allgemeinen, sich auf praktisch alle Lebensbereiche beziehenden Unzufriedenheit zu erklären, der Realität näher kommt, erfahren wir auf diese Weise noch nicht, was die Antragsteller von der ebenso unzufriedenen Mehrheit der DDR-Bevölkerung unterschied. Die mikrohistorische Methode, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ermöglicht eine andere Herangehensweise. Im Laufe dieser Recherchen konnten fast fünfzig Akten, die über Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt vom MfS angelegt worden waren, gelesen und 15 Gespräche mit 24 ehemaligen Ausreisern geführt werden. Jedes Gespräch ließ ein oft dramatisches Schicksal erkennen, jedes Schicksal war und ist einmalig. Dennoch wollten wir danach suchen, ob es etwas Gemeinsames in dieser Vielfalt und Einzigartigkeit gibt, ob sich Motivationen vergleichbaren Musters aufzeigen lassen und ob sich in den Lebensgeschichten der Halberstädter Antragsteller wiederkehrende Motive finden lassen. Den Interviewpartnern wurden nicht nur Fragen nach den Gründen und dem unmittelbaren Anlass ihres Entschlusses gestellt, sie sollten darüber hinaus beschreiben, in welcher Lebenssituation und an welchem Entwicklungspunkt sie sich zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung befanden. Im Ergebnis konnten wir feststellen, dass sich tatsächlich bestimmte, wiederkehrende Haltungen, Lebensumstände und Vorgänge im Leben der späteren Antragsteller erkennen ließen, die die Entscheidung der Antragstellung begünstigten. In einem ersten Schritt konnten diese verschiedenen Lebensumstände der Halberstädter Antragsteller fünf Gruppen zugeordnet werden.
4.1
»Keiner fragt da mehr, wo man herkommt«
In die erste Gruppe ordnen wir jene Antragsteller ein, die bereits sehr früh in ihrem Leben – häufig in der Kindheit und Jugend – mit der Staatsgewalt konfrontiert wurden und im Heim, im Jugendwerkhof oder Jugendknast gesessen haben. Sie waren bei einem tatsächlichen oder vermeintlichen Grenzübertritt festgenommen worden, hatten eine DDR-Fahne zerrissen, Beschimpfungen gegen Repräsentanten von Staat und Partei gerichtet oder einfach nur am falschen Ort die falsche Musik gehört. Ihre weitere Biografie war die eines »Staatsfeindes«. Der Gedanke, in den Westen zu gehen, beschäftigte sie permanent, was nicht bedeuten muss, dass sie sich nicht in der DDR einzurichten 6 Vgl. Bispinck: Motive für Flucht und Ausreise aus der DDR. In: Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, S. 49–65. Ein weiterer Versuch, die Diskussion zu versachlichen, besteht in dem Vorschlag, in »objektive« und »subjektive« Gründe für eine Antragstellung zu unterscheiden. Er erscheint jedoch besonders hilflos und wenig erhellend. Vgl. Eisenfeld: Gründe und Motive von Flüchtlingen und Ausreiseantragstellern aus der DDR. In: DA 37(2004)1, S. 89–105.
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Ausreise per Antrag
versuchten, heirateten oder ein Haus bauten. Die Ehefrau eines solchen Antragstellers formuliert es so: »Ich wusste, dass er es nicht lange aushält und eines Tages doch weg will.« Es war nur eine Frage der Zeit. Eine Flucht war ihnen zu riskant oder sie hatten diese bereits versucht und schließlich verworfen. Nun stellten sie einen Ausreiseantrag und waren in der Regel sehr hartnäckig und rigoros im Umgang mit den Behörden. Ihre Freunde aus der Haftzeit oder andere Halberstädter, die bereits im Westen waren, unterstützten sie in ihrem Vorhaben. Insgesamt aber waren es eher Einzelgänger, sie versuchten ihr Glück auf eigene Faust. Als Klaus Schmidt vier Jahre alt war, siedelten seine Eltern 1974 mit den sieben Kindern in die DDR über. Er unternahm verschiedene Fluchtversuche, einen während der Armeezeit, und wurde wegen Terrors zu neun Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Im Alter von 25 Jahren auf Bewährung vorzeitig entlassen, bescheinigte man ihm ein ruhiges Verhalten. »In seiner Freizeit liest er die Tagespresse und schöngeistige Literatur.« 7 1984 stellte er für sich und seine Familie einen Ausreiseantrag, was ungewöhnlicherweise sofort die Eröffnung einer Verfolgungsakte, eines OV, nach sich zog. Klaus Schmidt wurde im selben Jahr noch inhaftiert und verurteilt. Nach seiner Haftverbüßung wurde er ständig kontrolliert und diskriminiert, ihm wurden »Vorhaltungen wegen dieser Haftvergangenheit gemacht«. 8 Seine Versuche, sich wieder ein- und unterzuordnen – so wurde er sogar Vorsitzender der Gesellschaft für DeutschSowjetischen Freundschaft (DSF) seines Betriebes und Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung – scheiterten. Eine vergleichbare frühe Hafterfahrung »aus politischen Gründen« wie Klaus Schmidt machten auch andere Antragsteller. Angelika Granitz lief mit 17 Jahren von zu Hause weg, sie näherte sich der Grenze, wurde verhaftet und wegen illegalem Grenzübertritt zu einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt. 9 Peter Baum, 1959 geboren, hatte seine erste Haft zu verbüßen, weil er »unter Alkohol stehend, staatliche und gesellschaftliche Symbole missachtete«. Die Jugendlichen hatten auf dem Weg von der Kneipe nach Hause randaliert, Fahnen aus der Stange gerissen und ein Plakat beschmiert. Mit der 19-monatigen Haft waren die Weichen für Peter Baums Lebensweg gestellt. Die Vorurteile begleiteten ihn fortan, seine Versuche »gesellschaftlicher Einordnung« – 1978 stellt er sogar einen Antrag auf Mitgliedschaft in der SED – misslangen. Ein Ausreiseantrag war für ihn nur folgerichtig. 10 Klaus-Peter Krüger war bereits seit seiner Kindheit ein Unangepasster. Er war schlecht in der Schule und die Staatsicherheit vermerkte die Note 5 in 7 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1272/86 (OV »Brücke«), Bl. 10. 8 Ebenda, Bl. 55. 9 Interview mit dem Ehepaar Granitz, 25.11.2009, S. 4. 10 Vernehmungsprotokolle; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«), Bl. 316–365.
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4 Warum stellten Bürger einen Antrag auf Ausreise?
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Staatsbürgerkunde. Er sei »immer nur Opposition«, setzte sie hinzu. Ein angeblicher Fluchtversuch scheiterte bereits lange vor der Grenze. In den Akten des MfS entsteht das Bild eines jungen Mannes, der wie ein Fremder in der DDR lebte. Er las viel, vor allem Bücher, die er sich aus dem Westen schicken ließ, das MfS registrierte Bücher von Günter Wallraff, den »der Verdächtige« – das ist Klaus-Peter Krüger – »verherrlicht«. 11 Trotz großer Intelligenz – wie das MfS ihm bescheinigte – schloss er alle Qualifikationen mit schlechten Noten ab. Er verweigerte die vormilitärische Ausbildung und sämtliche Aktivitäten in den sogenannten gesellschaftlichen Organisationen. 1986, mit 23 Jahren, stellte er einen Ausreiseantrag, den er mit fehlenden Reisemöglichkeiten begründete. 12 Die Antragsteller dieser Gruppe hatten alle mit Stigmatisierungen zu kämpfen, die sie nicht loswurden. Frühe Erfahrungen mit der Staatsgewalt hatten sie geprägt, sie lebten in der DDR wie Fremde und wollten raus. Wilhelm Schwarz, 1958 geboren, gab 1984 zu Protokoll, dass er sich »eingekesselt wie ein Löwe« fühle. »Wie sagt man so schön, wie ein großes Gefängnis, wo es kein rein und kein raus gib. Und aus Halberstadt bin ich bis jetzt noch nicht rausgekommen. Nur durch die Armee bin ich rausgekommen.« Seinen Ausreisewunsch verband er mit der Hoffnung, im Westen ein neues, ein »akkurates Leben beginnen« zu können. »Keiner fragt da mehr, wo man herkommt«, ob vorbestraft oder nicht. Wenn er erst im Westen sei, dann könne er sein Leben ändern und von vorn anfangen. 13 Eine Reihe von Antragstellern aus dieser Gruppe stammte vom Dorf. Die Großeltern und Eltern zeigten nach 1945 mehr oder weniger offen ihre nazistische Gesinnung, die sich nun mit allem Hass gegen die neuen Besatzer, »die Russen«, richtete. Auf dem Land war – wie überall in Deutschland – auch in Halberstadt der Anteil der NSDAP-Mitglieder und Sympathisanten besonders hoch gewesen. Hinzu kam eine in Halberstadt verbreitete deutsch-nationale Tradition, die nach 1945 nicht einfach verschwunden war, sondern sich nun gegen die neuen Herrscher, die »Russenknechte« wandte. Einige Antragsteller, namentlich jene, die bei den Großeltern aufwuchsen, hörten solche Bemerkungen täglich. Die Großväter sind »von den Russen« umgebracht worden, im Krieg in der Gefangenschaft oder nach 1945 im Zuge der sogenannten Waldheimer Prozesse. In einer solchen Atmosphäre verbrachten Peter Granitz und Ulrich Gottschalk ihre Kindheit. Bereits mit 18 Jahren wurden sie wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt und Herabwürdigung der staatlichen 11 Eröffnungsbericht zum OV »Beton«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 863/89 (OV »Beton«, Reg.-Nr. VII 458/86), Bl. 8–14. 12 Abschlussbericht zum OV »Beton« v. 4.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 863/89, Bl. 200–202. 13 Aussprache im RdK Halberstadt, Abt. I A; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOPK, Nr. 1335/85 (OPK »Bauer«), Bl. 16–19.
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Ausreise per Antrag
Ordnung zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die beiden Männer kultivierten ihre politische Gegnerschaft und ihr soziales Außenseitertum. »Ich bin ein Klassenfeind«, sagte Ulrich Gottschalk als junger Mann, »[i]ch bin nicht mit dem System einverstanden. Wenn Krieg wäre, würde ich nicht für die hier kämpfen […] aber auch nicht für die anderen.« 14 Diese Halberstädter bewegten sich in einem Milieu, das ihre Haltung billigte und ihr Ausreisebegehren unterstützte. In dem eher dörflichen Wohnumfeld mit seiner sozialen Struktur fühlten sie sich als Außenseiter zu Hause. So traten sie sehr sicher auch den Behörden gegenüber auf. In einem Gespräch mit dem Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten forderte Ulrich Gottschalk den Mitarbeiter ironisch heraus: »Ja, Herr Netz. Und sie wohnen auch in Wehrstedt? Das hab ich noch gar nicht gewusst. Aber nun geht es bald zum Thälmann-Ring, nicht? Na ja, Wehrstedt ist doch auch nur Abschaum. Da läuft doch nur Assivolk rum. Die gehen nicht zur Arbeit und nichts. Da kümmert sich der Staat nicht drum. Einsperren sollte man diese Bande. Die sind doch über.« 15
Für beide, Gottschalk und Granitz, sollte später im Westen ein neues Leben in einem völlig anderen sozialen Milieu beginnen. Nichts erinnerte mehr an ihre Zeit als »Assi« in der DDR. 16 Unter den Antragstellern dieser Gruppe gibt es deutlich mehr Männer als Frauen, und zwar solche, die in der Stadt oder auf dem Land in der Produktion meist körperlich sehr schwer arbeiteten. Zu ihnen gehörte auch Konrad Mayer, Viehpfleger in einer LPG, seine Frau war als angelernte Verkäuferin tätig. Mayer stellte 1979 und erneut 1981, nachdem er den ersten zurückgenommen hatte, für sich und seine Familie einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Zu diesem Zeitpunkt war er 26 Jahre alt und bereits zwei Mal vorbestraft. Zwar gab er eine Familienzusammenführung als Motiv für seine Antragstellung an, im Gespräch mit den Mitarbeitern der Abteilung Innere Angelegenheiten aber sprach er ganz freimütig über seine wirklichen Gründe. »Ich kenne mich da aus. Ich habe zwei Mal gesessen. Ich weiß, wie es da läuft. Das hängt mir überall nach. Ich kann hingehen wo ich will, das wird mir überall vorgehalten. Und darum. Es muss endlich mal aufhören. […] Ich kann mal nie sagen, hier wirst du jetzt anerkannt, nichts mehr drin.«
Der Mitarbeiter im Rat des Kreises Halberstadt belehrte ihn, dass es vielen vorbestraften Bürgern aber gelänge, sich wieder ordentlich einzugliedern. Konrad Mayer sagte, er hätte es durchaus versucht, aber dann sei es wieder 14 BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 515/86, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1720/85 (OV »Kessel«), Bd. 1, Bl. 97. 15 Gesprächsbericht RdK Halberstadt, Abt. I A, 24.8.1984; ebenda, Bl. 83. 16 Vgl. Interview mit Ehepaar Granitz sowie Interview mit Ulrich Gottschalk.
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losgegangen: »Probleme wie: kriegst keine Wohnung, kannst Wege laufen, überall wirst du zurückgestoßen.« Die Kaderakte ginge auch mit, wenn er den Betrieb wechseln wollte. Der Mitarbeiter sagte ihm voraus, dass er in der Bundesrepublik auch »keinen Fuß auf die Erde bekommen« werde. Herr und Frau Mayer antworteten, dass sie schon Arbeit finden werden, da sie jede Arbeit annehmen würden. Sie würden sich im Westen etwas Neues aufbauen, denn »hier kennt dich keiner, hier macht keiner mehr was. Meine Papiere sind erloschen und Schluss, aus. Darum geht es mir.« 17
4.2
»Ich geh hier nicht raus, bevor ich nicht fahren kann!«
Eine Reihe von Antragstellern hoffte, mithilfe des Antrages einen persönlichen Missstand beseitigen zu können, etwa eine akzeptable Wohnung zugewiesen zu bekommen oder die Genehmigung für eine Besuchsreise in die BRD zu erwirken. Die genaue Zahl dieses Typs von Antragstellungen ist schwer zu rekonstruieren. Das hängt damit zusammen, dass solche Personen oft nur sehr kurzzeitig »aktenkundig« wurden. Denn die Abteilung Innere Angelegenheiten bearbeitete in einer ersten Runde der Begutachtung umgehend jene »Fälle«, deren Anliegen relativ unkompliziert erledigt werden konnte. Sie wies etwa die Abteilung Wohnungspolitik an, den berechtigten Wohnraumantrag schnellstens positiv zu entscheiden oder schrieb einen Brief an den Direktor des Betriebes und bat darum, die jeweilige staatliche Entscheidung zu überprüfen. Einige Antragsteller nahmen bereits ihren Antrag zurück, wenn ihnen eine Bearbeitung zugesichert wurde. In den meisten Fällen dieser Art konnte der Rat des Kreises jedoch nicht im Interesse des Antragstellers eingreifen. Beispielsweise war es aussichtslos, eine Besuchsreise in den Westen auf diesem Wege durchzusetzen, denn das hätte die Entscheidungspraxis der Volkspolizei bzw. des MfS infrage gestellt. Da es sich jedoch um existenzielle Probleme handelte, gaben einige Antragsteller nicht auf. Die ständigen Absagen der Abteilung Inneres brachten sie an den Rand der Verzweiflung. Frau Kadunke aus Osterwieck, die als Zustellerin beim dortigen Postamt tätig war, stellte zusammen mit ihrem Mann 1979 einen Antrag auf Ausreise. Sie begründeten ihn mit dem Wunsch, zu ihrer Tochter übersiedeln zu wollen, welche 1978 eine Ausreise genehmigt bekommen hatte. Dieser und alle folgenden Anträge wurden abgelehnt. Jetzt versuchten Kadunkes, wenigstens eine Einreisegenehmigung für die Tochter zu erwirken; auch das gelang erst, nachdem das Ehepaar den Antrag zurückgenommen hatte. Dies war die Bedingung der Kreisdienststelle Halberstadt für eine solche Genehmigung gewesen. Eine 17 KD Halberstadt, Gespräch mit den Übersiedlungsersuchern, 18.5.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1669/85 (OPK »Grill«), Bl. 25–37.
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Ausreise per Antrag
zweite Besuchsreise wurde nicht genehmigt und Frau Kadunke stellte wieder einen Ausreiseantrag, diesmal ohne ihren Mann. Sie war verzweifelt und verhielt sich nach Angaben der Abteilung Innere Angelegenheiten laut und »hartnäckig«. Ein erneuter Besuch aus dem Westen ist in den Akten nicht vermerkt, auch keine genehmigte Besuchsreise, eine ständige Ausreise ohnehin nicht. 18 Beharrte ein Antragsteller auf seiner Forderung, obwohl inzwischen deutlich geworden war, dass er sein Ziel nicht erreichen würde, geriet er mit hoher Wahrscheinlichkeit wie Frau Kadunke in die Mühlen der Staatssicherheit und wurde zum »Staatsfeind« erklärt. Auch Herr Groß stellte aus sehr existenziellen Gründen einen Antrag auf Ausreise. Sein Sohn kam herzkrank auf die Welt und hätte in einem Spezialkrankenhaus in München operiert werden können. Der Zustand des Sohnes verschlechterte sich, Herr Groß stellte verzweifelt weitere Anträge, da die medizinische Betreuung seines Sohnes nach seinem Dafürhalten in Halberstadt nicht ausreichte. Das MfS wies die Kritik des Vaters zurück und empfahl, die Behandlung in Greifswald fortzusetzen. Aus dem politisch angepassten, aufgrund seiner Karriere auch finanziell gut gestellten »Genossen« wurde ein die DDR grundsätzlich infrage stellender Antragsteller. Gegen ihn eröffnete die Staatssicherheit die OPK »Meister«. 19 Unter den Antragstellern dieses Typus befanden sich viele, die in besonders schlechten materiellen und sozialen Verhältnissen lebten. Einige waren drei oder viermal verheiratet und hatten überdurchschnittlich viele Kinder. Der Alkohol spielte häufig eine große Rolle, in den familiären Beziehungen herrschten ein rauer Ton und zum Teil auch Gewalt. Beides sind allerdings keine »Merkmale« nur dieser Antragsgruppe. Einige Antragsteller aus dieser Gruppe gehörten zu den sogenannte »Rückkehrern«, das heißt, sie waren vor Jahren geflohen oder legal übergesiedelt und dann in die DDR zurückgekommen. Das Motiv ihrer Antragstellung hatte wenig mit dem Wunsch nach einem Systemwechsel zu tun, sie verbanden mit dem Umzug in den Westen die Hoffnung, aus einem chaotischen, auch als gescheitert empfundenen Leben auszubrechen. Ihre Antragstellung war eng an die augenblickliche Situation gebunden, weswegen in dieser Gruppe auch sehr viele Rücknahmen und Neuanträge zu verzeichnen sind. Gottfried Kapella wuchs bei den Großeltern in Halberstadt auf. Als er 1983 zusammen mit seiner dritten Frau einen Ausreiseantrag stellte, lagen insgesamt sieben Jahre Freiheitsentzug, zum Teil zur Bewährung ausgesetzt, hinter ihm. Seine Frau war zum fünften Mal verheiratet. Sie hatte 1960, noch vor dem Mauerbau, die DDR verlassen, war aber 1962 zurückgekommen. »Als Grund 18 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1751/83 (OPK »Lehrling«). 19 Vgl. Abschlussbericht zur OPK »Meister«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 983/84, Bl. 109–112. Die Akte enthält wenige Monate später den Eintrag, dass die Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt, entsprechend der Dienstanweisung 2/83 des Genossen Minister, den Vorschlag zur Übersiedlung der Familie M. unterbreitet hat, welchem durch die BV stattgegeben wurde.
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[für die Antragstellung, R. H.] gaben beide Personen eine Familienzusammenführung an und dass sie ansonsten nichts gegen die DDR hätten. Im am selben Tag geführten Gespräch äußerten sie, dass sie in der DDR keinen Fuß fassen würden, große Probleme mit der Arbeit, mit den Wohnverhältnissen und auch mit ihren Kindern hätten.« 20 Dreimal nahm das Ehepaar in vier Jahren seinen Antrag zurück, um ihn stets wieder neu zu stellen. Im letzten Antrag stand, dass sie endlich raus wollten, weil »ihre Lebensverhältnisse unnormal sind und es ihnen nicht gelingt, eine neue Existenz aufzubauen«. 21 Auch Herr und Frau Grass waren »Rückkehrer«, hatten drei Kinder und größte Schwierigkeiten, ihre Lebensverhältnisse zu ordnen. Ihre Probleme im Betrieb und die offensichtlich katastrophalen Wohnverhältnisse schienen ihnen in der DDR nicht mehr lösbar. Sie stellten »hartnäckig« Ausreiseanträge, nahmen diese zurück, wenn sich ihnen etwas zu verbessern schien. 1983 hatten sie die Hoffnung auf eine positive Veränderung ihres Lebens in Halberstadt aufgegeben. Klaus Grass fasste seine Kritik wie folgt zusammen: »Antrag auf Ausreise zur BRD Hiermit ziehe ich meine verzichtserklärung zurück und bitte um aberkennung der Staatsbürgerschaft der DDR. Der Grund der Ausreise der allgemeine schlechte Verdienst ist kaum noch arbeit und wir haben Wohnraum der für die Zeit nicht entsprechend ist. Dieser Staat wollte den Westen einhohlen und überholen das haben wir jetzt zu spüren bekommen. Keine freie Fahrten ins Ausland, keine Bohrmaschinen, Kreissägen, Bohrer aller art sehr große schwierigkeiten bei Bereitung Ersatzteile sehr lange Wartezeiten in vielen bereichen. Auto, Moped, Fahrräder zu Wahnsinnspreisen mit Schuhe Lederjacken Strickjacken Strumpfhosen und vieles andere mehr. Das Wohnungsproblem soll bis 1990 gelöst sein da lachen die Spatzen von den Dächern, im Jahre 2010 ist das nicht gelöst nur Propaganda. Mit der Ernährung sieht das genauso bescheiden schön aus. Keine Leber kein Schinken weder roh noch gekocht nur ein einseitiger Fraß kein Bienenhonig mit Aal und anderen Fischsorten ist es genauso bescheiden schön. Ananas, Bananen, Apfelsienen, Mandarienen sind hier schon Fremdworte geworden. Fernseher wahnsinnspreise dasselbe Radio Plattenspieler Kassetten Tonbandgeräte und alles was da noch zugehört. Der größte Fehler meines Lebens war die zurückkehr hierher. Das Leben ist hier nicht mehr lebenswert. Bitte ohne Zuchthaus und eine schnelle Ausreise und keine Jahrelange wartezeiten. Der ganze Ostblock wird in den nächsten 10 Jahren total wirtschaftlich breit sein. Der Volksmund sagt früher lebten die großen in Saus und Braus und heute ist das nicht anders. Der kleine Mann ist genau so wie einst dran. Eine Eingabe an die Volkskammer ist unterwegs. Gez. [Grass].« 22
20 Einleitungsbericht zur OPK »Schläger«, 3.9.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1247/86 (OPK »Schläger«), Bl. 12. 21 Ebenda, Bl. 1. 22 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1350/84 (OV »Rückkehrer«), Bl. 196. Alle Schreibfehler sind aus dem Original übernommen. Damit wird der Kontrast zwischen einer fehlerhaften Schreibweise und den klaren inhaltlichen Aussagen sichtbar.
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Ausreise per Antrag
Die Abteilung Inneres und die Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt wussten um solche Probleme, worunter das Wohnungsproblem mit Abstand das größte war. Und sie kannten den Verlauf einer Antragstellung, wie die von Roger Holster, die mit einer selbst für die Staatssicherheit berechtigten Forderung nach brauchbarem Wohnraum begann und mit einer grundsätzlichen Kritik an den Verhältnissen in der DDR endete. Roger Holster hatte eine Odyssee hinter sich, als er im Januar 1989 an den Rat des Kreises Halberstadt schrieb: »Ich will nicht länger hier leben, der Gedanke in der DDR alt zu werden ohne etwas erlebt zu haben, ohne die Welt gesehen zu haben, macht mich krank. Denn hier zu leben ist, als säße man in einem großen Gefängnis, und das ist nicht übertrieben. Man kann nicht tun, was man möchte, nicht hinfahren wo man will. Und vor allem man hat keine eigene Meinung. Darum ist dieser Staat in meinen Augen ein Nichts und das wird es immer bleiben. Der ganze Klimbim was da dran hängt ist total blöd. Das fängt bei der Politik an, geht über die ganze wirtschaftliche Lage und endet bei der Versorgung und das alles taugt nichts. Bitte lasst mich endlich raus aus diesem verrückten Staat.« 23
4.3
»Ich will meine Art zu leben«
Die Antragsteller der folgenden Gruppe gehörten ebenfalls zu den »Außenseitern« in der DDR. Anders als die Personen der ersten Gruppe, deren Entwicklung auf eine sehr frühe Kriminalisierung durch die Staatsmacht zurückzuführen war, der eine lebenslange Stigmatisierung folgte, waren diese aufgrund ihrer Herkunft oder des Milieus aus dem gesellschaftlichen Mainstream gefallen. Sie waren in einer Pfarrersfamilie geboren oder in einem christlichen Elternhaus erzogen worden und praktizierten ihre Weltsicht. Sie gehörten den Zeugen Jehovas an oder waren die Kinder eines Handwerkers, der privat eine Werkstatt oder einen Laden betrieb. Die Antragsteller aus solchen Herkunftsfamilien erlebten schon sehr früh Ausgrenzungen, was in einem ländlichen Gebiet, wo es keine Möglichkeiten gab, ein passendes eigenes Milieu zu finden, besonders folgenreich war. Sie wurden in ihrer beruflichen Entwicklung behindert oder fühlten sich anderweitig zurückgesetzt. Dennoch trieb sie nicht die ganze Zeit ihres Lebens die Flucht in den Westen um. Sie hatten in der Regel lange versucht, in der DDR zurechtzukommen, doch irgendwann war das Maß voll. Sehr häufig waren es die Kinder und deren beschränkte Zukunftsaussichten in der DDR, die ihnen Anlass für eine Antragstellung gaben oder die Steine, die ihnen für die eigene berufliche Entwicklung in den Weg 23 Antrag auf Ausreise an den RdK Halberstadt, Abt. I A, 23.1.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OV »Kohl«), Bl. 86.
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gelegt wurden. Das Vorgehen im Rahmen der Antragstellung war in dieser Gruppe sehr viel verhaltener als in der ersten. Sie bemühten sich, keine Gesetzesübertretungen zu begehen, argumentierten dabei jedoch durchaus politisch und führten ihre Ausgrenzung als weltanschaulich-ideologisches Argument für die Antragstellung ins Feld. Ingeborg Mattuschek heiratete mit 18 Jahren in eine Familie, die sich zu den Zeugen Jehovas bekannte und in der sie sich besonders aufgehoben fühlte. Obwohl sie bis heute kein Mitglied wurde und diese Weltanschauung auch nicht für sich angenommen hat, folgte sie mit den beiden Kindern selbstverständlich ihrem Mann in den Westen, als dieser 1975 aus der Haft einen Antrag auf Ausreise stellte. Herr Mattuschek hatte den Wehrdienst mit der Waffe verweigert und dies mit seiner religiösen Einstellung begründet. Als Ingeborg Mattuschek von ihrer eigenen Familie, die sie zur Anpassung an das neue System erzogen hatte, in die ihres Mannes wechselte, erlebte sie nicht nur eine besondere Geborgenheit, sondern auch Ablehnung von den »offiziellen Stellen«. Das war für sie eine ganz neue Situation, sie geriet in jene gesellschaftliche Randstellung, die ihr Mann und seine Familie schon immer gelebt hatten. Für seinen Antrag auf Ausreise sah Herr Mattuschek angesichts der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki 1975 sehr gute Chancen. »Da hatte er gesagt: Du, die müssen die Leute jetzt rauslassen. Das versuchen wir. Dann haben wir die Chance, wegzukommen.« 24 Obwohl es in der DDR nie verboten war, als aktiver Christ zu leben, geriet Bernd Prützmann trotz oder wegen seiner Mitgliedschaft in der CDU ins Fadenkreuz der Staatssicherheit. Er stammte aus einer Pfarrersfamilie. Zusammen mit seiner Frau und den beiden damals 8- und 9-jährigen Kindern stellte er 1988 einen Antrag auf Ausreise. Das Ehepaar gab persönliche Gründe an und hob hervor, dass ihre Kinder keine Oberschule besuchen dürfen und es damit keine berufliche Perspektive für sie geben würde. Die Staatssicherheit konnte ermitteln, dass sich Prützmanns im kirchlichen Umfeld der Bartholomäuskirche in Blankenburg aufhielten und verschiedene Kontakte zu Pfarrern pflegten. Bernd Prützmann hielt enge Verbindung zu einem bereits ausgereisten Antragsteller, der wie er und seine Familie als CDU-Mitglied große Schwierigkeiten gehabt hatte. So konnte er seinen Berufswunsch als Lehrausbilder nicht realisieren, was ihn schließlich zu einem Ausreiseantrag bewog. Frau Fischer ist die Tochter eines privaten Halberstädter Handwerkers, ihr Vater reparierte Fahrräder und Motorräder. Sie kannte die Ausgrenzung von Kindesbeinen an, zumal sie sich selbst als der Typ beschreibt, der »sich nicht den Mund verbieten lässt«. Obwohl sie immer viele Westfreunde hatte, kam ihr der Gedanke an einen Ausreiseantrag erst, nachdem sie ihren zweiten Mann kennengelernt hatte. Dieser trug lange Haare, reiste zu Konzerten der 24
Interview mit Frau Mattuschek, 15.12.2009, Transkript, S. 24.
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Ausreise per Antrag
DDR-Bluesgruppen und protestierte gegen den Einmarsch der WarschauerPakt-Truppen in die ČSSR 1968. Er wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Frau Fischer sagte im Interview über ihren Mann, er sei eben ein »kleiner Revoluzzer«. Sie waren Außenseiter in Halberstadt. Beide stellten 1983 einen Antrag, sie wollten nach ihrer Façon glücklich werden. »Denken konntest du zwar, was du wolltest, aber nur heimlich. Aber dein Leben konntest du nicht leben, wie du wolltest.« Nach ihrer Ausreise flogen sie als erstes nach Texas und machten eine Motorradtour durchs Land. 25 So ähnlich kann auch das Motiv beschrieben werden, das das Ehepaar Kröger 1982 veranlasste, einen Antrag auf Ausreise zu stellen. Frau Kröger war Ärztin, ihr Mann arbeitete nach einem Biologiestudium in einem wissenschaftlichen Institut. Bereits während des Studiums fiel Dr. Paul Kröger dem MfS durch »negative Diskussionen« auf. Auch im Institut stand er lange vor dem Ausreiseantrag unter Kontrolle. Er sei gesellschaftlich nicht aktiv und würde sich nicht ausreichend für das Kollektiv interessieren. Nach dem Antrag auf Ausreise denunzierten die inoffiziellen und offiziellen Informanten der Staatssicherheit das Ehepaar und entwarfen ein Bild völligen Außenseitertums. Herr Kröger sei kein ordentliches Mitglied des Kollektivs, »was sich besonders in seiner äußeren Erscheinung […] widerspiegele«. Dem Ehepaar werden »unordentliche Wohnverhältnisse und ungeregelte Familienverhältnisse« nachgesagt, die Wohnungseinrichtung wäre ärmlich, in der »guten Stube gäbe es keinen Teppich«, handgemalte kleine Bildchen verunzierten die Wohnungstür. Es würden Meerschweinchen und Kaninchen im Badezimmer gehalten und die Kinder würden antiautoritär erzogen. Da Herr Kröger offensichtlich die Wäschereinigung übernahm, wird er von einem IM als »Trottel« bezeichnet. Zweifellos lebte das Ehepaar Kröger eine moderne Beziehung, die im Kreis Halberstadt und aus der Sicht konservativer MfS-Berichterstatter als »asozial« denunziert wurde. Herr Kröger begründete seine Antragstellung mit den Worten, er sei 33 Jahre alt und der Gedanke, den Rest seines Lebens in der DDR verbringen zu müssen, sei ihm unerträglich. Er könne nicht ins Ausland reisen und bekäme keine ausreichenden Informationen über kulturelle, ökonomische, politische und kirchliche Ereignisse. Fachlich könne er sich nicht weiterbilden und seine Frau bekäme nicht die Behandlung, die sie benötige. Er wolle seine Kinder nicht zum Hass erziehen und lehne deren vormilitärische Ausbildung ab. 26 Nicht zufällig finden sich in dieser Gruppe von Antragstellern Musiker, Lehrer, Ingenieure, Theaterleute, selbstständige Handwerker und Ärzte. Häufig kamen sie bereits aus solchen Herkunftsfamilien und hatten inzwischen ihr eigenes Milieu gebildet. Sie stellten einen Ausreiseantrag, weil sie an einer 25 26
Interview mit Herrn und Frau Fischer, Halberstadt, 8.7.2009. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2449/84 (OPK »Gärtner«).
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individuellen Lebensplanung gehindert wurden. 27 Sie und ihre Kinder erlebten zum Teil massive Ausgrenzungen und Herabsetzungen. Ihre Familienbindung war in der Regel stark, häufig waren Mitglieder der Familie bereits im Westen. Dies und der Umstand, dass sie aufgrund ihrer Milieubindung weniger isoliert und auf sich zurückgeworfen waren, unterscheidet sie von den Antragstellern der ersten Gruppe. Obwohl die gesellschaftliche Isolation, in die sie nach der Antragstellung gerieten, für sie weniger ungewohnt war, stellte die »Wartezeit« alle Familienmitglieder auch dieser Antragsteller auf eine harte Probe. Anders als in der ersten Gruppe bewirkte die Staatssicherheit für diese Antragsteller häufig ein Berufsverbot, ihre Kinder waren besonderen Schikanen ausgesetzt.
4.4
»Wieso zerreißt man hier Familien?«
Hier ordnen wir all jene Halberstädter ein, die zu Verlobten in den Westen wollten, zum Mechaniker aus München, den eine Frau während seiner Tätigkeit in Halberstadt kennengelernt hatte, oder zur pflegebedürftigen Mutter, die bereits vor Jahren als Rentnerin nach Westdeutschland ausgereist, oder zur Tochter, die über Ungarn nach Westdeutschland geflüchtet war. Die von der Staatssicherheit so genannten Verbleiber, also Besuchsreisende, die nach einer Westreise nicht wieder in die DDR zurückgekommen waren, hatten in einigen Fällen den Ehemann oder die Ehefrau zurückgelassen, welche nun mithilfe eines Ausreiseantrages nachkommen wollten. In diese Gruppe gehören auch die Kinder, die mit Vollendung des 18. Lebensjahres ihren eigenen Antrag stellten, um dem Vater oder der Mutter zu folgen. Stefanie Togalla, die 1983 den Antrag stellte, zu ihrem Vater in den Westen ausreisen zu dürfen, war kein Einzelfall. 28 Es gab Halberstädter Antragsteller, deren »halbe« Familie im Westen lebte. Den Anlass zur Antragstellung boten der Tod eines letzten Verwandten in der DDR, eine Scheidung oder der Auszug der Kinder aus der gemeinsamen Wohnung. Jetzt hielt sie nichts mehr. Gerhard Müller war mit 15 Jahren zusammen mit den Eltern von Westdeutschland in die DDR übergesiedelt. Zehn Jahre später ging die Mutter mit zwei Geschwistern wieder zurück. Die Eltern waren geschieden, der Vater blieb mit Michael und seiner Schwester in Halberstadt. Kurze Zeit später versuchte Gerhard Müller auf legalem Wege seiner Mutter zu folgen. Die Staatssicherheit ordnete ein besonders rigides »Rücknahme-Programm« durch den Betrieb und seine Sportfreunde an. Nach vier Jahren Wartezeit kam Gerhard Müller in Untersuchungshaft des MfS. Es folgten ein halbes Jahr lang Verhöre, die ihn »mehrfacher landesverräterischer Agententätigkeit« überfüh27 28
Interview mit Eckehard Meinunger, 6.4.2011. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«).
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Ausreise per Antrag
ren sollten. Gerhard Müller wollte nichts weiter, als zu seiner »zweiten Familienhälfte« in den Westen auszureisen, in der DDR hatte er keine Menschen mehr, die ihn hielten. 29 Die Teilung Deutschlands und die seit 1961 dicht geschlossene Grenze hatten die Familien vieler späterer Antragsteller zerrissen, jetzt brauchten sie die Hilfe der Verwandten. Zu ihnen gehörte Heidrun Scharf, die nach der Ausreise mit ihren drei Kindern und ihrem polnischen Mann bei der Schwester in Nordrhein-Westfalen gut aufgenommen wurde und einer offensichtlich finanziell unerträglichen Lage in der DDR entkommen konnte. 30 Das zentrale Motiv dieser Antragsteller ist die »Familienzusammenführung«. Die geschlossene Grenze erschien ihnen als unmenschlich und widernatürlich. »Wieso zerreißt man hier Familien?«, fragte Frau Liebig den Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten im Rat des Kreises. 31 Und Frau Togalla wird mit den Worten zitiert: »Dass sich Verwandte sehen wollen, ist doch normal.« 32 Doch selbst diese Ausreisewilligen bekamen nach der Antragstellung große Schwierigkeiten, etwa dann, wenn die Person, zu der sie ausreisen wollten, in den Westen geflüchtet oder von einer Reise nicht zurückgekommen war. Gehörten sie einer sogenannten volkswirtschaftlich wichtigen Berufsgruppe an und waren selbst weder krank noch invalid, wurde auch diese Antragstellung zur Tortur. Natürlich lassen sich die Antragsteller auch hier nicht immer eindeutig nur der einen Gruppe zuordnen, doch weisen sie sich durch eine Reihe besonderer Merkmale aus. So sind unter ihnen jene Personen vertreten, die, wenn sie zu Besuchen problemlos über die Grenze hätten reisen können, überhaupt keinen Antrag gestellt hätten. 33 Zudem verhielten sich die Antragsteller aus dieser Gruppe zunächst sehr vorsichtig, sie hofften auf die Großzügigkeit des Staates. Erst nachdem ihr Antrag wiederholt abgelehnt wurde, änderten sich Einstellung und Verhalten: Sie wurden immer verzweifelter, formulierten aggressiver und äußerten sich dezidiert politisch. 34 29 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1889/83 (OV »Spieler«), Bde. 1 u. 2. 30 Telefongespräch mit Heidrun Scharf, 1.12.2009. 31 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA 12201, sowie Kurzbiografie in Kapitel 3 dieses Bandes. 32 Informationsbericht, 20.12.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bd. 2, Bl. 197. 33 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA 12201, sowie Kurzbiografie des Ehepaares Liebig in Kapitel 3 dieses Bandes. 34 Edeltraut Kutz möchte zu ihrer Mutter in den Westen, deren Pflegebedürftigkeit schützt sie vor. Aber das ist nicht der Grund, warum gegen sie zunächst ein Operativer Vorgang angelegt und wenig später ein Haftbefehl erlassen wird. In ihrer Verzweiflung hat sie einen »Grenzdurchbruch« angedroht, der bösartigerweise von der Staatssicherheit als reale Option ausgelegt wird. Vgl. Kurzbiografie in Kapitel 3 in diesem Band, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2033/83 (OV »Bürge«), Bd. 1.
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Der Versuch, mithilfe einer fingierten Hochzeit in den Westen ausreisen zu dürfen, soll zum Standardrepertoire einer bestimmten Ausreiserszene gehört haben. Für den Kreis Halberstadt lässt sich dies nicht nachweisen. Hier fanden wir in den Akten lediglich ein Beispiel einer »vorgetäuschten Heirat« mit einem Mann aus dem westlichen Ausland. 35 Selbst dort, wo die Staatssicherheit eine derartige Täuschung vermutete, wie im Fall von Renate Georgius, beschreiben die Akten ein anderes Bild. 36 Sie lernte einen österreichischen Monteur kennen und lieben, der in Ilsenburg auf Montage war und nun wieder in Wien lebte. Nachdem sie sich einige Male in Prag getroffen hatten, stellte Frau Georgius einen Antrag auf Ausreise und Aberkennung der DDRStaatsbürgerschaft. Renate Georgius ging davon aus, nichts Unrechtes zu tun: »Bis jetzt bin ich noch ruhig geblieben und habe das alles in mich reingefressen. Ich habe bisher nichts getan, bin der Hoffnung gewesen, dass es klappen würde, dass ich mein Leben leben kann, wie ich es gern möchte.« 37 Es sind vor allem Frauen, die zum Partner wollten, zum Vater oder zur Mutter. Nachdem Helga Prützel zunächst mit ihrem Mann in den Westen ausreiste, um ihn dort zu pflegen, kehrte sie nach dessen Tod wieder zurück, weil sie nunmehr ihre alten Eltern in Halberstadt unterstützen wollte. 38 Die Reaktion der Staatssicherheit auf solche Antragstellungen war erstaunlich hart. Das hing vor allem damit zusammen, dass es unter ihnen viele jüngere Menschen gab, in jedem Fall »brauchbare Arbeitskräfte«, zum Teil gut ausgebildet, die mit allen Mitteln »zurückzugewinnen« waren. Da gerade unter den Antragstellern, die eine »echte Familienzusammenführung« anstrebten, die Meinung vorherrschte, sie pochten lediglich auf ihr Recht, standen sie der brutalen Reaktion des Staates besonders hilflos gegenüber. Jaqueline Böhmer wollte zu ihrem Verlobten in den Westen, dieser war kurz zuvor legal ausgereist. Sie war 20 Jahre alt und Krankenschwester im Kreiskrankenhaus Halberstadt. Die Mutter und der Bruder lebten bereits in Westdeutschland. Es folgten jahrelange »Rückholgespräche«, in denen die Staatssicherheit mit Intrigen versuchte, sie von ihrer Absicht abzubringen. 39 Brigitte Schneider ist ebenfalls Krankenschwester und wie Jaqueline Böhmer wollte sie zu ihrem Verlobten nach Westberlin, der zwei Jahren zuvor aus der Haft dorthin entlassen worden war. Bereits nach zehn Monaten bekam sie die Genehmigung, in den Westen ausreisen zu dürfen. Sabine Schneider fiel unter die Ziffer 11, das heißt, ihre Ausreise lag im »operativen« Interesse der 35 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1513/86 (OPK »Type«). 36 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 805/83 (OPK »Ilse«). 37 Tonbandabschrift zur Gesprächsführung des Genossen Netz vom RdK Halberstadt, Abt. I A, mit der Ersucherin [Georgius] auf Übersiedlung in die BRD, 6.11.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 1719/85 (OV »Wien«), Bl. 139. 38 Telefongespräch mit Helga Prützel, 23.9.2010. 39 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1468/84 (OPK »Verlobung«).
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Ausreise per Antrag
DDR, denn sie war Teil einer Jugendszene in der Kreisstadt Halberstadt, die von der Staatssicherheit zerstört werden sollte. Das Interesse, die Szene aufzulösen, wog letztlich schwerer, als die dringend benötigte Arbeitskraft von Sabine Schneider im Krankenhaus erhalten zu wollen. 40
4.5
»Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um noch mal neu anzufangen«
Wenn Halberstädter dieser Gruppe ihre Anträge beim Rat der Stadt abgaben, fragte sich die Staatssicherheit häufig, welches die wirklichen Gründe der Antragstellung sein könnten. Sie wies ihre offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter an, die Motive der Antragstellung »herauszuarbeiten«, die ihnen nicht ersichtlich erschienen. Die Kreisdienststelle des MfS listete akribisch auf, wie deren finanzielle und materielle Lage war, und musste feststellen: Sie verdienten sehr gut, hatten Auto und Haus, ihre Kinder waren ordentliche Schüler und gute Pioniere. Selbst als »Nichtwähler« waren die meisten bislang nicht aufgefallen. Ihre Familienverhältnisse galten als »geordnet«. Die Staatssicherheit musste bei einer Reihe von ihnen feststellen, dass sie »nicht direkt gegnerisch eingestellt« waren. 41 Im Gegenteil: Einige dieser Antragsteller standen sogar auf dem »Werbungsplan« des MfS, waren Mitglied in der SED, kamen aus einem Elternhaus, in dem die Eltern in der Partei waren oder für die Staatssicherheit arbeiteten. 42 Für die Behörden waren solche Antragsteller Bürger, die mit diesem Schritt unverhofft und ohne ersichtlichen Grund ihre staatliche Loyalität aufkündigten. Weder beabsichtigten sie, mithilfe einer Antragstellung Druck auszuüben, um existenzielle Probleme zu lösen, noch beruhte ihre Antragstellung auf einer »echten« Familienzusammenführung. Sie kamen aus der Mitte der DDR-Gesellschaft und wurden in den 1980er Jahren im Kreis Halberstadt für die dortigen Antragstellungen immer typischer. In dieser Gruppe befanden sich auch sehr selbstbewusste, qualifizierte Facharbeiter, die sich in der Arbeit nicht ausgelastet fühlten und unfähigen Vorgesetzten ausgesetzt waren. Es gab überdurchschnittlich viele Meister und einige Ingenieure unter ihnen. Thomas Lüdecke etwa absolvierte nach der Lehre ein Ingenieurstudium, trat in die SED ein und arbeitete in leitenden Stellungen im VEB Maschinenbau Halberstadt. Er heiratete und stellte 1976 für sich und seine zwei Kinder einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Die auf ihn angesetzten IM berichteten übereinstimmend, dass der Grund für diesen Schritt in 40 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1391/84 (OV »Asyl«). 41 Vgl. z. B. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1905/85 (OPK »Drucker«). 42 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), 2 Bde., sowie AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), 2 Bde.
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dem Umstand zu suchen sei, dass Thomas Lüdecke nicht Reisekader werden könne, was jedoch für seine Tätigkeit unabdingbar gewesen wäre. Die Denunzianten schienen Verständnis für die diskriminierende Lage des Kollegen zu haben. So beschrieben sie, dass ihm ein »unfähiger Kollege vorgesetzt« worden sei, was dazu geführt hätte, dass in der betreffenden Abteilung eine »schlechte Leitungstätigkeit« bestehe. 43 Herr und Frau Hellweg waren sehr anerkannte Kollegen in ihrem Betrieb. Siegfried Hellweg war Offsetdrucker, seine Frau arbeitete als Modellnäherin im VEB Kleiderwerk. Gegen Siegfried Hellweg legte das MfS bereits 1975 eine OPK an, denn er war bekennender Nichtwähler und machte aus seiner kritischen Haltung gegenüber Staat und Partei keinen Hehl. 44 Die Staatssicherheit reagierte mit einer Reisesperre und verhinderte seine bevorstehende Wahl in die Betriebsgewerkschaftsleitung. Siegfried Hellweg war der Typ eines selbstbewussten Facharbeiters, dessen Arbeit offiziell nicht entsprechend anerkannt wurde. 45 »Wir hatten eine Maschine, die hat keiner heil gekriegt, auch die Reparateure nicht. Ich habe das geschafft. Da hat mir der stellvertretende Leiter hinter der Wand einen Umschlag mit 100 Mark in die Hand gedrückt, damit es keiner sieht.« 46 Für Frau Hellweg ist die Situation im Betrieb ebenfalls der entscheidende Grund für ihren Ausreiseantrag. Kein Material gäbe es, man könne keine Leistung zeigen, ihre Entwicklungsmöglichkeiten seien ohnehin am Ende angelangt. 47 Ein anderes Ehepaar, Ingenieure in einem Halberstädter Baubetrieb, begründeten ihre Antragstellung 1983 gleichfalls mit der Erkenntnis, dass sich »hier nie was ändern wird« und bezogen diese Einschätzung vornehmlich auf die Lage im Betrieb. 48 43 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1500/83 (OPK »Altenburg«), verfilmt, o. Pag. 44 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1139/88 (OPK »Druck«), Bl. 192. Als er den Meister bei der Gestaltung einer Wandzeitung mit »Sichtmaterial« antrifft, begrüßt er ihn mit den Worten: »Dir müssten die Hände abfallen!« Der Meister denunziert ihn, was zur Eröffnung der OPK »Walze« führt. Siegfried Hellweg kann den Spieß umdrehen und denunziert seinerseits den Meister bei der Leitung: Dieser würde Westpakete mit Fußball- und Pornozeitungen bekommen, er, Siegfried Hellweg, sei so enttäuscht über diese Doppelzüngigkeit des Meisters gewesen, dass er sich zu dem Satz hätte hinreißen lassen. Es kann kein Ermittlungsverfahren gegen Herrn Hellweg eingeleitet werden, die Anklage wegen Staatsverleumdung wird fallen gelassen. 45 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1139/88 (OPK »Druck«), Bl. 127. 46 Aussprache beim RdK Halberstadt, Abt. I A, 15.5.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1139/88 (OPK »Druck«), Bl. 37. 47 Im Rahmen einer betrieblichen »Aussprache zur Rückgewinnung« demonstriert Frau Hellweg ihre Arbeitseinstellung mit der Bemerkung, sie möchte das Gespräch kurz halten, da sie zur Arbeit müsse. Der Betriebsteilleiter notiert: »Ihr wurde von den Anwesenden klar gemacht, dass die Leistungssteigerung in allen Bereichen der Volkswirtschaft uns wichtig sei, dass aber die Sicherung unserer Gesellschaft noch wichtiger sei.«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1139/88 (OPK »Druck«), Bl. 129. 48 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1904/85 (OPK »Verwandtschaft«).
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Ausreise per Antrag
Die Antragsteller dieser Gruppe zeichneten sich durch eine besonders aktive Haltung aus. Unter ihnen waren mehrere, die den in der DDR nicht einfachen Versuch unternommen hatten, ihr Lohnabhängigendasein in eine selbstständige Existenzweise umzuwandeln, was ihnen Schikanen von staatlicher Seite einbrachte. Sie wurden kriminalisiert, erlebten unüberwindbare Schwierigkeiten beim Kauf oder Verkauf ihres Hauses oder erhielten keine Baugenehmigung. Sie fühlten sich der Willkür der kommunalen Behörden ausgesetzt und irgendwann »lief das Fass über«, sie stellten einen Antrag auf Ausreise. Manfred Reither, 1952 geboren, wuchs in einer staatskonformen Familie auf. Sein Vater war kommunaler Angestellter, seine Mutter stellvertretende Betriebsleiterin. Beide waren Mitglied der SED, ebenso die Großeltern von Frau Reither. 49 Manfred Reither trat ebenfalls in die Partei ein. 50 Er machte seinen Meister und besuchte eine Schulung zum Lehrausbilder. Manfred Reither hatte ein Hobby, das die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf ihn lenkte: Er interessierte sich für den Modellbau von Flugzeugen. 1981 beantragte er eine Gewerbegenehmigung für Modellbauzubehör. Nunmehr begannen – aus Sicht des MfS – »die Schwierigkeiten« mit Herrn Reither: Er nahm Kontakte zu Modellbauern im Westen auf, was zu einer »negativen Entwicklung« der längst unter Beobachtung stehenden Familie führte. Tatsächlich wurden dem geschäftstüchtigen Selbstständigen überall Steine in den Weg gelegt. Seine Postsendungen kamen nicht an, und der Versuch, ihm Zollverstöße zu unterstellen, ließen ihn an den Rand der Kriminalisierung geraten. Herr Reither trat aus der Partei aus, war gezwungen, sein Gewerbe aufzugeben, da ihm auf Weisung der Staatsorgane Materiallieferungen gekürzt worden waren. Seinen Antrag auf Ausreise aus der DDR begründete er mit »[p]olitische[r] und ökonomische[r] Unzufriedenheit!« 51 Familie Reither fühlte sich unmündig behandelt und sagte der DDR den wirtschaftlichen Niedergang voraus, an dem sie nicht mehr teilhaben wollte. 52 Die Bemühungen der staatlichen Behörden, eine Rücknahme des Antrages zu erreichen, waren bei diesen Antragstellern naturgemäß besonders intensiv und das »operative Interesse«, sie »loszuwerden«, eher gering. Die Behörden unternahmen selbst dann größere Anstrengungen, die guten Arbeiterinnen und Arbeiter zur Rücknahme zu bewegen, wenn ihre »negativ-feindliche Gesinnung« offensichtlich wurde. 53 Irrtümlicherweise führten einige Antragsteller ihre besondere Disziplin und Leistungsbereitschaft in der Arbeit als Argument 49 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88 (OV »Modell«), Bd. 1, Bl. 213 f. 50 Ebenda, Bl. 72. 51 Ebenda, Bl. 141. 52 Vgl. die Strafverfolgungsakte; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 674/86, Bd. 1–3. 53 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 2344/89 (OV »Kantine«), Bd. 1. Noch im Eröffnungsbericht kann das MfS nicht umhin, beiden eine glänzende Arbeitsmoral zu bescheinigen.
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an, rausgelassen zu werden. Sie betonten, dass sie sich nie hätten etwas zuschulden kommen lassen und trotz aller Widrigkeiten bis zum Schluss ihren Pflichten nachgekommen seien. Auf Günther und Barbara Karl wird ein solcher Druck ausgeübt, dass sie tatsächlich am Ende eines stundenlangen Verhörs im Rahmen ihrer »Zuführung« einen Text mit dem Wortlaut unterschreiben: »Hiermit nehme ich […] meinen Ausreiseantrag zurück. Ich habe mich entschlossen, in der DDR zu verbleiben und mich den Gesetzen der DDR anzupassen. Begründung: Die Zukunft meiner Familie steht an erster Stelle und die möchte ich nicht gefährden.« Frau Karl wird noch der Satz diktiert, »dass wir und unsere Kinder eine gesicherte Zukunft haben wollen, dass wir nicht um den Arbeitsplatz bangen möchten und dass wir die Kinder davor bewahren möchten, an Drogen und sonstige Rauschgifte heranzukommen.« 54 Die Freude der Staatssicherheit währte nur kurz, drei Tage später widerrief das Ehepaar diese Rücknahme. Das MfS wusste immer noch nicht, warum die Familie die DDR verlassen wollte. Herr Karl hatte eine gute Arbeit in der Holzindustrie, seine Frau arbeitete als Friseurin in der PGH Figaro. Die Begründung in ihrem Antragsschreiben hatte die Behörden offensichtlich nicht überzeugt. »Wir kommen nicht weiter«, heißt es da, »die Probleme werden immer größer. Wir fangen drüben von vorn an […] Wir reisen gern und möchten auch mal was von der Welt sehen. Nur Arbeit kann ja wohl nicht alles sein.« 55
Katja Lüders, eine Sparkassenangestellte aus Halberstadt, hatte ebenfalls große Sehnsucht nach Veränderung, sie wollte endlich etwas »sehen von der Welt«, der Gedanke, ihr Leben im Kreis Halberstadt beenden zu sollen, ließ sie verzweifeln. 56 Die Staatssicherheit bzw. deren Zuträger denunzierten solche Frauen wie Katja Lüders, bescheinigten ihnen einen ungezügelten Lebenswandel, viele Männerbekanntschaften, ein ausgeprägtes Konsumbedürfnis und den Hang zu einer westlichen Lebensweise. Damit hatten sie in ihren Augen endlich auch eine Erklärung für deren Ausreisebegehren gefunden. Tatsächlich gibt es in dieser Gruppe Halberstädter Antragsteller viele Frauen und Männer, die sehr weitgehende Ansprüche an ihr eigenes Leben formulierten, mit dem bisher Erreichten in jeder Hinsicht unzufrieden waren und Lust auf Leben und Veränderung spürten. 57
54 KD an RdK, Abt. I A, 23.4.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1239/86 (OPK »Holz«), o. Pag. 55 Übersiedlungsantrag, 5.7.1984; ebenda. 56 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOPK, Nr. 1441/88 (OPK »Bank«). 57 Vgl. z. B. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«).
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Ausreise per Antrag
Warum aber machten diese Antragsteller ihr längst nicht mehr oder noch nie vorhandenes staats- und parteiloyales Verhalten gerade zu diesem Zeitpunkt öffentlich? 58 Die geschilderten Schwierigkeiten kannten sie nicht erst zum Zeitpunkt der Antragstellung, sie hatten sie bisher auch gemeistert. Was war passiert, dass sie zu der Einschätzung kamen: »Jetzt ist Schluss!« 59 Fraglos war die gesellschaftliche Situation, die namentlich in den 1980er Jahren ein Gefühl der Stagnation und Ausweglosigkeit verbreitete, in der sich jedoch zugleich die Chance erhöht hatte einen Antrag auf Ausreise genehmigt zu bekommen, bestimmend für den gewählten Zeitpunkt. Aber gab es auch einen Zusammenhang zu ihren Biografien? Der Umstand, dass in dieser Gruppe mehrheitlich Paare im Alter zwischen 30 und 40 Jahren einen Antrag stellten, lenkt den Blick auf ein bisher vernachlässigtes Motiv, nämlich das Bedürfnis, sich in der Mitte des Lebens noch einmal gründlich verändern zu wollen. »Jetzt war der richtige Zeitpunkt«, sagt ein Interviewpartner, »um noch mal neu anfangen zu können.« 60 Günter und Karin Großmann stellten für sich und ihre zwei Kinder einen Antrag auf Ausreise, den sie mit der Pflegebedürftigkeit der Mutter begründeten: «Wir haben keinen politischen Antrag gestellt und wollen auch nicht aus wirtschaftlichen Gründen die DDR verlassen. Unser Ausreiseantrag beruft sich auf Familienzusammenführung und unsere Mutter hat dringend Hilfe nötig. In diesem Fall möchten wir uns selbst entscheiden und uns nicht von der DDR entmündigen lassen.« 61 Tatsächlich aber lebte der Bruder von Günter Großmann seit 1953 in Westdeutschland, nachdem er wegen seiner Beteiligung am Arbeiteraufstand fliehen musste. 62 Es gab weitere Personen im Westen, die die Mutter hätten unterstützen können. Günter Großmann hatte bis zu dem Zeitpunkt der Antragstellung trotz zahlreicher Diskriminierungen, die er wegen der Flucht des Bruders erlitt, eine Karriere vom Schlosser zum Meister gemacht, inzwischen war er auch Mitglied der SED geworden. Er war im Betrieb sehr anerkannt, was sich in zahlreichen Prämierungen und in dem 58 »Wenn Du den ersten Antrag abgibst, dann wissen sie, was für einer du bist. Und das vergessen sie dir nie!«, Interview mit Herrn Meinunger, 6.4.2011, S. 19. 59 Interview mit Uwe und Kornelia Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 17, »Da haben wir gesagt, jetzt ist Schluss!« 60 Vgl. Interview mit Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 21. Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1855/80 (OPK »Piko«). 61 Ebenda, Bl. 41–42. 62 Als am 17. Juni 1953 auch in Halberstadt die Arbeiter streikten, arbeitete der große Bruder von Herrn Großmann im RAW Halberstadt. Er hielt eine Rede im Betrieb und wurde in die Streikleitung gewählt. »Es hieß dann: Mein Bruder hat eine Rede gehalten. Und der wird gesucht. Der sollte verhaftet werden. Das war natürlich prägend für mich.« Interview mit Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 7. Der Bruder kann über die »grüne Grenze« fliehen. Für Günter mischen sich noch in der Erinnerung Stolz auf den großen Bruder und Angst vor den Russen, die ihn überall, auch zu Hause und in Günters Kinderzimmer, suchten. Der große Bruder blieb von nun an die Lichtgestalt und ein Vorbild für Günter Großmann.
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Vorschlag ausdrückte, ihn zum Ingenieurstudium zu delegieren. 63 Er sagt von sich selbst: »Ich war immer loyal der DDR gegenüber. Ich war in der SED. Zwangsweise sogar in der Kampfgruppe.« 1962 lernte er seine spätere Frau kennen, die von Kindheit an dazu erzogen wurde, nichts gegen den Staat zu sagen. Ihr gemeinsames Leben verlief geordnet und materiell immer besser. Sie wohnten zunächst in einer Neubauwohnung und konnten bereits Anfang der 1970er Jahre ein Haus bauen. Inzwischen lebten nicht nur der zweite Bruder von Günter Großmann, sondern auch die Eltern und die Familie des Bruders von Karin Großmann im Westen. Die Kontakte blieben stets eng. In den Telefongesprächen, den Briefen und während der Besuche gab es nur ein Thema: Wie lebt es sich im Westen? Die Schilderungen fielen dabei sehr unterschiedlich aus und es hätte durchaus auch kritische Bemerkungen über den Westen gegeben, das eben »nicht alles Gold ist, was glänzt«. 64 Dieser enge Bezug zum Westen war allerdings nicht neu und es stellt sich die Frage, warum sie gerade zu diesem Zeitpunkt die Antragstellung wagten. Gefragt nach besonderen Vorkommnissen, die den Anlass zur Antragstellung gegeben haben, zählen sie die vormilitärische Ausbildung ihrer Tochter auf, dass Günter Großmann einen Kollegen wider Willen für die Kampfgruppe werben sollte und dass es nichts zu kaufen gab: »Die Versorgung wurde ja nicht besser, die Zustände wurden ja immer schlechter.« 65 Aber waren das die Gründe? Das Ehepaar Großmann räumt im Interview ein, dass sie eigentlich nicht sagen können, warum es sie plötzlich »gepackt hat«, denn der allgemeine Frust über die DDR sei bei ihnen schon lange vorhanden gewesen. 66 Sie erinnern sich an den Augenblick der Antragstellung: »Wir waren ja noch jung […] Ich war damals 35. Sicher hat man gedacht, man kann noch mal was Neues anfangen. Das will ich nicht abstreiten. Der Bruder sagt: Du bist Meister. Sie ist Gebrauchswerber, Dekorateur. Das sind zwei prima Berufe. Ihr könnt im Westen wieder Fuß fassen. Das spielte da in die Überlegungen natürlich auch rein. Dass man mit 35 noch mal was anfängt, das ist doch nichts Schlimmes.« 67
Das Ehepaar Großmann steht exemplarisch für die Antragsteller, die nicht nur aus »der Mitte der Gesellschaft« kamen, sondern die auch in der Mitte ihres Lebens standen. Für sie war in jeder Hinsicht der richtige Zeitpunkt für einen grundsätzlichen Neuanfang gekommen, einen Neubeginn, weil ihnen das Leben in der DDR perspektivlos erschien. Das Ehepaar Paul hat sich »hochgearbeitet«, beide bekleideten Leiterposten im Halberstädter Gaststättenbetrieb. Mit einer solchen Funktion hatten sie das 63 64 65 66 67
Interview mit Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 9. Ebenda, S. 24. Ebenda, S. 26 u. 23. Ebenda, S. 26. Ebenda, S. 27.
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Ausreise per Antrag
»Ende der Fahnenstange« erreicht. Wer aber die DDR von damals kannte, weiß, was das für Rahmenbedingungen waren und welche Tristesse gerade auch im Gaststättenbereich herrschte. Wer hier eine Gaststätte gut führen wollte, musste verzweifeln. Dem Ehepaar Paul wurde »alles einfach zu eng in der DDR«, weder am Leben noch an ihrem Beruf hatten sie Freude. 68 Als der selbstständige Malermeister Fred Baumgarten und die Sachbearbeiterin Inge Baumgarten für sich und ihre zwei Kinder 1987 einen Antrag auf Ausreise stellten, beschrieben sie in ihrer Eingabe an das ZK der SED und den Staatsrat der DDR das gleiche Lebensgefühl. Um den ihnen aus zahlreichen »Rücknahmegesprächen« bekannten Argumenten den Wind aus den Segeln zu nehmen, stellten sie zunächst klar, dass sie die Vorzüge der DDR, »das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherheit sowie auf freie Berufswahl usw.« durchaus anerkennen würden. Sie fügten dem jedoch hinzu, dass sie als mündige Bürger auch von allen anderen Rechten, etwa dem nach Freizügigkeit, Gebrauch machen wollten. 69 Es folgt eine längere Erklärung, die dem Empfänger verdeutlichen sollte, warum das Ehepaar Baumgarten aus der DDR ausreisen möchte. »Wir können mit Fug und Recht behaupten, dass wir in den vergangenen Jahren auch unseren Pflichten jederzeit gewissenhaft und mit viel persönlichem Engagement und Einsatz nachgekommen sind. Trotz großer Schwierigkeiten in Bezug auf Materialbereitstellung haben wir die Initiative ergriffen und ein Eigenheim in Initiativbauweise errichtet – somit nicht tatenlos abgewartet, bis wir vom Staat entsprechend Wohnraum zur Verfügung gestellt bekommen haben. […] Ferner bin ich [Fred Baumgarten] selbstständiger Malermeister und arbeite so manche Stunde mehr als ein VEB-Arbeiter und lege auf qualitativ gute Arbeit großen Wert. Zurzeit sieht es jedoch so aus, dass sämtliche Arbeitsmaterialien, angefangen vom Pinsel, Bürste, Ölfarbe und andere Anstrichstoffe nicht ausreichend oder in miserabler Qualität und unter großen Schwierigkeiten zu beschaffen sind, so dass ich mich manchmal schämen muss […] für die Arbeiten einzustehen. Die Kunden sind oft unzufrieden und ich sehe keine Möglichkeit, diesen Zustand zu verändern.«
Unvermittelt kommt Fred Baumgarten auf die zurzeit bestehenden Erleichterungen im Reiseverkehr zwischen der DDR und der BRD zu sprechen. Auch er habe diese wahrgenommen und sei – »wie man es von einem verantwortungsbewussten Menschen erwarten kann, wieder zurückgekehrt«. »Jedoch«, begründet Fred Baumgarten noch einmal nachdrücklich seinen Ausreiseentschluss, »entsprechen diese Möglichkeiten bei weitem nicht unseren persönlichen Vorstellungen von den vor uns liegenden Lebensjahren.« 70 Fred Baumgarten war zum Zeitpunkt der Antragstellung 37, Inge Baumgarten 32 Jahre alt. 68 69 70
Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2183/89 OPK (»Golf II«), Bl. 7. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bd. 1, Bl. 99. Ebenda, Bl. 99 f.
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Die Antragsteller in dieser Gruppe waren weder bescheiden noch genügsam. Sie waren ungeduldig und wollten ihr Leben nicht weiterhin im Mangel verbringen. Sie gehörten nicht zu denen, die sich im Westen das Paradies erhofften, wussten aber, dass sie dort endlich Dinge würden tun können, die ihnen bisher versagt blieben. Sie wollten anders leben. Das Ehepaar Strutzig bereiste die halbe Welt, nachdem es 1984 in den Westen durfte. Frau Strutzig lernte Skifahren und arbeitete sich in eine neue Tätigkeit ein. Uwe und Kornelia Gardeleben machten ihre Traumreise und Kornelia Gardeleben konnte ihr Hobby – die Keramikkunst – zum Beruf machen. Für Eckehard Meinunger begann, nachdem er mit 35 Jahren die Genehmigung zur Ausreise bekommen hatte, die wichtigste Zeit in seinem Leben. Er hätte sowohl in der Arbeit als auch in den persönlichen Beziehungen im Westen einen richtigen Entwicklungssprung gemacht. In der DDR sei er irgendwie am Ende angekommen gewesen. 71
4.6
Der »kleinste gemeinsame Nenner«
Warum nun stellten Bürger aus dem Kreis Halberstadt einen Antrag auf Ausreise? – Ein übergreifendes Motiv für die Mehrheit der Halberstädter Antragsteller, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Lebenslagen heraus entstanden, war die Hoffnung auf einen Neuanfang im Westen. Auf einen solchen Neuanfang setzten nicht nur die, die sich als gescheitert betrachteten oder die aus einer Misere ausbrechen wollten, sondern auch jene, die – meist in der Mitte ihres Lebens – ihre Entfaltungsmöglichkeiten erweitern wollten. Dabei spielte das sogenannte Konsumdenken im engeren Sinne eine geringere Rolle als allgemein angenommen. Ein »besseres Leben« meinte vielmehr, neue Erfahrungen sammeln zu können, etwas auszuprobieren, in der Arbeit weiterzukommen und einfach Dinge machen zu können, die bisher an den begrenzten Möglichkeiten in der DDR gescheitert waren. Es ging den meisten Antragstellern darum, aus einer Gesellschaft, die ihnen keine Perspektive zu bieten schien, auszubrechen. Das trifft sowohl auf jene Antragsteller zu, die sich viele Jahre lang auf die DDR-Gesellschaft eingelassen hatten, Ämter bekleidet und ihren Meister gemacht hatten, der SED angehörten, im Elternaktiv gewesen waren und ihre Kinder im »Geist des Sozialismus« erzogen hatten und die nun – für die Behörden und zum Teil auch für ihre Umgebung überraschend – zu den Spielregelverletzern gehörten. Die Antragsteller aus dieser Gruppe kamen aus der Mitte der Gesellschaft, waren bisher unauffällig, angepasst, hatten eine gute Qualifikation und berufliche Laufbahn hinter sich und scheinbar alles erreicht. Jetzt wollten sie aus ihrem Leben noch einmal etwas machen, neu 71
Interview mit Eckehard Meinunger, 6.4.2011, Transkript, S. 37.
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Ausreise per Antrag
beginnen, es schien ihnen höchste Zeit. Das trifft aber auch auf jene Antragsteller zu, die nicht »Fuß fassen« konnten, weil sie kriminalisiert wurden oder aus anderen Gründen zu den Außenseitern gehörten. Sie alle fanden sich mit den Beschränkungen in der DDR nicht ab und wollten die Weichen für ihr Leben neu stellen. Die Mehrheit der DDR-Bürger auch im Kreis Halberstadt hatte sich dagegen in diesem Lebensgefühl, das von Mangel und Beschränkungen bestimmt war, eingerichtet. Die Antragsteller stellten diese Haltung mit ihrem Schritt infrage, sie durchbrachen die mehrheitsgesellschaftliche Norm. So gesehen waren sie die Mobileren und Flexibleren der DDR-Gesellschaft, die das realisierten, wovon manch andere nur träumten. Sie verhielten sich wie normale Arbeiter und Angestellte in einer modernen Industriegesellschaft: Sie wollten dort hingehen, wo sie gut arbeiten und besser leben konnten. Die geschlossene Gesellschaft der DDR verhinderte dieses selbstverständliche Anliegen und trieb sie in traumatisierende Konfrontationen mit der Staatsmacht. Auch die Antragsteller, die eine Familie gründeten oder die ihre in Ost und West lebende Familie mithilfe einer Antragstellung wieder zusammenbringen wollten, verhielten sich »normal«. Die nach 1961 zementierte Teilung Deutschlands ist zu keiner Zeit von der Mehrheit der Menschen akzeptiert worden. Als sich zu Beginn der 1970er Jahre mit der zunehmenden Einbindung der DDR in den internationalen Völkerrechtskontext eine reale Chance zu ergeben schien, auf legalem Weg in den Westen zu gelangen, wurde diese ergriffen. Tatsächlich sahen weder der Grundlagenvertrag mit der Bunderepublik 1972, noch die Aufnahme der DDR in die Vereinten Nationen, auch nicht »die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki ein Recht auf Ausreise im Sinne des Völkerrechts vor«. Dennoch beriefen sich die Antragsteller zunehmend auf diese Verträge, namentlich auf den Korb III der Schlussakte von Helsinki 1975. 72 Ihr sicheres Auftreten gegenüber den DDR-Behörden hatte durchaus nicht nur Schwejk’schen Charakter. Sie fühlten sich mit ihrem Anliegen im Recht und empörten sich im Ergebnis zahlreicher Ablehnungen ihres Begehrens über einen Staat, der seine Menschen einsperrte. Sie brachten zum Ausdruck, was die Bevölkerungsmehrheit dachte und fühlte, jedoch nicht öffentlich machte. Die Absurdität der DDR-Gesellschaft scheint am Beispiel der Antragsteller auf Ausreise in der einen und in der anderen Weise besonders deutlich auf.
72 Hanisch: Die DDR im KSZE-Prozess, S. 145. Doch selbst die Helsinki Schlussakte enthielt lediglich Forderungen wie »Direktbeziehungen, menschliche Kontakte, Familienzusammenführungen, Erleichterungen von Eheschließungen« Vgl. ebenda, S. 57 f. u. 13 f.
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5
5.1
Von der Antragstellung bis zur Ausreise
Die Lebenswelten der Antragsteller: Familie, Ehe, Partnerschaft
Die Rekonstruktion der Gründe, die Halberstädter zu einer Antragstellung bewogen haben, ergab ein ganzes Spektrum existenzieller Probleme, die mithilfe einer Ausreise gelöst werden sollten. Sie reichten von der verzweifelten Hoffnung, aus einem Leben auszubrechen, das sich nicht mehr bewältigen ließ, bis zur Lust darauf, der eigenen Entwicklung noch einmal eine ganz neue Wendung zu geben. Allen Antragstellern war gemeinsam, dass sie sich mit diesem Schritt aus der Halberstädter Mehrheitsgesellschaft entfernten, welche merkwürdig ambivalent auf diese »Regelverletzer« reagierte. Bevor dieses aufschlussreiche Verhältnis näher betrachtet wird, wenden wir uns der Situation in der »Antragsgemeinschaft« 1 selbst zu. In den 1980er Jahren waren die Mehrheit der Halberstädter Antragsteller Paare, die meisten von ihnen hatten Kinder. Wie unterschiedlich reagierten die einzelnen Mitglieder der »Antragsgemeinschaft« auf diese Ausnahmesituation? Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen ihnen, nachdem der Entschluss zu einer Antragstellung getroffen war? Und was sagen uns deren Beziehungen über die DDR-Gesellschaft und über die Herrschaftspraxis des Staates? Die Antragstellung begann mit einem Gang in den Rat des Kreises mit Sitz in der Ernst-Thälmann-Straße. Hierher kamen diejenigen, die ausreisen wollten mit einem meist kurz gefassten formlosen Schriftstück, in dem sie ihr Anliegen formulierten. 2 Für die meisten Paare war es selbstverständlich, dass beide gemeinsam den Antrag in der Abteilung Innere Angelegenheiten, Sachgebiet Genehmigungsfragen, abgaben. In den Monaten oder Jahren, die einer Antragstellung folgten, gingen diese Paare häufig zusammen in die Sprechstunde, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Dieses Auftreten unterstrich den Zusammenhalt gegenüber der Staatsmacht und die Entschlossenheit in der Sache. Innerhalb einer »Antragsgemeinschaft« gab es dennoch eine deutlich erkennbare Hierarchie. So war es in der Regel der Ehemann, der den Antrag für sich und seine Frau, gegebenenfalls für seine Kinder stellte. 3 Die entsprechende Standardformulierung lautete: »Hiermit stelle ich für mich, 1 Vgl. Anm. 16/Einleitung. 2 Manche Gesprächspartner haben heute Mühe, sich an die genauen Umstände zu erinnern. Vgl. Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 18. 3 »Für mich sowie für meine Ehefrau«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), 3 Bde., hier Bd. 1, Bl. 24.
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Ausreise per Antrag
meine Ehefrau […] sowie die Kinder […] den Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR«. Manche Paare durchbrachen diese offensichtliche Gepflogenheit, indem sie die Wir-Form wählten oder am Ende beide das Schriftstück unterschrieben. Dennoch gab es zwischen den Ehepartnern Unterschiede im Engagement, die Antragstellung zu betreiben und im Auftreten gegenüber den staatlichen Behörden. Solche Differenzen wurden von der Abteilung Innere Angelegenheiten registriert und von der Staatssicherheit akribisch ausgewertet. Sie schienen dem MfS als geeignete Möglichkeit, einen Keil zwischen die Partner zu treiben, um auf diese Weise einen Rücktritt vom Ausreisebegehren zu bewirken. Die von der Staatssicherheit über Antragsteller angelegten Akten zu Operativen Personenkontrollen und Operativen Vorgängen enthalten detaillierte Persönlichkeitsprofile und Beschreibungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschieden der Partner bezüglich ihres Ausreisewunsches. Da wir noch weitere Quellen zur Verfügung haben, die Aufschluss über das Verhalten von Männern und Frauen einer »Antragsgemeinschaft« geben, und nicht allein auf die Einschätzungen der Staatssicherheit zurückgreifen müssen, lässt sich eine Reihe von Aussagen über geschlechtsspezifische Verhaltensweisen treffen. Im Kreis Halberstadt waren mehrheitlich die Ehemänner die Aktiveren in der »Antragsgemeinschaft«. Sie drängten stärker auf eine Ausreise als ihre Partnerinnen, waren viel häufiger als diese auf die Idee einer Antragstellung gekommen, hatten die Initiative ergriffen und traten gegenüber der Abteilung Innere Angelegenheiten energischer auf. Von dieser Regel gab es zwei Ausnahmen, auf die die Staatssicherheit besonderes Augenmerk richtete. In jenen Partnerschaften, in denen die Frauen beruflich qualifizierter waren, eine höhere Schulbildung hatten oder eine leitende Funktion ausübten, überließen nicht selten die Männer ihren Frauen den aktiveren Part. So erklärt sich auch die Häufung aktiver Frauen in jener fünften Gruppe, in der sich besonders viele qualifizierte Frauen befanden. 4 Sie waren Kantinenleiterinnen, Krankenschwestern, eine Frau war Ingenieurin, eine andere arbeitete in einer Druckerei in einer leitenden Stellung. Alle diese Frauen hatten eine höhere Ausbildung als ihre Männer, von denen einige bereits nach dem Abschluss der 8. Klasse ungelernt eine Arbeit aufgenommen hatten. Aufgrund eines unter den Antragstellern im Kreis Halberstadt insgesamt erstaunlich hohen Anteils von 8Klassen-Schulabschlüssen stellten solche Partnerschaften unter den »Antragsgemeinschaften« eher die Ausnahme dar. Es gibt noch eine zweite Gruppe, in der einige besonders aktive Frauen zu finden sind. Das ist jene, in der die Antragsteller zusammengefasst wurden, die zu ihren Kindern oder männlichen
4 Die Gruppe haben wir: »Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um noch mal neu anzufangen«, genannt. Vgl. Kapitel 4.5 in diesem Band.
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wie weiblichen Partnern ausreisen wollten. 5 Frauen, die einen Antrag stellten, um auf diese Weise zu ihren Kindern oder Ehemännern zu gelangen, welche bereits im Westen waren, wandten viel Energie darauf, das Vorhaben zu realisieren und die Familie wieder zusammenzubringen. In solchen Fällen kam es vor, dass die jeweiligen Ehemänner das Feld ihren Frauen überließen und rückblickend sagen, dass sie allein für sich wohl keinen Antrag gestellt hätten. Diese beiden Konstellationen sind jedoch unter Halberstädter Antragstellern eher selten anzutreffen. Die Regel war indes, dass Ehefrauen viel weniger engagiert die Ausreise betrieben, einige unter ihnen wären ohne den Entschluss ihrer Männer gar nicht auf den Gedanken gekommen, einen solchen Antrag zu stellen. 6 Frau Lucke, OP-Schwester, stellte 1982 einen Antrag, nachdem ihr Mann, Chefarzt in einem Krankenhaus des Kreises, von der Besuchsreise in den Westen nicht zurückgekommen war. Sie selbst spürte kein Bedürfnis, die DDR zu verlassen. Der einzige Grund für Frau Lucke, einen Antrag auf Ausreise zu stellen, war der, zu ihrem Mann in den Westen zu gelangen. 7 Helga Prützel, Leiterin eines Kindergartens, wäre auch lieber in Halberstadt geblieben. Ihr Mann wollte jedoch unbedingt zu seiner Schwester nach Westdeutschland. Was sei ihr anderes übrig geblieben, sagt sie rückblickend, immerhin seien sie 20 Jahre verheiratet gewesen; zudem brauchte der Mann ihre Pflege. Helga Prützel, die damals Mitglied der SED gewesen war, sei aus reinem Pflichtgefühl ihrem Mann gegenüber in den Westen gegangen. Das hätten die Bekannten und Nachbarn aus Halberstadt auch so gesehen und anerkannt, weswegen man ihr weiterhin freundlich begegnet sei. 8 Ruth Gensicke war die Ehefrau eines Bürgermeisters, Reinhard Gensicke. Dessen Parteikarriere fand in den 1970er Jahren ein Ende, als er wegen angeblicher Veruntreuung von Geldern verurteilt wurde und seinen Posten verlor. Das Ehepaar war zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre verheiratet. Ruth Gensicke hatte drei Kinder zur Welt gebracht und zwischenzeitlich als Küchenhilfe gearbeitet. 1981 stellte Reinhard Gensicke für sich und seine Frau einen Ausreiseantrag. 1982 wurde er verhaftet und zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Im Vorfeld des Prozesses wurde Ruth Gensicke »zugeführt«, zu diesem Zeitpunkt war sie 48 Jahre alt. Während der Vernehmungen, die Ruth Gensicke in große Angst versetzten, brachte sie immer wieder zum Ausdruck, dass sie voll zu ihrem Mann stehe, der nach dem erlittenen Unrecht keine Arbeit gefunden und keine Perspektive in der DDR für sich gesehen habe. Sie selbst hätte kein »Übersiedlungsersuchen« gestellt, das täte sie nur ihrem Mann 5 Vgl. Kapitel 4.4 in diesem Band. 6 Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 298. Die hier zugrunde gelegte empirische Befragung von 1984 bestätigt unseren Befund: 10 Frauen waren ihrer Männer zuliebe gegangen, nur drei Männer ihrer Frauen wegen. 7 Telefongespräch mit Frau Lucke, 6.11.2011. 8 Telefongespräch mit Helga Prützel, 23.9.2010.
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zuliebe. Immer wieder betonte sie: »Ich hatte blindes Vertrauen zu meinem Ehemann. So wie ich aus Solidarität mit meinem Mann auch aus der SED ausgetreten bin, so hatte ich auch vollstes Vertrauen zu meinem Mann bezüglich seiner Aktivitäten bei der Realisierung der Übersiedlung.« 9 Ruth Gensicke gehörte einer Generation an, die in den 1930er Jahren in einem Dorf geboren wurde und mit einem traditionellen Rollenverständnis aufgewachsen war. Zudem begünstigten ihre geringe Schulbildung und die Berufstätigkeit als schlecht bezahlte Hilfskraft sowie der Umstand, dass sie drei Kinder zur Welt gebracht hatte, derentwegen sie ihre Erwerbsarbeit unterbrechen musste, die Abhängigkeit vom Mann. Doch sie ist nicht die einzige Frau unter den Halberstädter Antragstellerinnen gewesen, die sich dem Willen des Mannes in dieser Frage mit großer Selbstverständlichkeit beugte. Ingeborg Mattuschek wurde 1951 in Groß Quenstedt geboren, einem Dorf sechs Kilometer von der Kreisstadt entfernt. Ihr Vater betrieb eine Schlosserei, er war der Patriarch im eigenen Geschäft. Als sie zwölf Jahre alt wurde, sei endlich der ersehnte »Stammhalter« gekommen. Das Regime im Hause war streng. Jeden Mittag um zwölf stand, wenn der Vater aus der Werkstatt kam, pünktlich das Essen auf dem Tisch. Beim Essen wurde nicht gesprochen. Die Mädchen wurden kurz gehalten. »Ich musste immer früh zu Hause sein, ich war ja die Älteste. Da war Zucht und Ordnung.« Ingeborg Mattuschek besuchte die Oberschule und machte 1968 das Abitur. Ihren zukünftigen Mann lernte sie in der 11. Klasse kennen. »Wir haben uns dann verlobt und es war klar, dass wir heiraten wollen. Und es war auch klar, wenn wir heiraten, dass ich dann nicht studiere. Für uns, für meinen Mann und mich. Der hat nicht gesagt: ›Du darfst das nicht!‹ Das war so selbstverständlich für uns.« 10 Sie passte sich ihrem Mann in allem an, und als er aus der Haft, zu der er wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt worden war, einen Ausreiseantrag stellte, zögerte Ingeborg Mattuschek keine Sekunde mit ihrer Antragstellung für sich und die zwei Kinder. Sie wusste, dass ihr Mann in den Westen wollte, sie selbst aber hatte kein eignes Motiv für diesen Schritt. »Das war nicht meine Idee«, sagt sie rückblickend in einem Gespräch, ohne den Mann wäre sie im Osten geblieben. Ähnlich wie Helga Prützel und Ruth Gensicke war sich Ingeborg Mattuschek stets sicher, nichts Böses mit ihrer Antragstellung getan zu haben. »Ich hatte immer so eine weiße Weste. Ich habe immer gedacht, ich will ja eigentlich nur mit meinem Mann zusammen sein.« 11 Und Karin Großmann sagte 2010 im Interview: »Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hatte nicht so den Drang 9 Vernehmungsprotokoll, 20.1.1982; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1172/84 (OV »Bau II«), Bl. 47. 10 Interview mit Ingeborg Mattuschek, 15.12.2009, Transkript, S. 9. 11 Ebenda, S. 14.
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da rüber zu gehen. […] Ich war eigentlich nicht so politisch interessiert an diesem Ganzen. Ich hätte auch in der DDR, wenn ich berufstätig gewesen wäre, weiter gelebt. Ich habe mich um Politik nicht so gekümmert.« 12 Über die Hälfte aller Antragstellerinnen aus dem Kreis Halberstadt sind in dörflichen Verhältnissen aufgewachsen, in denen in den 1950er und 1960er Jahren ein sehr traditionelles, zum Teil sogar autoritär-patriarchales Familienleben gepflegt wurde. Die männlichen Antragsteller berichteten aus ihrer Kindheit von Schlägen und anderen häuslichen Gewalttaten gegen sie; in einigen Familien bestimmten die Väter darüber, ob die Mädchen weiterhin zur Schule gehen oder welchen Beruf sie ergreifen sollten. Die Ehen der Frauen gestalteten sich in einigen Fällen als eine Art Fortsetzung dieses Kindheitsmusters; wieder ordneten sie sich dem Bedürfnis des Mannes unter. Bemerkenswert an diesem traditionellen Rollenverständnis der Ehepartner ist, dass es sich in der DDR trotz hoher Frauenerwerbstätigkeit und Gleichstellung der Geschlechter offensichtlich noch viele Jahre lang reproduzieren konnte. Zum einen erklärt sich dies mit dem Kreisgebiet, das für die mikrohistorische Studie ausgewählt wurde und in dem dörfliche Verhältnisse dominierten. Erst der Umzug in die Kreisstadt veränderte diese Situation und eröffnete Männern wie Frauen ein neues Lebensgefühl. Zum anderen spiegelt sich in der geschilderten Rollenverteilung zwischen den Partnern im Zuge der Antragstellung ein geschlechtsspezifisches Sozialisationsmuster wider, das bereits für andere gesellschaftliche Bereiche und nicht nur in der DDR beschrieben worden ist: Frauen sind angepasster, genügsamer und mit den Verhältnissen, in denen sie leben, weniger unzufrieden als Männer. Diese Anpassung leisteten auch Frauen in der DDR. So belegen Untersuchungen, dass Frauen in der DDR mit ihrer Arbeit weitaus zufriedener als Männer waren, was damit zusammenhing, dass ihre Ansprüche an die eigene Arbeit eher bescheiden waren und sich ihr Interesse stärker auf die Familie konzentrierte. 13 Sie versuchten mehrheitlich, sich zu arrangieren und zogen ihr Selbstbewusstsein aus dem Umstand, das Leben für sich und ihre Familie trotz vieler Schwierigkeiten, trotz Mangel und widriger Umstände gemeistert zu haben. 14 Hinzu kam die anerzogene Rolle als sorgende Mutter und dienende Ehefrau, die sie in ihrer Haltung, dem Entschluss des Mannes zu folgen, noch bestärkte. Zweifellos hatte die besondere Situation der Antragstellung nicht dazu beigetragen, die überkommene Geschlechterrolle infrage zu stellen, die Ausnahmesituation zementierte sie vielmehr. Mann und Frau rückten noch 12 Interview mit Günter und Karin Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 23. 13 Vgl. Hürtgen: Angestellt im VEB, S. 174–191. 14 Vgl. Hürtgen: FrauenWende – WendeFrauen. Darin ist ausführlich das Selbstbild von DDR-Frauen beschrieben.
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enger zusammen und waren darauf angewiesen, dass beide ihre Rolle bestmöglich erfüllten. Für »Experimente« blieben keine Zeit und keine Kraft. Die Kehrseite eines solchen traditionellen altruistischen Verhaltens von Frauen ist ihre Stärke bei der Bewältigung von für die Familie existenziellen Problemen, von Mangelsituationen und bei der Organisation des Alltags in besonderen Lebenslagen. Diese Seite kam auch bei jenen Halberstädter Antragstellerinnen zum Tragen, die eine Ausreise aus der DDR eher dem männlichen Partner folgend betrieben hatten. Kaum war der Antrag im Rat des Kreises abgegeben, legten sie ihre ganze Kraft darein, die nun folgende schwierige Situation zu meistern. Sie waren häufig belastbarer als ihre Männer, von denen einige zum Teil sogar körperlich erkrankten, weil der psychische Druck im Betrieb oder im sozialen Umfeld für sie zu groß wurde. 15 Einige Männer jener Frauen, die aus eigenem Antrieb nicht in den Westen gegangen wären, wurden verhaftet und verurteilt. Sie stellten ihre Anträge während der Haftzeit und wurden von dort nach einiger Zeit, manchmal nach Jahren, in den Westen entlassen. Jetzt waren ihre Frauen auf sich allein gestellt. Sie mussten das Leben, das ihnen im Betrieb und manchmal auch durch andere Familienmitglieder, schwergemacht wurde, aus eigener Kraft bewältigen. Sie hatten alle Behördengänge zu erledigen, alle Entscheidungen zu treffen. In dem Augenblick, als die Genehmigung zur Ausreise ausgesprochen wurde, konnten sie durch den Ehemann keine Hilfe erwarten. Sie erledigten jetzt alle Formalitäten in kürzester Zeit und unter großer nervlicher Anstrengung allein. Diese Situation machte sie selbstbewusst und selbstständig, es begann in den Biografien dieser Frauen etwas Neues und für sie bisher Unbekanntes, sie emanzipierten sich. Angelika Granitz wurde nach einer kurzen »Zuführung« wieder nach Hause entlassen, ihr Mann verblieb in der Magdeburger Stasi-Untersuchungshaft. Sie kam in eine völlig verwüstete Wohnung zurück, die Staatssicherheit hatte in ihrer Abwesenheit eine Hausdurchsuchung veranlasst. »Das war ‘ne Müllhalde«, erinnert sich Frau Granitz, »Der Hund war weg, das Kind war weg. Ich habe dann erst mal mein Kind gesucht.« Die Tochter war bei Bauern in der Nachbarschaft versteckt worden, Angelika Granitz konnte sie dort abholen. »So, und dann am nächsten Tag zum VPKA. Meinen PM 12 gekriegt und meine Belehrungen und Paragraphen, was ich alles darf und was nicht. Nicht nach Berlin einreisen … Jaahhh [tiefes Ausatmen]. Und dann saß ich da vor meinem Scherbenhaufen, ja, das war ja erst mal ein Scherbenhaufen. Und dann hab ich überlegt. Ich denke, du musst hier einen klaren Kopf behalten. Du musst nach dem Vogel, du musst nach Berlin.« 16 15 Siehe Frau Mattuschek und Frau Strutzig, Transkript, S. 33. 16 Gemeint ist der Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, seine Ostberliner Kanzlei war eine Anlaufstelle für Ausreisewillige. Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 37.
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5 Von der Antragstellung bis zur Ausreise
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Angelika Granitz machte einen Termin bei Rechtsanwalt Vogel und trickste die Staatssicherheit regelrecht aus, in dem sie sich mit einem fremden Auto trotz Verbot nach Berlin fahren ließ. Sie hatte »Scheißangst«. Frau Granitz, die für sich nie einen Antrag gestellt hätte, organisierte alles Notwendige in dem Jahr bis zur Ausreise. Sie kam zu keiner Zeit auf den Gedanken, sich von ihrem Mann zu trennen oder wenigstens von seinem Vorhaben zu distanzieren, was ihr in den »Aussprachen« nahegelegt wurde. Nach den psychischen und physischen Anstrengungen während der »Wartezeit«, die laut unserer Recherche im Durchschnitt über zwei Jahre dauerte, und nach der extrem hohen Belastung in den Tagen der unmittelbaren Ausreise, zeigte sich die besondere Stärke der Frauen noch einmal, nachdem die Familie im Westen angekommen war. In allen Beschreibungen kommt eine erstaunliche Aktivität der Frauen zum Ausdruck. 17 Sie fanden sich sehr schnell in die neue Situation ein, kümmerten sich darum, dass die Kinder in der Schule den Anschluss nicht verpassten, dass sie Nachhilfeunterricht in Englisch erhielten. Sie waren oft die ersten, die eine Arbeit fanden, und sie organisierten den Haushalt unter oft sehr widrigen Bedingungen. Diese Fähigkeit, sich trotz des Mangels und diverser Schwierigkeiten gut zurechtzufinden, führen einige von ihnen auf ihre Sozialisation als »Ostfrau« zurück. »Ich glaube, ich bin ein bisschen praktischer veranlagt. Die Belastbarkeit ist größer.« 18 Zum Teil erklären sie es sich damit, dass sie einfach kontaktfreudiger seien, offener mit ihren Problemen umgingen und auf diese Weise auch schneller und unkomplizierter Hilfe erhielten als ihre Männer. 19 Dieses Phänomen ist in der Migrationsforschung nicht unbekannt. Oft sind es Frauen, die in einer neuen Umgebung rascher Fuß fassen als ihre Männer, eine Arbeit finden und so mit ihrer Erwerbstätigkeit das Überleben der Familie sichern können. 20 Doch der Bezug zur Migrationsforschung muss für die Halberstädter Frauen sogleich relativiert werden. Die Situation, die hier für Frauen zum Beispiel aus Afrika beschrieben wird, ist ungleich existenzieller, von Not und Krankheiten geprägt und nicht mit der von DDR-Frauen bei ihrer Ankunft im Westen gleichzusetzen. Dennoch gibt es geschlechtsspezifische Verhaltensmuster, auf die hier hingewiesen werden sollte. Bemerkenswert ist im Falle der besonderen Aktivitäten von DDR-Frauen zudem, dass dies auch auf jene Frauen zutraf, die diesen Schritt eigentlich nur ihres Mannes wegen »PM 12« war der Ersatzausweis, den viele Antragsteller anstatt ihres richtigen Personalausweises bekamen und mit dem sie den Kreis nun nicht mehr verlassen durften, ausgestellt von der Volkspolizei und veranlasst durch die Staatssicherheit. VPKA=Volkspolizeikreisamt. 17 Eine Quelle für diese Interpretation sind die zwischen 2009 und 2011 geführten Interviews mit ehemaligen Antragstellern aus Halberstadt. 18 Ingeborg Mattuschek, Interview, Transkript, S. 41. 19 Vgl. Ehepaar Gardeleben, Interview, 23.8.2010. 20 Vgl. Rohr; Jansen (Hg.): Grenzgängerinnen: Frauen auf der Flucht.
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getan hatten und die mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie den Umzug vorbereiteten, nun auch das Leben im Westen tatkräftig organisierten. 21 Unabhängig von der jeweiligen Aktivität der Partner fällt deren Zusammenhalt auf, der im Laufe der Wartezeit auf die Ausreisegenehmigung noch enger geworden zu sein scheint. Der psychische Druck war in den Monaten oder Jahren der Ungewissheit groß, zum Teil verschlechterte sich die finanzielle Situation erheblich, da Mann oder Frau nicht mehr in ihrem Beruf arbeiten konnten oder wollten. Die Kinder waren Belastungen in der Schule ausgesetzt, und nicht in jedem Fall standen die weiteren Familienangehörigen moralisch oder tatkräftig unterstützend hinter ihnen. Hinzu kamen die Versuche der Staatssicherheit, Zwietracht zu säen und diese Gemeinschaften zu zerstören, um so eine Rücknahme des Antrages zu bewirken. Aber auch unabhängig von dieser »Zersetzungstaktik« konnte sich im Laufe von Jahren die Situation existenziell ändern: Ein Familienmitglied starb, die Ehe wurde geschieden oder Kinder wurden geboren. Jedoch nur wenige Male scheint es der Staatssicherheit im Kreis Halberstadt gelungen zu sein, einen Keil des Misstrauens zwischen Eheleute bzw. zwischen eine Mutter und ihre Tochter zu treiben. 22 Aus dem Kreis von Antragstellern wurde eine inoffizielle Mitarbeiterin erfolgreich geworben, die jedoch zwei Jahre später den Dienst verweigerte. Zwei Männer, die Kontakte zu anderen Antragstellern hatten, sollten ebenfalls geworben werden, doch die Anstrengungen der Staatssicherheit blieben letztlich erfolglos. Es gab unter den 32 Halberstädter Ehepaaren, die in der Statistik (B) erfasst sind, vier Scheidungen bzw. Trennungen, die in drei Fällen aber nicht zur generellen Rücknahme des Antrages führten. Eines der geschiedenen Ehepaare verhielt sich so, als sei nichts geschehen und wartete weiterhin gemeinsam auf die Genehmigung zur Übersiedlung. Erstaunlich ist, dass nur in einem Trennungsfall ein offener Streit ausbrach, sich die Geschiedenen denunzierten oder bei den Behörden anschwärzten. In einem Fall besuchte die geschiedene Ehefrau ihren Ex-Mann in der Haft. Er war verzweifelt und sich seines Ausreiseantrages nicht mehr sicher. Zu Freunden und Nachbarn – wie die Staatssicherheit konspirativ erfuhr – sprach die geschiedene Frau jedoch nur »gut über ihn […] Die Haft hätte sie ihm wirklich nicht gewünscht.« 23 Es fällt auf, dass trotz unterschiedlicher Ausgangshaltungen und Bedürfnisse und ungeachtet einer zermürbenden Wartezeit die meisten Partner noch enger zusammenrückten,
21 22 23
Vgl. Kapitel 5.4 in diesem Band. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1172/84 (OV »Bau«). Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«).
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um der Bedrohung durch die Staatsmacht zu widerstehen. 24 Eine weitere Ursache für die relativ geringe Zerstörungskraft der Taktik der Sicherheitsorgane ist darin zu suchen, dass sich die Menschen im Umfeld der Antragsteller eher distanziert und teilweise sogar abweisend verhielten, was die »Antragsgemeinschaft« zu einer Art Zufluchtsort werden ließ.
