Sozialismus statt Religion: Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890 9783666351662, 9783647351667, 3525351666, 9783525351666


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Sozialismus statt Religion: Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890
 9783666351662, 9783647351667, 3525351666, 9783525351666

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 152 Sebastian Prüfer Sozialismus statt Religion

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

Sozialismus statt Religion Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890

von

Sebastian Prüfer

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

Umschlagabbildung:

2002. 14771

Die klaren Ideen (1958) Rene Magritte © VG Bild-Kunst, Bonn 2002

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Prüfer, Sebastian: Sozialismus statt Religion : die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890/von Sebastian Prüfer. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2002 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 152) ISBN 3-525-35166-6 Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Friedrich Ebert Stiftung als Herbert-Wehner-Stipendium. © 2002, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Internet: httyy/wwwvandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Guide-Druck GmbH, Tübingen.

Bayerische Sttatsbibllothek München

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Inhalt

Vorwort

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Einleitung 1

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Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage: Der religionskritische Diskurs

1.1 Der Stellenwert der religiösen Frage in der sozialistischen Bewegung Die Präsenz der religiösen Frage Die religiöse Frage: hinderlich oder unbedeutend für die »socialistische Agitation«? Die Unabgeschlossenheit der Religionskritik 1.2 Grundtopoi des religionskritischen Diskurses in der frühen Sozialdemokratie 1.2.1 Religion und Herrschaft »Priestertrug» und »Pfaffenschelte« Die historische Delegitimierung der christlichen Religion 1.2.2 Religion und Moderne Glaube, Wissen und Wissenschaft Bibel- und Dogmenkritik Entstehen und Entwicklung von Religion Religon und Kultur Religion und Sittlichkeit 1.3 Sozialdemokratische Kritik an den Religionsdiskursen der konkurrierenden soriokiilturellen Milieus 1.3.1 Parteien, soziokulturelle Milieus und Religionsdiskurse 1.3.2 Konservatismus und Staatsreligion Christlicher Staat und Nationalreligion Taufe, kirchliche Eheschließung und religiöser Eid Die Dissidentengesetzgebung Strafrechtliche Verfolgung wegen Religionsschmähung und Gotteslästerung Evangelische Sozialreform und »christlicher Sozialismus« 1.3.3 Politischer und sozialer Katholizismus Katholisches Milieu und politischer Katholizismus

33 33 33 36 39 44 44 44 56 70 70 77 84 89 93 101 101 107 107 119 126 128 133 140 140

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Sozialkatholizismus und »christlicher Sozialismus« Abgrenzungsprobleme 1.3.4 Liberalismus und bürgerliche Religion Bürgerlicher Verrat und sozialdemokratische Beerbung Liberale Theologie Bürgerliche Religion 1.4 Religionskritik und sozialdemokratisches Programm Trennung von Schule und Kirche Trennungvon Staat und Kirche Kirchenaustritt Religion als Privatsache 1.5 Der sozialdemokratische Religionsdiskurs zwischen Säkularisierung, kirchlicher Persistenz und religiöser Modernisierung Entkirchlichung Entchristlichung und Religionsverlust Kirchlich-religiöse Persistenz und Regeneration Modernisierung von Religion Katholiken, Landbevölkerung und Frauen: »Grenzen der Klassenbildung«?

146 151 158 158 165 169 178 178 184 188 192

2 Die Beantwortung der religiösen Frage durch die Sozialdemokratie 2.1 Freireligiösen- und Freidenkertum Freireligiöse und Freidenker bis 1890 Solidarität und Übereinstimmung Das Scheitern der freireligiösen bzw. freidenkerischen Option 2.2 Das Ende der Religion Die antireligiöse Option in der Sozialdemokratie Kirchenaustrittskampagnen Das Scheitern der antireligiösen Option 2.3 Sozialismus als Antwort auf die religiöse Frage 2.3.1 Sozialismus als Religion Die frühsozialistische Tradition Sozialismus als »wahres Christentum« Der Lassalle-Kult Sozialismus als überbotenes Christentum Sozialismus als Religion 2.3.2 Sozialismus statt Religion Christliche Feste in sozialdemokratischer Deutung »Wir wollen hier auf Erden schon das Himmelreich errichten«

223 223 223 227 239 252 252 256 265 273 273 273 280 287 295 296 300 300

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200 200 204 207 210 214

308

Sozialistische Begräbnisse »Naturwissenschaft statt Religion«? Der sozialdemokratische Darwinismus Sozialismus statt Religion

314 324 330

Ergebnis

338

Abkürzungen

351

Quellen-und Literaturverzeichnis

352

Register

389

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Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist als Inaugural-Dissertation am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht und im Dezember 1999 verteidigt worden. Ihr Titel »Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage 1863-1890« hat ein wenig den Charakter eines Zitats - ich denke z.B. an die Broschüre »Die religiöse Frage und die Arbeiter« des Sozialdemokraten Carl Boruttau aus dem Jahre 1869 - , benennt das Thema und gibt zugleich eine grundlegende These der Untersuchung vor: daß nämlich eine »religiöse Frage« die frühe deutsche Sozialdemokratie neben der »sozialen Frage« stark bewegte. Gegenüber der ursprünglichen Promotionsfassung wurde der vorliegende Text leicht überarbeitet und gekürzt; neue Forschungsarbeiten der Jahre 1999 und 2000 konnten berücksichtigt werden. Die Anregung für das Thema dieser Arbeit verdanke ich Professor Dr. Jürgen Kocka, der mir den Kontakt zu Dr. Heiner Grote vom Konfessionskundlichen Institut des Evangelischen Bundes in Bensheim vermittelte. Heiner Grote, der als Theologe selbst 1968 zu einem ähnlichen Thema promoviert wurde, hat durch das von ihm zusammengetragene, aber nur teilweise ausgewertete Quellenmaterial, das er mir großzügig zur Verfügung stellte, diese Arbeit mit ermöglicht. Am 22. Oktober 1996 ist er nach schwerer Krankheit verstorben. Ihm gebührt mein erster Dank. Danken möchte ich ebenso meinem Promotionsbetreuerjürgen Kocka, der meine Unternehmung stets wohlwollend und anregend begleitet hat. Erwähnt seien auch die Mitarbeiter des Konfessionskundlichen Institutes Bensheim, weiterhin Jürgen Schmidt, Dr. Wilfried Spohn (Berlin), Professor Dr. Hannes Siegrist (Leipzig), die Diskussionsrunde der ehemaligen »Arbeitsstelle für vergleichende Gesellschaftsgeschichte« an der Freien Universität Berlin, mein Zweitgutachter Professor Dr. Michael Weinrich, das Land Berlin, das mir ein Stipendium gewährte, Axel Hauff und Susanne Prüfer, die sich um die Beseitigung letzter sprachlicher Fehler bemühten, Marcus Erdmann, der computertechnische Probleme löste, und schließlich Dn Axel Körner (London), der meiner Arbeit wesentliche Impulse gab. Dank gebührt auch denjenigen, die die Drucklegung dieser Arbeit großzügig unterstützten: der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, der Axel-Springer-Stiftung in Berlin, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Evangelischen Kirche in BerlinBrandenburg, der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und der Evangelischen Kirche der Union. Dank für finanzielle Unterstützung des Vorhabens gebührt ebenso Frau Elisabeth Gaudig.

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Den größten Dankjedoch schulde ich meiner Frau Agnes Prüfer für Geduld, Entlastung und geistige Anregung. Ihr und meinen Söhnen Benedikt und Johann-David sei diese Arbeit gewidmet. Berlin, im September 2001

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Sebastian Prüfer

Einleitung Die »große Zeit« der Historiographie zu Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung in Deutschland scheint vorbei zu sein. Neu ist diese Erkenntnis nicht. Der gesellschaftspolitische Aufbruch der 1970er Jahre motivierte und befruchtete die Arbeiter- und Arbeiterbewegungsforschung. In den 1980ern folgte einerseits die Enttäuschung der ganz großen Reformerwartungen, andererseits die Etablierung der »Neuen Sozialen Bewegungen«. In der Geschichtswissenschaft wurden andere Forschungsgebiete interessanter: Bürgertums- und Adelsgeschichte, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Alltags- und Mentalitätengeschichte, um nur einige Beispiele zu nennen. 1 Als demotivierend für diejenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Interesse am Gegenstand der Arbeiter(bewegungs)geschichte durch eine sozialistische oder sozialdemokratische politische Heimat gespeist war, erwies sich zudem die Erkenntnis der zunehmenden Auflösung, wenn nicht gar des »Verschwindens« von alter Industriearbeiterschaft, traditionellen Arbeitermilieus und der klassischen Arbei-, terbewegung in den modernen westlichen Gesellschaften.2 Der Zusammenbruch des »real existierenden Sozialismus« im Epochenjahr 1989 hat die Krise dieser Historiographie sicherlich noch einmal zugespitzt. Die von einigen erwartete triumphale Renaissance der Sozialdemokratie in Mittel- und Osteuropa blieb aus; in der öffentlichen Diskussion überwog zunächst die Tendenz, mit dem Untergang der Gesellschaftsordnung, die sich »sozialistisch« nannte, auch die »sozialistische Idee« und alle aus ihr gespeisten Politikentwürfe für gescheitert zu erklären. Im Selbstverständnis eines Teils der Sozialismus- und Arbeiterbewegungsforschung zeichnet sich eine angemessenere Reaktion auf die Ereignisse von 1989 ab: ein Insistieren auf den Anfragen der Theorien von Marx, Engels und anderen Sozialisten, ohne auf eine »Dogmenkritik« von Marxismus und Marxismus-Leninismus zu verzichten, und in der Erforschung der Arbeiterbewegungsgeschichte die Berücksichtigung bisher vernachlässigter Fragestellungen, besonders solcher, welche die Genese 1 Jürgen Kocka spricht von »business as usual«, ja von »intellektueller Langeweile« im Bereich von Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte und empfiehlt eine »Verknüpfung und Kreuzung« mit anderen innerwissenschaftlichen Diskursen (Kulturgeschichte, historische Komparatistik, Geschlechtergeschichte, Bürgergeschichte): Kocka, Arbeiterbewegung, S.487. 2 Die Überzeugung vom »Ende der Arbeiterbewegung« hat sich seit Gorz weitgehend durchgesetzt. Vgl. jedoch die kritischen Anmerkungen von Hobsbawm, Sinn, S.354f, und von Kocka, Geschichte, S.105-107.

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der Fehlentwicklungen aufhellen, die letztlich zur Implosion der »sozialistischen« Gesellschaftssysteme führten.3 Eine religiöse Komponente ist sozialistischen Ideologien und Praktiken von Kritikern, aber auch von Anhängern immer wieder unterstellt worden. Bemerkenswerterweise ist dieser Topos nach 1989 häufig aufgegriffen worden, nun, um das Scheitern des »Realsozialismus« zu erklären. So äußerte sich der publizistische Zeitgeist über die Entwicklung in der sich auflösenden Sowjetunion 1991 wie folgt: »Der Generalsekretär will nicht mehr der Papst seiner Kirche sein, das Politbüro, einstiges Kardinalskollegium, unsichtbar, das Zentralkomittee, einstige Bischofssynode, vor der Selbstauflösung [...]. Der Götzendienst vor ehemals geheiligten Dogmen wie ›proletarischer Internationalismus‹, ›demokratischer Zentralismus‹ und ›Diktatur des Proletariats‹ war mangels Glaubwürdigkeit schon im Laufe der letzten Jahre eingestellt worden, jetzt aber stürzten eherne Denkmäler gleich reihenweise.« 4 Der Münchener Politologe Hans Maier merkte 1996 ganz ähnlich an, daß »[...] im Kommunismus erstaunlicherweise ganz konkret umrissenene kirchensoziologische Dinge wieder auftauchen, also heilige Lehren, Katechumenate, Stufen des Eintritts in die Partei.«5 Vergleichbare Einschätzungen treffen jedoch auch Arbeiterbewegungshistoriker. So urteilte z.B. Royden Harrison zur historischen Entwicklung des Marxismus: »[...] Marxism steps in, not to solve the problems of the future, but of the past. Never a ›Science‹ (except to distinguish it from the Utopians), it is transferred into a Secular Religion with its mummified leaders; ossified texts and its priests turned secret policemen in the interests of extinguishing the revolutionary instincts which were once its life blood.«6 Noch in anderer Hinsicht spielte »Religion« in der Debatte über die Umwälzungen von 1989 eine Rolle. In verschiedenen Ländern des Ostblocks wirkten die christlichen Kirchen oder einzelne ihrer Vertreter trotz oder gerade wegen der vom offiziell atheistischen Staat betriebenen Marginalisierung der Kirchen als Katalysatoren des Umbruches. Die polnische Entwicklung ist das markanteste, jedoch keineswegs das einzige Beispiel; erinnert sei daran, daß die Repression gegen den evangelisch-reformierten Pfarrer Laszlo Tökes in Temesvär die Initialzündung zur Revolution in Rumänien war. Der zunächst hoch veranschlagte Beitrag der Kirchen zu den Umbruchsprozessen in der DDR ist zwar 3 Vgl. die Tagungsberichte zur 27. und zur 32. Internationalen Tagung der Historikerinnen und Historiker der Arbeiterbewegung 1991 mit den Tagungsthemen »Arbeiterbewegung in einer veränderten Welt« (Konrad) und »Quellen und Historiographie der Arbeiterbewegung nach dem Zusammenbruch des ›Realsozialismus‹« (Groppo); zu theoretischen Aspekten die Dokumentation des Kolloquiums der »Internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie« 1991 unter dem Titel »Zukunft des Marxismus« (Losurdo). 4 Meyer, Katastrophe, S. 10. 5 Statement auf einer Tagung im Rahmen eines von Maier betreuten Projektes zu »Konzepten des Diktaturvergleichs«: Mater, Totalitarismus, S.332. Vgl. auch ders., Religionen. 6 Harrison, S.44.

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inzwischen niedriger angesetzt worden; daß inbesondere die evangelische Kirche der regimekritischen Opposition Freiräume schuf und damit manche Reformdebatte erst ermöglichte, kann indes kaum bestritten werden. 7 So stellt sich auch aus aktueller zeithistorischer Perspektive das Gegenüber von Sozialismus und Religion als spannungsreicher, vielleicht auch »spannender« Gegenstand dar, zu dessen Erforschung die vorliegende Arbeit über das Verhältnis der frühen deutschen Sozialdemokratie zu Kirchen und Religion beitragen möchte. Das Verhältnis der sozialistischen Arbeiterparteien in Deutschland zu Kirchen und Religion von der Gründung des »Allgemeinen Deutschen ArbeiterVereins« (ADAV) 1863 bis zum Ende des Sozialistengesetzes und dem Parteitag von Halle 1890 ist im Überblick mehrfach untersucht worden, zumeist allerdings in zeitlich weitergespannten Darstellungen, welche die Jahre 1860-1890 entsprechend knapp behandeln. 8 Diese Arbeiten sind zumeist wie folgt angelegt: Beim Frühsozialismus beginnend, behandeln sie die Religionskritik von Marx und Engels, dann die Auffassungen von Lassalle, Bebel, Liebknecht, Dietzgen, Most, Kautsky und beziehen dazu die Debatten auf den sozialdemokratischen Parteitagen mit den entsprechenden Programmbeschlüssen ein. Zwar werden teilweise Grunddaten der Parteigeschichte sowie die Stellungnahme von Kirchenvertretern und -behörden in die Darstellung einbezogen; insgesamt jedoch müssen diese Überblicke durch ihre Fixierung auf einzelne Protagonisten und die höchste Diskursebene (Kongresse, Reichstagsdebatten) als unzureichend gelten. Eine gesellschaftsgeschichtliche Einbindung fehlt, mittlere und untere Diskursebenen werden nicht in den Blick genommen. Ähnliches gilt auch für die Arbeit Arpäd Horväths von 1987, die den Zeitraum 1863-1900 breiter behandelt. 9 Eine Ausnahmestellung nimmt hingegen die 1968 veröffentlichte theologische Dissertation von Heiner Grote ein, die sich auf die Jahre 1863-1875 konzentriert. 10 Grote bezieht erstmals einige ungedruckte Archivquellen, vor allem aber eine Fülle sozialdemokratischer Kleinbroschüren und die sonst kaum berücksichtigte Regionalpresse ein, wodurch ein wesentliches komplexeres Bild entsteht. So werden nicht die Auffassungen einzelner Parteitheoretiker und führer aneinandergereiht, sondern auf breiter Quellengrundlage thematische Aspekte erarbeitet wie z.B. das Verhältnis der Sozialdemokratie zum zeitgenös7 Zu einem entsprechenden Ergebnis kam zuletzt auch Alsmeier, dort bes. S.94-97. Die Vielschichtigkeit der Problematik »Kirche in der DDR« vermitteln z.Zt. am besten die sich durchaus widersprechenden Beiträge in den Materialbänden VI, 1 und 2 der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (Materialien). 8 Naumann, bes. S.6-65; Eder, bes. S.29-52; Adam, bes. S.37-78; Miller, Problem, S.161-76; Reite, bes. S.161-238; McLellan, Marxism, bes. S.61-76. Vgl. auch Kandel, S.304-25. 9 Horvath,bes. S.263-418. 10 Grote, Religion. Vgl. ergänzend den., Protestantismus; ders., Länder; ders., Quaestor.

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sischen Katholizismus. Das Verdienst dieser Studie kann an dem Umfang ermessen werden, in dem bis in die jüngste Zeit auf ihre Ergebnisse zurückgegriffen wird. Dennoch hat sie mit anderen Arbeiten das Problem gemein, daß ein klarer analytisch-interpretativer Zugriff fehlt, ein Problem, das auch hier auf einen Mangel an Kontextualisierung zurückzufuhren ist. Im Gesamtduktus und in der Ergebnisformulierung unterscheiden sich daher Grote und die anderen Darstellungen nicht so sehr: Sie konstatieren die zunehmende, teilweise auf kirchliche Defizite11 zurückzuführende Entfremdung und Gegnerschaft im Verhältnis der Sozialdemokratie zu Kirchen und Religion, während Parteipositionen religiöser Neutralität auf taktische Erwägungen zurückgeführt und positivere Einstellungen als Minderheitsvoten gekennzeichnet werden. Die Religionskritik der Sozialdemokratie wird entweder aus den Schriften von Marx und Engels oder aber stärker aus dem »bürgerlkh-atheL·tischen Waffenlager« hergeleitet; in beiden Fällen gerät sie unter das Verdikt, »nichts Eigenständiges« hervorgebracht zu haben.12 Im Hintergrund steht bisweilen die Vorstellung, daß es sich beim Gegeneinander von früher Sozialdemokratie und christlicher Religion um wechselseitige, gewollte oder ungewollte Missverständnisse gehandelt habe. Anders scheinen sich manche Autoren die vermeintliche »intellektuelle Ignoranz« sozialdemokratischer Positionen nicht erklären zu können, sieht man von dem Verweis auf das negative Erscheinungsbild der Kirchen und ihr sozialpolitisches Versagen einmal ab. Weiter fuhren Überlegungen von Eric J . Hobsbawm, Vernon Lidtke, Hugh McLeod, Lucian Hölscher sowie von Willfried Spohn. Hobsbawm und Lidtke, McLeod und Hölscher stellen das Verhältnis von Sozialismus und Religion in den Zusammenhang profilierter Konzepte von »Säkularisierung« (»secularisation« bzw. »dechristianisation«). Unter Berücksichtigung von Forschungen zur Arbeiterreligiosität und lokal- bzw. regionalgeschichtlichen Arbeiten entwickeln sie Typologien von Säkularisierung in der sozialistisch affizierten Arbeiterschaft, wobei bei Lidtke und McLeod als Endpunkt der Entwicklung Ablehnung des Christentums und sozialistische Identifikation korrelieren 13 , während Hölscher Formen der Säkularisierung im Milieu eher nebeneinanderstellt14 und zudem - wie früher schon Hobsbawm - diesen Prozess durch den Vergleich von Bürgertum und Arbeiterschaft präziser soziostrukturell kontu11 Wichtige Arbeiten zum Thema »Die Kirche vor der ›sozialen Frage«« seit den 1960ern: Shanahan; Vorländer, Brakelmann, Wichern;Hanisch, Denken;Brakelmann, Kirchenleitungen;Friedberger; Marbach, bes. S. 125-130; Zöllner; Kouri; Soziale Frage; Marquardt, Arbeiterbewegung; Görner; Auer, Protestantismus. 12 \Δ Zitate aus Brakelmann, Soziale Soziale Frage, Fragc, S.99. S.99. 13 Lidtke, Class, Typologie S.34; McLeod, Protestantism, Typologie S.327; vgl. ders., De­ christianization; ders., Western Europe (S.118-31 über Religion und Arbeiterklasse); ders., C o m parison. 14 Höbeher, Weltgericht, S.163-198, hier bes. S.190-98.

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riert.15 Spohn hingegen betont die konfessionelle Ungleichmäßigkeit des Säkularisierungsprozesses und daraus folgend die Bildung der Arbeiterklasse entlang einer konfessionellen Linie und die Entstehung einer »protestant working-class ethic in secular-religious ways« in der sozialistischen Arbeiterbewegung.16 Zu verschiedenen Fragen geben Einzeluntersuchungen weitere Aufschlüsse. Erwähnt seien Arbeiten zum Lassalle-Kult17, zum Jesusbild der frühen Sozialdemokratie 18 , zur Kirchenaustrittsbewegung in der Partei19, zum Verhältnis von religiösem Dissidententum und sozialistischer Arbeiterbewegung 20 , zu religiösen bzw. religionskritischen Positionen einzelner Sozialdemokraten 21 und zu religiösen Motiven, Metaphern und Symbolen in Publizistik und Praxis der Sozialdemokratie. 22 Das Verhältnis zu Kirchen und Religion berühren auch einige lokal-bzw. regionalgeschichtliche Darstellungen zur Arbeitergeschichte und zur Geschichte der Sozialdemokratie. 23 Ebenso behandeln umfassendere 15 Hobsbawm, Religion; Höbeher, Säkularisierungsprozesse. 16 Spohn, Religion. Erweiterte Fassung von den., Piety, Vgl. auch ders., Komponenten, bes. S.202f.. 17 Korff, Bemerkungen, bes. S.222-227; Herzig, Lassalle-Kult; ders., Lassalle-Feiern.

18 Rotfes, (allerdings auf problematischer Quellenbasis; so wird das 1872 in fünfter Auflage erschienene freireligiöse Jesus-Buch G.Lommels zu einseitig für die Sozialdemokratie vereinnahmt und überbewertet). 19 Kaiser, Sozialdemokratie, S.268-77.