5.2
Die Kinder der Halberstädter Antragsteller
Über ein Drittel aller Personen, für die im Kreis Halberstadt ein Antrag auf Ausreise gestellt wurde, waren Kinder. 25 Wie haben sie diese Zeit der Antragstellung erlebt? Und wie die Zeit nach der Übersiedlung in den Westen? Was denken sie heute darüber? Wir hätten uns diesem Thema gern ausführlicher gewidmet, leider war die empirische Grundlage für ein solches Vorhaben am Ende nicht vorhanden. Dennoch soll versucht werden, die komplizierte Situation von Kindern und deren Rolle in der »Antragsgemeinschaft« aus den wenigen Hinweisen in den Akten und aus den Erzählungen der Eltern im Rahmen der Interviews wenigstens in Ansätzen zu begreifen. Zwischen 1973 und 1989 gehörten etwa 600 Kinder aus dem Kreis Halberstadt zu einer der »Antragsgemeinschaften«. Die größte Gruppe unter ihnen waren Schulkinder, es folgten als zweitgrößte Gruppe die Kleinkinder bis zum sechsten Lebensjahr. Einige Kinder waren bereits in der Lehre, andere waren volljährig, gehörten aber als »Kind« in die Antragstellung der Familie. 26 Die meisten Kinder waren in einem Alter, in dem sie durchaus begreifen konnten, was sich mit einer Antragstellung verband. Der Umgang der Antragsteller mit den eigenen Kindern war sehr unterschiedlich. Es gab Eltern, die mit ihnen über ihren Entschluss sprachen und sie anschließend auch über die Schritte, die sie unternahmen, informierten. Und es gab Eltern, die den Kindern die Antragstellung verschwiegen, um ihnen erst kurz vor der Ausreise den Sachverhalt mitzuteilen. Als das »Gesuchstellerehepaar Strutzig« – wie um 1984 die Behördensprache lautete – seinen Antrag stellte, waren ihre Kinder bereits 15 und 18 Jahre alt. Schon im Vorfeld sprachen sie mit beiden Kindern über ihr Vorhaben. Bei 24 Ob die Partnerschaften nach der Ausreise Bestand hatten, konnten wir nicht ermitteln. Die Spätfolgen dieser Ausnahmesituation waren sicher nicht unerheblich. Soweit wir sehen, gibt es zu dieser Frage keine separaten Untersuchungen. 25 Vgl. Ergebnis der Excel-Tabelle (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3): 478 Erwachsene und 258 Kinder. Fast alle Paare, die im Kreis Halberstadt in den 1980er Jahren einen Ausreiseantrag stellten, hatten ein oder zwei Kinder im Alter bis zum 18. Lebensjahr. Einige Familien wollten mit drei oder vier Kindern aus der DDR ausreisen. 26 In unserer SPSS-Statistik (B) (vgl. Anm. 44/Kap. 3) waren 29,2 % Kleinkinder, 60,4 % Schulkinder und 10,4 % Lehrlinge oder Kinder, die bereits über 18 Jahre alt waren.
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der Gelegenheit sparten sie auch nicht mit der Schilderung von Problemen: »Denkt nicht, dass wir ins Schlaraffenland kommen«, hätten sie gesagt. 27 Kinder seien schnell zu begeistern, doch sie wollten ihnen nichts vormachen und sie auf keinen Fall überreden. »Wenn die Kinder nein gesagt hätten, die wollen nicht, dann hätten wir wahrscheinlich auch gesagt: Nee. … Wenn die Kinder gesagt hätten, wir wollen hier bleiben, das ist unsere Heimat, dann hätten wir das nicht gemacht.« 28 Aber die Kinder wollten mit den Eltern zusammen in den Westen, was die Staatssicherheit während der »Rücknahmegespräche« mit Tochter Birgit von ihr auch deutlich zu hören bekam. Während das Ehepaar die Tatsache, dass es einen Antrag gestellt hatte, den Kindern nicht verschwieg, hielt es diese aus den Behördengängen und auch aus den Diskussionen, die zwischen den Eheleuten oft nächtelang erfolgten, »so gut es ging raus. Wir haben auch den Kindern nicht unbedingt Gesprächsstoff geben wollen, dass sie in der Schule sich irgendwie äußern. Und die sind auch ganz normal weiter zur Schule gegangen. Hat noch lange gedauert, bis es da durchgesickert war.« 29 Über zwei Jahre haben die Kinder von Familie Strutzig dieses Geheimnis für sich bewahrt. Es ist davon auszugehen, dass die meisten eingeweihten Kinder der Antragsteller angehalten wurden, über die Entscheidung der Eltern nicht mit anderen zu sprechen. Was das bedeutete hat, wie einsam und verlassen sie sich dabei gefühlt haben müssen, konnten wir nicht von ihnen selbst erfahren. Die Erzählungen der Eltern aber sind aufschlussreich. »Die Birgit hat keinem was erzählt, auch ihrer engsten Freundin nicht. […] Die haben sie während der Berufsschule mal rausgerufen. Da musste sie ins Lehrerzimmer und da waren irgendwelche Leute und haben sie in die Mangel genommen. Sie wäre doch schon achtzehn. Man würde ihr eine Wohnung anbieten, über das Krankenhaus. Sie sollte doch überlegen, ob sie nicht dableibt. Da hat sie gesagt: Die Entscheidung haben wir getroffen mit meinen Eltern, und ich gehe mit meinen Eltern weg. […] Und dann ist sie schwach geworden und hat geweint. Sie kam weinend in die Klasse zurück. Da hat die beste Freundin immer wieder gebohrt, Birgit, kannst mir doch erzählen. Was ist denn? Und das hat sie nicht gemacht. Sie hat immer gesagt: Da kann ich nicht drüber sprechen. Die haben Wunder [was] gedacht. – Und die war immer eine ganz Liebe. Die hat sich nie was zu Schulden kommen lassen. Und alle haben sich gewundert, was ist mit ihr los. Aber sie hat es keinem erzählt, bis die Ausreise war. Da hat sie erst drüber gesprochen.« 30
Ganz anders als das Ehepaar Strutzig verhielten sich Peter und Angelika Granitz gegenüber ihrer zum Zeitpunkt der Antragstellung 10-jährigen Tochter. Als sie ausreisen durften, war die Tochter zwölf Jahre alt. Während der ganzen Wartezeit erzählten die Eltern ihrer Tochter nicht, dass sie einen Ausreisean27 28 29 30
Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 14. Ebenda, S. 17. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 27 f.
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trag gestellt haben. Am Abend vor der erwarteten und von Peter Granitz auch provozierten Verhaftung der Eltern erfuhr sie alles: »Wir mussten ihr dann sagen, was passieren könnte – und dass sie ins Heim vielleicht muss oder wie auch immer – und dass wir Ausreise gestellt haben.« Für die Tochter brach eine Welt zusammen, ihre erste Reaktion sei gewesen: »Nach die Mörder und Verbrecher komme ich nicht mit!« 31 Es blieb nicht mehr viel Zeit, ihre Tochter von den Vorzügen des Westens zu überzeugen. Das fiel auch deshalb besonders schwer, weil die Tochter von den regimekritischen Ansichten ihrer Eltern nie etwas erfahren und sich voll in das DDR-Leben integriert hatte. Auf die Frage, wie sie ihre Tochter politisch erzogen hätten, antwortet Herr Granitz im Rahmen des Interviews: »Gar nicht. Wir haben sie erziehen lassen […]. Wir haben im Prinzip zu Hause nur den Mund gehalten. Sie war nachher ein Kommunistenkind, praktisch«. Frau Granitz: »Sie ist da reingewachsen«. Herr Granitz: »Wir haben gesagt, wir wollen ja nicht, dass sie da Theater kriegt in der Schule. Wir halten uns da raus«. 32 Erst als sie im Westen waren, hätten sie mit der Tochter auch politische Gespräche geführt. Für die Tochter des Ehepaares Granitz muss die Mitteilung der Ausreise ein Schock gewesen sein. Sie wurde aus ihrer heilen Welt gerissen und war von heute auf morgen eine »Außenseiterin«. »Tierische Konflikte« hätte sie gehabt, sagt Peter Granitz. In der Schule, die sie bis dahin gern besuchte, zumal sie eine leistungsstarke Schülerin gewesen war, wurde sie nun vor allen bloßgestellt. Angelika Granitz erinnert sich: »Die sollte vorm Fahnenappell als Klassenbeste ausgezeichnet werden. Da war er [Peter Granitz] schon verhaftet, und vorm Fahnenappell haben sie ihr das abgesprochen, weil der Vater in Haft ist, weil er ein Vaterlandsverräter ist. Die war natürlich am Boden zerstört. Das konnte sie gar nicht verstehen. Und dann gab's Kinder, die die Straßenseite gewechselt haben, mit ihr nicht mehr gespielt haben. […] Die das auch gesagt haben: Wir dürfen mit Dir nicht mehr spielen.« 33
Angelika Granitz lebte bis zum letzten Tag mit der Angst, dass ihr die Tochter weggenommen werden könnte. Noch wenige Tage vor der Ausreise – ihr Mann war bereits aus der Haft in den Westen entlassen worden – kam die Lehrerin zu ihnen nach Hause und forderte sie auf, das Kind wieder zur Schule zu schicken, ansonsten würde das Jugendamt sie abholen. Die Tochter schrie. 34 Dabei hatte eine Mitarbeiterin der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises zu Angelika Granitz gesagt, sie solle die Tochter von der Schule abmelden. Wie 31 Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 34. 32 Ebenda, S. 23. 33 Ebenda, S. 42. 34 »Und die hat gebläkt, die wollte nicht.« Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 49.
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Ausreise per Antrag
schrecklich es der Tochter tatsächlich gegangen sei, hätten sie allerdings erst mitgekriegt, als sie im Westen waren. Da brach die Tochter zusammen und wurde krank. 35 Viele Kinder von Antragstellern, die in die Schule oder bereits in die Lehre gingen, waren dort großen oder kleineren Schikanen ausgesetzt. 36 In jedem Fall machten sie die Erfahrung, nun in dieser Gesellschaft nicht mehr so gelitten zu sein wie zuvor. Da sich gerade unter jenen Familien, die einen Ausreiseantrag stellten, viele befanden, die bisher ein eher angepasstes Leben in der DDR geführt hatten, muss dies für die Kinder ein besonders einschneidender Vorgang gewesen sein. Sie wurden vielfach unvorbereitet mit dem Schritt der Eltern konfrontiert und mussten in kurzer Zeit nachvollziehen, womit sich die Erwachsenen seit langem beschäftigt hatten. Und selbst jene Kinder, mit denen die Eltern von Anfang an sprachen, hatten sich in einer für sie völlig neuen Situation zurechtzufinden. Der große Sohn von Familie Gardeleben durfte nach der Antragstellung nicht mehr an der Jugendweihevorbereitung teilnehmen und bei keiner Klassenfahrt mitfahren. »Da wurde er ausgeschlossen. Das hat ihn immer sehr gewurmt. Er war so ein geselliger Junge gewesen. Da haben sie Ausflüge gemacht, zur Leipziger Messe. Da war er ganz traurig. Er musste dann in eine andere Klasse und seine Klasse konnte zur Buchmesse nach Leipzig fahren.« 37 Seine Eltern holten diese Reise privat nach, sie wollten nicht, dass der Junge leidet. Die Kinder der Familie Gardeleben – und mit ihnen die meisten anderen »Antragstellerkinder« aus dem Kreis Halberstadt – hatten keine oppositionelle oder widerständige Haltung gegenüber dem DDR-Staat anerzogen bekommen. So standen sie seiner Willkür und den Ausschlusspraktiken besonders hilflos gegenüber. Keiner hatte ihnen das Rüstzeug für diese Situation mitgegeben. Die Kinder der Halberstädter Antragsteller sahen sich nicht nur unvermittelt einer distanzierten bis feindlichen Atmosphäre in der Schule oder im Betrieb gegenüber, auch in der Verwandtschaft der »Antragsgemeinschaft« geriet einiges durcheinander. Aus einigen Stasiakten geht hervor, dass sich die Großeltern gegen die Eltern stellten, dass sie dem Ausreiseantrag ablehnend gegenüber standen und dies auch gegenüber den Enkeln zum Ausdruck brachten. Die Kinder gerieten so in der eigenen Familie zwischen die Fronten. Zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung hatten Karin und Günter Großmann zwei Kinder, neun und vier Jahre alt. Sie weihten lediglich die nächsten Verwandten in ihr Vorhaben ein, darunter auch den Bruder von Karin Großmann. 35 36 37
Ebenda, S. 39. Zur Rolle der Schule und der Lehrer siehe Kapitel 7 in diesem Band. Interview mit Uwe und Kornelia Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 25.
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»Meine Schwägerin war Lehrerin. Die hatte nichts anderes zu tun, als am nächsten Tag zu ihrer Direktorin zu gehen. […] Innerhalb der Familie, das muss man sich mal vorstellen! […] Sie ist dann zu uns gekommen. Bloß dass ihr Bescheid wisst, ich habe das meiner Direktorin gesagt.« 38
Sie arbeitete an der Schule, in die Großmanns Kinder gingen. Karin Großmann war entsetzt, sie hatte es der Schwägerin im Vertrauen gesagt und auch darum gebeten, darüber nicht zu sprechen. Zwischen der Familie des Bruders und der Familie Großmann kam es zum Bruch. Dass die Direktorin bereits von der Abteilung Innere Angelegenheiten informiert worden war, ahnte Karin Großmann nicht. Und selbst, wenn sie es gewusst hätte, wäre der Gang der Schwägerin zur Schulleitung für sie ein Vertrauensbruch geblieben. Noch dramatischer muss es für die Kinder gewesen sein, wenn der Konflikt direkt zwischen den Eltern ausgetragen wurde; eine glücklicherweise seltene Situation unter den Halberstädter Antragstellern. In der Familie Togalla aber hat es sich genau so abgespielt: Frau Togalla wollte nicht in den Westen ausreisen, sie ließ sich scheiden und verweigerte den Kindern jeden Kontakt zum Vater. Ihr Mann Stefan reiste 1977 aus, sie blieb mit ihren beiden Töchtern, der 11-jährigen Manuela und der 13-jährigen Stefanie in Halberstadt. 39 Für Stefanie war dies ein Drama. Als sie 18 Jahre alt wurde, stellte sie unverzüglich einen Antrag auf Ausreise und begründete ihn mit einer »Familienzusammenführung«. Sie hatte von Anfang an mit dem Vater zusammen in den Westen gehen wollen. 40 Die Staatssicherheit behielt die ganze Familie, auch den ausgereisten Stefan Togalla, ständig im Visier. Stefanie wurde umgehend in einer Operativen Personenkontrolle erfasst, nachdem sie ihren eigenen Antrag abgegeben hatte. In den Akten ist festgehalten: »Das Verhältnis zur Mutter sei nicht gerade gut. Sie würde es ihr nicht verzeihen, dass sie damals in der DDR bleiben musste. Die Schwester sei im Jugendwerkhof Magdeburg.« 41 Dass es »Spannungen« gegeben habe, wie die Staatssicherheit feststellte, ist sicher weit untertrieben, vielmehr sprechen die Indizien für ein dramatisch gestörtes Verhältnis zwischen den Töchtern und der Mutter. Nachdem Manuela 18 Jahre alt geworden war, stellte sie 1984 ebenfalls einen Ausreiseantrag zum Vater. Lediglich die Mutter wohnte nun noch im »Verantwortungsbereich« des MfS. 42 Im Fall der Tochter von Frau Kamenz hatte offensichtlich der leibliche Vater verhindert, dass seine ehemalige Frau nach der Genehmigung ihres Ausreiseantrages 1986 die Tochter mit in den Westen nehmen durfte. Im Sommer 38 Interview mit Günter und Karin Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 25. 39 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«). 40 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«). 41 Aktenvermerk, 9.5.1983; ebenda, Bl. 51. 42 Schlussbericht, 22.5.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«), Bl. 146.
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Ausreise per Antrag
1989 gehörte Carola zu den sogenannten Botschaftsflüchtlingen, über die ungarische Botschaft gelangte sie in den Westen. Es waren die großen Kinder der Halberstädter Antragsteller, die 16-, 17und 18-Jährigen, die von der Staatssicherheit besonders »behandelt« wurden. Stefanie und Carola wurden dahingehend überprüft, ob sie Informationen aus der »Antragsgemeinschaft« liefern könnten. Es wurde mit ihnen »partnerschaftlich« geredet und versucht, sie zum Bleiben in der DDR zu überreden. Tatsächlich zogen aus einer sechsköpfigen Familie zwei Kinder ihren Antrag zurück, nachdem sie volljährig geworden waren. In einer jahrelangen Wartezeit konnten sich gerade für die älteren Kinder in der »Antragsgemeinschaft« neue Beziehungen ergeben und damit neue Perspektiven und neue Lebensplanungen. Wurden sie volljährig, entschieden sie nun selbst. Volker Grünfeld zog aus genau diesem Grund seinen Antrag aus dem der Familie zurück, er hatte sich verlobt und gab an, dass er zunächst in Halberstadt bleiben und seinen Antrag zu einem anderen Zeitpunkt stellen wolle. Zu seinen Eltern, die kurze Zeit später ausreisten, hielt er intensive, gute Kontakte. 43 Vielleicht wurde seine Verlobte auch vom MfS aufgesucht und unter Druck gesetzt, so wie der Verlobte der Tochter von Familie Gudzmut, der während der Armeezeit von einem Mitarbeiter der Staatssicherheit zu seinem Eindruck über die Eltern der Verlobten befragt worden war. 44 Einem anderen 17-Jährigen aus einer »Antragsgemeinschaft« dauerte die Wartezeit zu lange. Noch während der Antrag lief, versuchte er eine Flucht über die tschechische Grenze. 45 Für jene Kinder, die bereits die Schule beendet hatten, interessierte sich die Staatssicherheit in besonderer Weise. Sie standen unmittelbar vor der Lehre oder Aufnahme einer Berufstätigkeit. Damit gehörten sie zu den »Arbeitskräften«, für deren Verbleib der Staat unbedingt sorgen wollte. Die Klein- und Schulkinder dagegen waren Kostenfaktoren, sie spielten in den »Analysen zur Situation der Antragstellungen im Kreis Halberstadt« keine Rolle. Eine besonders bedrohliche Situation entstand für Kinder von Halberstädter Antragstellern dann, wenn ein Elternteil oder sogar beide Eltern von der Staatssicherheit zum Verhör geholt wurden. Von einigen ehemaligen Antragstellern wissen wir, dass sie auf diesen Augenblick vorbereitet waren und die Kinder zu den Großeltern oder Nachbarn gingen, die wussten, was sie zu tun hatten. 46 Dem Augenblick der Festnahme war in einigen Familien eine Zeit vorausgegangen, in der die Antragsteller in der Angst lebten, es käme zu einer Verhaftung. Diese Spannungen haben sich offensichtlich auch auf die Kinder 43 44 45 46
BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«). BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«), Bl. 73. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1247/86 (OPK »Schläger«). Interview mit Herrn und Frau Reither, Transkript, S. 8.
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übertragen, selbst dann, wenn die Eltern dies zu verbergen suchten. In einem 1981 entstandenen Dokumentarfilm, in dem Kinder zu Wort kommen, die in jenem Jahr mit den Eltern in den Westen ausgereist waren, sagen drei von fünf Kindern, dass sie große Angst gehabt hätten, die Eltern könnten abgeholt werden. Ein Achtjähriger erinnert sich: »Drüben, da war es auch ganz schön, aber ich hatte Angst, dass Papa abgeholt wird.« 47 Die familiäre Situation Halberstädter Antragstellerkinder unterschied sich jedoch erheblich von der der Kinder aus dieser filmischen Dokumentation. Die meisten dieser Kinder kamen aus Berlin, ihre Eltern waren Schriftsteller, Journalisten und Ingenieure, kritische Menschen, die offensichtlich mit ihren Kindern schon seit Jahren politische Gespräche geführt hatten. Diese kannten die Einstellung ihrer Eltern zur DDR und waren in mögliche Folgen der Antragstellung eingeweiht worden. Aber auch sie erlebten die Wartezeit bis zur Ausreise als spannungsreich und angstvoll. Sie erinnern sich, sehr froh gewesen zu sein, als die Ausreise endlich hinter ihnen lag und wissen noch genau, dass sie sich die ganze Zeit gewünscht haben, »dass es bald ein Ende hat.« 48 Anders als die Halberstädter wurden diese Berliner Kinder von ihren Eltern auf ihre Außenseiterposition in der DDR vorbereitet und konnten selbstbewusst über ihren Umgang mit der Lehrerin, der Direktorin oder den Mitschülern berichten. Dennoch muss es auch für Anne, die damals neun Jahre alt war, nicht leicht gewesen sein, vor der Direktorin zu stehen und zu hören, dass diese »sehr, sehr traurig« darüber sei, dass Anne kein Junger Pionier mehr sein wolle. Zu ihrem Glück aber wurde sie vermutlich zu Hause moralisch gestärkt, der Vater hat ihr vielleicht gesagt, wie heuchlerisch er dieses Verhalten der Direktorin findet und Anne konnte so die Gewissheit haben, dass sie auf der richtigen Seite steht. Sie und die anderen Kinder von kritisch-oppositionellen Antragstellern hatten eine Zuflucht, ein dissidentisches Milieu, das sie wenigstens zu Teilen auffing und schützte. Die meisten Eltern im Kreis Halberstadt haben solche Gespräche mit ihren Kindern nicht geführt. Zum einen setzten sie damit fort, was in ihren Herkunftsfamilien verbreitet war, denn auch dort hatten so gut wie keine Gespräche über Politik stattgefunden. 49 Zum anderen wurde in den mit ihnen geführten Interviews nach 2009 deutlich, dass sie ihre Kinder nach der Antragstellung angehalten hatten, sich »wie immer« zu verhalten, weiterhin ordentlich in der Schule zu lernen, nichts Schlechtes über die DDR zu sagen, die Pioniernachmittage zu besuchen und vor allem, nicht über die Absicht der Eltern zu reden, in den Westen gehen zu wollen. Alles sollte ganz normal aussehen, 47 Christa Moerstedt: Ich würde gern überall sein, auf beiden Seiten …, ZDF 1981, Dokumentarfilm. http://www.youtube.com. 48 Ebenda. Es handelte sich um Sven (14 Jahre) und Anne (9 Jahre). 49 Nur einer von 20 Interviewpartnern hatte als Kind lebhafte politische Gespräche mit dem Vater geführt.
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Ausreise per Antrag
schließlich seien sie mit der Antragstellung keine Verbrecher geworden. So aber waren die Kinder auf negative Reaktionen in der Schule nicht vorbereitet: Was zu ihrem Schutz gedacht war, hat sie eher verletzbar gemacht. 50 Die Beschreibungen jener dramatischen Situationen, in die Kinder der Halberstädter Antragsteller geraten konnten, ließen sich durchaus erweitern. Als Renate Krüger nach einer Besuchsreise 1987 im Westen blieb, begann für alle, auch für ihren Mann und die 7-jährige Tochter, ein Leidensweg. Der Antrag des Vaters auf Familienzusammenführung wurde bis zum Ende der DDR nicht genehmigt. In den Briefen, die das MfS abfing, wird die dramatische Situation, in der sich alle drei befanden, immer deutlicher. Zwischenzeitlich erwog die Mutter, einen Antrag nur für die Tochter zu stellen. Offensichtlich hoffte sie, auf diese Weise die Chance für eine Genehmigung zu erhöhen. Zeitgleich schlug der Vater vor, das alleinige Sorgerecht zu beantragen, was seine Frau entschieden ablehnte, denn dann hätte sie gar keine Möglichkeit mehr gehabt, die Tochter zu sich zu holen. Hinzu kam die Angst, ihr Mann könne inhaftiert werden. Sie wollte nicht auch noch daran Schuld haben, dass er ins Gefängnis kommt, er möge sich ruhig verhalten. 51 Dieser Brief vom Februar 1989 endete verzweifelt. Die Eltern begannen, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Im Juli soll Herr Krüger zusammen mit seiner Tochter die Flucht über Ungarn geplant haben, der letzte Eintrag in der OV-Akte ist vom 29. September 1989. Ob die Zermürbungstaktik der Staatssicherheit die Eltern tatsächlich auseinandergebracht hat, lässt sich aus der Akte nicht ersehen. Die Tochter, die zur »Wende« neun Jahre alt war, hat diese krisenhafte Zeit und diesen dramatischen Verlauf der Beziehungen ihrer Eltern erleben und sich darin zurechtfinden müssen. Wie ist ihr das gelungen? Renate Krüger hatte tatsächlich gedacht, mit einem Antrag auf »Familienzusammenführung« könnten die Tochter und der Mann sehr schnell in den Westen nachkommen. Vielleicht stand ihr ein gelungenes Beispiel vor Augen. Damit gehörte sie nicht zu jenen Eltern, die in den Westen ausreisten und ihre Kinder allein zurückließen; eine beschämende Realität, die im Herbst 1989 nach dem Fall der Mauer ihren traurigen Höhepunkt erreichte. 52 In den uns näher bekannten 46 Antragstellungen aus dem Kreis Halberstadt gab es nur ein Ehepaar, das lediglich für zwei seiner vier Kinder einen Antrag auf Ausreise stellte. Die beiden anderen Kinder sollten offensichtlich in der DDR bleiben. Der Antrag wurde später insgesamt zurückgenommen. Bei der Antragstellung eines geschiedenen Mannes wird 50 Jene Eltern, die ihre Kinder aus der Pionierorganisation nehmen wollten, setzten eine harte Reaktion der Abt. Volksbildung des RdK in Gang. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bd. 1, Bl. 150. 51 Brief, 23.2.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 607 (OV »Konditor«, Reg.-Nr.VII 1404/87), Bl. 184 f. 52 Die verlassenen Kinder der DDR. Filmdokumentation, 1990, Phönix.
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man den Eindruck nicht los, dass er sich auf diese Weise vor den Unterhaltszahlungen drücken wollte. Auch dieser Antrag wurde später zurückgezogen, das MfS ließ den verschuldeten Mann nicht in den Westen gehen. Für einige Halberstädter Kinder wurde aus der Angst die Gewissheit: Vater oder Mutter sind im Gefängnis. In unserem Sample, dem fast alle in einem OV oder einer OPK »bearbeiteten« Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt zugrunde liegen, wurden fünf Paare und vier einzelne Antragsteller aus einer Partnerschaft inhaftiert. Somit waren insgesamt fünfzehn Kinder mit der Inhaftierung ihrer Eltern oder eines Elternteils konfrontiert; diese Phase verbrachten sie entweder bei Verwandten oder bei dem anderen Elternteil. Wie erlebten sie diese Zeit? Und vor allem: Wie erlebten sie die Eltern, Vater oder Mutter, nachdem diese aus der Haft entlassen worden waren? In den uns bekannten Fällen trafen sich die Kinder und die aus der Haft entlassenen Eltern erst im Westen wieder. Im Interview erzählen zwei Mütter, dass die kleinen Kinder ihren Vater schon nach kurzer Trennung nicht mehr erkannten. Dies mag nicht nur an der verstrichenen Zeit gelegen haben, die Haft hatte den Vater verändert, verstört und mitunter auch traumatisiert. »Erstmal die Beziehung zu den Kindern war ganz schwierig«, erzählt Ingeborg Mattuschek: »Mein Mann war jetzt total auf sich fixiert. […] Also er hat sich zuerst was zu essen genommen, in Deutschland sind die Männer ja sowieso so, dass sie das größte Stück Fleisch kriegen. – Aber hier war er dann so, dass er sich erst mal was genommen hat – und morgens schon ganz früh rumgehampelt. – Der hatte ja jetzt [einen] solchen Rhythmus: Ganz früh aufstehen und immer unter Kontrolle sein […]. Mit den Kindern kam er nicht klar. Keiner wollte neben ihm sitzen.« 53
Ingeborg Mattuschek erinnert sich an geradezu unsoziale Verhaltensweisen ihres Mannes, die ihm jedoch das Überleben im Gefängnis erleichtert hatten. »Da musste man sich den Kaffee nehmen, weil, sonst war er weg … und das Obst nehmen. Und das hat der hier auch so gemacht, bis ich dann mal in Tränen ausgebrochen bin.« 54 Es lassen sich im Ergebnis der Recherchen kaum Aussagen darüber treffen, wie es den Kindern der Halberstädter Antragsteller nach der Ausreise im Westen erging. Wie ist es Birgit, Stefanie, Carola und Gardelebens Sohn nach 53 Herrn Mattuscheks Haftzeit in der DDR dauerte fast zwei Jahre an, danach wurde er in den Westen entlassen, wo er auf seine Frau und die beiden Kinder traf. Vgl. auch die Beschreibung traumatisierender Hafterlebnisse mit Langzeitwirkung bei Priebe; Denis; Bauer (Hg.): Eingesperrt und niemals frei, sowie Wölbern: »Der Freikauf in der Öffentlichkeit«. In: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Der Autor hat mir seine Arbeit vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, eine Reihe von wichtigen Informationen zum Freikauf, zu den Haftbedingungen, zur Öffentlichkeitspolitik in West und Ost u.a.m. konnte ich für die eigene Arbeit verwenden. Ich bin ihm sehr zu Dank verpflichtet. 54 Interview mit Ingeborg Mattuschek, 15.12.2009, Transkript, S. 35–36.
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Ausreise per Antrag
solchen Erfahrungen gelungen, in Hannover, Düsseldorf oder Köln heimisch zu werden? Hinter ihnen lag der Abschied von den Freunden, von Tanten, Cousins und Cousinen, von Opa und Oma. 55 Und hinter ihnen lag die kurze Zeit im Notaufnahmelager, eine längere Zeit in einem Wohnheim für Aussiedler oder bei Verwandten. Im Rahmen dieser Studie konnten keine Interviews mit den nun erwachsenen Kindern der Übersiedler geführt werden. Die Eltern antworteten auf die Frage nach deren Verbleib unisono, dass sich ihre Kinder nach anfänglichen Schwierigkeiten gut bis sehr gut eingelebt hätten. 56 Und tatsächlich haben alle Kinder der befragten Eltern eine Lehre absolviert, einige studierten, sie hatten alle zum Zeitpunkt der Interviews eine Arbeit, die Tochter von Familie Granitz lebt und arbeitet in Kanada. Doch scheint in den Interviews auch auf, wie schwer die Kinder es zunächst im Westen hatten. Die Tochter des Ehepaares Granitz brach zusammen, der Sohn von Großmanns wurde so krank, dass er künstlich ernährt werden musste. 57 Der Versuch, in der aktuellen Literatur oder in den Medien Informationen zu diesem Thema zu finden, schlug fehl. Die Kinder der Antragsteller waren und sind kein Gegenstand des Interesses. Selbst in einer jüngst erschienenen, 600 Seiten starken wissenschaftlichen Arbeit zur »Abwanderung aus der DDR in die BRD und nach West-Berlin« werden sie nur erwähnt, um die perfide Praxis der Staatssicherheit zu beschreiben, die Kinder als Druckmittel gegenüber den Eltern zu missbrauchen. Geschildert werden die Sorgen der Eltern, nicht die Lage der Kinder, weder in der Zeit nach der Antragstellung noch bei ihrer Ankunft im Westen. 58 Lediglich der erwähnte Film von 1981, in dem fünf Kinder nach der Übersiedlung mit ihren Eltern in den Westen nach eigenen Eindrücken befragt wurden, thematisiert die Situation der Ausreiserkinder. Während der Arbeit an diesem Manuskript ist endlich ein Buch erschienen, in dem sich Kinder von Dissidenten an Flucht und Ausreise sowie den schweren Neubeginn im Westen erinnern. 59 Für die Betroffenen sind inzwischen mehr als 25 Jahre vergangen, aber die Verletzungen, sogar Traumatisierungen sind in den Texten präsent. Selbst Kindern von politisch bewussten, sich reflektiert gegen den Staat und seine Zumutungen auflehnenden Eltern hatte dieser »Ortswechsel« das gewohnte Zuhause genommen. Ungleich schwerer muss es Kindern gefallen sein, die nicht in einem oppositionellen Milieu groß geworden waren, die Normalität des Lebens in der DDR aufzugeben. Über deren »Ankunft im Alltag« des Westens gibt es bisher keine verlässlichen Informationen. 55 56 57 58 59
Interview mit Uwe und Kornelia Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 34. Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 34 u. 45. Interview mit dem Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 57. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 402. Schädlich: Ein Spaziergang war es nicht.
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5 Von der Antragstellung bis zur Ausreise
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Das Leben nach der Antragstellung: Im »Netzwerk« aufgefangen oder allein?
Der enge Zusammenhalt in der »Antragsgemeinschaft« war kein Halberstädter Spezifikum. In der ganzen DDR herrschte in diesen kleinen Gemeinschaften ein besonders enges Verhältnis zwischen allen Betroffenen. Die Ehepaare gingen mehrheitlich solidarisch miteinander um und hatten nur ein Ziel: Die schwierige Situation gut durchzustehen.60 Dies war umso notwendiger, als ihnen außerhalb der Familie für die Zeit bis zur Ausreise kein soziales Netz zur Verfügung stand. Von einem solchen aber geht der Soziologe Manfred Gehrmann aus. Er beruft sich dabei auf Gruppen, die in der DDR bereits seit den 1970er Jahren existiert hätten, in denen sich Antragsteller organisiert, gegenseitig informiert und in direkter Interaktion kollektiv gegen die Verfolgungen der Staatssicherheit gestärkt hätten. Sie seien von den Herrschenden praktisch zur Selbsthilfe in Form solidarischen Verhaltens gezwungen worden.61 Den Nachweis, dass solche »Zusammenschlüsse« ein verbreitetes Phänomen waren, bleibt der Autor allerdings schuldig. Er beschreibt ausführlich drei Beispiele aus Jena, Riesa und Berlin, muss an anderer Stelle jedoch einräumen, dass diese wohl eher Ausnahmen gewesen seien.62 Gehrmann stützt seine These wesentlich auf Einschätzungen der Staatssicherheit, die die Bekämpfung von »Zusammenschlüssen« unter Antragstellern bereits sehr früh zu einer zentralen Aufgabe gemacht hatte.63 Wenn das MfS solche »Tendenzen zum Zusammenschluss von Ausreisewilligen« registrierte, war dies immer Anlass zu einer besonders umfassenden Kontrolle der Observierten.64 Die Einschätzung von Gehrmann ist kritisch zu bewerten: Der Verdacht auf eine Gruppenbildung bestätigte sich häufig nicht.65 Aber der Autor geht noch weiter und spricht von einem »Migranten-Netzwerk«, welches innerhalb der DDR bestanden und den Aktionen von Antragstellern mit einigen Einschränkungen den Charakter einer »sozialen Bewegung« verliehen hätte. In unserem Landkreis Halberstadt stellte sich die Situation für jene, die gegenüber den Behörden offenbart hatten, dass sie nicht mehr Staatsbürger der 60 Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, Kap. 6.2.2.2 »Antragsgemeinschaften«, S. 416–422. 61 Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 21. 62 Ebenda, S. 133–135 u. 164. 63 Ebenda, S. 157. 64 Ebenda, S. 148. 65 Ähnlich den unterstellten »Feindverbindungen«. Die in den Berichten der Staatssicherheit ständig steigenden Zahlen der angeblich in solchen Gruppen involvierten Personen, gehören wie viele andere registrierte »Feindtätigkeit« anders interpretiert. Vgl. dagegen Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 157.
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Ausreise per Antrag
DDR sein wollten, anders dar. Die soziale Netzwerktheorie, die Gehrmann aus der Migrationsforschung übernimmt, ist in dieser Weise nicht auf die Situation der Antragsteller auf Ausreise aus der DDR zu übertragen. 66 Im Kreis Halberstadt standen den Antragstellern im Prinzip keine halböffentlichen Räume zur Verfügung, in denen sie sich hätten sammeln können, auch nicht unter dem Dach der Kirche. 67 Es gab kein soziales Netz, das sie hätte auffangen können und schon gar kein subkulturelles Milieu, das ihnen in der Zeit bis zur Ausreise Schutz und Geborgenheit gegeben hätte. 68 Angesichts dieser Isolation, in der sich die Halberstädter Antragsteller befanden, müssen zwei Ausnahmen von der Regel benannt werden. An anderer Stelle des Buches wird von einem privaten Treffen einiger Ehepaare am Ende der 1970er Jahre berichtet, die sich gegenseitig über ihre Situation als Antragsteller informierten sowie über einen »Zusammenschluss« aus dem Jahr 1988, in dem einige Halberstädter Antragsteller die halböffentlichen Räume der Kirche für ihr Anliegen nutzten. Es war jedoch keine Kirchengemeinde aus Halberstadt, sondern eine aus einem Nachbarkreis. Im Kreis Halberstadt machte lediglich der Pfarrer der Gemeinde Huy den Antragstellern ein Angebot, sich treffen zu können, was jedoch nur von zwei Halberstädtern einmal wahrgenommen wurde. Diese Zurückhaltung ist auch darauf zurückzuführen, dass die Kirche im Kreis Halberstadt kein Raum für Nichtchristen war; nur verschwindend wenige Antragsteller hatten eine aktive Beziehung zur Kirche und zum christlichen Glauben. Der hauptsächliche Grund für diese Zurückhaltung, sich zu organisieren und einen halböffentlichen Raum zu nutzen, ist jedoch darin zu sehen, dass die Mehrheit der Halberstädter Antragsteller ihre Aktion als eine sehr private verstand, als ein Vorhaben, dass sie ganz allein und ohne jede Öffentlichkeit durchführen müssten. Nicht zu Unrecht meinten sie, sich der Sache gemäß zu verhalten, wenn sie über ihren in der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises gestellten Antrag auf Ausreise nicht sprachen. Einigen wurde, nachdem häufigere Besuche in der Abteilung Innere Angelegenheiten sie zu »hartnäckigen Antragstellern« gestempelt hatten, eine »Belehrung« vorgelegt, die sie zur Kenntnis nehmen und unterschreiben mussten. 69 Darin waren Verhaltensverbote wie die »Verbindungsaufnahme zu einer feindlichen Organisation« unter Androhung strafrechtlicher Konsequenzen festgelegt. Verboten
66 Vgl. ebenda, S. 38. Hier die Definition einer »diffusen Menge«, kollektiv, kommunikativ etc. Und genau das alles ist bei den Halberstädter Antragstellern nicht festzustellen. 67 Vgl. dagegen ebenda, S. 49 f. Der Autor verallgemeinert, dass sich lange vor 1988 Ausreisewillige unter dem Dach der Kirche organisiert hätten. Er bezieht sich auf andere Autoren, die dies vor ihm so beschrieben haben. 68 Ebenda, S. 608. 69 Vgl. Einleitungsbericht, 30.5.1983, sowie Belehrung, 29.6.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1413/85 (OPK »Wartburg«), Bd. 1, Bl. 200.
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war auch die »Bekundung der Missachtung der Gesetze in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise«.70 Dass dies auch bedeuten konnte, der Antragsteller habe in seinem Betrieb und überhaupt in der Öffentlichkeit niemanden über seine Antragstellung zu informieren, ist dem folgenden Hinweis eines Mitarbeiters des Rates des Kreises zu entnehmen: »Dann muss ich noch hinzusetzen: Nichts zu unternehmen, was dem Land schadet, indem sie irgendetwas übermitteln, also jemand was erzählen.«71 Das Verbot blieb dennoch diffus. Es war nicht eindeutig auszumachen, ob sich die Schweigepflicht auch auf die DDR-Öffentlichkeit, auf den Betrieb, die Nachbarn und Freunde bezog oder nur auf das westliche Ausland.72 Die meisten Halberstädter Antragsteller verhielten sich allerdings ohnehin, und schon lange bevor sie diese Belehrung unterschreiben mussten, so, als würden sie die Spielregel kennen, die da hieß: Nichts darf an die Öffentlichkeit dringen!73 Akribisch verfolgte die Staatssicherheit das Verhalten der Antragsteller und ließ ihre inoffiziellen Mitarbeiter sowie ihre Zuträger aus den staatlichen Leitungen melden, wie der »Übersiedlungsersucher« öffentlich auftrat.74 Doch nur wenige gingen mit ihrer Antragstellung offen um, die meisten hielten sich auch ohne staatliche Auflagen an das Schweigegebot. »Ich glaube«, sagt Günter Großmann im Interview, »wir hatten die Information, dass wir mit niemandem darüber sprechen sollen«.75 Für ihn war ohnehin selbstverständlich, dass er seine Angelegenheit weder im Betrieb noch in der Schule oder in der Nachbarschaft publik machen werde. Es gab sogar einige Antragsteller, die sich empörten, dass die »staatlichen Stellen« ihrerseits diese Vereinbarung nicht einhielten, was dazu geführt habe, dass sie nun im Betrieb oder in der Schule als Antragsteller bekannt seien. »Durch die Information von der Kreisleitung und Abteilung Inneres an die 70 Belehrung, 29.6.1983; ebenda, Bl. 201. 71 Abschrift des Gesprächs mit den Übersiedlungsersuchern, 18.5.1984; ebenda, Bl. 317–325, hier 322. 72 In einer anderen »Belehrung« (9.2.1988) heißt es dazu, »sich künftig gesellschaftsgemäß zu verhalten, die Gesetze der DDR strikt einzuhalten und jegliche gegen die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung missdeutbaren Aktivitäten zu unterlassen.« Belehrung, die den Antragstellern vorgelegt wurde, nachdem im Ergebnis einer Befragung auf die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verzichtet wird, hier bei Gardelebens; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 1619/88, Bl. 12. 73 Das galt spätestens seit 1953 für alle »besonderen Vorkommnisse«, namentlich für Unruhen und Streiks in den Betrieben der DDR. Wurden der Staatssicherheit solche Vorfälle gemeldet, galt es zu verhindern, dass sie außerhalb der Abteilung und des Betriebes einer größeren Öffentlichkeit bekannt wurden. Vgl. das Kapitel: Das »politisch-operative Vorkommnis« im Betrieb, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 218–221. 74 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2417/86 (OPK »Installateur«). Frau Cohn spricht anders als ihr Mann offen im Betrieb über den Antrag, Bl. 14. Wie offen der Antragsteller im Betrieb und im Wohngebiet mit seiner Antragstellung umging, wurde von der Staatssicherheit genau beobachtet. 75 Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 30.
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Ausreise per Antrag
HO wurde unser Antrag nicht nur weiterverbreitet, sondern auch verfälscht«, schreibt das Ehepaar Paul an den Rat des Kreises Halberstadt. Sie machten unmissverständlich klar: »Es ist und bleibt für uns eine ganz private Angelegenheit«. Während sich das Ehepaar selbst, wie es meinte, stets an die Gesetzlichkeit gehalten habe, verletze »der Staatsapparat« diese, indem er die Schweigepflicht breche und damit in ihre Privatangelegenheiten eingreife. 76 Auf diese Weise sei es ihnen unmöglich gemacht, das »normale« Leben aus der Zeit vor der Antragstellung weiterzuleben. 77 In die Vorbereitung und Planung ihres Vorhabens wurden selbst die engsten Verwandten und Freunde nicht gern einbezogen: »Wir haben doch mit keinem vorher gesprochen. Weder mit Freunden noch mit Bekannten«, sagt Frau Strutzig im Interview. »Wir haben die Ausreise gestellt und dann haben wir erst geredet. Dann haben wir geredet.« Herr Strutzig unterbricht seine Frau und stellt richtig: »Was heißt geredet? Geredet haben wir nicht groß, vorher schon gar nicht.« 78 Das Geheimnis konnte allerdings nicht lange bewahrt werden, denn während das Ehepaar auf dem Flur im Rat des Kreises darauf wartete, seinen Antrag abgeben zu können, wurden sie von einer Kollegin der Schwester von Frau Strutzig gesehen, die in der Kreisplankommission arbeitete. »Und die hat nichts Besseres zu tun gehabt, gleich rauf und hat gesagt: Siegrid, stell dir mal vor, ich habe deine Schwester und den Schwager gesehen. Die werden doch wohl nicht […]? – Die stehen da unten vor der Tür.« Am Abend des gleichen Tages wussten es alle näheren Verwandten. »Wir standen da wie an der Klagemauer.« Und Frau Strutzig ergänzt: »Ja, also, man war sofort erkannt«. 79 Es gab noch weitere Gründe für diese Verschwiegenheit der Antragsteller. Die Information über ihre Antragstellung hätte Freunde und Verwandte zu Mitwissern gemacht und gefährden können. So erklärt sich unter anderem, warum die Staatssicherheit von den Erstanträgen derart überrascht wurde. Die manchmal jahrelange gedankliche Vorbereitung darauf hatte im engsten Kreis stattgefunden. Alle weiteren Schritte, alle Absprachen über das taktische Vorgehen nach der Antragstellung, wurden häufig nur unter den Eheleuten besprochen; das Ehepaar Gardeleben ging eigens dafür im nahegelegenen Wald spazieren.80 Hinzu kam die Unsicherheit darüber, wie die Mitbürger in Halberstadt auf eine Antragstellung reagieren würden. In einem Interview von 2009 antwortet Frau Strutzig auf eine entsprechende Frage: »Ich habe für mich gedacht, es 76 Schreiben an den RdK, 1.9.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2183/89 (OV »Golf II«), Bl. 83. 77 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1241/86 (OPK »Maurer«). 78 Ehepaar Strutzig, Interview, 16.12.2009, Transkript, S. 17 f. 79 Ebenda, S. 20. 80 Ehepaar Gardeleben, Interview, 23.8.2010, Transkript, S. 28.
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kann sein, dass es nicht gut ankommt. Wie die Mitmenschen darauf reagieren, weiß man ja nicht. Ob da einer sagt: Wie kannst Du nur? Oder mich dann gleich meidet. Oder sagt: Mit der will ich nichts mehr zu tun haben.« 81 Tatsächlich berichten mehrere Antragsteller von einem eigentümlich distanzierten Verhalten der Halberstädter: Die Leute seien auf die andere Straßenseite gegangen, hätten im Laden plötzlich geschwiegen, wenn ein Antragsteller hinzukam, in der Schule hätten ihre Kinder allein auf dem Schulhof gestanden. Alle Interviewpartner beschreiben eine eigenartige Stimmung, die sich in ihrer Umgebung verbreitete, nachdem ihre Antragstellung in der Stadt oder auf dem Dorf bekannt geworden war. Eine politische Verurteilung sei das nicht gewesen, diese kam in der Regel von den Vorgesetzten, Kaderleitern und Parteisekretären. Jedoch habe man sich ihnen gegenüber seltsam distanziert verhalten. Für den Betrieb, hier das Reichsbahnausbesserungswerk Halberstadt, schildert ein Antragsteller es so: »Ja, die Atmosphäre – Die Kollegen haben schon noch mit mir gesprochen. Draußen auf der Produktion – ja, manche – haben sich auch viele distanziert – haben nicht ja und nicht nein gesagt. Manche haben gesagt, du machst das richtig. Das war ja rum wie ein Lauffeuer. […] Ja, das war für uns –nervlich war das eine harte Zeit. Waren zwei Jahre, die man nicht richtig schläft.« 82 Familie Gardeleben erlebte diese Distanzierung nicht nur unter Kollegen, sondern selbst unter Freunden und Familienmitgliedern. »Es war dann weniger an Kontakten gewesen. Man hatte sowieso mit Haus und Kindern und allem zu tun. Man hatte sich sowieso nicht mehr so viel getroffen. Aber auch auf dem Schützenfest – das ist ja jedes Jahr ein Highlight gewesen – man war so ein Aussätziger. […] Ja, spricht man die Leute an? Man hat eher gewartet, dass man selber angesprochen wird. Aber da ist auch nicht viel gekommen. Und man wollte keinen in Schwierigkeiten bringen – dass man mit Freunden groß erzählt und feiert – es hat sich jeder ein bisschen zurückgezogen.« 83
Und wenn der Mann von Frau Fischer wie gewohnt in die »Gartensparte kam, da haben die Freunde, die früher immer ›Hallo Manni‹ gesagt haben, da haben die sich abgewandt«. 84 Sie werden nicht die einzigen gewesen sein, die von Freunden und Verwandten wenig bis gar keine Unterstützung erhalten haben. In einer nichtrepräsentativen Befragung des Bürgerbüros »Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur« aus den Jahren 2000 bis 2002, gaben nur 12 von
81 82 83 84
Ehepaar Strutzig, Interview, 16.12.2009, Transkript, S. 19. Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 24. Ehepaar Gardeleben, Interview, 23.8.2010, Transkript, S. 34. Interview mit dem Ehepaar Fischer, 7.7.2009, Transkript, S. 24.
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Ausreise per Antrag
71 befragten Ausreisern die Auskunft, ihre Verwandten und Freunde hätten eindeutig positiv auf ihre Antragstellung reagiert. 85 Warum blieben nicht viele Halberstädter ihren Antragstellern freundlich zugewandt? Gab es nicht auch ein anerkennendes Schulterklopfen, ein bisschen Bewunderung dafür, dass sie diesen risikovollen Schritt gewagt hatten? »Nee«, sagt nicht nur das Ehepaar Gardeleben, »Anerkennung haben wir eigentlich gar nicht erlebt. Nee, eher Neid. Neid, die können jetzt reisen und – ja, wir würden es auch gerne machen, aber die Angst gegenüber dem Staat wieder. Das Aufgeben, das hat sich keiner getraut. So komplett noch mal anzufangen. Wir haben ja mit acht Koffern wieder angefangen – nicht mehr so jung. Mit 36. Aber trotzdem. Das hat sich keiner getraut. Das Risiko. Das Risiko, noch mal neu anzufangen.« 86
Frau Fischer erklärt sich dieses Verhalten mit dem Duckmäusertum der meisten Halberstädter: »Zum Beispiel die Eltern eines kleinen Mädchens, die waren einfache Leute, nicht in der Partei, die wollten keinen Ärger. Sie wollten es ruhig haben. Um Gottes Willen, jetzt bloß nicht mit ‘ner Ausreise zu tun haben – bringt mir bloß nicht die Sandra ins Haus!« Man hielt sich raus. »Innerlich haben sie vielleicht gesagt, Mut haben die ja! Aber nicht laut gesagt.« 87 So sehen es auch Großmanns. Bis heute würden sie diese abweisende Haltung vieler ehemaliger DDR-Bürger spüren. Dagegen würde keiner ihre Bedeutung würdigen: »Wir waren eigentlich Vorreiter für die friedliche Revolution. Wir waren ein Puzzelchen in dem ganzen Prozess. So sehen wir uns. Aber das hat uns noch keiner übermittelt, dass die das auch so sehen.« 88 Die Reaktionen der Umwelt verstärkten ihr ohnehin vorhandenes Selbstverständnis, in der Antragstellung eine »reine Privatsache« sehen zu wollen. Alles in allem entsteht der Eindruck, dass die Halberstädter Antragsteller nach der Antragstellung in eine gesellschaftliche »Gemengelage« gerieten, die zum Rückzug und zur Vereinzelung der meisten unter ihnen führte. In dieser Atmosphäre waren Beispiele solidarischen Verhaltens von besonderem Wert. Da ist Klaus Grass, der aus familiären Gründen fest an der Seite seines Bruders stand, und der am Ende selbst existenziellen Schikanen ausgesetzt war. Oder ein Handwerksmeister, der sich mit einem Brief an den Vorsitzenden des Rates des Kreises mit der Bitte wandte, Edeltraut Kutz doch wenigstens eine Besuchsreise zu ihrer Mutter zu gestatten, er bürge dafür, dass sie wieder in die DDR zurückkommen werde. »Ich glaube«, so schrieb er im 85 Vgl. Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut. Die soziale, individuelle und wirtschaftliche Situation der ehemaligen Antragsteller auf Ausreise aus der DDR und die Frage ihrer Identität, Berlin Bürgerbüro e. V. 2003, S. 72 f. 86 Uwe und Kornelia Gardeleben, Interview, 23.8.2010, Transkript, S. 333. 87 Ehepaar Fischer, Interview, 7.7.2009, Transkript, S. 17. 88 Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 67 f.
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Januar 1983, »dass mein Ruf als Handwerksmeister und ehemaliger langjähriger Funktionär in verschiedenen Organisationen Ihnen einige Sicherheit bedeuten könnte und Sie können versichert sein, dass ich diesen nicht leichtfertig aufs Spiel setze.« 89 Solche Beispiele hat es noch weitere gegeben: der Meister, der Verständnis für seinen Kollegen bekundete, die Lehrerin, die das Kind eines Antragstellers vor Diskriminierungen schützte, oder der Nachbar, der die Information weitergab, dass er Auskunft über die Familie des Antragstellers geben sollte. Häufiger jedoch erlebten die Antragsteller, dass sich Freunde, Bekannte und Kollegen von ihnen zurückzogen. Im Ergebnis ordneten sich ihre Beziehungen neu, alte Freundschaften zerbrachen und neue traten an ihre Stelle, darunter auch zu anderen Antragstellern. 90 Einige Antragsteller lernten in ihrer für sie neuen Position als Außenseiter und »Fremder in der Heimat« nicht nur andere Menschen kennen, sondern zugleich ein ganzes Milieu. Günter Großmann, der bisher keine Kontakte zur Kirche pflegte, arbeitete nach seiner Entlassung für ein Jahr in der Gemeinde. »Das Positive an der Geschichte ist, dass wir Erfahrungen gesammelt haben, die Pastoren kennengelernt, die Menschen. Ich war ja auf der anderen Seite. Und jetzt habe ich die Menschen, die schon immer unter dem Regime zu leiden hatten, erst mal kennengelernt.« 91
Manche Antragsteller begegneten sich im Wartezimmer bzw. auf dem Flur im Rat des Kreises, wo man ins Gespräch kommen konnte. Einige Antragsteller arbeiteten im gleichen Betrieb oder kannten sich von gemeinsamen Freizeitaktivitäten und Besuchen in der »Stammgaststätte«. Hier gab es auch Freundschaften, die entweder schon vor der Antragstellung bestanden hatten oder sich im Laufe der Wartezeit entwickelten. Wir würden dieses Zusammenrücken eines Teils der Halberstädter Antragsteller jedoch nicht als »soziales Netzwerk« oder gar als soziale Bewegung bezeichnen. Selbst unter den 75 von der Staatssicherheit besonders observierten und in einer OPK oder einem OV erfassten Antragstellern haben nur 15 Personen eine regelmäßige Beziehung zu anderen Antragstellern gepflegt. Dieser Anteil würde prozentual unter Einbeziehung der Antragsteller, die nicht unter besonderer Beobachtung gestanden haben, noch weitaus kleiner ausfallen. 92
89 BStU, MfS, BV Magdeburg; AOP, Nr. 2033/83 (OV »Bürge«), Bd. 1, Bl. 43. 90 Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 401 u. 415 f. 91 Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 52. 92 In der Umfrage des Bürgerbüros hatten von 71 Antragstellern acht Personen eine Unterstützung durch andere Ausreisewillige. Dies wird mit einem Kontakt gleichzusetzen sein. Bertram; PlanerFriedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut, S. 74 f.
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Ausreise per Antrag
Tabelle 3: Kontakte zu anderen Antragstellern Kontakte zu anderen Antragstellern
Häufigkeit
Prozent
Keine Kontakte zu anderen Antragstellern
43
55,8
Flüchtige Kontakte zu anderen Antragstellern
17
22,1
Stete Kontakte zu anderen Antragstellern
15
19,5
Keine Angabe Gesamt
2
2,6
77
100,0
Die Gefahr, sich mit einem Treffen, in welcher Form auch immer, strafbar zu machen, aber auch das eigene Selbstverständnis vom unpolitischen und individuellen Charakter der Antragstellung, verhinderten solche Aktionen. »Aber ich mochte diese Sachen nicht«, sagt Günter Großmann und spricht hier durchaus im Namen der Mehrheit. »Ich wollte das nicht so politisch aufhängen. Wir haben unsere Ausreise beantragt auf Familienzusammenführung und wir wollten denen auch keinen Anlass bieten, uns auseinander zu kriegen – uns Viere. Das war uns immer ganz wichtig.« 93 Günter Großmanns Sorge um die Familie war nicht unberechtigt und seine Umsicht, kein geschriebenes und ungeschriebenes Gesetz zu verletzen, nicht Ergebnis eines Verfolgungswahnes. Doch das unter den Antragstellern verbreitete Konzept, sich unauffällig, unpolitisch und korrekt zu verhalten, um keinen Anlass für staatliche »Maßnahmen« zu bieten, und so die Genehmigung zu beschleunigen, ging in der gewünschten Weise letztlich nicht auf. Die Wartezeiten waren lang, die Behördenentscheidungen willkürlich und damit unberechenbar. Viele Antragsteller wurden mit der Zeit ungeduldig, radikaler und politischer in ihrem Auftreten gegenüber dem Staat. Die Monate und Jahre, in denen sie auf eine Genehmigung warteten, veränderten in der einen oder anderen Weise alle Betroffenen.
5.4
Mythos Westen?
Während aus den unterschiedlichsten Gründen die Wartezeit auf eine Genehmigung zur Ausreise aus der DDR die Mehrzahl der Antragsteller isolierte, verstärkte sich der ohnehin vorhandene Kontakt zu Personen im Westen. Es gab so gut wie keinen Antragsteller im Kreis Halberstadt, der nicht irgendjemanden dort kannte. 94 Einige Antragsteller waren inzwischen die einzigen aus 93 Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 38. 94 Andere Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass jede zweite Familie in der DDR Westverwandte hatte. Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 30.
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5 Von der Antragstellung bis zur Ausreise
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ihrem Familienverband, die noch in der DDR lebten. Kaum einer musste auf eine fingierte Adresse zurückgreifen, um eine Person im Westen angeben zu können, zu der man ausreisen wollte. Parallel zu diesen familiären und freundschaftlichen Bindungen besticht die hohe Anzahl von Kontakten, welche Antragsteller zu vor Jahren in den Westen geflohenen, nach einer Reise nicht zurückgekehrten oder bereits ausgereisten, ehemaligen DDR-Bürgern pflegten.95 Im Kreis Halberstadt hatten drei Viertel aller Antragsteller derartige aktive Kontakte. Dieser Befund deckt sich mit anderen Untersuchungen, in denen nachgewiesen werden konnte, dass Ausgereiste weitere Antragsteller nach sich zogen und einen regelrechten Ausreisesog bewirkten. Die Staatssicherheit wusste um dieses Phänomen und schenkte daher den sogenannten Rückverbindungen von Ausgereisten zu den Zurückgebliebenen größte Aufmerksamkeit.96 Tatsächlich wurden auch im Kreis Halberstadt Genehmigungen verweigert oder ausgesetzt, weil die Gefahr bestand, dass dem Ausgereisten unverzüglich eine Antragstellung weiterer Familienmitglieder oder aus dem Freundeskreis folgen würde. Mit unterschiedlichsten Strategien versuchten die zuständigen Stellen diese Zusammenhänge zu kappen. In einem Funktionsplan für die zuständigen Mitarbeiter der Abteilung Inneres heißt es: »Um nach genehmigter Übersiedlung von Personen nach der BRD bzw. nach Berlin/West keine negative bzw. feindliche Beeinflussung von Bürgern der DDR zuzulassen und der planmäßigen Entwicklung von Rückverbindungen entgegenzuwirken, ist eine kurzfristige Abwicklung genehmigter Anträge erforderlich.«97
Diese ohnehin etwas hilflos wirkende Taktik der DDR-Behörden, den Zeitraum zwischen einer Genehmigung und der Ausreise so kurz wie möglich zu halten, dämmte die Sogwirkung und den »Nachahmungseffekt« im Kreis Halberstadt allerdings nicht ein. Die Beziehung zu den inzwischen im Westen Lebenden hatte auch in Halberstadt eine längere Geschichte. Ein großer Teil der Kontaktpersonen war bereits in den 1950er und 1960er Jahren ausgereist bzw. geflohen. Die Republikfluchten aus den grenznahen Bezirken Magdeburg, Halle und Erfurt lagen vor 1961 über dem DDR-Durchschnitt.98 Seitdem zu Beginn der 1970er Jahre die Grenze wieder etwas durchlässiger geworden war und Westbesuchsreisen, 95 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bd. 1, Bl. 8–11. Dieser Kontakt ist ihnen von einem anderen Halberstädter Antragsteller vermittelt worden (OV »Oldtimer«) weswegen das MfS eine Verbindung zwischen ihnen herstellte. 96 Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 170. 97 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 (IM »Klaus Fischer«), Bd. I/1, Bl. 86. Dieser Funktionsplan von 1983 sieht auch vor, Anträge auf Rentenübersiedlung in die Maßnahme der Zurückdrängung einzubeziehen. 98 Vgl. Kapitel 2 in diesem Band, sowie Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 63.
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Ausreise per Antrag
namentlich der Rentner, in größerem Umfang gestattet wurden, erhöhte sich die Zahl der »Verbleiber« erheblich. Zusammen mit den Geflohenen und bereits Ausgereisten bestimmten sie maßgeblich das Ausreisebegehren der Zurückgebliebenen. Für dieses Verhalten von »Ausreisewilligen« in der DDR wird der aus der Migrationsforschung bekannte Begriff einer »Kettenwanderung« verwendet, der das Phänomen treffend beschreibt. 99 Im Kreis Halberstadt lässt sich diese »Kette« bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen. Zu dieser Zeit hatte es besonders viele Fluchten aus Wehrstedt gegeben, was sich noch zwanzig Jahre später in einem hohen Anteil von Antragstellern aus diesem Ort niederschlug. 100 Der weitergehenden Interpretation, wie sie etwa jüngst Manfred Gehrmann vertrat, dass dieser enge Zusammenhang zwischen den Antragstellern und den im Westen Angekommenen zu einem sozialen Netzwerk geführt habe, in dem die individuelle und isolierte Situation des vereinzelten Antragstellers quasi aufgehoben wurde, bestätigte sich nicht. Zwar gab es auch in Halberstadt einige Antragsteller, die zu ein und derselben Person im Westen Verbindung hielten, was einen gewissen, jedoch nicht übermäßig ausgeprägten Zusammenhalt untereinander schuf. Die verbindenden Westbeziehungen hoben den tendenziell isolierten Charakter ihrer Situation in der DDR jedoch nicht auf. Allerdings gaben sie den Alleinkämpfern einen großen moralischen Halt. 101 Diese unserer Meinung nach falsche Interpretation, dass die »Kettenwanderung« stets mit einem sozialen Netzwerk auch zwischen den »Ausreisewilligen« einhergehen müsse, resultiert aus einer zu schematischen Übertragung von Erkenntnissen der Migrationsforschung auf die deutsche Ost-West-Wanderung. »Bei internationalen Migrationen besteht das Hauptproblem potenzieller Einwanderer darin, von ihrem Zielland nicht eingelassen zu werden«, heißt es bei Gehrmann zunächst richtig, was ein funktionierendes solidarisches Netzwerk durch die Ankommenden zwingend mache. 102 Der Umkehrschluss jedoch, dass für die Antragsteller respektive Migranten in der DDR ein solches Netzwerk im »Herkunftsland« notwendig gewesen sei, weil ihr Begehren mit Repression geahndet wurde, stimmt – wie bereits ausführlich beschrieben werden konnte – mit der Realität nicht überein.
99 Der Begriff der »Kettenwanderung« wird z. B. von Manfred Gehrmann ausgiebig behandelt, vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs« S. 600 ff., 17–22 u. 191 f. Obwohl in der Migrationsforschung, namentlich durch Migrationshistoriker – nach seiner Interpretation – solche »Glieder von Wanderungsketten« nachgewiesen worden sind, würde in der deutschsprachigen Migrationssoziologie dieser Aspekt vernachlässigt. Vgl. ebenda, S. 217–223. 100 Vgl. Kapitel 2 in diesem Band, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1809/85 (OPK »Enkel«), Bl. 25. 101 Vgl. zu dieser Gruppenbildung: Kapitel 6.1 in diesem Band. 102 Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 16.
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Die Befunde aus der internationalen auf die deutsche Ost-West-Migration zu übertragen, hat den Blick für die Lage im »Zielland« geschärft und die Probleme der Ankunft und der Integration der Ausgereisten in einigen Arbeiten zu einem Schwerpunkt der Forschung gemacht. 103 Die Versuche dagegen, das »Herkunftsland« DDR ebenso historisch differenziert zu betrachten, fallen weniger ergiebig aus, zumal der »feine Unterschied« zu einer Migration, die sowohl für das »Herkunftsland« als auch für das »Zielland« andersartige Bedingungen aufwies, dabei eher vernachlässigt wird. 104 Eine weitergehende soziologische Analyse dieses Ost-West-Migrationsnetzwerkes wird ohne die differenzierte Einbeziehung struktureller und historischer Besonderheiten, namentlich in der DDR, nicht auskommen können. 105 Zu solchen historischen Einzigartigkeiten einer innerdeutschen Beziehung gehörten nicht nur die intensiven persönlichen Kontakte von Verwandten und Freunden; auch über die Sendungen des Rundfunks und des Fernsehens fand ein permanenter Informationsfluss von West nach Ost statt. Für die Antragsteller auf Ausreise waren die dichten persönlichen und medialen Beziehungen nach Westdeutschland von unschätzbarer Bedeutung. Sie dienten ihnen als Anstoß für ihre Antragstellung und gaben moralischen Halt, die Wartezeiten zu überstehen. Die von den Verwandten und über die Medien vermittelten Informationen enthielten praktische Hinweise, wie man sich gegenüber den staatlichen Behörden verhalten sollte, an wen man sich wenden musste und wie die Ankunft im Westen bestmöglich vorbereitet werden könnte. Die sich im Westen für die Antragsteller einsetzenden Verwandten und Freunde erhielten ihre Information zu großen Teilen ebenfalls aus den Medien, so dass es nicht verwundert, wenn alle von uns befragten Antragsteller als Informationsquelle beide angaben. Tatsächlich wandten sich die westdeutsche Presse, Funk und Fernsehen in ihren »Hinweisen für Antragsteller in der DDR« gleichermaßen an die Betroffenen und an »Bundesbürger, die ihren Angehörigen bei deren Bemühungen« helfen wollten, eine Übersiedlung in den Westen zu erreichen. 106 Die Hilfestellungen gingen bis zu Formulierungsvorschlägen von Bittgesuchen und Adressenangaben, an die sich der Westverwandte mit seinem Anliegen wenden sollte. Dem Antragsteller wurde zum Beispiel empfohlen, eine Durchschrift seiner Anträge an das Ministerium des Innern der DDR zu schicken. 103 Vgl. Heidemeyer: Flucht und Zuwanderung; Ackermann: Der »echte« Flüchtling; Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut. 104 Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung; Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«. 105 Vgl. Wolff: Der lange Schatten der Mauer. Neuerscheinungen zur Migration aus der DDR. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII (2012), no. 25, S. 169–178. 106 Hinweise für Antragsteller in der DDR. In: Ahrens: Hilferufe von Drüben.
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Ausreise per Antrag
Neben solchen eher praktisch-organisatorischen Anleitungen veröffentlichten die bundesrepublikanischen Medien seit den 1970er Jahren auch konkrete Verhaltenshinweise für Antragsteller: »1. Nicht die Initiative verlieren, immer wieder an Behörden schreiben, Behörden aufsuchen […] Beharrlichkeit zeigen […] 2. In Schreiben und während der Besuche bei den Behörden sachlich und immer wieder mit derselben Begründung, in ruhigem Ton den Ausreiseantrag neu bekräftigen […] nicht auf Diskussionen einlassen oder gar versuchen, die Behörden und ihre Mitarbeiter zu provozieren. Die Argumente des Bearbeiters möglichst notieren […] 3. […] Häufigstes Argument sind: Ihr Antrag ist abgelehnt, es hat keinen Zweck, erneut Anträge zu stellen. (Nicht abschrecken lassen: Nur erneute Antragstellung und regelmäßige Vorsprache hilft weiter.)« 107
In dieser Schrift von 1978 wird die Hoffnung verbreitet, bei einem in solcher Art hartnäckigen, aber sachlichen Verhalten wäre mit einer raschen Genehmigung des Antrages zu rechnen. Die durch die Antragsteller erlebte staatliche Behördenpraxis sah allerdings oft anders aus. Die Wartezeiten waren in der Regel länger als im Westen vermutet, und nicht der sein Anliegen sachlich und ruhig vortragende, sondern jener Antragsteller, der laut und provozierend auftrat, schien die größere Chance auf eine Ausreisegenehmigung zu haben. Es gab allerdings tatsächlich auch Beispiele, die die empfohlenen Verhaltensregeln bestätigten. Die Genehmigungspraxis der DDR-Behörden war einfach unberechenbar, sodass die Ratschläge der Westkorrespondenten und von Fachleute, die lediglich eine mögliche Variante staatlichen Verhaltens reflektierten, nur einen geringen Nutzen für die Antragsteller in der DDR haben konnten. Zudem wurde in Unkenntnis der tatsächlichen Lage, vielleicht auch angesichts der beobachteten Genehmigungspraxis der DDR, der Eindruck erzeugt, in bestimmten Fällen bewege sich der Antragsteller auf dem Boden eines einklagbaren Rechtes, das ihm nur vorenthalten werde. So könne er sich sowohl auf die UNO-Charta als auch auf die internationalen Menschenrechtskonventionen beziehen und bestimmte Fälle einer »Familienzusammenführung« seien ebenfalls rechtlich geregelt. Tatsächlich gab es selbst für die Ausreisen von Rentnern, Invaliden und »echten Familienzusammenführungen« bis 1983 keine solchen gesetzlichen Grundlagen. Und die Hinweise und gutgemeinten Ratschläge an die Bundesbürger, sämtliche Daten ihrer Verwandten über die erlittenen beruflichen und anderen Repressalien zu sammeln und an die verschiedensten Regierungsstellen und Organisationen im Westen zu leiten – darunter auch an die Gesellschaft für Menschenrechte – zeugten von einem
107 Ebenda, S. 285 f.
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völligen Unverständnis darüber, in welcher Weise die DDR-Regierung ihre Paragraphen aus dem Strafgesetz anwenden würde. 108 Der Umstand, dass eine derart verbreitete und enge Kommunikation zwischen Ost und West bestand, sowie die geschilderte Informationspolitik der Westmedien bestärkten die Antragsteller in ihrer Überzeugung, nichts Unrechtes zu tun. Da es in der Regel verwandtschaftliche Beziehungen waren, wurde sogar darauf beharrt, sich mit diesen in Prag oder anderswo treffen zu dürfen. Auch, dass man über die geplante Ausreise korrespondierte oder dass Pläne geschmiedet wurden, wie es beruflich und privat weitergehen und in welcher Weise die Westverwandtschaft dabei behilflich sein könnte, schien legitim und wurde offen am Telefon oder in den Briefen ausgetauscht. Die Gefahr, die es barg, wenn man Nachrichten etwa über die Situation im Betrieb oder den Umgang der Behörden an die Westverwandten weitergab, wurde von den Halberstädter Antragstellern unterschätzt. Für einen erheblichen Teil von ihnen setzten sich Verwandte oder ehemalige Halberstädter im Westen ein, indem sie beim Auswärtigen Amt und bei anderen staatlichen Stellen um Unterstützung für eine Genehmigung baten oder Bittbriefe an Helmut Kohl richteten. In den Vernehmungen bei der Staatssicherheit beharrten die Antragsteller später darauf, dass sie nicht darüber informiert gewesen seien, was ihre Verwandten im Westen für ihre Ausreise getan hatten. Dies entsprach in einigen Fällen den Tatsachen, deutete in anderen darauf hin, dass sich die Antragsteller über den Umgang des MfS mit dieser Hilfe aus dem Westen nicht sicher waren – und angesichts der willkürlichen Handhabung durch die Staatssicherheit auch nicht sicher sein konnten. Stefan Togalla organisierte für sich und sein Anliegen von Halberstadt aus eine Medienöffentlichkeit im Westen und konnte dennoch nach anderthalb Jahren unbehelligt in den Westen ausreisen. Dagegen wurde gegen Roger Holster, dessen Westaktivitäten weitaus geringfügiger ausfielen, ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet. Er hatte einen Freund im Westen gebeten, einen von ihm an den Bundeskanzler Helmut Kohl verfassten Brief abzusenden. 109 Hinzu kam, dass den meisten Halberstädter Antragstellern unbekannt war, dass es für die Staatssicherheit sogenannte Feindorganisationen wie die »Gesellschaft für Menschenrechte« und amnesty international gab, die zu kontaktieren strafrechtlich geahndet werden konnte. Angesichts der geschilderten Informationspraxis durch Medien der Bundesrepublik, die zu einer direkten Kontaktaufnahme rieten, erscheint diese Unkenntnis und Unbedarftheit in einem anderen Licht. 108 Vgl. Hinweise für Bundesbürger. In: Ahrens: Hilferufe von Drüben, S. 283 f. Zugleich hatte die Tatsache, dass der Antragsteller eine Öffentlichkeit im Westen erlangte, eine wichtige Schutzfunktion, worauf noch verwiesen werden wird. 109 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK »Kohl«).
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Ausreise per Antrag
Die große Bedeutung der Informationen und Hilfsaktionen aus dem Westen soll durch die geschilderten Schwierigkeiten nicht geschmälert werden. Wer einen tatkräftigen Helfer im Westen hatte, für den verband sich alle Hoffnung auf eine rasche Ausreise mit dieser Person und ihrem Einsatz. Solche Kontakte verringerten den Stress der Wartezeit erheblich. Die von der Staatssicherheit abgelauschten Gespräche unter Antragstellern bringen ein sehr starkes Vertrauen in die Kontaktpersonen und bundesrepublikanischen Behörden zum Ausdruck. 110 Ohnehin beobachteten auch die Halberstädter Antragsteller interessiert, welche Lagebeschreibungen über die Westmedien in die Wohnzimmer flimmerten. Letztlich waren die Westmedien der Ersatz für eine fehlende Öffentlichkeit in der DDR und die einzige Chance, sich einen gemeinsamen Informationsstand zu erarbeiten. Dennoch war dieses West-OstInformationsnetz nicht unproblematisch und von unterschiedlichen Interessenlagen geprägt. 111 Regierungsstellen der Bundesrepublik beobachteten zwar das Geschehen in der DDR akribisch. Bereits 1975 konstatierte der Bundesnachrichtendienst eine veränderte Praxis der DDR im Umgang mit Übersiedlungsbegehren, beschrieb diese detailliert, stellte Phasen der Reaktion von DDR-Behörden fest und gab sogar Einblicke in die Entscheidungsfindung der DDR-Regierung. 112 Von diesen Berichten und Analysen ist jedoch nur ein kleiner Teil tatsächlich publik geworden. Namentlich über jene Vorgänge, die mit der monetären Gegenleistung bei den »Familienzusammenführungen« sowie dem sogenannten Freikauf politischer Häftlinge zusammenhingen, wurde sehr sporadisch berichtet. 113 Dieses Kapitel der deutsch-deutschen Beziehungen scheint selbst unter Antragstellern nicht wirklich bekannt gewesen zu sein. Informationen darüber, wie das Regelwerk des Freikaufs aussah, welche genauen Kriterien ihm zugrunde lagen oder wie viel Devisen vonseiten der Bundesrepublik tatsächlich gezahlt wurden, kursierten im Kreis Halberstadt eher in Form von Gerüchten, denn als verlässliche Information. Das mag auf der einen Seite verwundern, denn westliche Medien berichteten – zumindest hin und wieder – schon seit den 1960er Jahren über diese Praxis, andererseits trug die vorsichtige und halbherzige Informationspolitik des Westens zu dieser Diffusion bei. Den 110 Ein Ehepaar ist voller Dankbarkeit und Bewunderung darüber, was ein – in diesem Fall ihnen weitgehend unbekannter – Westdeutscher für sie alles tut. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, Bl. 166 ff. Siehe auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«). 111 Vgl. Ackermann: Der »echte« Flüchtling. 112 Siehe Dokumente zur Deutschlandpolitik. (DzD) VI. Reihe/ Bd. 4. 1. Januar 1975 bis 31. Dezember 1976. Bearb. von Hans-Heinrich Jansen, Monika Kaiser in Verbindung mit Daniel Hofmann. München 2007, S. 9–11. 113 Vgl. Wölbern: »Der Freikauf in der Öffentlichkeit«. In: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 323–357.
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Ostzuhörer oder -zuschauer erreichten widersprüchliche Meldungen und allenfalls Einzelbeispiele, die das Handlungsprinzip nicht in Gänze deutlich werden ließen. Der westdeutschen Regierung lag viel daran, die zunehmenden Versuche von Antragstellern, mit ihrem Anliegen eine westdeutsche Öffentlichkeit zu erreichen, einzudämmen, um bei der DDR-Regierung so wenig wie möglich den Eindruck zu erwecken, sie forciere über Medien die Ausreisewilligkeit der Bürger. 114 Damit ordnet sich das Thema des Umgangs der Antragsteller mit den Westmedien und Westkontakten in die allgemeine Frage ein, inwieweit hier ein bewusstes und strategisch zielgerichtetes Vorgehen in eigener Sache stattfand. Wie schon in anderen Zusammenhängen betont, ist dem Verhalten der Antragsteller gegenüber den Behörden mehrheitlich keine bewusst gewählte Taktik und kein durchdachtes Kalkül zu unterstellen. Sie waren in viel höherem Maße Objekte der Umstände als Subjekte des Handelns. Die Unsicherheit und die Unkenntnis darüber, wie sich im eigenen Interesse richtig zu verhalten und wie die schwierige Balance zwischen »Provokation und Geduld« zu bewerkstelligen war, nahmen bezüglich der Westkontakte eine noch größere Dimension an. 115 Die Bewohner des Kreises Halberstadt gehörten zu jenen 80 Prozent der DDR-Bevölkerung, die einen sehr guten Empfang sowohl der Fernsehprogramme von der ARD als auch vom ZDF hatten. Zudem wurden die meisten Antragsteller im Laufe der Zeit, in der sie auf eine Genehmigung warteten, immer interessierter am politischen Geschehen. 116 Was aber haben sie tatsächlich gesehen und was haben sie von den Berichten geglaubt? Was die Medienwissenschaft allgemein bezüglich des durchaus kritischen Konsums von Sendungen der ARD durch die DDR-Zuschauer herausgefunden hat, wird gleichermaßen auf die fernsehenden Antragsteller in Halberstadt zutreffen. Nicht zuletzt wurden vor allem jene Informationen aus den Westmedien angenommen, die tatsächlich handlungsorientierend sein konnten. 117 Die genaue Funktions- und Wirkungsweise eines deutsch-deutschen Migrantennetzwerkes ist umfassend noch nicht untersucht worden. Die vorliegende Recherche im Kreis Halberstadt konnte diese Lücke nicht füllen. Sie hat 114 1976 wurde sogar der Versuch gemacht, die Sendung »Hilferufe von drüben« im ZDF, in der entsprechende Informationen ausgestrahlt werden sollten, zu verhindern. Fernschreiben des Leiters der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland Gaus an den Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen Franke, Berlin (Ost), 18.3.1976. In: DzD, S. 632 f. 115 So Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 383. 116 So dass sie wohl kaum noch zu der Gruppe von Ostzuschauern gerechnet werden konnten, die das Westfernsehen ausschließlich der Unterhaltung wegen einschalteten. Vgl. die Ergebnisse der Studie von Meyen: Die ARD in der DDR. In: APuZ 20/2012, S. 28–34. Zur Politisierung der Antragsteller, vgl. Kapitel 6 in diesem Band. 117 Vgl. Kapitel 7.4 in diesem Band. Hier konnte gezeigt werden, dass nur jene, die tatsächlich die Option des Freikaufs über die Haft wählten, gut über die Modalitäten informiert gewesen waren.
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Ausreise per Antrag
sich auf die Situation von Antragstellern in der DDR konzentriert und die Rolle der Bundesrepublik ausschließlich aus deren Sicht reflektiert. Danach lässt sich behaupten, dass so gut wie alle Halberstädter Antragsteller über engste persönliche und mediale Beziehungen nach Westdeutschland verfügten, die nicht erst nach ihrer Antragstellung geknüpft wurden. Setzten sich Verwandte und Freunde bei Regierungskreisen oder unabhängigen Organisationen für die Antragsteller ein oder wurde die Öffentlichkeit durch die Westmedien mit ihrem Schicksal bekannt, nahmen solche Beziehungen einen durchaus ambivalenten Charakter an. Unter Umständen beschleunigte diese Öffentlichkeit tatsächlich die Ausreisegenehmigung, in jedem Fall bot sie Schutz davor, nach einer Verhaftung in die völlige Anonymität zu fallen. Andererseits boten diese Westkontakte einen willkommenen Anlass für die Sicherheitsbehörden der DDR, eine Verfolgung einzuleiten, die mit der Verhaftung und einer Verurteilung wegen ungesetzlicher oder staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme, u. U. sogar wegen Spionage enden konnte. 118 Die Vorteile eines helfenden Westkontaktes mussten den Antragstellern dennoch bei weitem größer erscheinen als das zumeist gering eingeschätzte Risiko einer staatlichen Verfolgung in der DDR.
5.5
Das Bild vom Westen
Mitte der 1970er Jahre war die Teilung Deutschlands bereits rund 25 Jahre lang Realität. Die Kontakte zu den Verwandten und Bekannten im Westteil des Landes wurden, ungeachtet der Tatsache, dass eine neue Generation heranwuchs, die keine offenen Grenzen mehr kannte, von vielen intensiv gepflegt. Die »andere Hälfte« Deutschlands blieb vor und nach dem Mauerbau am 13. August 1961 präsent und gehörte zum Alltag in der DDR. Wohl täglich wurden die Nachrichten zunächst über den Westrundfunk und später über das Fernsehen genutzt, um sich darüber zu informieren, was drüben passierte. Und stets wurden – nicht nur im Osten, sondern auch im Westen – Vergleiche mit dem eigenen Leben angestellt. Diese fielen für die DDR zunehmend negativ aus, die Entwicklung ging seit den 1960er Jahren immer weiter auseinander und verstärkte das sogenannte Wohlstandsgefälle, das weltweit und auch in der DDR eine entscheidende Ursache für Abwanderungen gewesen ist. 119 »Weder durch meinen Vater noch durch meine Mutter wurde ich im sozialistischen Sinne erzogen«, wird ein Dachdecker 1983 im Verhörprotokoll zitiert. »Aus meiner Sicht sind meine Eltern politisch desinteressiert, und sie versuchen nie, mir eine poli118 Vgl. Kapitel 7.4 in diesem Band. 119 Vgl. Von wegen Schmarotzer. Migration – auf der Suche nach einem besseren Leben. In: Berliner Zeitung v. 6.10.2000, S. 2.
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tische Meinung vorzugeben. Andererseits war es aber so, dass sie mir bereits seit meiner frühsten Jugend gestatteten, Sendungen des Rundfunks und des Fernsehens der BRD zu empfangen. Der Empfang derartiger Sendungen wie z. B. Auslandsjournal, Kennzeichen D, ZDF-Magazin war auch in meinem damaligen Freundeskreis üblich. […] Bedingt durch den Empfang von Sendungen der ARD und des ZDF der BRD, Gespräche mit meinen Eltern und Freunden zog ich Vergleiche zwischen dem Leben in der BRD und der DDR, welche stets zu Gunsten der BRD ausfielen.« 120
Ungeachtet der verfremdenden Verhörsprache, berichtete Peter Baum hier adäquat, was viele Menschen in der DDR bewegte: Wo lebt es sich besser, im Westen oder im Osten? Hat der Bruder es richtig gemacht, als er noch vor dem Mauerbau in den Westen gegangen ist? Immerhin gab es Anfang der 1970er Jahre auch in der DDR mit dem Amtsantritt Honeckers einen kleinen Hoffnungsschimmer, der vielleicht einen kurzen Augenblick die Perspektive für ein Leben in der DDR günstiger erscheinen ließ. Häufig wird angenommen, dass dieses Gefälle zwischen der DDR und der Bundesrepublik dazu geführt habe, dass »der Ostler« in Westdeutschland das Paradies vermutete und dass viele nur in Unkenntnis der wirklichen Zustände im Westen ihren Antrag gestellt hätten. Für die hier untersuchte Gruppe der Halberstädter Antragsteller trifft das nur in Ausnahmefällen zu. Die ständige Präsenz der zu dieser Zeit auch kritischen Berichterstattung in den Westmedien, die engen Verwandtenkontakte, die Erzählungen der Besuchsreisenden oder die eigene Erfahrung, wenn man als »Rückkehrer« die Situation in Westdeutschland kannte 121, haben im Ergebnis nicht dazu beigetragen, dass die Halberstädter größere Erwartungen an den Westen hatten als ihre – im übertragenen und im wahrsten Wortsinn – dort lebenden »Brüder und Schwestern«. »Da wird auch nur mit Wasser gekocht« oder »Wir wissen, dass uns im Westen nicht die gebratenen Tauben in den Mund fliegen«, antworteten Antragsteller während der Sprechzeiten den Mitarbeitern, die sie von ihrer angeblich illusionären Haltung gegenüber dem Westen und damit von ihrem Anliegen abbringen wollten. Für die Mitarbeiter im Rat des Kreises und die Staatssicherheit war dies eine plausible Erklärung dafür, dass der Klassenfeind die DDR-Bürger manipuliert habe und sie auf die Glitzerwelt des Westens reingefallen seien. Diese behördliche und von der offiziellen Propaganda verbreitete Einschätzung vom »verführten« Staatsbürger hat Eingang in den kritischen Diskurs zur deutschen 120 Vernehmungsprotokoll, 26.4.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«), Bl. 361. 121 Vgl. zu den »Rückkehrern« Stöver: Zuflucht DDR: Spione und Übersiedler. Beck 2009; Schmelz: Migration und Politik im geteilten Deutschland. Auch unter den Halberstädter Antragstellern waren Familien, die als »Rückkehrer« nun den zweiten Versuch machten, wieder in den Westen zu gelangen; wir haben drei Familien ausfindig machen können.
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Ausreise per Antrag
Einheit gefunden. Sie gipfelt in dem Urteil, dass der Wunsch nach Wiedervereinigung, der sich 1990 in den ersten freien Wahlen in der DDR unmissverständlich niederschlug, maßgeblich dem Umstand geschuldet gewesen war, die Mehrheit hätte sich Illusionen über die westdeutsche Gesellschaft gemacht. Tatsächlich jedoch kommt in den Protokollen der staatlichen Stellen und des MfS eine überaus realistische Betrachtung des Lebens im Westen und im Osten zum Ausdruck. Gedrängt durch die Mitarbeiter der Abteilung Inneres oder durch die Vernehmer in der Untersuchungshaft des MfS, die von den Antragstellern wissen wollten, ob sie denn nicht die Vorzüge der DDR kennen würden, antworteten fast alle Antragsteller in der Art wie Peter Baum: »Das Sozialwesen und die medizinische Betreuung sind zwar in der DDR nicht schlecht, dafür muss ich aber auch genügend Steuern zahlen. Und in der BRD wird man ja auch sozial und medizinisch betreut.« 122 Peter Granitz verfasste – offensichtlich dazu aufgefordert – eine »persönliche Niederschrift« in der Untersuchungshaft, die sich aus den Teilen »Was mir in der DDR gefällt« und »Was mir in der DDR nicht gefällt« zusammensetzte. Ähnlich wie Peter Baum und andere Antragsteller notierte er, dass ihm »die sozialpolitischen Maßnahmen« gefallen hätten, »die Sorge um die Gesundheit des Menschen, die medizinischen Einrichtungen sowie die Bildungsstätten, bis auf einige Methoden. Ebenfalls gefällt mir, dass Arbeit und Wohnraum gesichert sind, die Sorge um Mutter und Kind«. In der Rubrik »Was mir nicht gefällt« notierte er unter anderem die Grenze mit ihren verschiedenen negativen Folgen für sein Leben, dass im Betrieb geschludert werde und keine Mitbestimmung der Arbeiter herrsche und dass er sich nicht seinen Wünschen entsprechend entwickeln könne. 123 Abgesehen davon, dass einige Hoffnungen nach der Ankunft im Westen zerschellten, gibt es in dieser Untersuchung keinen Anlass, das Motiv der Antragsteller auf Ausreise aus der DDR in Vorstellungen von einem Paradies im Westen zu suchen. Allein die von der Stasi belauschten Telefonate zwischen Ost und West, die Korrespondenzen, aber auch die zitierten Gesprächs- und Verhörprotokolle zeichnen ein anderes Bild. Für eine realistische Sicht auf das Leben in der Bundesrepublik sorgten schon die Verwandten und Bekannten im Westen, denen nicht daran gelegen sein konnte, Bruder oder Schwester mit falschen Versprechungen zu sich zu locken. 124 Ein Antragsteller erfuhr am Telefon von seinem Bruder, »dass die Arbeitslosigkeit doll zunimmt und aus seinem Betrieb zurzeit viele Leute entlassen werden.« Allerdings stimme das 122 Vernehmungsprotokoll, 26.4.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«), Bl. 362. 123 BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 182/85, Bd. 1, Bl. 90 f. 124 Im Einzelfall ist das sicher auch vorgekommen, so im Falle eines ehemaligen Halberstädters, der seinen Bruder in der Annahme lässt, es ginge ihm sehr gut und er würde sofort Arbeit für ihn beschaffen können. Dies erwies sich als Trugschluss.
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Geld, zudem sei er der wichtigste Mann im Betrieb und habe keine Entlassung zu befürchten. 125 So oder ähnlich mögen viele Berichte aus dem Westen geklungen haben, sie trugen nicht unerheblich zu der Einschätzung vieler Halberstädter Antragsteller über die zu erwartende Lage im Westen bei: Auch im Westen müsse man hart arbeiten, wer sich davor nicht scheue, müsse auch keine Angst vor der Zukunft haben. Damit bestärkte der Bruder des Antragstellers eine Haltung, die naturgemäß bei allen Antragstellern in der einen oder anderen Weise vorhanden war. Sie gingen alle davon aus, dass sie es schaffen und dass sie trotz aller Schwierigkeiten, die sich stets mit einem Neuanfang verbinden, das Leben im Westen meistern würden. Wer dies nicht von sich annahm, hatte seinen Antrag längst zurückgezogen.
5.6
Im Westen angekommen
Die meisten Antragsteller aus Halberstadt reisten über Gießen aus, in dem sich seit 1963 – nach der Schließung des Aufnahmelagers im niedersächsischen Uelzen – die zentrale Anlaufstelle für alle Übersiedler befand, die nicht über das Berliner Notaufnahmelager Marienfelde in den Westen kamen. 126 Die meisten scheinen nach einem nur kurzen Aufenthalt von drei, vier Tagen, in denen sie die Einreiseformalitäten erledigen konnten, ihre angegebene Zieladresse in Westdeutschland aufgesucht zu haben. Die Zeit im sogenannten Notaufnahmelager war für die interviewten Halberstädter Ausreiser kein bewegendes Thema. 127 Dagegen nehmen die Ereignisse um und nach dem Tag der Genehmigung ihres Antrages einen prägenden Platz in ihrer Erinnerung ein. Die Befragten erinnerten sich buchstäblich an jede Minute: Wann, durch wen und wo sie die Botschaft erreichte. In welcher Hektik, nicht zuletzt aufgrund der kurzen Frist, die ihnen verblieb, die vielen bürokratischen Gänge erledigt werden mussten, wie sie die letzten Tage verbrachten, von wem sie sich verabschiedet hatten und wie sie sich auf der Fahrt in den Westen fühlten. Sämtliche finanziellen und Eigentumsfragen waren in der Regel bis zu diesem Augenblick bereits geklärt, einiges ließ sich nun nicht mehr organisieren. Die manchmal jahrelan125 Aktennotiz zur Maßnahme 4, 18.3.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1889/83 (OV »Spieler«), Bd. 2, Bl. 510. 126 Orte des Erinnerns: Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in der SBZ und DDR. Berlin 2007; Ettingshausen: Das Notaufnahmelager in Gießen als Ort der Erinnerung. In: Spiegel der Forschung 26(2009)2, S. 22 f. 127 Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde, Berlin-Brandenburg 2005. Vgl. auch Kimmel: Das Notaufnahmeverfahren. In: ebenda, S. 115–133.
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Ausreise per Antrag
ge Anspannung machte nach dem positiven Bescheid nicht etwa schlagartig einem Freudentaumel Platz. Im Gegenteil eskalierte der Stress nun erst richtig. »Jetzt nur nichts falsch machen und im letzten Augenblick alle Anstrengung zunichtemachen«, hatte Angelika Granitz gesagt und sich damit zur Ruhe und Besonnenheit zwingen wollen. 128 Selbst die Schikanen der begleitenden Sicherheits- und Zollbeamten in den Zügen – von denen fast alle berichteten – wurden stillschweigend hingenommen. Man hielt es offensichtlich für möglich, dass die DDR-Behörden bei einem Fehlverhalten ihrerseits die Genehmigung wieder zurückziehen würden. Mit der Übersiedlung von Ost nach West begann für alle ehemaligen Antragsteller ein Lebensabschnitt, der mit besonderen Anpassungsleistungen verbunden war, mit einem hohen Grad an Sozialisationsanstrengungen und dem Erlernen neuer Rollenmuster und Eingliederungsstrategien. »Ein Spaziergang war es nicht«, so lautet der Titel einer kürzlich erschienenen Publikation von Erinnerungen ausgereister Kinder von Antragstellern, in der von den ungeheuren Anstrengungen berichtet wird, denen Eltern und Kinder in den ersten Jahren im Westen ausgesetzt waren. 129 Die soziologische und Migrationsforschung hat sich vor allem diesem letzten Kapitel der Antragstellung interessiert zugewandt. Eine im Rahmen des Forschungsprojektes »Ehemalige DDR-Bürger in der Bundesrepublik« durchgeführte umfassende Befragung wurde 1989/90 zu einer fachwissenschaftlich wichtigen Grundlage der Forschungen zur Ost-West-Wanderung und löste eine Reihe von Folgepublikationen aus. 130 Wie in der deutsch-deutschen Migrationsforschung verbreitet, stehen auch in diesen Arbeiten die »Anpassungsprobleme und Integrationsleistungen ostdeutscher Zuwanderer« im Zentrum des Interesses. 131 Schwerpunkte bilden hier die berufliche Integration und biographische Prozesse der sozialen Assimilation von DDR-Übersiedlern in den 1980er Jahren. Welche beruflichen Auf- und Abstiegsprozesse machten die ehemaligen Antragsteller in der Bundesrepublik? Welchen spezifischen Risiken waren sie auf dem Arbeitsmarkt der 1980er Jahre ausgesetzt? Wie fanden sie sich im weitgehend individualisierten Westen zurecht? Die Autoren des Projektes stützten ihre Ergebnisse nicht allein auf die notwendig subjekti-
128 Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 31. 129 Schädlich: Ein Spaziergang war es nicht. 130 Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung; Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«. 131 Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 14. Vgl. auch Gehrmann: Zur sozialen Integration von DDR-Zuwanderern in der alten Bundesrepublik und Westberlin. In: FischerRosenthal; Alheit (Hg.): Biografien in Deutschland, S. 295–309. Unmittelbar nach 1989 gab es einen Aufschwung an soziologischen Untersuchungen, die sich mit der Frage der Integration der DDRBürger beschäftigten.
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ven Antworten von befragten Übersiedlern, sondern bezogen die Bedingungen ein, die die Übersiedler im Zielland Bundesrepublik erwarteten. Die besondere Stärke dieser Arbeiten besteht darin, dass sie das in der Migrationssoziologie vieldiskutierte Problem der sozialen Integration respektive Assimilation mit einer Theorie des sozialen Netzwerkes verbinden, welches die schwierige Anpassung der Ostdeutschen in einem für sie strukturell und normativ fremden Land erleichterte. Damit korrigieren sie teilweise die These von der weitgehenden Isolation und unbewältigten Integration von ehemaligen DDR-Bürgern in das bundesrepublikanische Gesellschaftssystem, die am Ende der 1980er Jahre Verbreitung gefunden hatte. 132 Die Anpassung an die sogenannte individualistische Gesellschaft des Westens sei ihrem Befund nach gut verlaufen und ähnele in ihrer Problematik eher der einer Binnenwanderung denn einer internationalen Wanderungsbewegung. 133 Eine theoretische Schwachstelle dieser migrationssoziologischen Arbeit muss in dem Umstand gesehen werden, dass sie die biografischen Voraussetzungen, die die Übersiedler aus der DDR-Zeit in den Westen mitbrachten, ihre Herkunft und ihre soziale Stellung in der DDR-Gesellschaft nicht auslotet. Hier beschränken sich die Autoren auf die aus unserer Sicht etwas fragwürdige Charakterisierung der DDR-Gesellschaft als »kollektivistisch«, der sie die Bundesrepublik als »individualistische« gegenüberstellen. Eine Beschreibung, die für beide Gesellschaften keine sozialen Differenzierungen oder Unterschiede zwischen den Individuen und Milieus zulässt. Um, wie in diesem Projekt angestrebt, zu begreifen, warum so viele DDRBürger ausreisen wollten, haben wir es vermieden, auf solche eher ideologischen Pauschalisierungen zurückzugreifen. Zudem lag der Fokus der hier vorliegenden Studie – anders als für die Migrationsforschung typisch – nicht auf der Zeit nach der Übersiedlung, sondern auf der sozialen Herkunft, den Biographien und dem Verhältnis der Übersiedler zur Mehrheitsgesellschaft der DDR. Unsere Einblicke endeten da, wo die Akten der Staatssicherheit in der Regel geschlossen wurden: mit der Genehmigung der Ausreise oder der Inhaftierung. 134 In seltenen Fällen verfolgte das MfS auch Übersiedler aus dem Kreis Halberstadt bis in den Westen, meist, um die sogenannten Rückverbindungen unter Kontrolle halten zu können. In diesen Fällen bekamen wir Hinweise darauf, wie das Leben im Westen weitergegangen war. Eine weitere Quelle für die Zeit »danach« waren die 20 Interviews und längeren Gespräche, die mit 132 Siehe Ronge: Die soziale Integration der – ersten – Übersiedlerwelle von 1984. In: Ders.: Die Einheit ist erst der Anfang, S. 23–46. 133 Vgl. Gehrmann: Biographische Prozesse der sozialen Assimilation von DDRÜbersiedlerinnen und Übersiedlern im Westen. In: Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 173–239. Der Gedanke von der Binnenwanderung, siehe ebenda, S. 232. 134 Andere Akten endeten auf der Ebene der KD des MfS Halberstadt mit der Inhaftierung; nicht immer finden sich die Verhöre in der Untersuchungshaft und die späteren Urteile in der Akte.
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Ausreise per Antrag
ehemaligen Halberstädter Antragstellern zwischen 2009 und 2011 geführt wurden. 135 Da wir für die Zeit im Westen jedoch keine weiteren eigenen Recherchen durchführten, können zu diesem Thema nur einige Beobachtungen angestellt werden, die sich aus dem Leben der Antragsteller vor der Übersiedlung, ihrem sozialen Stand, dem Verhalten in der DDR, namentlich in den Monaten und Jahren des Wartens auf die Genehmigung sowie aus ihren Motiven ableiten lassen. Die Halberstädter Antragsteller kamen mehrheitlich aus einem Facharbeitermilieu, sie hatten bis zum Zeitpunkt der Antragstellung überwiegend ein normales Leben in der DDR geführt, und selbst die politischen »Außenseiter« unter ihnen lebten in sozial abgesicherten Verhältnissen, soweit das in einer »Mangelgesellschaft« möglich war. Die durchschnittliche »Antragsgemeinschaft« bestand aus einem Paar mit mindestens einem Kind. Die Halberstädter Antragsteller waren keine Abenteurer, sie agierten sehr bedacht und versuchten, jedes Risiko zu vermeiden. Sie hatten sich in der Regel den Schritt gut überlegt, ihre Vorstellungen vom Leben im Westen waren weitgehend realistisch. Dennoch erlebten sie die Hürden eines Neuanfangs in der Bundesrepublik weitaus dramatischer als angenommen. 136 Die materielle Lage war in der ersten Zeit für die meisten schlecht. Die Arbeitssuche gestaltete sich häufig kompliziert, die bürokratischen Hürden waren hoch und die Kinder brauchten eine längere Zeit, um ihren Platz im neuen Umfeld zu finden. Überraschend oft wurde von Krankheiten berichtet, die wenigstens ein Familienmitglied nach der Ausreise belastete; von den Erwachsenen waren es die Ehemänner, welche sich psychisch und physisch dem Stress weniger gewachsen zeigten. 137 Zwei der ausgereisten Halberstädter Antragsteller, über die entsprechende Informationen vorliegen, konnten ihren Neuanfang im Westen gänzlich ohne Probleme starten. Ihre berufliche und soziale Integration verlief schneller als bei den anderen, die jedoch nach relativ kurzer Zeit auch in der neuen Gesellschaft angekommen waren. Dieser insgesamt eher positive Befund deckt sich, ungeachtet der begrenzten Repräsentativität dieser Auswahl, weitgehend mit anderen Befragungen und Untersuchungen zum Integrationsverlauf ehemaliger DDR-Bürger im Wes135 Den Kontakt zu ihnen stellte die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Magdeburg her. Sie besaß von jenen Halberstädtern, die nach 1989 ihre Stasi-Akten einsehen wollten, eine aktuelle Adresse, an welche unsere Bitte nach einem Gespräch weitergeleitet wurde. 13 von 20 Angeschriebenen antworteten positiv, auf diese Weise führten wir mit insgesamt 22 Personen lange Interviews; drei Interviews mit ehemaligen Halberstädter Antragstellern kamen auf anderem Weg zustande. Die so entstandene Auswahl ist notwendig selektiv; unter denen, die sich einem Interview stellten, ist zum Beispiel keiner, für den die Übersiedlung letztlich in einem Desaster endete. 136 Andererseits versichern die Interviewpartner, dass es gut gewesen sei, nicht alle Schwierigkeiten vorhergesehen zu haben, es hätte sie wo möglich von ihrem Vorhaben abgeschreckt. 137 Vgl. Kapitel 5.2 in diesem Band.
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ten. 138 Er wird in den Arbeiten allerdings allein auf die wirtschaftliche und soziale Lage im Westen zurückgeführt, auf die Hilfeleistungen durch Staat und Kommunen und auf ein gut funktionierendes Netzwerk, das bereits zuvor bestanden hatte und nun zum Einsatz gebracht werden konnte. 139 Die vorliegende Arbeit verweist demgegenüber auf die Bedeutung des Lebens in der DDR, das das Verhalten der Ausgereisten maßgeblich bestimmte. Die im Westen eingetroffenen »Ausreiser« waren nicht nur hoch motiviert, alle auftretenden Schwierigkeiten zu meistern, bei einem erheblichen Teil war das bisherige Leben in Halberstadt gemessen an den Bedingungen auch in der DDR im Großen und Ganzen erfolgreich verlaufen. Ihre Antragstellung wies sie zudem noch als tatkräftige Personen aus, die sich mit den vorgegebenen Lebensumständen nicht wie die Mehrheit der Bürger abfinden wollten. Unter ihnen werden naturgemäß die eher Flexibleren zu finden gewesen sein, eben jene, die sich sehr rasch auch in einem neuen Beruf zurechtfanden. 140 Insofern verkörperte die Gruppe der Übersiedler eine Auswahl an Personen, die gute Voraussetzungen mitbrachte, sich neuen, ungewohnten Umständen anzupassen. Es ist davon auszugehen, dass jene Übersiedler, die ihre Antragstellung aus einer sozial schlecht gestellten Position heraus betrieben, bedeutend größere Schwierigkeiten hatten, ihre Position im Westen zu verbessern. Eine solche Analyse, die den Zusammenhang zwischen der jeweiligen sozialen Lage im Osten und einem Integrationserfolg nach der Übersiedlung im Westen umfassender als unter Hinzuziehung der mitgebrachten Qualifikation thematisiert, steht jedoch noch aus. 141 Bis dahin lassen Befragungen von ehemaligen Antragstellern nach den Schwierigkeiten bzw. Erfolgen, sich im Westen einzuleben, keine endgültigen Schlüsse zu. 142 138 Sie hätten über ein hohes Integrationsengagement verfügt. Siehe Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut, S. 89. 139 Das Alter wird als Einflussfaktor auf den neuen Beziehungsreichtum mit Bundesbürgern erwähnt. Danach haben vor allem die bis 24-Jährigen sehr gute Kontakte, während diese bei den älter als 50-Jährigen abnehmen. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 221. 140 Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, Über 50 % aller übergesiedelten Antragsteller hatten in ihrer Untersuchung im Westen einen neuen Beruf ergriffen, S. 131. Hier gehören eine Aufstiegs- und Leistungsbereitschaft zu den Merkmalen jeder Migrantengruppe. Vgl. Voigt; Belitz-Demiriz; Meck: Die innerdeutsche Wanderung und der Vereinigungsprozess. Sozialdemographische Struktur und Einstellungen von Flüchtlingen/Übersiedlern aus der DDR vor und nach der Grenzöffnung. In: DA 23(1990)5, S. 732–746, hier 733; zit. bei: Schlüter: Parteipräferenz von Übersiedlern, S. 9. 141 Im Zusammenhang mit der beruflichen Integration wird auf einige Daten aus der DDR- Biografie, z. B. die Qualifikation, zurückgegriffen. Dabei interessiert vor allem, welche Voraussetzungen diese für den Erfolg auf dem westdeutschen Arbeitsmarkt hatte. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 105–172, hier 131. 142 In einer Befragung von ehemaligen Übersiedlern, die das Bürgerkomitee nach 1990 aufsuchten, gaben nur 29 von 71 Personen ein eindeutiges »Nein, keine« ab, als sie nach den Schwierigkeiten ihrer Westintegration gefragt wurden. Das erstaunte die Autoren der Studie, sie hatten jedoch nicht
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Aber die Antragsteller hoben sich nicht nur ihrer aktiveren Haltung wegen tendenziell von der Mehrheit der Halberstädter Bürger ab, sie hatten auch eine »Wartezeit« in einer sozialen Ausnahmesituation erlebt und sich dabei verändert. Obwohl diese Entwicklung erst im nächsten Kapitel beschrieben wird, muss sie hier als Gruppencharakteristik benannt werden. Nachdem der Antrag in der Abteilung Inneres des Rates des Kreises abgegeben wurde, begann eine Zeit der gesellschaftlichen Stigmatisierung, die viele von ihnen nicht nur radikaler in ihrem Auftreten werden ließ. Sie hatten sich mit ihrem Schritt in einen politischen Zusammenhang gestellt und begannen spätestens von nun an, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. »Diese intensive Kombination, mit einer Gesellschaft sich auseinandergesetzt zu haben, wie das in der ehemaligen DDR der Fall war, die letztlich dann zu diesem negativen Punkt geführt hatte, dass ich gegangen war, habe ich nicht wiedergefunden in der Bundesrepublik«, resümiert ein Übersiedler. 143 Welche Folgen hatte es, dass mit der Gruppe der ehemaligen Antragsteller aus der DDR ein in der Tendenz offensichtlich stärker politisierter Arbeiter und kleiner Angestellter übersiedelte? War er interessierter am politischen Geschehen als der Arbeiter in der Bundesrepublik? Wohin tendierte seine parteipolitische Affinität und hat sich seine aus der Ostzeit rührende politische Interessiertheit auch in einer aktiven Haltung im Westen niedergeschlagen, oder trat diese hier wieder hinter den individuellen Lebenskampf zurück, welcher ebenso typisch für die Zeit der Antragstellung gewesen war? Die im Rahmen dieses Projektes durchgeführten Interviews und eingesehenen Unterlagen ergaben hierzu ein differenziertes Bild. Die meisten der befragten ehemaligen Halberstädter Antragsteller betonten, dass sie sich im Westen eher unpolitisch verhalten hätten. Sie wollten damit zum Ausdruck bringen, dass sie sich keiner Partei angeschlossen hatten und auch nicht anderweitig politisch aktiv geworden waren. Im Rahmen der Interviews wurden jedoch wiederholt und aus eigener Initiative von den Interviewpartnern aktuelle politische Fragen angesprochen. Alle waren Tageszeitungsleser und -leserinnen und nach ihrer Übersiedlung in den Westen zur Wahl gegangen, drei sind Mitglied in einer Gewerkschaft geworden. Die Frage nach ihrem Wahlverhalten bzw. welcher politischen Richtung sie zuneigten, beantworteten einige unbestimmt, einige wählen heute die CDU, einige die SPD, drei fühlen sich den Grünen nahe und ein Ehepaar findet, dass »Die Linke« eine gute Politik betreibe – das Interview fand 2011 im Ruhrgebiet statt. 144 bedacht, wer ihr Büro zwecks Hilfestellung aufgesucht hatte und keine Frage nach deren sozialer Herkunft gestellt. Vgl. Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut, S. 91. 143 Zit. in: ebenda, S. 87. 144 In einer Befragung von Migrationssoziologen sieht das Ergebnis so aus: 27 % der Befragten waren Mitglied in einem Verein; 14,7 in einer Gewerkschaft; 11,4 in einer Kirchengemeinde; 4.5 waren Mitglied einer Partei und 3 % engagierten sich in einer Bürgerbewegung. Vgl. Schumann u. a.:
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Dieses eher zufällig entstandene Ergebnis erweckt nicht den Eindruck, die übergesiedelten ostdeutschen Antragsteller hätten im Westen ausschließlich den politisch rechten Flügel der Parteienlandschaft gestärkt. Ebenso wenig wurden in den Gesprächen nationale oder gar nationalistische Äußerungen gemacht; dagegen erhielten wir auf die entsprechende Frage die Antwort, dass sie mit den heutigen Kenntnissen von der Welt genauso gern nach Australien oder Kanada gegangen wären. Eine soziologische Studie, die das Wahlverhalten von DDR-Übersiedlern in der Zeit zwischen Februar und Juni 1990 untersuchte, kommt in einigen Teilen zu anderen Aussagen. Danach lagen die Präferenzen der in den Westen übergesiedelten Ostdeutschen mehrheitlich bei der CDU/CSU, gefolgt, wenn auch recht abgeschlagen, von der SPD, die Republikaner hatten mit 1,3 Prozent geringen Zulauf. Diese Verteilung findet sich fast identisch in den Wahlergebnissen zur letzten Volkskammerwahl wieder und sind in erster Linie Ausdruck für die noch unmittelbar vor der deutschen Einigung herrschende Stimmung unter der DDR-Bevölkerung. 145 Über die politischen Einstellungen der in den 1980er Jahren Ausgereisten sagen sie wenig aus. Vielmehr verweist die Diskrepanz zwischen den Ergebnissen dieser Studie und unseren zwischen 2009 und 2011 geführten Gesprächen darauf, dass es nicht »den« Antragsteller mit einer bestimmten politischen Präferenz gab. Dies soll nicht die Zusammenhänge zwischen Qualifikation oder Wohnort, den jeweils vorherrschenden Milieus und den ausgeprägten Werten leugnen. 146 Vielmehr deuten die unterschiedlichen Befunde darauf hin, dass die Einstellungen, darunter auch das Wahlverhalten, von Übersiedlern im Zeitablauf variieren und sich in Abhängigkeit von der aktuellen Situation verändern konnten. So ist zu bedenken, dass ein großer Teil der von uns 2010 befragten Übersiedler vor 20 Jahren möglicherweise auch zu denen gehört hätten, die mit ihrer Stimme für die CDU die Entwicklung in Richtung Einheit treiben wollten. Das war zum Zeitpunkt des Gespräches lange her, inzwischen haben sie andere Optionen für sich gefunden, die zehn Jahre später nicht mehr gültig sein müssen. Allerdings gab es keinen unter den Befragten, der oder die sich – außer in der Gewerkschaft – in einer Partei oder zivilgesellschaftlichen Initiative engagiert hatte. Dagegen konnte eine interessante Beobachtung gemacht werden, die das Engagement der ehemaligen Antragsteller in anderer Hinsicht betrifft. Nachdem eine Interviewpartnerin, die bereits sehr früh, Mitte der 1970er Jahre, als Jugendliche mit den Eltern von Halberstadt in den Westen ausgereist Private Wege der Wiedervereinigung, S. 206. Hier lag die Parteimitgliedschaft etwas über dem Bundesdurchschnitt, die in Gewerkschaften darunter. Inwieweit die Antragsteller vor ihrer Übersiedlung aktiv waren, welcher sozialen Gruppe oder Schicht sie angehören, wird nicht thematisiert. 145 Schlüter: Parteipräferenz von Übersiedlern, S. 73–88. 146 Vgl. Kapitel 3 in diesem Band, sowie Schlüter: Parteienpräferenz von Übersiedlern, S. 109 u. 111.
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war, berichtete, dass ihr späterer Mann aus Serbien stamme und sie sich von Anfang an zu anderen Migrant/innen hingezogen gefühlt habe, fragten wir in den folgenden Interviews genauer nach. Frau Bayer machte darauf Aufmerksam, dass sich Flüchtlinge und Übersiedler oft als Aussätzige betrachteten. »Flüchtlinge und Emigranten, das waren einfach Leute, die nicht dazu gehörten, ja? Und die haben dann auch noch was weggenommen oder die haben sich da schon ein Haus hingebaut […] Also, sie waren Fremde, konnten sich nicht einordnen, kamen woanders her, sind selbst Schuld. Warum sind sie nicht dageblieben?« 147
Sie fühlte sich von Anfang an den serbischen Flüchtlingen nahe. Mit ihrem Mann konnte sie über ihre Erfahrungen sprechen, er verstand sie, er fühlte wie sie. Am Ende des Gesprächs erfuhren wir beiläufig, dass sich Frau Bayer ehrenamtlich in einer Schule für Immigrantenkinder engagiert. Unsere Gesprächspartnerin, die sich inzwischen als sehr gut integriert betrachtet, staunte selbst, als ihr der Zusammenhang zwischen diesem ihrem Engagement und ihrer eigenen Geschichte bewusst wurde. Zwei weitere ehemalige Halberstädter Antragsteller halten Freundschaften zu Migranten und Günter Großmann erinnert sich, dass er als Meister bei Siemens mit den türkischen und später den polnischen Kollegen besonders gut »klargekommen war«. Er hätte sie einfach besser verstanden. 148 Es gibt Zeitzeugenberichte außerhalb des Projektes, die diese Beobachtung bestätigen. Der Sohn einer Mitte der 1980er Jahre nach Westberlin ausgereisten Malerin schreibt: »Unser Leben und Dasein in der Straße hatten uns ein enges und freundschaftliches Band zu den vielen Türken gestrickt. Das lag vielleicht daran, dass die Türken selbst Immigranten der ersten und zweiten Generation waren und so ein feinstoffliches Gespür dafür hatten, wie wir uns hier fühlen mussten.« 149 Die Beispiele einer besonderen Hinwendung der Ausreiser aus der DDR zu anderen Einwanderern dürfen nicht überinterpretiert werden, vor allem bedürfen sie einer repräsentativen Überprüfung und Kontextualisierung. Das zentrale Forschungsinteresse der Migrationsforschung richtet sich letztlich darauf, die soziale und geschlechtsspezifische Integration – von einigen Forschern auch als Assimilation bezeichnet – der ehemaligen DDR-Bürger in die bundesrepublikanische Gesellschaft zu rekonstruieren und zu bewerten. Ihr Ziel besteht darin herauszufinden, wie »die Anpassung von Migranten« – hier der Übersiedler aus der DDR – »an die Eigenschaften der Einheimischen« erfolgte. 150 Der Streit entbrennt an der Frage, wie gut oder wie schlecht diese Anpassung erfolgte, welche Schwierigkeiten es dabei gab und »auf welchen
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Interview mit Frau Bayer, 14.12.2010, Transkript, S. 21. Interview mit dem Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 58. Schleime: Der blonde Bülent. In: Schädlich (Hg.): Ein Spaziergang war es nicht, S. 25 f. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 176.
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Wegen soziale Assimilation gelungen ist.« 151 Aus Sicht eines Staates, der dafür Sorge tragen möchte, dass sich möglichst reibungslos alle Fremden in das Gemeinwesen einfügen und es in seiner Funktionsweise nicht stören, sind das berechtigte Hoffnungen. Für eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit den Besonderheiten der Gruppe der Antragsteller beschäftigt, muss die zentrale Fragestellung anders lauten. In diesem Fall interessiert der Zusammenhang zwischen dem Leben in der DDR, den Erfahrungen, die die Antragsteller dort gemacht haben, und wie sie mit diesem »sozialen Gepäck« im Westen leben konnten. Hier werden keine Noten für eine »gelungene« Integration vergeben. Davon abgesehen, dass in einigen Arbeiten der einschlägigen Migrationsforschung die Rolle des Westens bei dem guten oder schlechten Einleben der Ostdeutschen viel zu kurz kommt, versperrt dieser Blick auf die Übersiedler letztlich den Zugang zu ihnen. Unser Interesse, das nicht von der Frage nach der gelungenen Integration und schon gar nicht Assimilation geleitet war, ließ den Interviewpartnern viel Raum, sich an die ersten Jahre im Westen relativ unvoreingenommen zu erinnern. Es sind aufschlussreiche Berichte, kurze Eindrücke, die im Rahmen einer »deutsch-deutschen Geschichte um die Mauer herum« systematisiert werden müssten. 152 Alle interviewten Halberstädter Übersiedler hatte zu Beginn ihres Lebens im Westen die Frage beschäftigt, wie offen sie mit ihrer Herkunft umgehen sollten. Am Ende entschieden sich die meisten dafür, über ihre Herkunft aus der DDR zunächst wenn möglich Stillschweigen zu bewahren. Die größeren Kinder vermieden, als »DDR-Kind« in der neuen Klasse vorgestellt zu werden, angesichts der unterschiedlichen schulischen Hintergründe war dies selten möglich. Und wer zunächst bei Verwandten aufgenommen wurde, konnte diese Vermeidungsstrategie ohnehin nicht durchhalten, denn im Ort sprach sich schnell herum, dass die Verwandtschaft aus dem Osten angekommen war. Für eine Familie wurde von der Kommune sogar eine größere Öffentlichkeit hergestellt, der Bürgermeister empfing sie und nahm ihren Dank für die Hilfe entgegen, die er den Antragstellern hatte zuteilwerden lassen. Auf dem Foto, das anderntags in der Lokalzeitung erschien, sind zwei Erwachsene und zwei Kinder zu sehen, die verlegen neben den Honoratioren stehen und einen Blumenstrauß entgegennehmen. Karin Großmann erinnert sich noch gut an diese für sie peinliche Situation. 153
151 Ebenda, S. 195. 152 So formuliert Frank Wolff ein zukünftiges Projekt. In: Ders.: Der lange Schatten der Mauer. Neuerscheinungen zur Migration aus der DDR. In: The International Newsletter of Communist Studies XVIII (2012), no. 25, S. 177. 153 Das Ehepaar Großmann vermutete, die Stadt hätte finanziell zu ihrer Übersiedlung beigetragen. Interview mit dem Ehepaar Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 63.
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Was hat die Antragsteller nach ihrer Übersiedlung dazu bewogen, sich nicht sofort als Ehemalige aus der DDR zu erkennen zu geben? Selbst Peter Granitz, ein glühender Befürworter der bundesrepublikanischen Gesellschaft, sprach im Westen nicht über seine Herkunft, vor allem nicht über seine Gefängnisaufenthalte. Hatte er – entgegen der offiziellen Staatspolitik – Vorbehalte gegenüber seiner DDR-Sozialisation, seiner Antragstellung und sogar gegenüber seiner Rolle als Verfolgter erwartet? Bei genauerer Betrachtung wird sich ein Bündel an Motiven für dieses Verhalten beschreiben lassen, an dem hervorhebenswert ist, dass es dem Verhalten und der Situation in der DDR nach der Antragstellung ähnelte. Auch damals verhielten sich die Halberstädter zurückhaltend, was unter anderem mit der distanzierten Haltung ihrer sozialen Umwelt zusammenhing, die wenig Anerkennung gegenüber dem risikovollen Vorgehen der Antragsteller zeigte. Empfanden sie das Verhalten der Bundesrepublikaner genauso wenig ermutigend wie das ihrer Landsleute? Interessierte man sich in Köln oder Ludwigshafen überhaupt für sie und ihr Schicksal? Spricht nicht der Umstand, dass sie sich den anderen Migranten näher fühlten, eher gegen ein solches Interesse? In jedem Fall erscheinen die Antragsteller nunmehr in einem anderen Licht: Ihre Erfahrungen in Ost wie West unterschieden sich deutlich von jener medialen Aufmerksamkeit und Hochschätzung, die man ihnen nach 1989 offiziell zukommen ließ. Aus migrationstheoretischer Sicht drängt sich die Frage danach auf, ob die ostdeutschen Übersiedler – vorausgesetzt, der Befund bestätigt sich repräsentativ – überangepasst in ihrem Assimilationsbestreben gewesen seien, alle Brücken hinter sich abbrechen und die »besseren Bundesbürger« werden wollten. Die Autoren der schon genannten soziologischen Studie machen dies unter anderem daran fest, dass kein eigenes – in diesem Fall ostdeutsches – Milieu nach der Übersiedlung gepflegt wurde. 154 Und tatsächlich haben sich die von uns Befragten, obwohl das Angebot vorhanden war, nicht in Organisationen ehemaliger DDR-Bürger versammelt und keine Enklaven gegründet, in denen die alte Kultur und Lebensweise gepflegt wurde. 155 Gegen einen rigorosen Bruch mit dem früheren Leben und einem völligen Aufgehen in der neuen Umgebung, spricht jedoch der Befund eines Heimatgefühls gegenüber der verlassenen DDR-Provinz, welches noch Jahrzehnte anhal154 Operiert wird in der Migrationsforschung vorrangig mit Selbstauskünften zur Zufriedenheit, mit Karrierewegen, mit Kontakten und mit Ansprüchen und Werten. Je enger und vielfältiger die Beziehungen zu den Bundesbürgern, je rascher und umfassender die Anpassung an die zivilisatorisch höher entwickelte Bundesrepublik, umso gelungener die Assimilation. 155 So stellten es Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, fest. Von unseren Interviewten hatte keiner solche Vereine besucht, obwohl es sie auch für Halberstadt gab. Jedes Jahr trafen sich Halberstädter Ausreiser in einem kleinen Ort in der Nähe von Hamm. Vgl. OV »Musiker«; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt Nr. 2378/80, Abschlussbericht, Bl. 51.
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ten sollte. Es wird uns nicht als Heimweh geschildert, jedoch als Gefühl von Zugehörigkeit. In Halberstadt sei man groß geworden, einige Übersiedler hatten Verwandte zurückgelassen, so bliebe es immer auch die Heimat. Bis auf eine Ausnahme sind alle Ausgereisten inzwischen wieder besuchsweise in Halberstadt gewesen. Ulrich Gottschalk ist sogar richtig stolz darauf, dass er ein »Ossi« ist und aus Halberstadt kommt. Seine Beziehung zu Halberstadt sei immer enger geworden. Inzwischen sammelt er alte Fotografien, interessiert sich für die Geschichte von Halberstadt und reist mit seiner westdeutschen Frau regelmäßig dorthin. »Ich freue mich immer, wenn ich in meine Heimat fahre«, erzählt er im Interview, »weil, das ist eine ganz andere Gegend hier. Der Vorharz, die Berge, diese leichten Hügel, die endlosen Felder. … Ich bin schon heimatverbunden. Aber, ich bin auch schon wieder die Hälfte meines Lebens hier im Westen. Das gebe ich nicht auf hier.« 156
Wie andere Übersiedler hat auch ihn nach 1989 die Frage beschäftigt, ob er zurückgehen solle, und ähnlich wie diese hält er sich die Option offen: Vielleicht gehe ich, wenn ich Rentner bin. Die andere Hälfte unserer Interviewten schließt diese Option aus und beschränkt sich auf intensive Kontakte zu Verwandten und ehemaligen Freunden. Zwei Interviews wurden mit ehemaligen Antragstellern geführt, die inzwischen wieder in Halberstadt wohnen. Eckehard Meinunger ist mit 40 Jahren in die Bundesrepublik übergesiedelt und als Rentner wieder nach Halberstadt zurückgekehrt. Er sei sehr heimatverbunden und interessiere sich sowohl für die alte Geschichte als auch für alles, was heute in Halberstadt passiere. Er liest die Lokalzeitung und engagiert sich in Geschichtsvereinen. 157 Für Eckehard Meinunger war die Ausreise ein »Sechser im Lotto«, er hat als Mechaniker eine gute Arbeit gefunden und eine berufliche Qualifikation angeschlossen. Er resümiert diesen Schritt 2011 im Gespräch: »Ich bin hundertprozentig überzeugt, ich bin dadurch glücklicher geworden. Es hat sich gelohnt. Auch der Einsatz«. 158 Aus dieser Sicht ist seine Rückkehr nach Halberstadt nicht als Eingeständnis einer Niederlage zu begreifen, im Gegenteil. Eckehard Meinunger hat das berechtigte Gefühl, das Leben mit seinen Wechseln von Ost nach West und von West nach Ost aktiv und selbstbewusst gestaltet zu haben. Die Halberstädter, die wir interviewten, teilten sich in jene Mehrheit, die wie Eckehard Meinunger ohne Vorbehalte zurückkehren würden, allerdings könnten sie sich vorstellen, nicht unbedingt in die Nähe des alten Wohnortes zu ziehen. Sie gehen davon aus, dass dies so verstanden würde, als wären sie im 156 Interview Ulrich Gottschalk, 25.11.2009, Transkript, S. 39. 157 Nicht »wie andere, die ihr Herz zerfleischen« und sich ständig mit dem Gedanken beschäftigen, wieder zurückzugehen. Eckehard Meinunger, Interview, 6.4.2011, Transkript, S. 39. 158 Eckehard Meinunger, Interview, 6.4.2011, Transkript, S. 43.
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Westen nicht zurechtgekommen. Frau Strutzig sei zu stolz, diese Fehlannahme zu korrigieren. 159 Nur ein ehemaliger Antragsteller spricht davon, dass er im Westen nicht richtig heimisch geworden sei. Für ihn sei ohnehin der Preis, den er für die Ausreise hatte zahlen müssen, zu hoch gewesen. 160 Seine Frau dagegen sagt, dass für sie Heimat immer dort ist, wo die Familie lebt, und das ist in ihrem Fall nun der Westen. Für die übergroße Mehrheit der interviewten Halberstädter Antragsteller ist der Westen Heimat geworden, ohne dass sie ihr Heimatgefühl gegenüber ihrer Herkunftsregion, in der sie aufgewachsen waren und in der sie die Hälfte ihres bisherigen Lebens verbrachten, aufgegeben hatten. Im Gegenteil verstärkte sich letzteres mit der Wiedervereinigung 1990. Diese enge Bindung an Halberstadt findet ihren Grund weder in einer gescheiterten Integration im Westen noch in einer nostalgischen Rückschau auf die DDR. Sie scheint uns vielmehr verallgemeinerbar für Menschen, die ihr Leben in verschiedenen Ländern verbrachten und die sich rückschauend mit diesen unterschiedlichen Heimaten verbunden fühlen. Die Antragsteller kamen in den anderen Teil Deutschlands, der kulturell, sozial und politisch inzwischen eine unterschiedliche Entwicklung vollzogen hatte. Mit einigen Anforderungen kamen sie gut zurecht, andere Alltäglichkeiten blieben ihnen fremd. 161 Die Übersiedler aus der DDR standen unter einem großen Erfolgsdruck. Sie mussten sich selbst, den Verwandten, Freunden und anderen Halberstädtern beweisen, dass sie es schaffen werden und dass sich das Risiko und die Belastungen der Antragstellung gelohnt hatten. In der Bundesrepublik erwarteten sie die Verwandten und ein politisches Klima, das den Druck in Richtung einer schnellstmöglichen Anpassung an die neue Gesellschaft verstärkte. Die Kriterien für ihre Integrations- und Assimilationsleistung legte allein das »Zielland« fest. Maßstab waren die herrschenden Normen und Werte »der Einheimischen«, wie es in der Sprache der Migrationssoziologen heißt. 162 Die Hürde, den Erwartungen zu entsprechen, wurde nicht dadurch kleiner, dass sie als Deutsche empfangen wurden, die lediglich in einer Art »Binnenwanderung« von einem Teilstaat in den anderen gewechselt waren. Zudem standen ihnen ein soziales Netz sowie zahlreiche Vergünstigungen zur Verfügung, von
159 Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 41. 160 Interview mit Karin und Günter Großmann, 20.1.2010. 161 »Jeder lebt hier mehr für sich«, war die Standardantwort auf die Frage nach den Unterschieden in Ost und West. Es fehlten den Übersiedlern die typischen Geselligkeiten aus DDR-Zeiten. 162 »Unter Assimilation wird in der Migrationsforschung die Anpassung von Migranten an die Eigenschaften der Einheimischen verstanden.«, Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 176.
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denen angenommen wurde, sie beschleunigten den erwarteten Anpassungsprozess. 163 Wer dies jedoch nicht nutzte, sich hier und da fremd fühlte und seine »Assimilationsbereitschaft« etwa durch einen reichhaltigen bundesdeutschen Freundeskreis nicht nachweisen konnte, geriet in den Verdacht der Integrationsunwilligkeit. 164 Wer auf die Frage, ob er sich schon einmal ernsthaft Gedanken über eine Rückkehr in die DDR gemacht hatte, mit ja antwortete, hatte »eines der härtesten Kriterien dafür, ob ein Mindestmaß an Zufriedenheit erreicht wurde« nicht erfüllt. 165 Solche Maßstäbe haben in dieser Studie keinen zentralen Platz, die offiziellen Erwartungen im Zielland interessierten nur am Rande. Der Fokus richtete sich auf die rasanten Veränderungen, die die Halberstädter Antragsteller erlebten, nachdem sie ihr Begehren auf Ausreise öffentlich gemacht hatten. Wir wollten erfahren, wie sie sich radikalisierten und politisierten und wie einige unter ihnen sogar den Schritt aus der Vereinzelung taten. Der risikovolle Versuch, ihr Leben in die Hand zu nehmen und den Mut zu haben, sich eine neue Existenz im mehr oder weniger unbekannten Westen aufzubauen, wird hier als die eigentliche Leistung der Halberstädter Ausreisewilligen gewürdigt.
163 In Teilen der Migrationsforschung wird sogar davon gesprochen, dass die übergesiedelten DDR-Bürger quasi den Normalzustand wieder hergestellt und gewissermaßen die Wiedervereinigung vorweggenommen hatten. Vgl. Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 404. Dieser These stehen wir kritisch gegenüber, siehe Einleitung. 164 Vgl. ebenda, S. 191, Tabelle 4.1. Hier wird der Grad der sozialen Assimilation von Übersiedlern aus der DDR an der Anzahl ihrer Bekannten und Freunde aus der Bundesrepublik gemessen. 165 Ebenda, S. 286.
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Der Charakter der »hartnäckigen« Antragsteller: Immer radikaler und politischer
Die durchschnittliche Wartezeit zwischen der Antragstellung und der Ausreise betrug im Kreis Halberstadt fast zweieinhalb Jahre. 1 In diese Berechnung sind nur jene Personen einbezogen, die nach einer ersten Ablehnung ihres Antrages durch die Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises Halberstadt ihr Anliegen aufrechthielten und von der Staatssicherheit in einer OPK oder einem OV erfasst waren. Da sie mit Nachdruck auf ihrer Ausreise beharrten, wurden sie im Jargon der Behörden als »hartnäckige Antragsteller« bezeichnet. In diesen Monaten oder Jahren veränderte sich nicht nur das Leben der Antragsteller, sie selbst wurden radikaler in ihrem Auftreten und interessiert am politischen Geschehen. Die meisten Antragsteller waren in Familien groß geworden, in denen kaum Gespräche über politische Themen geführt wurden. Das betraf nicht nur die Vergangenheit, die Zeit des Faschismus, die Judenverfolgung, die Bombardierung Halberstadts im Frühjahr 1945; auch über bestimmte Ereignisse, die zu DDR-Zeiten stattgefunden hatten, wurde in den Elternhäusern geschwiegen. Nur einer der von uns befragten ehemaligen Antragsteller setzte sich als kleiner Junge mit dem Arbeiteraufstand 1953 auseinander, da sein Bruder zu den Streikführern gehört hatte. In dieser Familie blieb der Aufstand Gesprächsstoff, in allen anderen war er kein Thema. Auch an Gespräche über die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 konnte sich kein Interviewpartner erinnern. Selbst die endgültige Grenzschließung am 13. August war in den Familien kaum Gegenstand von längeren Erörterungen gewesen. Bis auf wenige Ausnahmen wurde uns die Haltung der Eltern gegenüber dem neuen Regime als eher ablehnend, in jedem Fall kritisch beschrieben; die endgültige Teilung Deutschlands fand wenig Befürworter. In einigen Familien hörten die späteren Antragsteller vom Hass auf die Russen, dies aber in der Regel hinter vorgehaltener Hand. Die in den 1940er und 1950er Jahren geborenen Kinder und späteren Antragsteller arrangierten sich jedoch mehrheitlich mit dem neuen Staat, traten den Jungen Pionieren bei, später anderen Jugend-
1 SPSS-Tabelle (B) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 384, nach Gehrmann betrug die Wartezeit durchschnittlich 26 Monate; siehe auch: Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 2391.
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Ausreise per Antrag
organisationen, dem FDGB, einige wurden Mitglied der SED. 2 Ungeachtet dessen setzte ein großer Teil von ihnen die Tradition der Eltern fort und verstand sich als eher unpolitisch. Die geschilderte Haltung, ihre Antragstellung als private Angelegenheit begreifen zu wollen, findet hier eine weitere Erklärung. Spätestens jedoch, nachdem ihnen vom Rat des Kreises die endgültige Ablehnung des Antrages mitgeteilt wurde, änderten sich Ton und Inhalt der Schreiben sowie das öffentliche Auftreten der Antragsteller. Selbst jene, die tatsächlich aus sehr privaten Gründen in den Westen wollten, wie das Ehepaar Liebig, griffen nun zu politischen Argumentationen. Zwar beharrten sie immer noch auf dem persönlichen und ausschließlich menschlichen Charakter ihres Begehrens, doch sie hatten sich kundig gemacht und argumentierten nun mit der Erklärung der Menschenrechte und der Schlussakte von Helsinki. 3 Während das Ehepaar Liebig in seinen Schreiben einen bittenden, eher unterwürfigen Ton beibehielt, wurde dieser bei den meisten »hartnäckigen Antragstellern« nun fordernd. Das Verhalten und die Worte des Ehepaares Gudzmut gegenüber den Mitarbeitern der Abteilung Innere Angelegenheiten im Juli 1988 stehen stellvertretend für viele Antragsteller. Dem Ehepaar wurde nach einem Jahr mitgeteilt, dass die zuständigen staatlichen Stellen eine endgültige Absage erteilt hätten und weitere Schreiben bzw. Anträge zwecklos seien. Im Protokoll der »Aussprache« im Rat des Kreises wird Herr Gudzmut wie folgt zitiert: »Wir wollen unser Recht und wollen nicht in der DDR bleiben. Wir werden für diesen Staat nicht mehr arbeiten. Wir haben hier keine Existenz. Wir haben auch politische Gründe und sehen hier kein Weiterkommen. […] Wir werden uns an die entsprechenden Stellen wenden, nicht hier in Halberstadt. Es gibt noch andere Organe in der DDR. Rechte haben wir hier keine, aber Pflichten müssen wir immer erfüllen. Wir legen keinen Wert mehr darauf, Bürger der DDR zu sein.« 4
Zwar betonte auch dieses Ehepaar, dass es weiterhin ordentlich seinen Pflichten nachgehen und die Gesetze der DDR nicht brechen wolle, doch seien sie gezwungen, sich mit anderen Mitteln gegen die staatliche Willkür zu wenden. Um den Antragstext und die diversen Eingaben an den Staatsrat, den Ministerrat oder das ZK der SED schärfer und politischer formulieren zu können, mussten sich die Antragsteller mit den Rechtsnormen auseinandersetzen, auf die sie sich mit ihrem Anliegen beriefen. Einige bekamen die Informationen 2 Die Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3) zeigt eine hohe Anzahl von FDGB-Mitgliedern, in den Jungen Pionieren waren auch fast alle Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt, weniger in der FDJ, einige Jungen waren in der GST. Es gab 22 Mitglieder der SED, von denen allerdings zum Zeitpunkt der Antragstellung die meisten bereits ausgetreten waren. 3 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, ZMA, Nr. 12201, Bl. 17. 4 RdK Halberstadt, Abt. I A, Aktenvermerk, 5.7.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«), Bl. 101 f.
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6 Der Charakter der »hartnäckigen« Antragsteller
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aus dem Westfernsehen, andere wurden von »Ehemaligen« oder von Kontaktpersonen aus dem Westen informiert und mit Texten ausgestattet. Wer sich in kirchlichen Kreisen bewegte, konnte die Informationen als Texte »Nur für den innerkirchlichen Gebrauch« lesen und in sein eigenes Schreiben einarbeiten. Fast alle »hartnäckigen Antragsteller« aus dem Kreis Halberstadt beriefen sich in einem ihrer Schreiben auf den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1972, auf die Unterzeichnung der Konferenzbeschlüsse von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975 und auf die Verfassung der DDR; manche präzisierten und verwiesen auf die Artikel 8, Abs. 1 oder Artikel 19, Abs. 1, 2 und 4 der Verfassung. 5 Einige Antragsteller zitierten die Erklärung der Menschenrechte der UNOVollversammlung von 1948 und die Charta der Vereinten Nationen. Damit hatten sie ihr persönliches Anliegen dezidiert in einen größeren politischen Zusammenhang gestellt, was ein Mindestmaß an Interessiertheit und Wissen um diese Vorgänge einschloss. Und selbst diejenigen, die diese Rechtsgrundlagen von einer Vorlage abschrieben oder dem sie von einem Freund formuliert wurden, wie im Falle von Herrn Paul, wusste nun um diese internationalen staats- und völkerrechtlichen Ereignisse. Bei den meisten setzte eine intensive Beschäftigung mit dem Thema ein; man besorgte sich die entsprechenden Unterlagen und studierte den Wortlaut der Texte. Wer berufliche Schikanen erlebte, nahm sich das Arbeitsgesetzbuch vor und versuchte herauszubekommen, welches die eigenen Rechte waren und ob man etwas gegen die Umsetzung auf einen niedriger qualifizierten Arbeitsplatz tun konnte. Im Ergebnis der Hausdurchsuchung bei der Gemeindeschwester Christa Stoll fand die Staatssicherheit unter anderem die Verfassung der DDR, das Arbeitsgesetzbuch, eine Erklärung der »Kirche von unten«, ein Schreiben von der Arbeitsgruppe »Staatsbürgerschaftsrecht der DDR«, diverse rechtliche Grundlagen sowie das Buch »Nationalität deutsch – Staatsbürgerschaft DDR« mit Anstreichungen. 6 Zweifelsohne werden die entsprechenden Erkenntnisse oder damit zusammenhängende Fragen auch Bestandteil der Gespräche zwischen den Ehepaaren in einer »Antragsgemeinschaft« gewesen sein. »Man hat angefangen«, sagt Frau Strutzig im Interview, »sich für Politik zu interessieren.« 7 Die Auseinandersetzung mit der eigenen Lage hatte das Interesse der Antragsteller an der »großen Politik« geweckt. Dazu gehörte es auch, dass man, wie aus den Abhörprotokollen der Staatssicherheit ersichtlich, die Nachrichten im Westfernsehen verfolgte, mit der Folge, dass nicht nur die unmittelbar mit 5 Der Art. 8 der Verfassung bezog sich auf die normalen völkerrechtlichen Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, der Art. 19 beinhaltete die Rechte der Bürger. 6 Abt. VIII: Bericht über die Durchführung einer konspirativen Durchsuchung, 25.5.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 112 f. 7 Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 15.
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Ausreise per Antrag
einem Ausreise- und Fluchtgeschehen zusammenhängenden politischen Ereignisse aufgenommen wurden. Das MfS registrierte, dass über Bahros Inhaftierung und Havemanns Hausarrest gesprochen wurde. Katja Lüders wartete acht Jahre lang auf ihre Ausreise. 1988 konnte sie endlich mit ihrem nun 20-jährigen Sohn in den Westen. In all den Jahren führte sie Telefongespräche mit einem Mann aus der Schweiz. Die Staatssicherheit hörte einige Wochen lang diese Telefonate ab, in denen es auch um aktuelle politische Fragen ging. Immer wieder brachte Katja Lüders die Situation in der Sowjetunion ins Gespräch, den Tod von Andropow und Gorbatschows Politik. Sie wollte wissen, wie ihr Gesprächspartner die Lage dort einschätze. 8 Während die ersten Anträge in der Regel nur kurz begründet wurden, fanden in den folgenden Schreiben an staatliche Behörden nach den Ablehnungen regelrechte Auseinandersetzungen mit der offiziellen Politik der DDR statt. Die Eingabe von Herrn und Frau Engelbert an den Staatsratsvorsitzenden umfasst fünf Seiten. Sie zitieren darin verschiedene Verfassungstexte und Gesetzesblätter der DDR, die sie mit ihren eigenen Kommentaren und Interpretationen versehen hatten. Dem Inhalt nach handelt es sich um Auseinandersetzungen mit der Monopolstellung der Partei, mit der Ungleichbehandlung durch den Staat, der Verlogenheit einer sozialistischen Moral, mit der Unrechtmäßigkeit der Grenze, der Teilung Deutschlands und mit dem Anspruch des Staates, für die Arbeiter da zu sein. 9 Nicht nur Herr und Frau Engelbert hatten diese Form gewählt, sich an staatliche Vertreter zu wenden, viele Antragsteller begannen nach einiger Zeit, ihr privates Problem auf diese Weise als politisches aufzuarbeiten. Sie machten auf den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der DDRPropaganda aufmerksam und prophezeiten den Adressaten ihren baldigen Untergang. Beim Lesen dieser Texte wird man an die einige Jahre später im Herbst 1989 stattfindenden sogenannten Dialoge erinnert, an die auf Straßen und Plätzen geführten Gespräche zwischen Funktionären und einfachen Arbeitern und Angestellten. Das waren allerdings in aller Öffentlichkeit geführte Auseinandersetzungen und damit eindeutige Boten des Untergangs des Regimes. In den in den Beschwerden und Eingaben geführten Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit blieb die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Solche Formulierungen waren Regelverletzungen, aber noch keine Anzeichen einer beginnenden gesellschaftlichen Umwälzung. 10 Einige Antragsteller bezogen sich in ihrer nun immer grundsätzlicheren Kritik an Partei und Staat auf deren historisches Selbstverständnis. Das Ehepaar 8 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1441/88 (OPK »Bank«), Bl. 205. 9 Eingabe an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, 7.5.1977; BStU, MfS, BV Magdeburg AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, Bl. 60–65. 10 Vgl. zum Charakter von Eingaben in der DDR das Kapitel: Der erfolgreiche Ausweg über die Eingabe?, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 284–294.
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Hannemann fand es empörend, wie mit ihnen und anderen Antragstellern umgegangen werde und schrieb anlässlich der Verhaftung des Ehepaares Stoll, ihren christlichen Freunden, wie sie betonten: »Schon im Jahre 1918 wurden Andersdenkende von Staatssicherheit durch das politische Machtsystem verfolgt und eingesperrt. […] Die Verhaftung unserer Freunde ist beschämend für ein Land und eine Regierung, die zu jeder passenden Gelegenheit beteuert, die Tradition von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht fortzuführen.« 11
Hannemanns waren weder Oppositionelle noch Historiker, Herr Hannemann ist gelernter Dachdecker und seine Frau Kellnerin. Das MfS zitierte lange Absätze aus diesen Eingaben, auch jenen, in dem Herr Hannemann auf Rosa Luxemburgs Gedanken von der Freiheit, die immer die Freiheit der Andersdenkenden sei, Bezug nimmt. Hannemann versteht Luxemburg so, dass sie sich gegen eine »Freiheit« gewandt habe, die nur den Privilegierten gehören soll. »Die Revolutionäre von damals kämpften bestimmt nicht für ein Teil Deutschlands und auch nicht um dieses mit Mauern, Stacheldraht und Wachtürmen einzuzäunen, damit später ihre Enkelkinder des roten Oktober in diesem gewissen Territorium leben sollen. Das ist nach unserer Meinung Gefangenschaft.« 12 Jene wenigen Halberstädter Antragsteller, die sich mittels kirchlicher Strukturen in ein DDR-weites Netzwerk einbrachten, waren besonders gut über politische Vorgänge informiert. Sie erhielten diese Informationen während kirchlicher Veranstaltungen und konnten sich auf dort verteiltes Material stützen. Ihre Eingaben und Beschwerden wurden immer fundierter. 13 Sie erfuhren, dass es in Berlin eine Umweltbibliothek gibt, verfolgten interessiert die Auftritte der Oppositionellen Freya Klier und Stephan Krawczyk, diskutierten die Verhaftungen im Anschluss an die Rosa-Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 und erörterten gemeinsam die wirtschaftliche und politische Lage im Land. Ohne dies im Einzelnen belegen zu können, spricht viel dafür, dass sie, die Ehepaare Baumgarten, Stoll und die anderen in diesem Kreis nie zuvor solche intensiven politischen Gespräche geführt hatten. Nach der endgültigen Ablehnung ihres Antrages im Januar 1985 schrieb das Ehepaar Reither in kurzen Abständen acht weitere Anträge auf Ausreise aus der DDR, in denen die Politik von Partei und Staat der DDR immer grundsätzlicher und schärfer angeprangert wurden. Das bisher dem MfS als eher ruhig bekannte, gut situierte Ehepaar steigerte seine Anklage von Brief zu Brief. Zunächst standen die ökonomisch verheerenden Perspektiven der DDR im Allgemeinen und für den selbstständigen Meister im Besonderen im Zentrum 11 Eröffnungsbericht, 31.1.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2344/89 (OV »Kantine«), Bl. 17. 12 Antrag auf Verlegung des Wohnsitzes in die BRD, 7.9.1987; ebenda, Bl. 18 u. 69–72. 13 Zum Beispiel: BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bl. 103 ff.
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der Kritik: »Wir bewegen uns in unserer Wirtschaft absolut Richtung Polen.« Später wurden die Innen- wie Außenpolitik angeklagt: »Die Russen machen in Afghanistan, was die Amerikaner in Vietnam gemacht haben.« Reithers bezichtigen die Partei- und Staatsführung der Lüge und des Verrates: »Sie predigen Wasser und trinken Wein. Das trifft voll auf den Sozialismus zu.« Und sie prangern es als menschenunwürdig an, dass sie hier festgehalten werden. 14 Nachdem die Abteilung Innere Angelegenheiten zur Kenntnis nehmen musste, dass der Antragsteller seine Bemühungen nicht aufgeben werde, änderte auch sie ihren Ton. Die Staatssicherheit begann, manchmal bereits in Erwartung des Widerstandes, ein »Programm« von »operativen« Überwachungsund Disziplinierungsmaßnahmen aufzulegen. Aussprachen im Betrieb, Umsetzungen auf einen anderen Arbeitsplatz, Berufsverbote, Prämienentzug, der Ausschluss der Kinder von bestimmten Schulveranstaltungen und der Entzug des Personalausweises hatten vor allem das Ziel, die Antragsteller einzuschüchtern und ihnen die Sinnlosigkeit ihres Tuns vor Augen zu führen. 15 Zumeist trat die gegenteilige Wirkung ein. Eine Reihe der derart Schikanierten reagierte immer aggressiver, betonte ihre Entschlossenheit, auf der Antragstellung zu beharren und drohte offen mit »weiteren Schritten«. Herr Garms, parteiloser Fachlehrer – wie ihn die Staatssicherheit in den Akten bezeichnet – schrieb an einen Freund: »Am Donnerstag wurde mir dann in Halberstadt mein Personalausweis abgenommen mit der Begründung, dass ich mich mit Bürgern der Bundesrepublik im sozialistischen Ausland treffen könnte und deshalb nicht mehr würdig bin, am visafreien Reiseverkehr teilzunehmen. Damit hat man mir einen weiteren Ausreisegrund in die Hand gegeben. […] Jetzt versuche ich, noch mehr zu kämpfen.«16
Trotz aller Radikalität der Worte und Konsequenz im Auftreten gegenüber den Mitarbeitern der Abteilung Innere Angelegenheiten im Rat der Stadt bewegten sich diese Antragsteller noch im vorgegebenen Rahmen. Ihre Wiederholungsanträge und Eingaben behielten einen privaten Charakter, allein von ihnen verfasst und keinem zugänglich außer den Adressaten. Ihre kritischen Worte fielen nicht auf den Fluren im Rat des Kreises oder in anderen öffentlichen Räumen, sondern im geschlossenen Amtszimmer. Damit hielten sie ein, was als ungeschriebenes Gesetz in der DDR längst gültig geworden war: das Verbot von eigenorganisierten kollektiven und öffentlichen Aktionen. Bei aller Unberechenbarkeit staatlicher Reaktionen auf die Antragstellung war 14 KD Halberstadt: Eröffnungsbericht zum OV »Modell«, 4.3.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88, Bd. 1, Bl. 191–200. Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK/OV »Kohl«), Bl. 92 ff. 15 Vgl. ausführlich Kapitel 7.1 in diesem Band. 16 KD Halberstadt, Schlussbericht zur OPK »Motor«, 21.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88, Bl. 264.
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gewiss, dass auf jede Form von Gruppenbildung und »Demonstrativhandlung« repressiv reagiert würde. Spätestens seit dem Arbeiteraufstand von 1953 war das Hauptaugenmerk der Staatssicherheit namentlich in den Betrieben darauf gerichtet gewesen, keine kollektiven Widerstände wie Streiks zuzulassen und zu verhindern, dass eine Öffentlichkeit von solchen Aktionen erfuhr. 17 Genau diese beiden Gefahren standen auch im Zentrum des Kampfes gegen die »rechtswidrigen Übersiedlungsersuchen«. Wer sein Ausreisebegehren öffentlich machte, kam unter die »operative« Kontrolle des MfS, und wer dies demonstrativ, also besonders öffentlichkeitswirksam tat, lief Gefahr, inhaftiert zu werden. Wer sich mit anderen Antragstellern zusammentat, um eine solche Demonstration vorzubereiten und durchzuführen, gegen den wurde mit Sicherheit eine Operative Personenkontrolle angelegt, die »Rädelsführer« kamen als erste ins Gefängnis. 18 Im Kreis Halberstadt gab es nur wenige Antragsteller, die sich dieser Gefahr aussetzten, und nur zwei uns bekannt gewordene Personen, die diese Verbote bewusst überschritten, um in Haft genommen zu werden. Die Mehrheit der Halberstädter Antragsteller verhielt sich gemäß der ungeschriebenen Order: Keine Gruppenbildung, keine Demonstrativhandlungen. Umso wichtiger ist es, über jene wenigen Antragsteller zu berichten, die den Versuch machten, aus der Vereinzelung und Privatisierung ihrer Lage auszubrechen.
6.1 »… wird hier in Gruppe gehandelt«? Von der Vereinzelung zum Zusammenschluss Die Staatssicherheit stellte in den 15 Jahren, die hier betrachtet werden, im Rahmen ihrer »operativen Tätigkeit« gegen Antragsteller auf Ausreise im Kreis Halberstadt zwei Vernetzungen unter Beteiligung von insgesamt acht »Antragsgemeinschaften« fest. Man kann realistischerweise davon ausgehen, dass damit tatsächlich alle Personen erfasst worden sind, die für das MfS den Tatbestand der Gruppenbildung erfüllt haben. Da keine Darstellungen der Antragsteller aus solchen Gruppen zur Verfügung stehen, musste auf Unterlagen der Staatssicherheit zurückgegriffen und deren Einschätzungen interpretiert werden.
17 Vgl. Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. 18 In einer »Belehrung« von 1988 ist unmissverständlich die Drohung enthalten: »keinerlei Kontakte zu anderen Übersiedlungsersuchern zu unterhalten./ Im Falle der Verletzung der Strafgesetze der DDR würde das strafprozessuale und strafrechtliche Konsequenzen haben./ Es wurde der Inhalt der §§ 99, 100, 213, 214, 218 und 219 StGB verlesen und erläutert.« BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 1619/88, 9.2.1988, Bl. 12.
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Den ersten »Zusammenschluss« registrierte das MfS Ende der 1970er Jahre. 19 Er gruppierte sich um einen Betriebsschlosser eines Halberstädter VEB, der im November 1977, ohne seine Töchter und seine inzwischen geschiedene Frau, legal nach Westdeutschland übersiedelte; seine Mutter und die Schwester waren ein Jahr zuvor ausgereist. Bereits im Wartezimmer der Abteilung Innere Angelegenheiten hatte er Kontakte zu anderen Antragstellern aufgenommen, mit denen er angeblich ein gemeinsam verfasstes Schreiben an das ZK der SED in Berlin plante. Es ist den Akten nicht zu entnehmen, ob die vier namentlich bekannten Antragsteller diese Petition tatsächlich geschrieben und nach Berlin gebracht haben. Hätten sie dies getan, wäre es als Vorgang von der Staatssicherheit festgehalten und aktenkundig geworden. 20 Bereits vor der Ausreise organisierte Stefan Togalla im Westen eine Öffentlichkeit für seinen Fall. 21 Er wurde dabei von Peter Sydow unterstützt, einem ebenfalls ausgereisten Verwandten, der schon längere Zeit im Westen lebte und der sich an verschiedene offizielle Stellen, unter anderem an den Bundesminister für Innerdeutsche Fragen, um Hilfe für Stefan Togalla wandte. Tatsächlich erschien Stefan Togallas Geschichte in verschiedenen Zeitungen im Westen, später gab es sogar eine Mitteilung im ZDF. Auch Stefan Togallas inzwischen ausgereiste Mutter, seine Schwester, deren Mann und andere Personen setzen sich für ihn ein. Zusammen mit Peter Sydow stellten sie eine Verbindung zur »Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte« (IGfM) her. 22 Nach seiner Ausreise im Herbst 1977 bemühte sich Stefan Togalla nun um Unterstützung zurückgebliebener Antragsteller aus Halberstadt. Das waren die Familie Engelbert und das Ehepaar Ludwig, später gehörte noch Stefanie Döring zu diesem Kreis. Die Verbindung zwischen dem ausgereisten Herrn Togalla und den Antragstellern aus Halberstadt hielt der Bruder, Willi Togalla, Musiklehrer, Pionierleiter und SED-Mitglied. Er selbst hatte keinen Antrag gestellt, unterstützte aber die Bemühungen des Bruders um Ausreise und stellte seine Adresse als Kontaktadresse für die Ost-West-Verbindungen zur Verfügung. 23 Willi Togalla traf sich mit seinem Bruder und anderen ausgereisten Verwandten an der Transitautobahn. Die Staatssicherheit fing die Post ab und 19 » … wird hier in Gruppe gehandelt?«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, Bl. 218. 20 KD Halberstadt: Abschlussbericht, 9.11.1977; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bl. 123–129, hier 126. 21 Ebenda. 22 Ebenda, Bl. 129. 23 Schon 1976 schickt Peter Sydow aus Hamm seine Post an Stefan über Willi, der seinerseits Materialien herüber sendet. Vgl. Eröffnungsbericht, 27.7.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bl. 434–459, hier 440.
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registrierte Grüße von Stefan Togalla und Peter Sydow an Alfred Ludwig und Andreas Engelbert. 24 Ein Treffen mit Willi und allen Verwandten fand in Prag statt, ein geplantes zweites Treffen, an dem auch Andreas Engelbert teilnehmen sollte, konnte nicht mehr realisiert werden. Die Staatssicherheit verhinderte das unter anderem, indem sie allen Beteiligten die Ausweise abnahm und die sogenannten PM 12 aushändigte. 25 In dieser Gruppe hatte die Kreisdienststelle des MfS ohnehin einen IM platziert. Ins Visier geriet auch Günter Gudzmut, der wie Willi Togalla noch kein Antragsteller war, jedoch seine Adresse und andere Hilfeleistungen zur Verfügung stellte. Monika Gudzmut war eine Freundin von Ilse Togalla. Das Ehepaar Gudzmut war in der OPK »Auto« vom MfS erfasst. Der Betriebsschlosser Andreas Engelbert aus dem RAW Halberstadt und seine Frau Christine, Sachbearbeiterin im VEB Gebäudewirtschaft, stellten 1977 für sich und ihren fünfjährigen Sohn einen Ausreiseantrag. Zu diesem Zeitpunkt war der Schulfreund von Andreas Engelbert, Stefan Togalla, mit dem er zudem im gleichen Betrieb gearbeitet hatte, bereits ausgereist. Auf diese Weise kam das Ehepaar in das von diesem organisierte Verbindungs- und Hilfsnetz. Vor allem Informationen und Material wurden vom Westen nach Halberstadt geschickt. Peter Sydow verwendete sich in einem Schreiben an den Rat des Kreises Halberstadt, Abteilung Innere Angelegenheiten, für Andreas Engelbert und bat um eine rasche positive Entscheidung. Offensichtlich nahm er auch Kontakte zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) auf. Obwohl die Staatssicherheit Peter Sydow in der Akte »Barriere« bereits erfasst hatte, war sie über die personellen Zusammenhänge nicht gut informiert. Sie wollte nun überprüfen, »inwieweit sich um die Genannten bereits weitere rechtswidrige Antragsteller zu einem politischen Untergrund zusammengeschlossen haben«. 26 Die »operative Bedeutung« dieser Gruppe leitete die Staatssicherheit aus einer öffentlichen politischen Aktion im Westen ab: Am 20. Dezember 1977 forderten drei Personen, darunter Peter Sydow, vor der ständigen Vertretung der DDR in Bonn die Ausreise mehrerer »ASTA«, darunter auch für die Halberstädter Familie Engelbert und für Stefanie Döring. 1976 reiste die Familie Weber zusammen mit ihrem Sohn legal in den Westen aus. Stefanie Döring blieb zurück und stellte mit 18 Jahren den Antrag, zu ihrem Verlobten Reinhard Weber übersiedeln zu dürfen. Sie wartete fünf Jahre und zog ihren Antrag 1982 zurück. In den ersten Jahren der Wartezeit suchte sie fast täglich den Kontakt zur Familie Engelbert, die im selben Haus wohnte 24 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bl. 441. 25 Zum PM 12 vgl. Anm. 16/Kap. 5. 26 Eröffnungsbericht; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bl. 215.
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Ausreise per Antrag
und ihr Halt und Zuspruch gab. Das Ehepaar Engelbert ist im OV »Resident« erfasst. Nach einigen Jahren lockerte sich der Kontakt zwischen ihnen; Stefanie Döring zog sich völlig zurück, die Freundschaft zerbrach. Die »Zersetzungstaktik« der Staatssicherheit war erfolgreich, die nachbarschaftliche Runde scheiterte am gegenseitigen Misstrauen und an Eifersüchteleien. Ins Visier der Staatssicherheit war Stefanie geraten, weil sich ihr Verlobter im Westen für ihre Ausreise einsetzte und Peter Sydow um Hilfe bat. Stefanie Döring benutzte zudem in der Nachbarschaft dasselbe Telefon wie das Ehepaar Engelbert, um mit ihrem Verlobten zu telefonieren. Dies waren jedoch die einzigen Berührungspunkte mit dem OV »Resident«, sie gingen über persönliche Gespräche nicht hinaus. Zu welchem Ergebnis kam die Staatssicherheit bezüglich dieser Gruppenbildung? Da die Informationen über einen IM und über eine sogenannte Kontaktperson keine relevanten Inhalte lieferten, wurde neben Hausdurchsuchungen, Postkontrollen und ständigen Beobachtungen in der Wohnung der Familie Engelbert eine »Wanze« eingebaut. 27 Die durchgeführte Hausdurchsuchung brachte keine neuen Erkenntnisse: »Die im Auftrag angeführten Punkte wie – Vollmacht für die GfM und Merkblätter, Adressen und Absender mit Buchstaben ›A‹, betriebliche Unterlagen (Materialversorgung), Spionagematerial: wie Container, usw., Ausschnitte aus Bonner Stadtanzeiger – konnten nicht gefunden werden.« 28 Es fehlten dem MfS also noch offiziell verwertbare Beweise für eine strafrechtliche Verfolgung. Das »B-Objekt« – so die Bezeichnung der Staatssicherheit für den mit einer Abhöranlage versehenen Raum – war im Fall der Familie Engelbert deren Wohnzimmer. Die Staatssicherheit hörte acht Monate lang das Ehepaar ab und protokollierte die Gespräche. 29 Am Ende konnte sie keinerlei »strafrechtlich verwertbaren« Beweise ausfindig machen, »aufgrund der Prüfung, Aufwand-Nutzen« wies der Leiter der Bezirksverwaltung Magdeburg die Einstellung der B-Maßnahme an. 30 Die Staatssicherheit erfuhr nur, was sie schon aus den Briefen und Telefonaten wusste: dass man auf Hilfe von Freunden im Westen hoffte, dass man sich über das Westfernsehen in Sachen Antragstellung auf Ausreise unterrichtete und wie man über das Leben in der DDR dachte. 31 Keiner der Antragsteller aus diesem Kreis hatte mit einer generellen Postkon27 Das MfS hat ein befreundetes Ehepaar als IM eingesetzt, aber Engelberts sind sehr reserviert vor allem gegenüber dem Mann und gehen auf seine Einladungen nicht ein. 28 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, Bl. 8. 29 Ebenda, Bl. 259–263. 30 Zur Ablage im OV »Resident« und »Musiker«, 3.12.1979; ebenda, Bl. 37. 31 Ebenda, Bl. 259–263, Gespräch mit einem Besucher aus dem Westen, es geht darum, dass sie hoffen, die BRD zahlt für sie je 40 Tausend, empfinden es aber als Menschenhandel. Sie versuchen, mit dem Besuch ein paar Geschäfte zu machen, z. B. einen Krug zu verkaufen etc., das MfS erfährt nichts Relevantes.
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trolle gerechnet, zumal sie ein kompliziertes Prinzip verschiedenster Deckadressen für ihre Post nach drüben ersonnen hatten. Christine Engelbert schrieb daraufhin offen an eine Tante im Westen, dass sie bereits Gesetze und einen Vordruck für die Vollmacht erhalten hätten, die Tante sollte alles an die IGfM und an das ZDF-Magazin schicken. Sie nannte in den Briefen die neuen Deckadressen für eine Rückantwort. 32 Wenn die Staatssicherheit über die Abhöranlagen auch keine neuen Fakten erfuhr, so bekam sie doch auf diese Weise tiefe Einblicke in das Verhältnis des Ehepaares und in die Beziehungen zu Freunden und Verwandten. Stefanie Döring würde sich immer stärker absondern und nur noch zu ihrer Großmutter Kontakte suchen. So gelang es dem eingesetzten IMV »Renate Kluge« auch nicht, ein »Vertrauensverhältnis zu ihr herzustellen, um operativ bedeutsame Informationen zu erarbeiten«. 33 Dennoch erlangte die Staatssicherheit über die Abhörprotokolle ein Herrschaftswissen, das sie auf perfide Weise in ihre »Zersetzungsstrategien« einfließen ließ. Später sollte sie die Ängste der Stefanie Döring nutzen, um diese zu einer Zusammenarbeit zu nötigen. Sie sollte das Misstrauen innerhalb der Gruppe schüren, was letztlich zur Isolation von Willi Togalla führte. Das Ehepaar Engelbert hatte mit vielem, jedoch nicht damit gerechnet, dass die Staatssicherheit ihre Wohnung »verwanzen« würde. Andreas Engelbert schloss stets das Fenster, damit nichts nach außen dringen konnte und beide sprachen in der Nacht leiser, weil eine benachbarte Kreistagsabgeordnete, die wahrscheinlich am nächsten Tag Berichte schreiben würde, durch die Wände mithören könnte. Erst nachdem Christine Engelbert im August 1979 ihrem Mann von einer Vernehmung aus der Abteilung Innere Angelegenheiten berichtete, fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen: »Die wissen alles!« Jetzt erst wurde ihnen klar, dass sämtliche Post, auch die unter Benutzung von Deckadressen, in die Hände der Staatssicherheit gelangt war. Dass die Telefongespräche in den Westen belauscht wurden, hatten sie einkalkuliert, nicht jedoch diese flächendeckende Postkontrolle. 34 Und zum ersten Mal schien ihnen die Möglichkeit sehr real, dass »die solche kleinen Dinger einbauen können, die siehst Du gar nicht«. Sie nahmen jedoch an, dass es noch nicht passiert sei, wollten aber in Zukunft vorsichtiger sein. 35
32 KD Halberstadt: Eröffnungsbericht zum Anlegen der OV »Resident« gemäß § 100 StGB, 31.1.1978; ebenda, Bl. 211. 33 BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1548/89, Bd. 3, Bl. 12 u. 151. Außerdem Zwischenbericht, 15.9.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1548/89 (OPK »Herz«), Bl. 150. 34 Informationsbericht, 29.7.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«), Bl. 151. 35 Protokoll, 3.8.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bl. 281.
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Ausreise per Antrag
Das Ehepaar Engelbert hatte wie die meisten Antragsteller nicht mit einer solchen massiven Observierung durch die Staatssicherheit, die die Verwanzung ihrer Wohnung einschloss, gerechnet. Tatsächlich wurde wohl allen DDRBürgern das Ausmaß der Überwachung durch die Staatssicherheit erst nach 1989 bewusst. Damit soll nicht gesagt werden, dass das Ehepaar Engelbert zur Blauäugigkeit gegenüber der Stasi neigte. Sie waren, und mit ihnen die Mehrheit der Antragsteller auf Ausreise aus dem Kreis Halberstadt, vielmehr der festen Überzeugung, nichts Kriminelles oder strafrechtlich Relevantes mit ihrer Antragstellung getan zu haben. Und da sie bestimmte Spielregeln eingehalten, keine Öffentlichkeit hergestellt und keine Demonstrativhandlungen vorgenommen hatten, rechneten sie auch nicht mit massiver Überwachung. 36 Andreas Engelbert wurde 1979 verhaftet. Christine Engelbert versuchte alles, um für ihren inzwischen geschiedenen Mann eine Entlassung zu erwirken, zwei Monate später wurde auch sie inhaftiert. 37 Dieser Gruppenzusammenhang von Antragstellern löste sich nach zweieinhalb Jahren 1980 gänzlich auf. Eine Familie erhielt eine Genehmigung zur Ausreise, Stefanie Döring nahm ihren Antrag zurück. Das Ehepaar Engelbert und Susanne Krause, Lehrerin, Mitglied der CDU, wurden verhaftet und zu über vier Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Susanne Krause, in der OPK »Übersiedler« erfasst, hatte ebenfalls im Briefwechsel mit Peter Sydow gestanden. Zu den anderen Halberstädtern dieses Kreises hatte sie nur sehr losen Kontakt. Günter Gudzmut, in dem OV »Auto« erfasst, wurde als »belastender Zeuge« in diesem Prozess aufgebaut. Er sollte den Nachweis einer Mitgliedschaft von Peter Sydow, Stefan Togalla und Andreas Engelbert in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte erbringen. 38 Tatsächlich bestätigte er seine 36 Am allerwenigsten waren sie auf eine Inhaftierung vorbereitet. Nachdem Andreas Engelbert in Untersuchungshaft gekommen war, fragte sich seine Frau, was für ein Vergehen er denn begangen habe. Hat er noch etwas gemacht, wovon sie nichts wusste? Da müsse noch etwas gewesen sein, denn mit der Antragstellung allein könne die Reaktion der Staatsmacht nicht erklärt werden. Vgl. Informationsbericht, 2.9.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89, (OPK »Gastwirt«), Bl. 166 f. Man müsse aufpassen, dass man nicht anecke, hatte Andreas Engelbert vor seiner Verhaftung immer gesagt und dass er von »drüben« immer wieder aufgefordert wurde, er solle seiner Arbeit nachgehen und keine Extraschritte unternehmen. Er solle abwarten und »die« hier bei guter Laune halten. Er meinte, dann könne auch nichts passieren. Christine Engelbert verweist auf andere Antragsteller aus Halberstadt, die nicht ins Gefängnis gekommen waren. Die anderen Frauen, die sich nach Andreas Haft bei Engelberts treffen, sehen das genauso, man hatte sich nichts vorzuwerfen; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 3, Bl. 106–107. Keiner kann begreifen, wodurch sie sich strafbar gemacht hatten; Vernehmungsprotokoll, 15.4.1980; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bd. 3, Bl. 190. 37 Vgl. auch Kapitel 7.4 in diesem Band. 38 Auszug aus der Einschätzung der Ergebnisse der OPK v. 27.12.1978, »mit der Zielstellung des Beweises einer Mitgliedschaft der in der OV ›Barriere‹, ›Musiker‹, ›Resident‹ erfassten Personen zur GfM gem. § 100 StGB und Verletzung des Straftatbestandes des § 225 Abs. 1 Ziff. 2 StGB durch den
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»Unterstützertätigkeit« für Familie Engelbert, indem er seine Adresse zur Verfügung gestellt und alle die Ausreise betreffenden Unterlagen während der Urlaubszeit von Familie Engelbert verwahrt hatte. 39 Das Ehepaar Gudzmut stellte sieben Jahre später selbst einen Ausreiseantrag. Im Oktober 1989 konnte es ausreisen. »Im Ergebnis der Bearbeitung vorgenannter operativer Materialien«, so schloss die Bezirksverwaltung in Magdeburg ihren Bericht, »wurden die in der [den] OV ›Resident‹ und ›Übersiedler‹ erfassten Personen wegen Verletzung der Straftatbestände gem. §§ 100 und 98 StGB der Fassung von 1968, inhaftiert und zu je 4 Jahren Freiheitsentzug verurteilt«. 40 Der im OV »Musiker« erfasste Willi Togalla wurde aus dem Schuldienst entlassen und aus der Partei ausgeschlossen, verlor seine Lizenz für Musikauftritte und durfte den Kreis Halberstadt zeitweilig nicht verlassen.41 Das MfS reagierte auf diesen Zusammenschluss am Ende der 1970er Jahre massiv und sehr repressiv. Bei genauerer Betrachtung wird erkennbar, dass es sich gar nicht um einen Gruppenzusammenhang im eigentlichen Sinne gehandelt hatte. Der Zusammenhalt dieser Antragsteller war lediglich Resultat des Umstandes, dass sie sich alle mit der gleichen Person im Westen verbunden fühlten, die sich für ihre Ausreise einsetzte, ihnen Material zukommen ließ und ihnen Hinweise gab, wie sie sich verhalten sollten. Da sie voneinander wussten, entstand eine gewisse Vertrautheit, die jedoch sehr brüchig war und nach kurzer Zeit wieder in die Vereinzelung überging. Seinem Charakter nach ist dieser Kreis von Halberstädter Antragstellern eher als West-Ost-Netzwerk zu bezeichnen. Er gehört zu den von dem Soziologen Manfred Gehrmann beschriebenen Migranten-Netzwerken, die als Folge einer »Kettenwanderung« entstanden waren und ihr eigentliches Zentrum im Westen hatten. 42 Damit unterschied sich dieser Gruppenzusammenhang erheblich von einem zweiten, den das MfS zehn Jahre später in Halberstadt registrierte. Im Dezember 1986 stellten Christa und Martin Stoll für sich und ihre beiden 13 und zehn Jahre alten Töchter beim Rat des Kreises Halberstadt einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Martin Stoll war zu diesem Zeitpunkt 43 Jahre alt, er arbeitete als Kraftfahrer bei einem ortsansässigen Kraftverkehrsbetrieb. Christa Stoll war 34 Jahre alt und Gemeinde[Name] zu erarbeiten und den [Name] als belastenden Zeugen aufzubauen bzw. bei Nichtbestätigung op. Zur Bearbeitung genannte OV zu nutzen.«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«), Bl. 39 f. 39 Die Staatssicherheit wusste das schon, erpresste aber zwecks Beweisführung die Aussage noch von einem Freund der Familie. Quelle IMS »Mandy Meier«; BStU, MfS, BV Magdeburg, Nr. 2194/89 (OPK »Gastwirt«), Bl. 39 f. 40 Das waren »Staatsfeindliche Verbindungen« und »Landesverräterische Nachrichtenübermittlung«. Vgl. Kapitel 7.3 in diesem Band. 41 Vgl. ebenda. 42 Vgl. Kapitel 5.4 in diesem Band.
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Ausreise per Antrag
schwester in einer Gemeinde des Kreises Halberstadt. Bereits die ersten internen Informationen der Kreisdienststelle des MfS signalisierten eine Ablehnung des Antrages. Der ärztliche Leiter des Medizinischen Zentrums bestätigte diese Haltung der Staatssicherheit: Der Weggang von Christa Stoll würde eine nicht zu schließende Lücke entstehen lassen. 43 Eine nicht unmaßgebliche Rolle wird der Umstand gespielt haben, dass Christa Stolls Vater Lehrer und beide Eltern Mitglied der SED waren. Am 22. März 1988 sprach ihnen die Abteilung Innere Angelegenheiten eine endgültige Ablehnung aus. Stolls waren überrascht und verzweifelt. Sie akzeptierten die Entscheidung nicht. Ihnen wurde noch mitgeteilt, dass sie ihre »gesetzwidrigen Aktivitäten im Rahmen der Kirche« aufgeben sollten, was Stolls ebenfalls strikt zurückwiesen. Tatsächlich hatten sie an kirchlichen Veranstaltungen in der Bartholomäuskirche in Blankenburg teilgenommen, pflegten Kontakte zur dortigen Pfarrerin und zum Superintendenten aus Osterwieck. Sie gingen mit diesen Kontakten ganz offen um. Nach der, wie es hieß, unwiederbringlichen Ablehnung ihres Antrages schrieben sie verschiedene Eingaben an staatliche Stellen, verstärkten ihr Engagement in der Kirche und suchten Möglichkeiten, sich an politischen Aktionen zu beteiligen. Ein Operativer Vorgang wurde eingeleitet, nachdem sie sich an »Demonstrativhandlungen am 1. Mai 1988 im Raum Westerhausen und am 17. Juni 1988 in Berlin« beteiligt und die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufgesucht hatten. 44 Kurz zuvor hatten sie sich einem überregionalen Kreis von Antragstellern angeschlossen, der sich regelmäßig zur »Teestunde« traf. Einige dieser Zusammenkünfte fanden auch in der Wohnung der Stolls statt. Man hatte sich in der Bartholomäuskirche in Blankenburg kennengelernt, tauschte Erfahrungen und Informationen aus, etwa das zehnseitige Merkblatt für Antragsteller, welches »nur für den innerkirchlichen Gebrauch« bestimmt war. 45 An diesen Zusammenkünften nahmen auch Hans und Gabi Meister, Doris und Bernd Prützmann, Wolfgang und Angelika Kapelle sowie Roland und Susi Meier teil. Diese Gruppe hob sich vom »Durchschnittsantragssteller« aus dem Kreis Halberstadt in verschiedener Hinsicht ab. Zwei Paare aus der Gruppe vertraten offen ihren christlichen Glauben, anders als die Mehrheit der Antragsteller hatten sie keine Scheu davor, in die Kirche zu gehen und dort den halböffentlichen Raum für sich zu nutzen. Es fällt auf, dass sich in diesem Kreis von Antragstellern Personen mit sehr qualifizierten Berufen befanden: ein Arzt, ein Musiklehrer, eine Ingenieurin und die Gemeindeschwester Christa Stoll. Im 43 Beurteilung der Christa Stoll, 20.1.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 52. 44 Einleitung des OV »Bus«; ebenda, Bl. 8. 45 Ebenda, Bl. 172.
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Rahmen ihrer Treffen diskutierten sie ihre Situation und die politische Lage im Land. Sie informierten sich gegenseitig über veränderte rechtliche Regelungen und besprachen, inwieweit sie sich davor schützen könnten, vom DDRStaat kriminalisiert zu werden. 46 Im Mai 1988 nahmen Stolls an einer Veranstaltung im Magdeburger Dom teil, in deren Verlauf die Gründung eines Arbeitskreises »Rechtsverwirklichung« erwogen wurde. 47 Darüber informierten sie die anderen Antragsteller aus der Gruppe. Für das MfS bedeutsam waren ihre DDR-weiten Kontakte zu anderen Kirchenkreisen. So waren sie an der Erstellung einer Kartei beteiligt, auf der Namen von Antragstellern verzeichnet wurden. Auf diese Weise traten Antragsteller aus der Anonymität heraus, bei Bedarf konnte ihr Schicksal im Rahmen kirchlicher Veranstaltungen öffentlich gemacht werden. Für den Fall einer Inhaftierung traf die Gruppe Vorsorge, dass die Information über einen Pfarrer aus Blankenburg in den Westen gelangte. Im Sommer 1988 wurde dieser Zusammenschluss um den OV »Bus« für die Kreisdienststelle der Staatssicherheit in Halberstadt zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit. 48 Die Bezirkskoordinierungsgruppe (BKG) in Magdeburg wies den stellvertretenden Leiter der Kreisdienststelle, »Genossen Major Richter«, an, die Zerschlagung dieser Konzentration in Halberstadt zu koordinieren und die Tätigkeit des IM »Wolf« zu intensivieren. 49 Einige »operative Erfolge« lagen bereits vor: »Durch offensive politisch-ideologische Maßnahmen, vorbeugende Maßnahmen der Disziplinierung und differenzierte Anwendung des Strafrechtes (OV-Abschlüsse) gelang es, den Spielraum subversiver Elemente einzuschränken, zersetzend zu wirken und beteiligte Personen zu verunsichern.« 50 Im September 1988 wurden Martin und Christa Stoll »zugeführt«, das heißt von der Staatssicherheit zum Verhör geholt. Unverzüglich begann das geplante Informationsnetz zwischen den beteiligten Personen des Kreises sowie dem Pfarrer Minkner aus Blankenburg zu arbeiten. Es wurde beraten, zu wem die große Tochter von Stolls in der Zeit der Haft ihrer Eltern gehen könnte. Das Ehepaar Bernd und Doris Prützmann nahm sie auf. Nach der Verhaftung der Stolls verhielten sich Prützmanns jedoch zurückhaltend, sie beteiligten sich nicht mehr an Gruppentreffen, im Wohngebiet redeten sie nicht über ihren 46 Ebenda, Bl. 134. 47 Ebenda, Bl. 294. 48 Die KD in Halberstadt hat nur den OV »Bus« zu bearbeiten; Magdeburg und Wernigerode haben je 10 und 6 OV unter dem Aspekt des Zusammenschlusses zu bearbeiten. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 16084, Bl. 11. 49 BKG: Konzeption zum weiteren Vorgehen bei der politisch-operativen Bearbeitung von Konzentrationen bzw. Zusammenschlüssen von Ersuchern auf Übersiedlung in den Kreisen Magdeburg, Halberstadt und Wernigerode, 5.7.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 16084, Bl. 15. 50 Ebenda, Bl. 11.
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Ausreiseantrag. 51 In den Aussprachen beim Rat des Kreises brachten sie zum Ausdruck, dass sie ihre Haltung belohnt haben wollten: »Die suchen die Ständige Vertretung auf und sind innerhalb weniger Tage draußen. Andere gehen auf die Straße und sind auch schon weg. Muss man denn wirklich immer erst auffallen?« 52 An Aktionen, die ihre Ausreise hätten beschleunigen können, haben sie sich nicht mehr beteiligt. Im Gesprächsprotokoll der Abteilung Inneres heißt es weiter: »Wir verhalten uns ruhig, aber das ist bestimmt der Fehler, in Leipzig sind 600 Mann auf die Straße gegangen, wir waren nicht dabei. Muss man denn erst aufputschen – wir wollen das nicht.« 53 Infolge der Verhaftung von Martin und Christa Stoll war es der Staatssicherheit gelungen, ein Ehepaar aus der Gruppe zu verängstigen und zu isolieren. Die Treffen in der Wohnung der Stolls waren ohnehin beendet. Zur Überraschung der Staatssicherheit übernahmen Hans und besonders aktiv Gabi Meister nun die »Inspiratorenrolle«. Sie hatten Kontakte nach Leipzig in die Nikolaikirche, nach Blankenburg zum Pfarrer Minkner, nach Berlin in die Zionskirche bis hin zu amnesty international. Zum Westberliner Rechtsanwaltbüro Schulenburg hatten sie versucht, eine Verbindung aufzunehmen. Auch »nach innen« schien der Kreis zunächst nicht völlig zerstört zu sein; Meisters kannten fünf Halberstädter Antragstellerpaare, die sie über ihre Aktivitäten informierten. Das MfS schätzte Gabi Meister als unfähig ein, eine solche Führungsrolle zu übernehmen und täuschte sich. 1987 stellten Meisters einen Antrag; im August 1988 wurde anlässlich ihrer Verbindungen zum Kreis um das Ehepaar Stoll gegen sie ein OV »LKW« angelegt. Sie waren sehr engagiert in diesem Kreis, ihr Sohn vermittelte ihnen Kontakte zu Pfarrer Eppelmann. Dorthin wollten sie auch zusammen mit anderen Halberstädtern fahren, um »an [einer] geplante[n] demonstrativprovokatorische[n] Aktion am 21.10.88« teilzunehmen. Dies verhinderte die Staatssicherheit im Falle von Meisters, indem sie das Ehepaar unter einem Vorwand zum Kreisgericht in Halberstadt bestellte, sodass eine pünktliche Abreise nicht mehr möglich war. 54 Das MfS erfuhr umgehend alle Planungen, es hatte den IM »Wolf« und den IMK »Christa Kern« mittels einer Legende in diesen Zusammenschluss von Antragstellern als Informanten eingeschleust. Die Aktion, im August 1988 gemeinsam an der Gerichtsverhandlung eines Übersiedlers teilzunehmen, war
51 Ermittlungsbericht, 31.3.1986; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2188/89 (OPK »Musiker«), Bl. 23. 52 Aktenvermerk des RdK Halberstadt, Abt. I A, 14.3.1989; ebenda, Bl. 145. 53 KD Halberstadt: Zwischenbericht zur OPK »Musiker«, 17.3.1989; ebenda, Bl. 149. 54 KD Halberstadt: Aktenvermerk, 22.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 134.
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ebenfalls verhindert worden. 55 Die Fahrt nach Berlin war bereits ohne das Ehepaar Stoll und unter Federführung von Gabi Meister organisiert worden, die zwei Anträge Leipziger Ausreiser mitnahm, wahrscheinlich, um sie dort in Kirchenkreisen registrieren zu lassen. Gabi Meister setzte sich für die Schwester der inhaftierten Christa Stoll ein und stellte den Kontakt zur Tochter her. Sie erklärte sich bereit, anderen Antragstellern nach ihrer Ausreise die gewünschten Papiere in den Westen nachzuschicken. Der IMK »Kern« berichtete, dass Gabi Meister auf den Fluren des Rates des Kreises andere Antragsteller angesprochen habe, um sie zu einem gemeinsamen Treffen einzuladen. 56 Am 23. Dezember 1988 fand die Verhandlung gegen das Ehepaar Stoll vor dem Magdeburger Bezirksgericht statt, eine kleine Gruppe von Antragstellern, darunter Meisters und ein weiteres Ehepaar aus Halberstadt, wollten ihr beiwohnen, wurden jedoch des Raumes verwiesen. Die Fahrten nach Magdeburg hatten Meisters aufgegeben, während eines Schweigemarsches waren Personen festgenommen worden. Der Zusammenhalt in der Gruppe bröckelte. Meisters trafen sich jetzt mit einem Ehepaar aus Harzgerode in Leipzig oder in Berlin. 57 Gabi und Hans Meister wurden immer nervöser. Sie hatten Angst, nicht mehr aus der DDR rauszukommen. Von überall hörten sie von Genehmigungen, vielleicht waren Stolls schon im Westen. Die Harzgeroder Familie konnte auch ausreisen. Im Januar 1989 schließlich bekamen Meisters die Ausreisegenehmigung erteilt. Und wieder fragte sich das MfS besorgt, wer die Führung in der Gruppe übernehmen würde. Inge und Fred Baumgarten hatten 1987 für sich und ihre zwei Kinder einen Antrag auf Ausreise gestellt. Herr Baumgarten war ein selbstständiger Malermeister, Frau Baumgarten arbeitete im Büro einer LPG. Erst nachdem ihr Antrag nach zwei Jahren noch immer nicht genehmigt worden war, nahm das Ehepaar Baumgarten zu Beginn des Jahres 1989 an Gottesdiensten in der Bartholomäuskirche in Blankenburg teil, wo sie das Ehepaar Meister kennenlernten. Für das MfS personifizierten die Baumgartens eine besonders gefährliche »Kategorie von ASTA«, da ihre Bemühungen »mehr und mehr überregionale Maßstäbe« annahmen. Das Ehepaar Baumgarten hatte Verbindungen nach Sangerhausen, Harzgerode, Leipzig und Berlin, wo es an kirchlichen Treffen teilnahm. Die Verzweiflung derjenigen, die zu Beginn des Jahres 1989 immer noch keine Ausreisegenehmigung erteilt bekommen hatten, war groß. 58 Fred und 55 Zu dieser hatte ein Pfarrer am 11.8.1988 am Ende des Gottesdienstes im Magdeburger Dom aufgerufen. IM-Bericht »Christa Kern«; ebenda, Bl. 55. 56 Sachstandsbericht zum OV »LKW«, 10.1.1989; ebenda, Bl. 202. 57 KD Halberstadt: IKM-Bericht Christa Kern, 2.12.1988; ebenda, Bl. 160 u. 162. Sie wollen am 10.12.1988, zum Tag der Menschenrechte, nach Berlin in die Kirche fahren. 58 Vgl. das Gespräch mit dem Ehepaar Baumgarten im RdK, 21.2.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bl. 257–259.
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Inge Baumgarten fuhren am 24. April 1989 nach Berlin, um dort die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufzusuchen. Mit einem solchen Vorhaben hatten sie schon mehrfach gedroht. Warum sie am nächsten Tag wieder nach Halberstadt zurückkehrten, ist den Akten nicht zu entnehmen. 59 Im Juli 1989 reiste die Familie Baumgarten über Marienborn in die Bundesrepublik aus. Die Familie Prützmann konnte im August 1989 ausreisen, während das Ehepaar Hannemann noch am 23. Mai 1989 zu einem Jahr und fünf Monaten Freiheitsentzug verurteilt worden war. Christa Stoll wurde erst im Dezember 1989 aus der Haft entlassen. 60 Der Charakter des um den OV »Bus« von der Staatssicherheit beschriebenen Zusammenhanges von Halberstädter Antragstellern hatte sich innerhalb von drei Jahren in mehrerlei Hinsicht verändert. Die Angehörigen der »Intelligenz« prägten ihn nicht mehr, sie waren ausgereist, inhaftiert oder hatten sich aus jeder Aktivität zurückgezogen. Die Koordinations- und Führungsrolle übernahmen kleine Angestellte, Kraftfahrer, Malermeister und eine Hilfsarbeiterin; 61 unter ihnen waren letztendlich keine bekennenden Christen mehr. Es dominierten jene Antragsteller auf Ausreise, die den halböffentlichen Raum der Kirche und deren Strukturen, ungeachtet ihrer atheistischen Gesinnung, für ihr Anliegen nutzten. Die Personen, die 1989 noch immer in Halberstadt auf die Genehmigung ihres Antrages warteten, scheuten inzwischen auch keine sogenannten Demonstrativhandlungen mehr. Baumgartens und Hannemanns brachten zur Sichtbarmachung ihres Ausreisewunsches weiße Fähnchen an ihren Autos an. Über ihre Absicht, die Ständige Vertretung aufzusuchen, sprachen sie in aller Offenheit. In anderer Hinsicht veränderte sich der Charakter dieses Kreises nicht: Er war und blieb, trotz der »Zersetzungsarbeit« des MfS, bis zum Ende ein praktisch funktionierender informeller Zusammenhang, in welchem organisiert gehandelt wurde. Das MfS stellte einen hohen Grad der »Konspirierung der Verbindungen und geplanten Handlungen« fest: 62 Dies alles unterschied den Zusammenschluss von Antragstellern, der 1987 um das Ehepaar Stoll entstanden war, deutlich von jenem Kreis von Antragstellern aus den späten 59 Es folgten betriebliche »Aussprachen« und ein Prämienentzug. Telegrafische Information von KD Halberstadt, 12.4.1989; ebenda, Bl. 239–242. Vgl. auch Kapitel 7.1 in diesem Band. 60 Vgl. zu den Inhaftierungen der Antragsteller dieser Gruppe Kapitel 7.3 in diesem Band. 61 Wolfgang und Margot Hannemann kamen aus Harsleben, er arbeitete als Kraftfahrer, Frau Hannemann als Kantinenleiterin. 62 »Auslagerung belastender Materialien und Dokumente in kirchliche Einrichtungen bzw. Vernichtung derartiger Materialien – Einsatz von Kurieren für die Verbindungshaltung in überörtlicher Hinsicht. […] – weitestgehende Meidung von Telefongesprächen, die Rückschlüsse auf geplante Handlungen zulassen oder Verschleierung von Informationen in Telefongesprächen – Nutzung dritter Personen in der BRD zur Aufrechterhaltung oder Aufnahme von Verbindungen zu gegnerischen Stellen.«. Es lägen weiterhin Erkenntnisse vor, dass diese Informationsweitergabe nur mündlich erfolgte. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 154.
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1970er Jahren. Noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass er Teil eines DDRweit agierenden und immer größer werdenden Informations- und Hilfsnetzes von Antragstellern wurde. Diese Verbindungen – zunächst zur Kirche in Blankenburg und Wernigerode, dann nach Magdeburg, Leipzig und Berlin – beendeten den tendenziell privaten und individuellen Charakter der Antragstellung. Für die Mehrheit der Halberstädter hatte ihre Antragstellung trotz verwandtschaftlicher oder freundschaftlicher Kontakte in den Westen nie gänzlich aus der Vereinzelung hinausgeführt. Erst mit den überregionalen Kontakten wurden die Antragsteller aus den OV »Bus«, »LKW«, »Kantine« und »Pinsel« Teil eines halböffentlichen Netzwerkes, das sie aus der Isolation befreite.
6.2 Antragsteller im Kreis Halberstadt und ihr Verhältnis zu Kirche und Opposition 63 Seit Mitte der 1980er Jahre nutzten DDR-Bürger, die einen Antrag auf Ausreise gestellt und bisher vergeblich auf seine Genehmigung gewartet hatten, zunehmend Räume der Kirche für ihr Anliegen. 64 Sie trafen sich in kleinen Gruppen, um Informationen auszutauschen und sich gegenseitig Beistand zu leisten. Die Initiativen dazu waren von Pfarrern, kirchlichen Mitarbeitern und von Arbeitskreisen der evangelischen Kirche ausgegangen. Sie thematisierten das Recht auf Wehrdienstverweigerung, die Menschenrechte und ihre Verletzungen in der DDR. Darunter befand sich auch jenes Thema, das die Antragsteller bewegte und das sie inzwischen fast alle in ihren Antragsformularen zur Sprache brachten: Das Recht, dort leben zu können, wo man wollte, und das Unrecht, vom Staat im Land festgehalten zu werden. Seit 1987 zogen solche Treffen immer mehr Antragsteller an, es gab Gebete für ihr Anliegen, die Namen und Schicksale inhaftierter Antragsteller wurden gesammelt und öffentlich gemacht. 65 Im Sommer 1989 waren in manchen Orten der DDR die Kirchen mit Antragstellern übervoll, die im Anschluss an einen Gottesdienst aus dem halböffentlichen Raum der Kirchen über den Platz vor der Kirche zogen. Auch aus dem Kreis Halberstadt gab es nach unseren Recherchen sechs Personen, die sich an solchen Aktionen beteiligten, darunter vier besonders Mutige und Verzweifelte, die im Sommer 1989 das Risiko der öffentlichen Demonstration eingingen. Diese niedrigen Zahlen erinnern da63 Information zur Haltung der Kirche, 21.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 214–218. 64 Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, S. 499–752, sowie Kuhrt (Hg.): Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch. 65 Am 27.9.1987 hatte sich in der Umweltbibliothek in Berlin die Arbeitsgruppe »Staatsbürgerschaftsrecht« gegründet, die sich mit der rechtlichen Situation der Antragsteller befasste. Vgl. Schwabe; Eckert (Hg.): Von Deutschland Ost nach Deutschland West, S. 72
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ran, dass es insgesamt nur ein sehr kleiner Teil von Antragstellern auf Ausreise war, der überhaupt solche Möglichkeiten, die die Kirche bot, für sich nutzte. Außerhalb der großen Städte wie Berlin, Leipzig, Jena und Dresden war deren Anzahl geradezu verschwindend gering. Ein Grund mehr, ihnen einige Aufmerksamkeit zu schenken. Wie kam es aber dazu, dass Menschen, die in den Jahren zuvor, selbst wenn sie christlich erzogen wurden, nie in die Kirche gegangen waren, plötzlich solche Räume aufsuchten? Warum wurde die Kirche in der mehrheitlich säkularisierten DDR in den 1980er Jahren nicht nur für Antragsteller ein Ort der Begegnung und Sammlung? Einen entscheidenden Grund lieferte letztlich die Partei- und Staatsführung der DDR selbst, die zur Jahrzehntwende institutionelle öffentliche Räume für eine Opposition, die sich zuvor in kulturellen Einrichtungen zusammengefunden hatte, wirksam versperrte. »Die staatliche Anerkennung begrenzter kirchlicher Selbstständigkeit im Rahmen des ›Burgfriedens‹ zwischen evangelischer Amtskirche und Staat am 6. März 1978 wertete eine Institution auf, in deren Räumen sich ein Substitut für diese versperrte Öffentlichkeit zu eröffnen schien.« 66 So beschreibt Thomas Klein die Situation für Oppositionelle dieser Zeit in der DDR, die aus einer für sie nun »verriegelten Öffentlichkeit« in die partiell geschützte »Halböffentlichkeit« der Kirche flüchteten. Einige Jahre später folgten ihnen Antragsteller auf Ausreise. 67 Eine entscheidende Voraussetzung dafür, die Räume der Kirche überhaupt für Veranstaltungen nutzen zu können, bot 1980 die Novellierung eines Veranstaltungsrechts, das bis dahin Verbote und Ordnungsstrafen verhängt hatte, wenn in Kirchenräumen Filmvorführungen oder kleine Feiern durchgeführt wurden. 68 Diese Inanspruchnahme der Kirchen durch Oppositionelle, Menschenrechtsgruppen und Antragsteller brachte namentlich den führenden Vertretern der evangelischen Amtskirche erhebliche Probleme: Einerseits hatten sie sich mit dem SED-Staat arrangiert und waren bereits seit 1971, dem in Eisenach auf der Bundessynode der evangelischen Kirche angenommenen Grundsatz von der »Kirche im Sozialismus« 69 folgend, quasi die Verpflichtung eingegan-
66 Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 84. 67 Giselher Quast, damals Domprediger am Magdeburger Dom, formuliert es rückblickend so: »Zuerst kam die Friedensbewegung, dann die Punker, dann die Oppositionsgruppen und zuletzt die Ausreiser.« Ders.: Positionierung eines Zeitzeugen. In: Vaterlandslose Gesellen, S. 54. 68 Vgl. Halbrock: Kirche und Kirchen im Vorfeld sowie in den Revolutionen. Handlungsvoraussetzungen, Einübung und Praxis des Widerspruchs. In: Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989, S. 49–164, hier 162. 69 »Wir wollen Kirche sein, nicht neben, nicht gegen, sondern wir wollen Kirche im Sozialismus sein.«, zit. in: BKG an Diensteinheiten, Leiter, Magdeburg, 21.10.1988: Information zur Haltung der Kirche gegenüber Übersiedlungsersuchenden, Bl. 31–35; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 16084, Bl. 33.
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gen, sich nicht offen gegen Partei und Staat aufzulehnen. 70 Andererseits blieben sie ihrem christlichen Auftrag nach Fürsorge und Solidarität gegenüber Verfolgten und Entrechteten verpflichtet. 71 Diese sich widersprechende Interessenlage erfuhren die Betroffenen in den Städten und Gemeinden dadurch, dass Pfarrer und andere Kirchenvertreter höchst unterschiedlich auf ihre Anliegen reagierten. 72 Hier, an der Basis der DDR-Gesellschaft, wurde erkennbar, dass es sich bei der Haltung der Kirche zu den Antragstellern nicht (nur) um einen Konflikt zwischen dem SED-Staat und der Kirche handelte, sondern dass der Riss mitten durch die evangelische Kirche der DDR selbst ging. 1984 verschärfte sich die Situation durch den von der SED ausgehenden Druck auf die Kirche, sich zu den Ausreisern im Sinne des Staates zu positionieren. Die in der ganzen DDR, auch in Halberstadt, sprunghaft gestiegene Zahl der Antragsteller wurde zu einem beträchtlichen innen- wie außenpolitischen Problem für das Regime und musste daher eingedämmt werden. Die Kirchen sollten mit ihrer Haltung gegenüber den »Ausreisewilligen« ihren Beitrag dazu leisten. 73 Und tatsächlich wurde durch leitende Kirchenvertreter eine Haltung wiederbelebt, die in den Jahren vor dem Mauerbau schon einmal Kirchenpolitik gewesen war: Sie forderten zum Bleiben in der DDR auf und bezeichneten dies als Christenpflicht. Menschenrechtsfragen wurden kaum noch thematisiert, die Kirchenleitung soll sich zuweilen sogar das offizielle Argument der DDR-Propaganda zu eigen gemacht haben, dass Ausgereiste im Westen in Not geraten könnten und also besser hiergeblieben wären. 74 Besonders rigide gingen Kirchenleitungen gegen Antragsteller auf Ausreise aus den eigenen Reihen vor, die mit der Aberkennung der Ordinationsrechte faktisch mit einem Berufsverbot belegt waren, eine Maßnahme, die auch staatlicherseits gegen Antragsteller angewandt wurde. 75
70 Vgl. zum Verhältnis SED-Staat und Kirche Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 82–92. »Der Vorteil lag auf der Hand: Nicht die Staatsmacht (insbesondere der Geheimdienst oder das SfK), sondern die Kirche selbst als ›Gastgeber‹ dieser Kreise erschien öffentlich als deren ›Disziplinator‹. Diese Linie verfolgte das SfK mittels Indienstnahme ›realistischer amtskirchlicher Kräfte‹, die Spannungen zwischen Staat und Kirche infolge von Aktivitäten der Friedenskreise zu verhindern interessiert waren.« Ebenda, S. 35 f. 71 Hartweg; Dohle: SED und Kirche; Vollnhals (Hg.): Die Kirchenpolitik von SED und Staatssicherheit; Besier; Wolf: »Pfarrer, Christen und Katholiken«. 72 Vgl. Mau: Eingebunden in den Realsozialismus?; Pollack: Kirche in der Organisationsgesellschaft. 73 Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, S. 528. 74 Vgl. Eisenfeld: Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung. In: Seeck (Hg.): Das Begehren, anders zu sein, S. 68–81. 75 Ich zitiere hier indirekt Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR, S. 528. Vor 1961 wäre für die Kirche das »trotzige Bleiben aus ethischen und religiösen Gründen […] normierend« gewesen. Ebenda, S. 134 f.