20 Kolbe. Die Arbeiten von Wunderer und Kaiser, Arbeiterbewegung, berücksichtigen überwiegend einen späteren Zeitraum.

21 Lidtke, Bebel (wichtig durch die Einbettung in die Religionsdiskussion der frühen Sozialdemokratie insgesamt); Colberg; Kösling; Geiger; Prüfer, Boruttau. Colberg betont ein vermeintlich »apokalyptisches« Denken Lassalles und stellt ihn etwas vordergründig als selbsternannten »Welterlöser« (S. 107-13) dar. 22 Zu religiösen Motiven und Metaphern in Parteilyrik und -liedern: Diehl, S.342f.,371-83; Pohl, Allegorie (behandelt späteren Zeitraum; S.158-65 aber wichtige grundsätzliche Bemerkungen); Kömer, Idee, S.445-468 (in der überarbeiteten Fassung der Dissertation 1997 fehlt dieses Religionskapitel, daher bezieht sich die vorliegende Arbeit überwiegend auf die Promotionsschrift von 1995). Vgl. ders., Lied. Zur religiösen bzw. nichtreligiösen Qualität sozialistischer Zukunftsvorstellungen bes. Hölscher, Weltgericht; vgl. auch Calkins; Langewiesche, Fortschritt. Für Diehl werden religiöse Formen rein instrumentell verwendet,»[...] um das Rezeptionsniveau und die Erwarcungshaltung ideologisch rückständiger Adressaten zu berücksichtigen« (S.374); differenzierter Höhcher, Weltgericht. Eine religiöse Prägung sozialistischer Festkultur wird zumeist erst im Blick a u f die Maifeiern ab 1890 in der Literatur thematisiert; vgl. hierzu mit weiteren Literaturangaben Korff, Volkskultur (S.99-102: »Der Mai als Religionsersatz?«). 23 Köllmann, S.150-53,198-212 (Entkirchlichung und sozialdemokratische Umdeutung christlichen Gedankenguts); Hunley, (S. 144-48: im Ruhrgebiet Stimmenverluste der Sozialdemokratie an das Zentrum durch den Kulturkampf; hohe Stimmenanteile für die Sozialdemokraten in Barmen-Elberfeld, motiviert durch die kirchliche Prägung der Arbeiter); Tenfelde, Sozialgeschichte (religiöser Niedergang, aber auch Beharrungskraft des Katholizismus im Bergarbeitermilieu); Kraus (Betonung der wachsenden Kluft zwischen Pastoren und proletarischen Gemeindegliedern); Vogt, Arbeiterbildung (bestreitet S.385-417 dezidiert eine starke Entfremdung von katholischer Arbeiterschaft und Kirche zumindest vor 1890); Fasst (Entkirchlichung); Htckey (betont die bleibende religiöse Prägung der Bergarbeiter); Klopp; Mallmann, Ultramontanismus; McLeod, Poverty;

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ideen-, Ideologie- und mentalitätsgeschichtliche Darstellungen zur sozialistischen Bewegung die »religiöse Frage«.24 Gerade diese Forschung bedient sich immer wieder eines Topos, der, wie für Spohn 1991 bereits erwähnt, insgesamt die Literatur zum Thema prägt: die Charakterisierung des antikirchlichen und antichristlichen Sozialismus als eine Form von »Religion«, als »säkularer Glaube«, »Religionsersatz« und »Ersatzreligion« oder »politische Religion«.25 Gelegentlich beruhen diese Kennzeichnungen auch auf zeitgenössischen Umfragen zur Religiosität von Arbeitern oder auf den Aussagen zur Religiosität, die in den den Untersuchungszeitraum berührenden Arbeiterautobiographien getroffen werden. Diese Quellen betonen zumeist zugleich die Kirchenentfremdung bzw. Kirchenfeindschaft der sozialdemokratischen Arbeiter.26 Bereits diese Vorbemerkungen zum Untersuchungsgegenstand lassen erkennen, daß das Verhältnis der frühen Arbeiterparteien zu Kirchen und Religion in umfassendere Forschungskontexte einzubetten ist, die in nicht wenigen der vorliegenden Studien zum Thema allerdings unberücksichtigt geblieben sind. Das betrifft zum einen Forschungsprobleme zur Geschichte der frühen Sozialdemokratie, zum anderen solche zur Frage des Stellenwertes von Religion in der Moderne. Die Marxismus-Rezeption der Sozialdemokratie bis zum Erfurter Programm galt in der Epoche der Ost-West-Konfrontation als ein »locus classicus« der Kontroverse zwischen »bürgerlicher« und »marxistisch-leninistischer« Geschichtsschreibung. Im Ergebnis kann der Einfluss von Marx' und Engels' Theoriebildung auf die deutsche sozialistische Parteiprogrammatik und vor alPohl, Sozialdemokraten (behandelt die Zeit nach 1890). Hervorzuheben als Zusammenschau auch der lokal und regional orientierten Einzeluntersuchungen ist die Übersicht in RitterITenjelde, S.747-780 (mit weiterer Literatur). Ritter und Tenfelde behandeln auch überblicksartig die Stellung der Kirchen zur »sozialen Frage« (S.757-765) und der Sozialdemokratie zu Kirchen und Religion (S.765-770). - Vgl. auch die grundlegenden Bemerkungen in Kaschuba, S.29,78-80,117. 24 LeBon; Sombart; Hermes; Holzheuer; Man, Psychologie;Miller, Problem, bes. S.161-76; Emig, bes. S.94-103; Leonhard-Schmid. Erwähnt sei auch die überraschende Vernachlässigung der Religionsfrage in einigen prominenten Ideologie- und kulturgeschichtlichen Arbeiten, wie z.B. Steinberg, Sozialismus (obwohl sich Steinberg auch mit der Verbreitung aufklärerischer Schriften in der Sozialdemokratie auseinandersetzt); Lidtke, Culture. Vgl auch Meurer (geht auf die Entstehung der politischen aus der theologischen Kritik im Vormärz ausführlich ein, greift aber dieses auch nach 1863 virulente Thema für die organisierte Sozialdemokratie nicht mehr auf)· 25 Le Bon, S.85-103 (Entwicklung des Sozialismus zu einer religiösen Form); Sombart, bes. Bd.l, S.226-254;Holzheuer, bes. S.87;Mm, Psychologie, S.90-122;Emig, S.94-103.292; LeonhardSchmid, S. 132-136 (Betonung der bewussten Funktionalisierung religiöser Sprache mit dem Ziel religionsunabhängiger Bewusstseinsbildung). Als »Religion« erscheint in diesen Studien der sozialistische »Wissenschaftsglaube«, aber auch der Sozialismus selbst. 26 Vgl. Loreck, S.145-156 (Zusammenhang Lösung von der Kirche und Eintritt in die Sozialdemokratie in Arbeitererinnerungen); Federlein (u.a. Religiosität als Motiv für Protestverhalten von Arbeitern); Evans (Kirchenfeindschaft von Hamburger Arbeitern); Reuter (vorwiegend theoretisch). Wichtig erst für die Zeit nach 1900, aber immer wieder auch für den Untersuchungszeitraum 1863-1890 in Anspruch genommen: Rade; Levenstein; llgenstein.

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lern auf die Parteipraxis vor 1890 als relativ gering bezeichnet werden, wobei allerdings die Jahre des Sozialistengesetzes 1878-1890 auf der theoretischen Ebene auch als Phase einer allmählichen »marxistischen Durchdringung« gelten.27 Die häufige Charakterisierung der frühen Parteiideologie vor dem Sozialistengesetz als »eklektizistisch« kann hingegen kaum als befriedigend angesehen werden. 28 Die Frage nach dem Aufgreifen des umfangreichen religionskritischen Schrifttums von Marx und Engels in der deutschen Arbeiterbewegung hat diese Rezeptionsforschung weitgehend vernachlässigt. Auch hier wird der Befund für die Zeit vor 1890 insgesamt eher negativ ausfallen, jedoch wird bisweilen auf einen wachsenden Einfluss der Marx-Engels'schen Religionskritik seit den 1880ern hingewiesen. 29 Die Kritik von Kirche und Religion durch Marx und Engels steht in der vorliegenden Studie nicht im Mittelpunkt des Interesses, da sie nicht als Rezeptionsgeschichte konzipiert ist und zudem in der Parteipresse, aber auch in den Schriften Bebeis und anderer keineswegs immer das einzelne religionskritische Argument explizit auf Aufklärer, Frühsozialisten, Linkshegelianer, Marx und Engels oder spätere »bürgerliche« Autoren zurückzufuh-

27 Zum Forschungsstand von 1986 Hanisch, Studien (hervorgehoben sei Hanischs immer noch aktuelle Forderung am Schluss seines Berichts S.609f, Ideologie- und Mentalitätsgeschichte zu verknüpfen, um von den unfruchtbaren Neuauflagen der Theoriediskussion in der Parteielite wegzukommen). Vgl. zusammenfassend Grebing, S.78-83 (gibt S.78f. und S.81 zu bedenken, daß die marxistische Durchdringung klar von der wachsenden »radikalen Mentalität« im sozialdemokratischen Milieu unterschieden werden sollte, die in den 1880er Jahren eher anarchistisch als marxistisch orientiert gewesen sei). Weiterhin Miller, Problem; Skrambas (Gegenposition); differenziert Stephan; Steinberg, Sozialismus; Lidtke, Culture (S.194f: schwache marxistische Prägung als wesentliches Charakteristikum der sozialdemokratischen »alternative culture«). Spohn, Komponenten, benennt überzeugend die bestimmenden »politisch-kulturellen Dispositionen« (S.206) der frühen sozialdemokratischen Arbeiterkultur - »Emanzipation der Arbeiterklasse«, »Radikalisierung der Aufklärung«, »Säkularisierung des Protestantismus«, »revolutionäre Demokratisierung«, »evolutionistischer Industrialismus«, »Staatssozialismus«; seine (für die Forschung typische) Bezeichnung dieses Bündels von Mentalitäten als »sozialdemokratischer Marxismus« aber erscheint keineswegs zwingend. Vgl. Groh, Arbeiterbewegung. Die die genannten Arbeiten mitbestimmende Frage, ob Marx und Engels durch eine »ökonomistisch-deterministische« Rezeption in der deutschen Sozialdemokratie »missverstanden« wurden, kann hier nicht näher erörtert werden. 28 Häufig begegnet die Periodisierung 1863-1878 als »Periode des Eklektizismus« gegenüber 1878-1890 als »Periode der Marxismus-Rezeption«, so zentral bei Miller, Problem; Steinberg, Sozialismus; vgl. auch Höhcher, Weltgericht, S.298, 333f.. »Eklektizismus« zur Beschreibung früher sozialdemokratischer Ideologie und Kultur auch für die Zeit nach 1878 bei Lidtke, Culture, S.194. Stephan verwirft den Begriff, der nur als Gegenbegriff zu einer »wissenschaftlich-systematischen sozialdemokratischen Weltanschauung« stehen könne, welche jedoch kaum klar zu bestimmen sei (S.275f); sie spricht angemessener, jedoch inhaltlich recht unbestimmt von der »Entwicklung der sozialdemokratischen Weltanschauung« als »Theoriebildungsprozeß sui generis« (S.21). 2 9 Die Tendenz, den Einfluss der Religionskritik von Marx und Engels niedrig anzusetzen, überwiegt deutlich in der (allerdings nur bis 1875 reichenden) Studie von Grote, Religion. Zum zunehmenden Einfluss genuin marxistischer Religionskritik während des Sozialistengesetzes Lidtke, Bebel, S.257f.; McLellan, Marxism, S.61-63.

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ren ist.30 Zumindest aber sei an dieser Stelle stichwortartig an den spezifischen Bezugsrahmen erinnert, mit dem Marx und Engels über die »bürgerliche« Religionskritik hinausgingen: Religionskritik als Ideologiekritik im Rahmen des Basis-Überbau-Konzepts; der dialektische Charakter von Religion als Ausdruck des gesellschaftlichen Elends und zugleich als »Protestation« gegen dieses Elend; die historische und aktuelle Kritik an der positiven Religion als »Klassenideologie«; die Annahme des »Absterbens« von Religion unter den zukünftigen Verhältnissen einer revolutionierten »Basis«; in Konsequenz daraus die Kritik an einem »überflüssigen« militanten Atheismus. 31 Die Marxismus-Rezeption der deutschen sozialistischen Parteien wird in der Historiographie oft im Blick auf einzelne führende Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie diskutiert, die jedoch zugleich als Repräsentanten konkurrierender Flügel in der Arbeiterbewegung erscheinen. Ob entsprechende Modellbildungen von »Parteiflügeln« tatsächlich tragen, kann nur die Analyse einzelner Auseinandersetzungen in den Arbeiterparteien erweisen, zumal gerade an der Parteibasis und im sozialdemokratischen Wählermilieu die Kategorie des »Eigen-Sinns« nicht vernachlässigt werden sollte.32 Unter Berücksichtigung dieser Vorbehalte können die gängigen Zuschreibungen als Arbeitshypothesen übernommen werden: zum einen die Konfliktlinie zwischen ADAV und SDAFJ »Lassalleanern« und »Eisenachern« bis zur Parteieinigung 1875 (und darüber hinaus) 33 ; zum anderen die Linie zwischen den an Legalismus, Parlamentarismus und Reform orientierten »Moderaten« und den stärker Agitation und Fundamentalopposition betonenden »Radikalen« in der Zeit

30 Bezeichnend ist das unscharfe Bild bei Reitz, der eine offensichtlich allgemein-aufgeklärte mit der »marxistischen« Religionskritik gleichsetzt: Das Christentum habe nach Überzeugung Bebeis »[...] die Menschheit in Knechtschaft und Unterdrückung niedergehalten und sei vonjeher als wirksamstes Werkzeug politischer und sozialer Ausbeutung benutzt worden. Bebel stand also in der Tradition der marxistischen Sicht von Religion und Kirche.« (S. 175) Die Frage nach der »Originalität« einzelner vermeintlich Marxscher religionskritischer Topoi wird in der Forschung nicht hinreichend beantwortet. 31 Horväth, S.23-262 zu Marx und Engels; McLellan, Marxism, S.7-57; Stoppe. 32 Zu diesem Begriff vgl. zuletzt Lüdtke, Synchrony (zum religiösen »Eigen-Sinn« S.63f 66). Der Zusammenhang zwischen sozialer Basis der Sozialdemokratie und innerparteilicher Flügelbildung gilt in der Forschung noch als weitgehend ungeklärt. 33 Diese Konflikte wurden allerdings häufig überbewertet und zuungunsten »unreifer« Auffassungen im ADAV ausgelegt, so noch in der Darstellung von Meurer, S. 147-274. Notwendige Korrekturen an den üblichen Gegenüberstellungen (z.B. bezüglich des Demokratie-, Staats- und Revolutionsverständnisses von ADAV und SDAP) schon bei Stephan. Als bedenkenswerter Einspruch gegen die einseitige Betonung einer Konfliktlinie ADAV/SDAP ist auch die Arbeit von Gotthard zu sehen, der S.402 zur »Erfassung der jeweiligen ideologisch-politischen Hauptrichtungen unabhängig von ihrer vordergründigen Parteiheimat« auffordert. Dazu leistet die Studie selbst durch die Analyse reformistischer, ouvrieristischer und syndikalistischer Positionen in den frühen Klassenorganisationen einen gewichtigen Beitrag.

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des Sozialistengesetzes, entsprechend den Definitionen der klassischen Studie von Vernon Lidtke. 34 Um den modellhaften, unabgeschlossenen Charakter dieser Grundschemen zu unterstreichen, sei jedoch auch auf Binnendifferenzierungen innerhalb der dualistischen Konzepte und auf alternative Modelle hingewiesen: etwa auf die Bedeutung eines »ethischen Sozialismus« innerhalb des moderaten Flügels, auf Gruppen außerhalb dieses Schemas - prominentestes Beispiel: die 1880 aus der Partei herausgedrängten »Anarchisten« Most und Hasselmann - und auf die von Lucian Hölscher getroffene Unterscheidung von »Utopisten«, die den Sozialismus als »endzeitliche Zukunftshoffnung« verstanden, und »Modernisten», die ihn eher als »Katalog ökonomischer, ethischer und politischer Prinzipien« auffassten - eine Konfliktlinie, an der entlang sich die »Zukunftsdebatte« der Sozialdemokratie im Kaiserreich bewegte.35 Es wird zu fragen sein, inwieweit die »Religionsdebatte« in den Arbeiterparteien den genannten Lagern zugeordnet werden kann oder ob die Positionen in der Religionsdebatte sich quer zu diesen entwickelten und auch Raum für ungewöhnliche Koalitionen innerhalb der Sozialdemokratie boten. Sowohl Marxismus-Rezeption als auch Flügelbildung in den Arbeiterparteien stehen mit einem dritten Forschungsproblem in Zusammenhang, dem Messen der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung an den Kategorien »Bürgerlichkeit«, »Unbürgerlichkeit« und »Antibürgerlichkeit« bzw. »Verbürgerlichung« und »Entbürgerlichung«. 36 In der Forschung überwiegt seit den 1960er Jahren die - teils ideologiekritisch zugespitzte - Auffassung von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung als »[...] Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenbereich: diszipliniert, ordentlich, zielstrebig, bildungsbeflissen, erzieherisch gegenüber den Massen, zunehmend am Leitbild der bürgerlichen Familie und bürgerlichen Sexualität orientiert, modern, sogar technikfreundlich, fortschritts- und wachstumsorientiert.« 37 »Bürgerlichkeit« und Marxismus werden allerdings in der Regel eher als Antagonismus betrachtet, die Träger einer bewussten oder unbewussten »Verbürgerlichung« auf dem »rechten« Parteiflügel als nicht oder nur »partiell« marxistische Sozialdemokra-

34 Lidtke, Party, bes. S. 138-45, 149-54. Vgl. zur innerparteilichen Kontroverse über den Stellenwert parlamentarischer Arbeit Pracht. 35 Zu den frühen »ethischen Sozialisten« ist bemerkenswert wenig gearbeitet worden. Zur Vorgeschichte des ethischen Sozialismus revisionistischer Prägung wird meist nur Friedrich Albert Lange genannt, so auch neuerdings in Holzhey. Dabei sind die einschlägigen Beschwerden von Marx über diese Richtung aus der Zeit vor 1890 hinlänglich bekannt; vgl. ebd., S.77f.. Zu Anarchismus und Sozialdemokratie: Linse; »Modernisten« und »Utopisten«: HöUcher, Weltgericht, S.190. 36 Bausinger, Emig (als Beispiel einer konsequenten, jedoch einseitigen Bürgerlichkeitsthese); Kocka, Arbeiter (mehrere Beiträge); Ritter/Tenfelde, S.837f; Kocka, Arbeiterbewegung. 37 Kocka, Arbeiterbewegung, S.491.

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ten.38 »Bürgerliche« kulturelle und ideologische Dispositionen in der Sozialdemokratie galten in der Vergangenheit selbst manchem nicht dem orthodoxen Marxismus-Leninismus verpflichteten Historiker als Abweichung von der »reinen Lehre«.39 Zum einen aber erscheint gerade in der Perspektive »nach 1989« der Beitrag der Sozialdemokratie zur Fortentwicklung der bürgerlichen Zivilgesellschaft weniger als »Verrat« denn als positive historische Leistung40; zum anderen ist vor allem durch die Arbeiten von Hartmut Zwahr die Dialektik eines Emanzipationsprozesses in der Arbeiterbewegung erkannt worden, der eine begrenzte Verbürgerlichung zur notwendigen Voraussetzung von Entbürgerlichung und »klassenbewußter« Antibürgerlichkeit hatte.41 Daß die Stellung der Sozialdemokratie in Bürgergesellschaft und Bürgerkultur auch die Religionsdebatte berührte, liegt auf der Hand: Zum »bürgerlichen Erbe«, dem sich die Arbeiterparteien seit der »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie«42 zu stellen hatten und das anzutreten sie zumeist emphatisch in Anspruch nahmen, zählten kirchenkritische, freireligiöse und atheistische Traditionen, die in der zeitgenössischen Bürgergesellschaft gepflegt und weiterentwickelt, später aber auch revidiert wurden. Konnten hier potenzielle ideologische Gemeinsamkeiten in Tagesbündnisse mit dem politischen Liberalismus umgesetzt werden? Oder beförderte das Diktum von der »Beerbung« des Liberalismus durch die Arbeiterbewegung eher die Abgrenzung vom Bürgertum und seinen »Religionsauffassungen«? Auch die »Bürgerlichkeit« der Sozialdemokratie in kulturellen Prägungen und Wertauffassungen versteht Günter Roth als Ausdruck der »negativen Integration«, die das Verhältnis von Arbeiterschaft, Arbeiterparteien und Kaiserreich bestimmt habe. Das von Roth entwickelte43, in der Forschung breit rezipierte und besonders in den Arbeiten von Dieter Groh weitergeführte 44 Konzept will hinsichtlich der Arbeiterparteien durch ein doppeltes Argument überzeugen. »Negative Integration« wird hier auf der einen Seite als spezifische Ausgrenzungsstrategie von Staat und dominanter Gesellschaft (Aristokratie, 38 Daß zunächst flügelübergreifend Reformisten, Radikale und »orthodoxe Marxisten« in der sozialdemokratischen Kulturbewegung die Verbreitung der etablierten bürgerlichen Kultur befürworteten, betont hingegen Lidtke, Culture, S.198. 39 Besonders krass bei Emig, z.B. in dem Kapitel über Wilhelm Liebknecht S. 128-53, das auf das Verdikt zuläuft: »Mit keinem Wort wurde in Liebknechts Werk die Möglichkeit einer wirklich neuen Kultur erwogen, etwa einer auf den Lebensinhalten und Denkformen der Industriearbeiter aufbauenden Form der Daseinsbewältigung im Hinblick auf eine Geseilschaft ohne Klassenspaltung. Nirgends wurde von Liebknecht die Überwindung der bürgerlichen Kultur auch in ihrer von Auswüchsen gereinigten Form gefordert.« (S.153). 40 Kocka, Arbeiterbewegung, S.494-96. 41 Zwahr, Konstitution, bes. S.177-86; den., Verbürgerlichung. 42 Mayer, Trennung. 43 Roth, Social Democrats, bes. S.8-10, 311-22. 44 Groh, Attentismus (die frühe Parteientwicklunc von 1870 an berücksichtigt die Einleitung S.17-79); vgl. zuletzt ders., Integration.

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Militär, Bourgeoisie) gegenüber der Arbeiterbewegung verstanden. Diese Strategie habe die Sozialdemokratie als legale parlamentarische Kraft zwar zugelassen, der Entfaltung ihrer Wirksamkeit im öffentlichen Raum mit der Begründung ihrer »Reichsfeindschaft« und »Gemeingefährlichkeit« aber einschneidende Beschränkungen auferlegt und so durch Ausgrenzung der Minderheit integratives Zusammenstehen der Mehrheit erreicht, und dies trotz der gravierenden nationalen, verfassungspolitischen und sozialen Probleme im Kaiserreich. Der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung auf der anderen Seite sei es nicht gelungen, aus der Defensive dieses ihr zugewiesenen Status auszubrechen. Ideologisch habe sie mit der Umdeutung Marx-Engelsscher Theorien in eine deterministische Weltanschauung und in »revolutionären Attentismus« als spiegelbildliche Folge der »negativen Integration« von oben reagiert, Einstellungen, die durch das Spannungsverhältnis zum tagespolitischen Pragmatismus und Reformismus der Partei einen charakteristischen »Theorie-Praxis-Widerspruch« der Sozialdemokratie begründet hätten. Die im sozialistischen Milieu hervorgebrachte »Subkultur« sei zudem, so ein weiterer Gesichtspunkt, über die Vermittlung wirkungsmächtiger Sozialisationsinstanzen an bürgerlichen Kulturauffassungen und Wertvorstellungen orientiert gewesen, so daß sie letztlich als Stütze der »dominanten Kultur« gewirkt habe.45 Diesem Konzept der negativen Integration ist oft in überzeugender Weise widersprochen worden. 46 Mit der Kritik sind Korrekturen an einem Interpretationsmodell ermöglicht worden, das arbeitshypothetisch zugrundezulegen sich immer noch empfiehlt. In Bezug auf die zur Debatte stehende »Religionsfrage« wird beispielsweise zu untersuchen sein, ob hier sinnvoll von einer mehr oder weniger geschlossenen »dominanten Kultur« gesprochen werden kann, der sich die Auffassungen der Sozialdemokratie in der religiösen Frage zu stellen hatten, ob antisozialistisch ausgerichtete kirchliche und religiöse Bekenntnisse den Charakter von »Ausgrenzungsstrategien« trugen, und inwieweit in der Religionsfrage von »negativer Integration« oder auch von »positiver Integration« gesprochen werden kann. Die »sozialwissenschaftliche Wende« in der deutschen Geschichtswissenschaft erfasste den Bereich der Kirchen- und Religionsgeschichte relativ spät in den ausgehenden 1970erJahren, häufig zunächst als Formulierungeines Desi45 Roth, Social Democrats, S.212-32. 46 Hingewiesen wurde 1. auf die Differenziertheit und Segmentation der kaiserzeitlichen Gesellschaft entgegen der Vorstellung einer monolithischen »dominanten Kultur«; 2. auf Elemente positiver Integration der sozialistischen Arbeiterbewegung in die Gesellschaft (z.B. über die Gewerkschaften oder die wahrgenommenen Möglichkeiten zur Koalitionsbildung); 3. andererseits auf den von der Roth-Schule unterschätzten subversiven und destabilisierenden Charakter der Arbeiterbewegung als Fundamentalopposition auch ohne offene revolutionäre Aktion; und damit 4. auf den real emanzipativen Charakter der sozialistischen Arbeiterorganisationen. Vgl. Ritter, Srtaat, S.79; Evans, Introduction, S. 18-41; Lidtke, Culture, S.4-20.