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Ließ sich der Umgang mit den ausreisewilligen Pfarrern und kirchlichen Mitarbeitern noch mit der Verletzung einer »theologisch gebotenen Treuepflicht« begründen, kam die Kritik am Ausreisebegehren der übrigen Antragsteller einer Diskriminierung gleich. Die evangelische Amtskirche kann sich bezüglich des Umgangs mit Antragstellern auf Ausreise mehrheitlich kein Ruhmesblatt an die Brust heften. 76 Dass die evangelische Kirchenleitung in der DDR kein Hort des Widerstandes war, blieb wohl keinem DDR-Bürger verborgen. Welches Ausmaß jedoch die Interventionen des Staates in die Kirchen hinein hatten und wie groß die Einflussnahme der Staatssicherheit auf die Landeskirchenleitungen war, erfuhren selbst die in den Kirchengemeinden und den oppositionellen Gruppen Aktiven erst nach 1989. 77 Für die Antragsteller in den Städten und Kreisen der DDR aber war letztlich der Umstand folgenreicher, dass sich kirchliche Mitarbeiter, ganze Gemeinden und Pfarrer über diese Order hinwegsetzten. 78 Sie duldeten kirchliche Arbeitskreise unter ihrem Dach oder organisierten selbst Zusammenkünfte von Antragstellern und für Antragsteller ihrer Gemeinde. Eine politische und moralische Legitimation für ihr aufmüpfiges Tun fanden sie in der Argumentation, dass damit das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben zur Geltung gebracht werde. Einige Kirchen gaben Antragstellern, die mit einem Berufsverbot belegt worden waren, die Möglichkeit, eine Tätigkeit in der Gemeinde aufzunehmen. 79 Natürlich konnte es sich dabei nur um eine geringe Anzahl von Personen handeln, da die Kapazitäten beschränkt waren. Zudem war die Distanz der meisten Antragsteller zur Kirche derart groß, dass diese Option für sie nicht unbedingt auf der Hand lag. Im Kreis Halberstadt haben mindestens drei Personen auf dieses Angebot zurückgegriffen, sie bekamen als Hausmeister bzw. Gärtner einige Monate in der Gemeinde eine Anstellung. 80
76 Vgl. »Die kirchliche Menschenrechtsdiskussion« sowie »Offizielle Stellungnahmen der Kirche zur Ausreisefrage«. In: Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zuviel Wermut, S. 15–28. 77 Vgl. Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«. Als mit den sich nun ausdehnenden Gruppenaktivitäten auch über das »kirchliche Ghetto« hinaus und wegen ihrer zunehmenden Vernetzung 1987/1988 die Parteiführung den Wandel von der »kooperativen Intervention« zur »administrativen Penetration« der Amtskirche anordnete, verlor die damit beauflagte Einrichtung des SfK diese Interventionspotentiale in dem Maße, wie es sich diesem Strategiewechsel unterordnete. Die unter Staatssekretär Gysi bis 1987 entwickelte konzeptionell geschlossene, flexible und gegenüber den evangelischen Landeskirchen weitgehend erfolgreiche Integrationsstrategie geriet 1988 in Widerspruch zu der nun vom Politbüro verordneten Weisung zum Umstieg auf primär administrative Einflussnahme der Dienststelle des SfK auf die Landeskirchen. Ebenda, S. 36. 78 Vgl. zu diesem Gedanken auch Halbrock: Kirche und Kirchen im Vorfeld sowie in den Revolutionen. Handlungsvoraussetzungen, Einübung und Praxis des Widerspruchs. In: Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989, S. 149–164, hier 156. 79 Vgl. Neubert: Geschichte der Opposition, S. 338–341. 80 Nur diese Angaben ließen sich in den Akten finden, möglicherweise waren es noch einige mehr.
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So gering die Zahl der derart von der Kirche geschützten Antragsteller auch war, diese Hilfestellung wurde von den »Nichtantragstellern« sehr genau registriert und sprach sich schnell in der Stadt rum; namentlich dann, wenn, wie im Falle der Familie Großmann, seit Jahrzehnten keine Beziehungen zur Kirche mehr bestanden hatten. Günter Großmann trat schon mit 18 Jahren aus der Kirche aus. Wie für die meisten Halberstädter spielte für ihn weder Kirche noch der christliche Glauben nach 1945 eine Rolle in seinem Leben. Bis zur Antragstellung! Da fand Günter Großmann sich »bei den Pastoren« wieder. 81 Als ehemaliges SED-Mitglied und Meister im RAW wurde er seines Postens enthoben und mit Berufsverbot belegt. Das Ehepaar schlug sich mit dem Verkauf von Küken und Obst durch, einiges Erspartes hatte es für diesen Fall auf dem Konto. Großmanns mussten vier Jahre auf eine Genehmigung warten. Im zweiten Jahr bot Superintendent Schreiner Herrn Großmann an, in der Gemeinde einige Arbeiten zu verrichten. Bis dahin hatten Großmanns keinerlei Kontakte zur Kirche gehabt, für Günter Großmann war das ein einschneidendes Erlebnis. »Ich wurde nachher schon Bruder [Großmann] genannt, weil ich im ganzen Kirchenkreis Halberstadt in den vier Jahren handwerkliche Tätigkeiten zu zweit mit dem Handwerker des Kirchenkreises gemacht habe. Ich habe ohne Arbeitsvertrag schwarz gearbeitet […] Da habe ich diese Herren Pastoren alle persönlich kennengelernt und bei denen Mittag gegessen. Das ist auch eine Erfahrung, die wir nicht missen möchten, weil man die Menschlichkeit der Leute auch in dieser Frage kennenlernte, zwischen Männlein und Weiblein unterscheiden lernt. Wer ist Freund? Wer ist Feind?« 82
Ein anderer Antragsteller machte eine vergleichbare Erfahrung. Beide hatten keinerlei Kontakte zu anderen Antragstellern, auch nicht, als sie in der Gemeinde arbeiteten. Die Tätigkeit in der Kirche hob ihre Vereinzelung im Prinzip nicht auf, bot aber einige finanzielle und moralische Unterstützung. Die evangelische Kirche im Kreis Halberstadt sollte als Ort von kirchlicher oder außerkirchlicher Opposition bis 1989 keine Rolle spielen. Die zuständige Leiterin für Kirchenfragen im Rat des Kreises bescheinigte ihr noch bis in den September hinein ein »staatsloyales Verhalten« und konnte keinerlei staatsfeindliche Aktivitäten im Rahmen von kirchlichen Veranstaltungen registrieren. 83 Erst im Oktober 1989 begann sich auch hier wöchentlich ein kritisches Potenzial zu sammeln und »Friedensgebete für unser Land« abzuhalten. Bis dahin fuhren jene sechs Antragsteller, die den Kontakt zur Kirche suchten, in die Bartholomäuskirche nach Blankenburg, nach Westerhausen oder nach Wernigerode in die Liebfrauenkirche. Im Spätsommer 1989 bot der Dom in
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Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 20. Ehepaar Großmann, Interview, 20.1.2010, Transkript, S. 38 f. Vgl. IM »Elina Otte«; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 50, Teil 1, Bl. 1–9.
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Magdeburg für Antragsteller einen Anlaufpunkt, ob darunter auch Halberstädter Antragsteller waren, geht aus den Akten nicht hervor. 84 Wie solidarisch hier die Antragsteller aufgenommen wurden, lässt sich im Nachhinein schwer einschätzen. Folgt man der Erinnerung des damaligen Dompredigers am Magdeburger Dom, Giselher Quast, waren die Antragsteller weniger gern gesehen als die bereits dort agierenden kirchlichen Oppositionsgruppen. Es hätte sehr missfallen, dass erstere »nur aus materiellen Gründen die DDR verlassen wollten«, was angesichts der großen Autos, die auf dem Domplatz parkten, nicht zur Solidarität mit den Antragstellern ermuntert hätte. 85 Giselher Quast folgt hier einer verbreiteten Argumentation, die Legitimität einer Antragstellung auf Ausreise aus der DDR davon abhängig zu machen, ob ein politisch konnotiertes oder nur ein materielles Interesse den Antragsteller bewegte. Um die Motive der Antragsteller zu begreifen, ist dieser Streit jedoch – wie bereits an anderer Stelle des Buches ausgeführt – unproduktiv und wenig erhellend. 86 Die Staatssicherheit im Bezirk Magdeburg hat diese Haltung mit Genugtuung registriert. Sie bemerkte, dass sich die Gottesdienste wieder auf christliche Botschaften konzentrierten, was dazu geführt haben soll, dass kaum noch Antragsteller sie besuchten. Tatsächlich hatten sich die Ausreiser nun außerhalb der Kirche zu Friedensgebeten am Barlach-Mahnmal am Magdeburger Dom versammelt – angesichts der auf 100 bis 200 »Ausreisewillige« angewachsenen Zahl besorgniserregend für das MfS. Im Kreisgebiet selbst gab es nach unseren Recherchen lediglich ein Angebot für das Anliegen von Antragstellern. Es kam aus der Gemeinde Huy-Neinstedt, wo ein Pfarrer Mitinitiator einer Rechtsberatungsgruppe für Antragsteller wurde. Auf dieses Beispiel zivilcouragierten Verhaltens des Pfarrers aus der Gemeinde Huy-Neinstedt werden wir noch näher eingehen. Für das MfS waren die Differenzen bzw. konträren Haltungen zwischen der Landeskirche und einigen Gemeindepfarrern von außerordentlichem Interesse. Am Ende der 1980er Jahre gab die Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS in Magdeburg regelmäßig »Informationen zur Haltung der Kirche gegenüber Übersiedlungsersuchenden« 87 an die Kreisdienststellen heraus, die wiederum 84 Vgl. Kapitel 8 in diesem Band. 85 Quast: Positionierung eines Zeitzeugen. In: Vaterlandslose Gesellen, S. 57. 86 Giselher Quast zieht aus seiner Beobachtung den Schluss, dass »die Menschen, die am Dom standen … zur Mittel- und Oberschicht« gehörten, ein Eindruck, der nicht auf die gesamte Gruppe der Antragsteller übertragen werden kann, da die Untersuchungen aus einem Kreisgebiet des Bezirkes Magdeburg den eindeutigen Befund aufweisen, dass sich vor allem Arbeiter und kleine Angestellte unter den Antragstellern befanden. Akademiker, Ärzte, Diplomingenieure, denen es »in der DDR schon besser als anderen« ging, waren dagegen wenige vertreten. 87 BV Magdeburg, BKG an Diensteinheiten: Information zur Haltung der Kirche gegenüber Übersiedlungsersuchenden, 21.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 16084, Bl. 31–35, hier 31.
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ihre offiziellen und inoffiziellen Mitarbeiter auf diese Weise mit guten Argumenten ausstatten sollten, die Antragsteller von derartigen Aktionen abzuhalten und einen Keil zwischen die Vertreter der divergierenden Positionen zu schlagen. Es ging der Staatssicherheit vor allem darum, ablehnende »Haltungen und Reaktionen kirchenleitender Kräfte der DDR gegenüber Versuchen des Missbrauchs kirchlicher Veranstaltungen und Räumlichkeiten durch Übersiedlungsersuchende« zu dokumentieren, um sie »zur Verunsicherung und Zersetzung derartiger Gruppierungen« zu nutzen. 88 Im Oktober 1988 beispielsweise zitierte die Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS indirekt und direkt den Generalsuperintendenten von Berlin, Krusche, den Vorsitzenden des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Landesbischof Leich, den Superintendenten von Zittau, Mendt, den katholischen Bischof Wanke, den Erfurter Probst Falcke sowie den Konsistorialpräsidenten der evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg, Stolpe, die sich in der einen oder anderen Form gegen jene wendeten, die »kirchliche Veranstaltungen in Ausbürgerungskundgebungen umfunktionieren«. Die Vertreter der katholischen Kirche seien noch weiter gegangen und hätten die Antragstellung als verantwortungslos bezeichnet, da diese Menschen »aus rein materiellen Gründen den Weg in ein anderes Land suchen« 89 würden. Die kurzzeitig im Frühjahr 1989 donnerstags stattfindenden Treffen von Antragstellern auf Ausreise in der Wernigeroder Liebfrauenkirche waren von solchen Haltungen kirchenleitender Funktionäre überschattet. Die Staatssicherheit kolportierte: »Der neue Superintendent der evangelischen Kirche, Schäfer, bezieht eine ablehnende Haltung gegenüber solchen Gruppierungen und bekundet dieses auch gegenüber zuständigen Staatsorganen.« 90 In der Wernigeroder Kirchengemeinde waren im Sommer 1988 Vorbereitungen zur Gründung einer Arbeitsgruppe »Rechtsverwirklichung« getroffen worden, die sich vorrangig mit der juristischen und menschenrechtlichen Unterstützung von Antragstellern befassen sollte. Initiator war der Pfarrer aus Huy-Neinstedt, der bereits seit 1986 in Berlin zu den Gründungsmitgliedern einer »Solidarischen Kirche« gehörte. 91 Sie tagte im Luthersaal der Gemeinde. Die Haltung des Superintendenten bot eine gute Voraussetzung dafür, diese Aktivität zu unterbinden. Zudem hatte die Staatssicherheit in der Person des alten Pfarrers der Liebfrauenkirche in Wernigerode einen ängstlichen »Verbündeten«.
88 Ebenda. 89 Ebenda, Bl. 33 f. 90 BV Magdeburg, Vermerk der BKG, 19.9.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 16084, Bl. 61–64, hier 62. Es waren 30 Personen anwesend. 91 KD Halberstadt: Solidarische Kirche in der DDR, Berlin-Karlshorst, 7.10.1986 (Abschrift, 20.4.1989); BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88), Bd. 2 Bl. 318–320.
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Ausreise per Antrag
Im Mai 1988 versammelten sich circa 80 Personen in den Gemeinderäumen. Sie kamen aus Wernigerode, Berlin, Halle-Neustadt, Blankenburg und aus Halberstadt. Offensichtlich war geplant, eine Art Regionalgruppe zu gründen, einen Diskussionskreis für »Ausreisewillige«, in dem auch Informationen darüber ausgetauscht werden konnten, wie man sich in der Zeit der Antragstellung verhalten sollte. Ein IM berichtete darüber, dass vorgeschlagen wurde, in allen Kirchenkreisen solche Arbeitsgruppen zu bilden, die sich anschließend vernetzen sollten, was die Kontrolle der Staatssicherheit erschweren würde. Sie sollten »AG Rechtsdurchsetzung oder AK für Rechtsdurchsetzung Ausreisewilliger« heißen. Dann informierte der IM ausführlich über die verschiedenen Haltungen, die die Anwesenden, namentlich die beiden Pfarrer aus Wernigerode und aus Blankenburg, gegenüber diesem Vorschlag einnahmen. Der Wernigeroder Pfarrer betonte gleich eingangs, dass er als Kirchenvertreter die Aufgabe hätte, jede Form von Aggressivität und unbedachtem Verhalten zu unterbinden. Man müsste den »Staatsorganen gegenüber stets freundlich, nett, ohne Impulsivität« auftreten. »Die Kirche will sich nicht in die Nesseln setzen«, resümierte der Spitzel dieses Statement. Als ein Antragsteller aus Blankenburg von einer kurzen Inhaftierung und von Verhören berichtete, hätte der Pfarrer aus Wernigerode dies gleich mit den Worten abgewürgt: »So etwas beabsichtige er nicht, dass jeder sich hier ausschütten kann und seine Erfahrungen so offen preisgibt.« In die Öffentlichkeit zu gehen und »stumme Demonstrationen« zu veranstalten lehnte er ebenfalls ab, auch hätte er wiederholt betont, »dass die Kirche die seelsorgerische Funktion hat und sich nicht für einen staatsfeindlichen Kurs vor den Karren spannen lassen will«. Der Mann, so schloss der IM diesen Teil seines Berichtes, »hat mir sehr gut gefallen!« 92 Im Unterschied zu jenem sehr ängstlichen Pfarrer aus Wernigerode, der zwar ein Treffen von Antragstellern zuließ, jedoch darauf bedacht war, ihm den Charakter einer staatsfeindlichen Aktion zu nehmen, ging das Pfarrersehepaar Minkner aus Blankenburg einige Schritte weiter. Es riet zwar auch dazu, nicht aggressiv aufzutreten, verstand seine Rolle jedoch nicht nur als seelsorgerische, sondern unterstützte die zu ihnen kommenden Antragsteller tatkräftig. In dem oben zitierten IM-Bericht wurde diese Differenz zwischen Pfarrer Minkner und seinem Kollegen aus Wernigerode deutlich. Und in einem von der Staatssicherheit abgehörten Telefongespräch beklagte sich eine Berliner Pfarrerin darüber, dass die Antragsteller, die zu ihnen in die Teestunde kämen, »nur so (christlich) tun« würden, »aber in Wirklichkeit sehen die nur zu, irgendwo zu demonstrieren«. 93 Ihre Gesprächspartnerin, Pfarrersfrau Sunhild Minkner aus Blankenburg, schloss sich dieser Meinung nicht an. Die Pfarrerin 92 BV Magdeburg, BKG: Information, 8.6.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 158–160, hier 158 f. 93 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 321–323.
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aus Berlin wiederholte noch einige Male ihre Vorbehalte, Frau Minkner wandte aber ein, dass »ihre« Leute doch sehr friedlich seien und dennoch seit drei Wochen in Untersuchungshaft säßen. Das bekäme hier in den kleinen Orten keiner so mit, in Berlin sei das anders. 94 Darum wolle sie »ihre« Leute – das war unter anderem das im OV »Bus« erfasste Ehepaar Stoll – in dieser schweren Situation tatkräftig unterstützen. Pfarrer Minkner und seine Frau waren von der Staatssicherheit gut bewachte Leute. Die Treffen in ihren Gemeinderäumen, bei denen nicht nur moralische Unterstützung für Antragsteller gegeben wurde, sondern Diskussionen über die politische Lage in der DDR stattfanden, erregten auch den Unwillen der Landeskirche und des Rates des Kreises Blankenburg. Der Landesbischof Christoph Demke drängte sie in »brüderlichen Gesprächen«, mit »der Sache aufzuhören«. Staatliche Vertreter empfahlen ihnen ebenfalls solche Aktivitäten zu unterlassen. 95 Die Gemeindeschwester Christa Stoll hatten wir bereits als Initiatorin der einzigen in Halberstadt existierenden Gruppe von Antragstellern, die in kirchlichen Strukturen und überregional agierte, vorgestellt. Über die Kirche in Blankenburg, und nicht zuletzt über die dortige Pfarrersfrau, Sunhild Minkner, war diese Vernetzung der Halberstädter Gruppe nach Leipzig und Berlin erfolgt. 96 Sunhild Minkner war es auch, die sich nach der Inhaftierung der Stolls um deren Töchter kümmerte und zu diesem Zweck ein ganzes Netzwerk in Bewegung setzte, um die Versorgung und Unterbringung der Kinder zu gewährleisten. Sunhild Minkner verkörpert eben jenen Teil der evangelischen Kirchengemeinde, der sich nicht der Staatsräson unterordnete. Da wir aus den Akten wissen, wie sie sich vor 1989 den Antragstellern aus der Region gegenüber verhalten hat, gibt es keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung aus dem Jahr 2002, aus der ein längerer Abschnitt zitiert wird. In einer Rede anlässlich des 90. Geburtstages von Landesbischof Gerhard Heinze beschreibt sie, die in der Gemeinde in Blankenburg für die Jugendarbeit zuständig gewesen war, die späten 1980er Jahre in der DDR: »Wir intensivierten noch unsere Jugendarbeit, zumal in den letzten Jahren vor der Wende auch solche zu uns stießen, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten. Für sie 94 BV Magdeburg, Abt. 26/4, an KD Wernigerode u. Halberstadt, Information A 831/88, 18.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 321–323. Vgl. zur Einschätzung von Sunhild Minkner durch die Stasi: BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 521 f. 95 Telefongespräch mit Sunhild Minkner, 29.7.2013. 96 Sie hat Kontakte zu Axel Holicki in Leipzig und zu Dr. Hans-Jürgen Fischbeck, Karl-Heinz Bonnke, Dr. Martin Böttcher, Almuth Berger in Berlin; BV Magdeburg, Abt. 26/4, an KD Wernigerode u. Halberstadt, Information A 831/88, 18.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 321–323.
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Ausreise per Antrag
bedeutete der stundenweise Aufenthalt in unserem Pfarrhaus viel, er gab ihnen Geborgenheit und die Chance des Erfahrungsaustausches. Es kam zu intensiven Diskussionen mit denen, die einfach fortwollten, aus welchen Gründen auch immer. Es war bekannt, dass ich dableiben würde, jedoch dafür war, dass das Recht auf Freizügigkeit erzwungen werden müsste. Es gab andere, die in der DDR etwas ändern zu können glaubten. Für beide Strömungen gab es genug Argumente, der politische Zwang wurde als äußerst belastend empfunden, vor allem die vielfältige Unfreiheit. Man fing an aufzumucken und formierte sich mit der Forderung auf Freizügigkeit. […] Kirche war der einzige Ort, wo frei geredet werden konnte. Die Leute überwanden ihre Vereinzelung und trafen sich bei uns. Als der 1. Mai 1989 auf einen Sonntag fiel und die Ausreiseantragsteller scharenweise in den Gottesdienst kamen, um sich im Anschluss daran in kleineren thematischen Gruppen im Gotteshaus zum Erfahrungsaustausch zu treffen, fuhren zwei Streifenwagen der Deutschen Volkspolizei nahe heran an die Bartholomäuskirche und postierten sich unübersehbar am Haupteingang. Das hatte den Zweck der Einschüchterung. Denn man befürchtete, die ›Ausreisewilligen‹ könnten zur Hauptstraße ziehen, um die Maidemonstration dort zu stören. Das war aber nicht geplant. Die Gruppen blieben stets friedlich, trotzdem wurden vernünftige besonnene Erwachsene in diesen Monaten ohne ersichtlichen Grund eingesperrt, in einigen Beispielen von der Autobahn weg, und offene Prozesse führte man nicht, verhängte hohe Strafen, zum Beispiel für briefliche Kontaktaufnahme zu Behörden im Westen und der EU. Wenn jemand sich auf bestehende Menschenrechtskonventionen und Gesetze in den Schreiben berief, dann war das schon Grund genug zur Vorladung und mehrfach zur Verhaftung und Verurteilung, ohne Öffentlichkeit. Willkür auf staatlicher Seite wuchs sichtlich. Ich habe dann auch Ausreiseantragsteller im Gefängnis besucht. In der Strafanstalt in Halle einen Mann und in Leipzig eine Frau, mehrmals, eine Mutter von unmündigen Töchtern, eine Krankenschwester von Beruf. Sie arbeitet jetzt ihre Geschichte auf, zusammen mit ehemaligen Bürgerrechtlern. Für meine Besuche gaben mir die anderen Grüße mit. Die betroffenen Inhaftierten waren für meine Besuche sehr dankbar. Sie wussten zu schätzen, dass Menschen zu ihnen hielten. Auch blieben sie weiterhin in Kontakt mit mir, als sie endlich nach einem Jahr unschuldiger Haft frei wurden, Ende 1989, wo schlagartig dieses Problem gelöst war.«97
Neben dem Schutzraum, den die Blankenburger Bartholomäusgemeinde bot, und dem etwas schwankenden Pflaster in der Kirchengemeinde der Wernigeroder Liebfrauenkirche, gab es noch das Angebot, das der Pfarrer Herbert Schneider aus der Gemeinde Huy-Neinstedt machte.98 Obwohl näher an den Wohnsitzen der acht Antragsteller gelegen, die die Treffen in den Kirchen in Blankenburg und Wernigerode besuchten, nahm diese Möglichkeit in HuyNeinstedt jedoch einzig und sehr kurzzeitig das Ehepaar Baumgarten wahr.99 Herbert Schneider hatte 1965 einen Fluchtversuch aus der DDR unternommen, für den er eine Freiheitsstrafe verbüßen musste. Anschließend stu97 98 99
http://bs.cyty.com/kirche-von-unten/archiv/FS90Heintze/, Stand: 18.11.2002. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88). Ebenda.
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dierte der gelernte Bergmann Theologie. Das MfS observierte ihn jahrelang, legte die Akte »Prediger« an, die es jedoch 1980 schloss, weil kein Nachweis einer strafbaren Handlung gemäß § 106 – sogenannte staatsfeindliche Hetze – erbracht werden konnte. Unter Beobachtung stand Herbert Schneider jedoch weiterhin, bis 1988 ein neuer Operativer Vorgang gegen ihn und seine Frau eröffnet wurde. In Hoyerswerda, wo er jahrelang tätig war, wurde seine Gemeindejugendarbeit von der dortigen Kreisdienststelle des MfS misstrauisch beobachtet: Er diskutierte mit den Jugendlichen über Nicaragua, über die Situation in Polen 1980, über den Friedensdienst, darüber, ob man einen Antrag auf Ausreise stellen sollte oder nicht. Das MfS erfuhr über Spitzel, dass er eine Opposition schaffen wollte, ein Gegengewicht zur FDJ, seine Utopie sei es, »einen Kommunismus mit Gott« zu verwirklichen. Herbert Schneider war Mitinitiator der »Solidarischen Kirche«, einer seit 1986 agierenden DDRweiten Vernetzung von innerkirchlichen Gruppen, die sich als Opposition zur Amtskirche verstanden. Ihre Kritik bezog sich nicht nur auf deren verkrustete und autoritär-frauenfeindliche Strukturen, vor allem »wurde der Amtskirche ihr beflissenes, auf Ausgleich mit dem Staat bedachtes Agieren zugunsten der Sicherung des erreichten Status quo« vorgehalten. Die auf der ersten Vollversammlung des »Arbeitskreises Solidarische Kirche« (AKSK) am 7. Oktober 1986 verabschiedete Basiserklärung formulierte diese Kritik und gleichzeitig die Entschlossenheit, »partnerschaftliche Kommunikation und alternative Lebenskultur zu pflegen sowie sich in der Gesellschaft für Emanzipation, Demokratisierung und Menschenrechte einzusetzen«. 100 Herbert Schneider und seine Frau standen als Mitglieder dieses Netzwerkes im Rahmen des Zentralen Operativen Vorgangs »Widerstand« unter Kontrolle der DDR-Geheimpolizei. Seit 1988 bot Herbert Schneider Antragstellern aus den umliegenden Gemeinden einen Treffpunkt in Huy-Neinstedt an, damit sie sich verständigen, informieren und gegenseitig stützen könnten. Er lehnte eine Ausreise für sich selbst ab, betreute aber im Arbeitskreis »Solidarische Kirche« auch Antragsteller. Unter ihnen war eine Familie aus Halberstadt (OV »Pinsel«), die anderen »ASTA« kamen aus Gemeinden der Kreise Blankenburg oder Wernigerode. 101 Anders als in Wernigerode beschränkte sich Schneiders Arbeit nicht auf solidarische Betreuung, er versuchte, das Phänomen »Antragstellung« zu einem gesellschaftlichen Vorgang zu machen. »Zur Diskreditierung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR«, berichtet die Kreisdienststelle Halberstadt des 100 Vgl. ausführlich dazu das Kapitel: Der Arbeitskreis Solidarische Kirche, in Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 283–285, sowie Basiserklärung des AK Solidarische Kirche, 7.10.1986; BArch DO 4/1385. 101 KD Wernigerode an KD Halberstadt: Ergänzung zu Aktenvermerk hinsichtlich einer Zusammenkunft von Übersiedlungsersuchenden am 6.12.1988 in Blankenburg, 9.12.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88), Bd. 4, Bl. 217 f.
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Ausreise per Antrag
MfS, »sammelt der [Schneider] Informationen zu folgenden Sachverhalten: Gründe für die Antragstellung auf ständige Ausreise – Arbeitsweise der staatlichen Organe mit den ASTA – Maßnahmen der ASTA zur Durchsetzung der Antragstellung.« 102 Das MfS nennt ihn in einem Zuge mit der »Unterstützung von ASTA in der Konzentration Bartholomäuskirche Blankenburg«, obwohl sich sein Angebot von dem, das der Pfarrer in Blankenburg den Antragstellern machte, noch einmal unterschied. Herbert Schneider organisierte nicht nur deren Kommunikation und solidarische Vernetzung, er drängte auf ihre politische Wirkung in die Gesellschaft hinein. Um seine spätere Aktivität in einer anderen Sache zu diskreditieren, verwies die Staatssicherheit auf Pfarrer Schneiders bereits zurückliegende Arbeit mit den Antragstellern, die ihr besonders gefährlich erschien: »Im Vorfeld der Kommunalwahlen hat er zum Beispiel Einfluss auf die im Kreis Halberstadt existierenden ›Zusammenschlüsse‹ von Antragstellern auf ständige Ausreise (ASTA) genommen, bei den Wahlen am 7. Mai 1989 Nein-Stimmen zu provozieren bzw. Öffentlichkeitswirksam ihre ablehnende Haltung beim Wahlakt und der Stimmenauszählung zu dokumentieren.« 103 Ein Teil auch der Halberstädter »hartnäckigen Antragsteller« hatte sich bereits dem Wahlprozedere verweigert. Jetzt aber wäre dieselbe Handlung keine private Aktion der Zivilcourage gewesen, sondern im Rahmen einer durch die Opposition der DDR organisierten öffentlichen Wahlkontrolle ein brisanter politischer Akt. Inwieweit Pfarrer Schneiders Aufruf in Halberstadt tatsächlich zu einer öffentlichen Aktion führte und sich Antragsteller dem anschlossen, wird aus den eingesehenen Akten nicht ersichtlich. Die Aktion der DDR-Opposition, die Wahlen am 7. Mai 1989 zu kontrollieren, namentlich die ungültigen Stimmen zu zählen, um die Regierung der Wahlfälschung zu überführen, wurde in jeder Hinsicht ein politischer Erfolg der Opposition. 104 Das Besondere an der Person Herbert Schneider war, dass er sich mit seinen Aktionen sowohl gegen den Staat als auch gegen die Amtskirche stellte, und
102 KD Halberstadt, Bericht zum OV »Huy«, 16.9.1989; ebenda, Bd. 2, Bl. 113. 103 Bericht über den Versuch oppositioneller Kräfte des Bezirkes, im Objekt Schloss Rödersdorf/Kreis Halberstadt ein so genanntes Begegnungszentrum für Kunst und Kulturschaffende einzurichten, 4.9.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88), Bd. 4, Bl. 108. 104 In den Jahren 1988/1989 beginnt Herbert Schneider noch ein weiteres Projekt: Er will ein Kultur- und Begegnungszentrum im Schloss Rödersdorf aufbauen – für Kunst und Kulturschaffende, die gegenüber der DDR eine kritische Haltung einnehmen, wie das MfS in Erfahrung gebracht hat. Dieses Projekt wird sogar zum Ärger des MfS vom Rat des Kreises Halberstadt, Abteilung Kultur, unterstützt. Es gibt eine personelle Verbindung in den Kreis Halberstadt zu einem »Musiker« und einem Kunsthandwerker, letzterer spielte in den Umbruchzeiten 1989/90 eine entscheidende Rolle in der Stadt; Tonbandabschrift, 13.4.1989, Quelle: IMB »Rolf Härtel«, BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88), Bd. 2, Bl. 314–317.
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dies erklärtermaßen und damit unmissverständlich. 105 In seiner Haltung gegenüber den Antragstellern folgte er demselben Grundsatz. Er trat nicht als Kritiker ihres Begehrens auf, sondern »politisierte« mit seinen Vorschlägen deren Aktionen. Anders als die offizielle kirchliche und staatliche Propaganda, die zum Hierbleiben aufforderte, hätten seine Aufrufe, in der DDR zu bleiben, tatsächlich für die unzufriedenen Bürger einen Sinn gemacht. Amtskirche und Staat forderten zum Dableiben und Stillhalten auf, Pfarrer Schneider personifizierte die Option, in der Kirche und in der Gesellschaft eine Opposition aufzubauen. Die kirchenoffiziellen »Appelle zur Beheimatung in der DDR« mussten den Antragstellern dagegen wie eine Verhöhnung erscheinen, sie sollten dahin zurück, woher sie gerade aufgebrochen waren: Stillhalten, Anpassen und Abwarten. 106 Obwohl Pfarrer Schneider eine gegenteilige Haltung anmahnte, blieb seine Wirkung auf die Halberstädter Antragsteller marginal. Das verwundert nicht, denn die Mehrheit der DDR-Bürger wie die Mehrheit der Antragsteller lehnte es ab, ein solches Risiko einzugehen. Zudem war die Kirche nicht ihr Zuhause. Im geschilderten Fall kommt hinzu, dass kaum ein Antragsteller im Kreis Halberstadt von Pfarrer Schneiders Anliegen wusste und sich so überhaupt erst in Beziehung zu seiner Haltung hätte setzen können. Und nicht zuletzt war ihre Antragstellung Ausdruck dafür, dass sie resigniert und keinerlei Hoffnungen auf Veränderungen in und für die DDR hatten. Dagegen wäre die Hoffnung auf gesellschaftliche Entwicklungen eine notwendige Voraussetzung dafür gewesen, sich zu engagieren, in welcher Form auch immer. Dieser Gedanke scheint ein geeigneter Zugang zu einem Konflikt zu sein, der am Ende der 1980er Jahre zwischen kirchlichen und außerkirchlichen Oppositionsgruppen und jenem Teil der Antragsteller auf Ausreise aufbrach, der die Kirchen zunehmend für sein Anliegen nutzte. Sie strömten in die Gottesdienste, in denen das Recht auf Ausreise thematisiert wurde. Und wenn die Antragstellung nicht Gegenstand der Gebete und Reden war, versuchten einige unter ihnen lautstark auf sich und ihre Situation aufmerksam zu machen. Die Kritik an diesem Verhalten kam naturgemäß zunächst von kirchlichen Amtsträgern, die ihre christliche Veranstaltung durch in der Tat kaum diesem Glauben verpflichtete Antragsteller missbraucht sahen. Die Kritik kam aber auch von Gruppen, die seit einigen Jahren unter dem Dach der Kirche aktiv waren und sich kritisch mit dem Zustand der DDR auseinandergesetzt hatten. 105 Schneiders Vorhaben, eine Dozentur am Katechetischen Oberseminar Naumburg anzutreten, wird nach einem Gespräch mit dem Bischof abgelehnt. Man habe ihn darauf hingewiesen, »dass mit seiner Haltung, seiner Vergangenheit, aber auch mit seiner theologischen Grundeinstellung eine Dozentur in Naumburg für ihn nicht infrage kommt«; ebenda, Bl. 312. 106 Neubert: Geschichte der Opposition, S. 530: Die »Appelle zur Beheimatung in der DDR waren nicht tragfähig«.
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Unter diesen war auch eine Reihe von Atheisten; was ihnen ebenfalls den Missbrauchsvorwurf durch einige Kirchenleitungen einbrachte. Hinter solchen Zurückweisungen kirchenferner Personen und Gruppen stand die Sorge der Amtskirche, den »Burgfrieden« mit dem Regime aufgekündigt zu bekommen. Insofern kann man mit Bernd Eisenfeld zu Recht die Frage aufwerfen, ob der Kritik an dem Ausreisebegehren durch die Kirche nicht eher taktische Erwägungen zugrunde lagen oder ob sie nicht vielleicht sogar »Ausdruck verinnerlichter Gemeinsamkeiten mit dem Menschenrechts- und Friedensverständnis der SED gewesen« war. 107 Ähnlich scheinheilig musste die Trauer der Kirche wahrgenommen werden, die sich angesichts der Antragstellerzahlen darüber sorgte, dass ihre Gemeinden immer kleiner wurden. In der Realität der 1980er Jahre hatte ein verschwindend kleiner Teil der Antragsteller einer kirchlichen Gemeinde angehört. Es waren also keine »verlorenen Schafe«, um die sich die Kirche hier sorgte und denen sie vorwarf, die christliche Gemeinschaft mit ihrem Weggang zu dezimieren. 108 Der Grund von Mitgliedern einiger oppositioneller kirchlicher und außerkirchlicher Gruppen, das Anliegen der Antragsteller auf Ausreise als eher egoistisches, eigennütziges Bestreben zu charakterisieren, war ein gänzlich anderer. Deren Aktivitäten richteten sich auf Veränderungen in der DDR, die Antragsteller dagegen trieb nur ein Ziel: Sie wollten die Genehmigung für ihre Ausreise beschleunigen. Das waren nun tatsächlich sich ausschließende Optionen. Die Wortwahl der oppositionellen Aktivisten ähnelte manchmal jedoch allzu sehr derjenigen, die die Amtskirche getroffen hatte, zu Teilen auch der der Staatsmacht, was nicht dazu beitrug, die Unterschiede zwischen ihnen klar erkennen zu können. Nachdem im Januar 1988 auf der offiziellen Rosa-Luxemburg-Demonstration in Ostberlin Antragsteller und Oppositionelle von der Staatssicherheit gleichsam in einen Topf geworfen und Antragsteller wie Nichtantragsteller nach ihrer Aktion verhaftet und in den Westen »abgeschoben« wurden, setzte ein Abgrenzungs- und Differenzierungsprozess innerhalb der Gruppen ein. Einige kirchenunabhängige Gruppen, namentlich in Berlin, protestierten scharf gegen diese Vermischung und warfen dem DDR-Staat vor, dass er nicht unterschieden habe »zwischen denen, die lediglich dieses Land verlassen wollen, und denen, die das revolutionäre Erbe anmahnen, weil sie für notwendige Veränderungen in unserer Gesellschaft eintreten«. 109 Um diese Unterschiede 107 Eisenfeld: Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung, S. 77. 108 Anders muss dagegen die tatsächliche Trauer um Mitstreiter gewertet werden, die aus der Opposition in den Westen gingen, oder Freunde, die den Kreis verkleinerten. Vgl. Neubert: Geschichte der Opposition, S. 340. 109 Öffentliche Erklärung der »Kirche von Unten« (Abschrift), 20.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88), Bd. 2, Bl. 321 f., hier 321.
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deutlich zu machen, distanzierten sie sich in einer »Öffentlichen Erklärung« von den Antragstellern auf Ausreise, welche »mit diesem Land längst gebrochen haben und egoistisch nur ihre eigene Ausreise betreiben wollen«. 110 Ihr Protest richtete sich zugleich dagegen, dass den Antragstellern unter dem Dach der Kirche mit ihrem Anliegen eine Zuflucht gewährt werde. Beispielhaft erwähnten sie die Beratungsstellen für »Ausreisewillige«, die einzurichten sie für eine Fehlentscheidung der Kirchenleitung hielten. In der Folgezeit sollte dieser Konflikt angesichts der Tatsache, dass immer mehr Antragsteller kirchliche Veranstaltungen besuchten, um sich dort Gehör zu verschaffen, eskalieren. Thomas Klein resümiert, wie sich diese Auseinandersetzungen in den Räumen der Berliner Zionskirche bzw. der Umweltbibliothek abgespielt haben. »Inzwischen gingen die ›Antragsteller‹ in die Offensive: Sie belagerten die UB, versuchten am 2.2.1988, angefeuert durch die erfolgten Abschiebungen, die Solidaritätsandacht für die Inhaftierten in Friedrichsfelde aggressiv zur Propagierung von Aktionen zur Erzwingung ihrer Ausreise zu instrumentalisieren und waren unter den etwa 1 000 Besuchern einer geplanten Veranstaltung der UB zur Strafprozessordnung am 3.2.1988 eine erdrückende Mehrheit. Die Veranstaltung wurde kurzfristig abgesagt. Am 4.2.1988 war die Mehrzahl der 2 500 Besucher Antragsteller, die ihr Anliegen lautstark zum Ausdruck brachten. Anschließend demonstrierten sie nach der Informationsandacht in der Gethsemanekirche vor einem angeblich finnischen Kamerateam mit einem Transparent für ihre Ausreise.« 111
Thomas Kleins Ausführungen machen meines Erachtens deutlich, dass es sich bei diesem Konflikt auch um eine Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen kirchennahen und kirchenunabhängigen Gruppen selbst handelte. 112 Angesichts der bis heute andauernden heftigen Diskussionen zwischen den ehemaligen Kontrahenten liegt die Vermutung nahe, es sei in erster Linie um einen Richtungsstreit innerhalb der vor allem in Berlin sehr heterogenen Opposition gegangen. »Als Massen von Ausreiseantragstellern die Solidaritätsgottesdienste für die Inhaftierten des Januar zum Teil lautstark für die Verfolgung ihres Ausreiseinteresses missbrauchten, trennte sich die UB von der Staatsbürgerrechtsgruppe und versagte ihnen die weitere Nutzung ihrer Räume. Der Widerspruch zwischen Gruppen, welche ihre oppositionelle Arbeit in den Dienst der Beseitigung gesellschaftlicher Ursachen auch für die Welle von Ausreisebegehren (also unter anderem ebenfalls für das Recht aller DDR-Bürger auf Reise- und Ausreisefreiheit) stellten, und jenen, welche in erster Linie ihre sofortige Ausreise durch entsprechende öffentliche Bekundungen im Aktions110 Ebenda, Bl. 322. 111 Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 377. 112 Thomas Klein sieht das selbst jedoch nicht so und hält dagegen, dass alle Gruppen letztlich das Begehren der Antragsteller auf Ausreise respektiert haben. Bezug: Unveröffentlichter Briefwechsel zwischen Renate Hürtgen und Thomas Klein.
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Ausreise per Antrag
raum der Opposition betrieben, wurde so offensichtlich wie nie zuvor. Obwohl so gut wie alle Gruppen in der DDR während ihrer Solidaritätsaktionen für die Verhafteten des Januar solche Erfahrungen gemacht zu haben scheinen, artikulierten besonders die Berliner Umweltbibliothek, der Friedenskreis Friedrichsfelde und die Kirche von Unten öffentlich diesen Widerspruch.« 113
Vor allem aber scheint diese scharfe Abgrenzung von Teilen der kirchenunabhängigen Gruppen 1988 notwendig gewesen zu sein, um den eigenen Stellenwert innerhalb der Opposition klarer umreißen zu können. Tatsächlich blieben solche Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchenopposition im Wesentlichen auf die Berliner Szene beschränkt, wo sich eine besonders ausdifferenzierte Oppositionsszene bereits vor dem Herbst 1989 gebildet hatte. 114 Man kann davon ausgehen, dass die Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt von diesen Differenzen nichts wussten, selbst jene nicht, die über kirchliche Strukturen in das DDR-weite Kommunikationsnetz eingebunden waren. Was aber alle Antragsteller spürten, war eine verbreitete Distanz gegenüber ihrem Ausreisebegehren. Antragsteller auf Ausreise hatten schon damals keine nennenswerte »Lobby«. Staat und Teile der Amtskirche verbreiteten mit ihrer scheinheiligen Sorge darum, dass es den Ausgereisten vielleicht gar nicht so gut im Westen gehen würde, eine Argumentation, der sich all jene gern angeschlossen haben, die selbst keinen Mut aufbrachten, einen Antrag zu stellen oder aus anderen Gründen eine Erklärung dafür finden mussten, warum sie einer Ausreise ablehnend gegenüberstanden. Der in oppositionellen Kreisen auf die Frage zugespitzte Entscheidungskonflikt »Gehen oder bleiben?« diente in erster Linie einer notwendigen Profilierung der sich ausdifferenzierenden Opposition. Sie warben mit der Losung für ein widerständiges Leben in der DDR, ohne zu bedenken, dass ein solches angesichts der selbst von ihnen diagnostizierten aussichtslosen Lage keine reale Alternative für die Antragsteller war. Die »Ausreisewilligen waren zum Spielball der verschiedensten Strategien und Interessenlagen geworden«. 115 Nutznießer dieser unübersichtlichen Lage war die Staatsmacht. Die Solidaritätskampagnen, Informationsandachten und Fürbittandachten in der Berliner Gethsemanekirche für die Inhaftierten der Rosa-Luxemburg-Demonstration verloren aus unterschiedlichsten Gründen an Kraft, die Informationsandachten wurden ganz abgesetzt. Je organisierter und massiver die Antragsteller auftraten, desto mehr Ablehnung erlebten sie. 116 Die führenden Vertreter der 113 Klein: »Frieden und Gerechtigkeit«, S. 377 f. 114 Vgl. Die oppositionellen Gruppen in den späten 1980er Jahren und die (Aus-) Reisefreiheit. In: Bertram; Planer-Friedrich; Sarstedt: Wein mit zu viel Wermut, S. 29–44. 115 Ebenda, S. 31. 116 Vgl. Klein: »Frieden und Gerechtigkeit« , S. 377 f. Inzwischen war die Solidaritätskampagne zusammengebrochen. Während sich am 4.2.1988 noch 2 500–3 000 Menschen in der Gethsemanekirche versammelten, hatte am 5.2. der Koordinationskreis der Basisgruppen beschlossen, die Informa-
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Amtskirche beeilten sich, gegenüber dem Staat ihre loyale Haltung bezüglich der Antragsteller zu betonen. Der Bischof und Vorsitzende der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung in der DDR, Werner Krusche, bekräftigte 1988 eilig die offizielle Kirchenhaltung: »Wer aus der DDR weggegangen ist oder weggehen will, weil er hier nicht leben kann, hat uns, die wir hier leben, für die Gestaltung unseres Lebens in dieser Gesellschaft nichts Hilfreiches mehr zu sagen.« 117 Solche Äußerungen und die Vorwürfe an die »Ausreisewilligen«, sie würden die kirchlichen Einrichtungen für ihre – eher unlauteren Interessen – missbrauchen, konnten der Staatssicherheit nur Recht sein. Seit Mitte der 1980er Jahre hatte sie besorgt eine Entwicklung beobachten müssen, die zu einer DDR-weiten Vernetzung der Antragsteller innerhalb kirchlicher Informationsund Kommunikationsstrukturen führte. Seit 1987 gingen von der Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg in regelmäßigen Abständen Weisungen zur besonderen Beachtung solcher »Zusammenschlüsse« an die untergeordneten Diensteinheiten aus: »Es ist vor allem nicht zuzulassen, dass sich feindlich-negative Übersiedlungsersuchende als oppositionelle Personengruppen öffentlich präsentieren, durch gemeinsame, zum Teil spektakuläre Auftritte, Aufläufe und andere Demonstrativhandlungen eine gegen die Politik der Partei- und Staatsführung gerichtete Plattform schaffen und sich mit anderen feindlich-negativen Kräften vereinigen. Es dürfen keinerlei Unterschätzungen diesbezüglicher Erscheinungen zugelassen werden.« 118
Wie im Kapitel 6.1 vorgestellt, hat es auch im Kreis Halberstadt eine solche Vernetzung zwischen Antragstellern und kirchlichen Strukturen gegeben, die eine besondere »Behandlung« durch die Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg erfuhr. 119 Auch wenn die Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt mit nur einem »Fall« eine vergleichsweise geringe »Konzentration« von Antragstellern,
tionsandachten auszusetzen. Dies geschah wegen der dort immer zahlreicher zusammenströmenden Ausreiseantragsteller, durch deren Auftreten »unser Anliegen zunehmend verzerrt wurde« und »aus deren Umfeld (es) zu Provokationen kam, die einen Missbrauch der Andachten darstellten« sowie weil »vor diesem Hintergrund Berliner Gemeinden ihre Zusage zur Benutzung ihrer Kirchen zurückzogen«; ebenda, S. 378. 117 Werner Krusche in: 6. März 1978–1988 – ein Lernweg. Hg. v. d. BEK, zit. nach: Eisenfeld: Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung, S. 76. 118 Leiter der BV Magdeburg an Diensteinheiten, 14.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 219. 119 »Charakteristisch ist der Missbrauch von kirchlichen Einrichtungen und der Versuch, kirchliche Amtsträger der unteren Ebene zur Durchsetzung der Übersiedlungsersuchen einzubeziehen.« BV Magdeburg, BKG: Konzeption zum weiteren Vorgehen bei der politisch-operativen Bearbeitung von Konzentrationen bzw. Zusammenschlüssen von Ersuchern auf Übersiedlung in den Kreisen Magdeburg, Halberstadt und Wernigerode, Juli 1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 160845, Bl. 11.
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Ausreise per Antrag
die sich in kirchlichen Strukturen vernetzten, »operativ« zu bearbeiten hatte, galt es, diese mit allen Mitteln zu verhindern. Am 29. April 1988 wurde dem Ehepaar Stoll im Rahmen einer Aussprache in der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises eine Belehrung mit der Aufforderung, sie zu unterschreiben, vorgelegt – andernfalls würden strafrechtliche oder andere Maßnahmen gegen sie eingeleitet. 120 Solche »Belehrungen« kannten sie und andere Antragsteller bereits. In ihnen wurde davor gewarnt, Demonstrativhandlungen zu begehen oder in anderer Weise sich öffentlich zur Antragstellung zu äußern. Dies geschehe zum Schutz »der Familie vor möglichen strafrechtlichen Sanktionen«, leitete der anwesende Mitarbeiter der Staatssicherheit das Gespräch ein. Tatsächlich aber hatte die Kreisdienststelle dafür Sorge zu tragen, dass der diesjährige 1. Mai ohne Zwischenfälle verlief, ohne eine Aktion von Antragstellern aus Halberstadt. Stolls wurden also »belehrt, keinerlei Handlungen zu unternehmen die einen Missbrauch öffentlicher Veranstaltungen, einschließlich des Missbrauchs kirchlicher Einrichtungen und Veranstaltungen zur Durchsetzung rechtswidriger Ziele darstellen.« 121 Das Verbot der Nutzung kirchlicher Einrichtungen und Veranstaltungen war in dieser Form neu. Christa Stoll protestierte entschieden und betonte ihr Recht, an kirchlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können. Sie weigerte sich zunächst, den Text zu unterschreiben und forderte den Mitarbeiter der Staatssicherheit auf, seinerseits eine Erklärung abzugeben: »Sie wollen von mir schriftlich, dass ich keine Straftaten begehe, dann verlange ich von ihnen schriftlich, dass Sie es nicht wünschen, dass ich an einer kirchlichen Veranstaltung teilnehme.« 122 Christa Stoll ist eine mutige und kluge Frau, die den Vertreter der Geheimpolizei mit dieser Bemerkung in Rage gebracht haben wird. Der MfS-Mitarbeiter reagierte aggressiv, sprach von Unterstellungen, die sie hier vornehme und blieb ihr eine Antwort schuldig. Wie hätte er den »Missbrauch« auch definieren können, ohne sich das Missbrauchsargument der Kirche zu eigen zu machen? Christa Stolls selbstbewusstes Auftreten in dieser Sache war maßgeblich dadurch gestützt, dass die Kirche ihr einen Schutzraum bot. War mit dem Gang in die Kirche, dem Besuch der Veranstaltungen und der innerkirchlichen Kommunikation einerseits ein höheres Risiko der Verfolgung durch die Stasi verbunden, blieb dieser andererseits der direkte Zugriff auf den halböffentlichen kirchlichen Raum verwehrt. Weder die Treffen in den Gemeinde120 Belehrung des Bürgers der DDR, 29.4.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 177. 121 Bericht über eine erfolgte Belehrung der Einhaltung der Gesetzlichkeiten der DDR zum OV »Bus« in Vorbereitung und Durchführung der Aktion »Nelke 88, 30.4.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus), Bl. 173–176, hier 174. 122 Ebenda.
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räumen, noch die Texte, die ausschließlich »für den innerkirchlichen Gebrauch« produziert wurden, konnten strafrechtlich geahndet werden. 123 Die Kreisdienststelle ließ sich von ihren IM ausführlich über diese Kirchentreffen berichten. 124 Das reichte jedoch nicht aus, um ein Strafverfahren gegen die Ehepaare Stoll, Meister oder Baumgarten einzuleiten. Als Christa und Martin Stoll dennoch in Untersuchungshaft kamen, boten die Strukturen und Vernetzungen, die die Pfarrer in Blankenburg, Wernigerode und Huy-Neinstedt vor allem nach Berlin und Leipzig aufgebaut hatten, einen gewissen solidarischen Rückhalt. Es gab im Kreis Halberstadt aber auch Beispiele dafür, dass die Kirche dem Antragsteller oder der Antragstellerin keinen Schutz bot, sich vielmehr auf die Seite des Staates schlug und sich von der Person distanzierte. Sabine Schneider war 22 Jahre alt, als sie einen Antrag stellte, um zu ihrem Verlobten in den Westen ausreisen zu können. Er war nach einer Haft, die er wegen »ungesetzlichen Verlassens der DDR« über Ungarn antreten musste, 1983 nach Westberlin entlassen worden. Sabine Schneider war gelernte Krankenschwester und machte eine Ausbildung zur C-Kantorin. Man stellte ihr die besten Zeugnisse aus, sie sei ruhig und ausgeglichen und zeige sehr gute Leistungen. Nach ihrer Antragstellung 1983 wendete sich das Blatt. Der IMS »Hans Höllmann« berichtete im Anschluss an eine Aussprache in der Kaderabteilung des Krankenhauses in Halberstadt, sie hätten sich davon überzeugen müssen, »dass sich bei der [Schneider] zu Fragen ihres Auftretens und zur Einstellung zur Arbeit und zu unserem Staat eine Wandlung in negativer Hinsicht vollzogen hat.« 125 Jetzt erst, nachdem die Staatssicherheit Sabine Schneider unter Beobachtung gestellt hatte, erfuhr das MfS, dass die im OV »Asyl« erfasste Person ihre Wohnung für »asoziale Elemente« zur Verfügung stellte. 126 Tatsächlich trafen sich in Frau Schneiders Wohnung in der Huystraße regelmäßig junge Leute aus Halberstadt, sie hörten Musik, stylten sich ihre Punkfrisuren, trafen sich, um die Wehrpflichtigen zu verabschieden und ihnen am Vorabend ihres Wehrdienstes selbst die Haare zu schneiden, sie tauschten Bücher aus, lasen Gedichte und redeten darüber, ob es die Solidarność nicht auch bald in der DDR geben werde. Die Jugendlichen verhielten sich durchaus konspirativ, 123 Vgl. Kapitel 7.4 in diesem Band. Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 112. Die kirchlichen Zusammenkünfte gaben keine Handhabe für strafrechtliche Verfolgungen, vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bl. 273–275, hier 275. 124 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 154. Erst trifft man sich in Wernigerode auf dem Parkplatz, dann geht man gemeinsam in die Kirche. Ebenda, Bl. 158–161. 125 KD Halberstadt: Tonbandabschrift, Bericht über die erfolgte Aussprache mit der [Schneider, Sabine], 13.3.1984, Quelle IMS »Hans Höllmann«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1391/84 (OV »Asyl«), Bl. 363. 126 Ebenda, Bl. 199.
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Ausreise per Antrag
sprachen beispielsweise bewusst sehr leise, wenn es um bestimmte Themen ging oder redeten sich nur mit dem Spitznamen an. Der Staatssicherheit gelang es nicht, für sie relevante Informationen über die in der Wohnung eingebaute Abhöranlage zu gewinnen. 127 Die »musischen und lyrischen Themen und Probleme der Kirche und der ›Friedensbewegung‹ in der DDR« unter den »Gleichgesinnten« ergaben keine strafrechtlich relevanten Beweise. 128 Die Person Sabine Schneider war für das MfS noch aus einem anderen Grund von großer politischer Bedeutung. Sie hatte Kontakte zu Pfarrer Schneider aus Huy-Neinstedt, sie nahm Verbindungen zur kirchlichen Friedensbewegung in Jena auf und organisierte ein überregionales Treffen in Quedlinburg. »Die Genannte engagiert sich aktiv in der sogenannten Friedensbewegung und versucht, nach dem Jenaer Beispiel wirksam zu werden. Durch Informationen eingesetzter IM wurde bekannt, dass sie sogenannte Hauskreise bildete, mit Gleichgesinnten aus allen Teilen der DDR zusammentrifft, um die Friedensbewegung nach dem Jenaer Beispiel zu unterstützen.« 129 Jetzt war die Staatssicherheit in hohem Maße alarmiert – es galt, »kein zweites Jena zuzulassen«. 130 Dies schien letztendlich auch gelungen zu sein: Sabine Schneider wurde zunehmend isoliert, die »Halberstädter Gruppierung« wurde – wenn man hier den Akten glauben kann – von den Jenaern nicht anerkannt. Die Treffen in ihrer Wohnung fanden nicht mehr statt. Die umgehend von der Staatssicherheit von ihrem Ausreisebegehren informierte Sektorenleiterin für Kirchenfragen veranlasste »Rückgewinnungsgespräche«; der Cecilienhof stellte sie nach ihrer Kündigung im Krankenhaus nicht wieder ein. Ein IM aus dem unmittelbaren Umfeld von Frau Schneider erfuhr bald, dass sie sich »in jüngster Zeit mit der Kirche überworfen« habe. »Aufgrund ihrer Antragstellung auf Übersiedlung nach WB [Westberlin] hätte sie seitens der Kirche Schwierigkeiten in ihrer Ausbildung zum C-Kantor bekommen, und deshalb hätte sie diese Ausbildung abbrechen müssen.« Sie, die einmal in der Jungen Gemeinde ihre Heimat gesehen hatte, verlor diese mit der Antragstellung. Die Kirche sei ihr zu staatsnah und bis »hoch in die Kirchenleitung mit Spitzeln der Staatssicherheit durchsetzt«, mit ihr wollte sie nichts mehr zu tun haben. 131 Bereits im April 1984 konnte Frau Schneider ausreisen. Für die Frage nach der Bedeutung der Antragsteller in der Kirche und in den Oppositionsgruppen ist dieser wesentlich von Sabine Schneider organisierte Zusammenschluss besonders aufschlussreich. Der Halberstädter Kreis war Treffpunkt für eine kulturoppositionelle, pazifistisch eingestellte Jugendszene, 127 Abhörprotokolle, Februar 1984; ebenda, Bl. 203–214. 128 Abschlussbericht zum OV »Asyl«, 25.6.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1391/84 (OV »Asyl«), Bl. 413–415, hier 414. 129 Eröffnungsbericht OV »Asyl«, 17.4.1984; ebenda, Bl. 18. 130 Faktenanalyse zur Arbeitsberatung beim Leiter der Abt. IX; ebenda, Bl. 283. 131 Bericht des IMS »Sabine Vogel«, 17.2.84 (Tonbandabschrift); ebenda, Bl. 228.
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zu der außer ihr wohl noch ein weiterer Antragsteller auf Ausreise gehörte. Die Stasi erfuhr, dass zu den Treffen noch eine Krankenschwester, eine Studentin der Landwirtschaft aus Halle, zwei Lehrlinge aus Halberstädter Betrieben und drei Schüler kamen. 132 Es wurde die Frage diskutiert, ob man in den Westen gehen oder in Halberstadt bleiben solle. Und obwohl die Meinungen auseinandergingen, gab es keinen Streit darüber. In dieser Szene wurde »Bleiben oder Gehen?« offensichtlich nicht zur Bekenntnisfrage hochstilisiert; ein eher pragmatischer Umgang bestimmte die Diskussion. 133 In diesem Kapitel wurden die sogenannten hartnäckigen Antragsteller, darunter die wenigen, die sich in Gruppen zusammengeschlossen hatten, näher betrachtet. Dabei wurde zwischen einer sich im Laufe der Wartezeit politisierenden Gruppe von Antragstellern und jenen, die in informellen Zusammenhängen ihre Ausreise betrieben, differenziert. So konnte eine Entwicklung von der Antragstellung als isolierter Privataktion zur halböffentlichen Gemeinschaftsaktion skizziert werden, die allerdings nur von einer Minorität eingeschlagen wurde. Die Konfrontation mit der Staatsmacht machte zunächst aus dem Bittsteller einen selbstbewussten Bürger, der seine Rechte einklagte. Die »Hartnäckigen« veränderten sich, wurden politischer in ihren Argumentationen, sie mussten sich gründlich informieren und die Weltlage studieren. Damit hatten sie jedoch nicht ihre gesellschaftliche Isolation überwunden, sie blieben Einzelkämpfer, deren einziger, überaus wichtiger Halt die Personen der »Antragsgemeinschaft« waren. Lediglich die in »Zusammenschlüssen« agierenden Antragsteller auf Ausreise hatten ihrem Anliegen den ausschließlich privaten Charakter genommen, sie waren Teil einer »kleinen Öffentlichkeit« geworden, in der bereits vor der »Wende« von 1989 die »Grenzen der Diktatur« infrage gestellt worden sind. In der zeitgenössischen Literatur zum Thema stehen solche in kirchlichen Räumen und kirchlich-oppositionellen Strukturen entstandenen Vernetzungen von Antragstellern im Mittelpunkt des Interesses. Soweit sich damit das Anliegen verbindet, diesen Menschen eine besondere Rolle in der Geschichte der DDR-Ausreisebewegung zuzuweisen, erscheint dies auch legitim. Problematisch wird die Darstellung, wenn am Beispiel solcher eher seltenen »Zusammenschlüsse« die Gruppe der Antragsteller auf Ausreise insgesamt und generell charakterisiert werden soll. Für den Kreis Halberstadt konnte gezeigt werden, dass die Mehrheit der Antragsteller ihre Ausreise vereinzelt und ohne einen über ihre »Antragsgemeinschaft« hinausgehenden Zusammenhang betrieb. Es wurde auch sichtbar, dass sie dabei auf dem privaten Charakter ihres Handelns beharrten und keinerlei Anstrengungen unternahmen, den Zustand mittels solidarischer Aktionen mit anderen Antragstellern zu überwinden. Dies unterschied sie nicht von 132 Quelle GMS »Holmes«, Bericht über Treffen von Jugendlichen. 12.1.1983; ebenda, Bl. 46. 133 Protokoll, 14.2.1984; ebenda, Bl. 210.
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Ausreise per Antrag
anderen »Spielregelverletzern« der 1970er und 1980er Jahre in der DDR, wo jede Form des kollektiven und öffentlichen Widerstandes längst obsolet geworden war. An diesem Zustand hatte ein weitverzweigtes und dichtes Kontroll- und Unterdrückungssystem seinen maßgeblichen Anteil. Im nächsten Kapitel werden die Rolle der staatlichen Institutionen und die Mechanismen der Macht bei der »Zurückdrängung« und »Zersetzung« der Antragsteller im Kreis Halberstadt aufgezeigt. Erst dann rundet sich das Bild vom Leben der Antragsteller in Halberstadt, von Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz ab.
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Herrschaft im Kreis Halberstadt
Dass die DDR eine diktatorisch verfasste Gesellschaft war, in der es massive Unterdrückung gab, ist wohl – von der Position einiger unbelehrbarer Stalinisten abgesehen – unbestritten. Wie lässt sich diese Tatsache besser ins Bild setzen als mit der Erinnerung daran, dass die Führung der DDR mithilfe der Besatzungsmacht Sowjetunion den Arbeiteraufstand von 1953 niederschlagen ließ und mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 die Bevölkerung sprichwörtlich mit aller Gewalt am Auswandern hinderte? Dies waren zweifellos nicht die einzigen, jedoch zentrale Ereignisse in der Geschichte der DDR, von denen die Warnung ausging: Wer sich wehrt, wer für seine Interessen streikt, wer die von Partei und Staat gesetzten Regeln nicht einhält, wer raus will, hat mit Disziplinierungen bis zur Inhaftierung zu rechnen. Die Menschen, die einen Antrag auf Ausreise aus der DDR stellten, gehörten zu diesen »Regelverletzern«, von denen es nicht sehr viele gab. Widerständige Aktionen durch Belegschaften wurden nach der Zerschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953, nach den Verfolgungen der »Rädelsführer« und nach der endgültigen Grenzschließung von der Staatssicherheit immer weniger registriert. Der Betrieb oder die Straße als Raum öffentlicher Artikulation und damit jede Art von kollektivem Aufbegehren verschwanden aus dem Erfahrungsschatz einer ganzen Generation. 1 Und das ungläubige Entsetzen über die Nacht-und-Nebel-Aktion des Mauerbaus wich bald der Resignation. Man richtete sich innerhalb der geschlossenen Grenzen ein. Das Leben ging weiter, auch im Kreis Halberstadt. In den 1960er Jahren wurde es allmählich leichter. Eine neue Generation wuchs heran, die den Westen nicht einmal mehr über den »kleinen Grenzverkehr« kannte. 2 Sich Einrichten hieß jedoch nicht, dass die DDR-Bevölkerung die geschlossenen Grenzen positiv für sich angenommen hatte. Die ältere Generation akzeptierte ohnehin mehrheitlich die Teilung Deutschlands nicht und große Teile der jüngeren Generation akzeptierten nicht, dass ihnen das Tor zur Welt verschlossen blieb. Nur wenige jedoch lehnten sich dagegen auf, das Risiko war sehr hoch und nicht getragen von einer allgemeinen Solidarität oder einem kollektivem Protest gegen das Regime. Das galt sowohl für den Betrieb, in dem in den 1970er und 1980er Jahren längst die private, individuelle Form 1 Vgl. das Kapitel: Vom Streik zur individuellen Arbeitsverweigerung, in Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 255–270. 2 Vgl. Kapitel 2 in diesem Band.
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Ausreise per Antrag
der Durchsetzung von Interessen in Gestalt der Eingabe oder Beschwerde den Streik abgelöst hatte, als auch für die Antragsteller auf Ausreise. Dieser isolierte, private Charakter der Antragstellung konnte für den Kreis Halberstadt ausführlich beschrieben und gezeigt werden, dass die damit verbundene »Regelverletzung« von vielen Mitbürgern häufig distanziert aufgenommen wurde. Das folgende Kapitel wendet sich der Reaktion der Staatsmacht auf die Antragstellungen im Kreis Halberstadt zu. Was bedeutete »Herrschaft« in einer kleinen Stadt oder in einem Territorium mit 90 000 Einwohnern, alte Menschen und Kinder eingeschlossen? Wer waren die maßgebenden Akteure im Kreis Halberstadt? Der mikrohistorische Ansatz zwingt uns, die Institutionen der Macht, die Strukturen und Akteure der Herrschaft konkret zu benennen. Wir müssen uns von dem gängigen Bild einer nur kleinen Gruppe von Politbürokraten verabschieden, die in einer Art Alleinherrschaft das Land von Berlin-Wandlitz aus unterdrückte. In jedem Bereich der DDR-Gesellschaft, auch im Kreis Halberstadt, finden wir die Herrschaftsverhältnisse dieser Gesellschaft »im Kleinen« wieder, die jeden Tag aufs Neue dadurch aufrechterhalten wurden, dass jeder und jede auf seinem Platz in dieser asymmetrischen Machtstruktur die ihm zugewiesene Funktion ausfüllte. Erst im Herbst 1989 sollte dieser Zusammenhang – allerdings nur für kurze Zeit – ins Wanken geraten. Bis dahin teilte sich die Halberstädter Gesellschaft in die Menschen, die eine Funktion in der Machtstruktur innehatten, Mitglied der im Staat ökonomisch und politisch herrschenden SED waren, in leitenden Positionen im Betrieb, in der Kommune oder im kulturellen Bereich tätig waren und in die anderen, die Mehrheit der Gesellschaft ohne Machtkompetenz und Entscheidungsbefugnis. Die Übergänge zwischen den Zugehörigkeiten waren wie in jeder Gesellschaft fließend, und die Machtfülle, die ein Kombinatsdirektor hatte, unterschied sich erheblich von der eines »Genossen Abteilungsleiter« im Rat des Kreises. In der DDR ein Akteur in diesen Machtstrukturen gewesen zu sein, ist heute eine schwer zu akzeptierende Tatsache, namentlich dann, wenn man nicht Teil der Zentralmacht gewesen war, sondern im Rat eines Kreises sein »Pöstchen« innehatte. Hier verband alle Leiter und Funktionäre in den Betrieben, der Kommune, selbst bei der Polizei und anderen sogenannten Sicherheitsorganen das Gefühl, sich in völliger Abhängigkeit von »Berlin« zu befinden und keinerlei Entscheidungs- und Machtausübungskompetenz zu haben, also auch von jeder Beteiligung an der Machtausübung frei gesprochen werden zu müssen. Hinzu kommt, dass der Eifer bei der Durchsetzung der Order, gerade auch im Umgang mit den Antragstellern, unterschiedlich ausgeprägt war und die Zuständigkeiten und Kompetenzen in der Sache unter den Funktionären ungleich verteilt waren. Zuständig für die Antragsteller auf Ausreise waren auch im Kreis Halberstadt die Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten der Kreisverwaltung, der Volkspolizei und der Kreisdienststelle des MfS. Bereits Mitte der
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7 Herrschaft im Kreis Halberstadt
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1970er Jahre wurde deren Arbeit durch eine Arbeitsgruppe koordiniert und durch Funktionäre und Leiter anderer Bereiche erweitert. Damit galt das sicherheitspolitische Programm der »Zurückdrängung der Antragstellungen« nun als »gesamtgesellschaftliche Aufgabe«. In der Praxis bedeutete das für die Leiter und Funktionäre in den Betrieben und Einrichtungen, dass sie in ein Rapportsystem der Sicherheitsorgane einbezogen waren. In regelmäßigen Zusammenkünften wurden sie instruiert, belehrt und angehalten, monatlich Berichte über die Situation in ihrem Zuständigkeitsbereich zu verfassen. Gespräche mussten mit dem Ziel geführt werden, die Ausreisewilligen zur Rücknahme ihres Antrags zu bewegen. Der Partei und der Staatssicherheit schwebten eine allgemeine Zurückweisung des »rechtswidrigen« Begehrens nach Ausreise vor. Dass dieses Ziel nicht erreicht wurde, wissen wir, nicht jedoch, wie sich der Umgang der Mitarbeiter im Rat des Kreises, namentlich der Abteilung Inneres, gestaltete, wie sich die staatlichen Leiter in den Betrieben und Einrichtungen im Rahmen dieser Aktion tatsächlich verhielten. Beugten sie sich widerspruchslos der Order? Welche Rolle spielten die Arbeitskollektive? Gab es Unterschiede zwischen den einzelnen Bereichen, zwischen den Leitern und Funktionären, veränderte sich der Umgang mit den Antragstellern in den Betrieben im Laufe der Jahre? Welchen Anteil hatten diese Akteure an der Disziplinierung und Ausgrenzung der Antragsteller? Das MfS hatte von Anbeginn die führende Rolle im Zurückdrängen und Verfolgen der Antragsteller eingenommen und sich die letztendliche Entscheidung über eine Genehmigung zur Ausreise vorbehalten. 3 Die Verflechtung zwischen den zuständigen Organen des Rates des Kreises Halberstadt und der Kreisdienststelle des MfS waren derart dicht und die Dominanz der Staatssicherheit so eindeutig, dass in der Praxis die Strukturen der Abteilung Innere Angelegenheiten durch die des MfS quasi ersetzt wurden. Die entscheidenden Leiter dieser Abteilung waren hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit und so in doppelter Informationspflicht, gegenüber der staatlichen Leitung und der Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt, von der sie 3 Die Entscheidung über den Umgang mit den »unrechtmäßigen Antragstellern«, die aus »operativen Gründen« ausreisen durften, hatte bis 1975 in der Verantwortung des Leiters der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des Ministeriums des Innern gelegen und ging dann in die Zuständigkeit des MfS über. Die BKG machte auf der Grundlage von Vorschlägen der MfS-Kreisdienststelle ihrerseits Vorschläge zur Bewilligung von Ausreisen »aus politisch-operativen Gründen und aus anderen staatlichen Interessen«, die zuständigen BV-Leiter bestätigten und gaben den Vorschlag an die ZKG weiter. Diese überprüften die Vorschläge, konnten Einspruch anmelden, und legten sie dem 1. Stellvertreter des Ministers des Innern zur Entscheidung vor. Infolge einer Kompetenzerweiterung der ZKG verschärfte diese ihre Vorgaben an die untergeordneten Instanzen und verlangte die exaktere Überprüfung solcher Genehmigungen und eine genauere Beweisführung der MfS-Kreisdienststellen ihrer Vorschläge. Die letzte Entscheidung über eine Bewilligung von Ausreisen aus politisch-operativen Gründen hielt sich Erich Honecker vor. Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 24 f. u. 37 f.
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Ausreise per Antrag
sowohl als staatliche Funktionäre als auch als inoffizielle Mitarbeiter Weisungen erhielten. Die Zusammenarbeit mit den inoffiziellen Mitarbeitern aller Kategorien war für die örtliche Staatssicherheit von großer Bedeutung. Ihre Aufgabe bestand nicht allein darin, die Antragsteller davon zu überzeugen, den Ausreiseantrag wieder zurückzunehmen. Das MfS suchte in der Gruppe der Antragsteller nach »operativ-bedeutsamen« Aktivitäten, die sie aufdecken und verhindern wollte. Dazu benötigte es ein Heer von inoffiziellen Mitarbeitern. Die soziale Stellung dieser IM in der Halberstädter Gesellschaft und deren Funktion bei der Bekämpfung der Antragsteller konnte sehr präzise beschrieben werden, da uns über 35 Vorgänge zu diesem Personenkreis zur Verfügung standen. Weitere 40 IM ließen sich aus den Verfolgungsakten sowie aus Interviews und Gesprächen einer gesellschaftlichen Position zuordnen. Auf diese Weise konnte ein umfassendes Bild von jenen inoffiziellen Mitarbeitern in Halberstadt erstellt werden, die das MfS zur Überwachung von Antragstellern eingesetzt hatte. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels wendet sich der direkten Verfolgung von Antragstellern durch das MfS zu. Dies betraf einen ausgewählten Kreis von Halberstädtern. Sie kamen aus der Gruppe der sogenannten hartnäckigen Antragsteller, die trotz Ablehnung auf einer Genehmigung zur Ausreise bestanden. Alle Antragsteller wurden von der Staatssicherheit erfasst. Über etwa zehn Prozent von ihnen wurde eine Verfolgungsakte angelegt, zunächst eine Operative Personenkontrolle, in Vorbereitung der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde aus dieser ein Operativer Vorgang. Von insgesamt etwa 60 OPK/OV, die im Laufe von zwölf Jahren von der Kreisdienststelle des MfS Halberstadt über Antragsteller angelegt worden sind, konnten wir 48 einsehen. Auf dieser Basis lassen sich repräsentative Aussagen darüber treffen, wie die Staatssicherheit mit jenen Bürgern umgegangen ist, die die staatliche Grenzziehung nicht akzeptieren wollten. Sie reagierte mit Verfolgen, »Zersetzen« und Verhaftungen, sie zerstörte damit das Leben von vielen in einer Weise, die für uns heute fast nicht mehr vorstellbar ist. Umso wichtiger wird es, diese Praktiken, die aus einer anderen Welt zu stammen scheinen, wieder ins Bewusstsein zu holen.
7.1 Die »gesellschaftliche Front« zur Zurückdrängung der Antragsteller Da bis 1983 keine rechtlichen Regelungen für eine Antragstellung auf eine »ständige Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin« vorhanden waren, standen den zuständigen Behörden lediglich geheime Dienstanweisungen des Ministeriums
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des Innern und der Deutschen Volkspolizei für ihre Arbeit zur Verfügung. Die innerdienstlichen Bestimmungen des MfS ergänzten diese, legten fest, wie die Anträge und vor allem wie die Antragsteller zu behandeln seien und sicherten die letztendliche Entscheidungsbefugnis der Staatssicherheit. 4 Mit der vom MdI 1977 angeordneten Bildung von Arbeitsgruppen in den Räten der Kreise unter Vorsitz des Leiters der Abteilung Innere Angelegenheiten, in der ein Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS maßgebliches Mitglied war, hatte sie ein Instrument, das ihre zentrale Stellung in dieser Sache personell und strukturell festigte. 5 Auf der Ebene der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises konkretisierten sich die geheimen Anweisungen von MdI und MfS zu einem Funktionsplan für den zuständigen Sektorenleiter. 6 Ende der 1970er Jahre nahm der Umgang mit den Antragstellern, der mit der Ordnung Nr. 0118/77 vom 8. März 1977 des MdI und der Deutschen Volkspolizei umfassend geregelt war, auch im Kreis Halberstadt seine endgültige Gestalt an. 7 Die Arbeitsgruppe 0118/77, auch AG Übersiedlungen genannt, tagte nun regelmäßig, die Bearbeitungen erfolgten zügiger. 8 Die AG setzte sich aus Vertretern der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises, der Abteilungen Pass- und Meldewesen, der Kriminalpolizei des Volkspolizeikreisamtes sowie der Staatsanwaltschaft und der Kreisdienststelle des MfS zusammen. Bei Bedarf wurden Leiter anderer Fachorgane des Rates des Kreises, Abschnittsbevollmächtigte (ABV) der Volkspolizei oder Betriebsleiter hinzugezogen. 9 Im Kreis Halberstadt begann der neue Kurs zu greifen, der in den folgenden zwölf Jahren zur Grundlage für die Arbeit der staatlichen Sicherheitsorgane im Umgang mit den Antragstellern werden sollte: Es ging um das einheitliche und abgestimmte Vorgehen zur Unterbindung und Zurückdrängung von Über4 Vgl. Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 9. Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließungen zwischen Bürgern der DDR und Ausländern v. 15.9.1983, dokumentiert ebenda, S. 150–152. Darin auch: MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistische Staaten und Westberlin zu erreichen, 13.10.1983; ebenda, S. 89– 133. Zu den MfS-Bestimmungen vgl. auch Kapitel 3 in diesem Band. 5 Diese Arbeitsgruppen waren bereits 1974 vom Ministerrat festgelegt, hier aber hatte das MfS noch kein Beteiligungsrecht, vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 15034, Bl. 2–9. Zeitgleich wurden die Bildung der Zentralen Koordinierungsgruppe (ZKG) und von Bezirkskoordinierungsgruppen (BKG) im MfS durch den Befehl Nr. 1/75 (Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 73–85) angewiesen. 6 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 I/1 (IM »Klaus Fischer«), Bl. 81–91. 7 Ihnen waren ein Beschluss des ZK der SED v. 16.2.1977 sowie die Verfügung Nr. 34/77 des Vorsitzenden des Ministerrates vorausgegangen. Vgl. Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 13. 8 Vgl. Protokolle der AG-Sitzungen, Arbeit der Betriebe mit den Antragstellern etc; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, 99, 115. 9 Das entsprach der Ziff. I, 4 (1) der Ordnung Nr. 0118/77 des MdI und des Chefs der Deutschen Volkspolizei, v. 8.3.1977; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 9772, Bl. 14.
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siedlungsersuchen. Zwar waren die »unrechtmäßigen Antragstellungen« seit 1973 gesondert registriert worden und die »Reaktionen der Antragsteller auf Ablehnung des Antrages« waren bereits seit 1975 von Interesse gewesen; selbst die Praxis der Rückgewinnung in Form von Gesprächen gab es im Kreis Halberstadt schon einige Jahre. 10 Nun aber entstand ein – gemessen am Erfolg – überdimensionierter Apparat, der alle »gesellschaftlichen Kräfte« zur Durchsetzung dieser »Hauptaufgabe« in Bewegung setzen sollte. Seine Funktion bestand darin, die Antragsteller zu kontrollieren, politisch zu disziplinieren und sozialen Druck auszuüben. Vor allem jedoch, sie in »vertrauensvollen Aussprachen« von einer Ausreise abzubringen sowie »Maßnahmen, welche zur Erledigung von Gründen für die Übersiedlungsersuchen« führen können, einzuleiten. 11 Es wurden Zuständige, Betreuer und Beauftragte benannt, zuverlässige Kader in allen Einrichtungen und Betrieben, die sich mit der »Rückgewinnung« der Antragsteller zu beschäftigen hatten. 12 Die staatliche Verantwortung in den Kreisen hatten die Leiter bzw. stellvertretenden Leiter der Abteilung Inneres, denen jene eigens für die Antragstellungen zuständige AG 0118/77 zur Seite gestellt war. Deren Sitzungen fanden vierzehntägig statt, bei Bedarf, etwa im Vorfeld von Parteitagen oder DDRJahresfeiern, auch wöchentlich. Jede Antragstellung, die im Bereich Genehmigungswesen der Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises Halberstadt eingegangen war, wurde eingehend besprochen. Dabei lagen den Teilnehmern Informationen über Persönlichkeit und Familienverhältnisse der Antragsteller vor, darüber hinaus Angaben über ihr Verhalten im Zuge der Antragstellung sowie über sämtliche Aktivitäten vonseiten der Betriebe und Einrichtungen, die bisher im Rahmen einer Rückgewinnung durchgeführt worden waren. 13 Nachdem der Antragsteller seinen Antrag abgegeben hatte, war die Abteilung Innere Angelegenheiten verpflichtet, unverzüglich die Kreisdienststelle des MfS, das Volkspolizeikreisamt (VPKA) und die Betriebe, »in denen zum angedrohten rechtswidrigen Antrag gehörende erwachsene Personen, Lehrlinge und Schüler, die in der 11. und 12. Klasse tätig sind bzw. ihrer Ausbildung
10 Vgl. RdK Halberstadt, Abt. I A: Analyse über die Entwicklung der Antragstellungen, II. Quartal 1976, 15.7.76; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 285–297. 11 Vgl. Ordnung Nr. 0118/77 des Ministers des Innern v. 8.3.1977; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 9772. In der Fassung v. 24.3.1988 mit Anlagen dokumentiert in: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 371–521. Siehe auch Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 166–170. 12 Vgl. Einschätzung des gegenwärtigen Standes auf dem Gebiet von Versuchen zur Erreichung der Übersiedlung nach der BRD und Berlin (West), 13.8.1984; Archiv RdK Halberstadt Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. 13 Vgl. Protokolle der Beratung der Arbeitsgruppe aus den Jahren 1979 bis 1986; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115. o. Pag.
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nachgehen, zu informieren«.14 Zeitgleich schickte die Abteilung Innere Angelegenheiten sogenannte Suchaufträge an die Volkspolizei, das Meldeamt, die Kaderleitungen der Betriebe und andere Institutionen, die Auskünfte über den Antragsteller erteilen konnten. Die Zuarbeiten hatten innerhalb von 15 Tagen zu erfolgen. Angereichert durch Informationen der Kreisdienststelle des MfS waren diese Unterlagen, die ständig vervollständigt wurden, die Grundlage der Arbeit der Arbeitsgruppe.15 Die detaillierten Personen-Informationen hatten zweierlei Funktionen: Sie dienten der Abteilung Innere Angelegenheiten und der AG 0118/77 zum einen dazu, schnell herauszufinden, welcher Antragstellung eine Familienzusammenführung ohne Ausschlussgrund zugrunde lag und ob es sich um eine Antragstellung eines Rentners oder Invaliden handelte, gegen deren Ausreise nichts sprach.16 Zum anderen verschaffte sich die Arbeitsgruppe einen Überblick über das Verhalten jener Antragsteller, die abgelehnt werden würden, weil sie nicht zum genannten Personenkreis gehörten. Dies war notwendig, weil die Strategie der Rückgewinnung für jeden rechtswidrigen Antragsteller individuell geplant werden musste.17 Um diese Planung zu erleichtern, lagen der Arbeit der Halberstädter AG zu Beginn der 1980er Jahre fünf Kategorien von Antragstellern zugrunde. »I. Ersucher, die aus Motiven der ungenügenden staatlichen Unterstützung sowie der Pflege von Angehörigen in die BRD übersiedeln wollen und seit der Antragstellung keine weiteren Aktivitäten entwickelt haben. [...] II. Ersucher, die in den Begründungen für die Übersiedlung ihre negative Einstellung zur DDR zum Ausdruck bringen, mit Nachdruck die Ausreise fordern und strafrechtlich aufgefallen sind oder auffallen könnten. III. Ersucher, die zur Durchsetzung ihres rechtswidrigen Ersuchens mündlich oder schriftlich Handlungen gegen die DDR und Verbindung zu feindlichen Organisationen bzw. Einrichtungen in der BRD androhen. IV. Ersucher, die sich in Einrichtungen des Strafvollzuges befinden.
14 KD Halberstadt: Auszug aus dem Funktionsplan für die Mitarbeiter Staatsbürgerschaftsfragen in den Abt. I A der Räte der Kreise, 7.2.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 I/1 (IM »Klaus Fischer«), Bl. 83. 15 »Die Registrierung von rechtswidrigen ÜE hat mittels Informationsträger IA30 zu erfolgen […], wenn verhärtete Positionen erkennbar […], wenn im Erstgespräch bereits Abstand genommen wird oder kein zweiter Besuch erfolgt, ist nicht auf der IA30 zu registrieren.« BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 I/1, (IM »Klaus Fischer«), Bl. 85. 16 Da es bis 1983 keine rechtliche Grundlage für eine solche Antragstellung gab und auch danach nur für jene Personengruppen, deren Anträge auch bisher schon meist positiv beschieden worden waren, also Rentner, Invaliden oder in anderer Weise den Bedingungen für eine ständige Ausreise gemäß MfS-Befehl 6/77 entsprachen, blieb die Entscheidungsgrundlage stets willkürlich. 17 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 175–178, sowie Statistik von 1974; ebenda, Bl. 343 f.
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V. Ersucher, die als kriminell gefährdet erfasst sind und Auflagen erhalten haben (getrennt nach §§ 48, 249 und 349). VI. Ersucher mit Ausschlussgründen.« 18
Das oberste Ziel der Abteilung Inneres war die sogenannte Rückgewinnung, wahlweise auch als »Zurückdrängungsprozess« bezeichnet. In welcher Weise dieses »Planziel« erreicht werden und mit welchen Mitteln und Methoden die Antragsteller von ihrem Vorhaben abgebracht werden konnten, war den Mitarbeitern – solange es keine spezielle Anordnung gab – selbst überlassen, wurde allerdings von der Staatssicherheit genau beobachtet. Da die Kreisdienststelle des MfS zugleich die Leiter der Abteilung Inneres als inoffizielle oder hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigte, war diese Einflussnahme auf kürzestem Weg und bei Bedarf unter Umgehung der dafür zuständigen Arbeitsgruppe erreichbar. 19 Die Mitarbeiter in der Abteilung Inneres bemühten sich meist um einen freundlichen Ton. Das traf sich durchaus mit den Interessen der Staatssicherheit, die darauf hinwirkte, dass die im Rat des Kreises für das Aufgabengebiet zuständigen Mitarbeiter bevorzugt danach ausgesucht wurden, wie gut sie mit den Antragstellern umgehen konnten. Im besten Fall sollten sie das Vertrauen der Bürger genießen. Diese Taktik konnte jedoch unvermittelt umschlagen, nachweislich dann, wenn Antragsteller in die Sprechstunde kamen, die bereits von der Kreisdienststelle des MfS erfasst waren, oder solche, um deren Hierblieben man sich nicht mehr bemühte. Der Ton wurde plötzlich scharf, die Mitarbeiter drohten. Für die Antragsteller – nicht nur in Halberstadt – war der Rat des Kreises eine undurchschaubare, in seinen Reaktionen nicht einschätzbare Institution. Unklar blieb den meisten, welche Kompetenz die Abteilung, namentlich der Leiter derselben in ihrer Angelegenheit tatsächlich besaß. Man ahnte, das alles »ganz oben« entschieden wurde, war aber dennoch über die wechselnde Stimmungslage im Rat des Kreises irritiert bzw. schöpfte Hoffnungen, wenn man ihnen freundlich begegnete. Hinzu kam, dass besondere Anweisungen von Erich Mielke, wie das Aussetzen von Ablehnungen oder im Gegenteil der zeitweilige Genehmigungsstopp, den Betroffenen unbekannt blieben. 20 Im Juli 1984 – eine zuvor praktizierte Genehmigungswelle hatte die Flut der Anträge 18 Es folgen handschriftlich fünf Ausschlussgründe: Angehörige in bewaffneten Organen, Ersucher mit Wehrdienst, Staatsapparat, Zoll, Ehepartner ungesetzlich DDR verlassen; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. Nach einer Genehmigung wurde stets geprüft, ob es letztlich doch noch Gründe gibt, die eine Ausreise verhindern könnten. 19 Vgl. Kapitel 7.2 in diesem Band. 20 Vermerk des Leiters der Abt. I A, 17.9.1979: »Entsprechend der Anweisung 0118/77, Abschnitt A, VI, Ziff. 1, Abs. 2 sind in der Zeit v. 28.9.1979–10.10.1979 keine Ablehnungen bzw. Rückweisungen von Erstanträgen vorzunehmen«; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, o. Pag.
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noch verstärkt – gab eine Festlegung des MdI zur Belehrung der Bürger »grünes Licht« für einen harten, aber vertrauenerweckenden Umgangston. 21 Im Protokoll der Arbeitsgruppe ist vermerkt: »Neue Taktik in der Gesprächsführung; soll fast den Charakter einer Vernehmung haben; Entscheidungen hinauszögern; Ablehnungen so lange wie möglich hinausschieben; vertrauensvolle Atmosphäre schaffen.« Das Protokoll endete mit einem Satz, der wie ein Befehl klingt: »Feinde müssen erkannt und als Feinde behandelt werden.« 22 Solche abrupten Wendungen im Ton der Mitarbeiter im Rat des Kreises trugen erheblich zu dem Gefühl bei, von dem alle Antragsteller im Rahmen der Gespräche und Interviews berichteten: Die Handlungen der Behörden waren unberechenbar, ihre Entscheidungen nicht begründet und damit auch nicht nachvollziehbar. In diesem Kapitel, in dem es um die Herrschaftspraxis im Kreis Halberstadt geht, wird viel von dieser Willkür die Rede sein. Ein zweiter Schwerpunkt der Tätigkeit der Arbeitsgruppe 0118/77 bestand in der Koordinierung und Kontrolle der Arbeit aller »gesellschaftlichen Kräfte« im Kreis. »Das Ziel der Tätigkeit der Arbeitsgruppe ist das einheitliche und abgestimmte Vorgehen zur Unterbindung rechtswidriger Ersuchen.« 23 Die AG wies alle betrieblichen Leiter an, laufend Informationen darüber zu liefern, wie sich der Antragsteller im Betrieb oder im Wohngebiet verhielt, welche Rücknahmegespräche mit ihm und mit welchen Ergebnissen geführt worden waren. Darüber hinaus wurden die staatlichen Leiter verpflichtet, einer Antragstellung vorzubeugen, worunter auch »das Aufdecken und die Beseitigung begünstigender Bedingungen, die Anlass für das Entstehen von Absichten zur Übersiedlung sein können«, verstanden wurden. 24 Solche Verfügungen ergaben nicht nur einen erheblichen Arbeitsaufwand, sie delegierten auch die Verantwortung an die Adresse der staatlichen Leiter von Betrieben und Einrichtungen, deren erfolgreiche Arbeit daran gemessen wurde, wie viel bzw. wenig Antragsteller unter den dort Beschäftigten waren und wie viele Rücknahmen es im Betrieb gab.
21 MdI, HA IA: Belehrung zu der auf der Grundlage der Ordnung Nr. 0118/77 Abschnitt II Ziffer 5 geforderten Belehrung der Bürger zur Einhaltung der Rechtsvorschriften der DDR in Aussprachen mit diesen bei den Abteilungen Innere Angelegenheiten, 4.7.1984; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, o. Pag. 22 AG-Sitzung v. 23.11.1984; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, o. Pag. 23 Arbeitsplan, 29.1.1980; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, o. Pag. 24 Vgl. Verfügung Nr. 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrates zur Gewährleistung des einheitlichen, abgestimmten Vorgehens der staatlichen Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organen bei der Unterbindung von Versuchen zur Erreichung der Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 7774, Bl. 1–17, hier 6 u. 10.
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Die Mitarbeiter der Abteilung Innere Angelegenheiten und die in der Arbeitsgruppe zuständigen Mitarbeiter des MfS beklagten sich häufig über die Arbeit der Betriebsleiter. So ließe etwa im Betonwerk Halberstadt die »persönliche Einflussnahme des Betriebsleiters zu wünschen übrig, im Landmaschinenbau hat nicht der Betriebsleiter, sondern der Kaderleiter die Initiative, das persönliche Engagement des Direktors vom VEB Polyplast lässt Reserven erkennen«. 25 Besonders unzufrieden war die Abteilung Inneres in solchen Zeiten, in denen die Antragstellerzahlen in die Höhe gingen. 26 Die Betriebsleiter waren dann verstärkt dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Antragsteller nicht bereits im Vorfeld der Antragstellung ausfindig gemacht und den Behörden gemeldet zu haben. Die Hauptkritik betraf jedoch den Umstand, dass die betrieblichen Leiter, BGL-Vorsitzenden und SED-Mitglieder wenig Erfolge bei der »Zurückdrängung« von Antragstellern vorzuweisen hatten. Ihre Quote betrug oft nur ein Viertel aller Rücknahmen im Jahr, die Abteilung Innere Angelegenheiten und die Sicherheitsorgane waren deutlich effektiver. 27 Die Arbeitsgruppe verstärkte daher ihren Druck, machte die Betriebsleiter persönlich verantwortlich und führte den Anstieg der Antragstellerzahlen auf deren schlechte Leitungstätigkeit zurück. 28 Die Bereitschaft der Betriebsleiter, sich den monatlichen Rapporten zu stellen, war nicht sehr groß. Selbst Betriebsleiter, die als IM verpflichtet waren, erledigten diese Aufgabe auffällig häufig ohne besonderen Eifer. 29 Kontrollen der Abteilung Innere Angelegenheiten deckten auf, »dass es noch Leiter gibt, die die Verantwortung delegieren (VEB Halberstädter Fleisch- und Wurstwarenwerke, VEB Maschinenbau)«. Besonders verantwortungslos hätten die staatlichen Leiter im Kreisbaubetrieb gehandelt; nach Aussagen der Kaderleitung hatten sie überhaupt nicht mehr mit »ihren Ersuchern« gesprochen. Die
25 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 185. »Am 2.6.1978 unter Leitung der Abt. Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises Halberstadt fand eine Beratung mit allen Leitern und Parteisekretären der Betriebe, in denen sich Antragsteller befanden, statt. An ihr nahmen auch Mitarbeiter der Sicherheits- und Rechtspflegeorgane teil.« Vgl. LHASA MD M1, Nr. 16790, Bl. 186. 26 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 I/1 (IM »Klaus Fischer«), Bl. 224 ff. 27 Vgl. LHASA MD M1, Nr. 16781, Bl. 28 u. 34 (hier auf den Bezirk Magdeburg bezogen). 1979 hatten Betriebe 50, die Abt. Innere Angelegenheiten und MfS aber 175 Rücknahmen erreichen können. 28 Vgl. Jahreseinschätzung, 27.12.1979; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115. Die Kritik an den staatlichen Leitern wiederholte sich auf den zentralen Ebenen des MfS. Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 39. 29 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 228 (GMS »Pflug«, Reg.-Nr. VII 2170/80), Bl. 114. Der Betriebsleiter der Meliorationsgenossenschaft und GMS »Pflug« schreibt, dass er wenige Möglichkeiten hat, den Kollegen einzuschätzen, da dieser mit seiner Brigade selten nach Halberstadt käme.
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dortigen Leiter wären nur noch daran interessiert, wann ihre Antragsteller den Betrieb endlich verlassen würden. 30 In den 1980er Jahren häuften sich Berichte von Betriebsleitern, die den Sinn, weitere Gespräche mit dem Antragsteller zu führen, in Zweifel zogen: Der Kollege sei nicht zu überzeugen, die Aussicht auf Erfolg bliebe gering, man habe alles versucht, den Antragsteller umzustimmen, er ließe sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises bemerkte 1984 einen »gewissen Pessimismus« im Umgang der Betriebsleiter mit den Antragstellern. 31 Die Abteilung Innere Angelegenheiten und die AG drängten allerdings darauf, weitere Gespräche zu führen und die Arbeitskollegen der Antragsteller besser einzubeziehen. Dies vermieden die meisten Betriebsleiter jedoch. Sie stellten eine Gruppe für das Gespräch zusammen, die in der Regel aus dem Meister oder dem Abteilungsleiter, dem Kaderleiter, dem Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung und – wenn vorhanden – den SED-Mitgliedern der Abteilung oder Brigade bestand. In jedem Fall führten im Rahmen solcher Aussprachen die Direktoren, BGL-Vorsitzenden und Kaderleiter das Wort, wie zum Beispiel am 30. Mai 1984 im VEB Betonwerk Halberstadt. Zur Aussprache mit dem Antragsteller waren drei Kollegen, Mitglieder der SED, geladen, von denen dem Protokoll zufolge einer von seiner eigenen Besuchsreise im Westen berichtete und den Antragsteller warnte, dass im Westen »nicht alles Gold [sei,] was glänzt«. Er fügte, vermutlich zum Ärger der anwesenden Leiter, noch hinzu, »ansonsten soll man Reisende nicht aufhalten, er ist alt genug, muss wissen was er will«. Das Protokoll endet mit der Bemerkung: Der Antragsteller »hinterließ einen unberührten Eindruck, er bleibt dabei u. wartet ab, was rauskommt«. 32 Handelte es sich bei den Antragstellern um ehemalige Mitglieder der SED, die bisher eine leitende Funktion ausgeübt hatten, nahmen ohnehin keine einfachen Beschäftigten an den Disziplinierungsgesprächen teil. 33 Am Ende der 1980er Jahre wurde von einigen Leitern sogar davor gewarnt, das Arbeitskollektiv in die Disziplinierungs- und Rücknahmegespräche einzubeziehen. Sie könnten nicht dafür garantieren, dass auf diese Weise nicht das Gegenteil erreicht würde. 34 Sehr spät und erst nach einer Rede Erich Ho30 Protokoll der Beratung der AG 0118/77 v. 9.8.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 II/1 (IM »Klaus Fischer«), Bl. 64. 31 Vgl. Rückwerbegespräche in den Betrieben; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag. 32 OPK »Maurer«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1241/86, Bd. 1, Bl. 43 f. 33 Protokoll über die Aussprache mit dem Kollegen H. am 20.3.1981, VEB WBK, OV »Bau«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1172/84, Bl. 102. Zum Umgang mit SED-Mitgliedern siehe auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 674/86, Bl. 105. 34 Vgl. Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98 u. 99, o. Pag.
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neckers, 1987, der die Partei nun stärker in die Verantwortung nehmen wollte, gab es unter Funktionären der Bezirksleitungen der SED erstaunlich realistische Einschätzungen bezüglich des Einsatzes solcher Kollektivaussprachen: »Wo es keine klare Haltung im Arbeitskollektiv gibt, ist es zwecklos, formal Rückgewinnungsmaßnahmen durch das Kollektiv zu veranlassen. In solchen Fällen müssen von vornherein andere Wege gefunden werden.« 35 Der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED in Magdeburg hatte erfahren, dass es eine Reihe von Betriebsleitern gab, die solche Gespräche scheuten, und dass »nicht wenige Ersucher in der einen oder anderen Weise nicht mehr zu Gesprächen mit Vertretern des Betriebes bereit sind«. 36 Ungeachtet dessen wiederholten sich Jahr für Jahr kampagnenartig die Anstrengungen des Rates des Kreises, die Betriebsleiter verstärkt einzubeziehen. 37 Es wurden »Belehrungsprotokolle« für die Gesprächsführung erarbeitet, Schulungen und Problemdiskussionen durchgeführt. Wider besseres Wissen blieben die Verantwortlichen im Kreis dabei, die Verantwortung für das anwachsende Ausreisebegehren an die »gesellschaftlichen Kräfte« zu delegieren. Die geschilderte missmutige Haltung von Betriebsleitern gegenüber der Aufforderung, sich der Zurückgewinnung von Antragstellern zu widmen, ging jedoch nicht so weit, dass sie ihre Aufträge nicht erfüllten oder sich gar dem politischen Auftrag widersetzten. In einigen Bereichen, zum Beispiel in den Schulen, wurden solche »Kollektivgespräche« mit allgemeiner Anwesenheitspflicht, die vor allem der Disziplinierung dienten, bis 1989 durchgeführt. An der ordentlichen Dienstbesprechung einer POS des Kreises Halberstadt nahmen ein Vertreter des Rates des Kreises sowie der Schulinspektor teil, die Antragsteller waren offensichtlich nicht eingeladen. Dem Ehepaar Garms, Lehrer an dieser Schule, war zwei Tage zuvor die fristlose Kündigung aus dem Schuldienst ausgesprochen worden. Dies geschah mündlich und »korrekt«, nämlich »ohne das gestellte rechtswidrige Ersuchen […] überhaupt zu erwähnen«. 38 Die Veranstaltung galt nicht nur der Verurteilung des Ansinnens der 35 Referat des Vorsitzenden des Bezirkes auf der Beratung des Sekretariats der Bezirksleitung der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen und den Vorsitzenden der Räte der Kreise, (März 1987); BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Broschüre, o. Pag. 36 Ebenda. 37 Konzeption zu operativen Einsätzen in den Betrieben (1986): »Ziel ist es, durch das Zusammenwirken Abt. I A – Betrieb die politisch-ideologische Einflussnahme auf die Ersucher zu gewährleisten, um die Abstandnahme zu erreichen«; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. 38 Die Kündigung wurde gemäß § 56 AGB sowie § 2 der Absolventenordnung ausgesprochen. Vgl. KD Halberstadt, Information, Quelle VzW »Klaus Fischer«, 17.8.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), Bd. 1, Bl. 194. Am 18.8.1983 wurde gegen das Lehrerehepaar Garms ein Disziplinarverfahren durch die Abt. Volksbildung des Rates des Kreises Halberstadt eingeleitet. Vgl. ebenda, Bl. 57. Am 19.8.1983 fand die geschilderte »Verurteilung des Ehepaares durch das Pädagogenkollektiv« statt. Vgl. ebenda, Bl. 27–29. Am 23.8.1983 gibt die Abt. Volksbildung einen Abschlussbericht an den Rat des Bezirkes. Vgl. ebenda, Bl. 30 f.
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Antragsteller, sondern war zugleich als Möglichkeit gedacht, die anwesenden Lehrer zu disziplinieren. Acht »Kolleginnen und Kollegen« sowie acht »Genossen« und eine »Genossin« gaben ihre Stellungnahme in Anwesenheit der Schulinspektoren ab. Sie verurteilten die Antragstellung als Verrat, als beschämend und enttäuschend, bezeichneten das Ehepaar als Feinde des Sozialismus und stimmten den Disziplinarmaßnahmen voll zu. Das Ehepaar war sehr beliebt bei Eltern und Schülern, einige Kollegen hatten ein besonders gutes Verhältnis zu Herrn Garms, der ein überaus geschätztes Mitglied im Fußballverein war. Diese seine Beliebtheit führte sogar dazu, dass im Parteiausschlussverfahren gegen Herrn Garms nicht alle »Genossen« für einen solchen Ausschluss stimmten. 39 Und in der oben genannten Versammlung an der Schule gab es tatsächlich einen Kollegen, der Garms Arbeit rühmte und an seinen Diskussionsbeitrag keine Verurteilung anschloss. 40 Diese anerkannte Stellung in der Halberstädter Gesellschaft veranlasste die Kreisdienststelle des MfS, eine OPK gegen das Lehrerehepaar anzulegen, um es mit allen geheimdienstlichen Mitteln und Methoden zu isolieren. 41 Das Beispiel des Lehrerehepaares Garms verweist auf ein besonders perfides Mittel im Umgang mit Antragstellern: Die arbeitsrechtlichen Disziplinierungen, die zweifellos mit dem Begriff »Berufsverbot« richtig beschrieben sind. 42 Die internen Anweisungen des Vorsitzenden des Ministerrates hatten für das arbeitsrechtliche Vorgehen gegen Antragsteller eine eindeutige Grundlage geschaffen. Antragsteller waren von ihrer Tätigkeit zu entbinden, wenn sie »– Leitungsaufgaben zu erfüllen haben; – politische Mitarbeiter oder andere Mitarbeiter staatlicher Organe sind, die eine Vertrauensstellung innehatten; – in ihrer Tätigkeit Kenntnis von gegenwärtig noch aktuellen staats- und Dienstgeheimnissen haben oder bei der Fortsetzung ihrer Tätigkeit erlangen würden; – in ihrer Tätigkeit Verantwortung für die Ausbildung und Erziehung tragen (insbesondere von Studenten, Jugendlichen, Kindern); – an wichtigen bzw. wertvollen Produktionsanlagen arbeiten, deren Ausfall schwerwiegende Störungen der Volkswirtschaft zur Folge haben würde.« 43
39 Vgl. Bericht des IM »Kemmer«; ebenda, Bl. 112. 40 Abt. Volksbildung, außerordentliche Dienstbesprechung, 19.8.1983; ebenda, Bl. 27–29, hier 28. 41 Vgl. ausführlich dazu Kapitel 7.3 in diesem Band. 42 Kneipp: Im Abseits. 43 Verfügung Nr. 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrates zur Gewährleistung des einheitlichen, abgestimmten Vorgehens der staatlichen Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, 27.9.1983 (hier Anlage zur DA 2/83); BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 7774, Bl. 7f.
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In gewissem Sinne war das eine Präzisierung des Arbeitsrechts der DDR, welches zwar das Recht auf Arbeit festschrieb, jedoch die Möglichkeit der fristlosen Entlassung wegen der »schweren Verletzung staatsbürgerlicher Pflichten« nach § 56 einräumte. Die in diesen Fällen eindeutig politisch motivierte Rechtsprechung sowie die Unmöglichkeit, diesen Maßnahmen zu widersprechen, verlagerten solche arbeitsrechtlichen Disziplinierungen in den rechtsfreien Raum. 44 Fristlose Entlassungen nahm die Abteilung Volksbildung im Kreis Halberstadt mindestens in vier uns bekannt gewordenen Fällen gegen Lehrer vor, stets unmittelbar nachdem diese einen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt hatten. 45 In einem Fall – den wir noch ausführlich im Zusammenhang mit der »Zersetzungstaktik« des MfS beschreiben werden – reichte der Kreisschulrat eine fristlose Entlassung gegen einen Fachlehrer für Musik wegen »erwiesenen Fehlverhaltens« beim Rat des Kreises Halberstadt zur Beschlussfassung ein. Ihre Zustimmung gaben weiterhin der Bezirksschulrat, das Sekretariat des Kreisvorstandes der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung sowie das Pädagogenkollektiv der POS. 46 Die häufigsten durch die Betriebe veranlassten arbeitsrechtlichen Maßnahmen gegen Halberstädter Antragsteller bestanden darin, dem Beschäftigten ein Tätigkeitsverbot auszusprechen und sogenannte Änderungsverträge abzuschließen, die es ihnen nicht mehr ermöglichten, ihrer Qualifikation entsprechend tätig zu sein. Auch diese arbeitsrechtlichen Maßnahmen kamen einem Berufsverbot gleich, zumal die Betroffenen davon ausgehen konnten, dass sie in keinem anderen Betrieb der DDR eine Anstellung in ihrem beruflichen Tätigkeitsfeld erhalten würden. 47 Günter Großmann ist Meister in einem Produktionsbetrieb, zudem ist er Mitglied der SED. Schon drei Wochen nach der Antragstellung soll er umgesetzt werden, formal wird mit ihm ein Änderungsvertrag mit Wirkung vom 1. Februar 1976 als Brenner in der Lohngruppe 5 abgeschlossen. Die Begründung lautet: »Entbindung von der Funktion wegen Nichteignung.« Die Abteilungsgewerkschaftsleitung hatte ihre Zustimmung gegeben, es fehlte nun noch die »Anerkenntnis des Beschäftigten«. Günter Großmann unterschreibt diesen Änderungsvertrag nicht. Er empfindet es als Diskriminierung in einer schlechteren Lohngruppe als Hilfsarbeiter sehr schwere Arbeit leisten zu müssen. Die Kaderleitung macht letztendlich mit ihm einen Aufhebungsvertrag. Günter Großmann lässt sich zunächst vier Wochen krankschreiben, später be44 Vgl. hierzu die ausführlichen Ausführungen im Kapitel: Das Arbeitsrecht in der DDR – Rechtsprechung, in: Kneipp: Im Abseits, S. 53–56. 45 Besonderes Vorgehen bei Lehrer, vgl. auch 1988; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. 46 Vgl. Außerplanmäßige Ratssitzung; Einreicher: Kreisschulrat, 10.1.1979, Beschlusslage des Rates des Kreises; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag. 47 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 983/84 (OPK »Meister«).
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kommt er eine Anstellung bei der Kirche. Die Kaderleitung hat ihm versehentlich die vollständigen Unterlagen mitgegeben, die er auf Ormig 48 von einem Kollegen abziehen lässt. So kann er später im Westen das Berufsverbot belegen, das in seinem Fall – wie es heißt – die SED-Kreisleitung verhängt hatte. 49
Frau Paul wurde als Leiterin der Gaststätte abgesetzt. Frau Fischer hatte »Publikumsverkehr« und wurde von ihrem Betriebsleiter auf einen unqualifizierten Platz umgesetzt; sie erinnerte sich an ihre frühere Ausbildung und arbeitete bis zur Ausreise in einem Frisörladen. Frau Mattuschek wurde von ihrem Arbeitsplatz als Sekretärin versetzt. »Das hat mir der Produktionsdirektor gesagt. Der war sehr nett, dem war das auch ein bisschen unangenehm. Aber er hat gesagt, das geht nicht, dass ich im Vorzimmer sitze, ich könnte ja wichtige Unterlagen der Produktion – auf Ormig – das geht aus politischen Gründen nicht und ich werde versetzt in die Betriebsmechanik. Und das war mein Glück.« 50 Frau Mattuschek hatte nun einen Chef, der nicht in der Partei war und sie in Ruhe ließ. Herr Strutzig ist als Meister im VEB Stahlhochbau tätig. Nachdem er mit seiner Frau den Antrag im Rat des Kreises abgegeben hat, wird sein Chef dorthin zitiert. »Eine Stunde später kam er wieder und hat gesagt – wir haben uns geduzt – »Was hast du dir dabei gedacht?« Ich sage: »Das habe ich mir reiflich überlegt.« Herr Strutzig geht davon aus, dass ihm gekündigt werden würde, er geht freiwillig in die Produktion. In den zwei Jahren Wartezeit wird er auf eine geringere Lohnstufe gesetzt. An den montäglichen Leitungssitzungen nimmt er nun nicht mehr teil, er bekommt einen »Paten«, einen »Genossen« zugeteilt, der sich um ihn »kümmern« soll. Er kennt ihn gut und weiß, dass dieser selbst Westkontakte hat; diese Patenschaft sei so etwas wie eine Disziplinierung für den Kollegen gewesen. Herr Strutzig wird im Rahmen der Leitungssitzungen »bearbeitet«, ein Kollege, der gerade im Westen war, soll von seiner Reise berichten. »Unser Chef sagt: Gerd, nun erzähle mal, was du da drüben gesehen hast. […] Ja, da sitzen sie unter Brücken und saufen da – den Billigwein aus Tetrapack – Alles so’n Zeug. Da guckt er mich an. Und was geht mich das an?, hab ich gesagt. Ja, du willst ja hier den Staat verlassen, geht nicht, wir müssen dich überzeugen.« Ich sage: »Das ist meine ganz private Sache. Das hat mit dem Betrieb und mit der Politik nichts zu tun. Ich gehe auf Familienzusammenführung. Laut meinem Antrag. Und nichts anderes.« Sein »Pate« hätte dann noch gesagt: »Es ist seine eigene Entscheidung. Die sollen mich doch zufriedenlassen. So sinngemäß. Da war ich aber schon raus. Den haben sie anschließend so fertiggemacht, der hat geweint, wo er raus kam.« Die Rücknahmegespräche werden am Anfang wöchentlich durchgeführt. Nach einiger Zeit weigert sich Herr Strutzig daran teilzunehmen. Jetzt beginnt eine Zeit der völligen Isolation, seine geachtete Stellung als Meister ist vorbei. »Ich war dann nicht 48 »Ormig« = DDR-Synonym für Hektographie, ein Spiritus-Umdruck-Verfahren zur Herstellung einfacher Druckerzeugnisse in geringen Auflagen. 49 Interview mit Herrn und Frau Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 34 f., sowie Materialien aus dem Besitz von Herrn Großmann. 50 Interview mit Frau Mattuschek, 15.12.2009, Transkript, S. 25.
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mehr so beliebt. Früher hat man auf meine Meinung gehört, aber das war dann vorbei.« Die Atmosphäre ändert sich, nur noch die Leute aus der Produktion haben mit ihm gesprochen. »Ja, das war für uns, nervlich war das eine harte Zeit. Waren zwei Jahre, die man nicht richtig schläft.« 51
Von 59 Antragstellern aus dem Kreis Halberstadt, die alle in einer OPK oder einem OV des MfS erfasst waren, erlebten 15 Personen eine direkte berufliche Ausgrenzung. Sie wurden entlassen oder auf eine niedrig qualifizierte Tätigkeit im Betrieb umgesetzt. Elf Personen kündigten, von einer tatsächlich freiwilligen Entscheidung kann dabei nicht ausgegangen werden. Diese relativ kleine Anzahl von Berufsverboten hängt augenscheinlich mit der für den Kreis Halberstadt festgestellten sozialen, beruflichen und politischen Zusammensetzung der Gruppe der Antragsteller zusammen. Auf die wenigsten von ihnen waren jene Kriterien anwendbar, die zwangsläufig zu einer »Änderung oder Beendigung des Arbeitsrechtsverhältnisses« führen konnten. Politische Mitarbeiter, Geheimnisträger und Oppositionelle waren nicht unter den Halberstädter Antragstellern, die wenigen Meister, Lehrer und die in volkswirtschaftlich besonders wichtigen Bereichen arbeitenden Krankenschwestern und Ingenieure erfuhren die ganze Härte der staatlichen Repression. Die Praxis der Abteilung Inneres im Kreis Halberstadt belegt, dass in Ermangelung von entsprechenden Fällen – dieser Gedanke drängt sich einem als Begründung auf – solche Umsetzungen auch dann vorgenommen wurden, wenn die Antragsteller weder Leitungsfunktionen ausübten noch Geheimnisträger waren. Uwe Gardeleben arbeitet als Handwerker in einer LPG. Nach der Antragstellung 1984 wird er zunächst dort in Ruhe gelassen. »Und der Vorsitzende, der danach gekommen ist, der neue Vorsitzende, der hat auch gesagt zu denen vom Rat des Kreises: Lasst doch Familie Gardeleben ausreisen! Wozu behaltet ihr die Leute hier? […] Er hat das so ausgedrückt: Es kann keine Umerziehung stattfinden. Er hat abgeschlossen mit der DDR.« Aber nach drei Jahren, Gardelebens bleiben hartnäckig, ändert sich auch die Taktik des Betriebes. »Ende 87 haben sie dann härtere Maßnahmen – da hat mein LPG-Vorsitzender gesagt: Pass auf, wir müssen dich jetzt rausziehen aus der Brigade. Du bist da nicht mehr tragbar. Du versaust mir die Leute da. Der hat vielleicht Druck gekriegt. Dass er, irgendwie vom Rat des Kreises: Jetzt müssen wir ein bisschen Druck ausüben. Mal sehen, was er jetzt macht? Reagiert er so, wie wir wollen, oder macht er irgendwas anderes. Da hat er gesagt: Pass auf, ich stecke dich in den Kuhstall, jetzt. Also an der LPG war ein Kuhstall angeschlossen. Hab ich gesagt: Musst du machen. Und dann bin ich nicht mehr hingegangen.« Uwe Gardeleben wird von einer Handwerkertätigkeit zum Melken bestimmt. Er verweigert die Arbeit und wird als Heizer weiterbeschäftigt. Er verweigert auch diese Tätigkeit nach einiger Zeit, ihm wird gekündigt. Im Rat des Kreises versucht man ihn von seiner »sturen Haltung« abzubringen, weil man keinen Arbeitslosen haben will. Sie vermitteln ihm eine Stelle als
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Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 23–25.
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Kraftfahrer beim Obst- und Gemüsehandel. Gardelebens warten vier Jahre auf ihre Ausreise. 52
Frau Strutzig arbeitete zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung als Verkäuferin im Konsum. Nachdem die Familie aus dem Urlaub zurückgekommen war, saß eine andere Kollegin auf ihrem Arbeitsplatz an der Kasse. Sie bekam einen Arbeitsplatz in der Entladung zugewiesen. Sie bewarb sich in eine andere Abteilung des Konsums Halberstadt. Kurz vor dem Vertragsabschluss wurde ihr gesagt, dass sie den Posten nicht bekäme: »Ohne Begründung«. Sie kündigte gegen den Willen ihrer Chefin und bekam vom Rat des Kreises sofort eine andere Stelle angeboten, in der Zuckerfabrik als Saisonkraft. 53 Frau Strutzig empfand das Verhalten im Betrieb ihr und ihrem Mann gegenüber als Schikane, man wolle sie fertigmachen. Von bestimmten internen Veranstaltungen, zum Beispiel Betriebsausflügen, wurde sie ausgeschlossen. Auch Christine Engelbert wurde als Verkäuferin von ihrer Tätigkeit »entbunden«. Sie sollte als Reinigungskraft arbeiten und lehnte dies ab. 54 Die Praxis, auch Antragsteller beruflich zu disziplinieren, die eine eher niedrig qualifizierte Tätigkeit ausübten, war im Kreis Halberstadt verbreitet. Peter Granitz hatte seinen ersten Ausreiseantrag 1977 gestellt. Er arbeitete damals als Kraftfahrer in einer »Papierbude«, eine Tätigkeit, die ihm untersagt wurde. Solche teuren Maschinen könne man ihm nicht mehr anvertrauen, habe der Betriebsleiter gesagt. »Und dann ist was passiert, was ganz ungewöhnlich war für DDR-Verhältnisse, er hat keine Arbeit mehr gekriegt«, ergänzt Angelika Granitz im Interview. Peter Granitz: »Egal, wo ich hingekommen bin. Aus dem einen Betrieb bin ich rausgeflogen, die haben gesagt, die können mir die Maschinen nicht mehr anvertrauen, die sind zu teuer. Und dann bin ich zur nächsten Firma. – Das hat sich ja rumgesprochen. Die haben auch gesagt, nee, die können mich nicht gebrauchen. Und die wollten mich auch nicht. Da stand ich da mit einem Mal ohne Arbeit.« 55
Peter Granitz begann eine Arbeit auf einem Entsorgungshof. Es war »die schlimmste Dreckarbeit«, die er je gemacht hatte. Frau Mayer darf ihre Stelle als Putzfrau in der Schule nicht antreten. Das Protokoll eines Gespräches im Rat des Kreises vermerkt dazu: »Und was ist mit Ihnen? Hier steht, dass Sie ihre Arbeit verlassen mussten. – Nachmittags habe ich einen Anruf bekommen von der Volksbildung, ich kann sofort zu Hause bleiben. – Wer hat Ihnen denn das gesagt? – Ich weiß nicht, das kam von der Volksbildung. – Wie hat man das begründet? – Gar keine Begründung – Man muss Ihnen doch eine Begründung ge52 Interview mit Uwe und Kornelia Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 24 f. 53 Interview mit Herrn und Frau Strutzig, 16.12.2009, Transkript, S. 25–27. 54 Vermerk, 19.1.1977; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 1045/80 (OV »Resident«), Bd. 1, Bl. 48. 55 Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 18.
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ben, wenn man Sie entlässt. – Man hat uns gesagt, das kommt von der Volksbildung, wegen unserer Ausreise. Man hat ihnen von oben Dampf gemacht, man hätte gar nicht erst einstellen dürfen.« Der Mitarbeiter der Abteilung Inneres drückt seine Verwunderung aus und schließt diesen Punkt mit dem Satz ab: »Wir werden der Sache nachgehen.« 56
Der zuständige Leiter, der Frau Mayer gesagt hatte, dass sie die Arbeit wegen der Antragstellung nicht antreten dürfe, hatte gegen die Weisung gehandelt, niemals die Antragstellung als Begründung für eine arbeitsrechtliche Maßnahme anzugeben. Leiter, die dieses Prinzip verletzten, hatten mit Disziplinarstrafen zu rechnen, wie im Fall des Direktors von Herrn Groß, der von diesem erfahren hatte, welche Verfügung zu seiner Entlassung als Meister geführt habe. 57 Die wichtigsten Partner für die institutionenübergreifende Arbeitsgruppe, die zur »Zurückdrängung« der Antragsteller gebildet worden war, waren neben den Betriebsleitern die Kaderleiter. Zum einen bekamen sie von diesen die Erstinformation darüber, ob der Beschäftigte sich arbeitsrechtlich korrekt verhielt oder sein Arbeitsverhältnis gekündigt hatte. Zum anderen gingen an die Kaderleitungen Auflagen bzw. Empfehlungen, wie mit dem Antragsteller kaderpolitisch umzugehen sei. 58 Die Kaderleitungen stellten sich direkt in den Dienst nicht nur der Abteilung Innere Angelegenheiten, sondern auch des MfS. In deren Auftrag übten sie Druck auf den Antragsteller oder die Antragstellerin aus, um eine Rücknahme zu bewirken. Eine junge Frau, die seit zwei Jahren darauf wartete, zu ihrem Verlobten in den Westen ausreisen zu dürfen, wurde nach ihrem ausgezeichneten Facharbeiterabschluss in die zuständige Kaderabteilung zitiert. »Der Kaderleiter schlug ihr vor, dass sie ein Hochschulstudium aufnehmen könnte, wenn sie ihren Übersiedlungsantrag zurückzieht. Er erklärte ihr, dass, wenn sie einen Schlussstrich unter diese ganze Angelegenheit zieht, dann alles vergessen ist und niemand ihr später diesen Schritt vorwirft.« 59 Stefanie Döring blieb zunächst bei ihrer Entscheidung. Nach einem weiteren Jahr zeigte die »Zersetzungstaktik« der Staatssicherheit ihre Wirkung, sie zog ihren Antrag zurück. Der Montageingenieur Thomas Lüdecke hatte bereits 1976 einen Ausreiseantrag für sich und seine Familie gestellt, unter anderem, weil er sich in seiner 56 Abschrift des Gespräches mit den ÜE im Rat des Kreises am 15.5.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1669/85 (OPK »Grill«), Bl. 26. 57 Vgl. Protokoll einer Aussprache, 14.3.1980; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 983/84 (OPK »Meister«), Bl. 45, 48 f. u. 52–54. 58 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1904/85 (OPK »Verwandtschaft«), Bl. 132 u. 136. Aktenvermerke. Sektorenleiter Netz hat ein Gespräch mit dem Kaderleiter des Betriebes des Antragstellers geführt und Festlegungen getroffen: »Gespräche mit dem Ehepaar zu führen – prüfen, ob [Name] eine andere Arbeitsaufgabe erhalten muss«; ebenda, Bl. 132. 59 Aktenvermerk, 5.4.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1548/89 (OPK »Herz«), Bl. 66 f.
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beruflichen Entwicklung behindert sah. Nach der Antragstellung wurde er seiner Funktion enthoben, betrieblich umgesetzt und »unter Kontrolle« gehalten. An die Betriebsleitung erging der Auftrag: »Bei der Gewährung aller betrieblichen und überbetrieblichen sozialen und materiellen Vergünstigungen ist die Antragstellung auf Ausreise zu beachten.« 60 Einer Antragstellerin wurde die berufliche Qualifikation als Kinderkrankenschwester aberkannt. Dem ging eine Zeit voraus, in der die junge Frau im Krankenhaus schikaniert, isoliert und im Rahmen einiger »Rücknahmegespräche« mit der Kaderleitung unter Druck gesetzt wurde. Sie resignierte und wollte kündigen. In der Abteilung Innere Angelegenheiten wurde ihr daraufhin »mit Konsequenzen« gedroht. Nachdem sie die Kündigung aufrechterhalten hatte, wurde ihr die Qualifikation aberkannt. 61 Dieses Beispiel verweist bereits auf die enge Zusammenarbeit nicht nur zwischen der Abteilung Innere Angelegenheiten und den Kaderabteilungen der Betriebe, sondern auf die Eingriffe der Staatssicherheit in arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen Antragsteller. Viele Gesprächspartner berichteten, welchen Schikanen sie im Betrieb ausgesetzt waren, nachdem dort bekannt wurde, dass sie »Antragsteller« seien. Solidarische Haltungen von Betriebsleitern waren eher selten, und selbst wenn diese nicht zu den »Scharfmachern« gehörten, wurden die ständigen Disziplinierungsgespräche mit dem Leitungsgremium von den Betroffenen als bedrohlich empfunden. Angelika Granitz konnte, nachdem die Familie 1983 einen zweiten Ausreiseantrag gestellt hatte, ihre Arbeit auf dem Schlachthof behalten. Die Chefs verhielten sich unterschiedlich. Einer zitierte sie ganz am Anfang zum Gespräch und sagte: »Du, halt hier den Ball flach. Solange wie du deine Arbeit machst, wird dir hier auch nichts passieren.« Ein anderer dagegen: »Wenn ich hier was zu sagen hätte, würdest du hier schon gar nicht mehr sein.« In den betrieblichen Aussprachen wurde auf sie eingewirkt, den Ausreiseantrag für sich und die Tochter zurückzunehmen und sich von ihrem Mann scheiden zu lassen. Im Betrieb war sie eine Aussätzige, selbst eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen distanzierte sich von ihr. »Und wie gesagt, es gab natürlich auch ganz, ganz viele Frauen, die sich mit mir gar nicht mehr abgegeben haben. Ich denke mal eher Angst, Verzweiflung, keene Ahnung, wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Es gab ein paar Männer, die zu 60 Inspektionsbericht VEB Maschinenbau, 9.3.1976; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1500/83 (OPK »Altenburg«), o. Pag. Die Familie wartete fast 6 Jahre auf die Ausreise. 61 IM »Hans Höllman« ist der Kaderleiter des medizinischen Zentrums, in dem Jaqueline Böhmer arbeitete; Berichte des IM »Hans Höllmann« aus dem Betrieb; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 305/91, Reg.-Nr. VII 1292/81, Bd. II/1, Bl. 173, 49, 61, 64, 88, 92 u. 119. Siehe auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1468/84 (OPK »Verlobung«), Bl. 38, 41, 148 u.150 f. Zum besonderen Vorgehen gegenüber dem medizinischen Personal vgl. Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, 1988, o. Pag.
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mir gehalten haben, von der Schlachtstraße. Die haben denn schon immer gerufen: Komm her, setz dich zu uns. Aber das war’s dann auch schon. Der Rest hat mich gemieden, der ist mir aus dem Weg gegangen.« 62
Für alle Antragsteller war die berufliche Karriere mit der Antragstellung beendet, die Qualifizierung wurde abgebrochen, die bereits zugesagte Lohnerhöhung zurückgenommen, die Prämie nicht ausgezahlt. 63 Der Umgang mit den Antragstellern im Betrieb war ein heikles Thema für den Rat des Kreises. Einerseits waren disziplinarische Maßnahmen ein probates Mittel, den Antragsteller einzuschüchtern, andererseits war strikt darauf zu achten, dass dieser sich nicht »durch Lösung des Arbeitsrechtsverhältnisses der Einflussnahme entziehen« konnte. 64 Tatsächlich hatte sich der Antragsteller auf diese Weise jenem gesellschaftlichen Raum entzogen, in dem er hätte kontrolliert und diszipliniert werden sollen, dem Betrieb. 65 Die staatlichen Stellen befanden sich hier in einem »Zielkonflikt«: Sie hatten sich gegenüber dem Ausreiser zwischen zwei unvereinbaren Strategien zu entscheiden. Wovon ihre Entscheidung abhing, war häufig nicht nachvollziehbar. Eine Reihe von Halberstädtern hatte gleich nach der Antragstellung gekündigt, lebte vom Gesparten, vom Verkauf des Autos oder teurer Gegenstände, einige Frauen wählten bis zur Ausreise den Status der »Hausfrau«. In Halberstadt lag die Quote der Personen »ohne Arbeitsrechtsverhältnis« unter den Antragstellern bei fast acht Prozent. Um diesem Zustand vorzubeugen, stand die Arbeitsgruppe in ständigem Kontakt zum Amt für Arbeit, das angehalten wurde, arbeitslosen »Ersuchern« umgehend eine Arbeitsstelle zuzuweisen. 66 Die Abteilung Inneres befand sich permanent in dem Dilemma, Disziplinierungsmaßnahmen am Arbeitsplatz durchführen zu sollen, ohne endgültig die soziale Kontrolle über den Antragsteller zu verlieren. 67 Widersprüchliche Verhaltensweisen in der Abteilung selbst sind Ausdruck dieser Konfliktlage. Während der Leiter der Abteilung Inneres beim Rat des Kreises, Herr Bischoff, einem Antragsteller drohte, er könne keine Arbeit mehr bekommen, solange er einen Ausreiseantrag stelle, versuchte der Sektorenleiter diesen Fauxpas rasch auszu-
62 Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 43. 63 Einige Halberstädter erlebten diese Ausgrenzung bereits, nachdem Tochter, Bruder oder die Ehefrau in den Westen geflohen oder von einer Besuchsreise nicht zurückgekommen waren. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1241/86 (OPK »Maurer«), Bl. 43 f. 64 Im Bezirk Magdeburg war diese Zahl 1988 auf 18 % angestiegen; LHASA MD M1, Nr. 16329, Bl. 56. 65 Dieser Zusammenhang ist ausführlich beschrieben bei Kneipp: Im Abseits, S. 56–68. 66 AG-Sitzung v. 17.12.1982; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, o. Pag. 67 Danuta Kneipp hat dafür die treffende Formulierung gefunden, es hätte sich hier das »Prinzip der beruflichen Exklusion durch Inklusion« durchgesetzt, etwa in Form einer sogenannten Arbeitsplatzbindung oder der »Bewährung in der Produktion«.
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bügeln und sprach gemeinsam mit dem Antragsteller beim Amt für Arbeit vor. 68 In den geheimen Verfügungen des Ministerrates und des MfS, wie mit den Antragstellern arbeitsrechtlich umzugehen sei, ist diese widersprüchliche Interessenlage des Staates bereits in den Formulierungen erkennbar. Erst nachdem »alle Möglichkeiten der politisch-ideologischen Einflussnahme der Abstandnahme« abgeschöpft seien, sollten »differenzierte arbeitsrechtliche Maßnahmen durchgesetzt werden. Dabei sind Überspitzungen nicht zuzulassen.« 69 Die Praxis sah im Kreis Halberstadt weniger fürsorglich aus. Drei Viertel aller »hartnäckigen Antragsteller« erlebten zum Teil erhebliche Disziplinierungsund Ausgrenzungsmaßnahmen, die sich nicht nur auf das betriebliche Umfeld bezogen. Einige Schulleiter fühlten sich – offensichtlich ohne direkte Weisungen – aufgefordert, Kinder und deren Eltern zu strafen, indem sie beispielsweise Verbote aussprachen, weiterhin im Elternaktiv mitzuarbeiten oder eine Veranstaltung im Rahmen der Jugendweihe zu besuchen. 70 Als sich Eltern darüber beschwerten, gab es Kritik aus der Abteilung Inneres mit der an die Abteilung Volksbildung gerichteten Aufforderung, diese Maßnahmen einzustellen. Die Abteilung Inneres hatte die Auflage, die Rücknahmezahlen zu erhöhen. Mit solchen Disziplinierungen – das hatte die Praxis rasch gezeigt – wurden die Antragsteller in der Durchsetzung ihres Anliegens allerdings eher entschlossener. Eine Rücknahme infolge arbeitsrechtlicher Sanktionen ist in den Akten des Kreises Halberstadt nicht verzeichnet. Kein Betriebsleiter aus dem Kreis Halberstadt hat sich den Anordnungen der Abteilung Inneres offen widersetzt. Dies wäre aktenkundig geworden. Dennoch erfuhren wir aus den von uns geführten Interviews auch, dass sich betriebliche Leiter gegenüber den Antragstellern durchaus unterschiedlich verhalten haben. Der Direktor des Betriebes, in dem Frau Fischer tätig war, sei im Flur auf sie zugekommen und habe sich quasi dafür entschuldigt, dass sie ihren Arbeitsplatz aufgeben musste. Es tue ihm leid, er könne jedoch nichts dagegen tun. Frau Fischer, die dank ihrer zweiten Ausbildung als Frisörin die 68 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«), Bl. 113. 69 Verfügung Nr. 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrates zur Gewährleistung des einheitlichen, abgestimmten Vorgehens der staatlichen Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften in Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Organisationen zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen, 27.9.1983 (hier Anlage zur DA 2/83); BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 7774, Bl. 7. 70 Kornelia Gardeleben durfte nicht mehr im Elternaktiv mitarbeiten, desgleichen Doris Prützmann. Interview mit Uwe und Kornelia Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 20, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2188/89 (OPK »Musiker«), Bl. 25 f. Hier rügt die Abt. Inneres des RdK den Direktor, er solle die Maßnahme überdenken. Vgl. auch diverse Beispiele für Disziplinierungen in Betrieben und Schulen, 1983–1987; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag.
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Ausreise per Antrag
Wartezeit überbrücken wollte, wurde von der Chefin eines Frisörladens nach Hause geschickt, nachdem diese in der Stadt erfahren hatte, dass Frau Fischer »einen Antrag auf Ausreise zu laufen hat«. Eine zweite Frisörladenbesitzerin stellte sie dagegen in der Zeit bis zur Genehmigung der Ausreise problemlos ein. Die Leiterin einer PGH sah keinerlei Anlass, arbeitsrechtliche Maßnahmen gegen die Kollegin, die einen Antrag gestellt hatte, einzuleiten. 71 1980 rügte die Abteilung Inneres einen Betriebsleiter, er »hatte trotz mehrfacher Einweisungen keine Information über das Verhalten eines aktiven Ersuchers gegeben. Darüber hinaus ermöglichte er diesem Ersucher das Arbeitsrechtsverhältnis zu lösen. Auch darüber gab er keine Informationen ab. So gelang es diesem Ersucher in mehreren Betrieben ›Ablehnungen‹ bezüglich einer Arbeitsstelle zusammenzutragen und mit diesen Argumenten in der Abteilung Innere Angelegenheiten offensiv zu werden.« 72 Einige Leiter standen »der Sachlage recht gleichgültig« gegenüber, wie dem Rat des Kreises zu Ohren kam. 73 Und selbst die veranlassten Beurteilungen der Beschäftigten, die einen Antrag gestellt hatten, fielen unterschiedlich aus. Häufig kam es vor, dass sich das Blatt schlagartig wendete und der bisher gut bis sehr gut bewertete Kollege bekam das schlechteste Zeugnis ausgestellt. Anderen Antragstellern wurde hingegen von ihren Vorgesetzten beste fachliche Arbeit bescheinigt, ungeachtet der Tatsache, dass sie bereits in das Visier der Staatssicherheit geraten waren und kurz vor der Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens standen. 74 Vor dem Hintergrund, dass es sich in der Mehrzahl um qualifizierte Arbeiter handelte, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, werden solche Reaktionen von Betriebsleitern verständlich, die den Beschäftigten nicht verlieren und wenigstens noch für die Zeit bis zur möglichen Genehmigung eine gute Arbeitskraft behalten wollten. Frau Funke war als Abteilungsökonomin tätig. Der Betrieb wollte sie weder umsetzen noch entlassen, er benötigte ihre Arbeitskraft, ihre Beurteilungen fielen grundsätzlich positiv aus. Die Kreisdienststelle ließ die Betriebsleitung offensichtlich agieren. 75 Die Bezirksverwaltung Magdeburg des MfS dagegen kritisierte ihre nachgeordnete Dienststelle in Halberstadt wegen dieses halbherzigen Umgangs mit Frau Funke und schlug weitergehende Maßnahmen vor. Wenn Betriebsleiter den kleinen Spielraum im Interesse des Beschäftigten nutzten, hatte dies angesichts einer allgemein verbreiteten Ausgrenzung von Antragstellern eine unschätzbare Bedeutung für das Leben der Betroffenen. Es waren vor allem die Schikanen im Betrieb, die Isolation im Kollegenkreis, die 71 72 73 74 75
BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1239/86 (OPK »Holz«), o. Pag. LHASA MD M1, Nr. 16789, Bl. 41. Liste ASTA; Archiv RdK, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, 1984, o. Pag. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK/OV »Kohl«). Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1413/85 (OPK »Wartburg«), Bl. 110 u. 116.
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belastenden »Aussprachen« und ihre plötzliche Dequalifizierung, die viele Halberstädter Antragsteller in den Jahren der Wartezeit auf ihre Ausreise zermürbten. 76 1983 und 1989 veränderten gesetzliche Verordnungen den Status der »unrechtmäßigen« Antragsteller, darunter auch den arbeitsrechtlichen Umgang mit ihnen. 1983 wurden mit der Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern ein Antragsrecht und eine Bearbeitungspflicht für Ausreiseverlangen aus humanitären Gründen geschaffen, welche die bisherige Praxis der Genehmigung wenigstens für einen Teil der »Unrechtmäßigen« unter bestimmten Bedingungen nun auf Gesetzesgrundlage stellte. 77 Am 30. November 1988 schließlich wurde in der Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland ein allgemeines Recht auf Antragstellung einer Ausreise ins Ausland aus humanitären Gründen eingeführt, das im Januar 1989 in Kraft trat. 78 Parallel dazu wurden die arbeitsrechtlich diskriminierenden Anordnungen nach 1983 nicht mehr auf die Gruppe der Antragsteller angewandt, deren Anliegen nun als »berechtigt« galt. Und in einer Verfügung, die im Januar 1989 in Kraft trat, gab es Formulierungen, die auf ein verändertes Rechtsverständnis hindeuteten, etwa indem die Zumutbarkeit des Arbeitsplatzes für eine Versetzung des Antragstellers vorausgesetzt wurde oder arbeitsrechtliche Maßnahmen nur dann verfügt werden durften, wenn tatsächlich eine Pflichtverletzung vorlag. 79 Diese Veränderungen haben jedoch für die Antragsteller im Kreis Halberstadt kaum praktische Bedeutung erlangt. Der moderatere arbeitsrechtliche Umgang fand in den hier betrachteten Fällen keinen Niederschlag. Allerdings wird die neue Reiseverordnung von 1989 das Selbstbewusstsein aller gestärkt haben, die ihre Anträge mit einem international gepflogenen Recht auf ungehinderte Reisefreiheit begründet hatten. Zudem hatte ein neuer Kurs der Partei- und Staatsführung zumindest intern einen veränderten Ton und auch Umgang mit den Antragstellern vorgegeben. In seinem Referat auf der Bera76 Anträge an Volkspolizeikreisamt durch KD des MfS Halberstadt; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1719/85 (OV »Wien«), Bl. 21, 79, 96, u. 286–338. 77 Vgl. Voraussetzungen zur Antragsberechtigung gemäß § 6 Abs. 2 in Verbindung mit § 7 der Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern. In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 150–152. 78 Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR ins Ausland v. 30.11.1988. In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 591–594. 79 Verfügung Nr. 192/88 des Vorsitzenden des Ministerrates für das einheitliche Vorgehen der staatlichen Organe, Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften zur Zurückdrängung von Antragstellungen auf ständige Ausreise nach dem nichtsozialistischen Ausland. In: LHSA, MD, M1, Nr. 16366.
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Ausreise per Antrag
tung des Sekretariats des ZK der SED mit den 1. Sekretären der Kreisleitungen am 6. Februar 1987 löste Erich Honecker mit einer Bemerkung zur besonderen Verantwortung der Partei bei der »Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen« 80 lebhafte Aktivitäten nicht nur im Parteiapparat aus. Nachdem die Zahlen der Antragsteller zugenommen hatten 81 und die Beschwerden aus den Räten der Kreise sich darüber häuften, dass die Mitarbeiter der zuständigen Abteilungen der anwachsenden Flut von Antragstellern allein gegenüberstünden, könnte dies zwei Jahre vor seinem Sturz zu Honeckers Intervention geführt haben. 82 Die Devise von der Einbeziehung aller Bürger in eine »breite gesellschaftliche Front zur Zurückdrängung der Antragsteller« war allerdings so neu nicht, sie hatte die ganzen Jahre den ideologischen Hintergrund der Politik mit den Antragstellern gebildet. 83 Erstmalig jedoch wurde von Honecker die SED, namentlich die Genossen der Kreisleitungen, in die Verantwortung genommen, die sich bisher eher weniger in die Arbeit mit den Antragstellern eingemischt hatten. Sie waren stets informiert worden und die jeweiligen Stellvertreter in den Bezirken und Kreisen hatten an allen Beratungen in dieser Angelegenheit teilgenommen, die eigentliche Zuständigkeit hatten sie jedoch dem MfS überlassen. 84 Lediglich dann, wenn ein Antragsteller Mitglied der SED war, wurden sie aktiv. 85 Nach der Rede Honeckers begann im Parteiapparat eine eilfertige Beratungs- und Beschlusswelle, Analysen zur Lage der Dinge wurden angefertigt und Kommissionen sollten gegründet werden. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die von der Kreisleitung der SED in Halberstadt im Anschluss an die Rede Honeckers verfassten Papiere hinsichtlich ihres
80 Die kurze Passage lautete: »Die Aufgabe besteht, eine breite gesellschaftliche Front zu schaffen, um Antragstellungen zurückzudrängen bzw. zur Rücknahme zu veranlassen. Dazu ist vorbeugend zu wirken, die politisch-ideologische Arbeit offensiv zu führen, ein offenes und kameradschaftliches Arbeitsklima zu schaffen, Störfaktoren zu beseitigen, ein bürgernahes Verhalten und Handeln zu sichern und die Antragsteller fest in unsere Gesellschaft zu integrieren.«, Material für 1. Kreissekretäre, 7.2.1987, Besitz von Helmut Müller. In der veröffentlichten Rede im ND war diese Passage ausgespart. 81 Im Kreis Halberstadt wurden in den ersten neun Monaten des Jahres 1987 41 Erstanträge mit 92 Personen gestellt; LHASA MD, P 15 Halberstadt, Nr. 44821, Bl. 55. 82 Da er dies – nach Aussagen des 2. Sekretärs der BL Berlin – mit keinem vorher abgesprochen hatte, können wir nur Vermutungen anstellen. 83 AG-Sitzung, 23.11.1984; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 115, sowie Sign. 112, o. Pag. 84 Die Rolle der SED bezüglich der Antragsteller habe ich in einem Interview mit dem 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, Herrn Müller, erfragt. Seine Auskünfte sind, so sie sich in anderen Quellen bestätigten, in die Bewertungen eingeflossen. Vgl. Interview, 7.3.2011. 85 Vgl. Kapitel 5 in diesem Band sowie: BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80, Bd. 1–3, OV »Musiker«, Bd. 2, Bl. 132–135, 122–123 u. 151–154.
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Tones und ihres Inhalts kaum geeignet waren, Einfluss auf die Entwicklung der Antragstellerzahlen zu nehmen. 86 Zu der 1987 geforderten Gründung einer Kommission, die sich mit den Problemen der Zurückdrängung von Antragstellern befassen sollte, ist es auf der Ebene der SED-Kreisleitung Halberstadt nicht mehr gekommen. Erich Honecker hatte die »führende Rolle« der Partei in Sachen Ausreise und Flucht in der beabsichtigten Weise für die regionalen Parteiinstanzen nicht herstellen können. Die Hauptkompetenz in diesem Verantwortungsbereich blieb auf Kreisebene bis zum Ende der DDR faktisch in der Hand der Staatssicherheit. Dennoch konnten sich die zuständigen Mitarbeiter vor Ort bestätigt fühlen: Es könne nicht allein Aufgabe der Abteilung Innere Angelegenheiten sein, mit den Antragstellern zu arbeiten, dazu sei die Mitwirkung aller Fachbereiche des Rates, der Betriebe, der Genossenschaften und Einrichtungen sowie aller gesellschaftlichen Kräfte erforderlich. Denn bisher stünden die Betreuer meist nur auf dem Papier, die Gespräche in den Betrieben würden nicht kontinuierlich geführt, jetzt sollten auch Funktionäre des Wohngebietes einbezogen werden, zuverlässige »Genossen« aus allen Bereichen. 87 Die ebenfalls auf die Rede von Erich Honecker folgende neue Fassung einer Anleitung des Ministerrates und des Ministeriums des Innern »Zur Verantwortung und zu den Aufgaben der Leiter der Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften bei der weiteren Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen« betonte nicht nur die führende Rolle der Partei; sie war zugleich der Versuch, die »gesamtstaatliche Aufgabe« der Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen auf noch breiteren Schultern zu verteilen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass bei jeder Gelegenheit im Text darauf verwiesen wird, dass die zuständigen »Organe« stets auf der Grundlage erlassener Rechtsvorschriften handeln sollten, welche sie differenziert auf den individuellen Fall anzuwenden hätten. 88 Im Zentrum dieser Anleitung stand das Problem, wie die zuständigen staatlichen Leiter und Parteifunktionäre die Antragsteller von den Vorzügen des Sozialismus überzeugen könnten, gerade so, als ließe sich der zunehmende Strom von Antragstellungen mittels guter ideologischer Arbeit eindämmen. 86 Vgl. Vorsitzender des RdK Halberstadt: Vorlage für das Sekretariat der Kreisleitung Nr. 542, 10.10.1987; LHASA MD, P 15 Halberstadt, Nr. 44821, Bl. 43–57 sowie Vorsitzender des RdK Halberstadt: Vorlage für das Sekretariat der Kreisleitung Nr. 127, 7.4.1988; LHASA MD, P 15 Halberstadt, Nr. 44833, Bl. 20–30. 87 Vgl. Konzeption (1987); Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, sowie die Reaktionen auf Honecker-Rede; ebenda, Sign. 99. 88 Vgl. Ministerrat der DDR und MdI: »Zur Verantwortung und zu den Aufgaben der Leiter der Kombinate, Betriebe, Einrichtungen und Genossenschaften bei der weiteren Unterbindung und Zurückdrängung vor Übersiedlungsersuchen (Oktober 1987); BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 1352, Bl. 3–92.
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Ausreise per Antrag
Die Bezirksverwaltungen des MfS hatten diese neue Orientierung schon wenige Wochen nach der Honecker-Rede an ihre Diensteinheiten weitergegeben. Von einem feindlich-negativen Auftreten von Antragstellern war nun nicht mehr die Rede, stattdessen vom »humanistischen Wesen und Inhalt des Sozialismus, um jeden Bürger unseres Staates zu kämpfen, um ihm die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaft deutlich zu machen«. 89 Das MfS entwickelte sogar Verständnis für die »Ausreisewilligen«, deren Begehren sei »verknüpft mit den ganz natürlichen Bedürfnissen zum Kennenlernen der Welt, fremder Länder, ihrer Kultur etc., die aber unter den heutigen konkreten internationalen Klassenkampfbedingungen objektiv noch nicht voll zu befriedigen sind«. 90 Die empfohlenen arbeitsrechtlichen Maßnahmen seien einzig dem Ziel der Rückgewinnung unterzuordnen, sie dürften dem Antragsteller keine Nachteile bringen, ihn nicht isolieren, nicht disziplinieren, sondern müssten ihm eine »Brücke« bauen, wieder in den sozialistischen Alltag zurückzufinden. Sollte dennoch eine Maßnahme nötig werden, ihn von einer Vertrauensstellung abzulösen, ist dieser Schritt »in jedem Fall durch die Übertragung von Vertrauen anderer Art auszugleichen«. 91 Die Praxis im Umgang mit den Antragstellern sah in Halberstadt jedoch bis zum Schluss anders aus. Ein neuer Umgangston, wie ihn das interne MfSPapier vorgab, wurde von den Mitarbeitern in Halberstadt nicht gepflegt. Und dass selbst für die Staatssicherheit das Schwergewicht nun nicht mehr bei der Disziplinierung und Kriminalisierung der Antragsteller liegen sollte, haben die Betroffenen aus dem Kreis Halberstadt nicht bemerkt und auch nicht bemerken können. Zeitgleich mit dieser Weisung von 1987 wurde das Netz inoffizieller Mitarbeiter vom MfS durch den verstärkten Einsatz sogenannter Kontaktpersonen (KP) noch ergänzt. 92 Verhaftungen erfolgten bis in das Jahr 1989. Die Kreisdienststelle Halberstadt verstärkte sogar ihre »operative« Arbeit, nachdem 1987 der »Zusammenschluss« von Antragstellern im OV »Bus« registriert worden war. Auf die Zielstellung der Mitarbeiter der Kreisdienststelle, die OV mit dem Nachweis einer strafbaren Handlung zum erfolgreichen Abschluss zu bringen, hatte diese Neuorientierung augenscheinlich keinen Einfluss gehabt.
89 BV für Staatssicherheit Magdeburg: Zur weiteren Qualifizierung der Einschätzung der politisch-operativen Lage und der Informationstätigkeit an die leitenden Partei- und Staatsfunktionäre über die Wirksamkeit der gesamtgesellschaftlichen Anstrengung zur weiteren Unterbindung und Zurückdrängung von Übersiedlungsersuchen (Arbeitsmaterial), 9.3.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 260–302, hier 263. 90 Ebenda, Bl. 268. 91 Ebenda, Bl. 277. 92 Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 48. Zur Rolle der KP vgl. Kapitel 8 in diesem Band.
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Zu einer Zeit, als selbst »treue Genossen« in den Betrieben und Einrichtungen ihre Zweifel an Maßnahmen hegten, die Ausreisewelle mit einem letzten Aufgebot stoppen zu wollen und dabei auf die Einflussnahme durch den »Kollegen nebenan« zu hoffen, deuten solche Erwartungen auf einen enormen Realitätsverlust der Partei- und Staatsführung hin. 93 Für die Antragsteller war diese »konzertierte Rückholaktion« ohnehin kein Hoffnungszeichen. Im Gegenteil schien sich deren Aussicht auf eine Ausreise nun, nachdem sämtliche Anstrengungen des Staates wieder auf eine Rücknahme der Anträge gerichtet waren, eher zu verringern. Es macht den Eindruck, als hätte sich mit dieser neuen Linie zugleich Panik unter den Betroffenen ausgebreitet, die befürchteten, das Land nicht mehr verlassen zu können. Zudem gab es keinerlei Anlass, einen neuen Kurs der Parteiführung zu vermuten, da Erich Honecker im Sommer 1989 verkündete, man würde denen, die über die Botschaften flüchteten, keine Träne nachweinen. Nicht zufällig haben wir den Umgang der offiziellen staatlichen Stellen, der Abteilung Inneres, der Betriebsleiter, der Schulleiter und Kaderleiter mit den Antragstellern im Kreis Halberstadt vor die Beschreibung der Rolle der Staatssicherheit gestellt. Der Ministerrat der DDR, das Ministerium des Innern und die Deutsche Volkspolizei gaben die Anordnungen, wie mit den Antragstellern in den Räten der Kreise umzugehen war. Hier wurden die Informationen über die Antragsteller zusammengetragen und entsprechende Empfehlungen an den Bezirk gegeben. Die Möglichkeiten der Abteilung Innere Angelegenheiten, Auskünfte über das Verhalten der Antragsteller im Betrieb, in der Schule, über Arztbesuche und Krankheiten zu erhalten, waren erstaunlich vielfältig und bedurften oft gar nicht der Hilfe der Kreisdienststelle des MfS. 94 So ließ der stellvertretende Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten 1988 im Kreis Halberstadt überprüfen, ob eine Ärztin des medizinischen Zentrums in Osterwieck »Ersucher« gehäuft arbeitsunfähig geschrieben hatte. Ein mit der Prüfung beauftragter Arzt und Mitglied des Rates des Kreises sah die entsprechenden Patientenakten durch und kam zu dem Ergebnis, dass diese Behauptung nicht gerechtfertigt war. Auf diese Weise nahmen verschiedene Ratsmitglieder Einsicht in die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegenden persönlichen Krankendaten von Antragstellern. 95 Kaderleiter, Meister, Betriebsleiter, Abschnittsbevollmächtigte, zuverlässige »Genossen« und Funktionäre berichteten 93 Es heißt tatsächlich mehrfach in dem Arbeitsmaterial des MfS von 1987, die Leiter sollten den »Kollegen nebenan« in ihre Überzeugungsarbeit einbeziehen. 94 Dennoch bemühte sich die KD des MfS Halberstadt, gerade im medizinischen Bereich IM zu platzieren. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bl. 454; »Aufklärung der Ärztin (Nervenärztin) [Name] auf politische Zuverlässigkeit und bei Notwendigkeit Berufung zum GMS oder Werbung als IM«; ebenda, Bl. 458. 95 RdK Halberstadt, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 17.11.1988, an den Vorsitzenden des RdK; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 98, o. Pag.
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Ausreise per Antrag
mehr oder weniger beflissen über Antragsteller und waren in einigen Fällen sogar aufgefordert, ihr Urteil darüber abzugeben, ob sie einer Genehmigung zustimmen würden oder nicht. Auch wenn die »gesellschaftliche Front« am Ende etwas bröckelte, der staatliche Apparat hatte jahrelang in der vorgesehenen Weise funktioniert. Seine besondere »Schlagkraft« bekam er allerdings dadurch, dass sich die Staatssicherheit die letztendliche Entscheidungskompetenz vorbehielt. Das MfS machte über seine Dienststellen auch kurzfristige Vorgaben für den Umgang mit Antragstellern und griff so ganz direkt in die Arbeit der Räte der Kreise ein. 96 Die örtliche Staatssicherheit beantragte den Entzug des Personalausweises durch das Volkspolizeikreisamt, empfahl den staatlichen Leitern die jeweilige »Maßnahme« und besprach mit den Kaderleitern das weitere Vorgehen mit dem Antragsteller. Sie schuf sich eine Gruppe von für diese Sicherheitsfrage zuständigen Leitern und hauptamtlichen Mitarbeitern und setzte eine Armada von inoffiziellen Mitarbeitern ein, deren Aufgabe es war, die »operative Bearbeitung« der sogenannten feindlich-negativen Ausreisewilligen zu unterstützen. Zur »Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR« wies sie Hausdurchsuchungen, Postkontrollen, Telefonüberwachungen und die Installation von Abhöranlagen in den Wohnungen von Antragstellern an.97 Eine seit 1980 geltende Erfassungspraxis, die eine Speicherung der Daten aller Antragsteller bei den Dienststellen des MfS vorsah, sicherte die Federführung der Staatssicherheit auch in dieser Sache. 98 Der Funktion der Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt, ihren »operativen« Mitteln und Methoden bei der Kriminalisierung von Antragstellern und ihren konspirativen Helfern, den inoffiziellen Mitarbeitern, wollen wir uns in den folgenden Abschnitten dezidiert zuwenden.
7.2
Die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit im Kreis Halberstadt
Die Kreisdienststelle (KD) des MfS Halberstadt wurde im Sommer 1950 gegründet. 99 1953 zog sie von der ehemaligen Pankrath’schen Villa in den 96 Vgl. Telegramm Erich Mielkes an alle BV-Leiter, 23.3.1984, mit genauen Angaben, wie derzeit mit den Erstanträgen umzugehen ist, wem aktuell die Ausreise genehmigt werden soll und wem nicht, wie mit jenen umgegangen werden soll, die Ausreisen dürfen, welche Fristen ihnen gesetzt werden sollen; BStU, MfS, BV Magdeburg, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 349–355. 97 Vgl. MfS-Befehl Nr. 1/75 v. 15.12.1975 sowie MfS-Befehl Nr. 6/77 v. 18.3.1977. In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 73 ff. u. 21 ff. 98 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 374 f. 99 Nachdem am 8.2.1950 das Gesetz über die Bildung des Ministeriums für Staatssicherheit von der provisorischer Volkskammer beschlossen worden war.
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Paulsplan 28 um, wo sie bis zu ihrer Auflösung 1990 ihren Sitz behielt. Das Personal bestand anfänglich aus acht Haupt- und Hilfssachbearbeitern, einer Schreibkraft, zwei Wachposten, einem Kraftfahrer und einer Raumpflegerin. 100 Mit dem Ausbau der Kreisdienststelle wuchs nicht nur die Anzahl der hauptamtlichen, sondern auch die der inoffiziellen Mitarbeiter. Im Jahr 1979 war deren Zahl auf insgesamt 450 Personen angestiegen. 101 1981 führte die Dienststelle 561 inoffizielle Mitarbeiter, diese Zahl nahm in den folgenden Jahren leicht ab. Die Zahl der Hauptamtlichen wuchs bis 1989 auf 59 Personen an, was insgesamt auf einen Kreisdienststellen-Typus mittlerer Größe schließen lässt. 102 Die Anzahl der hauptamtlichen Mitarbeiter sowie die der IM war auf die vier Referate – »Sicherung der Grenze«, »Sicherung militärischer Objekte«, »Sicherung der Volkswirtschaft« und »Sicherung des Staatsapparates, Bekämpfung von PiD« – in etwa gleich verteilt. 103 Die angestiegenen Zahlen der »hartnäckigen« Antragsteller machten es jedoch notwendig, jene IM, die für andere Sachgebiete zuständig waren, verstärkt für die Kontrolle und den Nachweis strafrechtlich relevanten Verhaltens von Antragstellern einzusetzen. 104 Im Rahmen dieses Projektes wurden 48 MfS-Verfolgungsakten über Halberstädter Antragsteller ausgewertet, an denen insgesamt 128 verschiedene Personen als inoffizielle Mitarbeiter des MfS beteiligt waren. 105 Bereits die 100 Chronik der KD des MfS Halberstadt; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 711, Bl. 2–242, hier 74. Die Chronik ist offensichtlich im April 1989 begonnen worden, am 6.7.1989 wird der KD für Staatssicherheit die Ehrenurkunde Karl Marx von der SED-Kreisleitung Halberstadt übergeben. Die Chronik wurde im Februar 1990 beendet. Sie wurde unterschrieben vom Sekretär der Grundorganisation der SED, Gen. Messing. Vgl. zum IM-Bestand in den Kreisdienststellen des MfS Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 3, S. 35. 101 Vgl. Einschätzung der Dislozierung und Wirksamkeit des IM/GMS-Systems der Kreisdienststelle Halberstadt, 12.2.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 985, Bl. 3–23. Das waren 4 IME, 30 FIM, 25 IMV, 240 IMS, 151 GMS. Bl. 4. 102 Diese und die folgenden Befunde übernehme ich aus dem Vortrag »Flächendeckende Überwachung? Die Rolle der MfS-Kreisdienststellen bei der Kontrolle und Disziplinierung der Gesellschaft« von Dr. Roger Engelmann, den dieser am 18.2.2011, im Rahmen der Tagung »Die Diktatur in der Provinz – Nahaufnahmen der SED-Herrschaft«, Evangelische Akademie Thüringen, Neudietendorf, gehalten hat. Der Autor hat mir sein Manuskript freundlicherweise zur Verfügung gestellt und mir die Registratur jener Akte genannt, die seinen Daten zugrunde lag. 103 In allen Referaten arbeiteten 5 Hauptamtliche und je 20 % der IM, lediglich die Spionageabwehr führte 12 % IM. Vgl. Engelmann: »Flächendeckende Überwachung?«, S. 2 f. – PiD = Politisch-ideologische Diversion. 104 Vgl. auch Jahresarbeitsplan, Kaderbestand 1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 971. Nicht alle wurden durch die Kreisdienststelle »geführt«, es gab auch IM, die für die Kriminalpolizei arbeiteten, und nur einige unter ihnen gehörten direkt in das Sachgebiet »Sicherung der Staatsgrenze/Republikfluchten«, in dem auch die Anträge auf ständige Ausreise bzw. die Übersiedlungsersuchen (ÜE) verwaltet wurden. Zudem gab es IM, die von der Bezirksverwaltung des MfS angeleitet waren. 105 Im Einzelnen waren es: 5 FIM, 27 GMS, 2 hFIM, 1 HIM, 2 IKMO, 14 IM, 6 IMB, 4 IME, 2 IMK, 55 IMS, 7 IMV, 4 OibE, 1 VzW. Die Zuschreibungen konnten sich auch im Laufe der Zeit
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Ausreise per Antrag
jeweilige Kategorie, aber auch die Beschreibungen ihres »Einsatzgebietes« oder Schilderungen einer Situation, in der sie auf das »Objekt« getroffen waren, lassen Rückschlüsse auf den Beruf, die soziale und politische Stellung des IM in der Halberstädter Gesellschaft zu. So waren zum Beispiel die sogenannten Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit (GMS) zumeist zugleich Mitglied der SED und in der Regel in höheren staatlichen Funktionen tätig. Darüber hinaus haben wir 35 IM-Akten eingesehen, in denen unter anderem Werdegang, Parteizugehörigkeit und die berufliche Stellung der inoffiziellen Mitarbeiter festgehalten sind. 106 Auf dieser Grundlage konnten exemplarische Aussagen darüber getroffen werden, wer im Kreis Halberstadt als IM zur »operativen Bearbeitung« von Antragstellern eingesetzt wurde. Eine Antwort auf die Frage nach dem sozialen Charakter der IM gibt nicht nur Einblicke in die Herrschaftspraxis des Parteistaates DDR, sie trägt auch dazu bei, die Beziehungen der Menschen untereinander und die Funktionsweise dieser Gesellschaft besser zu begreifen. 107 Unter den inoffiziellen Mitarbeitern befanden sich mehrheitlich solche Personen, die bereits in einer gesellschaftlichen Funktion tätig und dem MfS gegenüber politisch auskunftspflichtig waren. Offiziell waren sie als Kaderleiter, Betriebsdirektoren oder Abteilungsleiter in einem Halberstädter Betrieb beschäftigt. Mehrere Abschnittsbevollmächtigte und Mitarbeiter im Rat des Kreises sind ebenfalls als GMS oder IMS für das MfS tätig gewesen. In der von uns untersuchten Gruppe der IM des Kreises Halberstadt gab es wenigstens sechs Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei, fünf Mitarbeiter aus dem Volkspolizeikreisamt und fünf Sicherheitsbeauftragte aus Betrieben. 108 Dieser Befund deckt sich mit Studien zur Rolle der Staatssicherheit in DDRBetrieben, nach denen sich die IM der Staatssicherheit auf der Leitungsebene und unter den Ingenieuren und Ökonomen konzentrierten. 109 Obgleich dieser Personenkreis ohnehin in regelmäßigen Abständen von Hauptamtlichen des MfS aufgesucht und befragt wurde oder in anderer Weise offizielle Kontakte zur Staatssicherheit hatte, waren sie als IM darüber hinaus zur konspirativen Zusammenarbeit mit dem MfS verpflichtet. Beispielhaft sei ändern, wenn etwa ein IM Führungsposition bekam und zum IMF umregistriert wurde, desgleichen, wenn ein IMS zum IMB ernannt wurde, also mit einer besonderen Aufgabe bedacht. Vgl. zur Unterscheidung der verschiedenen IM-Kategorien Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Teil 3, S. 54 ff. u. 124 ff. 106 Um die Vielfalt der Auswahl zu erhöhen, wurden die IM aus fünf verschiedenen Operativen Vorgängen ausgewählt, von denen allerdings am Ende nicht alle zur Verfügung standen. 107 Der soziale Hintergrund und Status jener Personen, die als IM sich dem MfS verpflichteten, ist bisher noch nicht untersucht worden. 108 Vgl. u. a. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161 (IME »Marcus Hausschild«, Reg.-Nr. VII 1197/77), Bd. I/1. 109 Vgl. Hürtgen: »Stasi in der Produktion«. Umfang, Ausmaß und Wirkung geheimpolizeilicher Kontrolle im DDR-Betrieb. In: Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 295–317.
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hier der GMS »Gerhard Kemmer« genannt, Betriebsleiter in einer Osterwiecker Fabrik und wie alle GMS in dieser Studie Mitglied der SED. Der IM ließ seine Berichte über die mit zwei Antragstellern geführten Disziplinierungsgespräche einmal offiziell dem Rat des Kreises und einmal dem für ihn zuständigen Oberstleutnant von der Kreisdienststelle des MfS Halberstadt zukommen. Es ist anzunehmen, dass der Betriebsleiter nicht zwei unterschiedliche Texte verfasst hatte und auch in den offiziellen Berichten, die Namen jener »Genossen« erwähnte, die nicht für einen Ausschluss des Antragstellers aus der Partei gestimmt hatten. Insofern erscheint seine Verpflichtung zur Konspiration wenig sinnvoll. Auf den zweiten Blick jedoch erschließt sich der Sinn dieses Doppelspiels, denn IM »Kemmer« erfüllte auch Aufträge, die nur über inoffizielle Kanäle erteilt werden konnten. Er besorgte der Staatssicherheit Schriftproben von einem Kollegen und gab persönlich geführte Gespräche an das MfS weiter. 110 Die IM »Peter«, »Markmann«, »Bruns« und »Otto« gaben als Abschnittsbevollmächtigte bzw. Sicherheitsbeauftragte die geforderten »Ermittlungsberichte« über Antragsteller ebenfalls an beide Instanzen. Die Staatssicherheit konnte so die Berichte »ihrer Leute« mit denen von Leitern vergleichen, die keine IM waren, und überprüfte auf diese Weise deren Loyalität. Solche inoffiziellen Mitarbeiter in höheren betrieblichen Funktionen sahen ihre Aufgabe vor allem darin, die Arbeit der Betriebsleiter zu kontrollieren, in unserem Fall deren Aktivitäten auf dem Gebiet der »Zurückdrängung« von Antragstellern zu überwachen und fehlendes Engagement gegebenenfalls zu denunzieren. »In einer unerhörten und unverfrorenen Weise ging der Betrieb bis auf den heutigen Tag nicht auf die Aufforderung ein und ignorierte konkret alle Weisungen«, beschwerte sich der IM »Hausschild« beim MfS über seine Betriebsleitung im VEB Demos, einem Druckereibetrieb. 111 Auch die inoffizielle Zusammenarbeit des MfS mit den Kaderleitern war ein sehr effektives Instrument der Kontrolle und Disziplinierung namentlich von solchen Menschen, die, wie die Antragsteller, mit ihrem Verhalten den absoluten Herrschaftsanspruch von Partei und Staat infrage stellten. Der IMS »Hans Höllmann« wurde nach einer gescheiterten Karriere im hauptamtlichen Apparat der Staatssicherheit, in dem er bis zum Major aufstieg, Ende der 1970er Jahre entlassen und bekam die Stelle des Kaderleiters in einem Halberstädter Krankenhaus zugewiesen. Da sich unter Medizinern Antragstellungen auf Ausreise gehäuft hatten, wurde ihm die Aufgabe erteilt, »die operative Basis 110 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 299; GMS »Gerhard Kemmer«, vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«). 111 Auch die Parteileitung tue nichts. Siehe Information 18.1.1989, KD, IM bezieht sich auf die Verfügung 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrates sowie auf die Auflagen des RdK, die nicht eingehalten würden; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161 (IME »Marcus Hausschild«, Reg.-Nr. VII 1197/77), Bd. II/1, Bl. 34.
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unter der medizinischen Intelligenz und dem mittleren medizinischen Personal zu stärken«. 112 Als Kaderleiter hatte er allerdings keinen Zugang zur Privatsphäre der Antragsteller in seinem Bereich und konnte daher zum Beispiel keine Informationen aus dem Freizeitleben der betreffenden Person liefern. Seine Funktion bestand vor allem darin, mit dem Rat des Kreises und der Staatssicherheit Verhaltensrichtlinien zum Umgang des Betriebes mit den Antragstellern abzusprechen und anzuweisen. 113 Auf den ersten Blick scheint es erklärungsbedürftig, dass selbst eine Reihe von Mitarbeitern aus dem Rat des Kreises Halberstadt neben ihrer Arbeit, in der sie sich ohnehin mit den Antragstellern befassen mussten, als IM eingesetzt waren. Der IM »Klaus Fischer«, zuständig für Staatsbürgerschaftsfragen im Rat des Kreises Halberstadt, war zwar arbeitsrechtlich dem Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten unterstellt, doch seinen detaillierten Arbeitsplan hatte die Kreisdienststelle des MfS erarbeitet. Darin waren unter anderem seine Aufgaben der Anleitung und Kontrolle der Betriebe bei der Zurückdrängung der Antragsteller, der Gewährleistung einer effektiven Arbeit des Sektors Staatsbürgerschaftsfragen und der Zusammenarbeit mit den Sicherheits- und Justizorganen bei der Vorbereitung der Entscheidung zur Genehmigung von Anträgen oder sein persönlicher Einsatz bei der Rückgewinnung von Antragstellern festgelegt. 114 Das MfS trat hier ganz direkt an die Stelle des staatlichen Weisungsberechtigten, selbst Qualifikationsmerkmale und Vergütung des Sektorenleiters legte es fest. Unterschrieben hat diesen Teil des Arbeitsplanes allerdings der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten, der seinerseits als OibE dem MfS verpflichtet war. 115 Auch die Leiterin des Sektors »Genehmigungswesen«, die ausschließlich mit den Antragsstellungen befasst war, ist vom MfS als GMS »Karin Ufer« zur geheimdienstlichen inoffiziellen Zusammenarbeit verpflichtet worden. 116 Auf 112 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 305/91 (IMS »Hans Höllmann«, Reg.-Nr. VII 1292/81), Bd. I/1, Bl. 67. Vgl. auch Treffberichte 1981–1986; ebenda, Bd. II/1, Bl. 1–470. Darin zahlreiche Einschätzungen über Halberstädter Antragsteller. 113 Vgl. Berichte des IMS »Hans Höllmann«; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 305/91, Reg.-Nr. VII 1292/81, Bd. II/1, Bl. 49, 61, 64, 88 u. 92. 114 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 355 (IM »Klaus Fischer«), Bd. I/1. 115 OibE = Offizier im besonderen Einsatz. Diese eindeutige Zuordnung der Leiter der Abt. I A im Rat des Kreises zum MfS resultierte aus dem Umstand, dass dem Referat 1 »Sicherung der Staatsgrenze« der MfS-Kreisdienststelle die Abteilung Inneres als Sicherungsbereich zugeordnet war. Vgl. zum OibE auch: OPK »Schläger«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1247/86, Bl. 19, Unter »Einsatz der Hauptmittel« durch den OibE B. und den IME »Klaus Fischer« sind alle Aktivitäten des Genannten gegenüber der Abt. Innere Angelegenheiten zielstrebig aufzuklären. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOP, Nr. 1350/84 (OV »Rückkehrer«), Bl. 196. Vgl. auch: Eröffnungsbericht zum OV »Modell«, 4.3.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88, Bd. 1, Bl. 191–200, sowie Ergänzung zum Operativplan v. 29.1.1985 zur Bearbeitung der OV »Modell«, 4.3.1985, Einsatz OibE »B«; ebenda, Bl. 201. 116 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 450 (IME »Karin Ufer«), Bde. I/1 u. II/1.
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diese Weise hatte das MfS die entscheidenden Leitungsebenen der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises Halberstadt mit IM besetzt und sich die staatliche bzw. kommunale Struktur dieses Bereiches quasi angeeignet. Aus dem Rat des Kreises Halberstadt wurden uns noch weitere Abteilungsleiter bekannt, die der Kreisdienststelle Halberstadt im Zusammenhang mit einer OPK in der Funktion eines IM Informationen lieferten. 117 Die Leiterin des Sektors »Genehmigungswesen« sowie der Leiter für Staatsbürgerschaftsfragen hatten neben ihrer Aufgabe, über die Gruppe der Antragsteller zu berichten, regelmäßig die politische und fachliche Arbeit der Kollegen in der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises Halberstadt einzuschätzen. Da das IM-Netz in solchen Bereichen besonders dicht war, wurde die Staatssicherheit auf diese Weise lückenlos über alle dort tätigen Personen informiert. Diese Situation der gegenseitigen Bespitzelung von Leitern und Funktionären ist aus den Leitungsetagen der VEB bekannt und in der Literatur bereits ausführlich beschrieben worden. 118 Der Sektorenleiter für Staatsbürgerschaftsfragen im Rat des Kreises und IM »Klaus Fischer« geriet im Zuge entsprechender Denunziationen durch andere IM in ernste Schwierigkeiten, er sollte wegen ungenügender Arbeitsleistung 1985 seines Postens enthoben werden. Warum dies letztlich nicht geschah, ist den Akten nicht zu entnehmen. Möglicherweise hing das mit der ihm attestierten Befähigung zusammen, mit den Antragstellern »persönlich« umgehen zu können. IM »Klaus Fischer« scheint nach Ansicht der Kreisdienststelle des MfS ein besonders sympathischer Mensch gewesen zu sein, er könne gute Kontakte zu den »Gesuchstellern« aufbauen und überzeugend argumentieren. Im Kreis Halberstadt, seinem Zuständigkeitsbereich, habe es besonders viele Rücknahmen von Antragstellungen gegeben. 119 Auch die Leiterin des Sachgebietes »Genehmigungswesen« schien eine enge Beziehung zu ihrem »Bearbeitungsgegenstand« gehabt zu haben; ihre Berichte an die Kreisdienststelle des
117 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 424 (IM »Hans Walter«), Bd. I/1; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 15443 (GMS »Fichtner«). Auch IM »Otte« ist im RdK beschäftigt. 118 Vgl. Hertle; Gilles: Stasi in der Produktion – Die »Sicherung der Volkswirtschaft« am Beispiel der Struktur und Arbeitsweise der Objektdienststellen des MfS in den Chemiekombinaten. In: Henke; Engelmann (Hg.): Aktenlage, S. 118–137, hier 129; vgl. auch das Kapitel: Die Abweichler in den eigenen Reihen aufspüren, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 214–218. 119 Tatsächlich berichten ehemalige Halberstädter Antragsteller davon, dass der Sektorenleiter sie sogar zu Hause aufgesucht hätte. In einem Fall hatte er »die gute Nachricht« als erster überbringen wollen. In zwei weiteren Fällen bietet er sich als Käufer des Hauses und des Autos der Antragsteller an. Vgl. Interview mit Herrn und Frau Großmann, 20.1.2010, Transkript, S. 34 f., sowie Interview mit dem Ehepaar Granitz, 25.11.2009, S. 48. Vgl. die Information, dass von den zuständigen Mitarbeitern im RdK bzw. des MfS der rasche Verkauf des Hauses oder des Autos zu einer Beschleunigung der Genehmigung führen konnte. Vgl. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 166– 170; Schumann u. a.: Private Wege der Wiedervereinigung, S. 170.
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MfS waren mit einigem Engagement geschrieben. 120 Ihre Analysen und Situationsbeschreibungen sind ausführlich und durchaus inhaltsvoll. 121 Nicht nur die Mitarbeiter der Abteilung Inneres, sondern sämtliche IM in leitenden Funktionen hatten in Abständen alle Personen ihres Arbeitsbereiches »operativ« zu charakterisieren: »Wer ist wer?«, lautete die Aufgabenstellung. Auf diese Weise bekam der Spitzel beträchtliche Machtfülle und trug nicht selten dazu bei, dass »leitende Genossen« disziplinarisch belangt oder sogar abgesetzt wurden. 122 Es drängt sich der Eindruck auf, dass die konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS häufig eben dieser kaderpolitischen Machtposition wegen angestrebt wurde. 123 Dennoch ist der »Einsatz« von IM, die in höheren Leitungsfunktionen tätig waren und lediglich als offizielle Vertreter des Staates oder der Partei den Antragstellern gegenübertraten, für das MfS nur begrenzt von Nutzen gewesen. Der eine oder andere Antragsteller mag auf die verständnisvolle Art des Sektorenleiters eingegangen sein und mehr von sich preisgegeben haben, als er zunächst beabsichtigte. Jedoch für das MfS wichtige, strafrechtlich relevante Sachverhalte waren über diese Kontakte ganz sicher nicht zu erfahren. Die Begegnungen in den Behörden blieben offizieller Natur, die Antragsteller verhielten sich entsprechend distanziert. Der IM »Höller« war in seiner Funktion als Parteisekretär und »Mitarbeiter Wettbewerb« ebenso ungeeignet, private Auskünfte über Antragsteller aus seinem Betrieb zu geben, wie die Sicherheitsbeauftragten. Ihre zahllosen Berichte zu »Stimmungen und Meinungen« sind ein deutliches Zeugnis dafür, dass sie kein »Ohr an die Massen« halten konnten. Am allerwenigsten erfuhren sie etwas von den Antragstellern, die in der Regel besonders vorsichtig und zurückhaltend in ihren Meinungsäußerungen waren. 124 Die Schwierigkeiten, an relevante Informationen über Antragsteller zu gelangen, wurden auch dann nicht geringer, wenn die Staatssicherheit solche IM 120 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 450 (IME »Karin Ufer«), Bd. II/1, Bl. 49 f. u. 85–87. 121 Siehe Kapitel 8 in diesem Band. 122 Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 88 (IM »Höller«), Bd. I/1, Bl. 313. 123 Der IMS »Bernd Höller«, Mitarbeiter für Wettbewerb, war zuvor Parteisekretär im Betrieb. Er schrieb ausführliche Berichte über den Hauptbuchhalter, den Leiter der Produktionsvorbereitung, den Sicherheitsbeauftragten und vor allem über die Kaderleiterin des Betriebes, die er geradezu verfolgte, um den Nachweis ihrer Unfähigkeit zu erbringen. Er versuchte sie politisch zu denunzieren, indem er in den Spitzelberichten ausführlich auf ihre »bürgerliche Lebensweise« aufmerksam machte. Er unterbreitete der KD des MfS Vorschläge, wer durch wen von seiner Funktion entbunden werden sollte und wie er selbst in der Sache aktiv werden könnte. Einschätzung im Rahmen einer Vorauswertung in Bezug auf die Berichterstattung des IM »Höller« hinsichtlich Relevanz und Objektivität, 7.8.1986; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 88, Bd. I/1, Bl. 190–194. Vgl. auch ebenda, Bd. II/2, Bl. 344 sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), Bl. 54. 124 GST = Gesellschaft für Sport und Technik. Vgl. Bericht des IM »Hausschild«, 13.8.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161, Bd. II/2, Bl. 200a.
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einsetzte, die auf mittlerer und unterer Leitungsebene tätig waren. Dem Leiter der Feuerwehr, einem GST-Funker und Funktionär der Zivilverteidigung, dem Leiter der Kindergarten- und Schulverwaltung oder dem Meister ihres Betriebes gaben die Antragsteller ebenso wenig Auskunft über intime und politisch brisante Vorhaben wie dem Betriebsdirektor oder einem leitenden Mitarbeiter im Rat des Kreises. 125 Diese Distanz war allein schon dadurch hergestellt, dass alle diese IM meist auch Mitglieder der SED waren. Eine solche Mitgliedschaft stellte sie bereits auf die andere Seite der Gesellschaft, was den IM bewusst war. Der IMS »Helga Bach« meldete umgehend den folgenden »Vorfall«: Bei der Verabschiedung hätte sie dem Freund und Antragsteller gesagt, dass sie noch zum Parteilehrjahr müsse, worüber dieser sehr erstaunt gewesen sei. Offensichtlich hatte er von ihrer Mitgliedschaft in der SED nichts gewusst. Die inoffizielle Mitarbeiterin hatte sich unabsichtlich offenbart: Wie solle sie sich jetzt verhalten, fragte sie ihren Führungsoffizier. 126 Die bisherige Darstellung soll nicht den Eindruck erwecken, die geheimdienstlichen Zuarbeiten der kleinen und großen Funktionsträger wären nicht folgenreich und somit politisch und moralisch wenig verwerflich gewesen. Auch sie lieferten für das MfS interessante Informationen über Personen ihres Arbeits- oder Wohnbereiches, etwa über deren Eheprobleme oder wie häufig sie Gaststätten aufsuchten. Dies konnte der ABV-IM selbst beobachtet, der Abteilungsleiter-IM beim Belauschen seiner Sekretärinnen aufgeschnappt oder der Leiter der Feuerwehr und IMS »Peter Emmerich« beim geselligen Beisammensein in der Kneipe am Nachbartisch mitgehört haben. Sie alle wurden – vielleicht in Ermangelung eines effektiveren Informanten – zur konspirativen Aufdeckung von Straftatbeständen im Rahmen der gegen Antragsteller in Halberstadt angelegten OPK und OV herangezogen. Ärzte, die im Dienst der Staatssicherheit standen, Abschnittsbevollmächtigte, Rechtsanwälte und Schulleiter lieferten dem MfS weitergehende Informationen. 127 Dieser Typus eines inoffiziellen Mitarbeiters des MfS, der zugleich eine leitende staatliche oder gesellschaftliche Funktion innehatte, macht in der Recherche im Kreis Halberstadt fast zwei Drittel aller IM aus. 128 Deren sozialer und politischer Status war 125 Da ging es um den IM »Fritz Albert« (SED, Zivilfunker, Ingenieur), den IMS Peter Emmerich (Leiter Feuerwehr, SED), den IM »Kurt Decker« (SED, Leiter der Schulverwaltung) sowie den IM »Klaus Dorn« (SED, Ingenieur, ehrenamtlicher Sicherheitsbeauftragter, Direktor für Kader und Bildung). 126 Vermerk, 19.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 210. 127 Ihre konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS unterschied solche Informanten von jenen, die im Rahmen ihrer Parteizugehörigkeit oder staatlichen Leiterfunktion Auskünfte zu liefern hatten, ohne IM-verpflichtet gewesen zu sein. 128 Der IMS »Florian Wehle« war in einer Schlüsselposition der Handwerkskammer Halberstadts beschäftigt. Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1889/83 (OV »Spieler«). Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK/OV »Kohl«).
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für die Halberstädter Mehrheitsgesellschaft untrügliches Warnzeichen, in Gegenwart dieser Personen einfach »den Mund zu halten« und keine politischen Gespräche zu führen. Für die Staatssicherheit, die, wie in unserem Fall, die Absichten der Antragsteller auf Ausreise erfahren wollte, war dies eine denkbar ungünstige Situation. Sie musste einen anderen Typ des konspirativen Mitarbeiters in die Nähe des Antragstellers lancieren, einen, den nicht das Markenzeichen des offiziellen Staats- und Parteivertreters kennzeichnete. Er musste aus dem Milieu des Antragstellers selbst kommen, vertrauenswürdig und als Freund und Vertrauter glaubwürdig sein. Dieser Typus kommt unserer Vorstellung von einem Denunzianten wohl am nächsten. Ein knappes Drittel aller inoffiziellen Mitarbeiter im Kreis Halberstadt, die im Zusammenhang mit der Bespitzelung von Antragstellern eingesetzt wurde, gehörte zu diesem Typus. Zunächst fällt auf, dass in 28 von 48 OPK/OV überhaupt keine dem Antragsteller tatsächlich vertraute Person als IM eingesetzt wurde. Dies macht das Dilemma deutlich, in dem sich die Staatssicherheit auch im Kreis Halberstadt befand. Die meisten Antragsteller kamen aus Bereichen, in denen das MfS wenig bis gar keine inoffiziellen Mitarbeiter platziert hatte und angesichts des auftretenden Bedarfs auch nicht so rasch einschleusen konnte. Weder im Kreis der Kollegen des Ehepaares Kapelle, die beide als Betonfacharbeiter im Betonwerk Halberstadt arbeiteten, 129 noch in der PGH, in der Jürgen Machkies als Klempner tätig war, und auch nicht im Straßenbaubetrieb des Arbeiters Klaus Schmidt fanden sich brauchbare Spitzel. 130 Hier wie bei Mayers, einem Viehpfleger und einer Hilfskrankenschwester, kommen ausschließlich der Meister, der Abteilungsleiter, die Kaderleiterin und der Mitarbeiter des Rates des Kreises – der IM »Klaus Fischer«, welcher so erfolgreich im Umgang mit den Antragstellern gewesen sein soll – zum Zuge. 131 Besonders schwierig wurde für das MfS die Situation, wenn der Brigadier oder die Meisterin selbst zu den Antragstellern gehörten, wie im Fall des Ehepaares Pietrowski. Der Leiter der Kreisdienststelle Halberstadt, Pump, musste andere Diensteinheiten um »Überprüfung des Vorhandenseins von IM/GMS im Wohn- und Arbeitsbereich der [Pietrowski]« bitten. Vier Monate später hatte sich die Situation noch nicht geändert: »Im Arbeitsbereich des [Pietrowski] ist keine inoffizielle Basis vorhanden.« 132 129 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1241/86 (OPK »Maurer«). 130 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2193/89 (OPK »Klempner«). Hier wurde nur ein IM, der GMS »Werner Schütze«, eingesetzt, sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1272/86 (OV »Brücke«) und BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2033/83 (OV »Bürge«). 131 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1669/85 (OPK »Grill«); BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1905/85 (OPK »Drucker«). 132 Diese »Basis« wurde, nachdem das Ehepaar seine Berufe nicht mehr ausüben durfte, naturgemäß noch dürftiger; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1905/85, Bl. 82 u. 195.
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Die Liste jener OPK im Kreis Halberstadt, in denen solche Defizite vermerkt wurden, ließe sich fortsetzen. 133 Letztlich sind sie Ausdruck dafür, dass die Staatssicherheit unter Arbeitern und kleinen Angestellten kein ausreichend loyales Potenzial vorfand, welches für inoffizielle Zusammenarbeiten aktiviert werden konnte. Auch dieses Phänomen ist aus Studien zum betrieblichen Alltag bereits bekannt, in denen nachgewiesen wurde, dass sich sowohl eine Mitgliedschaft in der SED als auch die Zusammenarbeit mit dem MfS auf den mittleren und höheren Leitungsebenen der Betriebe häuften, während sie in der Produktion und in den unteren Verwaltungsbereichen signifikant abnahmen. 134 In den übrigen 20 OPK/OV zu Antragstellern im Kreis Halberstadt kamen nicht nur überdurchschnittlich viele IM zum Einsatz, 135 hier finden wir ihn auch: den Freund oder guten Bekannten, dessen politische Loyalität gegenüber dem DDR-Staat den Bespitzelten unbekannt bleiben sollte. Es liegt in der Logik der Sache, dass diese IM in irgendeiner persönlichen Beziehung zu den Antragstellern, die sie aushorchen sollten, stehen mussten, dass sie der Beruf oder ein gemeinsames Hobby verband, dass sie zusammen feierten oder im Sportverein tätig waren. Tatsächlich kamen viele dieser IM aus dem Gaststättenmilieu, einschließlich der Jugendszene, dem Gesundheitswesen, der Volksbildung, aus Künstlerkreisen oder standen der Kirche nahe bzw. konnten dort ungehindert verkehren. Im Freizeitbereich und in der Kirche gab es einige Möglichkeiten für den IM Kontakte zu einer Person herzustellen, zu der er ansonsten keinen Zugang hatte. Während der Diskobesuche und im Rahmen der Tätigkeit in einem Sportverein oder der Freiwilligen Feuerwehr trafen unterschiedliche soziale und politische Milieus aufeinander. Auf diese Weise wurden sie zu bevorzugten Orten, an denen die Kreisdienststelle ihre IM auf Antragsteller ansetzen konnte. Dort begegneten sich Menschen, die sich in ihrem sonstigen Leben wohl nie so nahe gekommen wären. Einigen IM schenkten Antragsteller ihr Vertrauen, weil man sich schon seit der Schulzeit kannte oder während der Armeezeit Freundschaft geschlossen hatte. Und auch ihn gab es: den besten Freund, bei dem keiner auf die Idee gekommen wäre, er könne ein Stasispitzel sein. Der IMB »Frank Wagner« war kurzzeitig mit einer Antragstellerin liiert, die noch lange nach ihrer Ausreise freundschaftliche Kontakte zu ihm pflegte. Sie ahnte nichts von der IMTätigkeit ihres ehemaligen Freundes, der auf diese Weise – maßgeblich ge133 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1272/86 (OV »Brücke«). Die Aufforderung »Straftat nachweisen!« war ohne IM ein schwieriges Unterfangen. Ebenda, Bl. 218. 134 Vgl. Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation; Dies.: »Stasi in der Produktion« – Umfang, Ausmaß und Wirkung geheimpolizeilicher Kontrolle im DDR-Betrieb. In: Gieseke (Hg.): Staatssicherheit und Gesellschaft, S. 295–317. 135 In der ersten Gruppe von OPK sind zwei bis vier IM eingesetzt; in der zweiten Gruppe fünf bis über zehn IM.
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deckt durch ihre Freundschaft – Informationen an die Staatssicherheit liefern konnte. Der IMB hatte seine Zusammenarbeit mit 19 Jahren bei der Kriminalpolizei als IMK »Peter« begonnen, wo er unter Jugendlichen der Jugendgaststätte »Yvetta« gespitzelt hatte. Später wurde er von der Kreisdienststelle des MfS Halberstadt übernommen. Sein Schwerpunkt verlagerte sich. Nun wurde er verstärkt eingesetzt, um Antragstellern strafrechtlich relevante Sachverhalte nachweisen zu können. 136 Der IMB »Frank Wagner« war für die Kreisdienststelle vor allem deshalb interessant, weil er in vielen Kreisen verkehrte und »aufgrund seiner Wesensmerkmale und seines Leumundes« als »Durchschnittsbürger« Zugang zu den genannten Personengruppen hatte: »Sie teilten sich ihm mit, was ihre Vorbehalte gegenüber unserem Staat sowie ihre Denk- und Verhaltensweisen betrifft«, stellte die Staatssicherheit erfreut fest. 137 Der IMB wurde vom MfS als sympathisch, zurückhaltend und vertrauenerweckend eingeschätzt, selbst in der Halberstädter Johannes-Gemeinde wurde er freundlich aufgenommen. Die Mitarbeiter der Kreisdienststelle lobten seine »subjektiven und objektiven Voraussetzungen«, die ihm den bestmöglichen Zugang zu den observierten Personen verschaffen würden. Zwischen 1980 und 1982 verfasste er allein 160 Personeneinschätzungen, was durchschnittlich sechs Berichten im Monat entsprach; von den monatlichen Treffen mit seinem Führungsoffizier abgesehen, dem er weitere Berichte lieferte. Die Einschätzungen sind wichtigtuerisch verfasst. Er versuchte sich in psychologischen Studien und schreckte nicht davor zurück, angebliche Vergehen seiner ehemaligen Freundin bei der Abrechnung von Spirituosenlieferungen zu melden. 138 In der Szene um die Halberstädter Gaststätte »Yvetta« gab es zahlreiche Spitzel, deren hauptsächliches Einsatzgebiet die Jugendszene war. Der IM »Lutz Markmann« gehörte zu ihnen, ebenfalls der IMS »Lutz Zander«. 139 Letzterer ging eine Woche nach seiner Verpflichtung zu der Antragstellerin, die er bespitzeln sollte, und berichtete ihr von seinem Auftrag. Der IM war fortan »wertlos« für das MfS, es schloss die Akte. Auch der IM »Markmann« dekonspirierte sich, lieferte dennoch weiterhin Informationen und stellte 1988 selbst 136 Z. B. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2183/89 (OV »Golf«); BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«). 137 Vorschlag zur Umregistrierung des IMS »Frank Wagner« zum IMB, 3.3.1982; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 199, Bd. I/1, Bl. 200. 138 Ebenda, Bd. II/2, Bl. 224. Der IMB »Frank Wagner« hatte ursprünglich den Auftrag, staatsfeindliche Hetze, antisowjetische Tätigkeit, unbefugten Waffenbesitz, Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt, Verdacht der Sabotage, Havarien, Brände, Störungen, Gruppenbildungen negativer oder zweifelhafter Personen zu melden und Stimmungsbilder der Bevölkerung (differenziert nach Arbeitern, Angehörigen der Intelligenz, Jugendlichen) abzugeben. Da seine Einsatzgebiete das Krankenhaus und die Gaststättenszene waren, konnte er dem MfS auch entsprechende Informationen über Antragsteller liefern. 139 BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1758/89 (IMS »Lutz Markmann«); BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 66/84 (IMS »Lutz Zander«).
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einen Ausreiseantrag. Die betroffene Antragstellerin, die offensichtlich mit einer Reihe von IM in ihrem Umkreis rechnete, gab keine Informationen weiter, die dem MfS erlaubt hätten, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. In den Berichten des IM »Wagner« kommt ebenfalls eine große Distanz der Bespitzelten ihm gegenüber zum Ausdruck, selbst seine ehemalige Freundin schweigt sich über ihr Vorhaben aus. Zu diesem Zeitpunkt plante sie zusammen mit ihrem Ehemann einen Ausreiseantrag zu stellen, worüber sie mit niemandem, auch nicht den vertrauten Freunden, sprach. 140 Auch der IM »Michael Stauch« begann seine Karriere als Informant in der Jugendszene. Als Sohn eines Mannes, der selbst für das MfS, HA XV, geheimdienstlich tätig, SED-Mitglied und Bürgermeister gewesen war, und einer Frau, die auch nach dem Tod des Vaters »treue Genossin« blieb, geriet er auf die »schiefe Bahn« und schloss sich einer »jugendlichen Rowdytruppe« an. Seine kurze Oppositionszeit endete mit einer Verpflichtung für das MfS, das ihm »die Chance« eines Neuanfangs gab. 141 Auch er war ein Glücksfall für die Kreisdienststelle des MfS, denn er hatte enge Kontakte zur Jugendszene, später zu einigen Antragstellern. Da er nach seiner »Oppositionszeit« nicht wieder in die SED eintrat, blieb seine Wandlung zum inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit unerkannt. Zusammen mit seiner Frau, die den Auftrag ihres Mannes kannte und billigte, erweckte er den Eindruck, selbst einen Antrag auf Ausreise zu erwägen; auf diese Weise gehörten sie zum internen Kreis. Sie übernachteten sogar bei dem Ehepaar Engelbert und nutzten deren Ahnungslosigkeit dafür aus, in der Wohnung heimlich nach strafrechtsrelevanten Unterlagen zu suchen. Ihre Informationen führten letztlich dazu, dass der OV »Umsiedler« und der OV »Resident« mit Haft »gemäß der §§ 98 und 100 StGB (Fassung von 1968) sowie mehrere OPK abgeschlossen werden konnten«. 142 Diesem IM war seine Außenseiterposition durchaus bewusst, er sprach von »Draußen«, wenn er die Mehrheit der Halberstädter Bürger meinte und zählte sich wohl zu einem inneren Zirkel zugehörig. »Als Einschätzung zur Meinung der Familie oder meines Bruders [Vorname] zum MfS oder zu Staatsorganen kann ich nur so viel sagen, dass es eine allgemeine Sache ist, die draußen sowieso vorherrscht, das heißt wenn Polizei oder Staatssicherheit
140 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2183/89 (OV »Golf«); Vgl. Bericht vom IMB »Frank Wagner« über gute Kontakte zu seiner ehemaligen Freundin, die nun im Westen ist; ebenda, Bl. 133. 141 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 178 (IMB »Michael Stauch«), Bd. I/1, o. Pag. 142 Das waren die Paragraphen Landesverräterische Nachrichtenübermittlung und Agententätigkeit. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 178 (IMB »Michael Stauch«), Bd. I/1, o. Pag.; Vorschlag zur perspektivischen Entwicklung des IMS »Stauch« und Umregistrierung zum IMB, 6.5.1982; ebenda, Bd. I/2, o. Pag.; Einschätzung der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem IMB »Michael Stauch«, 22.4.1987; ebenda, Bd. II/2, o. Pag.
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Ausreise per Antrag
erwähnt wird, man schimpft oder man macht bestimmte Witze, das ist nun mal der Umgang.« 143 Unter den Antragstellern, die aus dem Gesundheitswesen kamen, konnte die Kreisdienststelle des MfS Halberstadt einen besonders umtriebigen IM platzieren, den IMS »Friedrich Wolf«. Als Oberarzt der Urologischen Klinik eines Krankenhauses und parteilos pflegte er das Image eines unpolitischen, bürgerlichen Fachmannes, der sich den unfähigen Chefs weit überlegen fühlte, die in seinen Augen nur aus politischen Karrieregründen ihre Posten erhalten hatten. 1975 warb ihn das MfS erfolgreich zur geheimdienstlichen Zusammenarbeit, da war er 25 Jahre alt. Die Staatssicherheit benötigte einen IM, der als Leiter einen guten Kontakt zu den Mitarbeitern hatte, geachtet war und eine »gute geistige Beweglichkeit« zeigte, was ihn besonders anpassungsfähig machte. Der IMS »Friedrich Wolf« schien ihnen hervorragend für diese Tätigkeit geeignet. Sie waren begeistert von seiner Intelligenz, seinem eleganten Auftreten und seiner Lockerheit im Umgang – selbst mit den Vertretern des MfS. 144 Der IMS »Friedrich Wolf« war in der ganzen Stadt beliebt. Er war Mitglied im Vorstand verschiedener Vereine, so im Karnevalsverein und im Sportverein, was ihn wiederum für die Stasi äußerst nützlich machte. 1986 erfuhr der IMS von einer größeren Erbschaft, die ihn in Westdeutschland erwarte. Er beantragte beim MfS, ausreisen zu können, und bot als Gegenleistung an, seine konspirativen Dienste vom Westen aus weiter zur Verfügung zu stellen. »Ich erkläre mich bereit, weiterhin für das Ministerium für Staatssicherheit tätig zu sein. Meine Vorstellungen sind, da ich mich besonders für maritime Begebenheiten interessiere, Einblick zu nehmen in die Marine der BRD und besonders durch meinen Leumund in der BRD im Bereich der SPD mitzuarbeiten.« 145 Es dauerte einige Zeit, bis das MfS seine Ausreise genehmigte. Ende 1988 erfolgte tatsächlich die »operative Übersiedlung des IM ›F. Wolf‹ […] in das Operationsgebiet«, mit der »Zielstellung der Schaffung einer IMB-Verbindung zum BND«. 146 Sein im Zuge der Erbschaft gestellter Antrag auf Ausreise machte ihn für die Antragsteller besonders glaubwürdig. Ohnehin hatte er die ganzen Jahre offiziell stets eine distanzierte Haltung zum DDR-Staat eingenommen, ihre Vertreter als dumm und unfähig bezeichnet. Bevorzugt denunzierte er leitende Mitarbeiter des Krankenhauses oder der kommunalen Verwaltung. Vom MfS erwartete er Unterstützung auf seinem Karriereweg. Er nahm gern Geschenke 143 Bericht des IMB »Michael Stauch«, 6.3.1985; ebenda, o. Pag. 144 Vorschlag zur Verpflichtung des IMS »Friedrich Wolf«, 15.3.1975; BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. II, Nr. 50, Bd. I/1, Bl. 61–66. 145 Bericht des IMS »Wolf«, 18.9.1986 (Tonbandabschrift); ebenda, Bl. 148 f. 146 BV Magdeburg, Abt. II: Konzeption zur Vorbereitung und Realisierung der Übersiedlung des IM »F. Wolf«, 27.4.1987; ebenda, Bd. I/2, Bl. 13–15.