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derats.47 In der Vergangenheit hatten die »Profanhistoriker« dieses historiographische Feld weitgehend Kirchenhistorikern überlassen, deren konfessionsgebundene, bisweilen auch theologisch bestimmte Forschungen nicht selten eine profangeschichtliche Kontextualisierung vermissen ließen sowie theoretische und methodologische Fragestellungen der Historik nur ungenügend berücksichtigten. In den letzten zwanzigjahren hat sich dieses Bild grundlegend geändert. Es können hier nur Beispiele genannt werden: etwa das neuerwachte Interesse am deutschen Katholizismus »im Umbruch zur Moderne« unter Einbeziehung modernisierungstheoretischer Ansätze oder der geschichtswissenschaftliche Beitrag zur interdisziplinären Volksfrömmigkeitsforschung und damit verbunden die Aufnahme einer alltagsgeschichtlichen Perspektive. 48 Die Reflexion sozialwissenschaftlicher Theoriebildung im Blick auf kirchen- und religionsgeschichtliche Fragestellungen konzentriert sich in der vorliegenden Arbeit auf das »Säkularisierungsparadigma«. Dieses Paradigma begleitet die kirchen- und religionssoziologische Forschung seit ihren Anfängen und ist ihr meistrezipiertes, in der Fachdiskussion selbst jedoch unterschiedlich theoretisch gefasstes, zum Teil hochumstrittenes Konzept, so daß der Begriff ohne nähere Klärung nicht hilfreich sein kann.49 In der religionssoziologischen Diskussion besteht gegenwärtig die Gefahr eines überkomplexen, nicht mehr operationalisierbaren BegrifTsverständnisses. Dagegen erscheint es sinnvoll, Säkularisierung zunächst entsprechend dem herkömmlichen Verständnis in der Perspektive von »Rückgang« und »Verlust« zu fassen und dieses Verständnis in einer zweiten Überlegung zu erweitern. In der erstgenannten Perspektive können drei Ebenen von »Säkularisierung« unterschieden werden: 1. die institutionelle Ebene der »Entkirchlichung«. Hierunter fällt die Zurückdrängung der verfassten Kirche aus Positionen des öffentlichen Lebens insbesondere durch die Trennung von Staat und Kirche und die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht sowie der Rückgang der Teilnahme am kirchlichen Leben und Brauchtum in der Bevölkerung (Kirchenbesuch, Abendmahlsfrequenz, kirchliche Tauf-, Trau- und Bestattungsraten); 2. die normative Ebene der »Entchristlichung«. Wertgebundene Auffassungen zu Politik (z.B. zur Begründung von Herrschaft), Wirtschaft (z.B. zu Reichtum und Armut) und Gesellschaft (z.B. zu Ehe, Familie und Sexualität) werden immer weniger von einem christlichen Normenkanon, sondern zu47 Vgl. zur Verhältnisbestimmung von Religions-, Kirchen- und Sozialgeschichte: Schieder, Religionsgeschichte; Dülmen; Reinhard, Evans, Religion; Thadden; Schieder, Religion; Francois; Sperber, Kirchengeschichte; Greschat; Schieder, Sozialgeschichte; Btaschke/Kuhlemattn, Geschichte. 48 Zum modernen Katholizismus: Lill;Loth, Katholizismus;Klönne (Forschungsbericht); vgl. auch Altermatt. Zur Volksreligiositätsforschung: Baumgartner; Brückner/KorfflScharfe; Schieder, Volksreligiosität. 49 Grundlegende Literatur: Lübbe, Säkularisierung; Dobbelaere; Strätz/Zabel; Tschannen: Bruce. Grundsätzliche Kritik des Konzepts bei Blumenberv, S.9-134.

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nehmend von anderen Agenturen der Wertorientierung (laisierter Staat und seine Institutionen, laisierte Schule, Wissenschaft, politische und gesellschaftliche Gruppen) vermittelt; 3. die »weltdeutende« Ebene des »Verlustes von Religion«. Religion schwindet im Sinne des »Verlustes von Transzendenz« (substanzieller Religionsbegriff), aber auch im Sinne des Verlustes der von ihr ausgeübten Funktionen (funktioneller Religionsbegriff), die nun teilweise von anderen Funktionsträgern wahrgenommen werden: Funktionen der Identitätsstiftung durch Affektbindung oder Angstbewältigung; der Handlungsführung im Außeralltäglichen; der Kontingenzbewältigung; der Legitimation von Gemeinschaftsbildung und sozialer Integration; der Kosmisierung von Welt; der »Ermöglichung von Widerstand und Protest gegen einen als ungerecht oder unmoralisch erfahrenen Gesellschaftszustand«.50 Neuere historische Forschungen zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die das Säkularisierungskonzept unter der Perspektive von »Rückgang und Verlust« aufgenommen haben, wandten sich am häufigsten dem relativ leicht zu operationalisierenden Problem der Entkirchlichung (Ebene 1) zu als einem Phänomen, das es zu quantifizieren, regional, temporal und soziostrukturell zu differenzieren und hermeneutisch zu erfassen gilt. Entkirchlichung wird in diesen Arbeiten in den epochalen »Prozeß der Moderne« und damit - im Rahmen fundamentaler Tendenzen der Rationalisierung und Differenzierung - in Kausalzusammenhänge von Aufklärung, Fortentwicklung des modernen Nationalstaats, Aufstieg des Kapitalismus, Industrialisierung und Urbanisierung eingebunden. 51 Als den Modernisierungsprozess konstituierendes bzw begleitendes Phänomen versteht man Säkularisierung auch dort, wo seltener - Entchristlichung (Ebene 2) und »Religionsverlust« (Ebene 3) als grundlegende mentale Prozesse thematisiert werden, wie etwa bei Werner K. Blessing 52 und Lucian Hölscher. Diese Arbeiten begegnen dem herkömmlichen Verständnis von Säkularisierung allerdings durchaus kritisch. Daß »Säkularisierung« als ein kollektive Identitäten verändernder Prozess zunächst bürgerliche Schichten, dann aber verstärkt und als Massenphänomen größere Teile der Arbeiterschaft erfasste, wurde von der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsforschung immer wieder betont.53 Die erwähnten, an entspre50 Diese die reiigionssoziologische Diskussion zusammenfassende Übersicht zu den möglichen Funktionen von Religion folgt Kaufmann, Suche, hier S.84f. (dort auch die zitierte Formulierung). Eine so enge Anlehnung an die funktionalistische Religionssoziologie wie bei Schlägt (orientiert an N. Luhmann) ist in der historischen Forschung allerdings die große Ausnahme. 51 Vgl. die in den Anm. 13 und 23 genannte Literatur. Ergänzend Arbeiten von Lucian Hölscher: die Kapitel über Entkirchlichung in Hölscher, Weltgericht, S.140-63; die detaillierte Lokalstudie zu Hannover: Hölscher/Männkh-Polenz; zum Zusammenhang von Säkularisierung und Urbanisierung: ders., Secularization. 52 Blessing, Staat. 53 Vgl. auch Hölscher, Säkularisierungsprozesse.

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chende lokale und regionale Studien anschließenden Modelle von Vernon Lidtke und Hugh McLeod, die implizit auf einem den kirchlich-religiösen Niedergang betonenden Säkularisierungskonzept aufliegen, beziehen die drei Ebenen der Entkirchlichung, der Entchristlichung und des Religionsverlustes entsprechend auf Prozesse der »proletarischen Bewusstseinsbildung« in der sozialdemokratisch orientierten Arbeitschaft.54 Das hier umrissene Konzept steht allerdings in Gefahr, Säkularisierung als einen unilinear-teleologischen, irreversiblen Entwicklungsprozess aufzufassen. Die drei genannten Ebenen aber sollten lediglich eine analytische Hilfestellung bieten; keinesfalls sind sie als Stufenreihe zu verstehen, die zwangsläufig einer Art »inneren Radikalisierungslogik« folgt. Neuere historische Arbeiten zur deutschen Geschichte haben dies auch dadurch unterstrichen, daß sie auf Grenzen der Säkularisierung in bestimmten Sozialmilieus (Katholizismus) und auf Phasen einer »Rechristianisierung« im ausgehenden 19. Jahrhundert verwiesen haben.55 Die religionssoziologische Forschung und die zu dieser Frage arbeitende geschichtswissenschaftliche Literatur formulieren heute das Säkularisierungsparadigma in einer Weise, die von einem komplexeren, widersprüchlicheren Verhältnis von Religion und Moderne ausgeht. Auch der Begriff der Moderne hat sich dabei nicht immer als konsistent erwiesen, z.B. bei der Analyse eines sozialemanzipativ wirkenden proletarischen Protestes, der auf kirchlich vermittelten, fundamental antimodernen kapitalismuskritischen Grundhaltungen basierte.56 Wichtiger noch sind in diesem Zusammenhang zwei weitere Feststellungen. Erstens durchläuft auch die kirchlich verfasste Religion selbst einen Prozess der Modernisierung: zum einen durch die innerkirchliche Rezeption von Rationalismus und Religionskritik in Form von Volksfrömmigkeitskritik, historischkritischer Theologie und kultureller Öffnung insbesondere im Protestantismus; zum anderen durch die Entwicklung der Kirchen zu modernen Institutionen nicht trotz, sondern gerade infolge der tendenziellen Trennung von Kirche und Staat (kirchliche Presse, kirchliches Vereinswesen oder kirchliche Sozialarbeit). Ob alle oder einige dieser Formen kirchlich-religiöser Modernisierung, die zum Teil in spannungsvoller, zum Teil in harmonischer Beziehung zu einem häufig aggressiven kirchlichen Antimodernismus stan54 Siehe Anm.13. Vgl. Hölscher, Weltgericht, S.138f, zur Kritik an diesen Modellen, die zu statisch seien und Entwicklungsprozesse nicht hinreichend klären würden, wobei Hölscher betont, daß die Ablösung von religiösen durch säkulare Mentalitäten in der Arbeiterschaft weder eine radikale noch eine irreversible Entwicklung gewesen sei. 55 Zum Katholizismus vgl. die in Anm.48 genannten Titel; weiterhin Ebertz. Zur »partiellen Regeneration des kirchlichen Lebens der protestantischen Kirche« am Ende des 19. Jahrhunderts s. Hölscher, Weltgericht, S. 154-56 (Zitat S. 155); dersJMännkh-Poknz. Zusammenfassend Blaschke, 19. Jahrhundert. 56 Dazu exemplarisch Mailmann, Last.

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den, überhaupt in ein - revidiertes - Säkularisierungskonzept integriert werden können, ist zumindest fraglich.57 Dasselbe gilt eingeschränkt auch für eine zweite Feststellung: Religion unterliegt in der Moderne nicht nur einem Verlust, sondern auch einem Wandel ihrer Funktion(en), über den in der Religionssoziologie insofern abweichende Positionen bestehen, als ja auch keine Einigkeit über die »Grundfunktion« oder das »Funktionsset« von Religion besteht. Religion verändert jedenfalls ihr Erscheinungsbild, ein Transformationsprozess, der nicht unbedingt immer als »Verlust« zu stigmatisieren ist. Thomas Luckmann etwa, um einen in der Forschung breit rezipierten Autor zu nennen, spricht von der Individualisierung bzw. »Privatisierung« von Religion in der Moderne. 58 Der neben dem Funktionswandel konstatierte Verlust von Funktion(en), den Religion in der Moderne den Säkularisierungstheoretikern zufolge erleidet, lässt zwei Möglichkeiten zu: Enweder die in der »Vormoderne« von der Religion ausgeübten, jetzt aufgegebenen Funktionen werden für Individuum und Gesellschaft in der Moderne obsolet oder im Prozess der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft von anderen institutionellen Trägern übernommen. Viele Säkularisierungskonzepte sehen zudem in den »neuen Weltanschauungen«, den »modernen Ideologien« des 19. und 20. Jahrhunderts Systeme, die wesentliche Funktionen von Religion übernehmen. Zumeist in ideologiekritischer Absicht sind diese Ideologien auch als »Religionsersatz«, »Ersatzreligionen«, »säkulare« oder »politische Religionen« 59 bezeichnet worden. 57 Zur »Modernisierung von Religion« vgl. die in den Anm.48 und 55 genannten Titel (zum Katholizismus); außerdem das Spektrum der Beiträge in Blaschke/Kuhlemann, Kaiserreich, und in Müller. Aus religionssoziologischer Sicht Kaufmann, Perspektiven; Bruce. Das Modernisierungsargument sollte allerdings nicht überstrapaziert werden; wie stark gerade im katholischen Bereich auch »modernisierte« religiöse Praktiken einer scharf antimodernen Ideologie verpflichtet sein konnten, hat jüngst noch einmal die Studie von Busch, Moderne nachgewiesen. Die Unsicherheit der neuen Forschungen zu »Religion in der Moderne« gegenüber dem Säkularisierungskonzept wird immer wieder deutlich; siehe z.B. die Formulierungen bei Loth, Katholizismus, S.7; Blaschke/ Kuhlemann, Geschichte, S.9. 58 »Bei traditionellen Gesellschaften enthält der Heilige Kosmos wohlumschriebene Themen, die ein Universum ›letzter‹ Bedeutung bilden, das hinsichtlich seiner inneren Logik ausreichend zusammenhängt. Auch der moderne Heilige Kosmos enthält Themen, die rechtmäßig als religiös bezeichnet werden können. Diese Themen bilden jedoch kein geschlossenes Universum aus. Das Warenlager religiöser Repräsentationen - nur mehr ein Heiliger Kosmos im weiteren Sinn des Wortes - wird vom potentiellen Nutzer nicht als Ganzes internalisiert Statt dessen wählt der ›autonome‹ Konsument bestimmte religiöse Themen aus dem bereitstehenden Sortiment und baut sie zu leicht zerbrechlichen privaten Systemen ›letzter‹ Bedeutung aus. Die individuelle Religiosität ist somit keineswegs eine bloße Kopie oder eine Nachahmung des ›offiziellen‹ Modells.« Luckmann, S.145. 59 Begriff der »politischen Religion« erstmals zentral bei Voegelin. Vgl. Sironneau;Lübbe, Heilserwartung; Maier, Religionen; Maier, Totalitarismus. Vgl. zur Diskussion des Konzepts auch die kritischen Bemerkungen von Walkenhorst.

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Sowohl das Konzept der Säkularisierung, das im Folgenden idealtypisch primär unter der Perspektive von »Rückgang« und »Verlust« verstanden wird, um dann durch Korrekturen am Idealtyp Differenzierungen hinsichtlich der Stellung von Religion in der Moderne vornehmen zu können, als auch das zu diskutierende Konzept des Sozialismus als »politische Religion« können dazu beitragen, das Problem der »frühen deutschen Sozialdemokratie vor der religiösen Frage« genauer zu fassen. Welche Stelle nahm die Sozialdemokratie im Säkularisierungsprozess ein? Trieb sie Kirchenentfremdung und Irreligiosität im ihr nahestehenden Sozialmilieu voran, trug sie zur Säkularisierung von Staat und Gesellschaft bei? Gehen die Positionierungen der ja keineswegs monolithischen Sozialdemokratie gegenüber der religiösen Frage im Untersuchungszeitraum konform mit der Vorstellung von Säkularisierung als kirchlich-religiösem Rückgang und Verlust, oder weisen diese Positionierungen auf die notwendige Erweiterung eines solchen Säkularisierungsbegriffes hin? Lässt sich sozialistische Ideologie, lassen sich Mentalitäten im parteinahen Milieu in der Entwicklung von 1863 bis 1890 als »politische Religion« bezeichnen, und wie wäre dieser Befund in die Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung einzuordnen? Die Beantwortung dieser Fragen wird es schließlich auch erlauben, die Varianten des Verhältnisses von kirchlich-religiösen Loyalitäten zu »Klassenloyalitäten« präziser zu bestimmen. 60 Zieht man die Bilanz der bisherigen Überlegungen, ergeben sich daraus folgende Anforderungen an die vorliegende Arbeit: Zum einen darf sie sich bei der Analyse des Verhältnisses von früher Sozialdemokratie zu Kirchen und Religion nicht auf die Voten von Parteitagen und einiger weniger Parteiführer beschränken, sondern muss auch die »mittlere« und die »untere« Ebene, d.h. Einstellungen und Positionen »kleinerer« Parteifunktionäre und Agitatoren sowie der »einfachen« Parteimitglieder berücksichtigen. Zum anderen hat die Arbeit sich um eine angemessene politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung zu bemühen, die in den bisherigen Studien zum Thema vernachlässigt wurde. Diese sollte auch themenrelevante Fragestellungen der 60 In Kocka, Lohnarbeit, skizziert Jürgen Kocka S.23-30 ein Modell von Klassenbildung und geht auch auf die grundsätzliche Frage der »konkurrierenden Loyalitäten« ein: »Formal gesprochen, ist der Prozess der Klassenbildung deshalb niemals beendet, weil es immer konkurrierende Strukturen, Zugehörigkeiten und Fronten gibt, die die ›Klassenlinie‹ (das ist die Unterscheidungs-, Spannungs- bzw. Konfliktlinie zwischen den Klassen) überschneiden und überbrücken, also die Klassen intern gliedern, unterteilenja fragmentieren. Man denke an berufliche, ethnische, konfessionelle, nationale und andere nicht-klassenmäßige Trennungslinien bzw. Zugehörigkeiten, auch die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen [...]. Formal gesprochen ist die relativeJSchwächung dieser nicht-klassenmäßigen Differenzierungslinien, die die Arbeiterklasse durchfurchten und die Situationen, die Wahrnehmungen, die Erfahrungen, die Austauschbeziehungen und Loyalitäten, das Protest- und Organisationsverhalten der Klasssenmitglieder mitprägten, ein deutliches Zeichen für den Fortschritt des Klassenbildungsprozesses.« (ebd., S.29) Ob diesesformale Argument auch inhaldich trägt, möchte die vorliegende Untersuchung versuchen zu klären.

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Forschungsgebiete »frühe Sozialdemokratie« und »Religion in der Moderne« einbeziehen. Bei der Konzeptionierung der Untersuchung waren mithin die Schwierigkeiten zu berücksichtigen, die sich für eine differenzierende und zugleich in der Darstellung übersichtliche Aufarbeitung komplexer Zusammenhänge mit hohem Interdependenzniveau ergeben. Die vorliegende Arbeit schlägt vor, von einem »sozialdemokratischen Religionsdiskurs« zu sprechen. Mit dem Diskursbegriffwird der zentralen Bedeutung der Sprache bei der Konstituierung und Selbstverständigung einer sozialen Gruppe Rechnung getragen. »Die Sprache durchbricht alle simplifizierenden Vorstellungen von einer Determination des Bewusstseins durch das soziale Sein, denn sie ist selbst ein Teilelement des sozialen Seins. Folglich können wir nicht nur durch eine Dekodierung der politischen Sprache einen ursprünglicheren und materiellen Ausdruck von Interessen zu fassen bekommen. Vielmehr werden diese Interessen in erster Linie durch die diskursive Struktur der politischen Sprache geformt und definiert. Daher müssen wir die Produktion von Interessen, Identifikationen, Beschwerden und Wünschen innerhalb der politischen Sprachen selbst untersuchen.« 61

Gedacht ist in dieser Untersuchung jedoch nicht an eine Diskursanalyse im Sinne einer vorwiegend grammatikalisch-semiologischen Textanalyse. Diskurse sind im Verständnis der vorliegenden Arbeit analytisch zu de- und rekonstruierende »Denk- und Argumentationssysteme«62, die »[...] durch ihren Systemcharakter wie durch ihren Praxisaspekt an eine historische Zeit und an eine kulturelle Umwelt gebunden«63 sind. Der diskursanalytische Zugang »[...] geht jenen Fäden nach, welche die Stimme dessen, der redet, mit der diskursiven und durch sie vermittelten soziokulturellen Matrix verbindet, der sie entwuchs und auf die sie sich bezieht.«64 Der Diskurs ist also nicht selbst Akteur65, sondern Akteure sind zunächst ein bestimmter Autor, wodurch die verfasserbiographische Reflexion zum Bestandteil der Analyse wird, und bestimmte Diskursgemeinschaften. Vor allem aber wurzelt ein so verstandener Diskursbegriff zwar in der ideengeschichtlichen Tradition, versteht aber die politik-, sozial- und kulturgeschichtliche Kontextualisierung als elementar für die hermeneutische Erschließung des Diskurses.66 61 Jones, S.21. Jones äußert allerdings Vorbehalte gegenüber dem Diskursbegriffund bezeichnet sein Vorgehen enger als »Sprachanalyse«. Aus den im folgenden ausgeführten Gründen bevorzugt die vorliegende Arbeit jedoch einen (erweiterten) DiskursbegrirY. 62 Hartmann, Kulturanalyse, S.20. 63 Ebd, S.23. 64 Ebd., S,24. Vgl. auch den grundsätzlichen Beitrag von Schattier, Historians. Zum Stellenwert der Diskursanalyse für eine »poststrukturalistische« Arbeiter(bewegungs)geschiente s. die Beiträge in Beiianstein. 65 Zur Kritik an einer derartigen »Substanzialisierung« von Diskursen vgl. Palmer. 66 Zum Diskurs als Forschungsgegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten Sozialgeschichte bemerkt Reinhard Sieder: »Handlungen, Deutungen, Ideologien, Diskurse und Mythen

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Diskurse innerhalb einer sozialen Gruppe verweisen nicht nur auf Ideen und Ideologien, sondern spiegeln auch Mentalitäten und kollektive Identitäten wider.67 So sind zum Beispiel religiöse Sprachelemente innerhalb des sozialdemokratischen Religionsdiskurses nicht zwangsläufig ideengeschichtlich auf einen christlich-religiösen Frühsozialismus zurückzuführen, sondern können auch der bewussten oder unbewussten Fortschreibung einer traditionellen »kulturellen Praxis« (Pierre Bourdieu) geschuldet sein.68 »Ideologie und Mentalität unterscheiden sich in erster Linie durch das Ausmaß, in dem sie reflexiv durchdacht und formuliert sind.« Ideologien können Mentalitäten prägen, sind aber »oft auch als ausdrückliche und mehr oder weniger systematische Formulierungen vorgegebener Mentalitätsinhalte« aufzufassen.69 Die Arbeiterparteien sind für den zu behandelnden Untersuchungsgegenstand als »die den Diskurs autorisierenden Institutionen« zu bezeichnen. 70 Allerdings muss ein »sozialdemokratischer Religionsdiskurs« zunächst in viele, sich teils widersprechende Teildiskurse dekonstruiert werden. Hierbei sind auch die unterschiedlichen Diskursebenen zu berücksichtigen. Die integrierte Darstellung des Diskurses auf diesen Ebenen ermöglicht die Analyse von Wechselwirkungen, Übereinstimmungen und Widersprüchen zwischen der »offiziellen« Selbstdarstellung der Partei auf nationaler Ebene seitens der »Parteiführer«, der »mittleren Ebene« der lokalen Funktionäre und Agitatoren und (idealiter) dem Alltagsverhalten der Parteimitglieder. 71 Diskurse konstituieren sich zudem nicht allein durch den einer »Textklasse gemeinsamen Redegegenstand«, sondern auch durch ihre »Relationen zu anderen Diskursen«.72 Damit ermutigt das Diskurskonzept der vorliegenden Arbeit per definitionem dazu, andere Diskurse sowohl innerhalb als auch außerhalb der Arbeiterparteien dort in die Analyse einzubeziehen, wo Einflüsse dieser schweben nicht wie Nebelwolken über der historischen Wirklichkeit, sondern werden als ihre konstitutiven Bestandteile und daher als Teil des Forschungsgegenstandes der Sozialgeschichte anerkannt. Deshalb spricht man auch von einer kulturgeschichtlichen Wende‹ der Sozialgeschichte, wobei mit ›Kultur‹ die Ebene der Wahrnehmungen, Bedeutungen und Sinnstiftungen, sowie ihr symbolischer Ausdruck in Texten, Bildern, Gegenständen, Ritualen, Gesten usw. gemeint ist.« Sieder, S.449. Ein so verstandener Diskursbegriffläuft m.E. auch kaum in die »Falle des Kulturalismus«, vor der die gegenwärtige Diskussion gelegentlich warnt. Zum Diskursbegriffder vorliegenden Untersuchung vgl. die ähnliche Konzeption in der bahnbrechenden neuen Darstellung der frühen deutschen Sozialdemokratie von Welskopp, Banner, S.56f.. 67 Zur Abgrenzung von Ideengeschichte und Mentalitätengeschichte s. Chartier. Zusammenfassende Bezeichnung von Mentalitäten, Ideologien und Diskursen als »dritte Ebene« sozialgeschichtlicher Forschung (neben »Ökonomie« und »Gesellschaft«) bei Schöttier, Mentalitäten. 68 Vgl. Kaempfert zur Frage der »religiösen Sprache« allgemein. 69 Zitate bei König,S, 181.184. 70 Zur Begrifflichkeit vgl. Bartfces. 71 Zum Verhältnis von Sprache und Verhalten bemerkt Sieder, S.462, daß bei der Textanalyse die Texte eecebenenfalls auch als »Protokolle einer Handlung« aufzufassen seien. 72 Vgl. die Definition von Titzmann, S.51-53.