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und Geld, beschwerte sich über die hohen Verdienste der anderen Leiter im Krankenhaus und nutzte die Beziehung zum MfS für den Erwerb einer Badezimmereinrichtung. 147 Der IMS »Friedrich Wolf«, der wohl angenommen hatte, auch die Vertreter des MfS »in der Hand zu haben«, gehörte nach seinem eigenen Selbstverständnis zur Elite von Osterwieck. 148 Tatsächlich mussten die Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt zu ihrem Ärger feststellen, dass er selbst darüber entscheiden wollte, über wen er was berichtete. »Es ist jedoch zu verzeichnen«, heißt es in einer Einschätzung des IMS Friedrich Wolf, »dass er zu ihm persönlich bekannten Personen aus seinem Umgangskreis in der Berichterstattung die letzte Konsequenz scheut. Hier versucht er auszuweichen und gleitet in allgemeine Dinge ab«. 149 Über die Personen aus der OPK »Motor« und den OV »Bus«, »LKW« und »Pinsel« berichtete er dem MfS nicht konkret genug. Dennoch lieferte er genügend Bausteine, die ausreichten, die Gemeindeschwester Christa Stoll zu inhaftieren. Er gehörte als Antragsteller zu dem Kreis um das Ehepaar Stoll, zu dem auch die Ehepaare Baumgarten und Meister zählten, und beteiligte sich aktiv an deren DDR-weiter Vernetzung. 150 Dieselbe eifrige Berichterstattung legte IMS »Wolf« im Zusammenhang mit der Observierung eines Lehrerehepaares, das einen Antrag gestellt hatte, an den Tag. Er deutete und wertete, spekulierte über seelische Zustände und heimliche Absichten der bespitzelten Person. Wie das MfS zu seiner Kritik kam, der IM sei bei der Benennung konkreter Fakten sehr zurückhaltend, ist nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil, er dachte beflissen mit und empfahl dem MfS zum Beispiel, eine Person zu kontrollieren, die möglicherweise Unterlagen des Lehrerehepaares in den Westen schmuggeln würde. Der IMS »Wolf« kann zwar einen näheren Kontakt zu einigen Antragstellern herstellen, doch selbst diesem IM-Typus wurde misstraut. Das Lehrerehepaar Garms zog sich bald von ihm zurück und lebte bis zur Ausreise weitgehend isoliert. Das Kapitel über die inoffiziellen Mitarbeiter des Kreises Halberstadt, die uns aus den Akten über Antragsteller bekannt geworden sind, war mit der 147 Ebenda, Bd. I/1, Bl. 8 f. u. 102. 148 Der IMS »Höller« berichtet über ihn: »Gelegentlich eines Gesprächs, warum er bei seiner an sich fortschrittlichen Einstellung nicht den Weg in die SED gefunden habe, erklärte er mir, dass unter den meisten Ärzten ein bestimmter bürgerlicher Kodex bestehe, den man nicht durchbrechen kann, ohne ins berufliche Abseits zu geraten.« 29.11.1979; ebenda, Bl. 119. 149 Ebenda, Bd. I/2, Bl. 125 f. 150 So nahm er an einer kircheninternen Befragung von Antragstellern teil, und meldete dem MfS, wer diese Informationen wohin bringen wird. Bericht, 19.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 142 f. »Einer Information des IM ›Wolf‹ der Abteilung II zufolge, sollte der B. am 22.10.1986 von mehreren Ersuchern ausgefüllte Fragebögen nach Leipzig bringen. Bei den Fragebögen handelt es sich um ein mit 17 Fragen versehenes Blatt der Mitglieder der ›Initiative für Frieden und Menschenrechte‹«. Vgl. KD Halberstadt, Sachstandsbericht, 10.1.1989; ebenda, Bl. 202.
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Beschreibung jenes Typs begonnen worden, der eine höhere Leiterfunktion in einem Betrieb, der Kommune, einer Organisation, einer Partei innehatte, bei der Polizei oder Stadtverwaltung tätig war. Die Loyalität dieses Informantentypus gegenüber dem Staat konnte dem normalen Bürger durchaus bekannt sein. Der andere Typ dagegen – der sich häufig hinter der Kategorie IMB oder IMS verbarg – war nicht auf den ersten und häufig auch nicht auf den zweiten Blick als solcher erkennbar. Er agierte als Vertrauter des Observierten, als loyal nicht dem Staat, sondern den Antragstellern gegenüber. Einige unter ihnen waren selbst Antragsteller auf Ausreise, was ihnen eine besondere Nähe zu den anderen erlaubte. Die Werbung einer Person für die geheimdienstliche Zusammenarbeit aus dem Kreis der Antragsteller selbst wäre zweifellos die effektivste Methode gewesen, sie gelang jedoch nur selten. 151 Im Frühjahr 1989 versuchte das MfS – in der Art eines letzten Aufgebotes – Antragsteller mithilfe erpresserischer Versprechungen zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Als sogenannte Kontaktpersonen sollten sie über die geplanten Vorhaben der »Zusammenschlüsse« berichten, wofür ihnen eine schnellere Ausreise – nach ein bis zwei Jahren – zugesichert wurde. Abgesehen davon, dass sich kaum jemand für diesen Dienst bereit erklärte, schien der Staatssicherheit eine solche Zusammenarbeit äußerst problematisch: Diese Personen waren nicht dem MfS verpflichtet und nahmen ihr Wissen in den Westen mit. 152 In der Regel musste die Staatssicherheit bei der Rekrutierung von IM auf den Bekannten- oder Freundeskreis zurückgreifen: »Da es bisher keinem IM, der selbst einen Antrag auf ständige Ausreise gestellt hat, gelungen ist, in den Personenkreis um [Name] einzudringen, erfolgt die Ausrichtung der tschekistischen Mittel und Methoden des MfS auf den Bereich des Umfeldes von [Name] unter Antragstellern zur Suche geeigneter Personen, die Ansatzpunkte für eine operative Nutzung aufweisen.« 153
Es fiel dem MfS nicht leicht, diesen IM vom Typ eines Vertrauten unter Antragstellern zu platzieren, namentlich nicht unter Arbeitern und kleinen Angestellten, die im Kreis Halberstadt die meisten Anträge stellten. Dieses Defizit hing auch damit zusammen, dass selbst dieser IM-Typ nicht in jedem Milieu einsetzbar war. Welche Berufe, welche Funktionen und welche Herkunft hatten diese »Vertrauens-IM«? Der ausführlich beschriebene IMS »Wolf« war Oberarzt. Der IMB »Wagner« ein Schlosser, der sich ebenso wie der IMS »Lutz Markmann« zum Leiter qualifizierte, der IM »Walter« war 151 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1548/89 (IM »Bettina Weber«). 152 BKG: Protokoll zum Erfahrungsaustausch zu Fragen der Durchsetzung der DA 2/88 des Genossen Minister bzw. der RVO, 25.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 172–179. 153 Sachstandsbericht zum OV »Pinsel«, 24.2.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89, Bl. 275. Vgl. auch BStU, MfS, BV Magdeburg, Abt. XX, Nr. 190 (IM »Peter Luther«).
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als Werkmeister im Maschinenbau tätig, der IM »Fritz Albert« als Schichtleiter im Fernmeldeamt. Der IMS »Helga Bach« arbeitete sich von der Verkäuferin zur Leiterin eines Delikatladens hoch. Der IMS »Schulz« war Meister, für den IM »Hans Walter« war die Kaderlaufbahn in der Kreisdienststelle des MfS geplant. Die IMS »Dorn« und »Höller« waren Lehrer, der IMV »Kluge« SEDMitglied und in der kommunalen Wohnungsverwaltung der Stadt tätig. Der IMK »Poland« war ebenfalls Lehrer, nicht an der EOS, sondern an der Volkshochschule und im Kreisausschuss für Jugendweihe tätig. 154 Die IMB »Michael Stauch« und der IM »Kurt Müller« fallen aus dem Rahmen dieser Berufs- und Qualifikationsgruppe. Der IMB »Stauch« war Tischler in einem VEB, seine vom MfS in Aussicht genommene Kaderlaufbahn erledigte sich, als er kurzzeitig dem Umfeld einer »jugendlichen Gruppierung« in der Gaststätte »Yvetta« angehörte. Zuvor war er Mitglied der SED und Soldat im Wachregiment des MfS gewesen. Der IM »Müller« wurde während der Haft geworben, er hatte keine Berufsausbildung und trieb Handel mit Antiquitäten. 155 Die Letztgenannten gehörten zu einem IM-Typus, der entweder selbst aus einem subkulturellen oder Randgruppenmilieu kam, in jedem Fall Zugang hierzu hatte. Das MfS vermutete, dass sich vor allem unter Personen, die »kriminellen Geschäften« nachgingen, und unter Jugendlichen potenzielle Antragsteller befanden. Die Statistik der Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt bestätigt diese Annahme nicht. Vielmehr hatte sie das Ergebnis erbracht, dass mehrheitlich Paare mit Kindern einen Antrag stellten, namentlich solche, die in »normalen« Verhältnissen lebten. Dennoch versuchte das MfS permanent für das von ihm so bezeichnete asoziale Jugendmilieu geeignete IM zu finden. 156 Auffällig ist, dass auch die »Vertrauens-IM« mehrheitlich eine höhere Qualifikation hatten, eine Leitungsfunktion ausübten und auch unter ihnen eine Reihe von Mitgliedern oder ehemaligen Mitgliedern der SED waren. Dass dieses Ergebnis der Halberstädter Recherche nicht zufällig entstanden ist, zeigt 154 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 130 (IMK »Poland«, Reg.-Nr. VII 308/76), Bl. 45. 155 BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1118/83 (IM »Müller«). 156 Der IM »Lutz Zander« wurde nach seiner Entlassung aus der Haft vom MfS zur konspirativen Zusammenarbeit geworben. Als 20-Jähriger war er anderthalb Jahre wegen versuchten Grenzübertrittes inhaftiert gewesen, danach fand er keine Arbeit. Endlich, 1983, bekam er eine Arbeitsstelle, die ihm zusagte. In dieser Situation führte das MfS mehrere lange Werbegespräche. Tatsächlich sagte der Anfang März 1983 verpflichtete IM »Zander« nach drei Wochen telefonisch wieder ab. Er offenbarte sich jener Freundin und Antragstellerin, die er in der OPK »Golf« bespitzeln sollte. Das MfS führte noch einige Aussprachen mit ihm, aber der IMS »Zander« blieb »für weitere Zusammenarbeit wertlos«. Während sich dieser junge Mann mutig aus der Affäre zog, arbeitete der IM »Manuela Rosulek« eifrig für das MfS. Die Frau wurde 1951 geboren, sie besuchte, so wie ihre weiteren fünf Geschwister, die Hilfsschule und beendete sie mit der 8. Klasse. Mit 18 Jahren verpflichtet sie sich dem MfS. Kurze Zeit später wird der Vorgang eingestellt, der IM hat inzwischen drei Kinder, hält sich nicht mehr in »interessanten Kreisen« auf und will die Zusammenarbeit aus Zeitgründen einstellen.
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ein Blick auf andere Untersuchungen, in denen auch eine signifikante Häufung von IM unter Akademikern, Personen mit einer höheren beruflichen Qualifikation, Abteilungsleitern und Meistern festgestellt worden ist. 157 Helmut Müller-Enbergs hat im Rahmen seiner Arbeit über die Kreisdienststelle Eisenach 16 IMS und IMB näher vorgestellt, die diesen Befund bestätigen. Ähnlich wie wir für den Kreis Halberstadt dokumentieren konnten, fanden sich auch im Kreis Eisenach kaum Arbeiter unter den inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit. 158 Die Staatssicherheit hatte sich in ihrem Belohnungsverhalten auf die Bedürfnisse dieses IM-Typus eingestellt. Neben den finanziellen Vergütungen besonderer Leistungen, die zwischen 400 und 700 Mark, im Extremfall sogar über 1 000 Mark im Jahr ausmachen konnten und stets akribisch quittiert wurden, gab es eine Reihe von Hilfen bei der Planung und Realisierung des Karriereweges. Einigen IM wurde der Dienst bei der Armee erlassen oder zeitlich reduziert. Für andere wurde die Zulassung zum Studium oder zu einer gewünschten Ausbildung vom MfS in die Wege geleitet, eine Wohnung besorgt, tatkräftige Hilfe bei der Erlangung eines Doktortitels geleistet und die Übernahme einer entsprechenden Leiterfunktion kaderpolitisch unterstützt. In den Reihen der von uns recherchierten IM, die keine höheren Funktionäre oder staatliche Leiter waren, gab es nur wenige vom Schlag des »alten Genossen«, der aus Idealismus und Überzeugung von der guten Sache seine konspirativen Dienste anbot. Hier dominierte der jüngere, aufstrebende Karrierist, der aus unterschiedlichsten – mit Sicherheit jedoch nicht uneigennützigen – Gründen den Pakt geschlossen hatte. Die Distanz der Antragsteller auch gegenüber solchen IM, die ansonsten ein gewisses Vertrauen genossen, war ein Grund für die Kreisdienststelle Halberstadt, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, einen IM gewinnen zu wollen, der selbst Antragsteller war. Nach unseren Befunden gelang das zwei Mal, mit mäßigem Erfolg. 159 Lediglich der IM »Wolf« trat glaubwürdig als Antragsteller,
157 Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. 158 Müller-Enbergs nennt lediglich einen IM, der aus dem Arbeiterbereich kam: ein Postzusteller, der einst in einer Punkband spielte und sein Einsatzgebiet wohl in der Künstlerszene finden sollte. Im Tableau der Eisenacher Recherche gibt es noch eine ehemalige Verkäuferin, die in den 1960er Jahren aus dem Westen für die Kreisdienststelle in Eisenach spionierte. Die übrigen waren ein Lehrer an der EOS, ein Stellwerkmeister, ein Gruppenleiter für Investitionsplanungen, die Stellvertreterin für Inneres beim Rat des Kreises, zwei Mitarbeiterinnen der Passabteilung, ein Polizist, ein Ingenieur bei den Automobilwerken, ein Internist an der dortigen Poliklinik, zwei weitere Lehrer, ein Pfarrer, ein Kunsthändler und ein Schauspieler am Landestheater. Vgl. Müller-Enbergs: Die Kreisdienststelle Eisenach, S. 21–33. 159 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AIM, Nr. 1548/89 (IM »Bettina Weber«).
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der er auch war, auf. Einen IM dahin zu bringen, ohne tatsächliche Absicht als Antragsteller zu fungieren, war ein schwieriges Unterfangen. 160 Der IKMO 161 »Christa Kern« – es handelte sich eigentlich um eine Informantin der Kriminalpolizei – pflegte einen guten persönlichen Kontakt zu dem Ehepaar Meister. Da die Eheleute jedoch ihr gegenüber nicht offen auftraten und sie so nicht an »verwertbare Beweise« für eine strafrechtliche Maßnahme gelangte, erwog das MfS den folgenden Schritt: »In Abstimmung mit Genossen Hauptmann Lange wird zur Realisierung dieser Zielstellung geprüft, welche objektiven und subjektiven Voraussetzungen beim IKMO gegeben sind, um diesen zu veranlassen, im Rahmen seiner Zusammenarbeit mit der K I 162 und im Auftrage der Schutz- und Sicherheitsorgane selbst ein zeitweiliges Ersuchen auf Übersiedlung zu stellen. Ausgehend von der Einschätzung des Genossen Hauptmann Lange, dass der Lebenskamerad des IKMO niemals ein ÜE stellen würde, ergeben sich damit günstige Bedingungen für die spätere glaubhaft legendierte Herauslösung des IKMO aus dem Kreis der ÜE.« 163
Den Akten ist nicht zu entnehmen, ob der IKMO »Kern« diese Scheinantragstellung tatsächlich vorgenommen hat. Zweifellos war der Einsatz von IM zur Kontrolle und Kriminalisierung von Antragstellern ein Macht- und Herrschaftsinstrument des Staates, auch im Kreis Halberstadt. Bemerkenswert ist vor allem der Befund, dass die inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit mehrheitlich selbst zur herrschenden Schicht gehörten. Insofern kann die Aussage, dass die Kreisdienststellen der Staatssicherheit über ein »Netz von Bürgern« verfügten, »das heimlich – konspirativ genannt – Informationen beschaffte«, 164 in die Irre führen, wenn nicht hinzugefügt wird, dass diese Bürger sich besonders auszeichneten: Die meisten Zuträger der Staatssicherheit waren Mitglied in der SED, mehrheitlich hochqualifiziert, darunter viele akademisch ausgebildet, ein großer Teil von ihnen in leitenden Funktionen tätig. 165 Sie unterschieden sich aufgrund ihrer Stellung 160 Einsatz des IKMO »Christa Kern«, 30.11.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 135. 161 IKMO = Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter für operative Aufgaben (des Arbeitsgebietes I der Kriminalpolizei), d. h. für Informationsgewinnung und offensive Bearbeitung Verdächtiger. 162 K I = Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei. Dieses arbeitete konspirativ mit inoffiziellen Mitarbeitern. 163 KL = Kreisleitung der SED; ÜE = Übersiedlungsersucher. Es wurde erwogen, den Lebenskameraden über die Zusammenarbeit des IKMO mit den Schutz- und Sicherheitsbehörden zu informieren und ihn differenziert einzubeziehen. Die Grundlage für diese Überlegungen der KD bildet ein Bericht des IKMO über Familie Meister, 16.11.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 137 f. 164 Müller-Enbergs: Die Kreisdienststelle Eisenach, S. 16. 165 Vgl. ebenda: »Die meisten IM gehörten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an. […] ein Drittel der IM hatten eine akademische Ausbildung«.
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in der Gesellschaft deutlich von der Mehrheit der Arbeiter und kleinen Angestellten in der DDR, die eben keinen relevanten Anteil an dem erwähnten Netz der inoffiziellen Mitarbeiter hatten. 166 Die Untersuchungen im Kreis Halberstadt haben auch nicht zu dem Ergebnis geführt, dass aus den Reihen dieser gesellschaftlichen Mehrheit eifrige Zuträger in erwähnenswertem Umfang in Erscheinung getreten wären, die ihr Wissen über den Nachbarn oder Kollegen ohne eine Verpflichtung zum IM bei der Behörde ablieferten. Nur wenige Ausnahmen von dieser Regel waren in den Akten zu finden. 167 Gemessen an dem Informationsbedarf der Halberstädter Staatssicherheit waren solche Quellen äußerst selten. Zudem sehen wir, dass selbst unter diesen »gute Genossen« und »zuverlässige Kader« zu finden waren. Sogenannte Auskunftspersonen (AKP), die im Zuge von Wohngebietsermittlungen von hauptamtlichen oder inoffiziellen Mitarbeitern des MfS befragt wurden, spielten in den eingesehenen Akten so gut wie keine Rolle. 168 Doch auch diese Informanten, die weder inoffizielle noch offizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit waren, gehörten in der Regel in die Gruppe der politisch »zuverlässigen Bürger«. Sie repräsentierten nicht die Mehrheit der DDRBevölkerung, welche sich durch eine regelrechte Auskunftsabstinenz gegenüber Polizei und staatlichen Behörden auszeichnete. Selten finden sich in den »Erstinformationen« der Leiter und Funktionäre sowie in den Personenauskünften der IM Hinweise darauf, woher diese ihre Informationen haben, wer beispielsweise dem ABV über das Antragstellerehepaar in Osterwieck Auskunft gegeben hatte. Es entsteht der Eindruck, dass er 166 Auch wenn mit den Untersuchungen der verschiedenen Kreisdienststellen und den Betriebsstudien relevante Ergebnisse vorliegen, wäre eine Arbeit, die die berufliche, soziale, politische Stellung der IM flächendeckend für die ganze DDR sowie ihre Herkünfte recherchierte, ein lohnendes Forschungsprojekt. 167 Die Gemeindeschwester Christa Stoll und ihr Ehemann Martin wurden von einem Rentnerehepaar aus der Nachbarschaft beschnüffelt, »zuverlässige Kader«, aber weder dem MfS verpflichtet, noch in leitender Stellung tätig. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 128. Der Leiter eines Filmtheaters in Halberstadt ging offensichtlich unaufgefordert zur Abteilung Inneres im Rat des Kreises und berichtete über ein Gespräch, das er mit seiner Mitarbeiterin geführt hatte. Eine Ehefrau wollte nicht, dass ihr Mann für sich und die Kinder einen Antrag auf Ausreise stellte, sie informierte den Rat der Stadt über sein Vorhaben. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2188/89 (OV »Musiker«). Zwei weitere Informationen aus einer anderen OPK sind ebenfalls freiwillig und ohne Not von einem Meister an die Parteileitung und von dieser an das MfS weitergeleitet worden. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1905/85 (OPK »Drucker«). 168 Sie waren in Karteien erfasst, um bei Bedarf einem staatlichen Vertreter, der im Auftrag der Staatssicherheit zu ihnen geschickt worden war, Auskünfte über Personen zu geben, Vgl. zu den AKP Booß: Kollege Judas? Oder trau keinem über 40? In: HuG 3/2010, S. 52–55, sowie Roger Engelmann: »Flächendeckende Überwachung? Die Rolle der MfS-Kreisdienststellen bei der Kontrolle und Disziplinierung der Gesellschaft«, Vortrag am 18.2.2011 im Rahmen der Tagung »Die Diktatur in der Provinz – Nahaufnahmen der SED-Herrschaft«, Evangelische Akademie Thüringen, Neudietendorf, gehalten. Der Autor hat mir sein Manuskript freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
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in den meisten Fällen die Personen selbst kannte und ohne Nachbarn zuvor befragt zu haben, der Kreisdienststelle des MfS melden konnte, dass hier ein »ordentliches« Familienleben geführt wurde oder dass keine Gardinen an den Fenstern hingen. Vielleicht hatte ihm die eigene Frau »zugearbeitet«? Diese Auskunftsberichte sind voller vager Formulierungen: »Sie hätten gehört …« und »Es wird darüber gesprochen …«. 169 Dass der Abschnittsbevollmächtigte in der Kleinstadt oder im Dorf jeden kannte, wäre ohnehin nicht ungewöhnlich, ebenso, dass er wusste, welchen politisch zuverlässigen und loyalen Nachbarn er befragen kann, wenn ihm Informationen fehlten. Unser Befund scheint auf den ersten Blick der Tatsache zu widersprechen, dass den Antragstellern nach eigenen Aussagen wenig Sympathie entgegengebracht wurde und man sich sogar häufig von ihnen distanzierte. Offensichtlich hat diese durchaus verbreitete Haltung jedoch nicht dazu geführt, dass dieselbe Halberstädter Bevölkerung den Antragstellern Steine in den Weg legte oder sie sogar beim Rat des Kreises oder der Volkspolizei »anschwärzen« ging. 170 Die meisten Halberstädter wollten, wie die Mehrheit der DDR-Bevölkerung, nichts mit der Staatsmacht zu tun haben, schon gar nicht mit der Staatssicherheit. Diese stützte ihre Erfassung fast ausschließlich auf Informationen über offizielle Stellen, auf Auskünfte von Vorgesetzten der Antragsteller, von Kaderleitern und Funktionsträgern. Die Kontrolle und Verfolgung der Antragsteller durch das MfS beruhte auf der Zusammenarbeit mit den Partei- und Staatsfunktionären und dem dichten Netz von inoffiziellen Mitarbeitern aus diesem Milieu. Die DDR war keine Gesellschaft allgemeinen Denunziantentums. 171 Weder das MdI noch das MfS konnten sich auf eine breite Zuträgerschaft bei den »gewöhnlichen« DDR-Bürgern stützen. Das ausufernde Netz von IM seit den 1970er Jahren verweist darauf, dass die einst angestrebte »allgemeine Volkskontrolle« nicht funktionierte. Es brauchte eben das Heer von inoffiziellen Mitarbeitern, auch im Kreis Halberstadt, das seinerseits kein Abbild der sozialen Zusammensetzung der DDR-Gesellschaft war. 172
169 Vgl. BStU, MfS BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 139 (IM »Kurt Decker«), Bd. I, Bl. 356, 386, 414, 126 u. 217. Vgl. auch BStU, MfS BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 117 (IM »Klaus Dorn«). Dieser hat die Information von seiner Sekretärin erhalten. 170 Dieses ambivalente Verhältnis der Mehrheit der DDR-Bevölkerung zur »Obrigkeit« zeigte sich nicht nur in Bezug auf ihr Verhalten gegenüber Antragstellern. Vgl. Wegehaupt: Die Insel. 171 Siehe dazu Gieseke: Denunziation im Diktaturenvergleich. In: Ders.: Mielke-Konzern, S. 108–124. Gieseke beschreibt auch den strukturellen Unterschied zwischen einer eher verbreiteten Denunziationsbereitschaft im NS, die es in der DDR so nie gegeben habe; ebenda, S. 115–118. 172 Vgl. auch die Replik auf den Artikel von Budde: Ein Appell an das Böse und seine Folgen. In: DA 43(2010)4, S. 640–651. Die Replik von Renate Hürtgen erschien in: DA 43(2010)5, S. 873 f.
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7.3 Die Rolle der Staatssicherheit in Halberstadt: Rückgewinnen, Verfolgen, »Zersetzen«, Verhaften In den zeithistorischen Arbeiten, die sich mit der Ausreisebewegung in der DDR beschäftigen, werden zum Nachweis ihres eminent politischen Charakters häufig die Einschätzungen der Staatssicherheit herangezogen. 173 Tatsächlich hatte das MfS von Anbeginn die Antragsteller zu Staatsfeinden erklärt und ihr Begehren, die DDR zu verlassen, in den Rang einer politischen Untergrundtätigkeit erhoben. 174 Angesichts der im Kapitel 4 dieses Buches ausführlich beschriebenen Motive, die Halberstädter zu einer Antragstellung bewegt haben, erscheint diese Einschätzung absurd. Sie deckt sich kaum mit deren Anliegen, das Land aus unterschiedlichsten Gründen verlassen zu wollen, um ein neues Leben beginnen zu können. Vielmehr ist die Zuordnung der Antragsteller zum »feindlichen Untergrund« Ausdruck einer Angst der Partei- und Staatsführung der DDR, die Beispiele könnten Schule machen und weitere Antragstellungen nach sich ziehen. So gesehen schien die Diffamierung der Antragsteller als feindlich-negativ ein probates Mittel der Abschreckung. Zudem musste eine Regierung, die ihr Volk einsperrte und auf diese Weise zum Bleiben zwang, jede Verletzung dieser Grenzziehung als politischen Angriff werten. Die Entwicklung der für die Bekämpfung der Antragsteller zuständigen Institutionen verweist auf die anfängliche Gleichsetzung von »illegalen Grenzverletzungen« respektive »Republikfluchten« und den »unrechtmäßigen Übersiedlungsersuchen«. 175 Doch selbst in dieser Herrschaftslogik erscheinen die massiven Reaktionen des Staates auf die zunehmende Anzahl von Antragstellern heute schwer nachvollziehbar. Sie blieben ungeachtet wechselnder zentraler Anweisungen und einer sich immer wieder ändernden Herrschaftspraxis stets repressiv und schlossen die soziale und psychische Existenzvernichtung der Übersiedlungsersucher bis zum Ende der DDR ein.
173 Vgl. z. B. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs« sowie Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe. Der Aufgabenbereich »rechtswidrige Antragstellung« wurde bald zu einem der größten Arbeitsgebiete der Staatssicherheit der DDR. Entsprechende Einschätzung z. B. in Eröffnungsbericht zum OV »Resident«, 31.1.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80, Bd. 1, Bl. 127. Hier ist davon die Rede, dass die Antragsteller sich »zu einem politischen Untergrund zusammengeschlossen« hätten. 174 Ausgenommen jene, die als Rentner oder Invaliden einen Antrag stellten oder eine »echte« Familienzusammenführung als Grund angaben. Diese wurden praktisch stets von den anderen getrennt behandelt und ihr Anliegen bekam nach 1983 auch eine rechtliche Grundlage. 175 Vgl. den Aufgabenbereich der 1975 gegründeten ZKG, die zunächst schwerpunktmäßig für Flucht, dann für Flucht und Ausreise zuständig war, Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 14–18.
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Die Staatssicherheit war über jede Antragstellung informiert und kontrollierte das gesamte Prozedere. 176 Ihre eigentliche Aufgabe aber bestand darin, sogenannte »hartnäckige Antragsteller« unter besondere »politisch-operative« Kontrolle zu stellen. Es handelte sich dabei um einen ausgewählten Kreis jener Antragsteller, denen unterstellt wurde, sie könnten bei dem Versuch der Durchsetzung ihres ohnehin als ungesetzlich angesehenen Antrages auf ständige Ausreise eine strafbare Handlung begehen. Zu diesem Zweck erfasste die MfS-Kreisdienststelle die Antragsteller nicht nur in ihrem zentralen Speicher (ZMA) 177, sondern legte über die »hartnäckigen« unter ihnen häufig auch sogenannte Operative Personenkontrollen und Operative Vorgänge an. 178 In den Jahren zwischen 1980 und 1987 gab es in der Kreisdienststelle Halberstadt insgesamt 180 OPK zu bearbeiten, von denen sich 51 gegen Antragsteller richteten. 179 Da der überwiegende Teil der Antragstellungen durch Paare erfolgte, kann von etwa 90 erwachsenen Personen ausgegangen werden, die ihrer Antragstellung wegen von der Staatssicherheit in diesen Jahren »operativ bearbeitet« worden sind. Nicht eingerechnet sind hier die Verwandten, Bekannten, Nachbarn und Arbeitskollegen, die im Rahmen einer solchen Verfolgungsakte von der Staatssicherheit überprüft und kontrolliert wurden. 180 Von diesen 51 OPK sind 14 zu OV umgewandelt worden, das heißt, das MfS hat im Zuge ihrer »operativen« Arbeit strafrechtlich relevante Tatbestände nachweisen können, die ausreichend erschienen, um ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. 181 In den von uns eingesehenen Fällen gab es nur vier OV, die nicht zu einer Verurteilung und anschließenden Haft der verfolgten Person oder Personengruppe führten, was den Schluss zulässt, dass die Operativen Vorgänge in der Regel bereits im Hinblick auf ein folgendes strafrechtliches Ermittlungsverfahren mit Haft angelegt wurden. Zwischen der Eröffnung eines OV und der 176 Vgl. Anweisung Nr. 042/71 des Ministers des Innern und des Chefs der Deutschen Volkspolizei über die Bearbeitung und Entscheidung von Anträgen zur Übersiedlung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik nach der westdeutschen Bundesrepublik und der selbstständigen politischen Einheit Westberlin, v. 15.1.1971, Ziffer 7 (4); BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 10746, Bl. 3. Vgl. Grundsätze zur wirksamen Verhinderung von ungesetzlichen Grenzübertritten und provokatorischen Handlungen in der Öffentlichkeit, 8.11.1974; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Wernigerode, Nr. 15034, Bl. 4. 177 Zu der von den Auswertungs- und Informationsorganen geführten sog. Zentrale Materialablage (ZMA) vgl. Engelmann: »Flächendeckende Überwachung?« 178 Zu den verschiedenen Erfassungspraxen vgl. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 15–23. 179 Die OPK, die keine Antragsteller betrafen, sind angelegt worden wegen: Spionage, negative Äußerungen, Kontakte in die BRD, Nichtrückkehrer, Zusammenschlüsse, Geheimnisträger, Waffenbesitz, Nichtanmeldung NSW-Kontakte, Hinweise auf ungesetzliches Verlassen der DDR, Rowdytum, Pflichtverletzungen, kirchliche Aktivitäten, BRD-Kontakte und operativ bedeutsame Kontakte. Vgl. Engelmann: »Flächendeckende Überwachung?«. 180 In den von uns eingesehenen Akten waren das jeweils zwischen 10 und 40 Personen aus dem engen und weiteren Umkreis der Antragsteller. 181 Vgl. Kapitel 7.4 in diesem Band.
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Ausreise per Antrag
Untersuchungshaft vergingen meist nur wenige Wochen oder Tage. Von diesen »hartnäckigen« Antragstellern ist knapp die Hälfte tatsächlich ausgereist, ein Teil von ihnen nach einer Verurteilung und Inhaftierung. 182 Die Anzahl der OPK und OV gegen Antragsteller erhöhte sich auf insgesamt etwa 65 Verfolgungsakten, rechnete man die bis 1980 eröffneten und abgeschlossenen sowie die 1988 und 1989 neu von der Kreisdienststelle Halberstadt angelegten Verfolgungsakten hinzu. 183 Das betraf insgesamt etwa zehn Prozent aller Antragstellungen. Hier wird erkennbar, dass der verbreitete Eindruck, derjenige, der entsprechend hartnäckig aufgetreten war, würde zwangsläufig auch eine Genehmigung zur Ausreise erhalten, so nicht aufrechtzuhalten ist. Selbst von den Inhaftierten gelangten nicht alle und schon gar nicht »automatisch« in den Westen. Eine 1988 inhaftierte und verurteilte Gemeindeschwester aus dem Kreis Halberstadt kam erst im Dezember 1989 frei. 184 Eine Operative Personenkontrolle wurde durch die Kreisdienststelle erst dann eröffnet, wenn ein Verdacht auf die Begehung einer Straftat vorlag oder »feindlich-negative« Handlungen verhindert werden sollten. 185 Die »operative« Planung im Rahmen einer OPK sah eine »Rückgewinnung« vor sowie die Möglichkeit, eine strafbare Handlung nachzuweisen, aber auch, sie im Vorhinein zu verhindern. Die Staatssicherheit im Kreis Halberstadt hat diesen Zielkonflikt – soweit ich sehe – stets gelöst, indem sie alle ihre Bemühungen darauf verwendete, strafrechtlich verwertbare Beweise zu liefern und die Antragsteller einer Straftat oder wenigstens der Vorbereitung einer solchen zu überführen. Dies entsprach durchaus dem Sinn der eingeleiteten Verfolgung, der sich erfüllte, wenn der Ausgangsverdacht Bestätigung fand. Am häufigsten wurde der »operative Sachverhalt« in den hier ausgewerteten Einleitungsberichten mit dem Verdacht auf die Straftatbestände des ungesetzlichen Grenzübertritts (§ 213), der Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit (§ 214), der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme (§ 219), der Staatsverleumdung (§ 220), des staatsfeindlichen Menschenhandels (§ 105) und der staatsfeindlichen Verbindungen (§ 100) begründet. 186 Liest man die dazu gehörigen Beschreibungen der Sachverhalte in den Akten, fällt die Diskrepanz zwischen dem, was die Antragsteller bisher nach Angaben 182 Die Anzahl der Operativen Vorgänge (OV) lässt indirekt auf die Anzahl der Inhaftierungen schließen. 183 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 348, Bl. 30–4 sowie BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 801, Bl. 185. 1978 bearbeitete die KD Halberstadt zwei Antragsteller im OV und 18 in OPK. Den Begriff »Verfolgungsakten« übernehme ich von Müller-Enbergs: Die Kreisdienststelle Eisenach, S. 34. Er fasst darunter die sogenannten Operativen Vorgänge (OV), Operativen Personenkontrollen (OPK) Ermittlungsverfahren (EV) und Untersuchungsvorgang (UV). 184 Telefongespräch mit Sunhild Minkner, April 2012. 185 Vgl. Richtlinie Nr. 1/81 über die Operative Personenkontrolle v. 25.2.1981. In: Engelmann; Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente des MfS, S. 362–383. 186 Dem liegen 48 OPK/OV zugrunde, die eingesehen werden konnten.
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der Staatssicherheit getan hatten und dem formulierten Verdacht auf. So ist es nicht verwunderlich, dass sich bei drei Viertel aller in einer OPK bearbeiteten Antragsteller der Ausgangsverdacht nicht bestätigte. Anders gesagt, es drängt sich die Vermutung auf, diese möglichen Straftatbestände waren nicht selten »an den Haaren herbeigezogen« und dienten dem Vorwand, die mit einer OPK verbundene intensive Überwachung vornehmen zu können. Dabei griff die Staatssicherheit nicht nur auf jene Paragraphen zurück, die die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens quasi vorbereiteten, sondern achtete auch darauf, dass bei einem späteren Ermittlungsverfahren solche Straftatbestände zur Anwendung kamen, die bei der Entlassung in den Westen eine »humanitäre Gegenleistung« erbringen würden. 187 Eine solche Zielsetzung öffnete der Willkür beim Anlegen einer Verfolgungsakte durch die Kreisdienststelle Halberstadt oder die Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg Tür und Tor. Die Zielstellungen einer OPK waren stets ähnlich formuliert: Es ging 1. um die Verhinderung einer Straftat, in der Regel das ungesetzliche Verlassen der DDR sowie das Aufdecken und Verhindern einer Demonstrativhandlung, 2. die Aufklärung der Pläne und Absichten der Antragsteller, insbesondere ihrer Verbindungen zu »feindlichen Organisationen« in den Westen, und 3. um die Rückgewinnung der Personen für einen Verbleib in der DDR. Die meisten Halberstädter hatten nach ihrer Antragstellung weder vor, eine Demonstrativhandlung vorzunehmen noch eine Verbindung zu »feindlichen Mächten« aufzunehmen. Sie hatten überhaupt nicht vor, irgendeine Straftat zu begehen, und meinten von sich, der Staatssicherheit keine Anhaltspunkte für eine solche geliefert zu haben. Da jedoch die Eröffnung einer OPK in der Regel an einen solchen Verdacht gebunden war, musste die Kreisdienststelle des MfS einen entsprechenden Paragraphen angeben. Im Falle eines sehr selbstbewussten Facharbeiters konnte sie auf eine frühere OPK zurückgreifen, die wegen des Verdachtes der staatsfeindlichen Hetze und Staatsverleumdung bereits vor Jahren angelegt worden war. Begründet wurde die erste wie auch die zweite OPK mit seinen offen »feindlich-negativen« Reden sowohl im Betrieb als auch im Wohngebiet und seiner negativen politischen Grundeinstellung gegen die DDR, zudem war er Nichtwähler. In der OPK »Druck«, die im 187 Vgl. Kapitel 7.4 in diesem Band. Der Zusammenhang zwischen der Anwendung bestimmter Strafrechtsparagraphen gegen Antragsteller und der »Freikaufpraxis« der Bundesrepublik ist dargestellt bei Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 320. Nachdem die Bundesregierung ihre humanitären Gegenleistungen seit Januar 1989 nur noch auf die Personen beschränkte, die nach dem Paragraphen 213 verurteilt worden waren, schränkte die DDR unverzüglich die Anwendung der §§ 214, 219 und 220 ein und verurteilte bevorzugt nach § 213. Der Autor hat mir seine Arbeit vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt, eine Reihe von wichtigen Informationen zum Freikauf konnte ich für die eigene Arbeit verwenden. Ich bin ihm sehr zum Dank verpflichtet. Vgl. auch Raschka: Justizpolitik, S. 284–286, sowie das Schreiben Mielkes an die MfS-Diensteinheiten, 23.2.1989, Punkt 3, In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 251. Hier auch auf die EV der Kriminalpolizei bezogen.
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Ausreise per Antrag
Anschluss an seine Antragstellung eröffnet wurde, griff die Staatssicherheit diese Beschuldigungen wieder auf. Die intensive »operative Bearbeitung« war darauf gerichtet ihn davon abzuhalten, offen über seine Ausreiseabsicht zu reden. Ein solcher Umgang des Druckers mit seiner Antragstellung wäre aus Sicht der Staatssicherheit als »öffentlichkeitswirksame Handlung« verfolgungswürdig gewesen. Waren Antragsteller im Kollegenkreis besonders geachtet, wie das Ehepaar Hellweg, verstärkte die Staatssicherheit ihre Repressionen. 188 So auch bei der Industriekauffrau und dem Schlosser Cohn, die zudem noch mit dem Entzug ihres Personalausweises bestraft wurden. Eine solche Maßnahme beantragte die MfS-Kreisdienststelle beim Volkspolizeikreisamt, wenn sie dem mit einem »PM 12« 189 ausgestatteten Antragsteller auf diese Weise jede Reisemöglichkeit nehmen wollte, namentlich dann, wenn der Verdacht bestand, sie könne zu einer Kontaktaufnahme mit Personen aus dem Westen führen. 190 Dies zu verhindern, gehörte zu einer zentralen Aufgabe der im MfS Zuständigen, die sich dadurch eine Verringerung der Anzahl sogenannter Rückverbindungen erhoffte. 191 Es schien der Staatssicherheit ein probates Mittel, den psychischen Druck zu erhöhen, wie im Fall von Frau Cohn, die daraufhin zusammenbrach. »Man hat mir einen kurzen Prozess gemacht«, sagte sie nach dem Entzug ihres Ausweises, und: »Das ist mir unerklärlich.« 192 Tatsächlich hatte sie nicht vor, Halberstadt zu verlassen, ebenso wenig wie andere Antragsteller, die mit einem Ausweisentzug bestraft wurden. Mit einem »PM 12« ausgestattet zu sein, stellte die Besitzer für jedermann erkennbar ins gesellschaftliche Abseits. Der Entzug des Personalausweises stellte für viele Antragsteller eine besondere Diskriminierung dar, auch für das Ehepaar Kapelle, Arbeiter in einem Halberstädter Baubetrieb. Sie verhielten sich sehr ruhig. Nach zwei Jahren veränderte sich ihr Ton, das MfS legte eine OPK an und entzog ihnen den Personalausweis. Frau Kapelle warf dem Rat des Kreises Unmenschlichkeit vor und empörte sich über die Behandlung: »Der Ausweis [PM 12] hat mir total den Rest gegeben. Man kann sich ja nicht einmal mehr einen Scheck einlösen, ohne dumm angeguckt zu werden. Und da soll man ruhig bleiben? Es bleibt dabei, ein Zurück gibt es für uns nicht mehr.« 193 Sie drohte mit der Einschaltung von Rechtsanwalt Vogel und verglich die Stigmatisierung infolge des 188 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1139/88 (OPK »Druck«). 189 Zum PM 12 vgl. Anm. 16/Kap. 5. 190 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1719/85 (OV »Wien«), Bl. 79. 191 Vgl. Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 26 f., sowie Kapitel 7.4 in diesem Band. 192 Aussprache im Rat des Kreises, 4.5.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2417/86 (OPK »Installateur«), Bl. 16. 193 BStU, MfS, BV Magdeburg, MfS BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1241/86 (OPK »Maurer«), Bl. 73–74.
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Ausweisentzuges mit den Methoden in der NS-Zeit: Das sei »wie früher, da könnten sie uns gleich einen Judenstern geben«. Sie fühlte sich entmündigt und wie in einem Gefängnis. 194 Diese Art von Repressionen war kaum geeignet, eine Rücknahme zu bewirken. Familie Kapelle konnte ein Jahr später ausreisen, es hätte, so heißt es, im »operativen Interesse« gelegen. 195 Eine Reihe der bei der Eröffnung der OPK gegen die Antragsteller erhobenen Verdachtsgründe erscheint konstruiert. Oftmals folgten die Argumente nicht einmal der eigenen Logik des Sicherheitsapparates. Gegen Jürgen Lehmann wurde 1986 eine OPK aufgrund des Verdachtes angelegt, er könne eine strafbare Handlung begehen. Lehmann hatte einen Ausreiseantrag gestellt, offensichtlich wusste er nicht, wie er seine Unterhalts- und andere Schulden begleichen sollte. Zunächst trat er »hartnäckig« auf, dann hörte die Abteilung Innere Angelegenheiten nichts mehr von ihm, ein Jahr später teilte er den Behörden telefonisch mit, dass er sehr gut lebe und zurzeit keine Sorgen habe. 196 Ungeachtet dessen wurde er weiterhin »operativ beobachtet«. Ein Antragstellerehepaar fuhr mit dem Pkw in die ČSSR, man vermutete, es hätte sich dort mit einem Westdeutschen getroffen. Einen Beweis gab es nicht. Von einem IM erfuhr die Kreisdienststelle, dass ein befreundeter Antragsteller inzwischen im Westen wäre, das führte zum Verdacht des Straftatbestandes nach § 225, der Unterlassung einer Anzeige. Die OPK wurde angelegt, um »die tatsächlichen Motivationen für die Übersiedlungsabsichten« herauszuarbeiten, die »Möglichkeiten einer Rückgewinnung« zu prüfen sowie »Hinweise auf Verletzung von Straftatbeständen der allgemeinen Kriminalität« zu finden. 197 Der Nachweis konnte nicht erbracht werden. In der OPK »Kabel« wurde einem Elektriker der Straftatbestand Spionage (§ 100) unterstellt; er interessierte sich für Flugzeuge und baute Flugzeugmodelle. Ein auf ihn angesetzter IM wollte ihn zum heimlichen Fotografieren eines Flugplatzes animieren, was jedoch nicht gelang. Ungeachtet dessen wurde er der Spionage verdächtigt. 198 Eine junge Frau, deren Vater bereits ausgereist war, stellte einen Ausreiseantrag, nachdem sie 18 Jahre alt geworden war. Obwohl ihr Ausreisemotiv eindeutig war, wurde die OPK »Tochter« wegen des Verdachts auf staatsfeindli194 Ebenda, Bl. 17. Die Abteilung I A hat diese Entwicklung akribisch festgehalten und sämtliche Äußerungen, die die Antragstellerin im Jahr 1985 gemacht hat, stichpunktartig notiert. 195 Einen vergleichbaren Leidensweg geht das Ehepaar Cohn, das nach zweieinhalb Jahren Wartezeit 1986 mit seiner Tochter in den Westen entlassen wird. Sie hatten den Antrag mit einer Familienzusammenführung begründet, die Eltern von Frau Cohn waren 1983 als Rentner legal in den Westen ausgereist. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2417/86 (OPK »Installateur«). 196 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2193/89 (OPK »Klempner«), Bl. 44. 197 Übersichtsbogen zur OPK »Golf II«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2183/89, Bd. 1, Bl. 5 198 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 270/85 (OPK »Kabel«).
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Ausreise per Antrag
chen Menschenhandel und ungesetzlichen Grenzübertritts angelegt. Einen Anlass gab es dafür nicht. 199 Für die Eröffnung der OPK »Enkel« ließen sich offenbar ebenfalls keine wirklich relevanten Strafrechtsparagraphen finden. Also formulierte die Kreisdienststelle, dass das Ziel der »operativen Bearbeitung« in der Schaffung von Hinweisen auf strafbare Handlungen gemäß §§ 137–139 bestehe; das waren die Straftatbestände »Beleidigung« und »Verleumdung«. Der Fahrzeugschlosser aus der OPK »Enkel« war ein besonders ruhiger, besonnener Mensch. Ihm waren solche Verhaltensweisen nicht nachzuweisen, dennoch wurde er umfassend kontrolliert, im Betrieb mit Repressionen bedacht und bespitzelt. Erst nach drei Jahren durfte er ausreisen. 200 Es gibt Verfolgungsakten, die mit der ausdrücklichen Maßgabe angelegt wurden, die Antragsteller gesellschaftlich zu isolieren, zu kriminalisieren oder ihnen Tatbestände nachzuweisen, die eine Inhaftierung ermöglichten. Ein Biologe und eine Medizinerin führten aus Sicht der Staatssicherheit ein asoziales Leben, erzögen ihre Kinder antiautoritär, die Wohnstube sähe nicht wohnlich aus. Als es im Betrieb des Herrn Kröger zu finanziellen Unstimmigkeiten kam, wurde er verdächtigt. »Die Täterschaft wurde nicht bewiesen«, desgleichen »konnten keine Hinweise erarbeitet werden, die darauf hindeuten, dass der [Kröger] Verbindungen zu staatsfeindlichen Stellen, Organisationen bzw. Personen aufnahm«. 201 Nach drei Jahren konnte die Familie ausreisen. Solche Versuche, den Antragstellern einen Diebstahl, eine Veruntreuung oder einen illegalen Autoverkauf nachzuweisen, wurden in weiteren fünf von 48 hier behandelten Fällen angestrebt. Sie blieben alle erfolglos. 202 Auf derartige Unterstellungen wurde dann bevorzugt zurückgegriffen, wenn dem Antragsteller keine andere Straftat nachgewiesen werden konnte oder die offiziell verwertbaren Beweise für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens fehlten. Ein Jahr nach seinem Ausreiseantrag konnten einem Elektroschweißer immer noch keine offiziellen Beweise einer Verbindungsaufnahme nach § 219 Abs. 2 203 nachgewiesen werden. Diese wären aber notwendig für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gewesen. Die Abteilung IX mischte sich ein und wies die Kreisdienststelle an, den Einsatz »inoffizieller Kräfte« zu verstärken, eine Hausdurchsuchung zu veranlassen und »im Betrieb […] zu prüfen, in199 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«). 200 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1809/85 (OPK »Enkel«). 201 Bericht, 14.12.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2449/84 (OPK »Gärtner«), o. Pag. 202 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 863/89 (OV »Beton«). 203 Diese Rechtsnorm stellte die »unter Umgehung von Rechtsvorschriften« erfolgte Übergabe von Schriften, Manuskripten oder anderen Materialien »an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland«, »die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden« unter Strafe.
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wieweit durch kriminelle Handlungen, zum Beispiel Diebstahlhandlungen, die im OV ›Beton‹ bearbeitete Person als evtl. Täter infrage kommt«. 204 Vier Wochen später wurde mit großem logistischen Aufwand eine konspirative Hausdurchsuchung durchgeführt, Beweismittel wurden nicht gefunden. Die OPK »Altenburg«, wegen der Verhinderung von Straftaten nach § 213 und § 105 angelegt, bestand ausschließlich darin, den Montageingenieur beruflich zu disziplinieren. Er wartete sechs Jahre auf die Genehmigung einer Ausreise für sich und seine Familie, eine Rücknahme des Antrags konnte das MfS nicht erzwingen. 205 In vier Fällen wurde eine OPK »mit dem Ziel der Klärung operativbedeutsamer Anhaltspunkte im Sinne des Paragraphen 100 StGB eingeleitet«. Die »staatsfeindliche Verbindungsaufnahme« konnte mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft werden. Die OPK »Wartburg« gegen das Ehepaar Funke wurde mit diesem Verdachtsgrund eröffnet, ohne dafür irgendeinen Anhaltspunkt zu liefern. 206 Der Maßnahmeplan in dieser OPK war besonders umfangreich, ebenso die Zahl der eingesetzten IM. Dies hatte augenscheinlich mit dem Umstand zu tun, dass Frau Funke als Ökonomin in einer leitenden Stellung im Betrieb tätig war. Die Postkontrolle durch das MfS ergab, dass das Ehepaar Funke keine Absichten hegte, etwas Ungesetzliches zu unternehmen, die »operative Kontrolle« wurde dennoch verstärkt. Nach zwei Jahren wurde die Übersiedlung genehmigt, strafbare Tatbestände hatten sich nicht nachweisen lassen. In diesem wie in vielen anderen Fällen wird die plötzlich von der Bezirksverwaltung des MfS erteilte Genehmigung für die Antragsteller ebenso überraschend gekommen sein wie für die Kreisdienststelle des MfS in Halberstadt. In wenigstens acht Fällen sind die OPK angelegt worden, um soziale Beziehungen von Antragstellern zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören; entweder innerhalb der Antragsgemeinschaft, zwischen dem Antragsteller und der Person, die im Westen auf ihn wartete, oder zwischen der Antragsgemeinschaft und deren gesellschaftlichem Umfeld. Die auf die Antragsteller angesetzten IM streuten Gerüchte, die Abteilung Innere Angelegenheiten verbreitete auf Weisung der Staatssicherheit Angaben über die angebliche Untreue des Verlobten im Westen. Solche Weisungen gingen einige Male von der Bezirksverwaltung in Magdeburg aus, die ihre Kreisdienststelle in Halberstadt zum Beispiel anwies: »Von ihnen sind Maßnahmen einzuleiten, um die Liebesverbindung zwischen der bearbeiteten Person [Döring] und dem BRD-Bürger [Weber] zu 204 Aktenvermerk über Konsultation in der Abt. IX zum OV »Beton«, 15.7.1986; BStU; MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 863/89, Bl. 278–280, hier 279. Außerdem KD an VPKA wegen Einzugs des Personalausweises; ebenda, Bl. 175. 205 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1500/83 (OPK »Altenburg«). 206 Einleitungsbericht zur OPK »Wartburg«, 30.5.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1413/85, Bd. 1, Bl. 12–23.
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zersetzen.« Das MfS beabsichtigte, die »Zerschlagung des Liebesverhältnisses mithilfe eines fingierten Briefes«. 207 Es gelang der Staatssicherheit darüber hinaus, die junge Frau im Freundeskreis und im Betrieb zu isolieren. In den Gesprächen in der Kaderabteilung ihres Lehrbetriebes, in der Abteilung Innere Angelegenheiten sowie mit der Staatssicherheit wurde sie dahin gedrängt, ihren Antrag zurückzunehmen und den Freund zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Stefanie Döring erkrankte schwer. 1982, nach fast sechs Jahren Wartezeit, nahm sie ihren Antrag auf Ausreise zurück. 208 Auch die OPK einer anderen jungen Frau, die ebenfalls zu ihrem Verlobten in den Westen ausreisen wollte, diente allein dem Versuch, sie nervlich so zu zermürben, dass sie den Antrag von sich aus zurückzieht. Der Nachweis eines Anfangsverdachtes auf eine strafbare Handlung nach § 213 (»Ungesetzlicher Grenzübertritt«) wurde nicht erbracht. 209 Im Rahmen solcher OPK war der Einsatz geeigneter inoffizieller Mitarbeiter, das heißt solcher, die Vertrauen bei den Bespitzelten fanden, für das MfS die wichtigste Methode. 210 Dieses und das folgende Beispiel zeigen, dass die Strategie der sogenannten Rückgewinnung stets mit höchstem psychischem Druck von der Stasi betrieben wurde. Eine Methode, die in den uns bekannten Fällen nur ausnahmsweise zum erhofften Ziel führte. In der Regel wurden die disziplinierten und bedrohten Antragsteller immer entschlossener, ihr Anliegen durchzusetzen. Nach ihrer Antragstellung leben die Eheleute Garms zurückgezogen. Der Stasi kommt zu Ohren, dass sie sich auf eine längere Wartezeit eingerichtet haben. Die zahlreich auf das Antragstellerehepaar angesetzten IM bestätigen, dass beide ruhig ihrer neuen Arbeit in einem Gemüseladen nachgehen. Die OPK »Motor« ist bereits vor Garms’ Antragstellung angelegt worden, nachdem Herr Garms Besuch von einem ehemaligen und bereits in den Westen ausgereisten Kollegen bekommen hatte. Das Ehepaar wird von der Kreisdienststelle des MfS weiter verfolgt, ungeachtet der geheimen Informationen darüber, dass Garms’ weder politisch-feindlich auftreten würden noch beabsichtigten, die Grenze illegal zu übertreten. »Er ist mit vielen Dingen nicht einverstanden. Das bringt er auch offen zum Ausdruck. Aber generell ist keine feindliche Absicht erkennbar.« 211 Dass es der Staatssicherheit überhaupt gelang, derart viele IM in der Nähe des Paares zu platzieren, obwohl es sehr vorsichtig in seinen Äußerungen ist und zurückgezogen lebt, hängt mit Herrn Garms aktiver Mitgliedschaft im 207 Zwischenbericht zur OPK »Herz«, 4.4.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1548/89, Bd. 4, Bl. 111 u. 126. 208 BStU, MfS, BV Magdeburg, AIM, Nr. 1548/89, Bd. 4. 209 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1468/84 (OPK »Verlobung«). 210 Vgl. Einschätzung der Dislozierung und Wirksamkeit des IM/GMS-Systems der Kreisdienststelle Halberstadt, 12.2.1979; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 985, Bl. 3–23, Bl. 19 u. 22. 211 Treffen mit IMS Bach, 22.11.1983; BStU, MfS, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), Bd. 2, Bl. 47.
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ortsansässigen Fußballverein zusammen.212 Im Falle des Lehrerpaares bleibt der Erfolg einer Rücknahme des Antrages aus, die »Zersetzungsstrategie« des MfS greift erst allmählich.213 Dennoch gelingt es der Staatssicherheit, das Ehepaar in fast vier Jahren Wartezeit auf eine Genehmigung zur Ausreise psychisch und physisch gravierend zu belasten. Ihre Vorsprachen in der Abteilung Inneres enden stets ablehnend, der Abteilungsleiter macht ihnen nicht die geringste Hoffnung auf einen positiven Bescheid. Den befreundeten ehemaligen Kollegen wird angedroht, dass sie mit einer Kündigung durch die Abteilung Volksbildung zu rechnen hätten, wenn sie den Kontakt zu Garms’ nicht einstellten.214 Der Fußballverein schließt Herrn Garms nach einiger Verzögerung endgültig aus. Im Sommer 1984 wird ihnen der Personalausweis entzogen. Der IM »Wolf« hat genug Intimitäten an die Stasi gemeldet, die ausreichen, Gerüchte über das Verhältnis des Ehepaares zu streuen.215 Die einst sehr gesellige Familie lebt jahrelang isoliert von Freunden und Kollegen. Nach fast vier Jahren werden sie aus »operativ-bedeutsamem« Grund aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen.
Das folgende Beispiel im Vorgehen gegen Stefan Togalla macht deutlich, wie wenig es der Staatssicherheit tatsächlich um eine »Rückgewinnung« ging, denn der Verfolgte ist gar kein Antragsteller. Als sein Bruder 1977 einen Antrag auf Ausreise für sich und seine Familie stellte, unterstützte ihn Stefan offen in diesem Vorhaben. Seine Frau und er hatten nicht die Absicht, selbst in den Westen zu gehen, wo sich inzwischen fast alle anderen Familienmitglieder befanden, hielten es aber für deren gutes Recht, dies zu tun. Unmittelbar nachdem sein Bruder ausreisen durfte, legte die Staatssicherheit gegen den Musiklehrer und SED-Genossen einen Operativen Vorgang gemäß § 100 (»Staatsfeindliche Verbindungen«) an.216 Nach der Übersiedlung seines Bruders und seiner Mutter wurde gegen ihn ein Parteiverfahren eröffnet, das wegen seines Verhaltens während der entsprechenden Parteiversammlung mit einem Ausschluss endete. Wiederholt wurde er aufgefordert, sich von seinem Bruder öffentlich zu distanzieren.217 Ein Jahr später wurde er wegen »Nichteignung« und »Fehlverhaltens« fristlos aus dem Schuldienst entlassen. Als Grund wurde von der Abteilung Volksbildung ein Zoll- und Devisenvergehen angegeben.218 Der Personalausweis wurde ihm entzogen. Die Kreisdienststelle 212 Hier trifft er nicht nur auf Leiter des Sportclubs, unter denen viele IM waren, sondern auch auf einen Arzt, andere Lehrer, »Genossen« aus der Zivilverteidigung und der Polizei. 213 Vgl. die verschiedenen Meinungen zu Herrn Garms Teilnahme am Fußballspiel; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), Bd. 2, Bl. 70, 163 u. 202. 214 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 , Bd. 2, Bl. 104, 18.4.1984. 215 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 2211/88 (OPK »Motor«), Bd. 1, Bl. 110, 143–147 u. 168–169; Bd. 2, Bl. 48 u. 87 f. 216 Eröffnungsbericht zum OV »Musiker«, 27.7.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80, Bl. 434–459. Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band. § 100 stellte »landesverräterische Agententätigkeit« unter Strafe. 217 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bd. 2, Bl. 132–135, 122– 123 u. 151–154. 218 Vermerk, 10.1.1979; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sign. 115.
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Ausreise per Antrag
Halberstadt haderte vor jeder neuen Maßnahme mit sich, sie wolle »seine Rolle als Märtyrer nicht unterstützen«. 219 Zugleich ordnete sie »Maßnahme B« an, die Installation einer Abhöranlage im Wohnzimmer von Familie Togalla. Die Post- und Telefongesprächskontrollen waren längst in Gang gesetzt. 220 In einem »Maßnahmeplan« waren die genannten Disziplinierungen und Überwachungshandlungen festgelegt worden. Als Letztes und Stefan Togalla wohl am härtesten treffend, zerstörten sie seine Existenz als freischaffender Musiker. Er hatte geplant, seinem Hobby, der Tanzmusik, nach der fristlosen Entlassung als Lehrer freiberuflich nachzugehen. Im Maßnahmeplan der Kreisdienststelle des MfS heißt es unter anderem: »Verhinderung, dass Rat des Kreises, Abt. Kultur, den [Togalla] als freischaffenden Musiker nach fristloser Entlassung aus der Volksbildung zulässt.« 221 Stefan Togalla resignierte, im Freundeskreis war man ihm seit einiger Zeit mit Misstrauen begegnet, die Stasi hatte das Gerücht lanciert, er hielte Kontakte zu ihnen. Das MfS hielt die Situation für außerordentlich günstig, eine inoffizielle Zusammenarbeit »auf der Basis der Wiedergutmachung« mit ihm zu planen, offensichtlich hatte es sich geirrt. 222 Im Nachhinein und in Kenntnis dieser Vorgänge, erscheint der ungeheure Aufwand des MfS-Apparates mithilfe von flächendeckenden Postkontrollen, Telefonüberwachungen, Hausdurchsuchungen, dem Einbau von Abhöranlagen in Wohnzimmern und einigen Hundert geheimen Informanten die Antragsteller zu kriminalisieren, völlig überdimensioniert. 223 Die meisten Anstrengungen liefen quasi ins Leere. Häufig mussten Konstruktionen gefunden werden, die das Anlegen einer Verfolgungsakte legitimierten. Übergeordnete Instanzen wiesen Genehmigungen oder Inhaftierungen an, die für die Kreisdienststellen des MfS in der Regel überraschend kamen und ihre unter Umständen jahrelangen Verfolgungsaktionen ad absurdum führten. Welchen Sinn hatten angesichts dieses Ergebnisses die personellen, finanziellen und logistischen Aufwendungen des DDR-Geheimdienstes? Der Logik des Überwachungsapparates folgend, machten diese geheimdienstlichen Verfolgungen durchaus einen Sinn. Indem die Antragsteller zu Staatsfeinden erklärt wurden, war für deren Bekämpfung keine Anstrengung zu groß. Mit Recht ist darauf verwiesen worden, dass das Feindbild der Angehörigen der Staatssicherheit in den letzten Jahren der DDR zu wanken be219 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bd. 2, Bl. 105. 220 Maßnahme B; ebenda, Bl. 171–175. 221 Maßnahmeplan zur Sicherung und Bearbeitung einiger operativer Maßnahmen bei der Bearbeitung des OV »Musiker«; ebenda, Bl. 213. Sein Versuch, durch geschicktes Verhalten wieder eine Lizenz für seine Arbeit in der Tanzkapelle zu bekommen, misslang; ebenda, Bl. 214. 222 Ilse Togalla sollte als IM geworben werden und erzählt dies überall weiter. Vgl. Abschlussbericht zum OV »Musiker«, 23.9.1980; ebenda, Bd. 3, Bl. 508. Hier finden sich auch Informationen zu Stefan Togalla, dem Ehepaar Prützmann u.a.m.; ebenda, Bl. 501–514. 223 Vgl. zu Postkontrollen und der Installation von Abhöranlagen durch das MfS das Kapitel: Ermittlungen und Verhaftungen, in: Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 31–43.
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7 Herrschaft im Kreis Halberstadt
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gann. 224 Doch auf die Praxis der Verfolgung von Antragstellern und der geheimdienstlichen Zerschlagung von »Zusammenschlüssen« im Kreis Halberstadt respektive im Bezirk Magdeburg hatte dieses wankende Selbstbild keinen Einfluss. Selbst der Ton in den Berichten der hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter sollte sich erst im Sommer 1989 ändern. 225 Bis dahin waren die Halberstädter Antragsteller ungebrochen der Härte und Willkür des Sicherheitsapparates ausgesetzt. Die Methode der Staatssicherheit produzierte regelrecht »Staatsfeinde«, ihre repressive Taktik führte mehrheitlich nicht dazu, dass Antragsteller unter Druck ihren Antrag zurückzogen. Die jahrelangen Verfolgungen und Zermürbungsaktionen hatten jedoch große psychische und physische Belastungen für die Betroffenen zur Folge und isolierten sie unter Umständen von Freunden und Verwandten. An dieser Wirkung änderte auch die Tatsache nichts, dass die meisten Operativen Vorgänge nach zwei bis fünf Jahren ohne ersichtlichen Anlass und ohne, dass es dafür zuvor Anzeichen gegeben hätte, geschlossen wurden; in vielen Fällen, weil die Ausreise aus »operativen Gründen« von der Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg respektive von Erich Honecker persönlich genehmigt worden war. 226 Im Gegenteil, dieses willkürliche Vorgehen erhöhte jenes ohnehin vorhandene Gefühl der Unberechenbarkeit behördlicher Entscheidungen, das alle Halberstädter Antragsteller ergriff, nachdem sie ihren Antrag im Rat des Kreises abgegeben hatten. Im höchsten Maße als unberechenbar wurden die »Zuführungen« und die folgenden Verurteilungen zum Freiheitsentzug empfunden, denen jene, die es traf, hilflos gegenüberstanden.
7.4
Von der operativen Personenkontrolle zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens
Bisher wurden nur solche Verfolgungsakten näher betrachtet, die letztlich nicht zu einer Inhaftierung geführt hatten. Die meisten Antragsteller ahnten nicht einmal, dass sie derart von der Staatssicherheit überwacht wurden, und die übrigen schätzten das Ausmaß der geheimdienstlichen Maßnahmen viel 224 Vgl. Gieseke: Der entkräftete Tschekismus. Das MfS und seine ausgebliebene Niederschlagung der Konterrevolution 1989/90. In: Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, S. 56–81, hier 67 ff. 225 Vgl. ausführlich dazu Kapitel 8 in diesem Band. 226 Die Genehmigungspraxis stand in direktem Zusammenhang zur Entwicklung der sogenannten Familienzusammenführung und war, ähnlich wie der Freikauf von Inhaftierten durch die Bundesregierung, von diversen Interessen in Ost und West geprägt. Vgl. Wölbern: Strukturen, Akteure und Mechanismen. In: Ders.: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 90–140, sowie Hollmann; Kuhrt (Hg.): »Besondere Bemühungen« der Bundesregierung.
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Ausreise per Antrag
geringer ein, als es tatsächlich war. Die bereits von der Staatssicherheit unter Verdacht gestellten Antragsteller waren mehrheitlich der Überzeugung, sich so zu verhalten, dass keine Verhaftung zu befürchten sei. 227 Diese Stimmungslage sollte mitgedacht werden, wenn sich jetzt jenen Halberstädter Ausreisewilligen zugewandt wird, die in Untersuchungshaft kamen bzw. zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Für sie bekam das Geschehen eine besonders dramatische Wendung. Von den 48 Verfolgungsakten, die eingesehen werden konnten, wurden 14 von der Staatssicherheit von einer OPK in einen OV umgewandelt und gegen die darin bearbeiteten 18 Personen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. 228 Die Anlässe für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens mit Haft sind in einigen Fällen kaum nachvollziehbar. Vor allem aber drängt sich die Frage auf, warum dieser und nicht ein anderer Antragsteller wegen »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit« inhaftiert wurde. Warum gelang es Familie Gardeleben bereits drei Tage nach ihrer Besetzung der Räume im Rat des Kreises eine Ausreisegenehmigung zu erkämpfen? 229 Und warum wurde nicht einmal erwogen, Günter Großmann zu verhaften, dessen Bruder im Westen intensive Kontakte zu zahlreichen sogenannten Feindorganisationen unterhielt? Peter Granitz dagegen wurde wegen seines Auftretens im Rahmen der Sprechstunde in der Abteilung Innere Angelegenheiten zu zwei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die jeweilige Entscheidung war für die Betroffenen nicht berechenbar.
227 Vgl. den Beitrag von Moritz Schleime, der über seine Mutter schreibt, sie hätte weder mit der Postkontrolle noch mit dem Abhören ihres Telefons gerechnet. Schädlich (Hg.): Ein Spaziergang war es nicht, S. 12. 228 Die Bezugsgröße sind auch hier wieder insgesamt 48 OPK/OV. Nur in einem Fall wird unmittelbar vor der Verhaftung die OPK nicht in einen OV umgewandelt. 229 Das Ehepaar Uwe und Kornelia Gardeleben hat auf diese Weise tatsächlich seine Ausreise beschleunigen können. Sie hatten 1984 die Übersiedlung beantragt und bis zum November 1987 insgesamt 16 Ersuchen an verschiedene staatliche Stellen der DDR gerichtet. 50 Mal hatten sie die Sprechzeiten im Rat des Kreises genutzt. Ende 1986 wurde ihnen eine wohlwollende Prüfung und baldige Übersiedlung zugesichert. Das geschah jedoch nicht, die Eheleute Gardeleben wurde wieder und wieder vertröstet. Am 9. Februar 1988 suchten sie, diesmal zusammen mit ihren beiden 14 und 11 Jahre alten Kindern, den Rat des Kreises auf, und forderten jene Mitarbeiterin zu sprechen, die ihnen vor einem Jahr eine Genehmigung in Aussicht gestellt hatte. Als dies nicht geschah, ihnen dagegen mitgeteilt wurde, dass es auch heute keine Entscheidung in ihrem Fall geben werde, blieben sie zunächst im Büro, später im Wartezimmer sitzen. Sie würden nicht eher gehen, bis ihnen eine verbindliche Zusage erteilt würde. Es begann eine hektische Aktivität aufseiten des Rates des Kreises. Die Kreisdienststelle des MfS wurde umgehend informiert, Telegramme an den Bezirk geschickt, eine OPK wird angelegt, eine Verdachtsprüfung für den Staatsanwalt formuliert. Am Abend des gleichen Tages kam der positive Bescheid von der Bezirksverwaltung des MfS Magdeburg. Eine Woche später kann die Familie in den Westen ausreisen. »Wir waren die ersten, die einen Sitzstreik gemacht haben«, erzählen sie stolz in einem 2010 geführten Interview. Anders als die Staatssicherheit annahm, hatten sie alles geplant. Vgl. Interview mit dem Ehepaar Gardeleben, 23.8.2010, Transkript, S. 28–32.
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7 Herrschaft im Kreis Halberstadt
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Was als Willkür, als unberechenbar und zufällig im Verhalten der Staatssicherheit gegenüber den Antragstellern erscheinen musste, war Resultat einer Politik, die unterschiedliche, sich zum Teil widersprechende Herrschaftsstrategien und -taktiken zur Anwendung brachte. Zudem wechselten die zentralen Orientierungen, wurden einmal Genehmigungsstopps verordnet, ein andermal wurde die Anzahl der Ausreisenden auf das Doppelte erhöht. Zu Beginn des Jahres 1984 kam im Zuge einer Öffnung des »Ausreiseventils« die Genehmigung aus »politisch-operativen« Gründen in großer Zahl zur Anwendung. Am Ende des Jahres wurden bereits wieder strengere Maßstäbe angeordnet. 230 Die aufwendig betriebene geheimdienstliche Tätigkeit der Kreisdienststelle endete manches Mal selbst für diese unerwartet und völlig überraschend mit einer durch die MfS-Bezirksverwaltung angeordneten Genehmigung der Ausreise aus sogenannten staatlichen Interessen. 231 Zu all diesen internen Steuerungen auf zentraler Ebene kam noch die Planung der Kreisdienststelle des MfS selbst, die sich im vorgegeben Rahmen bewegen musste und nur so viel OPK oder OV anlegen konnte, wie sie bürokratisch und »operativ« zu bewältigen in der Lage war, aber auch nicht weniger als im letzten Planjahr bearbeitet worden waren. 232 Die umfangreichen Recherchen zu diesem Buch haben deutlich werden lassen, dass sich der Umgang des Staates mit den Antragstellern weitaus weniger planmäßig gestaltete als zuvor angenommen. 233 In der Realität ließen unterschiedlichste Interessenlagen, die sich zudem ändern konnten, eben keine stringente staatliche Repressionspolitik erkennen. Die Mitarbeiter des MfS befanden sich angesichts dieser »Auftragsvielfalt« in permanenten Zielkonflikten. Sie hatten einerseits das Begehren der Antragsteller zurückzuweisen, ihnen entsprechende Konsequenzen anzudrohen, sie zu disziplinieren und zu bestrafen, andererseits sollten sie nicht allzu repressiv vorgehen, da sich dies oftmals als kontraproduktiv erwiesen hatte. Die Antragsteller würden auf diese Weise isoliert, zögen sich zurück und wären von der Rücknahme ihres Antrages – ein entscheidendes Planziel auch des MfS 230 Vgl. zu diesem Gedanken Eisenfeld: Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 37, 40 u. 46. Geplant hatte man auf zentraler Ebene 1 000 Ausbürgerungen monatlich, 1984 entschied man sich für bis zu 3 000 Genehmigungen, siehe ebenda, S. 47. 231 Die Taktik der Staatssicherheit war oft doppelbödig: Sie erwirkt Stefanie Togallas Exmatrikulation von der medizinischen Fachschule und verhängt ein quasi Berufsverbot, um sie andererseits für eine Zusammenarbeit zu gewinnen. Hier verbindet sich die relativ rasche Genehmigung der Ausreise mit dem Vorhaben, auf diese Weise Auskünfte über die »feindliche Gruppe«, der ihr Vater nach Vermutungen des MfS angehören könnte, zu erhalten. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AOPK, Nr. 1158/85 (OPK »Tochter«). 232 Vgl. Berichte über Planerfüllungen in Chronik der KD Halberstadt: BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 711, Bl. 166 f. Erster ÜE taucht hier 1976 auf, danach keinerlei Erwähnung von Antragstellern in der Chronik, Bl. 180. 233 Vgl. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 35.
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Ausreise per Antrag
– noch weniger zu überzeugen. Die Staatssicherheit hatte strafbare Handlungen aufzudecken, verwertbare Beweise zu erbringen und gegebenenfalls die Verdächtigen erfolgreich einer Strafverfolgung zuzuführen. Zugleich aber sollte sie die Straftat möglichst verhindern, das heißt es gar nicht erst zu der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens kommen lassen. Sie hatte einerseits die Verbindung von Antragstellern zu den »Feindorganisationen« im Westen nachzuverfolgen und als besonders strafbares Vergehen zu ächten. Andererseits gehörte es seit den späten 1970er Jahren zum Selbstverständnis der Partei- und Staatsführung der DDR, nicht auf Konfrontation mit dem westlichen Ausland zu gehen. Eine verschärfte Strafverfolgungspolitik hätte ihrer außenpolitischen Reputation und Kreditwürdigkeit erheblich schaden können. Zudem hatte die 1976 erlassene OV-Richtlinie die Bedeutung der »Zersetzung« als Methode der Bekämpfung staatsfeindlicher Personen und Personengruppen als mögliche Alternative für die strafrechtliche Verfolgung herausgestellt. 234 Insgesamt hatte sich der Charakter des DDR-Repressionsapparates seit den 1950er Jahren erheblich verändert. 235 Die Antragstellungen der Jahre 1975 bis 1989 erfolgten in einer Zeit, in der Prävention, also die Vorbeugung und Verhinderung einer Straftat, vor die repressive Strafrechtsverfolgung gestellt werden sollte. Hinzu kam, dass die gesamte Strafvollzugsordnung 1977 im Zuge eines neuen Strafvollzugsgesetzes in einigen Teilen dem internationalen Standard angeglichen worden war. 236 Das im gleichen Jahr erlassene Strafrechtsänderungsgesetz enthält ebenfalls einige außenpolitisch motivierte Konzessionen; es ist maßgeblich als eine Reaktion auf die steigende Zahl von Antragstellern auf ständige Ausreise anzusehen. Insbesondere die Neufassung der §§ 214 (»Beeinträchtigung staatlicher und gesellschaftlicher Tätigkeit«) und 220 (»Öffentliche Herabwürdigung«) diente dem ausdrücklichen Zweck, Verhaltensweisen, die für die Ausreisewilligen typisch waren, besser kriminalisieren zu können. 237 Die Praxis dieses Strategiewechsels sah demnach sehr widersprüchlich aus, so widersprüchlich wie die gesamte Politik der »Amtszeit Honeckers, der die DDR aus ökonomischen und politischen Motiven nach Westen öffnen, den eigenen Bürgern die Partizipation an dieser Öffnung aber so weit als möglich verwehren wollte«. 238 Auf diese Parallelentwicklung politischer Praxen – etwa 234 Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV) vom Januar 1976. In: Engelmann; Joestel (Bearb.): Grundsatzdokumente des MfS, S. 245–298, hier 285–288. 235 Eine Reihe von Informationen vor allem im folgenden Kapitel konnte mir Roger Engelmann geben. 236 Vgl. Raschka: Justizpolitik, S. 118–124. 237 Vgl. ebenda, S. 105–117. 238 Raschka: Politische Hintergründe des Strafvollzuggesetzes von 1977. Widersprüche der Rechtspolitik während der Amtszeit Honeckers. In: Ansorg u. a. (Hg.): »Das Land ist still – noch!«, S. 57–72, hier 72.
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der sogenannten Friedenspolitik einerseits bei gleichzeitigem Ausbau des Sicherheitsapparates – als ein Charakteristikum der Honecker-Ära ist verschiedentlich hingewiesen worden. 239 Das Strafrechtsänderungsgesetz von 1977 stärkte die Rolle der Staatssicherheit in der politischen Strafjustiz und gab ihr strafrechtliche Instrumente in die Hand, die vor allem der Bekämpfung einer anwachsenden Zahl von Antragstellern dienten. 240 Ungeachtet einer stärkeren Orientierung auf Prävention, auf Rückgewinnung von Antragstellern, auf »Zersetzung« und andere außerjuristische Methoden stieg die Zahl der verhafteten Antragsteller nach der Novellierung des StGB an. Nicht zuletzt hatten die neugefassten Paragraphen, namentlich der § 220, der eine Verurteilung von Antragstellern erlaubte, die sogenannte Demonstrativhandlungen vorgenommen hatten, dafür gesorgt, dass die »Strafen mit Freiheitsentzug gegenüber anderen Straftaten wie etwa Geldstrafen« radikal zunahmen. 241 1979 kam es mit dem 3. Strafrechtsänderungsgesetz darüber hinaus zur Erweiterung des § 219 (»Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«), dessen neuer Abs. 2 unter Ziffer 1 die Verbreitung von »Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden«, unter Strafe stellte. Auch diese Rechtsnorm wurde ausgiebig gegen Antragsteller angewandt. Im Ausnahmejahr 1984 erreichten die Verhaftungen unter Antragstellern Größenordnungen von insgesamt 1 674 Verurteilungen in der DDR. Das war eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr um 375 Prozent. Im selben Jahr hatte die DDR-Regierung Genehmigungen zur Ausreise in den Westen für 40 000 Personen erteilt. Darunter waren fast 30 000 Personen, die im Rahmen der sogenannten Familienzusammenführungen die DDR verlassen durften. Den Hintergrund für die forcierten Verhaftungen und die große Zahl von Genehmigungen bildete ein besonderes »operatives Interesse« des DDRStaates: Der sogenannte Häftlingsfreikauf hatte sich zu einer wichtigen Deviseneinnahmequelle für die DDR entwickelt, mit der Folge, dass das sicherheitspolitische Konzept zu großen Teilen davon bestimmt war, eine entsprechende Anzahl von Freikäufen durch die Bundesrepublik zu erreichen. 242 Da-
239 Vgl. Gieseke: Der entkräftete Tschekismus, sowie Bergien: Erstarrter Bellizismus. In: Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, S. 32–55, hier 50 f. 240 Diesen Gedanken habe ich von Johannes Raschka übernommen. Ebenda, vgl. vor allem S. 69–71. Hier beschreibt Raschka die Novellierung der Paragraphen 214, 220 und 221 sowie die praktischen Auswirkungen auf die Urteilspraxis der Strafjustiz. 241 Raschka: Politische Hintergründe des Strafvollzuggesetzes von 1977, S. 71. Verurteilungen nach § 220 nahmen zwischen 1976 (36,8 %) und 1979 (63,4 %) zu. Ebenda, S. 71. 242 1984 waren es allein 120 Millionen DM, die die Bundesregierung für die 30 Tausend Personen bezahlte. Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 300–311, Produktion von Häftlingen? Die Verhaftungs- und Ausreisewelle 1984/85. Der Autor hat das Phänomen »Freikauf« umfassend und unter Hinzuziehung neuer Quellen dargestellt. Vgl. auch Freikauf –
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Ausreise per Antrag
mit hatte sich »der Sinn« einer Verhaftung von Antragstellern, die angeblich straffällig geworden waren, gewissermaßen in sein Gegenteil verkehrt; und es stellt sich tatsächlich die Frage: »Waren nicht mehr die politischen Verurteilungen Grund für den Freikauf, sondern der Freikauf Grund für politische Verurteilungen? Was ist dran an der These, dass der Repressionsapparat im Parteiauftrag absichtlich politische Häftlinge ›produzierte‹, um sie zu verkaufen?« 243 In seiner aufschlussreichen Arbeit kommt Jan Philipp Wölbern zu dem Schluss, die »Freikaufpraxis« habe dazu geführt, dass die Staatssicherheit das fiskalische Interesse der DDR über ihren eigentlichen Auftrag stellen musste, die »feindlich-negativen Übersiedlungsersucher« zurückzudrängen. 244 Die mikrohistorische Recherche im Kreis Halberstadt bestätigt dieses zielgerichtete Vorgehen der Staatssicherheit im Interesse des Freikaufs von Häftlingen durch die Bundesrepublik, das in vielen Fällen keine Kausalität zwischen Delikt und Verhaftung respektive Verurteilung erkennen lässt und geradezu absurde Züge annahm. Die Betroffenen waren, neben zahlreichen anderen Undurchschaubarkeiten, einer weiteren als willkürlich empfundenen Maßnahme des Staates ausgesetzt, mit der sie nicht gerechnet hatten und der sie in ihrem Verständnis unschuldig ausgeliefert waren. In dieser Gewissheit traf sie die Inhaftierung durch die Staatssicherheit mit besonderer Härte. 1984 waren im Kreis Halberstadt aus der Gruppe der Antragsteller sieben Personen inhaftiert worden, 1985 waren es sechs. 1986 waren insgesamt bereits 34 Personen in Haft. 245 Aus den 1970er Jahren sind uns nur drei Inhaftierungen im Anschluss an eine Antragstellung auf Ausreise bekannt geworden. Wir haben 14 Verfolgungsakten mit insgesamt 18 Personen einsehen können, die zur Inhaftierung führten. Die Verurteilungen erfolgten am häufigsten aufgrund »Öffentlicher Herabwürdigung« (§ 220), eben jenes Paragraphen, der im Hinblick auf die Verfolgung von Antragstellern formuliert worden war. Es folgten die §§ 214, 219 und 100, das waren »Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit«, »Ungesetzliche Verbindungsaufnahme« und »Landesverräterische Agententätigkeit«. 246
das Geschäft der DDR mit politisch Verfolgten, Spitzengespräch zwischen Ludwig A. Rehlinger und Jürgen Engert. In: Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf, S. 85–100. 243 Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 302. 244 Der Autor belegt seine These eindrucksvoll, ungeachtet der Tatsache, dass sich eine entsprechende Weisung in den Akten nicht finden lässt. Vgl. u. a. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 378–394, Erosionsprozesse im Partei- und Repressionsapparat. 245 So die Ergebnisse der Exceltabelle. Statistik (A) (vgl. Anm. 44/Kap. 3). 246 Vgl. zur Häufigkeit der Anwendung dieser Paragraphen Werkentin: Recht und Justiz im SED-Staat, S. 73 u. 102, sowie Booß: Sündenfall der organisierten Rechtsanwaltschaft. Die DDRAnwälte und die Ausreiseantragsteller. In: DA 44(2004)11, S. 532; Raschka: Justizpolitik im SEDStaat, S. 318 f.
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7 Herrschaft im Kreis Halberstadt
Tabelle 4: Umwandlung von 14 OPK zu OV und anschließenden Ermittlungsverfahren. OPK/OV
Jahr der Eröffnung OPK/OV
Einleitung eines Jahr der EV nach §§ VerhaftStGB ung
Verurteilung nach §§ StGB
Haftzeiten
OV »Resident«
1976/1980
§§ 214 und 100 1980
§§ 33, 100 und 98 (1)
4 Jahre
OV »Bau«
1977/1980
§ 100
§ 99 (1)
3 Jahre und 4 Monate; § 100 (1) 3 Jahre
OV »Bruder«
1982/1983
§§ 100 und 213 1983
§ 100
Haft
OV »Bürge«
1983/1983
§§ 213-214
§ 214 (1) und 33,
1 Jahr und 6 Monate, auf Bewährung
OV »Rückkehrer«
1981/1983
§§ 214, 220 (2) 1983
Verhandlung anberaumt
Keine Angabe
OV »Spieler«
1980/1983
§§ 100 und 225 1983
§§ 225 und 100 Keine Angabe
OV »Wien«
1983/1984
§§ 33 214 und 219
§§ 219 (2) Ziff. 2 Jahre und 3 Monate 1 und 214 (1),
OV »Brücke«
1983/1984
§§ 214 und 219 1984
§§ 214,
Haft
OV »Auto«
1982/1984
§ 219
1984
§ 220,
1 Jahr und 6 Monate
OV »Kessel«
1984/1985
§ 220 (1) und (3)
1985
§ 220,
1 Jahr und 9 Monate
OV »Modell«
1984/1986
§§ 214 und 220 1986
§§ 219 (2) Ziff.1, 214 (1, 3), 220 (1, 2), 63 und 64;
2 Jahre und 9 Monate sowie 2 Jahre
OV »Bus«
1987/1988
§ 214
§ 219 (2),
1 Jahr und 6 Monate sowie 1 Jahr und 10 Monate
OV »Kantine«
1988/1989
§§ 100 und 219 1989
§220,
1 Jahr und 5 Monate sowie 1 Jahr und 1 Monat
OPK »Kohl«
1985/1989
§§ 213, 214, 219
§§ 219 (2), 220 1 Jahr und 2 Monate (2),
1982
1983
1984
1988
1989
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Die Delikte waren von dem »Untersuchungsorgan«, der zuständigen Abteilung IX im MfS, bereits vor der Urteilsverkündung formuliert; auch für die Höhe der Strafzeiten gab es wechselnde Anweisungen an die Staatsanwaltschaft. 247 Sowohl die Paragraphen als auch die Höhe des Strafmaßes standen in direkter Beziehung zum reibungslosen Ablauf eines späteren Freikaufes durch die Bundesrepublik. Dass das MfS im Rahmen seiner strafrechtlichen Untersuchungen zu einer Entlastung der Beschuldigten gekommen wäre, kam in den in Halberstadt analysierten Fällen nicht vor. Dagegen war die Zahl jener Antragsteller, die ihr Anliegen aufgaben, verhältnismäßig hoch. In sechs Fällen gelang es der Staatssicherheit, dass die »Zugeführten« in der Untersuchungshaft bzw. nach der Verurteilung ihren Antrag zurücknahmen. Edeltraut Kutz arbeitet als Reinigungskraft und Küchenhilfe. Sie hat einen 8-Klassenabschluss und keinen Beruf erlernt. 1982, zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung, ist sie bereits 49 Jahre alt. Sie ist verwitwet und möchte zu ihrem ehemaligen Lebensgefährten in den Westen, der 1982 legal in die Bundesrepublik aussiedeln konnte. Frau Kutz stellte seit 1980 verschiedentlich Anträge auf Besuchsreisen zu ihrer kranken Mutter, die auch in Westdeutschland lebt. Die Staatssicherheit kontrolliert von nun an den Briefverkehr mit dem Lebensgefährten und der Mutter. Sie findet die Passage: »… was soll ich machen. Soll ich in eure Vertretung reingehen, soll ich aufhören zu arbeiten. Ich fahre auch irgendwo an die Grenze und lasse mich lieber erschießen«. Die Staatssicherheit legt unverzüglich einen Operativen Vorgang an. »Die Androhung, gegen die ›Selbstschussanlagen‹ an der Grenze zu laufen, begründet den Verdacht der Begehung einer Straftat gemäß § 213 StGB durch die Verdächtige.« Jedem musste klar sein, dass diese verzweifelten Drohungen keinerlei Realitätsgehalt hatten. Im Protokoll ist auch vermerkt, dass Frau Kutz auf die Nachfrage: »Wie wollen sie denn das machen?«, keine Antwort wusste. Nur wenige Wochen nach ihrer Antragstellung wird Edeltraut Kutz verhaftet. In der Untersuchungshaft beteuert sie, nicht gewusst zu haben, dass sie eine Straftat begehen würde. Sie zieht ihren Ausreiseantrag zurück und reduziert ihn auf eine Besuchsreise. Die Verhöre ergeben keinen Nachweis einer Straftat. Endlich gesteht sie, einen Antrag gestellt zu haben, damit sie ihre Mutter einmal wiedersehen kann, eine Pflege sei vorgeschoben gewesen. Die Untersuchungshaft endet mit der Bemerkung, sie sei »der Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit hinreichend verdächtig« und habe sich strafbar gemäß § 214 (1) StGB gemacht. Am 20. September 1983 findet die Verhandlung am Kreisgericht Halberstadt statt. Edeltraut Kutz wird gem. §§ 214 (1) und 33 StGB zu einem Jahr und sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, bei Verletzung drohe ihr eine Freiheitsstrafe von zehn Monaten. Das weitere Schicksal der inzwischen 50-jährigen Halberstädterin geht aus den Akten nicht hervor. 248
247 »Freikauf – Das Geschäft der DDR mit politisch Verfolgten« Spitzengespräch mit Ludwig A. Rehlinger und Jürgen Engert. In: Apelt (Hg.): Flucht, Ausreise, Freikauf, S. 85–100. zit. bei: Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 306. Die durchschnittlichen Haftzeiten lagen 1983 bei 2 Jahren und 2 Monaten, 1984 bei 1 Jahr und 7 Monaten; ebenda, S. 308. 248 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2033/83 (OV »Bürge«), Bd. 1.
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Nach seiner Scheidung stellte der Dachdecker Roger Holster 1988 einen Ausreiseantrag, es war sein drittes Ersuchen. Nachdem dieses abgelehnt wurde, trat er wütend und ungehalten in der Abteilung Innere Angelegenheiten auf, eine Demonstrativhandlung wurde jedoch nicht erwartet. Roger Holster sollte unbedingt zur Rücknahme seines Antrages veranlasst werden; er wurde von den auf ihn angesetzten IM als guter Arbeiter geschildert. An einen im Westen lebenden befreundeten ehemaligen Halberstädter schickte er einen Brief, den dieser an Helmut Kohl weitersenden sollte. Das MfS fing den Brief ab. 249 Roger Holster wurde immer ungehaltener in seinen Anträgen an den Rat des Kreises, er beschimpfte die Mitarbeiter als »Unmenschen« und »Spinner« und nannte die DDR »ein Gefängnis«. Im Januar 1989 wurde gegen ihn auf Anordnung der Bezirksverwaltung Magdeburg ein Ermittlungsverfahren wegen öffentlicher Herabwürdigung und Beleidigung eingeleitet. Der Brief an Kohl spielte in der späteren Anklage keine Rolle mehr, offensichtlich konnte er nicht als offizielles Beweismittel verwendet werden. 250 Roger Holster wurde ausschließlich wegen seiner beleidigenden Reden und Schriften verurteilt. Die Abteilung IX des MfS Magdeburg hatte im Ergebnis ihrer Vernehmungen noch ermittelt: »Mit der unumgänglichen Inhaftierung wurde gleichzeitig eine bis ins Detail geplante Demonstrativhandlung verhindert, denn im Ergebnis spezifischer Maßnahmen konnte herausgearbeitet werden, dass [Holster], ausgehend von der durch Westmedien erhaltenen Kenntnis über die Besetzung der Ständigen Vertretung der BRD in der Hauptstadt Berlin, den Entschluss gefasst hatte, in den ersten Tagen des Monats Februar in gleicher Weise vorzugehen.« 251
Am 2. Juni 1989 fällte das Bezirksgericht Magdeburg in zweiter Instanz das Urteil: ein Jahr und zwei Monate Freiheitsentzug. Der Verteidiger war Rechtsanwalt Dr. Vogel, er hatte eine nochmalige »Berufung als offensichtlich unbegründet verworfen«. Am 15. Juni 1989 teilte die Abteilung IX der Kreisdienststelle Halberstadt den Abschluss des Strafverfahrens mit, am selben Tag noch ging eine Prüfung von Versagensgründen nach Halberstadt, das heißt, Roger Holsters Verurteilung war bereits im Hinblick auf seine Entlassung in den Westen, die mit Sicherheit an einen Freikauf gebunden war, getroffen worden. Dass er bereits im Februar in der Untersuchungshaft seinen Ausreiseantrag zurückgenommen hatte, schien die Abteilung IX nicht interessiert zu haben.
249 Brief an Kohl; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK/OV »Kohl«), Bl. 82 250 Zu dem Problem der Staatssicherheit, aus den inoffiziell beschafften Beweismitteln gerichtstaugliche Beweise zu machen, vgl. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 45 f. 251 Bericht, 7.2.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2340/89 (OPK/OV »Kohl«), Bl. 107.
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Ausreise per Antrag
Ihr Planvorhaben mit Roger Holster sah anders aus. 252 Sein Schicksal bestätigt den Befund, dass in der Praxis der geheimdienstlichen Bürokratie Verhaftungen und Verurteilungen immer häufiger im Hinblick auf einen reibungslosen Ablauf des Freikaufs durch die Bundesrepublik erfolgten. 253 Gerhard Müller stellt 1979 einen Antrag auf Ausreise aus der DDR, seine Eltern sind inzwischen mit zwei Geschwistern wieder im Westen, aus dem sie zehn Jahre zuvor gekommen waren. Man lässt den Schlosser nicht ausreisen, ein großangelegtes Rückholprogramm wird angeordnet. Gerhard Müller wartet vier Jahre. Aus den abgehörten Telefongesprächen erfährt die Staatssicherheit, dass ihm die Mutter rät, sich ruhig zu verhalten und nichts Illegales und Unbedachtes zu tun. Die Mutter verspricht, im Westen alles Erdenkliche für seine Ausreise zu tun, sie wendet sich an Politiker, an das ZDF und an »Hilferufe von Drüben«. Im April 1983 wird er wegen »mehrfacher landesverräterischer Agententätigkeit« gemäß § 100 festgenommen. Da die Stasi keine offiziellen Beweise hat, drängt sie ihn im Verhör zum Geständnis, er hätte von den Aktivitäten der Mutter gewusst und sie dazu angehalten. Zwölf Freunde, Bekannte, der Meister, Sportfreunde, das Ehepaar, von dessen Wohnung aus er mit der Mutter telefonierte, werden als Zeugen vernommen. Die Beweisführung bleibt für die Stasi unbefriedigend. Nach einigen Wochen gibt er während des Verhörs zu: »Ich bin jetzt fünf Wochen in Untersuchungshaft und dabei ist mir klar geworden, dass ich eine Strafe zu erwarten habe. Da ich keine Chance mehr sehe, diese zu verhindern, habe ich mich entschlossen, die Wahrheit zu sagen und mein bisheriges Verhalten zu ändern. Dies veranlasste mich auch, im Verlauf der heutigen Vernehmung auch noch die Aussage zu machen, was meine Eltern in der BRD in meinem Auftrag für mich unternommen haben.« Sechs Monate später schließt die Kreisdienststelle Halberstadt den OV »Spieler«, »Der [Müller] befindet sich nach wie vor im Strafvollzug.« Die Eltern sind verzweifelt, Gerhard ist gebrochen und krank. 254 Es bleibt unklar, ob er seinen Antrag zurückgezogen hat.
Trotz seiner wiederholt geäußerten Bitte, nicht ins »Zuchthaus« zu kommen, wurde gegen den Pförtner Klaus Grass und seine Frau zunächst ein OV mit dem Ziel der »Liquidierung der negativ-feindlichen Person« angelegt; es folgten ein Ermittlungsverfahren und die Haft. Das Ehepaar Grass hatte bereits zehn Jahre zuvor, 1974, einen Ausreiseantrag gestellt, war in den Westen übergesiedelt und drei Jahre später wieder in die DDR gekommen. 1983 wollten sie wieder ausreisen, sie hatten immer noch keinen ausreichenden Wohnraum 252 Brief an Kohl; ebenda, Bl. 82 f., Eröffnungsbericht, 23.1.1989; ebenda, Bl. 89–94, Rapport der Abt. IX; ebenda, Bl. 107, Abschluss Strafverfahren, 15.6.1989; ebenda, Bl. 106, Prüfung von Versagensgründen, 15.6.1989; ebenda, Bl. 108, Schlussbericht, 2.3.1989; ebenda, Bl. 124–129. 253 Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 303. Der Autor hat einen Befehl zitieren können, der belegt, dass bereits vor der Urteilsverkündung in bestimmten Fällen die für den Freikauf zuständige Abteilung im MfS erfahren sollte, ob die »Prüfung von Versagensgründen« abgeschlossen sei. 254 Vernehmungsprotokoll, 8.6.1983; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1889/83 (OV »Spieler«), Bd. 2, Bl. 318 u. 449.
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bekommen. Klaus Grass hielt wütende Reden im Rat des Kreises, er wurde politisch immer grundsätzlicher in seiner Kritik. Die Bezirksverwaltung des MfS Magdeburg leitete ein Ermittlungsverfahren wegen »Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit« ein; im September 1983 wurde Klaus Grass der Abteilung IX zugeführt. Im Abschlussbericht vom Dezember 1983 heißt es: »Im Rahmen des Untersuchungsvorganges der Abteilung IX konnten die angeführten Fakten erhärtet werden. Die vorgelegten Beweismittel trugen wesentlich zum Eindringen in die Persönlichkeit des [Grass] bei und sind Gegenstand der noch ausstehenden gerichtlichen Hauptverhandlung.« Inzwischen hatte Klaus Grass seinen Antrag »vorläufig« zurückgenommen, er wollte zu seiner Familie. Auf die weitere Entwicklung schien sein Wunsch keinen Einfluss gehabt zu haben. Da mit seiner Verurteilung zu rechnen sei, schlug die Kreisdienststelle Halberstadt vor, den OV »Rückkehrer« abzuschließen. 255 Gegen den Antragsteller Peter Baum wurde 1983 ein OV angelegt, es bestehe der »Verdacht, dass der [Baum] als hartnäckiger rechtswidriger Ersucher strafbare Handlungen im Sinne der §§ 213 und 100« begehen könnte. 256 Sein Bruder war zur selben Zeit Antragsteller. Nur wenige Monate nach Peter Baums Antragstellung notierte die Kreisdienststelle Halberstadt in ihrem Abschlussbericht: »Die op[erative] Bearbeitung des Verdächtigen sowie die Bearbeitung des Untersuchungsvorganges durch die Abt. IX der BV Magdeburg ergaben eine Bestätigung der Verdachtsgründe gem. § 100 StGB. Gegen den [Baum] wurde ein EV mit Haft eingeleitet. Der [Baum] nahm sein rechtswidriges Ersuchen auf Übersiedlung in die BRD zurück. Damit wurde insgesamt das Ziel der op. Bearbeitung realisiert.«
Wie kam es zu dieser Entwicklung? Die Staatssicherheit verhörte ihn wochenlang in den Räumen der Untersuchungshaftanstalt des MfS in Magdeburg. Die Protokolle weisen aus, dass die Vernehmungen von früh bis in den späten Abend stattfanden. Da das MfS längst alle Fakten kannte, befragte es ihn gezielt danach, was er über die Aktivitäten seines Bruders wisse. In einer sechs Tage später erfolgten Vernehmung gab er zu, vom Besuch seines Bruders in der »Botschaft«, wie er sagt, gewusst zu haben, nicht aber, dass er damit gegen das Recht verstoße. 257 Nach vier Wochen fast täglicher Verhöre gab Peter 255 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1350/84 (OV »Rückkehrer«), Bl. 196. 256 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«), Bl. 3. Das waren die §§ Ungesetzlicher Grenzübertritt und Staatsfeindliche Verbindungen. 257 Vernehmungsprotokoll; ebenda, Bl. 316–365, hier 333. Während der Vernehmungen wurde er wiederholt nach dem Besuch des Bruders in der Ständigen Vertretung gefragt und sollte die genauen Abläufe schildern, die von Verhör zu Verhör einen anderen Charakter annahmen. Am Ende hätten sie die Ständige Vertretung konsultiert, damit diese Druck ausübte auf die DDR-Behörden. Tatsächlich hatte Herr Baum nie das Gebäude betreten. An den folgenden Vernehmungstagen wurde er nach anderen Personen aus Halberstadt befragt, namentlich nach deren politischer Gesinnung und danach, ob deren Kinder auch »sozialistisch« erzogen würden. »Na, das ist vielleicht eine Frage«, antwortet er,
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Baum die Erklärung ab, in der DDR bleiben zu wollen, er zog seinen Antrag auf Ausreise zurück. 258 Nichtsdestotrotz wurde er »der versuchten landesverräterischen Agententätigkeit hinreichend verdächtigt, indem er mit der Absicht, die Interessen der DDR zu schädigen, im Spätsommer 1982 seinen Bruder, den Mitschuldigen [Baum] beauftragte, für ihn über die Ständige Vertretung der BRD in der DDR die Verbindung zum ›Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen‹ herzustellen«. 259 Die Abteilung IX der BV Magdeburg schlug vor, die Haftbefehle gegen beide Brüder aufrechtzuerhalten. 260 Jene zwei Halberstädter Antragsteller, die ungeachtet der Tatsache, dass sie während der Untersuchungshaft ihre Anträge auf Ausreise zurücknahmen, verurteilt und sehr rasch in den Westen entlassen wurden, haben offensichtlich zu den Strafgefangenen gehört, die von der Bundesregierung freigekauft werden sollten. Ihre Verurteilung und Inhaftierung war von der Staatssicherheit bereits im Hinblick auf eine Entlassung in den Westen organisiert worden. Dasselbe Interesse an einer Verurteilung bestand im Fall des Klaus Schmidt, dessen Genehmigung, aus der Haft in den Westen entlassen zu werden, bereits wenige Tage nach einer Urteilsverkündung wohlwollend geprüft wurde. Hier wie im geschilderten Fall des OV »Rückkehrer« war ein Freikauf für das MfS der Grund gewesen, Klaus Schmidt so rasch mit einer zweifelhaften Beweislage zu verhaften und ausreisen zu lassen. Der Straßenbauer Klaus Schmidt ist erst mit neun Jahren aus Westdeutschland in die DDR übergesiedelt. Während seiner Armeezeit 1971 wird er verhaftet und verbüßt neun Jahre Freiheitsstrafe. Ihm wird ein Fluchtversuch vorgeworfen. 1984 stellt er für sich und seine Familie einen Antrag auf Ausreise. Wenige Monate später wird der OV »Brücke« mit der Begründung angelegt, dass Schmidt eine eindeutig feindlichnegative Haltung habe. Zudem hat er »seine Verwandten in der BRD offensichtlich aufgefordert, alle nur möglichen Unterstützungen zur Realisierung seiner Übersiedlungsabsichten zu leisten«. Es bestehe der Verdacht, dass diese feindliche Stellen informieren würden. Ziel des OV ist es, den »Verdacht der Verletzung von Strafrechtsnormen gem. § 219 StGB« sowie § 214 durch Schaffung von Beweisen herauszuarbeiten. Im März 1985 wird gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitete. Zur Verurteilung werden als Beweise die Briefe und Unterlagen, die Klaus Schmidt an seinen Bruder geschickt hat, vorgelegt. Sie sind konspirativ ermittelt worden und insofern eigentlich nicht verwertbar. Der Abschlussbericht zum OV »Brücke« vermerkt nicht das Urteil, sondern teilt nur mit: »Nach Abschluss des EV und Verurteilung des »über derartige Dinge habe ich mit ihm nie gesprochen. So etwas interessiert mich doch überhaupt nicht.« Ebenda, Bl. 341. 258 Der Bruder ist im OV »Schlosser« erfasst. 1983 wird er verhaftet und verurteilt. Und in seiner Wohnung wird die Frau abgehört, sie versteht nicht, warum er in Haft ist; ebenda, Bl. 407–414 u. 416. 259 Ebenda, Bl. 419. 260 Abschlussbericht, 16.3.1983; ebenda, Bl. 430–434.
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[Schmidt] zu einer Haftstrafe, erfolgte die Prüfung von Versagensgründen gem. Ordnung 0118/77 des MdI und am 20.11.1985 die Entlassung des [Schmidt] aus der Strafhaft in die BRD.« 261
Während für alle bisher behandelten Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt, die inhaftiert wurden, angenommen werden kann, dass sie ihre Inhaftierung nicht gewollt haben und selbst dann nicht tatsächlich anstrebten, wenn sie in Eingaben oder während der Gespräche in den Räumen der Abteilung Inneres damit drohten, haben zwei Personen den Weg der Inhaftierung planvoll gewählt. 262 Ulrich Gottschalk und Peter Granitz forcierten ihre Verhaftungen, indem sie mit Beschimpfungen und Drohungen gegenüber den Mitarbeitern des Rates des Kreises auftraten. Sie wählten dabei Worte, von denen sie hofften, diese würden das Fass zum Überlaufen bringen und zu einem Ermittlungsverfahren führen. Ulrich Gottschalk bezeichnete die DDR als »faschistisch«, die GST als HJ und die Kampfgruppen der Arbeiterklasse als »Volkssturm«, notierte die Kreisdienststelle des MfS in einem Bericht. 263 Peter Granitz drohte damit, nach Berlin zu fahren und in die »Botschaft einzureiten«; daraufhin verhaftete man ihn und seine Frau. 1984 hatte Peter Granitz für sich und seine Familie einen Antrag gestellt, es war seine zweite Antragstellung. Ulrich Gottschalk stellte seinen ersten Antrag ebenfalls 1984, nach der Scheidung und nur für sich allein. Beide kannten sich schon seit ihrer Jugendzeit. Sie wohnten im selben Stadtteil Halberstadts, Peter Granitz ist einige Jahre älter als sein Freund. 264 Er hat mit 13 Jahren seine erste Jugendstrafe verbüßen müssen, mit 18 Jahren wurde er wegen Staatsverleumdung verhaftet. Ulrich Gottschalk wurde ebenfalls mit 18 Jahren wegen öffentlicher Herabwürdigung zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt. In den Gesprächen mit ihnen sind beide rückblickend der Meinung, dass es diese »Knasterfahrung« und ihre Armeezeit gewesen waren, die sie dazu gebracht hatten, es über eine Inhaftierung zu versuchen. »Die Zeit sitze ich mit einer Arschbacke ab«, sagt Peter Granitz 2009 im Interview und seine Berichte aus der Haftzeit scheinen ihn zu bestätigen. 265 261 Eröffnungsbericht zum OV »Brücke«, 22.3.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1272/86, Bl. 8–17. Abschlussbericht zum OV »Brücke«, 9.6.1986; ebenda, Bl. 296–298. 262 Wölbern greift den Gedanken des MfS auf, dass diejenigen DDR-Bürger, die in den Westen wollten, in den 1980er Jahren verstärkt das Interesse der DDR-Regierung, Devisen für freigekaufte politische Häftlinge zu erhalten, ausnutzten und kalkuliert ihre Inhaftierung betrieben. Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, hier u. a. Kalkulierter Freikauf, S. 367–377. 263 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1720/85 (OV »Kessel«), Bd. 1, Bl. 159–161. 264 Vgl. auch Kapitel 4 in diesem Band. 265 Im Widerspruch steht die Aussage im selben Interview: »Um Gottes Willen! Warum soll ich freiwillig in den Knast gehen. Das war ja kein Zuckerschlecken da«, Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 47.
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Dass er in einem »Schauprozess«, wie er die öffentliche Verhandlung nennt – »alles Stasileute«, seine Frau durfte nicht dabei sein – zu einem Jahr und sechs Monaten verurteilte wurde, hat ihn dennoch erschüttert. Vor allem die Monate der Untersuchungshaft seien wegen der Isolation hart gewesen, die Zeit war auch für ihn kein »Zuckerschlecken«. 266 Nach sechs Wochen durfte ihn seine Frau besuchen. Der Anwalt, Herr Schubert, kam aus Magdeburg und »beruhigte« ihn: Sie bekommen maximal fünf Jahre, nach zwei Jahren sind sie hier raus. 267 Tatsächlich konnte ihm die Staatssicherheit keine »feindliche Verbindungsaufnahme« nachweisen, ihre Suche nach Westverbindungen blieb erfolglos, die Anklage gemäß § 219 StGB musste fallen gelassen werden. »Ich hatte erst ›Verbrecher‹ gehabt. Da sind die dann von abgegangen, denn sie konnten mir nichts beweisen. Das war denn nachher öffentliche Herabwürdigung des Staates. Weil, diese öffentliche Herabwürdigung ist deshalb zustande gekommen, weil ich meine Meinung auf dem Rat des Kreises gesagt habe. Das Problem war, ich war zu Öffnungszeiten da, also zur öffentlichen Zeit. Und dadurch ist das eine ›öffentliche Herabwürdigung‹ gewesen.« 268
Auf diese makabre Beschuldigung reagierte Peter Granitz mit einer Haftbeschwerde. 269 Die Anklage bezog sich tatsächlich auf die »Aussprache« im Rat des Kreises: »Der Beschuldigte bezeichnete die Erziehung der Kinder in den Schulen als ›Rotlichtbestrahlung‹. Weiterhin äußerte er in diesem Zusammenhang: ›Die DDR kann keine Entscheidung treffen, ohne die Sowjetunion zu fragen‹ und ›die Gesetze sind Scheiße, hier wird mit zweierlei Maß gemessen‹.« 270 Am 18. September 1984 wurde Peter Granitz gem. § 220 Abs. 1 StGB zu der schon genannten Freiheitsstrafe verurteilt. 271 Ein Jahr später entließ ihn die DDR in den Westen. Einige Wochen später konnte seine Frau mit der Tochter ausreisen. Angelika Granitz war nur einen Tag in Untersuchungshaft gewesen, sie hatte während des Verhörs »Scheißangst« gehabt. »Das war für mich ganz schlimm gewesen, so die Verhaftung.« Auf die Frage, ob sie die Haft bewusst in Kauf genommen haben, um freigekauft zu werden, antwortete Peter Granitz im Interview, das 2009 mit beiden geführt wurde: »Nein! Wir haben ja gedacht, dass sie uns so gehen lassen.« – Angelika Granitz: »Es war ja die Ausreisewelle.« – Peter Granitz: »Ein Jahr davor, 1983.« – Angelika Granitz: »Aber da sind wir nicht mehr drangekommen.« 272 266 Ebenda, S. 41 u. 47. 267 Ebenda, S. 42. 268 Ebenda, S. 40. 269 Haftbeschwerde, 11.7.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 182/85 Bd. 2, Bl. 20. Das Bezirksgericht weist die Beschwerde am 18.7.1984 als nicht begründet zurück. ebenda, Bl. 24 f. 270 Staatsanwalt des Bezirks Magdeburg, Anklage, 13.8.1984; ebenda, Bd. 3, Bl. 5–8. 271 Urteil, 18.9.1984; ebenda, Bd. 1, Bl. 114. 272 Interview mit Peter und Angelika Granitz, 25.11.2009, Transkript, S. 47. Der § 220 beinhaltete die Öffentliche Herabwürdigung.
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Diese Erinnerung steht im Widerspruch zu anderen Aussagen, die das Ehepaar Granitz im gleichen Interview machte und deutet die Schwierigkeit an herauszufinden, wie informiert die Halberstädter Antragsteller über den Häftlingsfreikauf damals tatsächlich gewesen waren und wann sie von dieser Option erfahren hatten. 273 Die DDR-Regierung vermied jede Andeutung eines Geschäftes mit der Bundesrepublik, im Partei- und Sicherheitsapparat war die Freikaufpraxis kein Thema. 274 Selbst in den internen Anweisungen von Erich Mielke zur »Übersiedlung von Strafgefangenen in die BRD« taucht der Begriff nicht auf. 275 Nur acht von siebzehn im Rahmen dieses Projektes interviewten ehemaligen Antragstellern hatten von der Praxis gehört, dass im Rahmen der Familienzusammenführung vom Westen Geld bezahlt würde. Ein Ehepaar bedankte sich sogar später beim Bürgermeister der Gemeinde, die sie im Westen aufgenommen hatte. In den Briefen und den vom MfS abgehörten Unterhaltungen ist einige Male davon die Rede, man hätte gehört, jeder Antragsteller würde 12 000 DM kosten, sagte eine Frau zu ihrem Mann, andere hatten von 95 000 DM gehört. Ein Antragsteller schreibt an Helmut Kohl, er möge für ihn zahlen, er würde es ihm später danken. Genaueres aber wusste auch er nicht. Noch weniger bekannt war der Freikauf aus der Haft. Die strikte Auflage an die Entlassenen, von diesem Prozedere nichts verlauten zu lassen, und eine konsequente Politik des Verschweigens vonseiten der DDR, hatten im Kreis Halberstadt dazu geführt, dass der Häftlingsfreikauf selbst unter den Antragstellern nicht thematisiert wurde. Es waren Bemerkungen am Rande, eher ungläubig geäußert, die den Charakter eines sich verdichtenden Gerüchtes hatten. 276 Viele inhaftierte Antragsteller erfuhren erst im Gefängnis von der Möglichkeit des Freikaufs. Diese Ahnungslosigkeit steht im Widerspruch zu dem Umstand, dass namentlich seit den späten 1970er Jahren in den Medien der Bundesrepublik wiederholt über Häftlingsfreikäufe berichtet wurde. Jan Philipp Wölbern verweist darauf, dass trotz strikter Geheimhaltung die Umstände der »Familienzusammenführung« und des Häftlingsfreikaufes über Privatkontakte, Westrundfunk und Menschenrechtsorganisationen in der DDR bekannt gewesen 273 Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 424 u. 430; siehe auch: Ansorg: Politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. 274 Vgl. ebenda, insbes. S. 118–140. 275 Es heißt da, der Leiter der HA IX des MfS und die Leiter der BV des MfS haben spätestens nach Abschluss des Strafverfahrens dafür Sorge zu tragen, dass die »Voraussetzungen der RVO für eine Entscheidungsfindung hinsichtlich der Einbeziehung in die Gesamtmaßnahme geprüft werden.« Die »Gesamtmaßnahme« stand als Begriff für den Freikauf von Häftlingen durch die Bundesrepublik. Vgl. Schreiben Mielkes an die MfS-Diensteinheiten, 23.2.1989. In: Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 251–254, hier 251. 276 Frau Meister hatte gehört, dass man 12 Tausend DM für sie zahle. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2348/89 (OV »LKW«), Bl. 160.
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sein dürften. 277 Wie aus den Akten zu ersehen, haben Halberstädter Antragsteller tatsächlich die einschlägigen Sendungen wie »Kennzeichen D« oder das »ZDF-Magazin«, moderiert von Gerhard Löwenthal, interessiert verfolgt. Hinzu kamen die vielfältigen Westkontakte, die auch eine Quelle für derartige Informationen hätten sein können. Wie erklärt es sich, dass sie dennoch so wenig informiert gewesen waren? Zu bedenken ist, dass das Thema »Freikauf« in den Westmedien nicht widerspruchsfrei sondern durchaus kontrovers diskutiert wurde und dass sich die Berichte häufig auf Einzelfälle beschränkten, was einer systematischen Darstellung entgegenwirkte. Die Verständigung mit den Westverwandten über derart politisch heikle Themen konnte letztlich auch nur bruchstückhaft erfolgen. Man hätte sich also interessieren und die Initiative ergreifen müssen, um genauere Informationen zu erhalten. Das aber taten nach unserer Kenntnis nur zwei von über 65 Antragstellern aus dem Kreis Halberstadt, deren Schicksal im Rahmen dieses Projektes näher betrachtet werden konnte. Es waren eben jene, die es tatsächlich auf eine »kalkulierte Haft« anlegten. Sie hatten sich nicht nur für den Freikauf allgemein interessiert, sondern auch mit dem Zusammenhang von Strafmaß, Haftzeit und Entlassung in den Westen befasst. Für alle anderen war dieser Schritt keine Option, es gab keinen Bedarf, sich kundig zu machen. Im Gegenteil: Die Unwissenheit schützte davor, sich in einen Handlungszwang zu begeben und die Verhaftung als reale Möglichkeit für sich in Erwägung zu ziehen. Hier könnte ein entscheidender Grund für die oben konstatierte Ahnungslosigkeit liegen, die eher Resultat der Abwehr eines Gedankens gewesen war, den die Betroffenen nicht an sich herankommen lassen wollten. Eine Haft als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer Entlassung in den Westen zu betrachten, flößte Angst ein und wurde von der übergroßen Mehrheit der Halberstädter Antragsteller nicht erwogen. Lediglich Peter Granitz und Ulrich Gottschalk wählten diese Option. Für die Halberstädter Antragsteller trifft keinesfalls zu, was inzwischen als verbreitete Verhaltensweise betrachtet wird: »Das Wissen um diese innerdeutsche Institution [des Häftlingsfreikaufs] führte dazu, dass das gezielte Begehren einer geeigneten Straftat vor allem für ungeduldige Personen zu einem Mittel wurde, um über den Umweg über eine Inhaftierung aus der DDR herauszukommen.« 278 Eine solche Einschätzung trifft in dieser Formulierung nicht einmal auf die Gruppe der Oppositionellen unter den politischen Gefangenen zu, mit der Realität der Masse der Antragsteller hat sie gar nichts zu tun. 279 277 Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 346–358. 278 Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 605. 279 Selbst unter politisch-oppositionellen Gefangenen war die Freikaufpraxis vor ihrer Inhaftierung nur zwei Drittel aller Befragten bekannt gewesen, einen Einfluss auf ihr Handeln – hier wird gemeint sein, ob sie eine Inhaftierung im Hinblick auf diesen Freikauf angestrebt hatten – gaben von diesen nur 36,1 % an. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 80.
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Wenige Monate nach der Verurteilung von Peter Granitz wurde Ulrich Gottschalk im Mai 1985 »zugeführt« und wegen öffentlicher Herabwürdigung gemäß § 220 (1) zwei Monate später zu einem Jahr und neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Wie Granitz hatte Gottschalk in einer ZDF-Sendung, »bei Löwenthal«, gehört, »dass wieder so und so viel freigekauft wurden, aus dem Gefängnis. Und da war der auch dabei, der Peter. Da hab ich gedacht, Mensch, wenn der so einen Weg macht, dann machst du das auch.« 280 Jetzt, so seine Überlegung, da er geschieden ist, sei er nur noch für sich allein verantwortlich. Und zwei Jahre Knast seien immer noch besser als an der Grenze erschossen zu werden. Irgendwie werde er das schon aushalten. Ulrich Gottschalk wurde direkt von der Arbeit abgeholt und kam in die Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Magdeburg. Obwohl er insgesamt von seiner Strafe lediglich sieben Monate verbüßte, ist ihm diese Zeit als traumatisch im Gedächtnis geblieben. Im Interview kann er sich buchstäblich an jeden Tag in den Haftanstalten erinnern. Er berichtet, welche Demütigungen er erlebte, wie das Leben in den Zellen war, wie klein der Freihof war und dass auch physische Gewalt angewendet wurde. Obwohl Ulrich Gottschalk bereits erste Hafterfahrungen in jungen Jahren gemacht hatte, übertraf die Isolation in der Stasihaft alles bisher Erlebte: »Bei Stasi warst du total abgeriegelt. Total! Man hat keine Tageszeit gewusst, man hat grade noch so den Wochentag, weil man immer mitgezählt hat oder weil du gemerkt hast, dass weniger los war. Du warst den ganzen Tag in deiner Zelle, den ganzen Tag – Morgens ging es auf den Freihof, der war vier mal vier Meter – oben drüber war ein Draht gewesen, ein Drahtverhau. Und der Posten oben, der hat sogar die Uhr umgedreht. Das war für mich wie Horror, dass man nicht weiß, wie spät es ist. Du warst total denen ausgeliefert. Total.« 281
Nachdem die Ermittlungen abgeschlossen waren, wurde es Ulrich Gottschalk gestattet, einen Anwalt zu kontaktieren. Der Magdeburger Vertreter von Rechtanwalt Vogel teilte ihm mit, dass er mit einer Haftstrafe von mindestens sechs Jahren zu rechnen habe. 282 Zwischenzeitlich war er in die »kriminelle U-Haft« bei der Volkspolizei verlegt worden und nach der Urteilsverkündung weiter nach Naumburg. Wie auch Peter Granitz wurde er eines Tages nach Karl-Marx-Stadt gebracht, von wo aus der Transport in den Westen erfolgte. Auch er sagt über diese Zeit, dass hier die Staatssicherheit noch mal so »richtig 280 Interview mit Ulrich Gottschalk, 25.11.2009, Transkript, S. 20. 281 Ebenda, S. 25. 282 Ebenda, S. 26. Zur Anwaltspraxis in Sachen Antragsteller vgl. Christian Booß: Sündenfall der organisierten Rechtsanwaltschaft. Die DDR-Anwälte und die Ausreiseantragsteller. In: DA 44(2011)4, S. 525–535. Diese Taktik, mit hohen Haftstrafen zu drohen, war verbreitet. Vgl. Raschka: Einschüchterung, Ausgrenzung, Verfolgung, S. 55. Vgl. zu den Verhören in der Untersuchungshaft sowie den Haftbedingungen; ebenda, S. 44–61.
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Ausreise per Antrag
Terror gemacht« hätte. 283 Doch anders als Peter Granitz hatte Ulrich Gottschalk seine Erfahrung aus früherer Haft wenig geholfen, die Tortur gut zu überstehen. Sein Leid unterschied sich nicht von dem der anderen Halberstädter Antragsteller, die ohne dies einkalkuliert zu haben und völlig überraschend inhaftiert worden waren. Nicht zufällig waren die beiden Antragsteller, die ganz bewusst und gezielt eine Inhaftierung provozierten, junge Männer. Einer von ihnen alleinstehend, ohne familiäre Bindungen. Sie hatten beide wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt bereits im Alter von 18 Jahren im Gefängnis gesessen und sich die ganzen Jahre mit dem Gedanken beschäftigt, in den Westen zu gelangen. Sie wogen das Risiko einer Flucht und einer Haftstrafe gegeneinander ab und kamen zu dem Ergebnis, dass die »kalkulierte Haft« der bessere weil weniger gefährliche Weg sein würde. Mit diesem Werdegang personifizierten sie jedoch nicht den »typischen« Antragsteller auf Ausreise. Wie im 3. Kapitel beschrieben, waren die durchschnittlichen Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt die zwischen 31 und 36 Jahre alten Ehepaare mit einem Kind. Diese Antragsteller gingen angesichts ihrer Verantwortung gegenüber den Kindern keinerlei Risiko ein. Sie verhielten sich nach ihrem Dafürhalten rechtmäßig, einen »kalkulierten Freikauf« haben sie nicht einmal erwogen. Sie machten letztlich auch nicht die Mehrheit der politischen Häftlinge aus und zählten folgerichtig auch nicht in größerem Umfang zur Gruppe der freigekauften Häftlinge. Zu dieser gehörten in den 1970er und 1980er Jahren vor allem jene risikobereiten jungen Männer, die Flucht und Haft nicht abschreckten. Jan Philipp Wölbern kommt im Anschluss an eine nach Altersgruppen und Geschlecht vorgenommene Analyse zu dem Ergebnis, dass unter denjenigen, die mithilfe eines Freikaufs aus der Haft in die Bundesrepublik entlassen wurden, »der ›typische‹ freigekaufte Häftling seit Ende der sechziger Jahre männlich und unter 30 Jahre alt« gewesen sei. 284 Dieser Befund bestätigt auf seine Weise, dass sich unter den Antragstellern nur wenige Personen befanden, die einen »kalkulierten Freikauf« für sich und ihre Familien angestrebt haben. 285 Was angesichts der Herrschaftspraxis des Staates folgerichtig erscheint und die Offiziere der Staatssicherheit fast in eine »Sinn283 Aus anderen Berichten ist ebenfalls bekannt, dass in der Haftanstalt Karl-Marx-Stadt die für den Transport in den Westen vorgesehenen Häftlinge gut versorgt wurden, um ihren körperlichen Zustand aufzubessern. 284 Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 408. Die Beispiele eines nachweislich »kalkulierten Freikaufs« beschreiben ausschließlich junge Männer, die wegen eines Fluchtversuches inhaftiert wurden. Vgl. ebenda, S. 368 ff. 285 Sie werden sich vorrangig in anderen Deliktgruppen befunden haben, etwa den »Grenzverletzter«, die einen Flucht geplant oder versucht hatten. Zu den Deliktgruppen vgl. ebenda, S. 408– 421. Diese machten bis 1983 und dann wieder 1989 die größte Gruppe unter den Freigekauften aus. Ebenda, S. 418.
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krise« stürzen sollte, entsprach nicht dem realen Verhalten der Mehrheit der Antragsteller. Während im Kreis Halberstadt nur ganz wenige und ausschließlich Männer einen »kalkulierten Freikauf« zu ihrer Option gemacht hatten, gab es eine Reihe von Antragstellern, die in ihrer Verzweiflung Taten androhten, die die Behörden »wachrütteln« sollten: Sie würden nicht mehr länger ruhig abwarten, sondern an die Öffentlichkeit gehen, einfach über die Grenze laufen und keine Verhaftung scheuen. Einige Antragsteller drohten mit Suizid. Die Staatssicherheit nahm solche Verzweiflungsworte tatsächlich zum Anlass, Ermittlungsverfahren einzuleiten. 286 Dennoch ist es irreführend, von den Urteilen in den Strafrechtsverfahren auf das tatsächliche Verhalten des Antragstellers zu schließen. Bei näherer Betrachtung vieler »Fälle« zeigt sich, dass die betroffenen Antragsteller die ihnen unterstellte Demonstrativhandlung gar nicht begangen hatten oder ihren Informationsgang in die Botschaft nicht als solche verstanden haben. Somit waren ihre Handlungen auch nicht als bewusste Provokationen zu deuten. Renate Georgius stellt 1984 einen Antrag auf Ausreise, sie möchte zu einem österreichischen Monteur, den sie vor einiger Zeit in Halberstadt kennengelernt hatte. Ihre Treffen mit ihm in Prag und Berlin werden unterbunden. Frau Georgius bekommt einen PM 12 ausgehändigt, sie ist verzweifelt. Sie will unbedingt ausreisen und teilt das nicht nur dem Rat des Kreises mit, sondern auch in ihrem Betrieb und allen Bekannten. Die Staatssicherheit möchte aus der OPK »Wien« einen OV machen, doch die Mitarbeiter in der Abteilung Inneres teilen ihr mit, es hätte noch keine »Aussagen der [Georgius] gegeben, die den Verdacht einer Straftat gem. § 214 StGB begründen« würden. 287 Der Einsatz von IM wird verstärkt, ein IM wird beauftragt, zu prüfen, ob er etwas zur »Zerschlagung der Verbindung [des Monteurs] zu der [Georgius]« beitragen könne. Renate Georgius erreichen diese »Zersetzungsgerüchte«, sie ist noch verzweifelter und droht mit einem Suizid, wenn sie nicht rübergelassen werde. Sechs Monate nach ihrer Antragstellung kommt sie in die Untersuchungshaft der Staatssi286 Die Staatssicherheit hatte ermittelt, dass im Jahr 1986 DDR-weit 146 Übersiedlungsersucher ihre Inhaftierung provoziert haben, das wären 7 bis 8 % der insgesamt Freigekauften dieses Jahres gewesen. Sie hatten diese Zahlen aufgrund einer Dienstanweisung des MfS ermittelt, welche die Bezirksverwaltungen anwies, diejenigen zu melden, die »Straftaten mit dem Ziel der Inhaftierung begehen oder androhen, um aus dem Strafvollzug in die BRD entlassen zu werden.« (Herv. R. H.) Für die Hauptabteilungen des MfS war dies ein Nachweis dafür, dass die Zahlen der Antragsteller, die sich kalkuliert freikaufen lassen wollten infolge der vielen Freikäufe im Jahr 1985 so rasant angestiegen waren. Nach unserem Dafürhalten aber sind auf diese Weise eine Reihe von Antragstellern in die Statistik aufgenommen worden, deren Androhung kein Anzeichen eines kalkulierten Vorgehens war. Vgl. zu der gesamten Information und Darstellung Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 370 – 378, Zitat: S. 372. Bei der internen Dienstanweisung handelte es sich um die DA Nr. 2/83 des MfS. 287 Tonbandabschrift zur Gesprächsführung des Genossen Netz vom RdK Halberstadt, Abt. I A, mit der Ersucherin auf Übersiedlung in die BRD, 6.11.1984; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1719/85 (OV »Wien«), Bl. 139.
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Ausreise per Antrag
cherheit in Magdeburg und wird tagelang verhört. Die Staatssicherheit erfährt, was sie schon aus den Postkontrollen weiß: Dass sich Renate Georgius in der Botschaft der Republik Österreich und in der Ständigen Vertretung der BRD in Berlin nach ihren Ausreisemöglichkeiten erkundigt, dass sie einen Brief an die Münchner Staatskanzlei geschickt und um Hilfe gebeten hat. Hilfe bekam sie nicht. So kommt die Staatssicherheit zu ihrer Anklage gemäß §§ 219 (2) Ziffer 1 (Verbreitung von Nachrichten zum Schaden der DDR im Ausland) und 214 (1) StGB (Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit). Sie übergibt dem Staatsanwalt des Bezirkes Magdeburg die Anklageerhebung. Das Urteil lautet wunschgemäß zwei Jahre und drei Monate Freiheitsentzug. Ihr österreichischer Freund setzt sich im August 1985 für ihre Freilassung bei den Vereinten Nationen ein, er hat erfahren müssen, dass Renate Georgius nervlich und gesundheitlich am Ende ist. Die Kreisdienststelle des MfS stellt Ende 1985 den OV »Wien« ein, da die Person inhaftiert und rechtskräftig verurteilt wurde. Ob Renate Georgius die Tortur überstanden hat, ob sie bald ausreisen durfte, ist den Akten nicht zu entnehmen. 288
Die Inhaftierung des Ehepaares Gensicke und die erteilte Genehmigung zur Ausreise aus der Haft auf zentrale Anordnung, stehen für eine weitere, durchaus typische Herrschaftspraxis im Umgang mit Antragstellern in den 1980er Jahren. Ungewöhnlich war allerdings, dass das Ehepaar Gensicke drei Jahre auf eine Genehmigung zur Ausreise warten musste. Zudem war es nicht üblich, beide Personen einer »Antragsgemeinschaft« zu inhaftieren. Häufig traf die Verurteilung nur den Mann, die Ehefrau stellte unmittelbar nach dessen Ausreise aus der Haft einen Antrag auf Familienzusammenführung. Hier aber wurde Ruth Gensicke zweimal in Untersuchungshaft genommen, verhört und letztlich verurteilt, obwohl sie, auch für die Staatssicherheit erkennbar, kaum einen aktiven Anteil an der Verbindung in den Westen gehabt hatte und vieles nur ihrem Mann zuliebe tat. Mit dieser Maßnahme hatte das MfS jedoch den Druck auch auf Reinhard Gensicke enorm verstärken können, offensichtlich ohne ihn zu einer Rücknahme seines Antrages zu bewegen. Insgesamt war der Aufwand, den die Staatssicherheit betrieb, um diese Familie zu zerstören, weitaus höher als bei anderen Antragstellern. Sie setzte mehrere Familienmitglieder unter Druck, forderte sie zur aktiven »Information« auf und streute falsche Meldungen darüber, was wer gestanden haben soll. Der 1933 geborene Reinhard Gensicke hat eine steile Parteikarriere hinter sich, er war eine Zeitlang hauptamtlicher Mitarbeiter in der SED-Kreisleitung, später Bürgermeister gewesen. Als er 1980 zusammen mit seiner Frau Ruth einen Antrag auf Ausreise stellt, liegen diese Zeiten schon einige Jahre hinter ihm. Zum Zeitpunkt der Antragstellung arbeitet Reinhard Gensicke in der Produktion, er bekommt keine Anstellung mehr in seinem Beruf, Ruth Gensicke ist als Küchenhilfe tätig. Gensickes betreiben ihr Ausreisebegehren sehr intensiv und weitgehend öffentlich, ohne zu verheimlichen, dass sie mit diesem Staat »gebrochen« haben. Ihnen wird vom Rat des Kreises rasch 288 Ebenda, Bl. 21, 79, 96 u. 286–338.
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die endgültige Ablehnung mitgeteilt. Reinhard Gensicke aktiviert seine Kontakte zu einem Ehepaar im Westen, das er in einem Urlaub in Ungarn kennengelernt hatte. Es stellt den Gensickes eine Verbindung zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM) her und Reinhard Gensicke erteilt der Organisation eine Vollmacht, seine Angelegenheit in der Bundesrepublik vertreten zu dürfen. Das MfS weiß dies bereits aus einer Postkontrolle. Es wird ein OV angelegt. 289 Im Januar 1982 wird Herr Gensicke »zugeführt«, einen Tag später auch Frau Gensicke und die große Tochter. Es folgen tagelange Verhöre, die der Stasi nicht nur eine entsprechende Beweislage für das Verfahren gegen Reinhard Gensicke erbringen sollen, sondern die auch dazu genutzt werden, die Familienmitglieder gegeneinander auszuspielen. Nachdem sie durch angeblich von der Tochter gemachte Aussagen belastet wird, hält Ruth Gensicke ihre Vernehmungstaktik nicht mehr aufrecht: »Nachdem ich über einen längeren Zeitraum« – es sind inzwischen zwei Monate in Untersuchungshaft vergangen – »zu dieser Problematik keine Aussagen getätigt habe, bin ich nunmehr bereit, auch darüber wahrheitsgemäße Aussagen zu machen, weil ich nervlich nicht dazu in der Lage bin, noch weiterhin zu schweigen. Ich habe solche Angst und stehe dies nicht länger durch.« 290 Gegen Ruth Gensicke ergeht das Urteil gemäß § 100 (1) zu einem Jahr und fünf Monaten Freiheitsentzug, das zur Bewährung ausgesetzt wird, ihre Tochter kommt frei. 291 Reinhard Gensicke wird wegen staatsfeindlicher Verbindung zu drei Jahren und vier Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Gegen Frau Gensicke legt die Kreisdienststelle Halberstadt unverzüglich die nächste Akte (OV »Bau II«) an, sie wird verdächtigt, die Beziehungen zur IGFM wieder aufgenommen zu haben, um ihrem Mann, der in Cottbus inhaftiert ist, zu helfen. Am Ende des Jahres 1982 ist Ruth Gensicke erneut in der Untersuchungshaft, sie wird gemäß § 100 (1) in Verbindung § 44 Abs. 2 StGB zu drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt. 292 Ihre Tochter und deren Mann werden – wahrscheinlich unter Druck – als Zeugen instrumentalisiert. Ruth Gensicke ist entsetzt, sie habe nie mit der Tochter über diese Dinge gesprochen. Das Ehepaar kann 1983 in den Westen ausreisen. 293 Ruth Gensicke hat fast ein Jahr in der Haftanstalt Hoheneck verbringen müssen. 294
Auch das Ehepaar Reither macht aus seiner politischen Überzeugung kein Geheimnis. Jeder wusste, warum sie nicht mehr in der DDR leben und vor allem nicht mehr arbeiten wollten. 295 Obwohl die OPK mit dem Ziel angelegt wurde, »eine Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben der DDR« zu erreichen, ging die Staatssicherheit zugleich davon aus, dass dies »bei einer derartig verfestigten negativen Einstellung des [Reither] und seiner Ehefrau fast ausgeschlossen werden kann«. 296 Vergleichbar mit dem Vorgehen gegen 289 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1172/84 (OV »Bau II«), Bl. 15–17. 290 Vernehmungsprotokoll; ebenda, Bl. 61. 291 Ebenda, Bl. 422. 292 Ebenda, Bl. 183. § 100 stellte »Landesverräterische Agententätigkeit« unter Strafe. 293 Ebenda, Bl. 422. 294 Abschlussbericht, 9.5.1984; ebenda, Bl. 179–184. 295 Vernehmungsprotokoll, 25.4.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 674/ 86 (OV »Modell«), Bd. 2, Bl. 75–83, hier 81. 296 OV »Modell«; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88, Bd. 1, Bl. 14.
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das Ehepaar Gensicke legte die Staatsicherheit sehr schnell einen OV an, um die Beweise für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens erarbeiten zu können. Alle Verwandten, namentlich die Eltern, wurden »operativ« kontrolliert, bei den Nachbarn wurden Erkundigungen eingezogen. Eine illegale Kontenbewegung erwies sich nicht als Steuerbetrug, dennoch ging die Suche nach einem verwertbaren kriminellen Straftatbestand weiter. Ein dreiviertel Jahr nach ihrer Antragstellung wurden die Reithers verhaftet, da sie die staatliche und gesellschaftliche Ordnung verächtlich gemacht hätten und in ihren Schreiben an die Staatsorgane der DDR »die Missachtung der Gesetze der DDR bekundeten«. 297 Erst in der Untersuchungshaft gelang es der Staatssicherheit, einen weiteren Straftatbestand zu ermitteln: Manfred Reither hatte über seinen Onkel aus Westdeutschland einen Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten und an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen geschickt und um Hilfe gebeten. Die Anregung dazu hatte er aus dem Fernsehen. Die Briefe hatte die Stasi in einer konspirativen Hausdurchsuchung gefunden, jetzt brauchte sie noch die Geständnisse der Inhaftierten. Nach wochenlangen Verhören und mithilfe einer ausgeklügelten Planung ihrer Vernehmungstaktik, die dazu diente, beide Eheleute gegeneinander auszuspielen, gelang ihr das. 298 Wie bei Gensickes schlug das »Untersuchungsorgan« vor, die Haftbefehle gegen die Beschuldigten aufrechtzuerhalten und die Öffentlichkeit von der gerichtlichen Hauptverhandlung auszuschließen. Im Juli 1985 kam es zur Gerichtsverhandlung mit dem »vorgeschlagenen« Ergebnis: Manfred Reither erhielt zwei Jahre und neun Monate und Christel Reither zwei Jahre Freiheitsstrafe. Sie wurden »wegen mehrfacher gemeinschaftlicher ungesetzlicher Verbindungsaufnahme und wegen mehrfacher, teils gemeinschaftlicher Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit und öffentlicher Herabwürdigung, Vergehen gem. §§ 219 Abs. 2 Ziff.1, 214 Abs. 1 und 3, 220 Abs. 1 und 2, 63 und 64 StGB […] verurteilt.« 299 Nach einem Jahr und sieben Monaten U-Haft und Strafhaft wurde das Ehepaar in den Westen entlassen; acht Wochen später konnten die beiden Kinder aussiedeln. Christel Reither hatte erreicht, dass diese während ihrer Inhaftierung bei den Eltern untergebracht waren.
297 OV Eröffnung, das ist gem. §§ 214, 220, 159 und 176 StGB; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88 (OV »Modell«), Bd. 1, Bl. 191–200, sowie Einleitung eines OV, Bd. 1, Bl. 8. Vgl. auch Schlussbericht, 17.5.1985: ebenda, Bd. 6, Bl. 70–80, Reithers hätten 13 Schriften an staatliche Organe gerichtet, sie würden keine Rechtsvorschriften anerkennen und die Gesetze der DDR missachten, die Parteiführung würde eine fehlerhafte Wirtschaftspolitik betreiben, sie hätte an das Bundesministerium für innerdeutsche. Fragen geschrieben und die Reaktionen der staatl. Organe auf ihren Antrag geschildert. Das sei strafbar nach § 219, 220, 214, 63 StGB sowie §§ 219, 220, 214, 63, Bl. 72. 298 Konzeption zur Gesprächsführung mit dem Ehepaar Reither; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1668/88 (OV »Modell«), Bd. 1, Bl. 204. 299 Urteile, 9. u. 12.7.1985; BStU, MfS, BV Magdeburg, AU, Nr. 674/ 86, Bd. 2, Bl. 105 f.
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Wie bei der Familie des Ehepaares Gensicke war es der Staatssicherheit in der Familie Reither ebenfalls gelungen, einen Scherbenhaufen zu hinterlassen: Es wurde Druck auf die verschiedenen Personen ausgeübt, Falschaussagen lanciert und einer gegen den anderen ausgespielt. Eine derartige »kriminelle Energie« hat das MfS im Kreis Halberstadt im Rahmen der Bekämpfung der Antragsteller vor allem dann aufgewandt, wenn es sich um sehr selbstbewusste Personen handelte, die zudem noch aus der »Mitte der Gesellschaft« kamen und an denen ein für alle sichtbares Exempel statuiert werden sollte. Wir werden im Zusammenhang mit Verhaftungen von Antragstellern, die in einem »Zusammenschluss« tätig waren, eine vergleichbare Herrschaftstaktik wiederfinden. Ein solcher »Zusammenschluss« von Antragstellern hatte sich Ende der 1970er Jahre nach der Ausreise eines Halberstädters gebildet, der vom Westen aus Unterstützung für andere Antragsteller organisierte. 300 Nach drei Jahren »operativer Bearbeitung« war dieser eher lose Gruppenzusammenhang zerschlagen; eine Lehrerin und das Ehepaar Engelbert wurden verhaftet. 301 Der Betriebsschlosser Andreas Engelbert hatte 1976 für sich, seine Frau, die als Verkäuferin tätig war, und seinen 5-jährigen Sohn einen Antrag auf Ausreise gestellt, den die Abteilung Innere Angelegenheiten nach einigen Wochen ablehnte. Jetzt wurden die Eheleute aktiv, schrieben diverse Eingaben an den Rat des Kreises, den Staatsrat, das Innenministerium und nahmen Kontakt zu Rechtsanwalt Vogel auf. Die Operative Personenkontrolle »Resident« wurde durch die Kreisdienststelle in Halberstadt angelegt, nachdem die konspirative Postkontrolle Anhaltspunkte dafür ergeben hatte, dass das Ehepaar Briefe an Personen in Westdeutschland geschickt hatte, die ihr Anliegen an offizielle Stellen, auch an die IGfM, weiterleiten sollten. Die Berichterstattung von zahlreichen IM führte vier Monate später mit folgender Begründung zum Verdacht des Tatbestandes gemäß § 100: »Die in dem OV zu bearbeitenden Personen haben mehrmals unrechtmäßige Anträge auf Übersiedlung in die BRD und Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR gestellt. Nach Ablehnung der 1. Antragstellung wurde mithilfe von Deckadressen zu Personen in die BRD Verbindung aufgenommen, die im dringenden Verdacht der Zugehörigkeit der GfM e.V. stehen. Diesen Personen wurden Materialien übergeben, die zur Durchsetzung der Antragstellung von der BRD ausgenutzt werden sollten und
300 Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band. 301 Die Akte der Lehrerein Susanne Krause stand uns nicht zur Verfügung. Die Situation des Ehepaares Engelbert ist bereits zu Teilen im Kapitel 6.1 behandelt worden.
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die geeignet sind, die DDR als Rechtsstaat zu diffamieren. Die zu bearbeitenden Personen haben in Halberstadt zu weiteren Antragstellern Verbindung hergestellt.« 302
In den folgenden zwei Jahren organisierte die Staatssicherheit eine großangelegte »Zersetzungsaktion«. Sämtliche Besitzer der benutzten Deckadressen wurden kontrolliert, einschließlich der Empfänger im Westen. Das MfS wollte alle »Kanäle« sowohl zwischen den Antragstellern in Halberstadt als auch zwischen Ost und West ausfindig machen. Es wurde versucht, Frau Engelbert zu einer kriminellen Handlung zu verleiten, IM sollten ein allgemeines Misstrauen zwischen allen Beteiligten erzeugen. 303 In der Wohnung des Ehepaares Engelbert wurden Abhöranlagen eingebaut, deren Aufzeichnungen mehrere Wochen lang protokolliert und ausgewertet wurden. Die Staatssicherheit konnte jedoch kein Ermittlungsverfahren einleiten, da »die vorliegenden Beweismittel und die daraus demzufolge auch nur inoffiziell ableitbaren Beweistatsachen […] ausschließlich inoffiziell den Verdacht der staatsfeindlichen Verbindungsaufnahme gemäß § 100 (1) und (2) StGB« begründeten. 304 In einem längeren Schreiben rügte die Abteilung IX des MfS der BV Magdeburg die Kreisdienststelle in Halberstadt, dass sie die diversen inoffiziell erlangten Beweise nicht schon längst »verwertbar« gemacht hatte. Sie beauftragte die Kreisdienststelle, bei der nächsten Gelegenheit »eine sofortige Legalisierung des Materials sowie eine konspirative Hausdurchsuchung zur Feststellung vorliegender weiterer Beweismittel und eine anschließende Konsultation mit der Abteilung IX zur Festlegung von sich daraus ergebenden Maßnahmen« vorzunehmen. 305 Die Kreisdienststelle versprach, ihre Anstrengungen zu intensivieren, konnte dennoch nicht den entscheidenden Beweis erbringen, dass die betreffende Person im Westen Mitarbeiter der IGfM war. Sie hatte bisher nicht einmal in Erfahrung bringen können, ob es einen direkten Kontakt zur IGfM gab und ob das Ehepaar Engelbert davon unterrichtet war. 306 Die Abteilung IX griff zu einer Methode, die sie später bei anderen Antragstellern auch anwandte: Sie schaffte die notwendige Beweislage im Zuge der Vernehmungen in der Untersuchungshaft. Im Mai 1980, nach drei Jahren Wartezeit auf eine Ausreisegenehmigung, wurde Herr Engelbert verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt war das Ehepaar bereits geschieden, betrieb aber die Ausreise weiterhin gemeinsam. Die Untersu302 Eröffnung des OV »Resident«, 24.1.1978; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 1045/80, Bd. 1, Bl. 136. Rechtschreibung im Original: »in der OV« statt in dem OV, »defarmieren« statt diffamieren. 303 Ebenda, Bl. 337. 304 Ebenda, Bl. 226. 305 BV Magdeburg, Abt. IX: Strafrechtliche Einschätzung der OPK »Resident« der KD Halberstadt, 24.2.1978; ebenda, Bl. 220–231. 306 Aktenvermerk, 2.9.1978; ebenda, Bl. 399.
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chungshaft von Andreas Engelbert erfolgte für alle Personen in dieser Gruppe – bis auf die IM – überraschend. Sie hatten immer gedacht, sich geschickt und unauffällig zu verhalten, eine Inhaftierung wollten sie stets vermeiden. 307 Als ein IM lange vor der Haft zu Andreas Engelbert sagte, er an seiner Stelle hätte ja Angst, eingesperrt zu werden, wenn er einen Antrag stellen würde, antwortete ihm Andreas Engelbert, dass er dies nicht glaube. Man müsse nur schön im Rahmen bleiben und sich an die Gesetze halten. 308 Und die diversen Abhörprotokolle geben wieder, dass die im Wohnzimmer der Familie Engelbert versammelten Antragsteller große Angst vor einer Haft hatten, es ginge da schrecklich zu, man schloss Folter nicht aus. Das wolle man tunlichst vermeiden. 309 Nach der Verhaftung von Andreas Engelbert hörte die Stasi weiter ab, was in der Wohnung der Familie passierte; es herrschte völlige Unklarheit darüber, was zur Haft geführt haben könnte. Gegen Andreas Engelbert war ein Ermittlungsverfahren mit Haft wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß § 214 eingeleitet worden. Inoffiziell bestünde zudem der Verdacht, er habe versucht, »zu den gerichtsbekannten feindlichen Stellen GfM und ZDFMagazin Verbindung aufzunehmen«. 310 Die Verhöre gingen von 8.30 Uhr bis 21 Uhr, sie mussten unterbrochen werden, weil Andreas Engelbert Herzbeschwerden bekam, ein Arzt wurde geholt. 311 Nach einem Monat sagte er aus, dass sie schon sehr früh davon gewusst hatten, dass die Kontaktperson im Westen ihnen helfen wollte und Verbindungen zum ZDF sowie zur IGfM hergestellt hatte. Auf diese Aussage hin wurde seine geschiedene Frau verhaftet, sie bestätigte in den Verhören diese Angaben. Aus der Beschuldigung gemäß § 214 (Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit) war nun die der staatsfeindlichen Verbindung gemäß § 100 (1) und der landesverräterischen Agententätigkeit § 98 (1) StGB geworden, ein Paragraph der in unseren Untersuchungen nur in diesem Verfahren aus den späten 1970er Jahren zur Anwendung kam und der hier einen Freiheitsentzug von vier Jahren zur Folge hatte. Wo der inzwischen achtjährige Sohn in der Haftzeit der Eltern verblieb, ob und wann das Ehepaar ausreisen konnte, ist dem Abschlussbericht der Kreisdienststelle Halberstadt nicht zu entnehmen. Das Vorgehen des MfS gegen das Ehepaar Engelbert war besonders hart, die Anstrengungen, das Verhältnis zwischen den 307 Frau Engelbert sagt, der von der Staatssicherheit hatte bei der Aussprache gesagt, »wenn sie [MfS] sich mit ihr unterhalten, dann würde sie nicht mehr so gut aussehen, sie mit dem schönen Gesicht«. Ebenda, Bl. 259–263 u. 281. »Herr Engelbert sagt, das solle man im Westen bekannt machen … Frau Engelbert rät ab«. Zu der Zeit sind die Engelberts schon geschieden, dennoch redet er ihr gut zu, sie hätte schon alles richtig gemacht; ebenda, Bl. 346. 308 IM-Bericht; ebenda, Bl. 358. 309 Ebenda, Bd. 2, Bl. 65. 310 Eröffnungsbericht zum OV »Resident«; ebenda, Bd. 1, Bl. 226. 311 B-Objekt »Resident«, Abhörprotokolle, 29.5.–3.8.1979; ebenda, Bd. 2, Bl. 259–281.
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Familienmitgliedern zu zerstören, groß und die Vernehmungstaktik vom Erfolgsdruck der Stasi geprägt. 312 In der Gruppe von Antragstellern, die zehn Jahre später im Kreis Halberstadt von der MfS-Kreisdienststelle bespitzelt und »zersetzt« wurde, herrschte dieselbe Angst vor einer möglichen Inhaftierung. 313 Und auch diese Antragsteller meinten, sich im Rahmen der Gesetze zu bewegen und keine Vorwände für eine Verhaftung durch den Staat zu liefern. Sie nahmen weder Westkontakte auf, noch verhielten sie sich aggressiv oder gewalttätig. Da sie den Kontakt zur Kirche gesucht hatten, dort ihre Treffen abhielten und das Material, das sie bekamen, für den »innerkirchlichen Gebrauch« ausgewiesen war, meinten sie, vor dem direkten Zugriff der Staatssicherheit geschützt zu sein. Die Haltung: »In der Kirche dürfen wir das!«, verbreitete sich unter den Antragstellern. 314 Nichtsdestotrotz organisierten oppositionelle kirchliche Gruppen für Antragsteller eine Informationskette, die im Falle einer Inhaftierung sofort in Aktion treten sollte. 315 Einerseits boten solche Vernetzungen und halböffentlichen Räume tatsächlich einen gewissen Schutz, zum Beispiel den, nicht unbemerkt in der Stasi-Untersuchungshaft zu verschwinden. Andererseits riefen sie die Staatssicherheit auf den Plan, die mit aller Macht solche Verbindungen zu zerstören suchte. Die Art und Weise, wie derartige »operativ-bedeutsamen Zusammenschlüsse« von Antragstellern am Ende der 1980er Jahre zerschlagen wurden, unterschied sich nicht wesentlich von der sicherheitspolitischen Praxis des Jahres 1979. Wie im ersten Fall wandte das MfS auch 1987 die Methode der »Zersetzung« im direkten Sinne an, der Abschreckung durch Verhaftung sowie der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft aus »operativ-bedeutsamen« Gründen. 316 Im Januar 1989 wurde aus den vier OV der Halberstädter Kreisdienststelle eine zentrale Maßnahme, die die endgültige Zerschlagung des »Zusammenschlusses« beschleunigen sollte. Gegen den Kraftfahrer Wolfgang Hannemann und seine Ehefrau Margot erging am 17. Januar 1989 ein Haftbefehl. Sie hatten im Oktober 1987 einen Antrag gestellt und waren nach der Ausreise des Bruders von Wolfgang Hannemann 1988 in den Kreis um Christa Stoll gekommen, mit dem sie gemeinsam mit anderen »Ausreisewilligen« am 16. August 1988 in Magdeburg an einer öffentlichen Verhandlung gegen einen 312 Haftunterlagen und Vernehmungsprotokolle; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2378/80 (OV »Musiker«), Bd. 3, Bl. 186–473. Inhaftierung von Engelbert sollte abschreckende Wirkung haben, siehe BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702, Bl. 244. 313 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bl. 209–211. Vgl. zu diesem »Zusammenschluss« auch Kapitel 6.1 in diesem Band. 314 Vernehmungsprotokolle Wolfgang Hannemann und Margot Hannemann, 24.1.–2.2.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2344/89 (OV »Kantine«), Bl. 151–314, Zitat, Bl. 153. 315 Vgl. Kapitel 6.2 in diesem Band. 316 Zu dieser Gruppe vgl. ausführlich Kapitel 6.1 u. 6.2 in diesem Band.
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Antragsteller teilnehmen wollten. 317 Die Anklage gegen das Ehepaar lautete »Öffentliche Herabwürdigung«. Im Mai desselben Jahres wurden Wolfgang Hannemann zu einem Jahr und fünf Monaten und seine Frau zu einem Jahr und einem Monat Freiheitsentzug verurteilt. 318 Eine von der MfS-Hauptabteilung VII an die BV des MfS Magdeburg gerichtete Anfrage, welche weiterführenden »operativen Maßnahmen« zur Strafgefangenen Hannemann erforderlich seien, weist aus, dass sich Margot Hannemann im Juni 1989 in der Justizhaftanstalt Hohenleuben befand. 319 Wo Wolfgang Hannemann inhaftiert war, wann oder ob das Ehepaar überhaupt noch vor dem Herbst 1989 in den Westen ausreisen konnte und wo sich der 13-jährige Sohn währenddessen aufhielt, geht aus den Akten nicht hervor. Dagegen sind die Vernehmungsprotokolle vollständig vorhanden. Sie beschreiben eindrucksvoll, wie die Staatssicherheit den erfolglosen Versuch unternahm, dem Ehepaar eine »landesverräterische Tätigkeit« zu unterstellen. Tatsächlich gab es einen brieflichen Kontakt zu einem ehemaligen Halberstädter, der inzwischen im Westen war, ansonsten hatten Hannemanns zu oppositionellen Kreisen in der DDR wie der Initiative für Frieden und Menschenrechte sowie zu Leipziger kirchlichen Basisgruppen aktive Verbindungen. 320 Die Beweislage reichte nicht aus, um die Paragraphen 100 (»Landesverräterische Agententätigkeit«) oder 219 (»Ungesetzliche Verbindungsaufnahme«) in Anwendung zu bringen. Es blieb der Staatsanwaltschaft nur der Rückgriff auf die zahlreichen Eingaben und Beschwerden, die das Ehepaar an den Staatsrat, das ZK der SED, den Ministerrat und das Ministerium des Innern geschickt hatte und in denen ihre »gegenüber der DDR und ihren Repräsentanten negative Einstellung« zum Ausdruck gekommen war. Eine konspirative Hausdurchsuchung führte zur Beschlagnahmung dieser Schreiben und der Schreibmaschine, auf der diese Texte verfasst worden waren; eine fast absurd anmutende Angelegenheit, denn Hannemanns hatten nicht nur nie bestritten, diese Eingaben geschrieben zu haben, sie waren dem Rat des Kreises auch stets bekannt gemacht worden. Über die Treffen in der Kirche, die Fürbittandachten, die Schweigemärsche im Anschluss an die Gottesdienste und die dortigen Aktivitäten gaben Hannemanns während der Vernehmungen bereitwillig Auskunft. Sie gingen offensichtlich davon aus, dass ohnehin bekannt war, was in der Bartholomäuskirche in Blankenburg geschah. 321 Wolfgang Hannemann erzählte detailliert von den Themenabenden im Pfarrhaus in Blankenburg, wo unter anderem über die Umweltverschmutzung in Halberstadt gesprochen wurde und von den Hilfen, 317 318 319 320 321
BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2344/89 (OV »Kantine«), Bl. 74 f. Ebenda, Bl. 334 u. 341. Ebenda, Bl. 344. Bericht der Abt. IX/5; ebenda, Bl. 117–119. Vernehmungsprotokoll; ebenda, Bl. 153.
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die für inhaftierte Antragsteller organisiert wurden. 322 Das »Untersuchungsorgan« drohte mit Beweisen, die seine Verbindung zu ausländischen Organisationen nachweisen sollten. Wolfgang Hannemann blieb dabei, dass es solche nicht gegeben habe und ließ sich auch nicht erschüttern, als ihm das MfS die angeblich anderslautenden Aussagen seiner Frau und seiner ebenfalls vernommenen Mutter vortrug. 323 Selbst aus den bürokratisch verfassten Protokollen geht hervor, wie wütend die Stasi war, namentlich, als ihnen Wolfgang Hannemann vorwarf, dass es an der Taktik der Vernehmer läge, wenn er sich dauernd in Widersprüche verwickelte. 324 Nach dem fünften Vernehmungstag verweigerte Wolfgang Hannemann jede Aussage. Obwohl der Versuch gemacht wurde, das Ehepaar gegeneinander auszuspielen, konnten die erhofften Anklagepunkte nicht zum Einsatz gebracht werden. Das Ehepaar wurde gemäß § 220 (2) StGB für die »Herabwürdigung der Verhältnisse in der DDR« und die Benutzung von Begriffen westlicher Medien wie »Ostdeutschland« zu über einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt. 325 Das geschah im März 1989. Während das MfS gegenüber dieser Gruppe aus den 1980er Jahren dieselben Methoden des »Zersetzens«, Isolierens und Inhaftierens bzw. des selektiven Genehmigens von Anträgen wie bei den Mitgliedern der Gruppe aus den 1970er Jahren anwandte, hatte sich im Verhalten der Antragsteller einiges verändert. Sie waren selbstbewusster, die Lage im Land war eine andere geworden: Das Ehepaar Hannemann bezog sich in seinem Schreiben an den Rat des Kreises nicht mehr nur auf die Menschenrechtsdeklaration der UNO, sondern auch auf die neue Reiseverordnung vom Januar 1989. Das Ehepaar Stoll, einige Wochen vor Hannemanns verhaftet, verheimlichte gegenüber dem Rat des Kreises nicht, dass es in Berlin die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufgesucht hatte, um sich nach seinen Rechten zu erkundigen. Mit ihren Beziehungen zur Kirche, auch mit den überregionalen Kontakten und Aktivitäten, gingen Christa und Martin Stoll ebenso offen um wie die anderen in der Gruppe. Sie werden davon ausgegangen sein, dass die Staatssicherheit ohnehin Kenntnis davon hatte. In den für diese Recherchen ausgewerteten Vorgängen verhaftete die Staatssicherheit keinen Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt wegen dessen kirchlicher Verbindungen, selbst dann nicht, wenn das Treffen nach dem Gottesdienst mit Schweigemärschen endete. 326 Und auch jene Antragsteller, die sich in und außerhalb von Kirchenräumen trafen, um ihr Anliegen zu besprechen, gingen davon aus, dass sie nicht dieser Aktivi322 Ebenda, Bl. 191–195. 323 Ebenda, Bl. 216. 324 Ebenda, Bl. 261. 325 Ebenda, Bl. 117–119. 326 Dem MfS fehlen hier verwertbare Straftatbestände. Es fehlen dem MfS häufig die Beweise für eine Verurteilung, zum Beispiel: BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2343/89 (OV »Pinsel«), Bl. 207–208 u. 271–275.
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täten wegen inhaftiert werden würden. Ihnen ist allerdings bewusst gewesen, dass es Versuche von Seiten der Staatssicherheit geben könnte, sie zu »kriminalisieren und in die Enge zu treiben«. 327 Die Verhaftungen von Christa und Martin Stoll im September 1988, die vom MfS als die Initiatoren des Kreises betrachtet wurden, erfolgten zwecks Aufdeckung und Verhinderung einer Straftat nach § 214, der Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit. Die Staatssicherheit machte sich unverzüglich auf die Suche nach Beweisen für den Straftatbestand der ungesetzlichen Verbindungsaufnahme gemäß § 219. Im Ergebnis einer sofort eingeleiteten Hausdurchsuchung fanden die Ermittler einen Brief eines westdeutschen Verwandten, in dem zu lesen war, dass dieser über die Antragstellung der Stolls informiert war. 328 Martin Stoll bestätigte diese Kontakte im Verhör, doch er sähe weder in dieser Information noch darin, dass er die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufgesucht hätte, einen Straftatbestand. 329 Namentlich Christa Stoll wirkte sehr überlegt und selbstbewusst während der Verhöre. Sie nannte keine Namen, verweigerte Aussagen und forderte nach einem Monat Untersuchungshaft energisch einen Anwalt. 330 Der Ton der Stasi in den Verhören von Christa Stoll war besonders scharf; desgleichen in den Vernehmungen mit Wolfgang Hannemann und Reinhard Gensicke. Hier wird die Absicht der Staatssicherheit deutlich, selbstbewusste und zudem noch einst der »sozialistischen Idee« verpflichtete Menschen in besonderer Weise zu strafen und zu brechen. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft in der MfSHaftanstalt Magdeburg wurden Martin Stoll zu einem Jahr und sechs Monaten und Christa Stoll zu einem Jahr und zehn Monaten Freiheitsentzug gemäß § 219 (2) verurteilt. Das höhere Strafmaß für Frau Stoll war ungewöhnlich und muss im Zusammenhang mit ihrem besonders selbstbewussten und ungebrochenen Auftreten gesehen werden. Ihr Mann und ihre beiden Töchter konnten im Laufe des Frühjahres 1989 ausreisen, Christa Stoll verbüßte ihre Haftstrafe bis zum Dezember 1989. 331 Es ist augenscheinlich, dass die Verurteilungen der Stolls wie auch die des Ehepaares Hannemann als abschreckende Beispiele für die anderen Mitglieder dieses Gruppenzusammenhanges fungieren sollten. Die Taktik der Staatssicherheit ging jedoch so nicht auf. Anders als 1977 im Kreis um das Ehepaar Engelbert, der nach drei Jahren vollständig zerschlagen war, übernahmen 1988 nach der Inhaftierung von Stolls und später von Hannemanns andere Antrag-
327 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2342/89 (OV »Bus«), Bl. 134 f. 328 Vernehmungsprotokoll; ebenda, Bl. 336–337. 329 Vernehmungsprotokoll, 21.9.1988; ebenda, Bl. 344. 330 Vernehmungsprotokoll, 10.10.1988; ebenda, Bl. 370. 331 Dies ist nicht mehr den Akten zu entnehmen, Sunhild Minkner, die befreundete Pfarrersfrau, gab mir die Auskunft.
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steller die Organisation des Zusammenhanges. 332 Zudem setzte nach den jeweiligen Inhaftierungen eine große Solidarisierung unter aktiver Beteiligung einer Blankenburger Pfarrerin ein, um die Kinder der Familien zu schützen. Auch die »Zersetzungstaktik« des MfS wirkte am Ende der 1980er Jahre längst nicht mehr so nachhaltig wie 1978/79. Da sich die Antragsteller weniger »konspirativ« verhielten und ihre Begegnungen meist in den halböffentlichen Räumen der Kirche stattfanden, relativierte sich die Bedeutung der durch inoffizielle Mitarbeiter des MfS gestreuten Falschmeldungen und angezettelten Intrigen. Die geschilderten Veränderungen sowohl in der Praxis der Staatssicherheit als auch im Verhalten der Antragsteller sollten nicht dem Nachweis dienen, deren Verfolgung sei mit den Jahren weniger repressiv geworden. Die »Zuführungen«, die Verhöre in der Untersuchungshaftanstalt des MfS, die Urteilsverkündung und die folgenden Haftmonate waren während des gesamten Zeitraumes und für alle Antragsteller traumatisierend. Die kürzeren Haftzeiten hatten auf die psychischen Spätfolgen keine mildernde Wirkung. 333 Da man sich keiner Straftat bewusst war und auch nicht mit einer derart flächendeckenden Überwachung gerechnet hatte, kalkulierte fast kein Halberstädter Antragsteller eine Inhaftierung ein. Diese Haltung teilten sie mit ihrem familiären Umfeld und dem Freundeskreis. Man ging davon aus, es müsse noch etwas anderes vorgefallen sein, etwas, wovon sie nichts wüssten, denn die bekannten Tatsachen könnten unmöglich zu einer Verhaftung und Verurteilung geführt haben. 334 Einige Antragsteller vermuteten, mit ihren Kontakten zu den Westverwandten und deren Hilfsaktionen ein Tabu gebrochen zu haben, weswegen es besser wäre, der Rat des Kreises erführe nichts davon; eine Straftat sahen sie jedoch auch darin nicht. Erst die Vernehmungen brachten zutage, wessen sie beschuldigt waren. Auf diese Weise erfuhren manche Antragsteller zum ersten Mal, dass es »Feindorganisationen« gab und vor allem, welche Institutionen die Staatssicherheit zu diesen rechnete. Solche Einstufungen waren Geheimwissen, selbst manche politisch interessierten DDR-Bürger haben erst nach der »Wende« 1989 erfahren, dass amnesty international vom MfS als feindliche Organisation eingestuft worden war. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die meisten Halberstädter Antragsteller die Strafgesetzgebung – namentlich deren Veränderungen 1977 und 1979 – nicht kannten. Und nicht zuletzt waren die Aufrufe im Westfernsehen, sich an diese oder jene Organisation oder politische Institution in Westdeutschland zu wenden und um Hilfe zu bitten bzw. vom Westen aus den entsprechenden Kontakt
332 Vgl. ausführlich die Beschreibung dieses Zusammenhanges in Kapitel 6.2 in diesem Band. 333 Vgl. Süß: Repressive Strukturen in der SBZ/DDR. 334 Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AOPK, Nr. 1612/83 (OV »Bruder«), Bl. 408.
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herzustellen, nicht gerade geeignet, das Bewusstsein für die Gefahr einer drohenden Inhaftierung zu schärfen. Wie gering dieses ausgebildet war, spiegelt sich auch in der Zahl von fünf Rücknahmen von Anträgen während der Untersuchungshaft wider, deren Anzahl im Verhältnis zu den Verhafteten insgesamt höher lag als die Anzahl von Rücknahmen von Antragstellungen aus dem Kreis Halberstadt allgemein. Der physische und psychische Druck war für diese Menschen besonders hoch, sie befanden sich in einer für sie undurchschaubaren Lage. Die eigene Unkenntnis musste dazu führen, dass sie letztendlich nicht wussten, was sie im Verlauf der Verhöre sagen und was sie besser verschweigen sollten. Die Zermürbungstaktik der Staatssicherheit fand hier einen guten Nährboden. Darüber hinaus erlebten die Halberstädter Antragsteller bereits während der MfSUntersuchungshaft, dass die rechtsstaatlichen Gepflogenheiten, so sie diese überhaupt einzufordern in der Lage waren, nicht eingehalten wurden. Sie bekamen keine Sprecherlaubnis, nicht mit der Mutter und nicht mit einem Pfarrer; und ein Anwalt wurde ihnen erst nach dem Abschluss der Ermittlungen oder zu einem späten Zeitpunkt gewährt. 335 Keiner der von uns verurteilten Antragsteller hat eine unabhängige Gerichtsbarkeit erlebt, stets griff die Staatsanwaltschaft die Untersuchungsergebnisse des MfS auf und der Richter entsprach dem. Das Gefühl, dem Staat und namentlich der Staatssicherheit hilflos ausgeliefert zu sein, hatte die Inhaftierten nicht zu Unrecht erfasst. Ulrich Gottschalk kann wohl stellvertretend für die Angst der manchmal monatelang im Magdeburger Stasigefängnis Eingesperrten zitiert werden: »Die konnten mit dir machen, was sie wollten. Die konnten dich auch umlegen oder was weiß ich, man war total in deren Hand.« 336 Die Willkür der Inhaftierungspraxis des DDR-Staates zeigte sich auch darin, dass nicht nachvollziehbar wurde, warum gerade gegen diese und nicht gegen andere Antragsteller ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet worden war. Dasselbe »Delikt« führte einmal zur »operativen« Überwachung, einmal zur Verhaftung und Verurteilung und für einen dritten Antragsteller zur Ausreisegenehmigung aus »operativ-politischen« Gründen. »Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Die Gesetze sind Scheiße, ihr setzt sie durch, wie ihr wollt!«, sagte Peter Granitz in der Sprechstunde den Mitarbeitern der Abtei-
335 BStU, MfS, BV Magdeburg, AOP, Nr. 2344/89 (OV »Kantine«), Bl. 173 f. Vgl. auch OV »Bus« und Interview mit Ulrich Gottschalk, 25.11.2009. In der U-Haft des MfS wurde das sogenannte Feindstrafrecht angewandt, das eine Reihe von Rechtsvorschriften aushebelte. Zur Situation in der MfS-Untersuchungshaft bzw. in den Haftanstalten vgl. Raschka: Justizpolitik im SED-Staat; Werkentin: Recht und Justiz im SED-Staat; Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 423 ff. 336 Interview mit Ulrich Gottschalk, 25.11.2009, Transkript, S. 25.
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lung Innere Angelegenheiten, was ihm später als »Staatsverleumdung« ausgelegt wurde und mit zu seiner Inhaftierung führte. 337 Die Interessenlage der Staatssicherheit bei der Auswahl der zu Verhaftenden, die zu einer »Konstruktion von Haftgründen« 338 führte, lässt sich zwar beschreiben, für die Betroffenen jedoch wurde sie dadurch nicht nachvollziehbarer. Fünf der achtzehn inhaftierten Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt ließen sich im Ergebnis einer entsprechenden Demoralisierung zum Rückzug bewegen, vier Antragsteller wurden offensichtlich verurteilt, um rasch »abgeschoben« respektive freigekauft zu werden, drei Antragsteller gehörten zur ehemaligen Parteielite Halberstadts, weswegen mit der Verhaftung und hohen Haftstrafen möglicherweise ein Exempel statuiert werden sollte. Und drei Antragsteller bzw. Ehepaare wurden verurteilt, um Gruppenzusammenhänge zu zerschlagen. Die zur Anklage gebrachten Delikte spielten für deren Auswahl keine Rolle. Vor allem nach 1976, nach dem die »Richtlinie Nr. 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)« die »Zersetzung« als Methode der Bekämpfung staatsfeindlicher Personen und Personengruppen zum offiziellen »operativen« Repertoire erhoben hatte, standen dem MfS nun eine Reihe von Maßnahmen gleichberechtigt zur Verfügung, die eine differenzierte Repression ermöglichten. 339 In den Halberstädter Verfolgungsakten ist nachzulesen, wie das MfS Druck ausübte und versuchte, den Antragsteller mittels Schikanen im Betrieb, durch Isolation im Freundeskreis und den Entzug des Personalausweises zu zermürben, in der Hoffnung, er würde seinen Antrag zurückziehen. Die hier angewandten Methoden sind mit dem Begriff »Zersetzung« adäquat zusammengefasst: Sie sollten demoralisieren, isolieren und soziale Zusammenhänge zerschlagen. 340 Und stets achtete die Staatssicherheit darauf, dass sie selbst nicht als Akteur oder als Auslöser der Maßnahme in Erscheinung trat. Eine wirkliche Alternative zur Strafverfolgung scheint die verstärkt angewandte Methode der »Zersetzung« im Hinblick auf die Ausreisewilligen jedoch nicht gewesen zu sein. Vielmehr nahmen Verhaftungen von Antragstellern nicht nur im Kreis Halberstadt zu. Zwischen 1977 und 1988 sind in der gesamten DDR rund 20 000 Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet worden. 341 Die vier Verhaftungen von Halberstädter Antragstellern, die »in Grup337 Interview mit Peter Granitz, 25.11.2009, S. 101. 338 So die Überschrift bei Werkentin: Recht und Justiz im SED-Staat, S. 82. 339 Vgl. Diskussion über »Zersetzung« Süß: Zersetzung als Methode. Zu Pingel-Schliemann: »Zersetzen. Strategie einer Diktatur«. In: rezensionen, Heft 39/2002, S. 71–73; Gieseke: MielkeKonzern, S. 186–195. 340 Süß: Repressive Strukturen in der SBZ/DDR. 341 Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band. Diese Deutung findet sich z. B. bei Gieseke: MielkeKonzern, S. 187. Damit ist nicht bestritten, dass sich die Taktik der Staatssicherheit insgesamt seit den
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pe gehandelt« hatten, zeigen den von der Stasi angewandten »Methodenmix« geradezu exemplarisch. Zwei Personen gehörten zu einem sogenannten Zusammenschluss am Ende der 1970er Jahre und zwei zu einer Gruppe von Antragstellern, die sich 1987 im Kreis Halberstadt zusammengefunden hatten. 342 Die jeweils anderen Mitglieder dieser Gruppen wurden isoliert, demoralisiert oder hatten eine Ausreisegenehmigung erhalten. Die Methoden der Staatssicherheit hatten in dem hier behandelten Zeitraum ihren strafrechtlich repressiven Charakter nicht verloren; Verhaftungen und Verurteilungen blieben bis zum Schluss ein probates Mittel. In anderer Beziehung dagegen hatte sich in der DDR einiges verändert, die DDR der 1970er und 1980er Jahre war nicht mehr die der ersten zwei Jahrzehnte. Doch die Erinnerungen an jene Jahre gehen weit auseinander: Einige verbinden eine zunehmende Militarisierung und einen steigenden politischen Druck mit der Honecker-Ära, anderen ist vor allem das bessere Konsumangebot im Gedächtnis geblieben. Mit »Repression und Wohlstandsversprechen« oder »Modernität und Beharrung« haben Zeithistoriker dieses Nebeneinander von sich widersprechenden Entwicklungen auf den Begriff zu bringen versucht. 343 Bei näherer Betrachtung wird erkennbar, dass diese gegenläufigen Tendenzen notwendig zusammengehörten und jede auf ihre Weise dem Machterhalt diente. So folgte einem außenpolitischen Kurs des Ringens um internationale Anerkennung, der mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte einen wichtigen Erfolg für die DDR-Führung brachte, nicht zufällig ein harter innenpolitischer Kurs, auch gegen die zunehmende Zahl von Antragstellern. Er wurde geradezu zwingend, denn die »Ausreisewilligen« wurden immer selbstbewusster und klagten ihr Recht ein, dem die DDR sich auf der internationalen Bühne verpflichtet hatte. Es geschah, was die Partei- und Staatsführung der DDR nicht gewollt hatte: Mit ihrer eigenen Politik hatte sie sich den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Geister, die sie rief, wurde sie nicht mehr los. Je »weltoffener« die DDR wurde, umso »weltsüchtiger« wurden die Bürger des Landes. Je weiter die Entwicklung voranschritt, umso größer die Hoffnungen, rasch in den Westen ausreisen zu dürfen. Dem war vonseiten der Staatsmacht konsequent und exemplarisch-repressiv entgegenzutreten, mit dem Ergebnis, dass selbst in den 1980er Jahren noch inhaftiert werden konnte, wer sich öffentlich kritisch äußerte. 344 1950er Jahren erheblich verändert hatte und den sogenannten Zersetzungen mehr Platz eingeräumt wurde. Vgl. dazu auch Süß: Zersetzung als Methode. Zu Sandra Pingel-Schliemann »Zersetzen. Strategie einer Diktatur«. In: rezensionen, Heft 39/2002, S. 71–73. 342 Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band. 343 Vgl. zu den Ambivalenzen der 1970er Jahre in der DDR: Hürtgen; Reichel (Hg.): Der Schein der Stabilität, sowie das Kapitel: Die siebziger und achtziger Jahre: Von der Krise in die Stabilität?, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 99–101. 344 Vgl. Ansorg: Politische Gefangene im Strafvollzug Brandenburg.
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Einerseits war die Anwendung physischer Gewalt in den Strafanstalten der DDR seit den 1970er Jahren weitgehend obsolet und die verhängten Haftstrafzeiten zunehmend kürzer, 345 andererseits blieben die Reaktionen der Staatsmacht willkürlich und unberechenbar. Vor allem aber wurde die Differenz zwischen dem Anspruch der Antragsteller auf ein rechtmäßiges Anliegen sowie einer Erwartung auf positive Bearbeitung und der dann folgenden Realität harter Repression in den 1980er Jahren eher größer. Insofern gestaltete sich die Situation für die Antragsteller in manchem dramatischer als in den 1970er Jahren; die panikartigen Fluchtbewegungen im Sommer 1989 kennzeichnen diese zugespitzte Situation. An der Diskussion darüber, welche Methode »schlimmer« gewesen war und ob physische oder psychische Gewalt traumatisierender für die Häftlinge gewesen waren, sollten sich Historiker allerdings nicht beteiligen. 346 Welche Wirkung eine Herrschaftspraxis hat und wie sie empfunden wird, hängt nicht von der Länge des Rohrstocks ab und kann nur im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Situation begriffen und bewertet werden. Die Antragsteller waren angesichts der KSZE-Verträge und der Politik der DDR voller Hoffnung und sahen ihr Begehren als zunehmend rechtmäßig an, was die Reaktionen der Staatsmacht besonders repressiv erscheinen ließ. Eben dieser Anspruch, zu leben und zu arbeiten, wo es einem passte, war es auch, der zusammen mit vielen Ansprüchen anderer Art, laut und öffentlich vorgetragen von Hunderttausenden, dieses Regime zum Abtritt zwang. 347
345 In den 1980er Jahren gingen die durchschnittlich verhängten Haftzeiten von 2 Jahren und 2 Monaten (1983) auf 1 Jahr und 7 Monate (1986) zurück. Vgl. Wölbern: Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 307 u. 405. In den 1960er und 1970er Jahren waren es noch 2 Jahre und 9 Monate. In den 1980er Jahren wurden die Haftstrafen zwischen 39 und 55 % tatsächlich verbüßt. 346 Beispielhaft, wie in einer historischen Arbeit mit dem Thema der Folgen von Haft für politische Gefangene in der DDR umzugehen ist, hat Jan Philipp Wölbern dieses Thema behandelt. Vgl. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, S. 421–445. 347 Vgl. Lochen; Meyer-Seitz: Die geheimen Anweisungen, S. 9. Darin dokumentiert: Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und der Eheschließungen zwischen Bürgern der DDR und Ausländern v. 15.9.1983 (ebenda, S. 150–152) sowie MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 v. 13.10.1983 (ebenda, S. 87–133).
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8 Das Ende der alten Herrschaft – das Ende der Antragstellungen auf Ausreise aus der DDR
Für die Antragsteller begann das Jahr 1989 mit einer Wendung der staatlichen Politik, die eigentlich Hoffnungen hätte wecken können. Im Januar trat eine neue Reiseverordnung in Kraft, in der zum ersten Mal die Möglichkeit eingeräumt wurde, aus humanitären Gründen einen Antrag auf Ausreise aus der DDR zu stellen. Zudem setzte sich fort, was 1988 begonnen hatte: Die Antragsteller traten aus ihrer Anonymität heraus und damit viel stärker in das gesellschaftliche Bewusstsein als zuvor. Doch obwohl sich die allgemeine Stimmung zugunsten der Antragsteller wendete, blieb deren Lage weiterhin ungewiss, wozu eine repressive Genehmigungspraxis und ein harter Kurs der »Rückgewinnung« beitrugen. Die Staatssicherheit hatte zwischen Mitte 1988 und dem Februar 1989 ihre Repressionen verstärkt und zahlreiche »operative« Verfolgungsakten gegen Antragsteller angelegt, von denen einige zur Inhaftierung führten. 1 Das Jahr 1989 lässt sich in Bezug auf die Antragsteller als Zeit einer eigenartigen Ambivalenz beschreiben: zwischen Hoffnung, die Mut machte, und Stillstand, Resignation. Hinzu kam auch Angst davor, dass sich in diesem Land nie etwas ändern würde.
8.1
Die Situation der Antragsteller 1989
Seit 1988 erlebten die Magdeburger Sicherheitsbehörden neben einer rasanten Zunahme von Anträgen, die nicht zuletzt auch auf die steigende Anzahl genehmigter Besuchsreisen zurückzuführen war, auffällige Veränderungen »auf dem Gebiet der Übersiedlungsersuchenden«. 2 Es waren vor allem die Erstan1 Vgl. Kapitel 6.1 u. Kapitel 7.4 in diesem Band. Vgl. die Zahlen für den Bezirk: Berichterstattung zur kollektiven Beratung beim Leiter der BV, 13.3.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 526. 2 Von diesen Besuchsreisen kamen immer mehr Menschen nicht zurück. 1986 waren es nur 41 Personen gewesen, 1987 bereits 147 Personen und in den ersten zwei Monaten 1988 gab es 27 Personen im Bezirk Magdeburg, die unter »Missbrauch von DFA-Reisen« die DDR ungesetzlich verlassen hatten. Ihnen folgten häufig und prompt Antragstellungen zur Familienzusammenführung. Vgl. BKG, Einschätzung der Lage und Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet der Übersiedlungsersuchenden, 29.2.1988; MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 154–156. Symptomatisch ist auch der Ansturm auf das Übergangslager Marienfelde im Jahr 1989. Vgl. Effner; Heidemeyer (Hg.): Flucht im geteilten Deutschland, S. 43–45.
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träge, die seit Mitte des Jahres 1988 kontinuierlich zunahmen – monatlich bis zu 170 Bürger aus dem Bezirk Magdeburg stellten einen Ausreiseantrag. 3 Das Jahr 1989 begann mit einem weiteren Anstieg der Zahl von Anträgen auf Ausreise. Neben vielen Erstanträgen musste die Abteilung Innere Angelegenheiten registrieren, dass die neue Reiseverordnung dazu ermunterte, den alten Antrag mit einer auf die veränderte Regelung abgestimmten Begründung zu versehen.4 Eine äußerst zurückhaltende Genehmigungspraxis 5 sowie die Tatsache, dass die »Abstandnahmen« 1988 und 1989 so gering wie noch nie waren, führten dazu, dass die Antragstellungen im Bezirk Magdeburg bis zum August 1989 auf fast 5 000 anstiegen. 6 Wer im letzten Jahr der DDR einen Antrag gestellt hatte, der blieb in der Regel auch dabei und war trotz aller Bemühungen von Partei und Staat nicht mehr von seinem Vorhaben abzubringen. 7 Die große Anzahl und die »Hartnäckigkeit« der Antragsteller beschäftigten das MfS jedoch weniger als der Umstand, dass sich das Verhalten dieser renitenten Ausreisewilligen grundsätzlich verändert hatte. Sie traten nicht mehr nur nachdrücklich im Rahmen der Dienstagssprechstunde im Rat des Kreises auf oder schrieben kontinuierlich Eingaben und Beschwerden an staatliche Stellen der DDR. Einige Antragsteller gingen nun mit ihrem Anliegen in die Öffentlichkeit. Dies war ein bemerkenswerter Vorgang, erinnert man sich an die von uns beschriebene Zurückgezogenheit der Halberstädter Antragsteller in den Jahren zuvor. In einer Mischung aus Gefügigkeit gegenüber staatlichen Verhaltensmaßregeln und eigenem Selbstverständnis hatten sie ihr Anliegen als ausschließlich privates verstanden und jede Art von Öffentlichkeit vermieden. Dieses Gebot verletzten jene nun auf das Gröbste, die sich mithilfe eines Zeichens der Zugehörigkeit zur Gruppe der Antragsteller zu erkennen gaben. Die Magdeburger Staatssicherheit registrierte im September 1988 in ihrem Zuständigkeitsbereich 57 sogenannte Symbolträger: »Dabei reicht das Spektrum von weißen bzw. andersfarbigen Bändern an Antennen/Außenspiegeln über
3 Einschätzung der Lage und Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet der Übersiedlungsersuchenden, Juni 1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 118–124. 4 Statistik; BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 1. Vgl. auch Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 547; Reiseverordnung trat am 1.1.1989 in Kraft. 5 Im September 1988 wurden beispielsweise aufgrund einer Änderung der Ordnung 0118/77 in Halberstadt für 75 % aller Antragstellungen Ablehnungen ausgesprochen, in Klötze waren es sogar 100 %. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 99. 6 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 4. Vgl. zur Lage in der gesamten DDR: Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin Archiv BW-MfS 01/04/4, Bl. 104–1123, ZAIG Wochenübersicht Nr. 43/89. 7 Die jährlichen Rücknahmen gingen in der gesamten DDR schlagartig von 11,7 (1988) auf 1,4 (1989) % zurück. Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 616.
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das Anbringen weißer Fähnchen im Fenster der Wohnung bis zu Plaketten mit missdeutbarem Aufdruck.« 8 Wie diese Aktion nach Magdeburg und in den Kreis Halberstadt gelangt war, wird im Einzelnen nicht mehr nachweisbar sein. Der »Weiße Kreis« in Jena war 1983 der erste Zusammenschluss von Ausreisern gewesen, die sich in »Schweigekreisen« im öffentlichen Raum versammelten und wortlos ihr gemeinsames Anliegen nach außen trugen. Alle hatten weiße Shirts an, die Gewaltverzicht und Friedfertigkeit symbolisierten. 9 Als weiße Fähnchen tauchte die Symbolik bei den seit 1988 in Magdeburg und Blankenburg stattfindenden Friedensgebeten und Schweigemärschen wieder auf; sie flatterten zuletzt in der Art eines Hochzeitsschmucks auch in Halberstadt an den Antennen von Autobesitzern, die damit ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Antragsteller zum Ausdruck bringen wollten. Die Volkspolizei und die Staatssicherheit begannen eine regelrechte Jagd auf diese und andere Symbole. Am 8. September 1988 hatte die Bezirksverwaltung des MfS die folgenden »neuen Mittel und Methoden« entdeckt: »– Tragen eines Abzeichens mit der Aufschrift ›Ich habe die Nase (Abbildung) voll‹ während der Vorsprache eines EÜ [Erstübersiedlers] am 6.9.88 im Rat des Kreises Wernigerode. Der Ersucher trat gleichfalls mit weißem Band an der Antenne des Autos in Erscheinung. – Tragen eines weißen Bändchens an der Berufsbekleidung eines EÜ (Kreis Gardelegen). – Befestigen weißes Band und schwarz-rot-goldene Kordel am Außenspiegel Pkw (Magdeburg). – Buchstabe ›A‹ im Wohnungsfenster Größe A4 vor 4 Wochen (Gardelegen), jetzt nicht mehr sichtbar. – in einem Fall wurde an einem Skoda-Kühllastzug des VEB Güterkraftverkehr Magdeburg am 29./30.8.1988 eine weiße Schleife festgestellt, wobei dem Kraftfahrer (ÜE) angeblich nicht bekannt war, wer diese angebracht hat. Die Schleife wurde umgehend durch den ÜE selbst entfernt. Seit diesem Zeitpunkt erfolgt eine Ausfahrtkontrolle beim Verlassen des Betriebsgeländes bei allen Fahrzeugen.« 10
Täglich wurden solche Berichte von der Bezirksverwaltung des MfS für den Bezirk Magdeburg angefertigt. Darin gab es auch, wenngleich sehr selten, 8 Berichterstattung gemäß VVS 62/88, v. 8.9.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, BKG, Bl. 69. 9 Vgl. zum »Weißen Kreis« in Jena Schmidt: Die unerträgliche Last der Staatsbürgerschaft. Jenas Weißer Kreis, ein herzerfrischendes Überlisten des Staatsapparates. In: Gerbergasse 18, Heft 2/1996, S. 13–15. Eine zusammenfassende Darstellung, einschließlich weiterführender Literaturhinweise bei Gehrmann: Die Überwindung des »Eisernen Vorhangs«, S. 186–190. Vgl. auch die jüngst erschienenen Beiträge, die der Frage nach dem Charakter der Revolutionen in Osteuropa unter weitgehendem Gewaltverzicht nachgehen. In: Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. 10 Berichterstattung gemäß VVS 62/88, 6.9.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 69.
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»Fälle« aus dem Kreis Halberstadt. Im September 1988 war es ein Halberstädter Fall bei insgesamt 57 »Symbolträgern« im Bezirk. Im Oktober des gleichen Jahres traten fünf »Symbolträger« aus dem Kreis Halberstadt in Erscheinung, »wobei alle Mitarbeiterinnen in einem Frisiersalon sind und die Symbole (weiße Schleife) sowohl an der Berufs- als auch an der Straßenkleidung tragen. Gegenüber GMS, 11 die die Feststellung getroffen haben, äußerten die Symbolträger auf deren Anfrage, dass die Symbole als ›Modeerscheinung‹ zur Verschönerung der Kleidung angebracht worden sind.« 12 Offensichtlich waren es nicht immer Antragsteller, die ein solches Zeichen setzten, und ob es ein Akt der Solidarität mit diesen war oder eine kleine Widerständigkeit gegen die Allmacht des Staates wird sich nicht mehr ermitteln lassen. Die Reaktionen der ertappten Bürger auf die Sicherheitsorgane nahmen teilweise Schwejk’schen Charakter an. Einige reagierten ganz verblüfft, sie wüssten nicht, warum es verboten sei. Die meisten ließen sich belehren, unterschrieben und entfernten das jeweilige »Symbol«, manche, um es später wieder anzubringen. Das MfS stellte sogar fest, dass »die Symbolträger auf die laufenden Maßnahmen vorbereitet waren« und bereits alle Spuren selbst beseitigt hatten. Allerdings tat man gut daran, sich nicht als Wiederholungstäter erwischen zu lassen, denn in solchen Fällen wurden Disziplinarmaßnahmen eingeleitet. 13 Diese reichten vom Entzug des Personalausweises über Geldstrafen bis zur »Zuführung« und Einleitung eines Ordnungsstrafverfahrens. 14 Da solche Maßnahmen der Polizei oder der Staatssicherheit im Kreis Halberstadt nicht aktenkundig geworden sind, kann davon ausgegangen werden, dass sie dort auch nicht stattgefunden haben. Die Anzahl der Symbolträger war ohnehin sehr klein, sodass sie im Erscheinungsbild der Stadt so gut wie keine öffentliche Wirkung hinterlassen haben können. Insofern kann für den Kreis Halberstadt nicht davon gesprochen werden, dass eine »neue Stufe der informellen Organisation und des kollektiven Handelns« im Zuge der Verwendung von öffentlich getragenen Symbolen unter den Antragstellern erreicht war. 15 Dennoch waren für die Staatsführung solche Zeichen einer öffentlichen Bekundung eine der größten Gefahren, und dies nicht nur, weil westliche Medien darüber hätten berichten können. Die Gefahr ging vielmehr von dem Umstand aus, dass hier staatli11 Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) waren laut IM-Richtlinie 1/79 Informanten der Staatssicherheit »mit einer auch in der Öffentlichkeit bekannten staatsbewussten Einstellung und Haltung«. Vgl. Müller-Enbergs: Inoffizielle Mitarbeiter, Richtlinien, S. 368–372. 12 Berichterstattung gemäß VVS 62/88, 17.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 12. In diesem Monat gab es im Bezirk 148 Fälle. 13 Vgl. Leiter der BV an alle Diensteinheiten, 14.10.1988; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 219–220. 14 Berichterstattung gem. VVS 62/88; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 8, 41 u. 94. 15 So Gehrmann: Die Überwindung, S. 546.
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cherseits festgelegte Regeln verletzt wurden, denen nun weitere Regelverletzungen folgen könnten. Wehret den Anfängen! Und tatsächlich nahmen unbotmäßige und durchaus risikovolle Aktionen von Antragstellern seit Beginn des Jahres erheblich zu, von denen die sogenannten Botschaftsbesetzungen und die Zusammenkünfte im halböffentlichen Raum der Kirchen zu den für den DDR-Staat bedrohlichsten gehörten. 16 Im Januar 1989 gab es im Kreis Halberstadt erstmals eine größere Anzahl von Antragstellern, die die Ständige Vertretung der Bundesrepublik aufgesucht hatten, um sie als »Druckmittel« für eine Genehmigung »zu missbrauchen«, wie das MfS es nannte. 17 Zwei Monate später waren es schon zehn Fälle mit 28 Personen, womit aus dem Kreis Halberstadt nach der Stadt Magdeburg die meisten »Botschaftsfälle« im Bezirk gemeldet wurden. 18 In den Monaten Juni bis August 1989 wurden im Bezirk Magdeburg von der Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS 208 »Erpresserfälle« mit insgesamt 366 Personen (»Erpresser«) registriert. 19 Schwerpunkte seien dabei die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in der DDR gewesen, gefolgt von den bundesrepublikanischen Botschaften in Prag und Budapest. In einem Fall sei es zu einer Besetzung der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau gekommen. 20 Personen gelang es tatsächlich, von Budapest aus in die Bundesrepublik auszureisen. 20 Unter den »Erpressern« im Sommer 1989 waren auch vier Halberstädter Familien, die zum Teil bereits seit Jahren auf eine Genehmigung gewartet hatten. Die Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg erstellte »Wochenrapporte zur aktuellen Lage bei erpresserischen Botschaftsaufenthalten«. Für die Woche vom 18. bis zum 25. August registrierte sie 279 Fälle mit 700 Personen, Ende September wurden 51 weitere Fälle mit insgesamt 100 Personen von der Zentralen Koordinierungsgruppe an die Bezirkskoordinierungsgruppe gemeldet, darunter sieben bisher noch »nicht bekannte Erpresserfälle« aus dem Kreis Halberstadt. 21 Im Oktober 1989 reisten über die Botschaften in Prag und Warschau insgesamt 109 Personen aus dem Kreis Halberstadt ungesetzlich aus, unter ihnen 30 Antragsteller. »Über Ungarn verließen bis zum Zeitpunkt 105 Bürger ungesetzlich die DDR. Von diesen Personen waren 7 als Antragsteller registriert. Ein Bürger des Kreises vollzog den ungesetzlichen Grenz16 Eisenfeld: Ausreiseantragsteller und Opposition in der Endphase der DDR. In: Vaterlandslose Gesellen, S. 33–44, hier 39–41. 17 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 63. 18 BKG: Lageeinschätzung zu ASTA nach Inkrafttreten der RVO, 10.3.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 183. 19 Es werden noch 517 »einbezogene Personen« genannt, dies könnten Kinder gewesen sein. Vgl. BKG: Einschätzung der Lage und Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet der Antragsteller auf ständige Ausreise, August 1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 6. 20 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 6 f. 21 Ebenda, Bl. 243.
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übertritt DDR–BRD und 32 Personen kehrten von einer genehmigten Besuchsreise nicht wieder in die DDR zurück.« 22 Die Berichtsstellen selbst gingen davon aus, dass der Kreisdienststelle des MfS spätestens seit dem August 1989 keine exakte Registrierung dieses Personenkreises mehr gelang. Ohnehin gesellten sich zu den Antragstellern, die im Spätsommer und Herbst über Ungarn in die Bundesrepublik flüchteten, zahlreiche Personen, die bisher als Antragsteller gar nicht in Erscheinung getreten waren. 23 Im September 1989 hatten – laut MfS – fast 400 Personen aus dem Bezirk Magdeburg »unter Missbrauch von Reisen in die UVR die DDR ungesetzlich verlassen«. Lediglich fünf Prozent von diesen seien Antragsteller gewesen. 24 Die Gruppe derjenigen, die seit dem Herbst 1989 über die Botschaften in den Westen gelangen wollte, war ihrer sozialen und altersmäßigen Struktur nach nicht mehr mit der von uns beschriebenen Gruppe Halberstädter Antragsteller identisch. Sie waren jünger und es gab zahlreiche Singles unter ihnen. Die sehr viel risikovollere Flucht über die ungarische Grenze wagten nicht mehr so viele Familien mit Kindern, die in der Gruppe der auf eine Genehmigung wartenden Antragsteller dominiert hatten. 25 Die Kreisdienststelle des MfS und die Abteilung Innere Angelegenheiten registrierten destotrotz akribisch jeden geflohenen Bürger aus ihrem Zuständigkeitsbereich und wiesen ihn gesondert danach aus, ob er oder sie ein Antragsteller gewesen war oder nicht. Unverzüglich wurde von der Abteilung Inneres mit Zustimmung der Kreisdienststelle des MfS an die Volkspolizei der Antrag gestellt, eine Transit- und Einreisesperre gegen diese Personen zu erlassen. Der Sinn dieser Maßnahmen bestand darin, die Sogwirkung zu unterbinden, die von einer »erpressten« Botschaftsflucht ausging. 26 Einen dritter Schwerpunkt der sogenannten »operativen« Arbeit der Staatssicherheit bildete 1989 die Zerschlagung von »Konzentrationen«, zu denen man nicht nur Gruppen von Antragstellern rechnete, sondern auch die in einigen Kirchen stattfindenden Friedensgebete und anschließenden Schwei95 F
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22 Bericht des RdK, 25.10.1989, Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sign. 99, o. Pag. 23 Es seien keine zuverlässigen Aussagen zur Anzahl der Flüchtlinge möglich v. 23.8.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AKG, Nr. 63, Bl. 259. 24 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt AKG, Nr. 63, Bl. 7. In der Nacht zum 25.8.1989 waren die ersten 108 DDR-Flüchtlinge, die sich in der ungarischen Botschaft aufgehalten hatten, nach Westen gebracht worden. 14 Tage später öffnete die ungarische Regierung ihre Grenze nach Österreich. Vgl. Oplatka: Der erste Riss im Eisernen Vorhang. In: APuZ 21–22/2009, S. 12–17, hier 14, sowie Ders.: Der erste Riss in der Mauer. 25 Wahrscheinlich war diese Gruppe vom Sommer den Übersiedlergruppen vom Herbst 1989/1990 ähnlicher als den Antragstellern aus den 1970er und 1980er Jahren. Vgl. Schlüter: Parteipräferenz von Übersiedlern. 26 Leiter der Abt I A an VPKA, 9.10.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sign. 98, o. Pag.
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gemärsche. 27 Im Lagebericht der Bezirksverwaltung des MfS werden im Frühjahr 1989 vor allem die Friedensgebete im Magdeburger Dom, die bereits seit einigen Monaten donnerstags stattfanden, und »Gottesdienste und organisierte Zusammenkünfte im Gemeindehaus der Bartholomäuskirche Blankenburg« als »operativ-bedeutsam« genannt; letztere wurden auch von drei Halberstädter Antragstellerpaaren besucht. 28 Es ist fast nicht erklärbar, auf welche Weise es der Staatssicherheit gelungen sein soll, nicht nur die genaue Anzahl der Besucher festzustellen, die sonntags und donnerstags zur Andacht in den Magdeburger Dom kamen, sondern jeden Antragsteller unter ihnen persönlich zu erkennen. Eine Liste weist zwischen Juli 1988 und Februar 1989 für jedes Treffen im Dom sonntags zwischen 2 und 60 und donnerstags zwischen 50 und 400 Antragsteller aus. Im Februar bemerkte der Spitzel nur noch zwei Personen beim Sonntagsgottesdienst, die er zu den Antragstellern zählte, insgesamt waren ohnehin wenige Besucher gekommen. Offensichtlich war der Donnerstag zum eigentlichen politischen Treffpunkttermin in Magdeburg geworden. Die Antragsteller, die regelmäßig donnerstags zu den Friedensgebeten kamen, wurden jedoch mit ihrem Anliegen von den Kirchenvertretern immer weniger gern gesehen und schließlich hinausgedrängt. Es sei gelungen, die kirchlichen Amtsträger zu disziplinieren, die dafür sorgten, dass der religiöse Charakter des Gottesdienstes erhalten bliebe, resümierte die Stasi. 29 Inwieweit sich die Staatssicherheit diesen Erfolg selbst zuschreiben konnte, sei dahingestellt; tatsächlich kamen immer weniger Antragsteller in die Kirchenräume. Unter den Teilnehmern der Magdeburger Friedensgebete, an die sich seit Juli 1988 sogenannte Spaziergänge anschlossen, waren durch »operative Aufklärungsarbeiten« keine Halberstädter Antragsteller zu identifizieren. Die Situation in der Blankenburger Bartholomäuskirche sah für das MfS weniger günstig aus, hier würden sich weiterhin Antragsteller regelmäßig treffen können, unter ihnen waren auch einige Halberstädter, die von der Staatssicherheit unter »operative Kontrolle« gestellt und »bearbeitet« wurden. 30 Die Bekämpfung der Antragsteller konzentrierte sich im letzten Jahr der DDR auf eben diese öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten und halböffentlich stattfindenden 27 BKG: Protokoll zum Erfahrungsaustausch zu Fragen der Durchsetzung der DA 2/88 in Bezug auf die ASTA-Konzentrationen im Bezirk Magdeburg am 15.6.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 121–124, sowie Anlage 2: Einschätzung der aktuellen Lage der ASTAZusammenschlüsse; ebenda Bl. 126–129. 28 Berichterstattung zur kollektiven Beratung beim Leiter der BV, 13.3.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 520. Diese Treffen in der Blankenburger Kirche waren von besonderer Brisanz, da sie überregionaler Natur waren und nicht nur von Antragstellern, sondern auch von Oppositionellen aus der ganzen DDR besucht wurden. Vgl. Kapitel 6.2 in diesem Band. 29 So die Einschätzung der Staatssicherheit. Vgl. Informationen der BKG, 20. u. 27.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 121 u. 286. 30 Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band.