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Diskurse auf den sozialdemokratischen Religionsdiskurs erkennbar sind. Für die Sozialdemokratie hat die schon mehrfach erwähnte Arbeit von Lucian Hölscher die Interdependenz von »Revolutionsdiskurs« und Religionsdiskurs verdeutlicht. Ebenso kann - um ein weiteres Beispiel zu nennen - die von Cora Stephan untersuchte innerparteiliche Agrardebatte als »Stadt-Land-Diskurs« mit dem Religionsdiskurs konfrontiert werden, wenn es darum geht, die Probleme der jungen Sozialdemokratie bei der Landagitation zu untersuchen. Hinsichtlich des soziokulturellen Umfeldes der frühen Sozialdemokratie verdient es besonderes Interesse, wie in diesem Umfeld über Kirchen und Religion gesprochen wurde und mit welchem politisch-gesellschaftlichen Verhalten dieses Denken verbunden war.73 Für die deutsche Gesellschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann kaum von einem einheitlichen Religionsdiskurs gesprochen werden, so daß in diesem Bereich die Vorstellung einer geschlossenen »dominanten Kultur« als Gegenüber der Arbeiterparteien problematisch erscheint. Die nähere Betrachtung der unterschiedlichen Religionsdiskurse, die der sozialdemokratische Diskurs - oft kritisch - spiegelt, zeigt eine Bindung dieser Diskurse weniger an Schichten oder Klassen denn an bestimmte, tendenziell Schicht- bzw.- klassenübergreifende Milieus. Die Untersuchung nimmt damit das von Rainer M. Lepsius entwickelte Konzept der »sozialmoralischen Milieus« 74 auf und ordnet diesen je milieutypische Religionsdiskurse zu. Als Beitrag zur Historiographie der sozialistischen Arbeiterparteien Deutschlands in ihrer Frühphase wählt die vorliegende Untersuchung einen gängigen zeitlichen Rahmen, der durch die Parteigeschichte abgesteckt wird. Den Anfang des Untersuchungszeitraums markiert die Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Vereins« (ADAV) Ferdinand Lassalles als erster »echter« Arbeiterpartei auf deutschem Boden am 23. Mai 1863. Der Zeitraum endet mit dem Jahr 1890, das der Sozialdemokratie das Erlöschen des Sozialistengesetzes (30. September) und den programmatisch bedeutenden Hallenser Parteitag (12.-18. Oktober) brachte. In diesen ersten 28 Jahren vereinigten sich der im August 1864 ganze 4600 Mitglieder zählende ADAV und die 1869 gegründete »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands« (SDAP) August Bebeis und Wilhelm Liebknechts 1875 in Gotha zur »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands« (SAP). Von 1878 bis 1890 hatte die vereinigte Arbeiterpartei die Bewährungsprobe des »Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« (»Sozialistengesetz«) zu bestehen, aus der sie als Massenpartei mit dem höchsten Stimmenanteil aller Parteien bei den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 hervorging. 73 In Erkenntnis ihrer lange vernachlässigten Bedeutung werden »Religionsdiskurse« bzw. »religiöse Diskurse« zunehmend zum Forschungsgegenstand; s. zuletzt den Diskursansatz bei Graf, Alter Geist (zu religiösen Zukunftserwartungen um 1900). 74 Lepsius.

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Der herangezogene Quellenkorpus orientiert sich eng an den Eckdaten des Untersuchungszeitraumes. Bei dem gewählten Thema erscheint es im Blick auf die Quellen für eine Periode, die sowohl in der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung als auch in der modernen Religionsgeschichte so stark von Veränderungen geprägt war, als unzulässig, den Zeitrahmen zu weit zu fassen. Dies wäre m.E. der Fall, wenn etwa empirische Erhebungen zur Arbeiterreligiosität aus den Jahren 1898 bis 1912 ohne weiteres als repräsentativ für das gesamte Kaiserreich betrachtet würden, wie dies gelegentlich geschieht. Insofern werden diese empirischen Erhebungen wie auch Arbeiterautobiographien75 nur in begrenztem Umfang herangezogen. Der Schwerpunkt des Quellenkorpus liegt dagegen zum einen auf Parlamentsreden und Parteitagsdebatten der Sozialdemokratie, zum anderen und noch stärker aber auf Schriften (Monographien und Kleinbroschüren, Gedichte und Lieder, Romane, Erzählungen und Bühnenwerke76) und Periodika (alljährliche Kalender, Monatszeitschriften, wöchentliche Satireblätter, Tageszeitungen77) der Arbeiterparteien. Gerade die mannigfaltige und zusammengenommen durchaus auflagenstarke78, in vielen Untersuchungen jedoch vernachlässigte Regionalpresse spielte eine entscheidende Rolle für die Parteientwicklung vor Ort und die Selbstverständigung der »Parteibasis«. Lokale Korrespondenzen, besonders jene, die von sozialdemokratisch einberufenen »Volksversammlungen»79 be-

75 Vgl. Münchow, Arbeiterautobiographie. Als »erste umfangreiche Selbstbiographie dieser Art« bezeichnet Münchow ebd., S. 10 die Erinnerungen von Carl Fischer, die 1903 in Leipzig erschienen. Dazu zuletzt Woesthqff. Zur Thematisierung von Religion in Arbeiterautobiographien s.o. Anm.26. 76 Einführend zur Literatur der frühen Sozialdemokratie: Rüden; Trommler, Münchow, Arbeiterbewegung; Bank. 11 Überblicke zur Presse und Pressepolitik der frühen Sozialdemokratie: Loreck; Eisfeld/Koszyk (mit einführendem historischen Abriß); Saerbeck. Zur Definition von »sozialdemokratischer Presse« als Parteipresse bzw. parteinaher Presse s. Eisfeld/Koszyk, S.3. 78 1873 beispielsweise verfugte der »Volksstaat« der Eisenacher, der nicht selten in der Sekundärliteratur als das Presseorgan der Sozialdemokratie zitiert wird, über 7675 Abonnenten (Eisfeld/ Koszyk, S.148), was ungefähr auch der Auflagenhöhe entsprach. Daneben gab es aber außer dem »Neuen Social-Demokrat« der Lassalleaner noch elf sozialdemokratische Regionalblätter. Davon hatte die »Chemnitzer Freie Presse« 1874 eine Auflage von 3000 Stück (ebd., S.102), der »Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund« 1873 eine Auflage von 2500 Stück (ebd., S.104) und der »Braunschweiger Volksfreund« im Herbst 1872 2200 Abonnenten (Eckert, Arbeiterbewegung, S.202). Allein diese drei Zeitungen hatten zusammengenommen also eine dem »Volksstaat« vergleichbare Auflage. Im Gegensatz zum »Volksstaat« erschienen sie jedoch nicht dreimal, sondern sogar sechsmal wöchentlich. Während des Sozialistengesetzes verschwand die Regionalpresse keineswegs. Gegen eine vorschnelle Aburteilung dieser im Geltungsbereich des Gesetzes legal verlegten und im Vergleich zum Züricher »Sozialdemokrat« moderateren Zeitungen als »farblos«unpolitisch wendet sich die Arbeit von Saerbeck. 79 Charakter, Ablauf und Bedeutung dieser Volksversammlungen untersucht erstmals gründlich die Arbeit von Welskopp, Banner, S.291-339; Welskopp spricht in diesem Zusammenhang vom Typus der »Versammlungsdemokratie«. Sein Befund deckt sich mit den Versammlungsberichten, die in der vorliegenden Studie berücksichtigt wurden.

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richten, und Einsendungen von Lesern ermöglichen regionale Differenzierungen. Daß auch und gerade die künstlerisch-literarischen Massenerzeugnisse der Sozialdemokratie für die Entwicklung von Mentalitäten und kollektiven Identitäten im parteinahen Milieu an Bedeutung kaum zu überschätzen sind, hat erst jüngst anhand der sozialdemokratischen Liederbücher Axel Körner eindrucksvoll nachgewiesen.m An Parteipublizistik wurden im einzelnen neben den Kongressprotokollen ca. 200 Schriften sowie 80 Zeitungen und Zeitschriften der Sozialdemokratie aus zahlreichen Archiven und Bibliotheken des In- und Auslandes zusammengetragen und ausgewertet. Der Verfasser konnte bei der Zusammenstellung des Quellenkorpus in breitem Umfang von den Vorarbeiten profitieren, die Heiner Grote in Zusammenhang mit seiner 1968 erschienenen Dissertation geleistet hat. Wichtige biographische und lokalgeschichtliche Einblicke gewähren zudem publizierte Briefwechsel. An nichtsozialistischen Quellen berücksichtigt die Arbeit exemplarisch antisozialistische Schriften konservativer, liberaler und konfessioneller Provenienz. In größerem Umfang wurden zudem Broschüren und Periodika der freireligiösen bzw. freidenkerischen Bewegung herangezogen. Der erste Hauptteil der Untersuchung (Kap. 1) beschäftigt sich mit den kirchen- und religionskritischen Anteilen des sozialdemokratischen Religionsdiskurses (Kap. 1.2), geht zuvor aber der Frage nach, welche Bedeutung die Sozialdemokraten der religiösen Frage beimaßen (Kap. 1.1). Anschließend richtet sich der Blick auf die Religionsdiskurse von Konservatismus, Katholizismus und Liberalismus sowie auf die Rezeption und Kritik dieser Diskurse in den Arbeiterparteien (Kap. 1.3). Die sozialdemokratische Programmdiskussion zur religiösen Frage findet anschließend Berücksichtigung (Kap. 1.4). Am Ende des ersten Teils reflektiert die Untersuchung den Stellenwert und die Folgen der sozialdemokratischen Kirchen- und Religionskritik in einer durch Säkularisierung und religiöse Modernisierung geprägten Epoche (Kap. 1.5). Der zweite Hauptteil (Kap. 2) analysiert dagegen die Anteile des sozialdemokratischen Religionsdiskurses, mit denen die Arbeiterparteien einer »Lösung der religiösen Frage« näherzukommen meinten. Es sind dies ein freireligiöser bzw. 80 »Die Liedsammlungen waren für die deutsche Sozialdemokratie die dem gesellschaftlichen Wandel entsprechende ›Literatur für eine neue Wirklichkeit‹. Wollte man ein über konkrete Ziele im politischen Tageskampf hinausgehendes, eigenes Sozialmüieu herausbilden, welches der sozialen Ausgrenzung der Arbeiterschaft durch Staat und bürgerliche Gesellschaft Rechnung trug, so bedurfte es innerhalb dieses komplexen Systems auch ästhetischer Abstraktion. [...] Die soziale Funktion des Gesangs, die Ritualisierung bestimmter Lieder und das durch massenwirksame Verbreitung der Liedsammlungen vermittelte Gefühl, eine eigene Kultur zu haben, konnten im Milieu der deutschen Sozialdemokratie den Traum einer anderen Welt erhalten.«: Körner, Idee, S.526f. Eine solche »milieubildende« Wirkung ging ebenso von anderen Formen »ästhetischer Abstraktion« aus: von dem auf einer Parteiversammlung rezitierten Gedicht und dem dort dargebotenen Theaterstück oder »lebendem Bild«, aber auch von den »sozialdemokratischen« Erzählungen und Romanen, die in Fortsetzung in der Parteipresse oder auch als Separatdruck erschienen.

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freidenkerischer Diskurs (Kap. 2.1), ein atheistisch-antireligiöser Diskurs (Kap. 2.2) und ein »genuin sozialistischer« Diskurs (Kap. 2.3). Abschließend werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst.

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1 Die deutsche Sozialdemokratie vor der religiösen Frage: Der religionskritische Diskurs 1.1 Der Stellenwert der religiösen Frage in der sozialistischen B e w e g u n g

Die Präsenz der religiösen Frage Religion prägte in Deutschland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die öffentliche Debatte noch in einer Weise, die zumindest an der »Diskursoberfläche« nicht den Eindruck einer schon weitgehend säkularisierten Gesellschaft aufkommen lässt. Der zentrale, das erste Jahrzehnt des Kaiserreichs von 1871 bestimmende innenpolitische Konflikt wurde nicht auf national-, verfassungs- oder sozialpolitischem Felde ausgetragen, wie man eigentlich hätte erwarten können 1 , sondern mit dem »Kulturkampf« auf dem Feld der Kirchenpolitik.2 Zudem war der höchste Souverän in diesem Staat ein Fürst, der seine Stellung immer noch und nach der Reichsgründung sogar wieder verstärkt über das »Gottesgnadentum« religiös legitimierte. Offensichtlich bestand eine Diskrepanz zwischen den durchaus wirkungsmächtigen Restbeständen der Ideologie vom »christlichen Staat« und der schon durch den vormärzlichen Liberalismus eingeforderten und durch die Verfassung von 1871 garantierten »weltanschaulichen Neutralität« als Kennzeichen des modernen Staatswesens. 3 Die junge sozialistische Arbeiterbewegung konnte die öffentlichen Religionskontroversen als spiegelfechterische Verschleierungstaktik der »herrschenden Klassen« kritisieren. Ignorieren aber konnte sie diesen Diskurs nicht, zumal der angebliche »kulturfeindliche« und »sittenwidrige« »Religions1 Vgl. die Problemskizzen, welche die Darstellung des Kaiserreichs von Ultmann einleiten {ebd., S.22-50). 2 Überblick zum Kulturkampf: Bester, Kirche, S.20-26 (Darstellung), 107-12 (Forschungsgeschichte). 3 Diese Diskrepanz griff auch Hans-Ulrich Wehler auf, der in seinem viele Jahre das Bild bestimmenden, in der Bilanz radikal kritischen Buch über das Kaiserreich (zuerst 1973) in den kirchlich-religiösen Anachronismen ausschließlich die »Religion als Legitimationsideologie« genutzt und dies als Bestandteil des unter einem Modernisierungsdefizit leidenden »Deutschen Sonderwegs« sah: Wehler, S.118-122.

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hass« der Arbeiterparteien neben der »revolutionären Staatsgefährlichkeit« das wichtigste Argument in der Hand ihrer politischen Gegner darstellte. 4 Doch auch Religionsdiskurse jenseits der offiziellen politischen Bühne forderten die Sozialdemokraten heraus: kaum eine der ersten Autobiographien sozialistischer Arbeiterinnen und Arbeiter, die nicht auf die Frage der frühen religiösen Sozialisation durch die traditionellen VermittlungsInstanzen Kirche und Schule einginge. Daß religiöse Denk- und Verhaltensmodelle nicht nur bei potenziellen Wählern, sondern auch im Parteimilieu noch prägend sein konnten, durfte dem aufmerksamen Beobachter kaum entgehen. War die »religiöse Frage« also ein Problem, das der frühen Sozialdemokratie gegen ihren Willen aufgedrängt wurde - von einem rückständigen politischen Diskurs, der zudem vorgeblich kirchlich-religiöse Fragen schamlos machtpolitisch instrumentalisierte, und von ebenso rückständigen religiösen »Restbefmdlichkeiten« in breiteren Schichten der Bevölkerung, auf die allein aus Parteiräson einzugehen war? Im spektakulären Leipziger Hochverratsprozess von 1872 wurde neben anderen fuhrenden Sozialdemokraten auch August Bebel zu einer mehrmonatigen Festungshaft verurteilt, die er am 8. Juli 1872 antrat. In seiner Autobiographie »Aus meinem Leben« berichtete Bebel vierzig Jahre später, daß er in Hubertusburg von einer »wahren Lern- und Arbeitsgier« befallen worden sei. »Hauptsächlich« studierte der Initiator der 1869 begründeten »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« »Nationalökonomie und Geschichte«. »Von den Geschichtswerken, die ich las, fesselten mich besonders Buckles ›Geschichte der englischen Zivilisation und Wilhelm Zimmermanns ›Geschichte des deutschen Bauernkriegs‹. Letztere gab mir die Anregung, eine populäre Abhandlung zu schreiben unter dem Titel ›Der deutsche Bauernkrieg mit Berücksichtigung der hauptsächlichen sozialen Bewegungen des Mittelalters‹. Das Buch erschien bei W. Bracke in Braunschweig; später unter dem Sozialistengesetz, wurde seine Verbreitung verboten. Eine zweite Auflage, die eine Neubearbeitung erforderte, gab ich wegen Zeitmangel nicht mehr heraus. Auch die Naturwissenschaften vernachlässigte ich nicht. Ich las Darwins ›Die Entstehung der Arten‹, Häckels ›Natürliche Schöpfungsgeschichte^ L. Büchners ›Kraft und StofF‹ und ›Die Stellung des Menschen in der Natun, Liebigs ›Chemische Briefe‹ usw. [...] Ferner übersetzte ich während der Haft ›Etude sur les doctrines sociales du Christianisme‹ von Ives Guyot und Sigismond Lacroix, eine Uebersetzung, die unter dem Titel ›Die wahre Gestalt des Christentums‹ bis heute erscheint. Dazu verfasste ich eine Gegenschrift unter dem Titel ›Glossen zu Ives Guyots und Sigismond Lacroix' Die wahre Gestalt des Christentums, nebst einem Anhang über die gegenwärtige und zukünftige Stellung der Frau‹.«5 4 Vgl. zuletzt zum »Feindbild Sozialdemokratien in seiner konservativ-protestantischen Ausprägung Roller, Das »Feindbild Sozialdemokratien von Liberalen und Zentrum wies dazu zahlreiche Gemeinsamkeiten auf: s. ebd., S.81, und Hölscher, Weltgericht, bes. S.403-407. 5 Bebel, Leben Bd.2, S.264.

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Bebel nutzte die Zwangspause vom politischen Tagesgeschäft also u.a. für Studien auf dem Gebiet der Kirchengeschichte und der christlichen Soziallehre, und nur zu diesen Themen entstanden in Hubertusburg auch Schriften. Die genannten naturwissenschaftlichen Werke, insbesondere die von Ernst Haeckel (1834-1919) und Ludwig Büchner (1824-1899), waren zudem über weite Strecken einem religionskritischen Diskurs verpflichtet. Doch nicht nur Bebel und andere Parteiführer trieb die religiöse Frage häufig in Gestalt radikaler Kritik - um. In der gesamten sozialdemokratischen Publizistik nehmen religiöse (bzw. religionskritische) und kirchliche (bzw. kirchenkritische) Themen einen breiten Raum ein. So konnte der Leser des lassalleanischen »Neuen Social-Demokrat« einer Anzeige in der Ausgabe vom 8. September 1875 entnehmen, daß über die Buchhandlung der Zeitung u.a. folgende Titel zu beziehen waren: Boruttau, »Religion und Socialismus«; »Christenthum und Socialismus (eine religiöse Polemik)«; Dietzgen, »Die Religion der Socialdemokratie«; Dr.Douay, »Antwort an die Bekenner des Theismus«; Engels, »Der deutsche Bauernkrieg«; Lommel, »Jesus von Nazareth«; Ders., »Johann Huß«; »Prozeß gegen Dr. H. Tauschinski und 31 Genossen wegen Religionsstörung und geheimer soc.-dem. Verbindung«.6 Der Anteil der Artikel, Aufsätze und Stellungnahmen jedweder Art zur Religionsfrage in sozialdemokratischen Zeitungen und Zeitschriften lässt sich schwer quantifizieren; in jedem Fall stellt er eine nicht zu vernachlässigende Größe dar. Auch in den weitverbreiteten sozialdemokratischen Lyrik- und Liedsammlungen nahm das Thema breiten Raum ein: »Der sozialdemokratische Deklamator« von 1887 beispielsweise enthielt 47 Gedichte, davon 9 mit einem religiösen Thema oder einer eindeutigen religiösen Prägung, dazu 13 Gedichte mit Anspielungen auf die »religiöse Frage«, was zusammen einen Anteil von annähernd 50% ergibt.7 Ein weiteres Indiz dafür, daß die sozialistische Arbeiterbewegung die religiöse Frage durchaus ernstnahm, bieten die Themenstellungen sozialdemokratischer »Volksversammlungen«. Diese Versammlungen waren wichtigster Ort sozialdemokratischer intellektueller wie affektiver Selbstvergewisserungan der Basis, Forum der Agitation innerhalb und außerhalb des Wahlkampfes sowie Schauplatz der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Besonders seit den 1870er Jahren wurden auf den von der Partei organisierten Volksver6 Neuer Social-Demokrat 8.9.75 Nr. 106 S A Hier sind nur die Schriften aus der Vertriebswerbung genannt, deren Titel bereits auf die Religionsfrage verweisen. In weiteren Broschüren fand diese Frage ebenso und teilweise ausfuhrlich Berücksichtigung. Auch gegen Ende des Untersuchungszeitraumes nahm die Werbung für Schriften zur Religionsfrage in der sozialdemokratischen Presse nicht ab; vgl. das »Verzeichniss Socialdemokratischer Schriften der Schweiz. Volksbuchhandlung und Expedition des Sozialdemokrat Hottingen-Zürich« in: Sozialdemokrat 28.1.1886 Nr.4S.4. 7 Deklamator.

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Sammlungen immer wieder kirchliche bzw. religiöse Themen debattiert: der religiöse Eid und die Glaubensfreiheit, Theologie und Wissenschaft, der Religionsparagraph des Parteiprogramms, das Freidenkertum in seinem Verhältnis zur Sozialdemokratie, die Kirchen und die soziale Frage, die Kirchensteuer, der Gotteslästerungsparagraph im Strafgesetzbuch oder Religion als Privatsache. 8 Viele Versammlungen standen auch direkt unter dem Motto »Christenthum und Sozialismus« und weckten damit die Erwartung einer allgemeinen Verhältnisbestimmung. 9 Welchen Stellenwert aber die religiöse Frage in der Agitation der Arbeiterparteien einnehmen solle, welche Bedeutung ihr bei der Verwirklichung der Parteiziele beizumessen sei, war in den Parteidiskussionen heftig umstritten.

Die religiöse Frage: hinderlich oder unbedeutendfür die »socialistische Agitation«? Das Organ des ADAV, der »Social-Demokrat«, veröffentlichte am 3. Mai 1867 unter der Rubrik »Einsendungen von Arbeitern« ein Votum »Zur Religionsfrage (Aus Essen)« von Heinrich Vogel. Vogel bemerkte in seiner Replik auf eine kurz zuvor im »Social-Demokrat« abgedruckte Einsendung mit freireligiöser Tendenz, »[...] daß Bestrebungen, die darauf hinzielen, ›den Mitgliedern des Allg. deutsch. Arb.Vereins eine einheitliche Religionsanschauung an die Hand zu geben‹, jetzt gar nicht an der Zeit sind, so gut sie auch gemeint sein mögen, daß solche Bestrebungen nur unserer socialistischen Agitation schaden können, und daß es Grundsatz im Verein sein muß, die größte Toleranz und Rücksicht in religiösen Dingen zu üben. Bemühen wir uns, gleichmäßig und innerlichst durchdrungen zu sein von den socialistischen Grundsätzen unseres Vereins, vereinigen wir zu deren Verwirklichung alle unsere Kräfte, und sicher, wir werden auch nicht wenig dazu beitragen, uns alle auch in religiöser Beziehung gegenseitig zu nähern.«10 8 Hinweise auf diese Versammlungen mit Quellennachweisen in den folgenden Kapiteln. 9 Die Häufigkeit sozialdemokratischer Versammlungen dieses Themas entging auch dem politischen Gegner nicht. Für die christlich-soziale Bewegung war im Württemberg der 1870er Jahre der »Reise-Prediger« und antisozialistische Agitator Richard Schuster unterwegs. Aus der Sicht Schusters war es »[...] nicht von ungefähr, und ohne alle Bedeutung, sondern vielmehr die Folge einer klaren Erkenntniß des socialen Werths der Religion, wenn die Social-Demokratie sowohl in Öffentlichen Versammlungen, namentlich in den Gegenden, wo sie noch nicht festen Fuß gefaßt hat, als auch in ihrer Presse «die Religion der Social-Demokratie‹ oder das Thema ›das Christenthum und der Socialismus‹ mit Vorliebe behandelt. Der Fels, auf welchem unsere sociale Ordnung ruht, muß erst zerbröckelt werden, ehe es gelingen kann, diese selbst zu zertrümmern.« Schuster S.173. 10 Social-Demokrat 3.5.1867 Nr.53 S.3. Daß dieser Heinrich Vogel mit dem in Wilhelm Liebknechts Briefwechsel erwähnten gleichnamigen Apotheker identisch ist, der seit 1866 dem Berliner ADAV angehörte, darf trotz des Vermerks »(Aus Essen.)« als wahrscheinlich gelten. Vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.302 u.ö..

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Was hier von Vogel noch mit Aussicht auf eine religiöse Annäherung aller Mitglieder vorgetragen wurde, forderten spätere Einlassungen in der Parteipresse immer wieder - häufig allerdings wesentlich nüchterner. Zwischen religiöser Frage einerseits und Zielsetzungen der »socialistischen Agitation« andererseits bestehe kein notwendiger Zusammenhang. »Wir Sozialisten sind nun, wie wir das zum öftern erklärt haben, nicht eine religiöse, sondern eine politisch-öconomische Partei. [...] am allerwenigsten aber hat die Partei als solche versucht, ihre Anhänger der Religionslosigkeit in die Arme zu treiben, oder wohl gar das Prädikat »Sozialdemokrat« von der Erklärung der Religionslosigkeit abhängig gemacht.« 11 , verlautete es 1876 in der »Duisburger Freien Zeitung«. Anlässlich der öffentlichen Kontroverse um das Erste Vatikanische Konzil 1869/70 warnte der »Volksstaat« seine Leser, »[...] der Polemik über das Conzil doch ja keine Wichtigkeit beizumessen, überhaupt sich nicht durch religiöse Fragen ablenken zu lassen. Die religiösen Fragen sind von untergeordneter Bedeutung. Heutzutage ist die Kirche bloß noch ein Werkzeug des Staats [...]. Nur Kinder kühlen ihr Müthchen am Werkzeug.«12 Und zur Aufstellung des antikirchlichen Freidenkers August Rüdt aus Heidelberg als Reichstagskandidat durch die Mannheimer Sozialdemokraten musste der »Sozialdemokrat« 1889 feststellen: »Wir halten dies nur dadurch für möglich, daß sie [die Mannheimer Genossen, d.V£] der religiösen Frage noch viel zu viel Bedeutung beilegen. Es gibt eben leider noch die Genossen, die das Schimpfen auf die Religion, auf die kirchlichen Dogmen für eine ganz besondere Bekräftigung ihrer freien Gesinnung halten. Sie merken gar nicht, daß das in den Vordergrund-Rücken der religiösen Frage genau das Gegentheil beweist, nämlich daß sie mit der Religion noch nicht fertig geworden sind. Und weiter merken sie nicht, daß in dem Verhältniß, als sie die religiöse Frage in den Vordergrund drängen oder zu drängen gestatten, sie die soziale, die sozialistische Bewegung schwächen.«13

11 Duisburger Freie Zeitung 1.8.1876 Nr.14 S.l. 12Volksstaat12.3.1870Nr.21 S.l. 13 Sozialdemokrat 3.8.1889 Nr.31 S.3. Dr.(?) Philipp August Rüdt, sozialdemokratischer Agitator aus Heidelberg. Erst ADAV-, dann SDAP-Mitglied. 1869/70 Mitredakteur des »Volksstaat«. Bezahlter Agitator für die Sozialdemokratie (mindestens 1869-1891) mit großen Erfolgen in Süddeutschland und im Rheinland (s. Welskopp, Banner, S. 164-66 zu Rüdts Beliebtheit und seinem in der Partei Unmut erregenden lockeren Lebensstil). Häufige Konflikte mit der Parteifuhrung (s. Liebknecht, Briefwechsel Bd.1, S.267, 366-68 u.ö.); scharfe Auseinandersetzung mit Wilhelm Liebknecht auf dem Hallenser Parteitag 1890 über die Religionsfrage (s. Protokoll 1890, S. 183-203). 1889 als sozialdemokratischer Reichstagskandidat in Mannheim, 1890 in Kaiserslautern aufgestellt. 1891-1895 badischer Landtagsabgeordneter. Engagement in der freireligiösen, dann in der Freidenkerbewegung (Hauptredner bei Freidenkerkongressen, s. z.B. Recht auf Arbeit 8.5.1889 Nr.259 S.3). 1895 Parteiausschluss (Ante, S.215, 217).

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Wenn in der Parteipresse die Bedeutung der religiösen Frage bestritten oder die Diskussion dieser Frage als schädlich verurteilt wurde, haftete dem nicht selten ein defensiver Charakter an. Religiöse Themen beherrschten innerparteilich (z.B. in Gestalt freidenkerischer Positionen) und außerparteilich (etwa im Kulturkampf) noch so weit den öffentlichen Raum, daß die nicht selbstverständliche Ausklammerung der religiösen Frage begründet sein wollte. Für eine Ausklammerung sprach zunächst eine Art Parteiräson. Unter der Voraussetzung, daß religiöse und sozioökonomische Probleme getrennt betrachtet werden könnten und nur die letzteren das »eigentliche« Aufgabengebiet der Sozialdemokratie darstellten, bestand die Gefahr, daß die innerparteilich offensichtlich kontroverse »religiöse Frage« sich kontraproduktiv auf die Parteiarbeit auswirkte. Einem »Primat der Politik« fühlten sich Parteipragmatiker verpflichtet, die den Genossen eindringlich eine Ausklammerung der religiösen Frage aus taktischen Gründen anempfahlen. Noch 1890 warnte das »Berliner Volksblatt«: »Nun gibt es unter den heute Ausgebeuteten neben vielen Ungläubigen noch sehr viele, vielleicht mehr Gläubige, die dieselbe Noth, dasselbe Bedürfnis nach Verbesserung ihrer Lage empfinden, wie die Ungläubigen. Daß unter diesen Umständen jede einseitige Stellungnahme zu den religiösen Fragen schaden, die Verbreitung unserer Ideen gefährden muß, versteht sich von selbst. Heute, wo unsere Partei die unumschränkte Herrscherin im politischen Gedankenkreise der deutschen Groß- und Industriestädte ist, wo deshalb das Hauptgewicht der Agitation auf die ländlichen Bezirke gelegt werden muß, ist es entschieden taktisch unklug, unsere politische Agitation mit irgend einer Stellungnahme zu religiösen Fragen verquicken zu wollen. Man darf es den Gegnern doch nicht gar zu leicht machen!«14 Eine andere Argumentationslinie ging von der umgekehrten Prämisse aus, dem Zusammenhang von religiöser und sozioökonomischer Frage, befürwortete jedoch ebenfalls eine Hintanstellung religiöser Fragen. Der »Braunschweiger Volksfreund« veröffentlichte 1871 einen eingesandten Artikel »Religion und Sittlichkeit«, der sich emphatisch für »religiösen Fortschritt« aussprach. Die Redaktion versah diesen Artikel allerdings mit einer »Anmerkung«: »Vorstehender Artikel ist von einem geschätzten Herrn Volkslehrer uns zugestellt. Wie geben ihn unverändert wieder, obschon wir unserntheils das Entstehen, Zersetzen und Verschwinden der Religionen und Sittlichkeiten von einer wirthschaftlich realistischen Basis herleiten und somit nicht ganz der Ansicht des Herrn Verfassers sind.«15 Ähnlich äußerte sich August Bebel in seinen 1878 erscheinenden »Glossen zu Yves Guyots und Sigismond Lacroixs Schrift: Die wahre Gestalt des Christenthums«: 14 Berliner Volksblatt 20.9.1890 Nr.227 S.3. 15 Braunschweiger Volksfreund 29.9.1871 Nr.21 S.2.

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»Wir sehen aber auch an der Entwicklung des Christenthums und der Plato'schen Philosophie, wie alle Ideen den materiellen Interessen, und zwar, so lange es herrschende Klassen giebt, den materiellen Interessen dieser letzteren dienstbar gemacht werden. Daher kommt es, daß nicht blos alle politischen Bewegungen, sondern auch, ohne jede Ausnahme, alle religiösen Bewegungen sozialer Natur sind, so unwahrscheinlich das häufig auch erscheint.«16 In dieser Rohform eines undialektischen »historischen Materialismus« 17 gewann das Argument mit der Zeit mehr und mehr Gewicht und ermöglichte eine »Scheidung der Geister«. In seiner Kritik an der Reichstagskandidatur August Rüdts in Mannheim zitierte der »Sozialdemokrat« den Kandidaten »Nach meiner Auffassung ist nämlich die Fesselung des Geistes durch religiösen Wahn der Urgrund der politischen, wie sozialen Knechtschaft« - , um fortzufahren: »Wer das schreibt [...], der steht auf anderm Boden als unsere Partei. Er wird und muß bei den wichtigen Anlässen genau das Gegentheil von dem thun, was die Partei thun wird, die laut ihrem Programm in der Monopoleigenschaft des Kapitals, daß heißt in der Scheidung der Gesellschaft in kapitalistische Eigenthümer der Arbeitsmittel und besitzlose Proletarier ›die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen‹ erblickt.«18 Wenn aber nicht der »religiöse Wahn«, sondern die klassengesellschaftlichen Besitz- und Herrschaftsverhältnisse »Urgrund« und Ursache des Elends »in allen Formen« waren, würde die religiöse Problematik in einer sozialistischen Gesellschaft zusammen mit den alten sozialen Verhältnissen von selbst verschwinden: »Schaffen wir gesunde soziale Zustände, beseitigen wir die kapitalistische Wirthschaft durch die gesellschaftliche Produktion, und die religiöse Aufklärung ergibt sich von selbst.«19

Die Unabgeschlossenheit der Religionskritik Diesen »marxistischen« Positionen (worunter lediglich die Nähe zentraler Denkfiguren, nicht aber zwangsläufig ein unmittelbarer Einfluss verstanden sei) standen scheinbar diametral Auffassungen entgegen, die nicht die gesellschaftliche Befreiung als Voraussetzung der religiösen, sondern umgekehrt die religiöse als Voraussetzung der gesellschaftlichen Befreiung begriffen. Die Re16 Bebel, Glossen, S.14. 17 Vgl. dagegen »dialektischer« ders., Vergangenheit, S. 179: »Die Religion ist die transzendente Widerspiegelung des jeweiligen Gesellschaftszustandes. In dem Maasse, wie die menschliche Gesellschaft fortschreitet, die Gesellschaft sich transformirt, transformirt sich auch die Religion.« 18 Sozialdemokrat 3.8.1889 Nr.31 S.3. 19 Ebd. 18.3.1886 Nr.12 S.2. Zur Annahme Marx' und Engels' vom »Verschwinden der Religion« durch die Umwälzung der Produktionsverhältnisse vgl. Horvàth, S.252-55.

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volution von 1848/49 hatte ihre intellektuellen Wurzeln auch in der Religionskritik des vormärzlichen Linkshegelianismus gehabt. Diese Tradition lebte in der frühen Arbeiterbewegung fort. In einer Rezension der Volksausgabe des »Leben Jesu« von David Friedrich Strauß (1808-1874) vom 11. September 1864 zitierte die »Allgemeine deutsche Arbeiterzeitung« zustimmend den Verfasser, der sein Werk denen zueignet hatte, welche die Überzeugung teilten,»[...] den politischen Fortschritt, wenigstens in Deutschland, nicht eher für gesichert zu halten, als bis für die Befreiung der Geister von dem religiösen Wahn, für rein menschliche Bildung des Volks gesorgt ist.«20 Ebenso diente Ludwig Feuerbach (1804-1872) häufig als Kronzeuge für den Ruf nach religiöser Befreiung.21 In dieser Tradition standen auch sozialistische Freigeister wie Johann Philipp Becker (1809-1886), langjähriger deutscher Vertreter bei der Ersten Internationale in Genf, für dessen Schriften die sozialdemokratische Presse ständig warb 22 , sozialdemokratische Freidenker wie der Stuttgarter Reichstagskandidat Albert Dulk (1818-1884), für den der Kampf gegen die Religion »[...] nicht nur nothwendig und ›real‹ wie der volkswirthschaftlich-politische, sondern [... ] der allerrevolutionärste und grundlegend« war 23 , oder der bereits zitierte August Rüdt. Die Bedeutung der religiösen Frage, hier aus dem Blickwinkel fundamentaler Religionskritik, stritt auch Karl Marx in seiner Frühphase nicht ab. Aller20 Allgemeine Deutsche Arbeiterzeitung 11.9.1864 Beilage zu Nr.89 S.2. 21 Zustimmend zitiert z.B. in L.,P., S.84 (»Ich für meinen Theil gebe keinen Pfifferling für politische Freiheit, wenn ich ein Sclave meiner religiösen Einbildungen und Vorurtheile bin.«). 22 »... erst, wenn neben der wissenschaftlichen Ueberwindung des Gottesbegriffs auch die Gottesverehrung aus dem Leben verschwunden, wird auch das Pfaffen- und Fürstenthum sammt allem hohen obrigkeitlichen Gottesgnadenthum und damit schließlich auch die Beherrschung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende nehmen.« Becker, Psalmen, S.235. Johann Philipp Becker (1809-1886), Handwerksmeister und Unternehmer, führend beteiligt an der Revolution 1848/49 in Baden, Exil, Mitbegründer der Ersten Internationale (IAA), in Genf Gründer der ersten Sektion der IAA in der Schweiz, ab 1867 Präsident der Sektionsgruppe deutscher Sprache in der IAA, Hg. des »Vorboten« 1867-71, Mitarbeit an den wichtigsten sozialdemokratischen Zeitungen. Zahlreiche Schriften. Becker steckte 1874 in argen Finanznöten und forderte Liebknecht eindringlich auf, für seine »Neuen Stunden der Andacht« werben zu lassen, s. Briefe, S. 134f. Durch dieses aufklärerisch-religionskritische Werk wurde Becker »zu einem der bekanntesten Lyriker der frühen deutschen Arbeiterbewegung«: Bürget, S.55. Auch in der Ersten Internationalen war die Bedeutung der »religiösen Frage« umstritten. Auf der Londoner Vorkonferenz (25.-29.9.1865) kam es zu Auseinandersetzungen, ob auf dem Gründungskongress die »religiöse Idee« ein Programmpunkt sein solle. Marx sprach sich dagegen aus, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Vgl. Katz, S.16. 23 Sozialdemokrat 8.5,1884 Nr.19 S.2. Albert Dulk (1819-1884), Chemiker und Schriftsteller (u.a. zahlreiche Dramen, philosophische und religionstheoretische Abhandlungen). Aktiv im politischen Vormärz und in der Revolution 1848/49 (Königsberg). 1849 Austritt aus der evangelischen Kirche. 1858 Wohnsitz in Stuttgart (später Untertürkheim). Seit den 1870erJahren fuhrende Rolle in der württembergischen Sozialdemokratie (Landtags- und Reichstagskandidat für Stuttgart). Von 1880 an Engagement in der Freidenkerbewegung (1882 Gründung der ersten Freidenkergemeinde Deutschlands in Stuttgart). Konflikt mit der Parteiführung wegen seiner ethischen Begründung des Sozialismus. Vgl. Meyer, Dulk; Bäuerlejestrabek.

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dings galt ihm diese Kritik bereits 1844 als »im Wesentlichen abgeschlossen«, so daß nun zur Kritik der Wirklichkeit übergegangen werden könne. 24 Als »abgeschlossen« betrachteten Becker, Dulk, Rüdt und mit ihnen unzählige andere Sozialdemokraten die Religionskritik jedoch in keiner Weise - auch aufgrund jener Präsenz religiöser Diskurses im gesellschaftlichen Raum, aufdie eingangs hingewiesen wurde. Einer Begrenzung von Programmatik und Agitation der Sozialdemokratie auf einen Katalog präziser sozial- und verfassungspolitischer Forderungen stand nicht nur das allgemeinpolitische Mandat der Partei entgegen, sondern auch das über die Parteiflügel hinweg verbreitete Selbstverständnis als »Kulturbewegung«, als »alternative culture« (Vernon Lidtke), die eine soziokulturelle kollektive Identität vermitteln wollte. Rhetorisch schlug sich dieser Anspruch in einem ausgeprägten Ganzheitlichkeitspathos nieder. Sozialdemokratische Ganzheitlichkeit sollte, wenn nicht selbst schon religiös qualifiziert 25 , zumindest doch die »religiöse Frage« mit einschließen. Von den vielen Varianten dieser Rhetorik errang insbesondere ein Diktum Popularität, das zumeist auf August Bebel zurückgeführt wurde. In der Tat war es Bebel, der 1872 eine Reichstagsdebatte über die Gesetzesvorlage zum Verbot des Jesuitenordens nutzte, um eine ganzheitliche Zukunftsvision zu entfalten: »[...] ist erst einmal die himmlische Autorität untergraben, dann hört natürlich auch die irdische Autorität sehr bald auf und die Folge wird sein, daß auf politischem Gebiete der Republikanismus, auf ökonomischem Gebiete der Sozialismus und auf dem Gebiete, was w i r jetzt das religiöse nennen, der Atheismus seine volle Wirksamkeit ausübt.« 26

Bebel hielt an dieser Vision fest, ja, spitzte sie 1881 im Reichstag zu einer Programmformel zu, obwohl der politische Gegner das Diktum für seine antisozialistische Agitation genutzt hatte.27 Doch auch außerhalb der Sozialdemokratie hatte die Formel ihre Wirkungsgeschichte. Für den protestantischen 24 Marx, Kritik, S.170. 25 Die Verbindung von Ganzheitlichkeit und Religion wird in der religionswissenschaftlichen Literatur gerade dann betont, wenn der Verlust dieser Ganzheitlichkeit in Rede steht. Die differenzierungstheoretische Interpretation von Moderne und Modernisierung lässt»[...] eine neue, dezentrierte Gesellschaftskonstellation verständlich werden, in der die institutionalisierte Religion zu einem gesellschaftlichen Teilsystem geworden ist, das den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang weder zu symbolisieren noch zu verbürgen vermag.«, so Kaufmann, Stand, S.61. Allerdings bemerkt der Verfasser ebd., S.63f, daß es entgegen der gängigen Überzeugung fraglich sei, ob die christliche Religion diese ganzheitliche Repräsentation in ihrer Geschichte überhauptjemals eingelöst habe. 26 Zitiert nach Volksstaat 13.7.1872 Nr.56 S.2. 27 »[...] wir erstreben auf politischem Gebiet die Republik, auf dem ökonomischen Gebiet den Sozialismus und aufdem, was man heut das religiöse Gebiet nennt, den Atheismus.« Stenographische Beruhte, 1881 Bd.l, S.657 (Rede vom 31.3.1881). Aufgreifen der Formel von 1872 z.B. durch den preußischen Innenminister von Eulenburg am 27.1.1876 in der Reichstagsdebatte um die Verschärfung des Art. 130 Deutsches Reichs-Strafgesetzbuch (Anreizung zum Klassenkampf): Ebd., 1875/76, S.942.

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Theologen und Sozialpolitiker Rudolf Todt (1839-1887) war sie in seiner einflussreichen Schrift »Der radikale deutsche Socialismus und die christliche Gesellschaft« (1877) von zentraler Bedeutung: »Sie gibt in Wahrheit das richtige Verständnis unserer heutigen radikalen sozialistischen Bewegung.« 28 Todt folgte im Aufbau seiner Untersuchung daher genau dieser »Dreitheilung«. Der Verfasser führte die Formel jedoch korrekterweise nicht auf August Bebel, sondern auf Carl Boruttau zurück, dessen Broschüre »Die religiöse Frage und die Arbeiter« von 1869 Heiner Grote als »das erste von den Eisenachern vertriebene nichtperiodische Druckerzeugnis« 29 bezeichnet hat. Zwei Jahre nach dieser Broschüre, am 1. November 1871 veröffentlichte Boruttau im Bebel-Liebknecht'schen »Volksstaat« einen Aufsatz mit dem Titel »Sozialismus und Kommunismus«, den er wie folgt einleitete: »In Nr. 73 unseres Parteiorganes findet sich eine auf das Wesen des Sozialismus bezügliche Erklärung, die mich, weil ich mit derselben nicht übereinstimmen kann, zu den nachfolgenden Bemerkungen veranlaßt. Es ist nach meiner Ansicht eine nicht zutreffende oder wenigstens eine ganz ungenügende Begriffsbestimmung, wenn die Redaktion d. BL um eine irrthümliche Auffassung des Dr. Siebenhaar zu berichtigen, sagt: ›der Kommunismus ist der durchgeführte Sozialismus.‹ Der Sozialismus ist nach meiner Anschauungsweise eine neue Weltanschauung, welche sich auf religiösem Gebiet als Atheismus, auf politischem als Republikanismus und auf ökonomischem Gebiet als Kommunismus ausdrückt.«50 Carl Boruttau wurde als Sohn evangelischer Eltern 1837 in Ostpreußen geboren. 1862 promovierte er zum Doktor der Medizin. In Königsberg, später in Leipzig engagierte sich Boruttau im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der frühen »Lebensreform«-Bewegung, beschäftigte sich aber auch mit philosophischen Fragen, was ihn in die Gemeinschaft der »Freireligiösen« führte. 1868 stand er in brieflicher Verbindung mit dem in die USA emigrierten Frühsozialisten Wilhelm Weitling (1808-1871), den er bei einer Gesamtausgabe seiner Schriften unterstützen wollte. Von der freireligiösen Bewegung trennte sich Boruttau, seit Mai 1868 für den ADAV als Agitator tätig, als deren Bundesversammlung im Oktober 1868 seinen Antrag ablehnte,»[...] das neue religiöse Princip des Socialismus als das ihrige anzuerkennen [,..].«31 Durch seine Broschüren und Aufsätze zum Verhältnis von Sozialismus und »religiöser Frage« war Boruttau trotz seiner kurzen Wirksamkeit (er verstarb am 15. Juni 1873 in Syrien, wohin er sich zur Genesung von einem schweren Lungenleiden zurückgezogen hatte) in der frühen Sozialdemokratie durchaus eine bekannte Größe, gegen die Marx und Engels in ihren Briefen an Wilhelm Liebknecht 28 29 30 31

Todt,S.51. Grote, Religion, S.98. Volksstaat 1.11.1871 Nr.88 S.2. Bundesblätter H.19/Juli 1868 SA

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heftig polemisierten.32 Noch in den 1880er Jahren wurde eine bearbeitete Fassung seiner Broschüre von Zürich aus vertrieben.33 Der Arzt Carl Boruttau steht für eine Reihe bürgerlicher Intellektueller, die über die religiöse Frage zur Sozialdemokratie fanden und als Publizisten, Redakteure, Agitatoren oder Mandatsträger die Mentalitäten in der Partei nicht unerheblich prägten.34 Aber auch die überlieferten Arbeiterautobiographien legen die Vermutung nahe, daß oft die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Sozialisation den Weg in die Sozialdemokratie öffnete.35 So schrieb die Arbeiterin Adelheid Popp 1909 im Rückblick auf die 1880er Jahre: »Ich glaubte nicht mehr an einen Gott und an ein besseres Jenseits, aber es kamen mir doch immer wieder Bedenken, ob es nicht vielleicht doch etwas gebe. [...] Aber die Schilderungen über Sibirien und die schrecklichen Dinge, die aus der Petersburger Schlüsselburg in die Öffentlichkeit drangen und die ich aus meiner Zeitung erfuhr, benützte ich, um meinen Kolleginnen zu beweisen, daß es keinen Gott geben könne, der die Geschicke der Menschheit beeinflußt. Meine sozialdemokratische Überzeugung wurde immer bestimmter und ich mußte in der Fabrik vieles erdulden.« 36

Aufgedrängt wurde die religiöse Frage der Parteibasis kaum. Der sozialdemokratische Religionsdiskurs spiegelte vielmehr deutliche Erwartungshaltungen der Adressaten sozialdemokratischer Agitation wider. Im Frühsommer 1877 schrieb ein Korrespondent aus dem zwischen Leipzig und Chemnitz gelegenen Leisnig an den »Vorwärts«: »Nicht immer von derselben Seite ist allen Menschen beizukommen, um sie für unsere großen menschheitserlösenden Ideale zu gewinnen. So ist bei uns, denen das großindustrielle Leben eigentlich mangelt, anfänglich wenig Interesse für v o l k s w i r t schaftliche Fragen zu finden gewesen, wohl aber war unser Publikum für die Diskussion religiöser Fragen zu gewinnen, bis wir endlich von Stufe zu Stufe heute eben so gute Sozialisten geworden sind, wie nur irgendwo zu finden sein mögen.« 37

32 MEW, S.322f., 360. Die Vorwürfe beziehen sich auf Boruttaus angebliche Sympathien für die Bakunisten. 33 Zu Boruttau liegt neuerdings eine biographische Studie vor: Prüfer, Boruttau. 34 Zum Einfluss bürgerlicher Intellektueller in der frühen Sozialdemokratie Wehkopp, Banner, S.161-77 (Welskopp unterscheidet hier zwischen »randständigen Intellektuelle(n) und ›sozialdemokratische(r) Boheme« (S.161) einerseits und einer bürgerlich arrivierten »sozialdemokratischein) Honoratiorenschicht« (S.167) andererseits). Vgl. auch ders., Arbeiterintellektuelle, S.56: »Im Großen und Ganzen standen die »Intellektuellen« in der Frühzeit der deutschen Sozialdemokratie nicht gegenüber, f...]. Sie waren ihr eigentlicher Kern.« 35 Emmerich, Lebensläufe, S.264-90; Loreck, S.151-55. Für viele Sozialdemokraten »[...] war die Loslösung von der Kirche nach schweren inneren Kämpfen die Voraussetzung für ihre Politisierung«, resümieren Ritter/Tenfelde, S.777. 36 A. Popp, Jugendgeschichte einer Arbeiterin, München 1909, hier zitiert nach Emmerich, Lebensläufe, S.278. 37 Vorwärts 22.6.1877 Nr.72 S A In Leisnig existierte ein Arbeiterbildungsverein; bei dessen Stiftungsfest hielt 1873 Wilhelm Blos die Festrede. Vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.490.

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In dieser Hinsicht bezeichnend ist auch der Korrespondenz-Bericht des sozialdemokratischen Agitators Jos. Sauren vom 26. Februar 1873 über eine Volksversammlung im niederrheinischen Viersen. Der »Unternehmer der Versammlung« hatte als Tagesordnung das Thema »Die Verheißung Jesu und der Kampf um das tägliche Brod« vorgesehen. Sauren hielt sich an diese Vorgabe nicht, musste sich dafür jedoch rechtfertigen: »Obgleich die letzten Worte dieses Satzes [des Versammlungsthemas, d.Vf] für die Sozialdemokratie von höchster Bedeutung sind, so ist doch nicht zu verkennen, daß dem Arbeiterstande mit religiösen Fragen ihrer Existenz gegenüber nicht gedient werden kann. So fand ich mich veranlaßt, beim Eingang meiner Rede hervorzuheben, daß man von mir keine religiöse mit Fremdwörtern gespickte Rede erwarten solle, sondern habe man von mir eine Rede zu erwarten vom rein sozialistischen Standpunkte aus Daß ein »rein sozialistische(r) Standpunkt« religiöse Fragen auszuklammern habe, darüber bestand allerdings in der frühen Sozialdemokratie keineswegs ein Konsens. Zumindest in der im folgenden zu untersuchenden religionskritischen Diskursvariante spielte die religiöse Frage eine herausragende Rolle in der Parteipublizistik.