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Zusammenkünfte. Ein großer Teil der personellen Kapazität war in den kirchlichen Räumen eingesetzt sowie bei den Schweigemärschen und auf den Straßen, um die zunehmende Anzahl von »Symbolträgern« schnell aus der Öffentlichkeit zu entfernen. 31 Auf Weisung Erich Mielkes sollte die Gruppe der inoffiziellen Mitarbeiter 1989 durch sogenannte Kontaktpersonen verstärkt werden. Das waren Personen aus den Reihen der Antragsteller oder der mit ihnen Befreundeten, die bereit waren mit der Staatssicherheit zu kooperieren, ohne als inoffizielle Mitarbeiter geworben worden zu sein. Da sie Zugang zu den »operativ bedeutsamen« Kreisen hatten, erhoffte man sich über solche KP wichtige Informationen über das weitere Vorgehen in den »Zusammenschlüssen« von Antragstellern. Das Unterfangen erwies sich als sehr kompliziert. Eine Kreisdienststelle des Bezirkes Magdeburg konnte lediglich zwei KP melden, denen eine baldige Ausreise für ihre Dienste in Aussicht gestellt worden war. »Erfolge wurden da erzielt, wo nicht feindliche Haltung zur DDR, sondern die beabsichtigte Zusammenführung mit Ehepartnern nach Reisemissbrauch Motiv der ASTA sind. Bei Inaussichtstellung einer Genehmigung in ein bis zwei Jahren besteht die Möglichkeit zur Gewinnung als KP.« 32 Die Kreisdienststelle Halberstadt hatte trotz dieser Bestechungsangebote bis zum April 1989 noch keinen geeigneten Antragsteller gefunden. In den inneren Kreis von Antragstellern gelangte zu diesem Zeitpunkt kein Spitzel mehr. In den Kirchenräumen hielten sich inzwischen als solche erkennbare Mitarbeiter des MfS auf. Die konspirative Informationsbeschaffung hatte mit der Ausweitung des halböffentlichen Raumes als Treffpunkt von Antragstellern ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Innerhalb der Grenzen des Kreises Halberstadt fanden jedoch derartige »Konzentrationen« in Kirchenräumen nicht statt. Die Staatssicherheit registrierte sie in den Kreisen Wernigerode, Wolmirstedt und in Magdeburg. 33 Im Kreis Halberstadt reduzierten sich die Aktivitäten von Antragstellern außerhalb des privaten Raumes auf einige Treffen in Gaststätten der Kreisstadt sowie auf telefonische Kontakte untereinander. 34 Ein regelmäßiger Treffpunkt war seit 1988 das »Klubhaus der Werktätigen«. Dort tauschten Antragsteller »Erfahrungen« – das MfS setzte den Begriff in Anführungszeichen – aus. 35 Seit dieser Zeit beschäftigte die Kreisdienststelle des MfS der schon erwähnte Personenkreis um das Ehepaar Stoll, das im OV »Bus« erfasst war. Aus dieser Gruppe hatten sich einige Antragsteller an der Planung einer »Demonstra31 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 126. 32 Protokoll Erfahrungsaustausch zu Fragen der Durchsetzung der DA 2/88 bzw. der RVO, 25.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 174. 33 Berichterstattung; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 523. 34 Berichterstattung zur kollektiven Beratung beim Leiter der BV, 13.3.1989; ebenda, Bl. 520. 35 BKG: Berichterstattung zur kollektiven Beratung beim Leiter der BV, 24.2.1989; ebenda, Bl. 518–534, hier 529.
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tivhandlung« am 1. Mai 1988 beteiligen wollen, was bereits im Vorfeld mittels »Einleitung von EV [Ermittlungsverfahren] mit Haft über Zuführungen zur DVP [Deutschen Volkspolizei] bis hin zu Disziplinierungen durch die Abteilung Innere Angelegenheiten« 36 verhindert werden konnte. Die Teilnahme von Antragstellern, darunter zwei Familien aus Halberstadt, an einer Gerichtsverhandlung im Sommer 1988 wurde ebenfalls von der Staatssicherheit verhindert. Alle diese Aktionen sollten jedoch außerhalb der Kreisgrenzen stattfinden. Weder im Landkreis Halberstadt noch in der Kreisstadt traten Antragsteller im Sommer und Herbst 1989 relevant in Erscheinung, sie waren dort ebenso wenig präsent, wie sie es das ganze Jahrzehnt über gewesen waren. Das Straßenbild in Halberstadt änderte sich bis zum Herbst 1989 kaum. »Symbolträger« waren nur selten zu sehen und wenn, dann flüchtig und ohne größere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Entstehung einer vorrevolutionären Situation in der Art der Rückkehr zur »Straßenpolitik«, wie sie für große Teile der DDR im Frühherbst 1989 richtig beschrieben wird, trifft auf den Kreis Halberstadt in dieser Weise nicht zu. 37Hier hatten Staat und Partei zunächst noch nicht die Kontrolle über die Straßen und Plätze verloren. Dagegen standen sie einem veränderten Verhalten der Antragsteller und anderer Bürger relativ hilflos gegenüber. Im Sommer und Herbst 1989 stiegen hier die Zahlen von Antragstellern und die der sogenannten Botschaftsbesetzer besonders schnell an. Sie lagen im Kreis Halberstadt über denen anderer Kreise des Bezirkes Magdeburg. Die Fluchten und Botschaftsbesetzungen waren in aller Munde, in den Geschäften und am Arbeitsplatz wurde offener miteinander geredet als je zuvor. In den halböffentlichen Räumen der Kirche formulierten seit Oktober 1989 Besucher bisher unerhörte Kritik an der Staats- und Parteiführung, selbst die kommunalen Funktionäre waren öffentlicher Kritik ausgesetzt. Und die Antragsteller hielten sich auch nicht mehr an die von der Staatssicherheit direkt und indirekt formulierte Auflage, ihre Antragstellung weder in der Nachbarschaft noch unter Kollegen publik zu machen. Solche Verletzungen von »Spielregeln«, die seit Jahrzehnten in der DDR bestanden hatten, fanden seit dem Beginn des Jahres 1989 in allen Kommunen, in den Betrieben und staatlichen Einrichtungen statt. 38 Ohne diesen Ungehorsam wäre es nicht zum Sturz des Regimes gekommen. 36 Berichterstattung zur kollektiven Beratung beim Leiter der BV v. 13.3.1989; ebenda, Bl. 524. 37 Vgl. Gieseke: Der entkräftete Tschekismus. In: Sabrow (Hg.): 1989 und die Rolle der Gewalt, S. 59 u. 66. Gieseke bezieht sich hier begrifflich auf Lindenberger: Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der öffentlichen Ordnung. 38 Vgl. Gehrke; Hürtgen: Die demokratische Revolution in der DDR und die Rolle der Betriebsbelegschaften. In: Seeck (Hg.): Das Begehren, anders zu sein, S. 234–265. Selbst in militärischen Einrichtungen fanden im November 1989 »unvorstellbare« Dinge statt: spontane Meinungsäußerun-
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Dass die Stimmung unter den Halberstädter Antragstellern im Jahr 1989 zwischen Mut und Verzweiflung schwankte, hing maßgeblich damit zusammen, dass der staatliche Umgang mit ihnen immer widersprüchlicher wurde. 39 Das betraf zum einen die Genehmigungen, welche im April 1989 noch »differenziert« gehandhabt und auf das »notwendige Maß beschränkt« werden sollten. Grundlage dafür war eine am 23. März 1989 von Erich Mielke an alle Bezirksleiter des MfS telegrafierte Weisung, strengste Maßstäbe für Übersiedlungsgenehmigungen anzulegen. 40 Jedoch bereits im Juni des gleichen Jahres wies die Magdeburger Bezirkskoordinierungsgruppe des MfS alle Diensteinheiten an, »bis Ende 1989 zwischen 25 % und 30 % des vorhandenen Bestandes an ASTA im jeweiligen Verantwortungsbereich konsequent durch die Erarbeitung von Vorschlägen zur ständigen Ausreise aus ›politisch-operativen‹ Gründen abzubauen«. 41 Zur Reduzierung des Konfliktpotenzials sollte nun Tabula rasa gemacht werden, selbst jene, denen eine endgültige Ablehnung bereits ausgesprochen worden war, wurden von den Kreisen in die Vorschlagslisten aufgenommen. Ebenso undurchschaubar musste den Antragstellern die Genehmigungspraxis nach Inkrafttreten der neuen Reiseverordnung (RVO) im Januar 1989 bleiben. Dass mit ihr zum ersten Mal ein Antrag auf Ausreise ins kapitalistische Ausland »aus humanitären Gründen« legalisiert wurde, war, gemessen an dem bisher herrschenden rechtlosen Zustand, ein großer Fortschritt, der, wie die Zunahme von Erstanträgen zeigte, auch bei Bürgern aus dem Kreis Halberstadt Hoffnungen auf eine positive Bearbeitung weckte. Rückblickend war diese Verordnung, in der zudem noch Entscheidungs- und Bearbeitungsfristen geregelt waren, eine Begründungspflicht für ablehnende Bescheide eingeführt und das Rechtsmittel der Beschwerde gegen die Entscheidung des Leiters der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises möglich wurden, eine gen, Pinnwände in den Korridoren und Forderungspapiere mit namentlichen Unterschriften. Vgl. Eichner: Aufstand am Monarchenhügel. Der Aufbruch im Herbst 1989 im MfS – Ängste und Hoffnungen. In: Spurensicherung IV: Niedergang der DDR. Ehrlich gekämpft und verloren. Hg. Unabhängige Autorengemeinschaft, »So habe ich das erlebt.« Schkeuditz 2002, S. 187–190, hier 187. Zit. bei: Gieseke: Der entkräftete Tschekismus, S. 77. 39 Selbst inoffizielle Mitarbeiter empörten sich über das Chaos, das die Behörden gegenüber den Antragstellern veranstalten würden. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 161, Bl. 8–11. Die Weisungen, wie mit den Antragstellern umzugehen sei, blieben unklar; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 62, Bl. 97 ff. 40 Als Adressat ausgenommen war Berlin. Vgl. Erich Mielke: Zum weiteren Vorgehen bei der offensiven Unterbindung und Zurückdrängung weiterer Versuche zur Erreichung der Übersiedlung sowie bei der zügigen Realisierung von zentral festgelegten Maßnahmen zur Übersiedlung; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 349–355. 41 BKG an Diensteinheiten, 9.6.1989, BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 153 f.
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»juristische Wende« vor der politischen. 42 Die praktische Handhabung des Gesetzes durch den Rat des Kreises ließ diese Dimension der neuen Rechtslage jedoch nicht erkennen: Ablehnungen bzw. Genehmigungen wurden für die Betroffenen ebenso willkürlich ausgesprochen wie vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung. Was als »humanitäres Anliegen« galt, lag weiterhin in der Entscheidungsmacht der Staatssicherheit. 43 Die Abgelehnten misstrauten offensichtlich vielfach dem angebotenen Rechtsweg einer Beschwerde und versuchten, ihr Anliegen auf eigene Faust durchzusetzen. Unter ihnen registrierte die Kontrollgruppe des MfS des Bezirkes Magdeburg zahlreiche Botschaftsbesetzer. 44 Die Zuständigen in den Kreisdienststellen des MfS standen angesichts der Legalisierung einer bisher rechtswidrigen Handlung, zu deren Verfolgung und Zurückdrängung sie aufgefordert waren, vor einigen Problemen. Diese waren angesichts eines erheblichen Aufwandes an schriftlich zu verfassenden Begründungen für eine Ablehnung nicht nur formaler Natur, sie betrafen das Selbstverständnis des Sicherheitsapparates im Umgang mit den Antragstellern. Gewohnt, die wechselnden Anweisungen des »Genossen Minister« widerspruchslos zu erfüllen, stellten die neue Reiseverordnung und eine seit 1988 geltende politische Linie der unbedingten »Rückgewinnung« von Antragstellern die örtlichen Sicherheitsorgane vor bisher unbekannte Herausforderungen. In allen Wechselfällen interner Anordnungen hatte als zentrale Aufgabe für die Staatssicherheit immer die »operative Wachsamkeit« gegenüber den rechtswidrigen Antragstellern gestanden, die in hartnäckigen Fällen zur Disziplinierung, »Zersetzung« und Inhaftierung führte. Nun aber standen sie einem Antragsteller gegenüber, der sich im Rahmen der geltenden Rechtsnormen bewegte. 45 Wie schwer es den Mitarbeitern des MfS gefallen sein muss, diese Wendung im Umgang mit den Antragstellern zu vollziehen, machen ungewöhnliche 42 Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland, verabschiedet von der Volkskammer der DDR am 30.11.1988. Zeitgleich wurde ein »Gesetz über die gerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen« verabschiedet, welches zum ersten Mal nach 1952 wieder eine Verwaltungsgerichtsbarkeit für die DDR einführte. 43 Vgl. Lageeinschätzung nach Inkrafttreten RVO sowie Erfahrungsaustausch zur Durchsetzung der RVO; BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 1, Bl. 1 ff. u. 13 ff. »Die Antragsteller, die vor Inkrafttreten der neuen Reiseverordnung bekannt waren, geben die gleichen Begründungen, wie in den Vorjahren an. Sie gehen überwiegend davon aus, dass ihnen durch die RVO die Ausreise ermöglicht werden muss. Nach eigener Auffassung würde für sie der § 10, Abs. 3 – humanitäre Gründe – zutreffen.« Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, 13.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99. 44 Vgl. BKG Magdeburg an alle Diensteinheiten. 9.6.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 153 f., sowie BKG: Lageeinschätzung zu ASTA nach Inkrafttreten der RVO, 10.3.1989; ebenda, Bl. 180–190. 45 Zudem sollte ein nach der Rede von Erich Honecker eingeleiteter Kurs der verständnisvollen »Rückgewinnung unserer Bürger« durch eine »breite gesellschaftliche Front« den Ton gegenüber den Antragstellern verändern. Vgl. dazu Kapitel 7.1 in diesem Band.
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Bemerkungen im Anschluss an einen Erfahrungsaustausch zwischen Leitern von Diensteinheiten des MfS aus den Bezirken und Kreisen zu »Fragen der Durchsetzung der Dienstanweisung 2/88 des Genossen Minister bzw. der RVO« deutlich. Der 1. Stellvertreter des Leiters der Bezirksverwaltung Magdeburg, Oberst Hille, forderte dazu auf, angesichts der Umsetzung der Dienstanweisung (DA) nicht zu resignieren. »Allen Mitarbeitern ist politischideologisch klarzumachen, dass sich diese Prozesse im Rahmen der großen Politik abspielen und wir müssen uns stets der Forderung des Genossen Minister stellen, die Politik von Partei und Regierung zu unterstützen und nicht zu stören.« 46 Neben den seit dem Frühjahr 1989 angeworbenen sogenannte Kontaktpersonen (KP), die keine IM waren, aber dennoch Informationen aus »operativbedeutsamen Zusammenschlüssen« meldeten, war in den Betrieben ein ganzes Heer von Beauftragten – oft im Rahmen eines Parteiauftrages – eingesetzt worden, das die Rückgewinnungsgespräche intensivieren sollte. Zu Beginn des Jahres 1989 lassen die Akten eine geradezu hektische Betriebsamkeit im Rat des Kreises Halberstadt erkennen. Es gelte, die Verfügung des Vorsitzenden des Ministerrates zu verwirklichen und die staatlichen Leiter anzuweisen, die politisch-ideologische Einflussnahme auf die Antragsteller zu verstärken. 47 Neue »Betreuer und Kräfte« seien zu gewinnen und mit schlagkräftigen »Argumentationen vertraut zu machen«. Es wurden sogar neue Planstellen in den Betrieben und Einrichtungen geschaffen, um die Arbeit der Betriebsleiter mit den Antragstellern zu unterstützen. 48 Das Berichtswesen wurde noch exzessiver gestaltet, seit Mai 1989 mussten die Betriebsleiter aller wichtigen Betriebe des Kreises einmal im Monat zusammenkommen und Rechenschaft ablegen. 49 Und dies alles zu einem Zeitpunkt, an dem der Eifer der »gesellschaftlichen Kräfte« erheblich nachgelassen hatte, worüber auch eine positiv formulierte Kritik des Vorsitzenden des Rates des Kreises nicht hinwegtäuschen konnte. 46 BKG: Protokoll zum Erfahrungsaustausch zu Fragen der Durchsetzung der DA 2/88 des Genossen Minister bzw. der RVO, 25.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 1, Bl. 6. Vgl. die MfS-DA 2/88 zur Zurückdrängung von Antragstellungen auf ständige Ausreise nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin sowie zur vorbeugenden Verhinderung, Aufklärung und Bekämpfung damit im Zusammenhang stehender feindlich-negativer Handlungen, 10.12.1988; BStU, MfS, BdL/Dok., Nr. 5355, Bl. 1–66. 47 Vermerk, 23.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. 48 Vermerk, 13.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99. Im Mai 1989 werden die Bürgermeister aller Gemeinden angewiesen, Arbeitsgruppen zu gründen, dies ging auf eine Anweisung von 1987 zurück. Rat der Stadt Osterwieck, 2.5.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99. Zur Gründung kam es jedoch nicht mehr. 49 RdK, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, 15.3.1989; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag. Vgl. auch Berichterstattung verschiedener Betriebe; Archiv RdK Halberstadt, Abt. I A, Sachgebiet Genehmigungswesen, Sign. 99, o. Pag.
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»Durch politisch offensive Arbeit«, teilte er der Kreisdienststelle des MfS mit, »sind bei den Leitern und Arbeitskollektiven Haltungen zur alternativlosen Notwendigkeit des Hierbleibens der Antragsteller und ihrer Wiederverwurzlung in unsere Gesellschaft noch stärker als bisher auszuprägen und zur durchgängigen Auffassung zu machen.« Doch statt eines Aufschwungs der »Arbeit mit den Übersiedlungsersuchen« erlahmte die »gesellschaftliche Front«; selbst die IM-Basis wurde inzwischen als unsicher eingeschätzt. Man traute den inoffiziellen Mitarbeitern sogar zu, dass sie bei einer Besuchsreise im Westen verbleiben würden, weswegen die Genehmigungen »auf Privatreisen von IM sehr sorgfältig zu prüfen« seien. 50 Zudem erreichten die Kreisdienststelle Informationen von IM, die interessiert und sogar begeistert über die friedlich ablaufenden »Gebete für unser Land« berichteten. 51 Die Berichterstatter der Kreisdienststelle des MfS standen den neuen Formen einer Rekrutierung von Informanten – eben jenen Kontaktpersonen (KP) – äußerst skeptisch gegenüber: Es sei sehr schwierig, KP in den Kreis der Antragsteller hineinzubringen, zudem sei ihr »operativer Nutzen« fraglich. 52 Ein derart laut geäußerter Zweifel an der Politik des Ministers hat wahrscheinlich die Kritiker selbst erschreckt. Er gehörte in jener Zeit zu einem an verschiedensten Stellen im Sicherheitsapparat und als Reaktion auf neue innen- und außenpolitische Konstellationen nachgewiesenen Orientierungsverlust unter den Funktionären. 53 Tatsächlich hatte das Feindbild der Staatssicherheit seine klaren Konturen verloren: Die »Ausreisewilligen« sollten nun nicht mehr per se und mehrheitlich zu den feindlichen Kräften gerechnet werden, es war differenziert mit ihnen umzugehen. Allerdings verschwand damit nicht die Funktion des MfS als »Schild und Schwert der Partei«, das »operative« Interesse richtete sich lediglich auf andere Objekte. Im Bereich »Flucht und Ausreise« wurden nun die Botschaftsbesetzer und jene Antragsteller zu feindlichen Kräften erklärt, die sich in Kirchen und anderen Räumen versammelten, um ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Dass solche ideologischen Umorientierungen der offiziellen Politik zu Irritationen und zur Orientierungslosigkeit führten, bei einigen sogar »Zweifel an der Führungstätigkeit der Partei« aufkommen ließen, bestätigen die Äußerungen der staatlichen Funktionäre im Kreis Halberstadt. 54 50 BKG: Protokoll zum Erfahrungsaustausch, 25.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 176. Vgl. Süß: Staatssicherheit am Ende. 51 Vgl. Gebet für unser Land, 20.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 296 (IMS »Helga Bach«), Bd. 1, Bl. 400–407. 52 Protokoll zum Erfahrungsaustausch, 25.4.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 176. 53 Vgl. Gieseke: Der entkräftete Tschekismus, S. 67–69. Seine bevorzugten Quellen sind die zentralen Berichterstattungen des MfS an das Politbüro. 54 Ebenda, S. 61.
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Aber es waren nicht allein die veränderten ideologischen Prämissen im Umgang mit den Antragstellern, nicht zuvörderst das sich in seinen klaren Konturen auflösende Feindbild des »vom Westen indoktrinierten« Antragstellers, die eine Krise im Selbstverständnis der Sicherheitsorgane herbeiführten. Die offiziellen und inoffiziellen Funktionäre der Staatssicherheit an der Kreisbasis fühlten sich im letzten Jahr der DDR in Bezug auf die Antragsteller von ihrer Führung im Stich gelassen. Gewohnt, stets die Befehle auszuführen, die von oben kamen, mussten sie feststellen, dass sie mit den Problemen alleingelassen wurden. Nicht einmal brauchbare Argumentationshilfen wurden den SEDGenossen vor Ort zur Verfügung gestellt. Dieser führungslose Zustand war der entscheidende Grund dafür, dass die Loyalität gegenüber Erich Mielke und Erich Honecker selbst unter den treuesten Tschekisten schlagartig nachließ. Dem eigenen Selbstverständnis zuwiderlaufende Weisungen befolgen zu müssen, Anordnungen, die nicht den eigenen Vorstellungen von der Sache entsprachen, hatte das Heer der Mitarbeiter jahrzehntelang nicht erschüttert – aber von der Führung nicht zu erfahren, wie mit einem für sie entscheidenden Problem umgegangen werden soll, deutete auf das Ende eines zentralistischautoritären Regimes hin. Im Sommer und Herbst 1989, zu einer Zeit, in der Tausende DDR-Bürger flüchteten und sich die Zahl der Antragsteller dramatisch erhöhte, waren die Ausreiser erstaunlicherweise tatsächlich kein Themenschwerpunkt in der zentralen Berichterstattung der Staatssicherheit an das Politbüro. Dies deckt sich mit Aussagen des ehemaligen stellvertretenden Bezirkssekretärs der SED in Berlin, Helmut Müller, der in einem Interview davon sprach, dass bis Ende August 1989 »Schweigen im Politbüro« herrschte. Im September des Jahres sei zum ersten Mal überhaupt im Zentralkomitee der SED und in Abwesenheit von Erich Honecker das »Ausreiserproblem« diskutiert worden. Allerdings mit keinerlei Konsequenzen und ohne irgendwelche Beschlüsse zu fassen, denn vor dem 40. Jahrestag – so hätte es geheißen – können wir »nicht die Hosen runterlassen«. 55 Die wichtigsten Themen, über die die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG) informierte, waren die Vorgänge in den Kirchen und die Bildung der neuen Oppositionsgruppen. 56 Auch im Kreis Halberstadt lag 1989 der Schwerpunkt der »operativen Arbeit« bei der Überwachung und Zerschlagung von oppositionellen »Zusammenschlüssen« in Kirchenräumen, ungeachtet der Tatsache, dass dies nur eine Handvoll Personen betraf, deren Aktionsgebiet in Wernigerode oder Magde55 Vgl. das Gespräch mit Helmut Müller, 2. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, seit 1976 Mitglied des ZK der SED, am 7.3.2011. 56 Münkel: Die DDR im Blick der Stasi 1989. In: APuZ 21–22/2009, 18.3.2009, S. 26–32, hier 28. Es handelt sich um die geheimen Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) der Staatssicherheit an die SED-Führung. MfS und Polizei übten sich in Abwehr von Demonstrationen und der Zerschlagung von »Zusammenschlüssen«.
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burg lag. Selbst individuelle öffentlichkeitswirksame Handlungen im Kreis Halberstadt wie das Anbringen weißer Fähnchen an den Autos hielten sich in Grenzen und konnten rasch eingedämmt werden. Das alles dominierende Problem war für die örtlichen Behörden die anwachsende Flut von Antragstellern und Flüchtenden. Die Zuständigen in den Bezirken und Kreisen sahen dem hilflos zu und konnten bald nicht einmal mehr ihrer Registrierungspflicht ordnungsgemäß nachkommen. Immer mehr Halberstädter blieben bei einer Besuchsreise im Westen, flüchteten über Botschaften oder »erpressten« die Behörden mit einer Botschaftsbesetzung. Die positive Erfahrung der Erfolgreichen spräche sich herum und führe unverzüglich zu »Nachahmern«, wie es in der Sprache der Staatssicherheit hieß. Für den Umgang mit diesen sogenannten neuen Anforderungen standen den Sicherheitsverantwortlichen in den Bezirken und Kreisen keine Handlungsoptionen zur Verfügung, sie waren mit den Folgen der zentralen Entscheidung, »aus politischen Erwägungen Erpressern kurzfristig die Ausreise zu genehmigen«, alleingelassen. 57 In den Berichten der Bezirksverwaltung Magdeburg und der Kreisdienststelle Halberstadt des MfS spiegelt sich diese fatale Situation wider. Zunächst fällt die Kontinuität auf, in der die Berichterstattungen, die Analysen und Planungen, die Antragsteller betrafen, angefertigt wurden. 58 Nichts deutet darauf hin, dass die Staatsmacht, einschließlich der Staatssicherheit, im Sommer 1989 damit gerechnet hatte, es könne sich in absehbarer Zeit Wesentliches für ihre Arbeit ändern. In aller Ruhe wurden für jeweils Juni und Oktober 1989 ein Informations- und Erfahrungsaustausch aller Sicherheitsorgane im Bezirk Magdeburg vorbereitet, auf dem eine qualifizierte Lageeinschätzung zu den Antragstellern gegeben werden sollte. Offensichtlich meinte man, Zeit zu haben, die Antragstellerproblematik in den Griff zu bekommen. 59 Noch im Juli 1989 scheint das größte Problem der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS darin bestanden zu haben, eine genaue Erfassung der Botschaftsbesetzer und die »zügige Abwicklung ständiger Ausreisen von Strafgefangenen in die BRD« zu sichern.60 Die gleiche »Normalität« kennzeichnete den Umgang staatlicher Stellen mit der Problematik der Antragsteller. Im Oktober 1989 ging an alle Räte der Kreise die Aufforderung, die Mitarbeiter der Abteilung Genehmigungswesen mögen eine höhere Qualität ihrer Arbeit
57 BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, AKG, Nr. 63, Bl. 592. 58 Dieselbe Kontinuität stellt Daniela Münkel für die Berichterstattung der ZAIG an das Politbüro fest. Vgl. Dies.: Die DDR im Blick der Stasi 1989. In: APuZ 21–22/2009, 18.3.2009, S. 26–32, hier 28. 59 BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 534. 60 BKG Magdeburg an alle Diensteinheiten, 26.7.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 150 f.
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erreichen, die Begründungen für eine Genehmigung seien häufig unvollständig. 61 Dem aufmerksamen Leser der Akten entgeht jedoch nicht, dass trotz kontinuierlicher ordnungsgemäßer Abfassung die Berichte über »Stimmungen und Meinungen« der Halberstädter Bevölkerung seit dem Sommer 1989 wesentlich kritischer ausfallen als zuvor. Dies war einerseits ursächlich mit dem Umstand verbunden, dass in den halböffentlichen und öffentlichen Räumen die Bevölkerung offener redete, was auch der Staatssicherheit zu Ohren kam. 62 In den Berichten vom Sommer und Herbst 1989 können sich die Informanten auf Gespräche stützen, welche nicht hinter verschlossenen Türen, sondern in Gaststätten, auf Fluren und in den Räumen der Kirchen – hörbar für alle – geführt worden waren. Auf diese Weise erfuhr das MfS Halberstadt solche klaren Worte wie: »Spitzenfunktionäre, namentlich der 1. Sekretär der SED, Gen. Winkler, hätten nur gelogen und ohnehin keine Verbindung mehr zum Volk« und auch, dass man eine Arbeitsniederlegung nicht ausschließe. Im Laufe einer weiteren Diskussion in der Kirche wird dem Vorsitzenden des Rates des Kreises Korruption und Vorteilsnahme vorgeworfen, zudem tue er nichts für Halberstadt. Das waren entscheidende Gründe dafür, dass sich der Wahrheitsgehalt der geheimdienstlichen Informationen über die Stimmung unter der Bevölkerung erhöhte, allerdings ohne dass dies noch Konsequenzen für den weiteren Verlauf der Ereignisse gehabt hätte. 63 Andererseits vertraten die offiziellen und inoffiziellen Zuträger nun deutlicher als zuvor ihre eigene kritische Meinung, was ebenfalls den Ton der Berichterstattungen veränderte. Insofern sagen diese Berichte im letzten halben Jahr der DDR einiges über die tatsächliche Stimmung unter der Halberstädter Bevölkerung aus, sehr viel mehr noch, welche Veränderungen sich an der Basis der Staatssicherheit und unter den SEDGenossen seit dem Sommer 1989 vollzogen haben. Die Funktionäre nutzten ihre wöchentlichen »Einschätzungen zu Stimmungen, Meinungen und Reaktionen der Bevölkerung des Kreises Halberstadt« dafür, ihre eigenen Kritikpunkte oder Zweifel bzw. die der befreundeten »Genossinnen und Genossen« nach oben zu melden. 64 61 Rat des Bezirkes an Abt. I A; BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG Magdeburg, Sign. Nr. 11708, Bl. 105. 62 Berichte zu Stimmungen und Meinungen 1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 12. 63 Vgl. z. B. Information, IMS »Robert«, 27.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 285 f. 64 Dass die Berichterstattungen der IM zu größten Teilen aus ihren eigenen Bewertungen der Zustände bestanden bzw. aus dem, was ihnen »Genossen« und »Genossinnen« erzählten, gilt generell. Insofern sind die ZAIG-Berichte, die sich letztlich aus den komprimierten Informationen dieser IM zusammensetzten, sehr kritisch bezüglich ihres Aussagewertes über die Meinung in der DDRBevölkerung zu bewerten. Dies scheint mir nicht immer ausreichend getan worden sein. Siehe Münkel: Die DDR im Blick der Stasi 1989. In: APuZ 21–22/2009, 18.3.2009, S. 26–32, sowie Gieseke:
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Es ist zunächst die Sprache, die verrät, dass hier nicht bevorzugt die Meinung der Halberstädter Bevölkerung zitiert wurde: »Immer häufiger wird, und dies vor allem von Angehörigen der medizinischen und technischen Intelligenz des Kreises, die Frage aufgeworfen, ob das Bündnis des sozialistischen Lagers noch so stark ist, um der weiteren Unterwanderung aus dem Westen gewachsen zu sein?«, heißt es in einem der Berichte, welche seit April 1989 wöchentlich vom Leiter der Kreisdienststelle Halberstadt an die Bezirkseinsatzleitung des MfS geschickt werden mussten. Produktionsarbeiter des RAW Halberstadt sowie des Gleitlagerwerks Osterwieck hätten die folgenden Bedenken zur Lage in Polen: »Was dort geschieht ist nicht im Sinne des Aufbaus einer sozialistischen Gesellschaft, dieser Weg muss zum Scheitern führen, einen dritten Weg gibt es nicht.« 65 Hier wird der Halberstädter Bevölkerung von den Informanten der Kreisdienststelle des MfS in den Mund gelegt, was sie selbst in diesen Tagen erschütterte: »Spätestens nach dem Ableben von Lenin muss doch vieles schiefgelaufen sein – die Probleme in Polen, Ungarn und Sowjetunion [zeigten doch], dass am System des Sozialismus zumindest etwas falsch gemacht wird. – Wir müssen doch etwas falsch machen, der Sozialismus ist nicht attraktiv genug.« 66 Und auch jene Stimmen, die ein härteres Vorgehen gegen antisozialistische Tendenzen fordern (»Jetzt melden sich schon die ersten oppositionellen Kräfte zu Wort und wollen ein ›Neues Forum‹ gründen, das war richtig vom Innenminister dies zu untersagen.«), sind mit hoher Wahrscheinlichkeit aus den eigenen Reihen gekommen. 67 Wenn die Berichterstatter melden, dass »die Menschen jetzt anfangen zu zweifeln«, so kolportieren sie ihre eigene Stimmungslage, nicht die der schon lange Zweifel hegenden Bevölkerung. 68 Zugleich enthalten diese Meldungen vom Sommer und Herbst 1989 verschiedenste Beschreibungen von zum Teil skandalösen Vorfällen in der Wirtschaft und bezüglich der Versorgung des Kreises. Deren Neuigkeitswert war sicher gering; nun aber wurden sie mit sehr grundsätzlichen Einschätzungen,
»Seit langem angestaute Unzufriedenheit breitester Bevölkerungskreise« – Das Volk in den Stimmungsberichten des MfS. In: Henke (Hg.): Revolution und Vereinigung 1989/90, S. 130–148. 65 Wöchentliche Einschätzung, 11.7.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 12, Bl. 202 f. Sämtliche Berichte sind im Telegrammstil verfasst, diese Schreibweise sowie Druck- und Rechtschreibfehler sind korrigiert. 66 Wöchentliche Einschätzung, 1.8.1989; ebenda, Bl. 194 f. Sämtliche Berichte sind im Telegrammstil verfasst, diese Schreibweise sowie Druck- und Rechtschreibfehler sind korrigiert. 67 Wöchentliche Einschätzung, 26.9.1989; ebenda, Bl. 163. Sämtliche Berichte sind im Telegrammstil verfasst, diese Schreibweise sowie Druck- und Rechtschreibfehler sind korrigiert 68 Wöchentliche Einschätzung, 8.8.1989 (Herv. R. H.); ebenda, Bl. 191. Sämtliche Berichte sind im Telegrammstil verfasst, diese Schreibweise sowie Druck- und Rechtschreibfehler sind korrigiert.
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das Überleben der DDR-Wirtschaft und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe betreffend, verbunden. Den größten Raum aber nehmen jene Stimmen und Meinungen ein, die sich voller Empörung gegen die mangelhafte Informationspolitik von Partei und Regierung wenden, namentlich bezogen auf die seit dem Sommer 1989 allgemein diskutierte Flüchtlings- und Ausreisewelle. Warum sagen unsere Medien nicht die Wahrheit? Warum werden nur schöngefärbte Erfolgsmeldungen gebracht? Warum schweigt die Regierung? »Was man erwarten kann, ist doch wohl eine Regierungserklärung zur Gesamtsituation und nicht ein Dankschreiben zum Abschluss der Getreideernte.« 69 Diese scharfe Kritik an den fehlenden Informationen zu den Massenfluchten und Antragstellern wiederholt sich in fast allen Berichten seit dem Sommer 1989: »Wie lange will sich unsere Regierung noch ausschweigen zu den Massenfluchten über Ungarn. Will man den DDR-Bürger für dumm verkaufen oder warum gibt es keine Erklärungen?« 70 Die Werktätigen des VEB Gleitlagerwerk Osterwieck werden mit den Worten zitiert: »Warum schweigt unsere Regierung zu den Massenfluchten oder kommt es Erich Honecker entgegen, nun sein Versprechen, Lösung des Wohnungsproblems, einhalten zu können?« 71 Mit Vorliebe versteckten sich die inoffiziellen Berichterstatter hinter einem Anonymus, etwa, wenn sie wohl ihre eigenen Hoffnungen auf eine Entwicklung wie in der UdSSR artikulieren: »In diesem Zusammenhang äußert man, dass dies erst der Fall sein wird, wenn unsere ›alte Regierungsgarde‹ abtritt.« 72 Fraglos trafen sich hier die Forderungen nach »Glasnost«, nach einem offenen Umgang der Funktionäre mit der Situation im Land und einer kritischen Medienpolitik, wie sie in Hunderttausenden von Eingaben und Beschwerden in diesen Monaten an Partei, Staat und Gewerkschaften gerichtet wurden, mit der Empörung Halberstädter Funktionäre der Staatssicherheit über ihren obersten Dienstherrn, der sich ausschwieg. »Unsere Genossen stehen ohnmächtig in ihren Argumentationen da, oben scheint es auch so zu sein. […] Warum wissen Genossen oder andere Funktionäre keine Antworten? Der FDJ-Sekretär sagt zum Beispiel, er habe von der Kreisleitung noch keine Hinweise erhalten. […] Insbesondere auch unter den Genossen wird kritisch festgestellt, dass unser ZK nicht reagiert. Wir an der Basis haben alles auszubaden!« 73
Doch in ihrem Ruf nach einem offenen Wort stecken auch Zweifel und die Angst davor, dass Erich Mielke und Erich Honecker nicht mehr wissen könn69 Wöchentliche Einschätzung, 29.8.1989; ebenda, Bl. 179. 70 Wöchentliche Einschätzung, 5.9.1989; ebenda, Bl. 177. 71 Wöchentliche Einschätzung, 29.8.1989; ebenda, Bl. 180. 72 Information zu Stimmungen/Meinungen (GMS »Jürgen Peter«), 25.7.1989 (Herv. R. H.); ebenda, Bl. 1. 73 Wöchentliche Einschätzung, 8.8.1989, 29.8.1989, 12.9.1989; ebenda, Bl. 171, 178, u. 192.
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ten, was zu sagen und zu tun sei. 74 Erst durch diesen führungslosen Zustand, der auf die beschriebene Orientierungslosigkeit traf, gerieten die Funktionäre in den Bezirken und Kreisen, namentlich die des Staatssicherheitsdienstes, in eine tiefe Idenditätskrise. An der IM-Basis derer, die mit der »operativen« Überwachung der Antragsteller im Kreis Halberstadt befasst waren, zeigte sich diese Krise in einer geradezu dramatischen Art und Weise. Eine Reihe von inoffiziellen Mitarbeitern lieferte offensichtlich keine Berichte mehr an ihre Führungsoffiziere; die Akten endeten abrupt im Sommer 1989, die IM kamen einfach nicht mehr zum vorgesehenen Treffen. Andere aber meldeten sich bis Anfang November bei ihren Vorgesetzten in einer bisher nie gesehenen kritischen Berichterstattung zu Wort, deren analytischer Gehalt meist jedoch zweifelhaft ist. Die Kritik richtete sich an die Führung, die versagt habe. »Ich meine, dass unser Staat unsere Bürger in der UVR in der dort eingetretenen Situation alleingelassen hat. Dadurch hatten die Vertreter der BRD leichte Arbeit, unsere Bürger zum Verlassen der DDR zu bewegen. Vertreter des Außenministeriums hätten genauso massiert auftreten müssen, um unsere Bürger vor dem Auftreten der BRD-Leute zu schützen. Wo wir nicht ideologisch arbeiten, da ist der Gegner, da ist der Feind! Nichts Neues! Viele DDR-Bürger hätten bestimmt unsere Hilfe gebraucht, auch finanziell und materiell, um wieder nach Hause gehen zu können.« 75
Andere Einschätzungen der Lage an der ungarischen Grenze sind weniger einfältig, sie kaprizieren sich jedoch fast ausnahmslos auf eine misslungene ideologische Erziehung namentlich der Jugendlichen, die nun das Land in großer Anzahl verlassen wollten. Und in jedem zweiten Bericht zum Thema wird die nicht etwa rhetorische Frage danach gestellt, warum nur so viele Menschen die DDR verlassen wollen. »Niemand kann so richtig verstehen, warum so viele DDR-Bürger ihre Autos, Wohnung, ihren Besitz in der DDR zurücklassen und in die BRD gehen.« 76 Hier wird nicht mehr das Feindbild bemüht, geblieben ist jedoch das Bild vom unaufgeklärten und verführten Mitmenschen. Es werden zu diesem Zweck Stimmungen und Meinungen von 74 Die »Genossen« der Volkspolizei des Gruppenpostens Osterwieck bringen es auf den Punkt: Die Regierung solle endlich Stellung beziehen und die Versager seien zur Verantwortung zu ziehen. Es fehle eine »klare parteiliche Stellungnahme mit einem ordentlichen Konzept«. Wöchentliche Einschätzung, 22.8.1989; ebenda, Bl. 183 f. 75 Bericht v. 23.9.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. VII 881/69, Bl. 292 (IM »Siegfried Schulz«). Der IM ist Jahrgang 1934, technischer Direktor und hat an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin promoviert. 76 Information zu Stimmungen u. Meinungen, 21.8.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161, Bd. II/2 (IME »Marcus Hausschild«), Bl. 1–4, hier 1. Dennoch werden lieber Stimmen zitiert, die ihrem Ärger auch über die Antragsteller zum Ausdruck bringen: »haben hier studiert, […] laufen weg und vergessen, dass sie in der DDR soziale Sicherheit hatten. […] Warum gehen sie dennoch weg? Was haben wir in der Jugendpolitik falsch gemacht?« Wöchentliche Einschätzung, 26.9.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 12, Bl. 162.
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»Genossen« zitiert, die die Fluchten als »Abwerbung der DDR-Bürger durch die BRD« im »kalten Krieg« bezeichnet hätten. Der IM schließt seinen Bericht optimistisch: »Als Genossen sind wir bereit und zuversichtlich, den Schaden, den uns die BRD angerichtet hat, durch hohe Leistungen im Dienst und in der Freizeit wieder zu begradigen.« 77 Jene inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die bis zum bitteren Ende ihre Berichte geschrieben haben, beschäftigte im Kern die Frage danach, wie die Macht im Staat erhalten werden könne. Sie klagen »die Führung« an, diese nicht zu verteidigen, und sie stellen sich – so als wäre es das Natürlichste von der Welt – auf die Seite der Bevölkerung, die wie sie verraten wurde. 78 Sie distanzieren sich von ihren Befehlsgebern, sprechen von »Schande, sich das mit ansehen zu müssen« 79 und verbünden sich mit den »Genossen«, die ihr Parteibuch abgegeben haben und selbst mit Egon Krenz nichts mehr zu tun haben wollen: »Man kann sie aber nicht verurteilen, denn sie wurden ja wie wir im blinden Glauben gehalten.« 80 Die »da oben« haben nicht auf uns gehört, die haben »die Karre in den Sand gesetzt, haben aus Bequemlichkeit bzw. weil sie nicht kritisiert werden durften und wie Götter gehuldigt wurden und werden« versagt. Der IM »Peter Kallweit« wird in seinen weiteren Ausführungen sehr konkret und bezichtigt die örtlichen Funktionäre im Kreis Halberstadt der Korruption und Vetternwirtschaft. 81 Der IM ist Abschnittsbevollmächtigter, vor Jahren war er Parteisekretär in einem Halberstädter Betrieb gewesen. Die anderen Berichterstatter waren technische Direktoren, Gewerkschaftsvorsitzende, Kaderleiter und Inhaber anderer staatlicher Leitungsfunktionen, einige übten ehrenamtliche Funktionen in der SED aus. Es gibt in keinem dieser Berichte einen Hinweis darauf, dass die »Genossen« ein Schuldgefühl gehabt hätten, irgendein Gefühl der eigenen Verantwortung für das, was sie nun »das Dilemma« nennen. Sie distanzieren sich von der Parteiführung und der Regierung, von jeweils denen, die ihnen bis dahin die Anweisungen gegeben hatten, als wären sie nicht ein Teil dieser Herrschaftsstruktur im Kreis Halberstadt gewesen. 77 Stimmungen und Meinungen in der Abt. Feuerwehr, 28.9.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 207 (IMS »Peter Emmerich«), Bd. I/1, Bl. 270. 78 Das gleicht den Worten von Parteiveteranen: »Wenn wir die Macht behalten wollen, dann nur mit unseren Menschen …«. Wöchentliche Einschätzung, 8.8.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 12, Bl. 189. Vgl. Gieseke, der eine vergleichbare Haltung von MfS-Offizieren beschreibt, die rückblickend die Frage diskutieren, warum sie die Macht aus den Händen gegeben haben; Gieseke: Tschekisten, S. 78 f. u. 81. 79 Information zu Stimmungen/Meinungen, 14.8.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161 (IME »Marcus Hausschild«), Bd. II/2, Bl. 4. 80 Information zu Stimmungen/Meinungen, 25.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 161 (IME »Marcus Hausschild«), Bd. II/1 Bl. 77. 81 Information zu Stimmungen/Meinungen, 21.8.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 17 (IME »Peter Kallweit«), Bd. II/7, Bl. 3.
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Die Verzweiflung, die in den Texten zum Ausdruck kommt, lässt sich durchaus als Identitätskrise beschreiben. Jedoch nicht in dem Sinne, dass die sozialistische Ideologie erst schleichend und dann abrupt seit dem Sommer 1989 ihre Bindekraft verloren hätte. Der untersten Funktionärsbasis von Partei und Staatssicherheit ging ihr Selbstverständnis als Macht ausübende und stets alles im Griff habende Elite verloren, ein Selbstverständnis, das 35 Jahre lang seine Bindekraft bewiesen hatte. 82 Als das vom Neuen Forum initiierte Bürgerkomitee Mitte November in Halberstadt eine Mahnwache um das StasiGebäude am Paulsplan errichtete, mussten sie feststellen, dass sie ein leer geräumtes Gebäude bewachten. »Die Akten waren schon Tage vorher geschreddert oder nach Magdeburg transportiert worden.« Auf dem Hof lagen noch die Papierspaghetti. 83 In der Abteilung Innere Angelegenheiten des Rates des Kreises, also dort, wo die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Sommer 1989 unmittelbar mit dem Ansturm der Antragsteller konfrontiert waren, war die Situation ebenfalls mehr als desolat. Es herrschte Resignation, einige Kollegen wollten kündigen und hatten zum Ausdruck gebracht, dass sie sich nicht mehr in der Lage fühlten, ihre Arbeit ordentlich auszuführen. 84 Auch hier waren die Auflösungserscheinungen weniger ein Bestandteil ideologischer Sinnkrisen, als vielmehr Ergebnis einer nicht mehr funktionierenden Hierarchie. Die Anweisungen blieben aus oder waren in ihrer Auslegung widersprüchlich. Sie sollten Ablehnungen aussprechen, während »die da oben« Botschaftsbesetzer in den Westen entließen. 85 Zudem traten die Antragsteller selbstbewusster auf als je zuvor, ohne dass mit strafrechtlichen Konsequenzen gedroht werden durfte. Die Mitarbeiter klagten, sie würden sich lächerlich machen und unter diesen Umständen ihre Arbeit nicht fortsetzen können. Nicht die mit den Botschaftsbesetzungen und den Fluchten entstandene politische Krisensituation beschäftigt 82 Die verbreitete Einschätzung, das Regime sei an einem Zerfall der ideologischen Legitimation zugrunde gegangen, geht von der falschen Voraussetzung aus, es wäre eine solche Legitimation in der Bevölkerung breit verankert gewesen. Vor allem unter den »Genossen« und Funktionären der jüngeren Generation war das ideologische Selbstverständnis der »Aufbaugeneration« längst einem pragmatischen Verständnis als »Manager« gewichen. Zur herrschenden Elite gehören zu wollen, war unter den Funktionären, namentlich denen der Staatssicherheit, am Ende der 1980er Jahre weit verbreiteter, als einer Idee dienen zu wollen. Insofern konnte bei ihnen auch nur dieses Selbstverständnis 1989 ins Wanken geraten. Das Ausmaß eines unter der Mehrheitsbevölkerung wie unter den Funktionären der Macht tatsächlich vorhandenen Legitimitätsglaubens festzustellen, ist eine komplizierte Aufgabe, Umfragen helfen nur bedingt weiter. Vgl. zur Problematik Köhler: Marschierte der DDR-Bürger mit? Systemidentifikation der DDR-Bevölkerung vor und nach der Wende. In: Gerhardt; Mochmann (Hg.): Gesellschaftlicher Umbruch 1945–1990, S. 59–80. 83 Der Flug der Hummel, S. 81. 84 Vgl. Wöchentliche Einschätzung, 19.9.1989; BStU, MfS, AKG, Nr. 12, Bl. 185. 85 Im Rat des Kreises verhielt man sich in Sachen Ausreiser ebenso ignorant wie in der KD des MfS. Die Beschlusslage im Juni enthält auch keine Handlungsorientierungen. Vgl. BStU, MfS, BV Magdeburg, BKG, Nr. 11708.
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sie, sondern der Autoritätsverlust, den sie angesichts eines sich gerade auflösenden Staatswesens erlitten. Dieses Selbstverständnis, Teil einer bürokratischen Behördenpraxis zu sein, hatte bereits seit einigen Jahren den Ton vieler Analysen und Berichte bestimmt: In ihnen ist immer häufiger von Stellenplänen, Papierkontingenten und Leitertätigkeiten die Rede. 86 Von uns interviewte Ausreiseantragsteller berichteten von solchen seltsamen Vorgängen wie diesem, dass sich ein Mitarbeiter mit dem Genehmigungsschreiben in der Hand zu ihnen nach Hause bemühte, um die freudige Botschaft gleich selbst zu überbringen. In einer eigenartigen Symbiose hatten sich auch solche Mitarbeiter der Abteilung Genehmigungswesen, bei denen engste persönliche und inhaltliche Verbindungen zur Staatssicherheit bestanden, schon längst ihrer politischen Hülle entledigt und stöhnten nun darüber, wie schwer es ihnen gemacht werde, ihre Arbeit gut zu erledigen. Im November 1989 verließen der Leiter der Abteilung Innere Angelegenheiten, ein Sektorenleiter und etwas später die für den Bereich Genehmigungswesen zuständige Abteilungsleiterin die Behörde. 87 Nach der Maueröffnung erledigte sich zwar das Genehmigungsprozedere bei einer Besuchsreise, dennoch hatten die verbliebenen Mitarbeiter im Ordnungsamt angesichts einer zunächst anschwellenden Ausreisewelle alle Hände voll zu tun. Sie wechselten 1990 nach den ersten freien Wahlen in der DDR ihre Dienstherren, dies brachte Ungewissheiten, aber auch die freudige Erwartung auf einen neuen Anfang mit sich. Weder die unteren Funktionäre der Staatssicherheit noch die Mitarbeiter der für die Antragsteller zuständigen Abteilungen im Rat des Kreises Halberstadt haben mehrheitlich 1989 einen Zusammenbruch ihrer Weltanschauung in dem Sinne erlebt, dass ihnen langsam oder schockartig der Glaube an den sozialistischen Charakter der DDR verloren gegangen wäre. Die ideologische Grundlage ihrer Existenz in der DDR bestand für die Mitarbeiter der kommunalen Verwaltung in ihrer Funktion als »unpolitische« Staatsdiener; ihre Sinnkrise hing folglich eng mit der Auflösung dieser Strukturen zusammen. 88 Den entscheidenden ideologischen Zusammenhalt für die inoffiziellen und unteren hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit schuf deren Selbstverständnis als machthabende Elite, das mit der Handlungsunfähigkeit der Füh86 Vgl. Stand der erreichten Arbeitsergebnisse auf dem Gebiet der Übersiedlungsersuchen nach dem 16.10.1987; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 450, Bd. I/2 (IMS »Karin Ufer«), Bl. 117–126. 87 Heute ist lediglich noch die Archivarin dieser Abteilung im Rat des Kreises beschäftigt, sie leitet das Archiv der Dokumente des Rates des Kreises Halberstadt, die Anfragen kommen in Sachen Grundstücksübertragung, Erbschaften oder von Historikern. Freundlichen Dank an die Leiterin des Archivs im Rat des Kreises Halberstadt, Frau Dittrich, die sich sehr kooperativ zeigte und mir den Aktenzugang leicht gemacht hat. 88 So eine »Entpolitisierung« konnte Jens Gieseke bei zahlreichen höheren MfS-Mitarbeitern auch beschreiben. Vgl. Gieseke: Tschekisten, S. 79.
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rung zusammenbrach. Die Mitarbeiter des Rates des Kreises streiften die ideologische Hülle wie einen nassen Badeanzug ab, endlich waren sie nicht mehr zu »Handlangern einer mangelproduzierenden zentralisierten Kommandowirtschaft degradiert«, wie der erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates des Kreises Halberstadt im Februar 1990 rückblickend auf die »Arbeit mit den Eingaben der Bürger im Jahre 1989« die Situation der Staatsdiener beschrieb. 89
8.3
Die demokratische Revolution im Herbst 1989 im Kreis Halberstadt
In Halberstadt ging der entscheidende Impuls für eine revolutionäre Umwälzung von den Aktivitäten einer kleinen Gruppe in der Martinikirche aus. Sie organisierte Anfang Oktober 1989 ein erstes öffentliches »Gebet für unser Land«, zog drei Wochen später zusammen mit zahlreichen Besuchern nach dem Mittwochsgebet durch die Innenstadt und eröffnete damit das Revolutionsgeschehen. Bis dahin waren die 21 evangelischen und acht katholischen Kirchengemeinden im Kreis Halberstadt durch keinerlei aufmüpfige oder gar widerständige Aktionen aufgefallen. 90 Der IM »Elina Otte«, eine für Kirchenfragen zuständige Mitarbeiterin im Kreis, konnte bis in den Herbst hinein der Kreisdienststelle des MfS die beruhigende Meldung überbringen, dass weder die katholischen noch die evangelischen Gemeinden als Schwerpunkte der politisch-ideologischen Arbeit angesehen werden müssten. 91 Auch die örtliche SED-Kreisleitung hob hervor, dass vonseiten der Kirche keine Angriffe auf die Politik der DDR und »keine Störungen des Staat-Kirche-Verhältnisses« zu erwarten seien. 92 Von den kirchlichen Zusammenkünften im Kreis Halberstadt gingen tatsächlich keine »feindlich-negativen Auslassungen gegen den sozialistischen
89 Information über die Arbeit mit den Eingaben der Bürger im Jahre 1989, 21.10.90; Archiv RdK Halberstadt, 21. Ratssitzung 1990. 90 Es gab noch 13 Religionsgemeinschaften und Evangelisch-Freikirchliche Gemeinden im Kreis; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 50, Teil II, Bd. 8 (IMS »Elina Otte«), Bl. 170–175. Vgl. zur Rolle der Kirchen im Herbst 1989 Halbrock: Kirche und Kirchen im Vorfeld sowie in den Revolutionen. In: Florath (Hg.): Das Revolutionsjahr 1989, S. 149–164. 91 Ein solcher sogenannter politisch-operativer Sachverhalt mit strafrechtlichen Folgen war im Fall des Pfarrers Herbert Schneider zu ermitteln, der in der Gemeinde Huy-Neinstedt im Kreis Halberstadt tätig war; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 614 (OV »Huy«, Reg.-Nr. VII 1499/88). Vgl. Kapitel 6.1 in diesem Band. 92 SED-KL, Abt. Agit u. Prop.: Bericht über die Verwirklichung der Kirchenpolitik der SED im Kreis Halberstadt, 19.2.1988; LHASA MD, P 15 Halberstadt, Nr. 44829, Bl. 94.
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Staat« aus. 93 Partei und Staatssicherheit mussten nicht befürchten, dass den Antragstellern ein Angebot gemacht würde, sich unter dem Kirchendach zu sammeln. 94 Der IM »Elina Otte« berichtete regelmäßig von seinen Besuchen bei den Gottesdiensten in der Johanneskirche und der Andreaskirche, so auch im September und Anfang Oktober 1989. Die Predigten gaben keinen Anlass zur Besorgnis. Soweit sie sich politischen Themen zuwandten, waren es Aufrufe an Übersiedler, von ihrem Tun Abstand zu nehmen sowie Bitten an den Staat, sich Veränderungen nicht zu verschließen und Beschwörungen an alle, sich friedfertig und christlich zu verhalten. Der IM konnte keine gegen »unseren Staat« gerichteten Worte kolportieren, die Gottesdienste hatten bis zum September 1989 ihren ausschließlich religiösen Charakter nicht aufgegeben. 95 Die Besucher dieser Gottesdienste waren Gemeindemitglieder. Deren Haltung zu den Antragstellern und denen, die seit dem Sommer über Botschaften flüchteten, bewegte sich zwischen Unverständnis und scharfer Kritik. Anfang Oktober 1989 fing das MfS »Stimmungen« unter kirchlichen Fürsorgerinnen auf, Mitgliedern des Kirchenrates, einer Probsteifürsorgerin und Mitgliedern der Johannesgemeinde, die harte Kritik an den »Ungarnflüchtlingen« enthielten. Da es sich um eine konspirativ abgehörte Gesprächsrunde handelte, ist der Realitätsgehalt dieser Äußerungen hoch einzuschätzen. Die Beteiligten sprachen davon, dass die jungen Leute viel zu viele Vergünstigungen vom Staat erhalten hätten, weswegen sie jetzt – verwöhnt und undankbar – das Land verließen. Man war in dieser Runde von der Gewissheit getragen, dass die jungen Flüchtlinge sich noch umgucken und spätestens Weihnachten ins gesicherte Nest zurückfliegen würden. Darüber hinaus war man erleichtert, dass die Grenzen zur ČSSR wieder geschlossen seien. Die Anwesenden zeigten sich sehr darüber besorgt, dass ihnen die Flüchtlinge ihre regelmäßigen Besuchsreisen in den Westen verbauen könnten: »Wollen nur hoffen, dass wir anderen nicht unter dem Wahnsinn zu leiden haben.« 96 Zum Zeitpunkt dieser christlichen Gesprächsrunde hatten bereits die Leipziger Montagsdemonstrationen stattgefunden. Man diskutierte die Frage, ob es solche »Zusammenrottungen, Gruppierungen oder gar Demonstrationen« auch in Halberstadt geben könne und verneinte sie. Zwar gebe es bei
93 Einschätzung des Leiters der Kreisdienststelle für Staatssicherheit zur militärischen und politisch-operativen Lage im Kreis Halberstadt, 17.7.1981; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 702, Teil 1, Bl. 34. 94 Vgl. Kapitel 6.2 in diesem Band. 95 Vgl. Gottesdienste in der Johanneskirche, 10.9.1989; Ökumenischer Gebetsabend in der Andreaskirche, 14.9.1989, Stimmungen und Meinungen, 4.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, KD Halberstadt, Nr. 50, Bd. II/9 (IM »Elina Otte«), Bl. 277, 281 u. 287 f. 96 Stimmungen und Meinungen, 4.10.1989; ebenda, Bl. 288.
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ihnen auch unzufriedene Hetzer, doch die seien ja – zur Genugtuung der Anwesenden – untereinander nicht einig. 97 Diese Äußerungen von Personen in leitenden Funktionen in den Gemeinden und von aktiven Gemeindemitgliedern aus dem Kreis Halberstadt machen deutlich, dass sich die Kirchen, auch viele Gemeinden, zu großen Teilen eben nicht als Motor einer Umwälzung verstanden. Ihre Angst vor den Volksmassen war nicht kleiner als die der Staats- und Parteiführung, und sie beteten, Gott möge ihnen verzeihen, »wenn wir jetzt in dieser bewegten Zeit unseren Blick manchmal von ihm abgewandt hätten und mehr dem politischen Geschehen zugewandt«. 98 Der Pfarrer dieser Gemeinde hatte wenige Wochen zuvor vom Fortschritt gesprochen, der in »unserer Gesellschaft« zu sehen sei, und sein Unverständnis gegenüber jenen zum Ausdruck gebracht, die »unsere Gesellschaft und die Deutsche Demokratische Republik aufgeben und auswandern«. 99 Erst, nachdem die Machtverhältnisse im Land bereits in Auflösung begriffen waren, nahmen auch solche Kirchenvertreter für sich eine veränderte Funktion in Anspruch: Sie boten sich als »Vermittler« zwischen der Regierung und den »verschiedenen Kräften« an. 100 Welchen Charakter diese Vermittlung durch die Kirche, zum Beispiel an den diversen »Runden Tischen«, die bald in der ganzen DDR zum bekannten »Revolutionsmöbel« wurden, angesichts des beschriebenen staatsloyalen Verständnisses annahm und annehmen musste, steht als Forschungsprobjekt noch aus. 101 Auch in Halberstadt saßen im Dezember 1989 am ersten Runden Tisch, der im Rat des Kreises stattfand, nicht nur Vertreter der evangelischen, sondern auch der katholischen Kirche und beeinflussten maßgeblich die Gespräche zwischen den alten Parteien und neuen politischen Gruppen. 102 Während in den meisten Halberstädter Kirchen die Gottesdienste einen kirchlichen Charakter beibehielten und insofern keinen Raum für »Vorkommnisse« boten, hatte sich die Atmosphäre in der Martinikirche gewandelt. Seit dem 4. Oktober 1989 trafen sich hier jeden Mittwoch Menschen und diskutierten im Anschluss an ein Friedensgebet, das bald »Gebet für unser Land« hieß. Im Zentrum standen nicht nur die allgemeine politische Lage in der DDR, sondern auch konkrete Missstände in der Stadt. Besucher traten vor 97 Ebenda. Diese Worte sprach die Probsteifürsorgerin. 98 Gottesdienst in der Johanneskirche, 5.11.1989; ebenda, Bl. 289. 99 Bericht »Elina Otte«, 1.9.1989; ebenda, Bl. 281. 100 Vgl. die Äußerungen des Superintendenten von Biela, am 5.11.1989 in der Johannesgemeinde Halberstadt; Gottesdienst in der Johanneskirche, 5.11.1989; ebenda, Bl. 289. 101 Die Haltung der Halberstädter Kirchenvertreter zu den sogenannten Übersiedlungsersuchen entsprach der nach Auffassung der Staatssicherheit vorherrschenden Haltung der evangelischen Kirche in der DDR, vgl. BKG an AKG: Information zur Haltung der Kirche gegenüber Übersiedlungsersuchenden, 21.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 478, Bl. 214–218. 102 Der Flug der Hummel, S. 230 f.
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und beteten dafür, Inhaftierte aus der Haft zu entlassen, Lehrer wieder einzustellen, die wegen ihrer Unterschrift unter den Aufruf zum Neuen Forum vom Schuldienst suspendiert worden waren, und endlich auf die Bevölkerung zu hören. Von Woche zu Woche wurden es mehr Besucher, am 18. Oktober hatten sich in der Martinigemeinde in Halberstadt etwa 3 000 Menschen versammelt, Anfang November waren es bereits 5 000. Ein Pfarrer aus Magdeburg hielt eine Rede darüber, dass der Wechsel von Honecker zu Krenz nicht ausreiche, dass mit der Verdummung der Massen aufgehört werden müsse und die Reformbewegungen sich wie ein Flächenbrand ausbreiten würden. 103 Spätestens an diesem Tag war in der Halberstädter Martinikirche die revolutionäre Stimmung angekommen. Der IM »Robert« stellte in seinem Bericht fest, dass »eine Umbruchstimmung herrschte, der Wechsel an der Regierungsspitze« würde lediglich als »Übergangslösung angesehen«. 104 Das Neue Forum hatte in Halberstadt zu diesem Zeitpunkt bereits eine kleine Basisgruppe gebildet, die sich aus Personen zusammensetzte, welche zum Friedenskreis in der Martinikirche gehörten. Man legte fest, dass sich am darauffolgenden Montag in verschiedenen Kirchen Halberstadts Arbeitsgruppen des Neuen Forums gründen sollten. 105 Tatsächlich schrieben sich einige Halberstädter Bürger für die Arbeit in eine der Arbeitsgruppen Ökologie, Probleme des Handels und der Versorgung, Reisemöglichkeiten oder Medienpolitik ein. Der IM selbst trug sich in die Liste der AG »Wirtschaft und Handel« ein. 106 Wer waren diese Halberstädter, die sich in der Martinikirche im Oktober versammelten und sich für die zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal zugelassene neue Bewegung engagierten? Der Spitzel erkannte einen Gaststättenleiter, einen Sportlehrer, einen Sicherheitsinspektor, mehrere Mitarbeiter des VEB Gebäudewirtschaft, zwei Familien, die Geschäfte in der Stadt betrieben, und einige Ärzte. Für eine Mitarbeit in der AG »Wirtschaft« hatten sich ein Uhrmacher, der Inhaber eines Fotoladens, ein Drucker und der Leiter der Konsumverkaufsstelle Halberstadt eingetragen. Als Initiatoren und Wortführer machte der IM die Pfarrer der betreffenden Gemeinden aus, namentlich die Familie Gabriel und Pfarrer Hinz. Obwohl der IM der Staatssicherheit sicher nicht alle Besucher namentlich melden konnte, hatte er mit diesen Personen 103 Pfarrer Tschiche aus Magdeburg hielt diese Rede. Der Pfarrer aus Halberstadt forderte besorgt dazu auf, die Begeisterungsbekundungen zu unterlassen und Besonnenheit und Gewaltlosigkeit zu beweisen. Vgl. Information, 20.10.1989 (Quelle IMS »Robert«); BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 120 f. 104 Information, 20.10.1989 (Quelle IMS »Robert«); ebenda, Bl. 121. 105 Ebenda. Neues Forum, Gründung am 23.10.1989, die ersten Unterschriften waren bereits am 19.9.1989 in der Pfeffermühle, einer Kulturwerkstatt in Halberstadt, gesammelt worden; ebenda, Bl. 98, 121 u. 285 f. 106 Information der BKG, 27.10.1989; ebenda, Bl. 285 f., sowie Information v. 3.11.1989; ebenda, Bl. 98 f.
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tatsächlich den »Kern« der Aktivisten ausgemacht. Es waren Personen aus dem sozialen und beruflichen Mittelstand der Halberstädter Gesellschaft, Künstler und Pfarrer bzw. Gemeindemitglieder der beiden Kirchen, in denen diese Veranstaltungen stattfanden. Es waren zugleich jene Akteure, die sich für die Gründung des Neuen Forums in Halberstadt einsetzten und von denen einige später zur neuen politischen Elite in der Kreisstadt gehören sollten. 107 Im Mai 1990 wurden Matthias Gabriel zum ersten Bürgermeister und Johann-Peter Hinz zum Stadtparlamentspräsidenten gewählt. »Der Sohn des alten Superintendenten ist Stadtpräsident, der Sohn des alten Liebfrauenpfarrers Bürgermeister. Die Stadt ist in guten Händen!«, so fasst eine Akteurin der »Wende« diese Ereignisse zusammen. 108 Johann-Peter Hinz war es auch, der am 17. September zusammen mit seiner Frau nach Berlin zu Jens Reich, einem gebürtigen Halberstädter, fuhr und ihn um den Text des Aufrufes vom Neuen Forum bat. 109 Sie gründeten zusammen mit anderen Aktiven der Martinigemeinde eine Basisgruppe und organisierten das erste »Gebet für unser Land«. Diese kleine Aktivistengruppe war bis zum Ende November gehörig angewachsen, unter ihnen weiterhin viele Pfarrer, Diakone, Katecheten, Gemeindehelferinnen und Gemeindepädagogen. Auch die hier aktiven Architekten, Lehrer, Ärzte und Diplomingenieure waren meist eng mit der christlichen Gemeinde verbunden. 110 Am 25. Oktober 1989, im Anschluss an den Mittwochsgottesdienst in der Martinikirche, zogen die Versammelten durch das Stadtzentrum. Der Demonstrationszug führte von der Kirche über den Holzmarkt, die Karl-MarxStraße, die Schwanebecker Straße, Walther-Rathenau- und Friedrich-EngelsStraße. Nach dem Gebet am 1. November schlossen sich 10 000 Halberstädter diesem Zug an. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und der Vorsitzende des Rates des Kreises Halberstadt traten am nächsten Tag zurück, Partei und Staat hatten ihre Macht aufgegeben. Vierzehn Tage zuvor hatte die Staatsmacht noch alle Kampfgruppen in den Betrieben mobilisiert und die Bereitschaftspolizei zusammengezogen. Von einem in Wilhelmshall bei Huy-Neinstedt vorbereiteten Internierungslager der Staatssicherheit hatten die Akteure damals noch 107 Die Sozialdemokratische Partei (SDP) wurde am 18. November 1989 in Halberstadt gegründet. Ihr traten auch einige bisherige Mitglieder des Neuen Forums bei, u. a. der spätere erste Bürgermeister Matthias Gabriel. Nicht nur im Neuen Forum, auch in der SDP waren viele Akteure der ersten Stunde Pfarrer oder aktive Gemeindemitglieder. Vgl. Der Flug der Hummel, S. 118–120, 157 u. 230. 108 Der Flug der Hummel, S. 120. 109 Jens Reich gehörte zu den Erstunterzeichnern des Aufrufes vom 10.9.1989 und war einer der Gründer des Neuen Forums in Berlin. 110 Vgl. die Berufe der 47 Personen, die ihre Erinnerungen an den Herbst 1989 in Halberstadt veröffentlichten. In: Der Flug der Hummel. In Halberstadt gehörten offensichtlich auch einige Kulturschaffende zu den Akteuren, so wurde schon am 9.11.1989 die Schaffung eines Kultur- und Jugendzentrums beschlossen. Vgl. Havemann-Archiv Berlin Archiv-Sign. BW-MfS 03/18/26.
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nichts gewusst. 111 Erst im November, mit der Demonstration von 10 000 Halberstädtern war der Druck so groß geworden, dass die alte Herrschaft zusammenbrach; im bis dahin ruhigen Halberstadt wurde die Straße doch noch zum Ort der Revolution. Im November sollten fünf weitere Demonstrationen stattfinden. Ihren Anfang nahmen sie stets in der Martinikirche, zeitlich waren sie mit der Gründung eines Runden Tisches am 4. Dezember beendet. 112 Mit der ersten Demonstration am 25. Oktober 1989 war der geschützte Raum der Kirche verlassen worden. Die Staatsmacht in Person des Vorsitzenden des Rates des Kreises hatte zuvor noch unmissverständlich deutlich gemacht, dass »sie das Sagen hier« hätte. Doch weder an diesem noch an einem der folgenden Demonstrationstage wurde zugeschlagen. Für die Demonstranten war dies – wie überall in diesen Tagen – nicht vorauszusehen gewesen. Sie erinnern sich gut an ihre Angst davor, dass geschossen werden könnte. 113 Die Verantwortlichen im Rat des Kreises Halberstadt versuchten, mithilfe von Drohungen und Diskussionsangeboten weitere Kirchenversammlungen zu verhindern. Der Leiter der Kreisdienststelle des MfS lud die Organisatoren der zu erwartenden Massendemonstration zu vertrauensvollen Gesprächen ein. 114 Am 28. Oktober stellten sich die führenden Funktionäre im »Klubhaus der Werktätigen« wütenden Bürgern, darunter viele Nichtchristen. Die Revolution hatte auch in Halberstadt den öffentlichen Raum erobert. Wo waren die potenziellen und tatsächlichen Antragsteller auf Ausreise aus dem Kreis Halberstadt im Herbst 1989? Unter den Betenden in der Martinikirche waren sie offensichtlich nicht. Die Staatssicherheit, deren »operative« Aufgabe in diesen Tagen darin bestanden hatte, solche Verbindungen von Opposition bzw. Kirche und Antragstellern aufzudecken, wurde nicht fündig. Während eines Gebets forderte eine Frau für ihren Sohn, der über die Grenze hatte flüchten wollen, die Aufhebung des Urteils zum Freiheitsentzug. Eine andere Frau prangerte den BGL-Vorsitzenden eines Kraftverkehrsbetriebes an, der seinen jungen Leuten gesagt habe, sie sollten bloß gehen, er packe ihnen noch die Koffer. Dies waren die einzigen Bezüge zum Thema. 115 Einige Indizien sprechen dafür, dass sich die Antragsteller auch auf den Demonstrationen als solche nicht bemerkbar gemacht hatten. Hier standen Demokratisierung und Meinungsfreiheit, die Zulassung des Neuen Forums und die Einführung eines zivilen Wehrdienstes als Losungen auf Transparenten und Flugblättern. Ende November wurden neben den Sprechchören »Wir 111 Der Flug der Hummel, S. 93. 112 Abgesehen von einer großen Demonstration im Januar, die sich gegen ein Wiederaufleben der Staatssicherheit wendete. Vgl. Chronik der Ereignisse. In: Der Flug der Hummel, S. 223–232. 113 Der Flug der Hummel, S. 100 u.a.m. 114 Ebenda, S. 44–49 u. 147. 115 Information der BKG, 27.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 285–286.
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sind das Volk« und »Freie Wahlen« die Rufe »Stasi in die Volkswirtschaft« und »Auflösung der Kampfgruppen« laut. 116 Sehr rasch fanden sich Halberstädter Bürger zusammen und demonstrierten gegen den weiteren Abriss ihrer Altstadt. Jahrzehntelang hatten die Ruinen und später der leere Platz in der Innenstadt wie eine Wunde offengelegen, die angestauten Emotionen brachen sich 1989 Bahn: »Wenn Häuser sprechen könnten – sie würden schreien!« 117 Die Forderungen der Antragsteller nach Reisefreiheit und offenen Grenzen sind im Rahmen solcher Aktionen nicht überliefert. Dass solche Themen während der Gottesdienste nicht zur Sprache kamen, verweist darauf, dass die Besuche nicht aus jenem arbeiterlichen Milieu stammten, das typisch für die Halberstädter Antragsteller war. In der Gruppe der mutigen Akteure der ersten Stunde befanden sie sich auch nicht; nur sieben von 47 Personen aus dem Kreis in der Martinikirche übten den Beruf eines Tischlers, einer Köchin, einer Schneiderin und eines qualifizierten Facharbeiters aus. Die Köchin und eine Krippenerzieherin sind auch die einzigen in dieser Gruppe, die das Thema der Grenzöffnung einbrachten; die Köchin reiste im Oktober mit ihrer Familie aus. 118 Auffällig ist, dass nicht nur solche, unmittelbar die Antragsteller bewegenden Themen wie Grenzöffnung und Reisefreiheit während der Gebete und auf den Demonstrationen nur marginal vertreten waren. Auch andere Forderungen, wie die nach besseren Lebens- und Arbeitsbedingungen, lassen sich in den Quellen nicht auffinden. Sie wurden offensichtlich bevorzugt »in Gaststätten Halberstadts« diskutiert, »in denen Arbeiter verkehrten«. Die Spitzel berichteten, dass hier die Rede von Harry Tisch kritisiert wurde und man seine Besuche in den Betrieben als verlogen anprangerte. 119 In den Kneipen wurden auch die Botschaftsbesetzungen und die Reaktionen des Staates thematisiert, was nicht verwundert, denn Angehörige einiger Halberstädter Familien gehörten zu denjenigen, die die Flucht im Sommer 1989 über die ungarische Grenze wagten. 120 Dass es in Halberstadt wie anderswo im Sommer und Frühherbst nicht zu einem gemeinsamen Vorgehen von Antragstellern und neuen, oppositionellen Gruppen gegen die staatliche Willkür kam, lag somit nicht nur an den sich ausschließenden Interessenlagen, sondern auch daran, dass die jeweiligen Ak116 Der Flug der Hummel, S. 228 f. 117 Ebenda, S. 58, 69 u. 156 sowie S. 231 (Chronik der Ereignisse). 118 Ebenda, S. 72–75 u. 112–115. 119 Aus den Betrieben des Territoriums sind uns keine Basisbewegungen, die die Absetzung der alten Direktion forderten oder eine neue Interessenvertretung gegründet hatten, bekannt geworden. Dagegen kann von einer zivilgesellschaftlichen Initiative berichtet werden, die bereits im Mai 1989 gegen die Diskriminierung Homosexueller gegründet wurde und zum ersten Mal im Oktober 1989 unter dem Dach der Kirche tagte. 120 Information, 27.10.1989; BStU, MfS, BV Magdeburg, AKG, Nr. 63, Bl. 285. Außerdem: Der Flug der Hummel, S. 127 f.
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teure aus sehr verschiedenen sozialen Milieus kamen. Frau Gabriel, die zum Initiatorenkreis in der Martinikirche und zu den Gründern des Neuen Forums in Halberstadt gehörte, konnte sich während unseres 2009 geführten Interviews nur mit Mühe an eine ihr bekannte Antragstellerin oder einen Antragsteller erinnern. In ihren Kreisen waren sie nicht vertreten; die Mitglieder der Aktionsgruppe in der Martinikirche charakterisiert sie als kritisches Bürgertum. 121 Tatsächlich zeigt sich, dass es nicht die Pfarrer, Kultur- und Geisteswissenschaftler, auch nicht die Ingenieure und übrigen Akademiker aus dem Kreis Halberstadt waren, die in großer Zahl das Land verlassen wollten. Eben diese gehörten aber zu dem erweiterten Kirchenkreis, der in Halberstadt die revolutionären Ereignisse vorangetrieben hat; Arbeiter und kleine Angestellte waren nur ausnahmsweise zu ihnen gestoßen. Mit den Botschaftsbesetzungen seit August 1989 und der Öffnung der ungarischen Grenze entstand eine Ausreisedynamik, die nicht mehr nur die registrierten Antragsteller erfasste. Auch aus Halberstadt gingen Freunde und Bekannte über Ungarn in den Westen oder gehörten zu denen, die plötzlich ausreisen konnten. Panik machte sich breit: Was würde geschehen, wenn die Erstarrung vorbei ist, die die Führung erfasst hatte? In welche Richtung würde die Entwicklung »kippen«? So beschreibt es auch ein Halberstädter, der im September 1989 als Bausoldat die Ereignisse verfolgte. »Ein Lähmungszustand eroberte die DDR und viele der Zurückgebliebenen fühlten sich als Der Dumme Rest. Die Sehnsucht nach Freiheit gewann zunehmend an Kraft, aber wie konnte sie adäquat gestillt werden, dafür fehlte uns in diesen Tagen meist noch die Phantasie. Und mitten in dieses Gefühl der Zerrissenheit platzte Anfang September der Gründungsaufruf ›Aufbruch 89‹ des Neuen Forums. Es gab dem Bleiben eine Chance, formulierte aber klar und deutlich den Wunsch und das dringende Bedürfnis nach Veränderung.« 122
Die Situation ähnelte durchaus der vor dem Mauerbau im August 1961; auch 1989 hätte die offene Grenze nach Ungarn das letzte Schlupfloch sein können. Wie viele Menschen sich damals tatsächlich die Frage gestellt haben: »Sollen wir auch versuchen zu gehen oder gibt es eine Hoffnung auf ein sinnvolles Bleiben?«, ist bisher nicht untersucht worden. Ebenso wenig wissen wir von denen, die von ihrem Vorhaben Abstand genommen haben, um sich aktiv in die Herbstereignisse einzubringen. Tatsächlich standen im Herbst 1989 mit der Frage danach, ob man gehen oder bleiben sollte, um sich tatkräftig in den gesellschaftlichen Aufbruch einzumischen, zum ersten Mal reale Handlungsoptionen zur Entscheidung an. Von drei Personen aus Halberstadt haben wir erfahren, dass sie die Antwort zugunsten der aktiven Beteiligung getroffen 121 Interview mit Frau Gabriel in Halberstadt, 16.4.2008. 122 Krov-Raak: Vom Ende der Ohnmacht. In: Der Flug der Hummel, S. 108; vgl. auch S. 112 f.
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haben. Und ein Ausgereister ist uns bekannt geworden, der schon im Januar 1990 zurückkam, um im Neuen Forum mitzuarbeiten. In der Gesamtbetrachtung aber müssen wir resümieren, dass es im Kreis Halberstadt 1989 keinen Zusammenschluss von Aktivisten der »Wende« und Ausreisern gegeben hat. Wenigstens drei Gründe lassen sich dafür ausfindig machen: Zum einen gab es dort bis zum Herbst weder eine Opposition geschweige denn eine Oppositionsbewegung noch eine Ausreisebewegung, die ihre Interessen und Kräfte hätten bündeln können. Zum zweiten waren die ersten Akteure in der Martinikirche mit der historischen Aufgabe befasst, in aller Kürze eine gesellschaftliche Opposition zu formieren, die aus dem desolaten Zustand im Land einen Ausweg weisen konnte. Das führte notwendig zu dem oft beschriebenen Interessengegensatz zwischen Opposition und Antragstellern. Nachdem sich in der Martinikirche von Halberstadt einige »Bürger […] zu Andacht, Gebet und politischem Protest versammelten, konnte es nicht zur Solidarisierung kommen, da die einen im Land bleiben und die anderen hinaus wollten, und so Spannungen unvermeidbar waren, die von den geheimen Informanten nach Kräften gefördert wurden«, wie der gebürtige Halberstädter und Mitbegründer des Neuen Forums Jens Reich sich an die Situation erinnert. 123 Als Ergebnis der vorliegenden Forschung lässt sich noch eine dritte Erklärung hinzufügen: Jene überwiegend christlichen, akademisch gebildeten Menschen, die sich unter dem Dach der Martinikirche sammelten, die Gebete und Demonstrationen organisierten und das Neue Forum und die SDP gründeten, gehörten bald zur neuen politischen Elite in Halberstadt. Folgerichtig traten sie mit allem Mut für solche Forderungen ein, die einen Machtwechsel auch in Halberstadt ermöglichen und beschleunigen halfen. Das waren zuallererst Forderungen wie die Zulassung des Neuen Forums und freie Wahlen, die das Machtmonopol der Herrschenden brechen sollten. Auf den Demonstrationen wurden sie dabei durch Zehntausende unterstützt. Die Forderungen nach Reisefreiheit und offenen Grenzen hatten ihren zentralen Platz, den sie für die Antragsteller und große Teile der übrigen Bevölkerung lange einnahmen, in diesem Augenblick verloren. Wir interpretieren dies nicht nur als Folge einer veränderten politischen Situation, sondern auch als Ausdruck dafür, dass in den unterschiedlichen sozialen Milieus verschiedene Interessenprioritäten selbst in der kurzen Zeit des revolutionären Umbruchs bestanden. Wenn wir die Bedeutung der Antragsteller auf Ausreise aus der DDR sowohl im Vorfeld als auch während der revolutionären Ereignisse bestimmen wollen, sind wir mit zwei Interpretationen konfrontiert. Die eine hebt ihre entscheidende Rolle als politische Massenbewegung hervor und betont die zahlenmäßige Überlegenheit der Antragsteller gegenüber einer sehr viel kleine123 Reich: Revolution ohne Blutvergießen. In: ebenda, S. 13–23, hier 16.
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ren Opposition. Die Vertreter dieser Einschätzung meinen, sehr früh eine widerständige Verhaltensweise im Auftreten der abgewiesenen Antragsteller zu erkennen und sprechen seit den 1970er Jahren von einer »Ausreisebewegung«. 124 Dementsprechend hoch schätzen sie die Rolle der Antragsteller respektive der »Ausreisewilligen« beim Sturz des Honecker-Regimes ein, zumal sie das Begehren der Ausreiser nach einem freigewählten Wechsel des Wohnortes zu Recht als Achillesferse einer »geschlossenen« Diktatur begreifen. Dass die Antragsteller den politischen Nerv der DDR-Partei- und Staatsführung getroffen hatten, bestätigen auch jene, die die Rolle der Antragsteller jedoch erheblich in ihrer Bedeutung reduzieren, indem sie auf den individualistischen, also nicht solidarischen Charakter einer Antragstellung auf Ausreise verweisen, mithin auf deren einziges Ziel, ausreisen zu dürfen, was naturgemäß die Option, im Land zu bleiben und sich aktiv in den Veränderungsprozess einzubringen, ausschloss. Diese Bewertung ist bevorzugt aus der Sicht einer DDR-Opposition getroffen worden, für die jene Bevölkerungsgruppe, die einfach nur raus wollte, keinen emanzipativen Charakter besaß. 125 Der größere Teil der Opposition, der sich frühestens ab September 1989 meist in den Kirchen des Landes formierte, ging nicht so weit in seiner Kritik, schloss die Ausreiser jedoch gleichfalls aus dem Spektrum möglicher Bündnispartner aus. Mit diesen zwei Urteilen scheint uns die Gruppe der Antragsteller, die sich seit dem Sommer 1989 mit den Botschaftsbesetzern und den Flüchtenden auch im Kreis Halberstadt zu eine Massenbewegung entwickelt hatte, in ihrer Bedeutung und Funktion für die demokratische Revolution im Herbst 1989 noch nicht hinreichend erklärt. Der Umstand, sie nicht in den Kreis der Akteure aufzunehmen, weil sie das Land verlassen wollten, lässt ein gewisses Unverständnis bezüglich dessen erkennen, was eine Revolution charakterisiert. 126 Nach unserem Verständnis ist sie das historische Zusammenspiel verschiedenster Gruppen und Kräfte, unterschiedlichster, zunächst »relativ unabhängig voneinander wirkender Kausalreihen, die sich parallel entwickelten und erst zu einem bestimmten Moment miteinander in Verbindung traten«, wie Detlef Pollack es bezogen auf die Revolution in der DDR formulierte. 127
124 Diese Einschätzung durchzieht nicht nur das Werk des verstorbenen Nestors der »Ausreiserliteratur« in der DDR, Bernd Eisenfeld. Vgl. seinen letzten Artikel Ders.: Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung. In: Seeck (Hg.): Das Begehren, anders zu sein, S. 68–81. 125 Vgl. Erklärung der Umweltbibliothek zur derzeitigen politischen Situation in der DDR, Umweltblätter September 1989, S. 10, zit. in: Klein: Die Opposition in der DDR während der achtziger Jahre. In: Seeck (Hg.): Das Begehren, anders zu sein, S. 59–67, hier 59. 126 So heißt es bei Hertle und Wolle: »Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 wurde letztlich von denen durchgeführt, die im Lande geblieben und trotz aller Schwierigkeiten nicht weggegangen waren.« Hertle; Wolle: Damals in der DDR, S. 282. 127 Pollack: zit. in: Vaterlandslose Gesellen, S. 63. Vgl. auch die interessanten Überlegungen zu den Revolutionen in der neueren Geschichte bei Möbius: Die Revolution frisst ihre Kinder? Umsturz
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Der zeitliche Abstand macht es möglich, eine historisch gerechte Bewertung der verschiedenen Kräfte und Bewegungen, die sich 1989 zu einem revolutionären Bündel verdichteten, vorzunehmen. Danach gab die Ausreise- und Fluchtbewegung der demokratischen Revolution in der DDR im unmittelbaren Vorfeld des Umbruchs ihren entscheidenden Impuls. Die besondere Situation des geteilten Deutschland hatte dafür gesorgt, dass die für die Bevölkerungsmehrheit weitgehend undurchlässige Grenze während der Jahrzehnte auf die eine oder andere Weise stets im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen mit dem SED-Staat stand. Als im Sommer 1989 die Antragstellungen auf Ausreise Massencharakter annahmen und als Tausende DDR-Bürger mit ihren Fluchten über Ungarn die geschlossenen Grenzen praktisch ignorierten, stellten sie zugleich die Existenz des Regimes infrage. Denn die Machtverhältnisse in der DDR waren ohne ihre – inneren wie äußeren – Grenzziehungen nicht denkbar. Mit ihrer Aufhebung löste sich die Struktur der SED-Herrschaft auf, die ohne solche Grenzen keinen Bestand mehr hatte. Diese Arbeit leisteten im Herbst 1989 vor allem auch jene, die die Grenze durch Flucht und Ausreise durchlässiger machten; unabhängig davon, ob sie dies in der Konsequenz intendiert hatten oder nicht. Die Aufgabe, die inneren Grenzziehungen zu beseitigen, übernahmen die oppositionellen Akteure, die sich in Gruppen zusammengeschlossen hatten, die Demonstranten und die zahlreichen bis heute viel zu wenig beachteten Menschen in den Betrieben, in ihren Städten und Gemeinden. Ohne deren damals durchaus noch risikovollen Einsatz wären die herrschenden Strukturen der Diktatur nicht beseitigt worden, ohne gesellschaftlichen Druck wären kein Staatsapparat und keine Staatssicherheit implodiert. 128 Auch die Halberstädter Ereignisse sind in der Dimension erheblich kleiner und in vielem weniger dynamisch als in Leipzig oder Berlin, durchaus als Teil dieser großen historischen Umwälzungen in der DDR zu begreifen. Die »zersetzende« Wirkung, die im Sommer 1989 aus dem Zusammentreffen von Antragstellern, Botschaftsbesetzern, oppositionellen Gruppen und Demonstranten entstanden war, hatte auch die regionalen Herrschaftsstrukturen erreicht. Zu einer Allianz von Antragstellern und Opposition sollte es jedoch aus den beschriebenen Gründen weder in Halberstadt noch anderswo in der DDR kommen. In ihrem Charakter unterschieden sich die Antragsteller aus dem Kreis Halberstadt nicht von denen in anderen Kreisen oder Städten des Landes: Sie waren zu keinem Zeitpunkt zur Opposition zu rechnen. Die Halberstädter Antragsteller hatten im übertragenen und im direkten Sinn mehrheitund Opposition in der europäischen Geschichte. In: Vaterlandslose Gesellen oder Revolutionäre?, S. 11–24. 128 Vgl. Gehrke; Hürtgen: Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989 – Die unbekannte Seite der DDR-Revolution.
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lich den privaten Raum nicht verlassen und verstanden ihr Begehren in erster Linie als ihr legitimes individuelles Recht. 129 Von wenigen Ausnahmen abgesehen, lassen sich die Aktivitäten der Antragsteller auch nicht als Widerstandsaktionen charakterisieren. Es konnte jedoch im Rahmen dieser mikrohistorischen Studie etwas beschrieben werden, was in den »Meistererzählungen« 130 über die Vorgeschichte der demokratischen Revolution von 1989 entweder gänzlich fehlt oder geringgeschätzt wird. Wenn die verschiedenen außen- und innenpolitischen Ursachen für den Zusammenbruch der DDR-Herrschaft aufgezählt werden, suchen wir meist vergeblich danach, wie sich das alltägliche Verhalten von DDRBürgern namentlich am Ende der 1980er Jahre veränderte. In den Betrieben wurde während der Plandiskussionen nicht mehr geschlossen die Hand gehoben, der FDGB-Bundesvorstand stellte zu seinem Entsetzen fest, dass für die letzte Gewerkschaftswahl im Frühjahr 1989 zahlreiche Gegenkandidaten nicht nur aufgestellt, sondern auch gewählt worden waren. Die Ministerien, Gewerkschaften und andere Organisationen erreichten immer mehr sogenannte Kollektiveingaben, eine Form der Beschwerde, die stets die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit auf sich zog. Ein größer werdender Teil der DDRBevölkerung befolgte nicht mehr das seit Jahrzehnten bestehende von Partei und Staat festgelegte Regelwerk und setzte diverse Zeichen alltäglicher Loyalitätsverweigerungen. 131 Solche Regelverletzungen sind nicht als eine Form des Widerstandes zu deuten. Es sind Verhaltensweisen des zivilen Ungehorsams, der individuellen Courage, ohne die es allerdings auch keine gesellschaftlichen Veränderungen geben kann. In einer Diktatur sind solche Verhaltensweisen stets mit dem Risiko der Repression verbunden, das für die Antragsteller auf Ausreise weit höher lag als für denjenigen, der nicht zur Wahl angetreten war oder eine Eingabe zusammen mit anderen verfasst hatte. Die Antragsteller auf Ausreise haben sehr früh mit ihrem Ungehorsam begonnen. Zu einer Zeit, als die DDR-Gesellschaft noch relativ stabil schien. Und sie haben wie keine andere gesellschaftliche Gruppe das Selbstverständnis des Staates infrage gestellt, dessen Existenz an die geschlossenen Grenzen gebunden war. Wir haben zeigen können, dass sie mit ihrem regelverletzenden Verhalten die Ruhe eines großen Teils der Bürger gestört haben, der sich im Mangel und in den geschlossenen Grenzen eingerichtet hatte. Zugleich ließ 129 Selbst bei Bernd Eisenfeld, dem energischsten Vertreter einer Einschätzung der Antragsteller als Widerständige und Oppositionelle, ist vorausgesetzt, dass sie in die Öffentlichkeit gehen. Vgl. Ders.: Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung. 130 Hier verstanden als Zusammenfassung der die öffentliche Meinung maßgeblich bestimmenden Erzählungen über den Charakter der demokratischen Revolution in der DDR. 131 Von denen wir erst nach 1989 erfuhren, da sie nicht öffentlich wurden. Vgl. zu dieser ganzen Problematik das Kapitel: »Wir können das besser als ihr!« Partizipationsbegehren als revolutionärer Impuls, in: Hürtgen: Zwischen Disziplinierung und Partizipation, S. 299–321.
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sich am Beispiel Halberstadt nachweisen, wie Antragsteller an ihrem couragierten Verhalten gewachsen sind und welche Dynamik sie in die Entwicklung am Ende der 1980er Jahre einbrachten. Das historische Verdienst der Antragsteller in Halberstadt und anderswo in der DDR bestand darin, sich den ungeschriebenen Gesetzen des Staates verweigert, die erwartete Disziplin und den Gehorsam aufgegeben und den weniger Mutigen ein Beispiel gegeben zu haben. Das ist ihr eigentlicher Beitrag zur demokratischen Revolution, die ohne solche und viele andere Ungehorsame nicht stattgefunden hätte.
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Abkürzungen
Abt. I A ABV AG AGB AIM AK AKG AKP AKSK AOP AOPK APuZ ARD ARV ASTA AU BArch BdL BDVP BEK BGL BKG BND BRD BStU BV CDU ČSSR CSU DA DDR DFA DM DSF DVP EKM EOS EÜ EU EV EW
Abteilung Innere Angelegenheiten Abschnittsbevollmächtigter Arbeitsgruppe Aktiengesellschaft Allgemeine Geschäftsbedingungen Archivierter IM-Vorgang Arbeitskreis Auswertungs- und Kontrollgruppe Auskunftsperson Arbeitskreis Solidarische Kirche Archivierte Operativer Vorgang Archivierte Operative Personenkontrolle Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland Arbeitsrechtsverhältnis Antragsteller auf ständige Ausreise Archivierter Untersuchungsvorgang Bundesarchiv Büro der Leitung Bezirksdirektion der Volkspolizei Bund der Evangelischen Kirchen Betriebsgewerkschaftsleitung Bezirkskoordinierungsgruppe Bundesnachrichtendienst Bundesrepublik Deutschland Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Bezirksverwaltung Christlich Demokratische Union Deutschlands Tschechoslowakei Christlich-Soziale Union Deuschland Archiv Dienstanweisung Deutsche Demokratische Republik Dringende Familienangelegenheiten Deutsche Mark Deutsch-Sowjetische Freundschaft Deutsche Volkspolizei Energie- und Kraftmaschinenbau Erweiterte Oberschule Erstübersiedler Europäische Union Ermittlungsverfahren Einwohner
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324 FDGB FDJ FIM GBl. GfM GMS GSSD GST HA HFIM HJ HO HuG IGfM IKMO IM IMB IME IMK IMS IMV KI KD KL KOM KP KSZE KZ LHASA LPG MD MdI MfS MTA ND NDPD NS NSDAP NSW OibE OP OPK OV PGH PiD Pkw PM POS
Ausreise per Antrag Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deutsche Jugend Führungs-IM Gesetzblatt Gesellschaft für Menschenrechte Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland Gesellschaft für Sport und Technik Hauptabteilung Hauptamtlicher Führungs-IM Hitlerjugend Handelsorganisation Horch und Guck Internationale Gesellschaft für Menschenrechte Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter für operative Aufgaben Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter der Abwehr mit Feindverbindung bzw. zur unmittelbaren Bearbeitung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen Inoffizieller Mitarbeiter im besonderen Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung der Konspiration und des Verbindungswesens Inoffizieller Mitarbeiter zur politisch-operativen Durchdringung und Sicherung eines Verantwortungsbereichs Inoffizieller Mitarbeiter, der unmittelbar an der Bearbeitung und Entlarvung im Verdacht der Feindtätigkeit stehender Personen mitarbeitet Arbeitsgebiet I der Kriminalpolizei Kreisdienststelle (des MfS) Kreisleitung (der SED) Kraftomnibus Kontaktperson Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Konzentrationslager Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Magdeburg Ministerium des Innern Ministerium für Staatssicherheit Medizinisch-technischer Assistent Neues Deutschland National-Demokratische Partei Deutschlands Nationalsozialismus Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet Offizier im besonderen Einsatz Operation Operative Personenkontrolle Operativer Vorgang Produktionsgenossenschaft des Handwerks Politisch-ideologische Diversion Personenkraftwagen Pass- und Meldewesen Polytechnische Oberschule
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Abkürzungen RAW RdB RdK RF RM RVO SAG SBZ SDP SED SfK SPD SPSS SS StGB UB UdSSR ÜE UHVO UNO UV UVR V2 VEB VP VPKA VVS WB WBK ZAIG ZDF ZfG ZK ZKG ZMA
Reichsbahnausbesserungswerk Rat des Bezirks Rat des Kreises Republikflüchtling Reichsmark Reiseverordnung Sowjetische Aktiengesellschaft Sowjetische Besatzungszone Sozialdemokratische Partei (in der DDR) Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Staatssekretariat für Kirchenfragen Sozialdemokratische Partei Deutschlands Statistical Package fort he Social Science (Statistiksoftware) Schutzstaffel der NSDAP Strafgesetzbuch Umweltbibliothek Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Übersiedlungsersuchen Untersuchungshaftverordnung United Nations Organization Untersuchungsvorgang Ungarische Volksrepublik Vergeltungswaffe 2 Volkseigener Betrieb Volkspolizei Volkspolizeikreisamt Vertrauliche Verschlusssache Westberlin Wohnungsbaukombinat Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zweites Deutsches Fernsehen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentralkomitee Zentrale Koordinierungsgruppe Zentrale Materialablage
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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525350782 — ISBN E-Book: 9783647350783
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Angaben zur Autorin
Renate Hürtgen, Dr., geboren 1947, Kulturwissenschaftlerin, bis 2012 Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Ausgewählte Publikationen: Entwicklung in der Stagnation? Oder: Was ist so spannend am Betriebsalltag der siebziger und achtziger Jahre in der DDR? In: Dies.; Reichel, Thomas (Hg.): Der Schein der Stabilität – DDR-Betriebsalltag in der Ära Honecker. Berlin 2001; Der DDR-Betrieb als konflikt- und herrschaftsfreie Zone? Zum Konfliktverhalten von Arbeitern in den siebziger und achtziger Jahren. In: Rupieper, Hermann-Josef; Sattler, Friederike; Wagner-Kyora, Georg (Hg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert. Halle 2005; Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb. Köln, Weimar, Wien 2005; Angestellt im VEB. Loyalitäten, Machtressourcen und soziale Lagen der Industrieangestellten in der DDR. Münster 2009; Denunziation in der DDR als allgemeine Selbstverständlichkeit? In: DA 43(2010)5, S. 115–118.
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