1.2 Grundtopoi des religionskritischen Diskurses in der frühen Sozialdemokratie

1.2.1 Religion und Herrschaft

»Priestertrug« und »Pfaffenschelte« Die Kritik am Stand der Geistlichen im Christentum ist so alt wie dieser Stand selbst. Bereits die Herausbildung der Ämter in der Alten Kirche musste sich gegen erhebliche Widerstände durchsetzen, welche die spontane charismatische Geistbegabung der Heilsverwaltung durch eine organisierte Priesterkaste vorzogen. Die Berufung auf eine derartige Geistbegabung kennzeichnete seither dissidentische, in der Optik der etablierten Großkirche »häretische« Gruppen im Corpus der Christenheit. Auf ein »allgemeines Priestertum der Gläubigen« beriefen sich auch Martin Luther und die vom »Pfaffenhaß« herkommende reformatorische Bewegung. Die Option einer völligen Abschaffung des geistlichen Amtes verschwand allerdings bald aus dem theologischen 38 Volksstaat 26.2.1873 Nr.l7S.3.

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Ansatz der Reformatoren. Auf eine grundsätzliche Kritik des Christentums als Priesterreligion zielte hingegen die aufklärerische Religionskritik, die - etwa in den Schriften von Paul Thiry d'Holbach (1723-1789) - die alte These vom »Priestertrug« wissenschaftlich auszuformulieren suchte. Nach dieser These über den Ursprung aller Religionen formiert sich vor der eigentlichen »Religionsstiftung« eine Priesterkaste mit dem alleinigen Zweck, über die religiöse Bindung eine Gemeinschaft in hörige Abhängigkeit zu bringen, um sie zu beherrschen und auszubeuten. Zur Erreichung dieses Ziels bediene sich die Priesterschaft der »Verdummung« durch die Vertröstung auf ein fiktives besseres Jenseits, das durch Leidensbereitschaft in der diesseitigen Welt zu erkaufen sei. In Wahrheit hätten die Priester jedoch selbst gar keinen religiösen Glauben. Auch die populäre »Pfaffenschelte« benutzte schon im Mittelalter dieses Argument, zumeist allerdings ohne die radikale Forderung nach einem »Ende der Religion«, sondern als Kritik an einem Abirren vom Weg des früheren, »reinen« und »wahren« Christentums. Die derart motivierten Angriffe auf den vermeintlich unmoralischen Lebenswandel der Geistlichkeit, der die priesterlich verkündeten ethischen Prinzipien einer Vita religiosa delegitimiere, maßen diese Verhaltensweisen am sittlichen Vorbild des »Religionsstifters« Jesus von Nazareth. 39 Die traditionelle, in der Volkskultur verwurzelte Pfaffenschelte erfreute sich auch in der Publizistik der frühen Sozialdemokratie einer außerordentlichen Beliebtheit. Die bürgerlich-freigeistige Lyrik hatte die antiklerikale Volkstradition aufgegriffen. Ihre Tonart schätzte man in den Arbeiterparteien besonders. So war Georg Herwegh (1817-1875) in der sozialistischen Presse mit seinem »Pfaffen-Trost« vertreten; von Nikolaus Lenau (1802-1850) nahm die auflagenstarke Gedicht-Anthologie »Vorwärts« von 1886 »Die Pfaffen« auf »Der Pfaffe weiß mit Dampf, Gesang und Glocken, Mit Mummerei, Geberd und schlauem Segen Den Pöbel zum Guckkasten hinzulocken, Worin sich Höll' und Himmel bunt bewegen. Derweil entzückt der Pöbel und erschrocken An's Wunderloch nun thut das Auge legen, Umschleichet ihn der Pfaffe, aus den Taschen Die schweißgetränkten Kreuzer ihm zu haschen.«40

Freigeister wie Herwegh und Lenau sowie das von ihnen gepflegte literarische Genre der antipfäffischen Polemik dienten schriftstellerisch dilettierenden Par39 Säruhez; Goertz; Marx, Aspects; Dykema/Oberman. Zur Geschichte der Ketzer als kleruskritische, sich auf unmittelbare Geistinspiration berufende Bewegungen vgl. Bauer, Erbstösser. 40 Vorwärts!, S.336. Herweghs »Pfaffen-Trost« aufgenommen in: Social-Politische Blätter 27.3.1875 Nr.13 S.104; Hamburg-Altonaer Volksblatt 16.7.1876 Nr.85 Beilage S.2. Gedichtbände Herweghs, des Dichters der Parteihymne »Bundeslied«, vertrieb die Partei auch über das Verlagsmagazin in Hottingen-Zürich.

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teigenossen als Vorbild, so auch einem anonymen Einsender an den Züricher »Sozialdemokrat« in den 1880er Jahren, dessen umfangreiches Poem »Die Vorkämpfer des Sozialen Staates« die Redaktion allerdings nicht druckte. Es wurde mich als Kind gelehrt vom Pfaffen, Daß Gott ein Himmelreich für die, Die fromm und demüthig gelebt, erschaffen. Karg lebten wie das Vieh. ›Geht weg mit dem System der frechen Lügen !‹ So sprechen freie Männer jetzt; ›Denn ewig sollt ihr nicht das Volk betrügen. Die Wahrheit siegt zuletzt!‹«41

Auch in Prosatexten begegnet die Vorstellung eines der christlichen Religion ursächlich zugrundeliegenden Priestertruges immer wieder. Diese Vorstellung musste nicht als genuine Erkenntnis sozialistischer Gesellschaftskritik der Parteibasis neu erschlossen werden, sondern ließ sich aus der Volkstradition und ihrer Asthetisierung in der freigeistigen Lyrik bei jeder passenden Gelegenheit abrufen. Dabei hatten nicht nur kirchenfreundlichere Parteiintellektuelle, sondern auch der stets kirchenkritische August Bebel Stellung gegen eine »vulgäraufklärerische« Priestertrug-These bezogen. Sie hielten die Rückführung des Ursprungs aller Religion auf die Verschwörung einer Priesterkaste für wissenschaftlich nicht haltbar. Bebel versuchte, gegen die Priestertrug-These die Entstehung der Religionen aus den materiellen Verhältnissen des kulturellen Ursprungsumfeldes zu erklären. 42 Die sozialdemokratische Pfaffenschelte stand auch in einer antiabsolutistischen Tradition, der es galt, das Bündnis von »Fürsten- und Pfaffenherrschaft« (so eine häufige Redewendung in der Parteipublizistik 43 ) zu brechen. Nach41 Dies Gedicht in Steinberg, Mahnruf, S.61-65, hier S.64. Diese von Steinberg aus dem Nachlassjulius Mottelers herausgegebene, viel Antipfäffisches, aber auch viel christlich Gespeistes enthaltende Sammlung belegt eindrucksvoll die Relevanz religiöser Fragen bei den sich durch diese Einsendungen engagierenden Parteigenossen, die wohl häufig einem proletarischen Milieu entstammten. 42 Position der in der Religionsfrage moderaten Parteiintellektuellen zur »Priestertrug«-These exemplarisch in K., S.557 (hinter »K « verbirgt sich womöglich Karl Höchberg oder Max Kayser). Die Kritik Bebeis an der Priestertrug-These wird betont in der Rezension seines Werkes »Die Mohamedanisch-Arabische Kulturperiode« in der Neuen Zeit 2/1884, S.236f. 43 Der »Nußknacker«, die humoristische Beilage der »Chemnitzer Freien Presse«, führte dies in einem Gedicht in der Ausgabe vom 25.8.1872 so aus: »Lehrt mein Volk hübsch fromme Lieder, So sprach der Fürst zu seinen Pfaffen, Bückt mir es hübsch zur Erde nieder, Um ihm des Himmels Heil zu schaffen. Denn ihm lass' ich den Himmel Mit seinem Sterngewimmel, Wenn mir nur bleibt die Erde!« Nussknacker 25.8.1872 Nr.34 S.2. Auch die von Hans-Josef Steinberg veröffentlichten Gedichte, die Leser des »Sozialdemokrat« in den 1880er Jahren einsandten, trugen eher

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reformatorisch hatten im Zuge der Entfaltung moderner Staatlichkeit Kirche und Geistlichkeit an Eigenständigkeit verloren. Ihre Aufgaben definierten die Geistlichen zunehmend als »Dienst am Staat« (z.B. Führung des Standesregisters als »Staatsbeamte«), der ein Fürstenstaat war. Zugleich wird aber innerhalb des Genres der Pfarffenschelte in der Parteipublizistik die Bemühung um eine aktualisierende »klassengesellschaftliche Konnotierung« deutlich. So listete der »Volksstaat« 1875 moralische Vergehen von Geistlichen neben denen der »Bourgeoisie« und der Staatsgewalt unter der Rubrik »Statistik der Sittenverderbniß der herrschenden Klassen« auf (und sammelte hier in nur wenigen Monaten einige hundert »Fälle«). Im selben Blatt war zwei Jahre zuvor ein Artikel »Zur Beherzigung für die bevorstehende Reichstagswahl« erschienen, der in den Wahlaufruf auch die Priestertrug-These in klassischen Formulierungen einbaute: »Von dem, was sie den Armen Jahr aus, Jahr ein von dem ›herrlichen Jenseits‹ vorfabeln, glauben sie selber nicht eine Silbe. [.,.]«44 Die bekannten Priestertrug-Sätze zielten in der Wahlagitation nun aber konkret auf den politischen Gegner in konservativen Parteien und katholischem »Zentrum«. Obwohl Bebel und andere die insbesondere während des Kulturkampfes praktizierte »PfafFenfresserei« im Liberalismus als »heuchlerisch« kritisierten und sich auch mit dem Ziel der klaren parteipolitischen Abgrenzung gegenüber Links- und Nationalliberalen von diesen Angriffen distanzierten 45 , erlebte das »Genre« der gezielten Attacke auf Geistliche dennoch von Beginn der 1870er Jahre an eine wahre Blüte in der sozialdemokratischen Presse. Bis in die 1880er Jahre blieb es auf quantitativ hohem Niveau präsent. Unzählig sind die Notizen und Berichte von katholischen Priestern und evangelischen Pfarrern, die den Ärmsten der Armen rücksichtslos das letzte Geld für kirchliche Gebühren nahmen, dazu noch raubten und stahlen, von Geistlichen, welche die ihnen anvertrauten Zöglinge im Religionsunterricht schlugen, Kinder sexuell missbrauchten, in geheimen hetero- oder homosexuellen Beziehungen ein sittlich ausschweifendes Leben führten und im Extremfall ihre uneheliche Nachkomeinen antiabsolutistischen denn einen antikapitalistischen Stempel, wie Emmerich, Nachwort, S.167, hervorgehoben hat. 44 Votksstaat 24.12.1873 Nr.128 S.3. In seinem »Wahlappell. Zum 21. Februar 1887« dichtete ein Kurt Friedrich im »Sozialdemokrat«: »Werft in die Urne Eure Zettel: Dem Pfaffenpackdurch's Mark ein Stoß! Reißt Eure Geister lachend los Vom Papst- und Konsistorienbettel.« Sozialdemokrat 4.2.1887 Nr.6 S A Solche Worte im Wahlkampf blieben gelegentlich nicht ohne Folgen: So wurde in Kiel 1877 ein Parteigenosse wegen »Beleidigung der Geistlichkeit« in einem Wahlflugblatt für den 9. schleswig-holsteinischen Wahlkreis zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt (Vorwärts 25.5.1877 N r . 6 0 S . 2 ) . 45 Vgl. auch die Abrechnungmit dem Kulturkampf in der sozialdemokratischen »Fränkischen Tagespost« vom 9.9.1886: »Die schmutzigste Denunziation wurde zur nationalen That, so bald sie sich nur gegen Katholiken oder katholische Institutionen richtete, und wer am ekelhaftesten auf Mönch und Nonne schimpfen und an der Table d'hote die meisten Schnurren über Pfarrersköchinen [sie] und deren Abenteuer erzählen konnte, das war der Löwe des Tag [sie], ein ›echt liberaler Mann‹.« Fränkische Tagespost 9.9.1886 Nr.221 S.l.

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menschaft ermordeten. 46 Sicherlich standen für den literarischen Typus, nach dem die entsprechenden Berichte immer geformt waren, in der Parteipresse empfohlene und auch im Bürgertum gern gelesene Werke wie Otto von Corvins »Pfaffenspiegel« oder Ludwig Richard Zimmermanns »Pfaffenpeitsche« Pate, die wiederum an die volkstümliche antipfäffische Tradition anschlossen.47 Die Vorfälle waren jedoch oft von Redakteuren oder einsendenden Korrespondenten selbst recherchiert worden, wie auch an den Protestschreiben von Geistlichen oder an den gegen die verantwortlichen Redakteure angestrengten Strafverfahren deutlich wird. 48 Vergehen von Geistlichen wurden aus dem gesamten Reichsgebiet gemeldet. Häufig erschien die Nachricht zuerst im sozialdemokratischen Lokalblatt der Region, in welcher der (angebliche) Vorfall sich zugetragen hatte; der Bericht wurde dann wenig später von anderen Parteizeitungen aufgenommen. Die Distanzierung von Geistlichen als realen oder potenziellen politischen Gegnern vollzog sich am wirksamsten, wenn die Parteigenossen und -Wähler vor Ort direkt betroffen waren. Die Redaktionen der Parteipresse griffen entsprechende Vorkommnisse gerne auf So gab der »Sozialdemokrat« 1885 einen 46 Katholische Priester wurden insofern häufiger aufgrund von tatsächlichen oder vermeintlichen Sexualdelikten angegriffen, als diese Geistlichen ja einer besonders rigiden Sexualmoral (Zölibat) unterworfen waren. Tatsächlich stieg die Zahl der öffentlich werdenden Sexualdelikte von katholischen Priestern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprunghaft an, eine Tatsache, die wohl weniger auf einen »Sittenverfall« des Klerus als auf den wachsenden Antiklerikal ismus und auf die verschärfte Sozialkontrolle durch die eigenen Gemeinden im Zuge der Ultramontanisierungdes kirchlichen Lebens zurückzuführen ist. Siehe dazu ausführlich Götz von Olenhusen, Klerus, S.207-76. 47 Corvin (1845 in erster, 1889 in sechster Auflage). Die Neuauflagen des Corvin waren stets um neue »Fälle« erweitert. Um 1900 wurde der »Pfaffenspiegel« öfter aus sozialdemokratischen Leihbibliotheken entliehen als Bebeis »Die Frau im Sozialismus«: Steinberg, Sozialismus, S.138f.. Zimmermann, Pfaffenpeitsche: Für dieses Werk warb der Züricher »Sozialdemokrat« noch in den 1880er Jahren. Neben diesen beiden »Klassikern« wurden immer wieder neue Titel empfohlen: »Achtung! Sehr wichtig für Jeden, der sich Aufklärung über die Pfaffenherrschaft verschaffen will, versäume nicht, sich die ›Geschichte der Verbrechen, welche die Priesterherrschaft seit 1200 Jahren an der deutschen Nation begangen hat‹, anzuschaffen.« Berliner Volks-Tribüne 28.4.1888 Nr.17 S.4. In der Zeitschrift Neue Welt 18/1884 S.436f wurden »Eckart Warners Briefe moderner Dunkelmänner« von L. Bräutigam den Lesern warm empfohlen. Die antikatholische Stoßrichtung all dieser Schriften wurde allerdings in der sozialdemokratischen Pfaffenschelte auf die evangelische Geistlichkeit ausgedehnt. 48 Der »Vorwärts«-Korrespondent aus Linz am Rhein Carl Schneidt klagte in einem Brief an Wilhelm Liebknecht vom 22.7.1877 über die Repression, der er von Seiten der Ortsgeistlichkeit ausgesetzt sei: »Der Haß und Groll der hiesigen Ultramontanen gegen mich ist ein unbeschreiblicher.« Den Anlass hatte insbesondere ein Bericht Schneidts für den »Vorwärts« (Vorwärts 11.7.1877 Nr.80) gegeben, in dem die Zustände in dem von Nonnen geführten Neusser Waisenhaus angegriffen worden waren. Der Verfasser versicherte Liebknecht jedoch die Richtigkeit seiner Angaben: »Was ich sagte, kann ich zeugeneidlich belegen, und habe demgemäß die Gerichte nicht zu fürchten, da ich den Wahrheitsbeweis antreten kann.« Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.748. Carl Schneidt schloss sich später dem prononciert kirchenfeindlichen anarchistischen Flügel um Johannes Most und Wilhelm Hasselmann an; vgl. ebd., S.750; Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.601.

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Korrespondenz-Bericht aus Achim bei Bremen wieder, in dem der neue Pastor Krone wegen der angeblich unbarmherzigen Eintreibung von Opfergeldern scharf angegriffen wurde. Die diese Praxis kritisierenden sozialdemokratischen Gemeindeglieder forderte Krone auf, doch die Landeskirche zu verlassen, wenn ihnen sein Vorgehen nicht recht sei.49 Es fällt allerdings auf, daß bei der Unzahl der inkriminierten Vergehen von Pfarrern Parteimitglieder oder Sympathisanten eher selten explizit als Betroffene etwa der rigorosen Eintreibung kirchlicher Gebühren genannt wurden. Dies könnte ein Hinweis auf einen bereits deutlichen Autoritätsverlust der Geistlichkeit im sozialdemokratischen Milieu sein, in dem man sich pfarrherrlichen Ansprüchen zu entziehen wusste; oder aber die Parteipublizistik versuchte, kirchliche Bindungen von Parteigenossen bewusst zu negieren. Zu Konflikten vor Ort kam es oft durch die antisozialistische Agitation von Geistlichen.50 »Sozialistenfresserei« ergänzte in der Parteipublizistik die traditionellen Stereotypen des »Pfaffen«-Bildes wirkungsvoll, wenn berichtet werden konnte, daß dieselben Pfarrer, die in der Woche rücksichtslos kirchliche Gebühren eintrieben, am Sonntag von der Kanzel gegen die Sozialdemokratie wetterten. Gelegentlich gewann man dieser Kanzelagitation, die angeblich entgegen ihrer Absicht der Sozialdemokratie noch mehr Stimmen zutrieb 51 , heitere Seiten ab.52 Häufiger jedoch deutet die Empörung über die Kanzelagitation, der gegenüber die Sozialdemokraten gelegentlich sogar den sonst als polizeistaatlich geschmähten, politische Kundgebungen in der Kirche untersagenden »Kanzelparagraphen« 130a Reichsstrafgesetzbuch des Kulturkampfes angewandt wissen wollten 53 , eher daraufhin, daß die Pfarrer durch ihre Predigten doch noch einen erheblichen Einfluss ausübten. Im Mainzer »Verein zur Förderung des Volkswohls und volkstümlicher Wahlen«, einer sozialdemokratischen Tarnorganisation während des Sozialistengesetzes, wurde 1889 angefragt, ob »die Pfaffen ungestraft auf die Sozialdemokraten schimpfen« dürften. Dazu erklärte der Mainzer Reichstagskandidat Franz Jöst - hier ohne Verweis 49 Sozialdemokrat 29.10.1885 Nr.44 S.4. 50 Diese Agitation fand keineswegs immer die Zustimmung kirchenleitender Behörden» die aus dienstrechtlicher Perspektive (und keineswegs aus Sympathien für die Sozialdemokratie) die Pfarrer zur Zurückhaltung in der politischen Meinungsäußerung anhielten. In diesem Sinne z.B. ein Schreiben des preußischen Evangelischen Oberkirchenrates (EOK): »Das Verhältnis der Geistlichen zur sozialistischen Bewegung. Ansprache des EOK vom 20. Februar 1874« im Kirchlichen Gesetz- und Verordnungsblatt 1874 (zitiert m c h j a n z , S.47). Vgl. zur antisozialdemokratischen Kanzelagitation die sich auf einen Bezirk der hannoverschen Landeskirche beziehende Mikrostudie von Marbach, S.128f.. 51 Die Autobiographie des Arbeiters R. Kempken, in der dieser bemerkt, sich wegen eines gegen Bebel eifernden Kanzelredners in den 1880er Jahren von der Kirche abgewandt zu haben, scheint diese Ansicht zu bestätigen: Saul, S.254f„ 52 Z.B. Volksstimme 2 A 1 8 9 0 S . 3 . 53 So z.B. August Bebel vor dem Sächsischen Landtag vom 29.1,1890, in: Mittheilungen, S.377f.

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auf den Kanzelparagraphen: »Was gegen die Sozialdemokraten getan wird, ist nicht strafbar; wenn aber diese etwas tun, gibt es gleich Gefängnis: es wird mit zweierlei Maß gemessen.«54 Geistliche beider Konfessionen nutzten nicht nur die Kanzel zu Attacken auf die Arbeiterparteien. Bei kirchlichen Konferenzen, in Gemeindeblättern, bei Schulansprachen, Vorträgen in Fabriken und bei Hausbesuchen von Gemeindegliedern griffen sie den politischen Gegner an und warnten vor der Lektüre seiner Publikationen.55 Der Aufforderung sozialistischer Agitatoren, ihre Kritik nicht von der Kanzel, sondern bei den Volksversammlungen der Arbeiterparteien zu äußern 56 , kamen Priester und Pastoren in einem den Veranstaltern dieser Versammlungen sicher nicht immer angenehmen Umfang nach. Der polemische Ton der Kontrahenten und die gereizte Atmosphäre bei diesen Begegnungen ließ es aber selten zu einem ernsthaften Dialog kommen. Berichte über Denunziationen von Sozialdemokraten bei Fabrikanten durch Geistliche, die bis hin zu Entlassungen führten, angebliche Wahlmanipulationen der Pfarrer und die von ihnen angestrengten Verleumdungsklagen gegen sozialdemokratische Redakteure 57 trugen zur weiteren Vergiftung des Klimas bei. Von negativen Erfahrungen mit groben, mitleidlosen Geistlichen in Schule und Pfarrhaus erzählen die Jugenderinnerungen der frühen Arbeiterautobiographien. 58 Das sozialdemokratische Feindbild »Pfarrer«, das über die traditionelle Pfaffenschelte hinaus vermeintlich typische Alltagserfahrungen von Arbeitern einbezog, wurde zudem durch die Literarisierung in Romanen 54 Stern, Kampf, S.960, 963. Zu Jöst vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.478. 55 Aus Duisburg meldete die sozialdemokratische »Duisburger Freie Zeitung« in einer Korrespondenz: »Bei dieser Gelegenheit [den Hausbesuchen, d.Vf] ist es dem Herrn Pastor schon mehrere Male passirt, daß er die ›Duisburger Freie Zeitung‹ bei seinen Pfarrangehörigen vorfand, und hat er in solchen Fällen sich bemüht, den Leuten auseinanderzusetzen, daß bei ihnen niemals ›Frieden und Segen‹ in der Familie sein könne, wenn dieses ›Satansblatt‹ gehalten werde. Wahrscheinlich hat der fromme Mann schon mit Grauen daran gedacht, daß auch der Arbeiter durch das Lesen dieses Blattes auf den Gedanken kommen könne, ihm gebühre für seine schwere Arbeit ebensogut zu leben, wie einem Pastor beim Spazierengehen oder Faullenzen [sie], und ein solcher Gedanke ist natürlich ein ›Satansgedanke‹.« Duisburger Freie Zeitung 9.11.1876 S.3. 56 Votkswille 29.8.1876 Nr.46S.188. 57 Denunziationen: Vorwärts 19.6.1878 Nr.71 S.4 (Korrespondenzbericht aus Frankfurt an der Oder); Sozialdemokrat 19.4.1883 Nr.17 S.4 (Korrespondenzbericht aus Großenhain bei Riesa). Wahlmanipulation: Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.765 (Beschwerde eines Arbeiterwahlkomitees über den Oberpfarrer im sächsischen Lößnitz, der Stimmzettel für Liebknecht aus dem Verkehr gezogen habe). Vgl. dazu Anderson, Voter, die S. 1452f. den Fall der Wahlmanipulation eines Priesters im bayrischen Oberhaid zugunsten der katholischen »Patrioten« schildert. Solche Fälle der Beeinflussung durch die »alten Autoritäten« schienen gerade zu Beginn des Kaiserreiches keine Ausnahme zu sein. Gerichtsverfahren: Mook, Memminger, S. 13f.; Kölner Freie Presse 6.1.1878 Nr.2 S.4 (ein Dortmunder Verfahren, in dem es um den Parteipressebericht über die Erhebung zu hoher Abendmahlsgebühren ging, endete mit einem Freispruch; der Richter befand gar, daß es »Pflicht der Presse« sei, solch skandalöses Verhalten von Pfarrern »an's Licht zu ziehen«). 58 Vgl. Münchow, Arbeiterautobiographie, S.20,108-10,118f. (Autobiographien von Carl Fischer, Franz Rehbein).

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und Bühnenwerken gefestigt. In den zuerst im Leipziger Arbeiterbildungsverein gespielten Agitationsstücken des Malermeisters und sozialistischen Schriftstellers Friedrich Bosse (1848-1919) bevölkerten oft auch evangelische Pastoren die Bühne. In dem »Sozialen Bild« »Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft!« von 1888 trifft sich ein Bauer mit seinem mit dem Sozialismus sympathisierenden Sohn, der zu Besuch in seinem Heimatdorf weilt. Die Eltern stehen noch unter dem Schock, den die Predigt des vergangenen Sonntags bei ihnen verursacht hatte. In einer bewegenden Szene vor dem »Ende der ersten Abtheilung« bekennt sich der Vater zu seinem Sohn. »Du kannst meinen Blick noch ruhig aushalten, es ist nicht wahr, ein schlechter Mensch bist du nicht geworden, was man auch sagen möge. Man hatte in unserm Dorfe die Nachricht verbreitet, du seiest an einer geheimen Verbindung beteiligt. Seiest ein Mensch geworden, der an nichts mehr glauben möchte, der nur darauf sinne, wie er andern Menschen Schaden zufügen könne, der nichts arbeiten wolle, kurz, der zu jeder Schlechtigkeit fähig wäre. Das hat wie gesagt unser Pastor in Bergstedt alles in seiner Predigt erörtert. Die Aufregung kannst du dir vorstellen, um so mehr als der fromme Herr den Wunsch geäußert hat, der Blitz möchte doch alle gleichgesinnten Männer vom Erdboden vertilgen. Ich konnte es nicht ertragen, dieses alles mit anzuhören, ich mußte Gewißheit haben, ich mußte aus deinem Munde hören, was wahr ist.«59 Das Stereotyp des Pfarrers als Sozialistenhasser wurzelte nicht nur in realen Erfahrungen und dem kollektive Identitäten fördernden Bedürfnis nach Abgrenzung, das nach klaren Feindbildern verlangte. Es mangelte zudem - in sozialdemokratischer Optik - auch an positiven Gegenbildern. Anders als in den Niederlanden, wo der evangelische Pastor Ferdinand Domela Nieuwenhuis (1846-1919) bereits 1879 aus der Kirche ausgetreten war und sich zum Sozialismus bekannte 60 , traten in Deutschland erst um die Jahrhundertwende die ersten Pfarrer (Paul Göhre u.a.) in die SPD ein.61 Mit dem Kaplan Wilhelm Hohoff (1848-1923) trug August Bebel 1874 im »Volksstaat« einen Disput aus, der sich auf Seiten HohoiTs durch eine bemerkenswerte Empathie mit den Anliegen der Sozialdemokratie auszeichnete. Zur Partei bekannte sich Hohoff aber erst nach 1890.62 Kaum einmal sah sich die Parteipresse veranlasst, von dem »selten freien Sinn« eines Geistlichen zu berichten, wie sie es 1889 von 59 Bosse, Arbeitervereine, S.42f.. Auch die Agitationsstücke der 1870er Jahre kannten schon den Typus des Pfarrers als Verbündeten der herrschenden Klasse; s. z.B. Otto-Wabter, Agitator, S.33-77. 60 Die deutsche Sozialdemokratie nahm diesen Vorgang zunächst eher am Rande zur Kenntnis. Vgl. Freiheit 27.9.1879 Nr.39 S.3; Sozialdemokrat 4.3.1887 Nr.10 S.4; Wahrer Jacob 52/1888, S.416. Nach 1889 entzündete sich an den Positionen von Domela Nieuwenhuis ein Konflikt zwischen »marxistischen« deutschen und freiheitlich-unorthodoxen niederländischen Sozialdemokraten: s.Altena. 61 Dazu Vorländer, Pfarrer. 62 Die Kontroverse wurde auch separat veröffentlicht: Bebel, Polemik. Vgl. Grote, Religion, S.73-76. Zu Hohoffs. Kreppel.

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dem Missionspriester Otto Neumann aus Liegnitz tat, der in einem Vortrag die Frage nach den Ursachen des Niederganges der Kirchen und des Erfolges der Arbeiterpartei klar beantwortete:»[...] laßt es uns offen bekennen: die Kraft und Stärke der Sozialdemokratie ist nicht das Schlechte an ihr, sondern das verhältnißmäßig Gute.«63 Die Gelassenheit, mit der 1878 im »Briefkasten der Redaktion« des »Vorwärts« ein Einsender ermuntert wurde, die Pfaffen doch nicht so ernst zu nehmen 64 , fanden Parteiaktivisten selten. Die politischen Forderungen, die mit der Pfaffenschelte oft verbunden waren, umfassten das gesamte Repertoire der religionskritischen Programmatik der Partei. Der Geistlichkeit sollte der sozialistische Zukunftsstaat das Ende des »pfaffischen Müßiggangs« zugunsten »gesellschaftlich nützlicher« Arbeit bringen, und dies war gleichbedeutetend mit der Abschaffung des Berufsstandes, wie ihn der radikale Antiklerikalismus schon in früheren Jahrhunderten gefordert hatte.65 Die Radikalität dieser Forderungen und der bittere Ernst, ja, die Wut, mit der die sozialdemokratische Pfaffenschelte vorgetragen wurde, weisen zum einen auf die Infragestellung, zum anderen aber auch auf die Beharrungskraft des gesellschaftlichen Status der Pfarrer als den politischen Status quo stabilisierende lokale sozialmoralische Instanzen hin. Mit Sicherheit hatte die deutsche Pfarrerschaft beider christlicher Konfessionen zunehmend mit Statusproblemen zu kämpfen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein gravierendes Ausmaß erreichten. Schritt für Schritt waren Geistliche in vielen deutschen Staaten aus der Wahrnehmung obrigkeitlicher Aufgaben (Führung des Standesregisters, alternativlose kirchliche Eheschließung, Schulaufsicht) verdrängt worden, Aufgaben, die nun kommunale staatliche Instanzen übernahmen. Im Blick auf ihre Berufsfunktionen verloren die Pfarrer damit den statuslegitimierenden Rang von Staatsbeamten. An der traditionellen Staatsnähe hielten die evangelischen Pastoren dennoch fest, zumal ja auch das landesherrliche Kirchenregiment gewahrt blieb. Für linksliberale und sozialdemokratische Kritiker von Staatsverfassung und Regierungspolitik bot dies eine Angriffsfläche, die an die absolutismuskritische Polemik gegen »Fürsten- und Pfaffenherrschaft« anschließen konnte. Die finanzielle Versorgung durch das Pfründensystem blieb für katholische Priester und evangelische Pfarrer im Kern erhalten. Ihr Einkommen musste die 63 Münchener Post 25.12.1889 Nr.8t S.2. 64 »Briefkasten der Redaktion. [...] J J . in FL: Ei lassen Sie doch das Pfafflein schwätzen. Wer wird denn diesen Leutchen, die sehr gut wissen, daß sie in einer sozialistischen Gesellschaft statt der »geistlichen‹ nützliche Arbeit werden verrichten müssen, gleich so tragisch nehmen.« Vorwärts 24.5.1878 N r 6 0 S.4. 65 Martin Luther, der antiklerikale Stimmungen aufgriff und theologisch radikaiisierte, zielte mit dem »Priestertum aller Gläubigen« ursprünglich auf eine völlige »Abschaffung« des Klerus; allerdings verfestigte sich die reformatorische Bewegung schnell wieder in amtskirchlichen Strukturen. Goertz, S.63-68.

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Pfarrerschaft weitgehend über den Ertrag von Ländereien, Pfarrkapitalien, Naturalabgaben und die Gebühren für Amtshandlungen sichern: von Pfarrstelle zu Pfarrstelle stark schwankende, mitunter hohe, mitunter aber auch dürftige und unsichere Einnahmen. Die rigorose Eintreibung kirchlicher Gebühren, an der Sozialdemokraten heftig Anstoß nahmen, folgte zumindest teilweise wohl einer materiellen Notwendigkeit, widersprach aber den eigenen Vorstellungen von Amtswürde und sozialer Distanz.66 Die von den kirchlichen Leitungsgremien lange vernachlässigte Urbanisierung führte zudem zu einer geistlichen Mangelversorgung in den größeren Städten, welche die Erosion pfarrherrlich-patriarchaler Autorität bei den neuen städtischen Unterschichten beschleunigte. Die Erkenntnis des »Versagens« der Geistlichen vor den intellektuellen und praktischen Herausforderungen von Modernisierung und sozialem Wandel während der Industrialisierung durchzieht den überwiegenden Teil der Forschungsliteratur zum Problem der »Kirchen vor der sozialen Frage«. Kirchenferne und konfessionelle Gleichgültigkeit nahmen in den Städten, allmählich aber auch auf dem Land unzweifelhaft zu und schmälerten das Sozialprestige des geistlichen Berufsstandes.67 Als Auswuchs dieser Statusprobleme, welche die Pfarrer in die Defensive drängten und besonders bei evangelischen Pastoren häufig zu pessimistischen Erwartungen für die eigene Zukunft führten, betrachtete die zeitgenössische kirchliche Literatur die wachsenden Angriffe aus bürgerlichen und unterbürgerlichen Schichten auf Amt und Person von Geistlichen. Die Akzeptanz der Pfaffenschelte im sozialdemokratischen Milieu läßt sich aus der Parteipublizistik zwar nur näherungsweise bestimmen. Doch daß diese traditionelle, populäre Form der Herrschaftskritik im Parteimilieu viel Unterstützung fand, belegt nicht nur ihre Verbreitung gerade in den lokalen Korrespondenzberichten der sozialdemokratischen Presse über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg und das Festhalten an diesem Topos der Gesellschaftskritik trotz (oder gerade wegen!) der damit gelegentlich verbundenen Repressalien gegen lokale Redakteure und Agitatoren. So verweisen z.B. auch die von der Hamburger Politischen Polizei seit Ende der 1880er Jahre protokollierten

66 Obwohl von einem materiellen Überfluss der Finanzausstattung von Pfarrern im Regelfall keine Rede sein konnte, hielt die sozialdemokratische Publizistik an der »Völlerei« als einem Topos überlieferter »PfafTenschelte« fest. Und als die sächsiche Landessynode 1876 eine staatliche Altersversorgung für die Pfarrer der Kirchenprovinz forderte, merkte die »Chemnitzer Freie Presse« lediglich an, daß schließlich auch die Arbeiter im Alter betteln müssten. Chemnitzer Freie Presse 11.10.1876 Nr.237 S.2. 67 Die wachsenden Statusprobleme der Geistlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nehmen auch die beiden neueren, grundlegenden Studien zu katholischen Priestern bzw. evangelischen Pfarrern in den Blick, die den obigen Ausfuhrungen zugrundeliegen: Götz von Otenhusen, Klerus; Janz.

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Kneipengespräche von Arbeitern auf den Pfarrer als »Objekt kritischer Begierde« und Kristallisationspunkt einer »kollektiven Identität ex negativo«.68 Dennoch kann keine Rede davon sein, daß katholische und evangelische Geistlichkeit als lokale sozialmoralische Instanz in der zweiten Jahrhunderthälfte völlig verspielt hätten. Nach der Revolution von 1848/49 wandelte sich in beiden Konfessionen das Berufsbild des Geistlichen, geprägt durch den bestimmenden Einfluss des Ultramontanismus katholischerseits und von Erweckungsbewegung und Neoorthodoxie evangelischerseits. Von diesen dezidiert antirationalistischen und antimodernen innerkirchlichen Positionen aus förderten Kirchenleitungen und -gemeinden ein resakralisiertes Amtsverständnis, das den Pfarrer vorwiegend weder als Staatsdiener noch als Moralitätslehrer, Volkserzieher und allgemeinen Sittenwächter sah, wie es der theologische Rationalismus seit der Aufklärung getan hatte. Die sakramentalen, kirchlich-liturgischen Funktionen der Geistlichen traten wieder in den Vordergrund und führten zu einer (Re-)«Klerikalisierung« der Pfarrerschaft, deren Autorität zwar bei Teilen der Bevölkerung abnahm oder verschwand, bei anderen Teilen, den verbleibenden traditionalistischen, sich enger zusammenschließenden »kirchlichen Milieus« aber unter dem neuen Leitbild fortbestand oder sogar wuchs. Die Klerikalisierung, mit der auch eine Verschärfung des Verhaltenskodex für die Geistlichen durch kirchenbehördliche Kontrollen verbunden war, konnte somit zum Schwund, aber auch zum Zuwachs an Autorität beitragen. Dem neuen Berufsideal entsprach zudem ein Wandel bei Rekrutierung und sozialer Herkunft der Geistlichen, die bei evangelischen Pastoren und katholischen Priestern zwangsläufig unterschiedlich waren (z.B. generationelle Berufsvererbung bei evangelischen Pastoren), in beiden Konfessionen aber die Tendenz zur »Entbürgerlichung« aufwiesen. Zumindest auf katholischer Seite wuchs dadurch die soziale Nähe des Klerus zu den unterbürgerlichen Schichten. 69 Die »Histörchen« vom rigoros kirchliche Gebühren eintreibenden Pfarrer, vom im Religionsunterricht prügelnden Schulgeistlichen und von dem von der Kanzel herab die ortsbekannten Sozialdemokraten attackierenden Pastor legen - natürlich in einseitiger Lesart - Zeugnis von den sozialdisziplinierenden Druckmitteln ab, über welche die Geistlichkeit nach wie vor und im Vergleich zum kirchlichen Niedergang der ersten Jahrhunderthälfte vielleicht sogar verstärkt verfügte. Gegenüber der stehenden Redensart, daß die antisozialistischen Kundgebungen der Geistlichkeit den einzigen Effekt hätten, der Sozialdemokratie Stimmen zuzutreiben, wirken die gelegentlichen Äußerungen der Ent68 Evans, Kneipengespräche, S. 169-81. 69 »Entbürgerlichung« und »Klerikalisierung« der Geistlichen sind wesentliche Ergebnisse sowohl der Studie über evangelische Pfarrer von Janz als auch der Arbeit über katholische Priester von Götz von Olenhusen, Klerus. Die Entbürgerlichung erscheint bei Janz allerdings fast ausschließlich als problematische Selbstisolierung, die auch nicht zu einer Annäherung an die Arbeiterschaft führte, sondern die Pastoren einseitig auf den Mittelstand orientierte.

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rüstung über die verbleibende Autoritätshörigkeit der »unglücklicherweise noch gläubigen Mitglieder des deutschen Proletariats«70 mindestens ebenso glaubhaft. Auf das Wahlverhalten im Kaiserreich beispielsweise übten die Priester (neben den anderen »alten Autoritäten« Junker und Landrat) in manchen Regionen wie z.B. im katholischen Oberschlesien einen nachhaltigen Einfluss aus, worauf Margaret Livinia Anderson eindrücklich hingewiesen hat.71 Bei ihrer Empörung ließen es die Berichterstatter der Partei aber nicht bewenden. 1876 erklärte der Lechhausener Korrespondent der Augsburger sozialdemokratischen Lokalzeitung »Volkswille« anlässlich eines von ihm kolportierten Berichtes über das unbarmherzige Geldeintreiben eines Pfarrers: »Würde das betreffende kupfernasige Männlein unsere letzte Volksversammlung besucht haben, so würde es gefunden haben, daß es von den von ihm so verpönten Socialdemokraten bezüglich oben genannten Gebotes [der Nächstenliebe] noch manches lernen könnte. Es wird uns gerade hier häufig entgegengehalten, ›ja, es wäre Alles recht, wenn ihr nur die Religion und die Geistlichen in Ruhe lassen würdet‹; darf es denn aber verwundern, wenn vernünftige Leute von einer solchen Religion keine Achtung haben können, deren Diener sich mit der praktischen Ausfuhrung ihrer Gebote derartig im Widerspruch befinden.«72 In diesem Passus treten vier Motive zusammen: zum ersten der gegen die Sozialdemokratie hetzende »Pfaffe«; zum zweiten die »Pfaffenschelte« als Entgegnung auf diese Angriffe und als Instrument zur Delegitimierung des sozialmoralischen Anspruchs des Pfarrers; zum dritten die Setzung der biblischchristlichen Ethik als Maßstab für die moralische Beurteilung pfarrherrlichen Verhaltens und zum vierten das Motiv der Realisierung dieses ethischen Anspruches durch die Arbeiterpartei selbst. Sicherlich wurden die beiden letztgenannten Motive gelegentlich auch ausschließlich rhetorisch eingesetzt. Die Gegenüberstellungen von pfäffischer Unduldsamkeit und dem Gebot der Nächstenliebe, von Sittenlosigkeit der Geistlichkeit und der Sittenreinheit eines Jesus von Nazareth müssen aber auch als Hinweise auf noch christlich gespeiste Mentalitäten im parteinahen Milieu wahrgenommen werden, die von der Parteipublizistik entsprechend bedient wurden. In den 1880er Jahren trat dieses Motiv zwar etwas zurück, verschwand jedoch keineswegs. Ein in diesem Jahrzehnt an Julius Motteier eingesandtes, zweifellos nicht aus bildungsbürgerlicher Feder stammendes anonymes Gedichtmanuskript für den »Sozialdemokrat« mit dem Titel »Der Pfaffen letzte Stunde« reimte unbeholfen: »Wir wissen das [sie] die Wissenschaft Das Glaubens-Räthsel hat zerstört, Darum sei eure Herrschermacht, 70 Volksstaat 17.3.1876 Nr.32 S.2. 71 Anderson, Voter, bes. S.1454f.. 72 Volkswille 6.2.1876 Nr. 1 S.3.

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Samt fetten Pfründen aufgehört. Des Nazarener's Lehre ist, Sehr leicht von Jedem zu verstehn, Doch muß er sein ein and'rer Christ Und nicht zum Pfaffen stets hingehn.« 73

Eine anspruchsvollere Literarisierung dieses Motivs begegnet in dem Agitationsstück »Ein verunglückter Agitator oder die Grund- und Bodenfrage« (1874) von August Otto-Walster (1834-1898). Ein altbewährter Sozialdemokrat, Daschner, erklärt hier seinen jungen Parteifreund Georg, daß es jetzt gelte, »[...], das Evangelium des armen Mannes zu predigen, was nöthig geworden, seitdem die Geistlichen aufgehört haben, die natürlichen Anwälte der Armen gegen die Reichen zu sein.«74 Es ist wohl angebracht, den fiktiven Daschner durchaus in der Realität des sozialdemokratischen Milieus beheimatet zu sehen. Die »Pfaffenschelte« war das gängigste, in der Volkskultur verwurzelte, dann aber parteipolitisch akzentuierte Element sozialdemokratischer Kirchenund Religionskritik. Der Beiklang von enttäuschten Erwartungshaltungen gegenüber der Pfarrerschaft kann jedoch als Hinweis auf christliche Motivlagen gelesen werden, aus denen sich dieser Antiklerikalismus bei manchen Parteigenossen auch speiste.75

Die historische Delegitimierung der christlichen Religion Die Priestertrug-These diente nicht nur einer sozialdemokratisch anverwandelten Pfaffenschelte als theoretische Unterfutterung. Die Kritik in der Partei an Kirche und Religion als Herrschaftsinstrumenten folgte insgesamt der argumentativen Grundstruktur dieser These: auf der einen Seite die Charakterisierungjeder Religiosität als »Zweckreligiosität«, erdacht und genutzt zur U n terdrückung der ungebildeten Massen durch die herrschende Klasse, die dieses Ziel durch Volksverdummung und Jenseitsvertröstung zu erreichen suchte, auf der anderen Seite die Erwartung der DeStabilisierung dieser Herrschaft durch die Bloßstellung des »Religionstruges«. Dieses Motiv taucht auch bei Bebel auf, obwohl dieser einem allzu populistischen Antiklerikalismus kritisch gegenüberstand. »Die Religion ist seit urdenklichen Zeiten und bei allen Völkern das hauptsächlichste Nasfuhrungs- und Ausbeutungsmittel gewesen« 76 ; sie 73 Steinberg, Mahnruf, S. 140. 74 Otto-Wahter, Agitator, S.64. 75 Vgl. hier auch die Tradition der Arbeiterbewegung von 1848/49. Das neunte Gebot der in der Zeitschrift »Verbrüderung« abgedruckten »Zehn Gebote des Arbeiters« lautete: »Du sollst dein Ohr verschließen vor den Pfaffen«, das zehnte hingegen: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Zitiert nach Quarck, S.390. 76 Bebel, Thätigkeit 1873, S.45.

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»[...] ist ja nur für das Volk da, für die hohen Herren ist sie nur Mittel zum Zweck« 77 . Vernon Lidtke hat zurecht daraufhingewiesen, daß Bebeis »militanter Atheismus« der 1870er Jahre im folgenden Jahrzehnt moderateren Einstellungen wich, was Lidtke auf das Abebben des Kulturkampfes, die zur Vorsicht gemahnenden Bedingungen des Sozialistengesetzes und die zunehmende Rezeption der »reifen« Marxschen, vor einer Übergewichtung der religiösen Frage warnenden Auffassungen zurückfuhrt. 78 Dennoch aber befreite Bebel sich in seinem Religionsverständnis nicht völlig von der »Priestertrug«-Diktion. Das verdeutlicht die zweite, gegenüber der ersten (1879) wesentlich veränderte Auflage seines Hauptwerks, 1883 unter dem Titel »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« erschienen und dann im Text bis zur 8. Auflage 1890 unverändert, in der sich Bebel scharf von den »bürgerlichen Ideologen« abgrenzte, welche die Religion »abschaffen« wollten. 79 »Historisch-materialistische« und aufklärerisch-populäre Dikta werden hier untrennbar miteinander verwoben: »Die Religion ist die transzendente Widerspiegelung des jeweiligen Gesellschaftszustandes. In dem Maasse, wie die menschliche Entwickelung fortschreitet, die Gesellschaft sich transformirt, transformirt sich auch die Religion. Die herrschenden Klassen suchen dieselbe als Mittel ihrer Herrschaft zu konserviren. Dieses Geschäft wird amtliche Funktion. Es bildet sich eine Kaste, die diese Funktion übernimmt und allen Scharfsinn darauf richtet, das Gebäude zu erhalten und zu erweitern, weil damit ihre eigene Macht und ihr Ansehen wächst.«80 Die Wetterführung der Priestertrug-These attackierte das Bündnis von Staat und Kirche zur Aufrechterhaltung ihrer als »göttliche Weltordnung« (so die Chiffre für den religiös überhöhten gesellschaftlichen Status quo) ausgegebenen Herrschaft. Die grundlegenden Stichworte dieser populären herrschaftskritischen Religionskritik - Zweckreligiosität, Volksverdummung jenseitsvertröstung - tauchen in den lokalen Berichten von der Parteibasis immer wieder auf Für die Distanzierung von der Institution Kirche als Teil der lebensweltprägenden herrschenden Ordnung waren sie wichtige, identitätsbildende Hilfsbegriffe. So erwähnte am 15. September 1888 der Korrespondent des »Sozialdemokrat« aus dem sächsischen Alt- und Neu-Gersdorf in seinem Stimmungsbericht das bevorstehende Kirchweihfest und kommentierte: »Am 23. und 24. dieses Monats findet hier ein großes Muckerfest, das Jubiläum des 150jährigen Bestehens der Kirche, oder richtiger gesagt der Verdummungs-

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Den.. Bauernkrice, S.187. Lidtke, Bebel, S.255-258. Bebel, Vergangenheit, S.179. Ebd.

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anstalt statt. [...] Wir Sozialdemokraten machen selbstverständlich da nicht mit.«81 Das negative Stereotyp der Kirchen als Anstalten der Zweckreligiosität und der bewusst die kritische Gegenwartsanalyse verdrängenden Jenseitsvertröstung und Volksverdummung richtete sich zwar gegen die vorfindliche Institution Kirche, ihre Funktionsträger und ihre politisch-gesellschaftlichen Optionen. Seine Überzeugungskraft gewann dieses Kirchenbild aber nicht nur aus der Gegenwart, sondern auch und gerade aus der Vergangenheit. Die herrschaftskritische Delegitimierung der christlichen Kirche durch deren eigene Geschichte musste ebensowenig wie die PfafFenschelte von einem sozialdemokratischen religionskritischen Diskurs »erfunden« werden. Als erste umfassende kritische Kirchengeschichte wurde bereits 1699 die » U n p a r t e i ische Kirchen- und Ketzerhistorie« von Gottfried Arnold (1666-1714) veröffentlicht. Dieses Werk und seine Rezeption in Aufklärung und Klassik - die Lektüre Arnolds reflektiert Johann Wolfgang von Goethe in seinen Xenien mit dem Vers: »Es ist die ganze Kirchengeschichte/ Mischmasch von Irrtum und Gewalt«, mehr noch aber die Untersuchungen einer historischen Forschung, die sich von einem theologischen Vorverständnis der Geschichte und von der Lektüre der Kirchengeschichte als Heilsgeschichte allmählich befreit hatte, waren Mitte des 19. Jahrhunderts soweit Gemeingut einer bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit geworden, daß die Parteipublizistik auf eine Art Themenkanon der Kirchengeschichtskritik zurückgreifen konnte.82 Eine »sozialdemokratische Kirchengeschichte« brauchte dementsprechend nicht vorgelegt zu werden. Auch an umfangreicheren Einzeluntersuchungen ist im Umfeld der deutschen Arbeiterparteien bis auf die Bauernkriegsdarstellungen von Engels (1850; 18702) und Bebel (1876) sowie (mittelbar) die Schrift des letzteren über die »Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode« (1884) zwischen 1863 und 1890 kaum Nennenswertes erschienen. 83 Aufsätze, Artikel und verstreute Stellungnahmen zur Kirchengeschichte finden sich dagegen zuhauf in der Parteipublizistik. Fast noch stärker als die großen zentralen sozialistischen Zeitungen engagierte sich auf diesem Gebiet die Regionalpresse, die sogenannte »farblose« Presse während des Sozialistengesetzes und die der Unterhaltung und Belehrung verpflichteten Zeitschriften »Social-Politische Blätter« (seit 1873), »Neue Welt« (seit 1876) und »Neue Zeit« (seit 1883). Die traditionellen Bildungsgüter bürgerlicher Kultur, zu denen seit der Aufklärung auch eine kritische Betrachtung der Kirchengeschichte zählte, verbreite81 Sozialdemokrat 15.9.1888 Nr.38 S A 82 Selge, S.19f. Spezieil zu Arnold: Meinhold, Bd. 1, S.430-32 (S.433 zur Bedeutung Arnolds für die radikale Christentumskritik des 19. Jahrhunderts); Schmidt, Arnold, dort S.138 auch das Goethe-Zitat. Vgl. Meinhold, Bd.2, S. 199-300, über den Historismus in der Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts. 83 Bebel, Bauernkrieg; ders., Kulturperiode; Engeb, Bauernkrieg.

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ten gerade diese Zeitungen und Zeitschriften mit einer Selbstverständlichkeit, die nur zum Teil auch die kritische Reflexion dieser Bildungsgüter einschloss. Dennoch bestand innerparteilich keineswegs eine völlige Einigkeit über die zu konstruierenden Geschichtsbilder, zumal wenn Urchristentum sowie Reformation und Bauernkrieg in Rede standen.84 Als in der frühen Arbeiterbewegung stark umstritten muss das Urchristentum, d.h. die Epoche der christlichen Gemeinden des 1. - 3 . Jahrhunderts und ihrer Lehre vor der staatskirchlichen »Konstantinischen Wende« bezeichnet werden.85 Zur Herrschaftkritik eignete sich dieser Abschnitt der Kirchengeschichte kaum. Von einem überwiegend positiven Jesusbild vieler Parteigenossen ausgehend, fanden sich kaum Stimmen, die schon das frühe Christentum des Priestertruges bezichtigten. In dem Bemühen um eine autoritative Lesart der Kirchengeschichte, die für die ganze Partei Gültigkeit besitzen sollte, versuchten Bebel 1878, Engels 1882 und Kautsky 1885 vielmehr, die Entstehung des Christentums aus einer spezifischen sozioökonomischen Krisenkonstellation im frühkaiserzeitlichen Römischen Reich zu erklären. Die christliche Antwort auf diese Krise habe letztlich in einer negativen Anthropologie und in der Verschiebung aller Reformperspektiven in eine außerweltliche Sphäre bestanden; damit könne sie kein Vorbild für die sozialistische Arbeiterbewegung sein. »In diese allgemeine ökonomische, politische, intellektuelle und moralische Auflösung trat nun das Christenthum. [...] Auf alle Klagen über die Schlechtigkeit der Zeiten und das allgemeine materielle und moralische Elend antwortete das christliche Sündenbewußtsein : So ist es, und so kann es nicht anders sein, an der Verderbtheit der Welt bist Du schuld, Ihr Alle, Deine und Eure eigene innere Verderbtheit! Und wo war der Mann, der Nein sagen konnte? [...] So ist es gekommen, daß unter den Tausenden von Propheten und Predigern in der Wüste, die jene Zeit mit ihren zahllosen Religionsneuerungen erfüllten, allein die Stifter des Christenthums Erfolg gehabt haben.«86 Der das Christentum aus den sozioökonomischen Umfeldbedingungen erklärende und damit »materialistische« Ansatz, der sicherlich auch als Zeichen für die »marxistische Durchdringung« der innerparteilichen Ideologiebildung gelesen werden kann, erscheint bei näherem Hinsehen jedoch defensiv konnotiert. Nimmt man die sozialdemokratische Presse zum Maßstab, überwogen bis Mitte der 1870er Jahre eindeutig und auch noch über 1875 hinaus die Stimmen, die das Christentum der ersten drei Jahrhunderte vornehmlich als eine das sozialistische Ziel vorausnehmende Gütergemeinschaft lasen. Die Hoch84 Vgl. zum frühen sozialdemokratischen Kirchengeschichtsbild Grote, Religion, S.167-76. Über Grote hinaus geht Horváth dort, wo er Studien von Engels (S.195-209), Bebel (S.284-89) und Kautsky (S.343-48) zum Thema analysiert. 85 Hierzu (allerdings historisch wenig ergiebig) Leutzxh. 86 Engels, Bauer. Vgl. Bebel, Glossen, bes. S.12-14; Kautsky, Entstehung. Die Ausführungen von Engels und Kautsky gingen aus von der 1877 erschienenen Studie »Christus und die Cäsaren« des vom Linkshegelianer zum Nationalkonservativen mutierten Bruno Bauer (1809-1882).

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Schätzung der ersten Christen als Kommunisten avant la lettre übergriff die innerparteilichen Lager. Die meisten Lassalleaner sahen »die communistische Gemeinschaft und die Brüderlichkeit aller Menschen« als »hauptsächlichste(n) Inhalt« der urchristlichen Lehre 87 , und die ersten Christen dienten ihnen als »leuchtende Vorbilder« 88 . Aber auch der von den Eisenachern redigierte »Braunschweiger Volksfreund« vertrat die Ansicht,»[...] daß das Christenthum der ersten Christen nichts Anderes als ein freilich in religiöser Form auftretender Kommunismus war.«89 Den moderaten Parteiintellektuellen um die Zeitschrift »Zukunft« galt das Urchristentum darüber hinaus in einer Art Vorwegnahme der Ideale von 1789 als Lehre einer »[...] auf dem gemeinsamen Grunde gleicher Gottentsprossenheit beruhenden Solidarität aller Menschen mit ihrer dreifachen Consequenz der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.« 90 Selbst die in der Parteipublizistik gerne abgedruckten, scharf antiklerikalen Gedichte des parteinahen Siebenbürger Arztes Dr. Friedrich Hermann Krasser wussten von einem »reinen« Ursprung derjenigen Religion, die sie ansonsten so radikal befehdeten.91 Der Züricher »Sozialdemokrat« als Zentralblatt der Partei, das während des Sozialistengesetzes mit seinem Redakteur Eduard Bernstein, unterstützt von August Bebel, den »radikalen« Parteiflügel gegenüber der »moderaten«, »reformistischen« Reichstagsfraktion repräsentierte 92, griff in den 1880er Jahren diese Auffassungen vom Urchristentum wiederholt scharf an. Einen Artikel »Christentum und Sozialismus« von 1881, der den wissenschaftlichen Kommunismus scharf von frühchristlichen Teilungsidealen abgrenzte, druckte die Zeitung 1888 ein zweites Mal ab. »Zu Beginn der sozialistischen Agitation, zur Zeit als unsere Bewegung noch in den Kinderschuhen einhertrippelte und in feuriger Jugend-Begeisterung die reifen Früchte nur vom Baume schütteln zu dürfen wähnte, um Ernte zu halten, zu dieser Zeit war es in unserer Presse, in unsern Versammlungen eine beliebte Wendung, den Sozialismus mit dem Christenthum zu vergleichen [...]. [...] Der Kommunismus des Christent u m s war die Gleichheit des Bettelvolkes, weil er Alle zu Bettlern machte, der kommunistische Sozialismus aber ist die Gleichheit des allgemeinen Wohlstandes, weil er Jedem die Befriedigung seiner Bedürfnisse garantirt. [...] Durch die moderne Wissenschaft ist das Christenthum hinfällig, der Sozialismus eine Notwendigkeit geworden: 87 Neuer Social-Demokrat 7.5.1873 Nr.53 S.2. 88 Ebd. 20.9.1874 Nr.l09 S.l. 89 Braunschweiger Volksfreund 26.9.1873 Nr.226 S.2. 90 K., S.555. Entsprechend bemerkte Bruno Geiser in einer 1891 erscheinenden Broschüre, »das Allerbeste am Urchristenthum« sei »diese Gleichheit und Freiheit Aller und die Gedankenund Gewissensfreiheit« gewesen: Geiser, Kirche, S.75. 91 Vgl. z.B. Krasser, Marseillaise, in der es nach der Wiedergabe des urchristlichen Gebotes der Besitzlosigkeit heißt: »Da habt ihr nun das wahre Christenthum, So wie's der Heiland seinen Jüngern lehrte, Das unverfälschte Evangelium, Das aber keinen Reichen je bekehrte!« 92 Gegenüberstellung dieser Parteirichtungen in der klassischen Studie von Lidtke, Party.

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wer im Besitz der Wahrheit ist und ehrlich sein will, der höre auf Christ zu sein und werde Sozialist!« 93

Eine Berufung auf den jesuanischen Kommunismus lehnte die »linke« Parteielite nicht nur ab, weil sie die herrschaftskritische Lektüre der Kirchengeschichte infragestellte. Schließlich konnten die ersten drei Jahrhunderte angesichts der folgenden christlichen »Geschichte der Barbarei« in der Agitation ausgeblendet werden, auch wenn an der Parteibasis diese Barbarei vielfach als das Abfallen von einem »reinen Ideal« verstanden wurde. Die Parteilinke trat einem zu positiven Bild vom Urchristentum auch deshalb entgegen, weil dieses Bild ebenso von den Liberalen94 und von den Konservativen gepflegt wurde, die mit ensprechenden Verweisen ihr Programm eines »christlichen Sozialismus« begründeten. Das christliche Mittelalter hingegen zeichnete die Parteipublizistik durchgehend in den düstersten Farben: angefangen mit der »Konstantinischen Wende«, die den Grundstein für das fatale Bündnis von Staat und Kirche gelegt habe 95 , über die weltliche Herrschaft der Päpste 96 , die Auspressung der Bauern durch die feudale Grundherrschaft von Adel und Geistlichkeit bis hin zu Kreuzzügen, Inquisition und Hexenverfolgungen. 97 Der Duktus dieser Kirchengeschichtskritik war wiederum in der Regel eher bürgerlichem Idealismus denn historischem Materialismus verpflichtet, wie z.B. der Artikel »Idealismus oder Materialismus. Eine culturhistorische Skizze mit besonderer Berücksichtigung der Kreuzzüge« verdeutlicht, den das »Hamburg-Altonaer Volksblatt« 1876 veröffentlichte. »Es kann nun nicht geleugnet werden, daß Tausende und aber Tausende vorzugsweise aus den unteren Volksclassen lediglich von religiösem Fanatismus begeistert, sich an den Pilger- und Heerzügen in das sogenannte gelobte Land betheiligten; doch steht es fest, daß durchweg die Großen der Erde jene Züge unternahmen, einzig und allein deshalb, um Eroberungen zu machen und Geld und Kostbarkeiten zu erbeuten. [...] Was man auch faseln mag von dem in früheren Zeiten vorhandenen Idealismus - bei den Kämpfern für den Socialismus ist er in reichem, sehr reichem Maße vorhanden; bei 93 Sozialdemokrat 3.11.1888 Nr.45 S.2f. (Zitat S.2f), Wiederabdruck aus ebd. 20.2.1881 Nr.8 S.2f. Vgl. Kaier, S.89: Kritik am urchristlichen »Kommunismus in der Konsumtion, nicht in der Produktion«; anders akzentuiert Kautsky, Entstehung, S.530, demzufolge die urchristliche Wohltätigkeit einen antiken demokratischen Kommunismus gerade verdrängt habe. 94 Kautsky, Entstehung, S.545, grenzte sich daher von den »Bestrebungen nach der ›Rückkehr zum Urchristenthunv, jener Parole des halben und inkonsequenten Liberalismus« ab. 95 »Konstantin hatte nun aber bemerkt, wie gut sich das Christenthum mit seiner Demuthslehre und seinem Hinweis auf das Jenseits zur Staatsreligion eigne, er wurde deshalb Christ und betheiligte sich an dem Theologengezänk [...].« Chemnitzer Freie Presse 10.5.1877 Nr.109 S.l (Leitartikel »Zur Himmelfahrtslehre«). 96 Z.B. Artikelserie »Das Papstthum im Mittelalter und Arnold von Brescia«, in: Neuer SocialDemokrat 18.-25.10.1874 Nr.121-124, jeweils S.3, 4. 97 Sehr aktiv auf diesem Feld war die »Neue Welt«, siehe z.B. H.J.; Blos, Denkmal; Stelzner.

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den Streitern für den Capitalismus, für den Egoismus, bei der herzlosen Bourgeoisie und dem verknöcherten Gelehrtenthum allerdings finden wir ihn nicht.«98

Das Mittelalter wurde zum Symbol schlechthin für den Machtmissbrauch der Kirche und der mit ihr verbündeten herrschenden Klassen in der Geschichte, eine Linie, die mühelos in die Gegenwart hinein ausgezogen werden konnte. In klassischer Weise wurde dies wiederum von August Bebel formuliert; in ähnlicher Weise durchzog diese Überzeugung jedoch den gesamten innerparteilichen Religionsdiskurs, nur mit dem Unterschied, daß Bebel von der »Religion der Liebe« eher ironisch sprach, während viele Parteigenossen dem »wahren Christentum« der Liebe und Brüderlichkeit doch in irgendeiner Weise anhingen. »Die Religion der Liebe, die christliche, ist seit 18 Jahrhunderten gegen alles Andersdenkende eine Religion des Hasses, der Verfolgung, der Unterdrückung gewesen. [...] Die Kreuzzüge, die zahllosen Religionsverfolgungen, die Inquisitionen, die Hexenprozesse [...] sind von fanatischen Priestern hervorgerufen und geschürt, von den klugen und kaltblütigen unter ihnen für die Ausbreitung der Macht der Kirche - die ihre Macht war - unterstützt worden.« 99

Die historische Delegitimierung der Kirche und ihrer Parteigänger war fest in der bürgerlich-liberalen Tradition verankert, worauf schon die Buch-Empfehlungen zumeist populärer Werke zu diesem Thema in der sozialdemokratischen Presse verweisen.100 Für ihre kirchenhistorischen Ausflüge legten die sozialdemokratischen Autoren Werke bürgerlicher Historiker zugrunde wie z.B. die »Weltgeschichte für das deutsche Volk« Friedrich Christoph Schlossers in den 18 Bänden der Neuauflage von 1870-1874. In einer Rezension der »Weltgeschichte« fallen auch die Namen der linkshegelianischen kritischen Theologen Bruno Bauer und David Friedrich Strauß als Quellen für eine »sozialdemokratische Kircheneeschichte«: »Erst in diesem Jahrhundert wandte man auf dem Gebiete der Kirchengeschichte und politischen Geschichte eine unbefangene Kritik an. Die Kritik der Kirchengeschichte hat zuerst Anlaß gegeben zu der modernen Beurtheilung der christlichen Kirche und ihrer Entstehung. Die Kirchenhistoriker Bauer, Strauß etc. geriethen bald in Streit mit den Anhängern der traditionellen Anschauung. Der Kampf wüthet augenblicklich

98 Hamburg Altonaer Volksblatt 21.5.1876 Nr.l S.2 und 28.5.1876 Beilage zu Nr.64 S.2. 99 Volksstaat 24.2.1874 Nr.24 S.3. Bebel äußerte sich hier in seiner Kontroverse mit Kaplan Hohoff. 100 Empfohlen wurden z.B.: M.E.Hubaine, Die weltliche Herrschaft der Päpste, Coburg 1863 {Allgemeine Deutsche Arbeiterzeitung 6.3.1864 Nr.62 S.316);C.Lempens, Geschichte der Verbrechen und Frevel, welche die Priesterschaft seit 1200 Jahren an der deutschen Nation begangen hat, Chemnitz 1876 (Chemnitzer Freie Presse 14.9.1876 Nr.214 S.lf. und 15.9.1876 Nr.215 S.lf.);Jonas Justus, Freie Gedanken zur Beurtheilung der Kirche und ihrer Geschichte, Stuttgart ο J. (Neue Zeit 3/1885, S.92f).

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noch fort, da die sich unfehlbar dünkende Kirche ihre früher allgemein anerkannte Grundlage nicht fallen lassen will.« 101

Selten wurden die Kulturleistungen der mittelalterlichen Kirche gewürdigt; mit dem Klosterwesen z.B. verband sich eher die Vorstellung von prassenden und hurenden Mönchen und Nonnen als das Bild eines Hortes der Gelehrsamkeit.102 Die Aufzählung des kirchengeschichtlichen Sündenregisters zielte auf eine Delegitimierung des Christentums insbesondere dann, wenn die Kirchengeschichte den Legitimationsideologien der »herrschenden Klassen« in der Gegenwart diente. In den 1870er Jahren beispielsweise wurden die Redaktionen der sozialdemokratischen Presse von der Justiz mit Strafanträgen wegen »Gotteslästerung« überzogen, so auch der Redakteur Gustav Saeveke von der »Chemnitzer Freien Presse« wegen eines kritischen Aufsatzes über die Genese der Himmelfahrtslehre. Die Redaktion der Zeitung parierte diesen AngrifFmit dem Abdruck einer Kurzbiographie Konstantins, des ersten christlichen Kaisers von Rom, dessen Konversion als rein machtpolitisch bedingt dargestellt wurde.103 Daß die sozialdemokratische Polemik dabei in der Regel das Kulturkampf-Niveau nicht überschritt, erleichterte dem politischen Gegner die Zurückweisung dieser Angriffe. Noch sehr wohlwollend schrieb in einem Leserbrief an den »Braunschweiger Volksfreund« ein Pfarrer Becker aus Berka an der Werra, der von der hannoverschen Landeskirche wegen seiner zu liberalen Theologie suspendiert worden war und sich als Abonnent des »Volksfreunds« zu erkennen gab: »Sie sagen: ›An den Namen der Kirche knüpfen sich für uns tausendjährige Erinnerungen der Geschichte, der Brandgeruch der Scheiterhaufen macht uns heute noch erbeben.‹ Aber um alles in der Welt, sind das die einzigen Erinnerungen, die sich für Sie an den Namen der Kirche knüpfen? Wahrhaftig?«104

Und über August Bebeis das christliche Mittelalter gegenüber dem Islam herabsetzende Werk »Die mohammedanisch-arabische Kulturperiode« bemerkten die katholischen »Historisch-politischen Blätter« nach seitenlangen Widerlegungen von Bebeis Geschichtsinterpretation: »Sehr merkwürdig bleibt das sonderbare Buch immerhin als die auffallende Verirrung eines reich begabten 101 Volksstaat 24.2.1875 Nr.22 S.3. Eine weitere wichtige Quelle neben Schlosser stellte Georg Friedrich Kolbs »Culturgeschichte der Menschheit«. Bd.l, Leipzig 1872 dar. 102 Vgl. auch die Empfehlung einer einschlägigen Broschüre des Freidenkers und Sozialdemokraten August Rüdt, »Die geschichtliche Wahrheit über Klöster und Mönche« in Recht auf Arbeit 7.3.1889 Nr.250 S.4. Es blieb Karl Kautsky und seinem »Thomas More« (1888) vorbehalten, ein differenzierteres Bild des christlichen Mittealters zu entwerfen, etwa durch den Hinweis auf die nationbildende Kraft der zentralisierten Papstkirche. Kautsky, More, hier S.50f.. Vgl. auch in Teilen positiv über mittelalterliche Kulturleistungen: Bios, Klosterleben. 103 Chemnitzer Freie Presse 10.5.1877 Nr. 109 S.l (Leitartikel »Zur Himmelfahrtslehre«). 104 Braunschweiger Volksfreund 13.2.1878 Nr.37 S.l.

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Geistes«. Die »Blätter« sahen Bebel hier in einer Linie mit anderen »sozialistischen Schriftstellern«: »Fast allen gemeinsam ferner ist ein ungewöhnliches Maß von Selbstbewußtseyn, von verächtlicher Behandlung des Gegners, sowie ein ausgesprochener Haß gegen Christenthum und Kirche, welcher ihre Schriften zu Kundgebungen nicht nur einer socialen Partei, sondern auch einer antireligiösen Sekte stempelt.«105 Daß der Angriff auf das christliche Mittelalter gerade katholische Apologeten auf den Plan rief, kann kaum verwundern. Zum einen repräsentierte diese Epoche für weite Teile des Katholizismus das nach wie vor gültige Modell einer idealen christlich-ständischen Staats- und Gesellschaftsordnung gegenüber den »Verfallserscheinungen« von Liberalismus, Kapitalismus und Säkularisierung in der Moderne. Zum anderen diente umgekehrt das Bild vom »finsteren Mittelalter« auch der Selbstdarstellung des Protestantismus, ein Bild, vor dem dann allerdings umso glanzvoller das Licht von Martin Luthers reformatorischer »Befreiungstat« erstrahlen konnte. Aber auch und gerade die Reformation spiegelte dem sozialdemokratischen Religionsdiskurs zufolge den Charakter des Christentums als Legitimationsideologie für die herrschenden Klassen eindeutig wider. Die Reformation stützte die Fürstenherrschaft in Deutschland: Dieses Urteil war entscheidend, während die von Friedrich Engels schon 1850 angedeutete und von August Bebel 1876 aufgenommene Deutung der reformatorischen Ereignisse als Klassenkämpfe der aufstrebenden Bourgeoisie in »religiöser Verkleidung« nur gelegentlich in Zeitungsartikeln und anderen Äußerungen aufleuchtete.106 Engels hatte seiner Studie die 1841 erstmals erschienene Bauernkriegsdarstellung des radikaldemokratischen württembergischen Pfarrers Wilhelm Zimmermann zugrundegelegt. 107 Gerade dieses Werk, aber auch die Beurteilung der Reformation durch den Schriftsteller des »Jungen Deutschland« Ludwig Börne (1786-1837) 108 und die gängige antiklerikale Kulturkampfpolemik der Gegenwart (sofern diese auch den Protestantismus angriff) dienten sozialdemokratischen Redakteuren als Quelle für die Reformationsgeschichte, weniger das Engelssche Werk. Aus der »Geschichte der Verbrechen und Frevel, welche die Priesterschaft seit 1200 Jahren an der deutschen 105 Historisch-politische Blätter 95/1885, S.703f. 106 Zu Engels' Reformations- und Bauernkriegsdeutung in seinem »Deutschen Bauernkrieg« und anderen Schriften vgl. Brendler, Horvath, S.210-24. Der Begriff der »religiösen Verkleidung« taucht bei Engels im Rahmen des Basis-Überbau-Konzepts immer wieder auf, vgl. ebd. passim. Insgesamt zur marxistischen Sicht des Bauernkrieges Winterhager, Bauernkriegsforschung, S.41-62 (mit weiterer Literatur). Winterhager sieht allerdings bei Engels die Interpretation von Reformation und Bauernkrieg als »frühbüreerliche Revolution« noch nicht realisiert (S.48). 107 Zimmermann, Geschichte. Für eine 1890 von Wilhelm Bios in der Reihe »Internationale Bibliothek« des Dietz-Verlages herausgegebene »Illustrirte Volksausgabe« des Zimmermannschen Werkes warb die Parteipublizistik in großformatigen Anzeigen, z.B. im Wahrenjacoh 96/1890 S.767. Zum Verfasser vgl. Winterhager, Zimmermann. 108 Zitiert in Freie Zeitung 8.2.1868 Nr.5 S.2-4.

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Nation begangen hat« von C. Lempens, einer Schrift, die auch »von den protestantischen Pfaffen die Wahrheit« sage, zitierte 1876 die »Chemnitzer Freie Presse«: »Was nun aber Luther, der zuerst das Werkzeug eines selbstsüchtigen Adels und hernach der vaterlandsfeindlichen Interessen einiger Fürsten war, gethan hat, war mehr eine De- als eine Reformation, welche Deutschland gespalten und seine politische Macht völlig zerrüttet und zum Spielball der Ausländer gemacht hat und dieses zu rühmen, hat kein echter Deutscher eine Ursache, [...].«109

Die Parteipublizistik machte ihr Urteil über die Reformation zumeist an der Person Martin Luthers fest. War bei dem Kulturkämpfer Lempens die Argumentation national eingefärbt, überwog in der Sozialdemokratie das antifeudalistisch-herrschaftskritische Moment, wenn Luther als »Fürstenknecht« angeprangert wurde. Leistungen des Reformators fanden allerdings ebenso ihre Würdigung. Die »Gewalt« seiner Rede, seine Bedeutung für die Entwicklung der deutschen Sprache, seinen Kampf gegen den Wucher und die »Ausbeuter« seiner Zeit lobte man, attackierte aber seine Theologie des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit, seine Hörigkeit gegenüber den Fürsten, die lediglich an der Steigerung ihrer Machtposition im Reichsgefuge interessiert gewesen seien, und vor allem seine Hetze gegen die aufständischen Bauern. Das Motiv des Verrats der Kirche am ursprünglichen christlichen Ideal begegnet im Zusammenhang mit Luther eher selten, obwohl es durch Wilhelm Zimmermanns Werk vorgegeben war.110 Immerhin vermerkte die sozialdemokratische »Süddeutsche Post« Ludwig Vierecks (wie die »Fränkische Tagespost« eines der »farblosen« Blätter während des Sozialistengesetzes) noch 1883 anlässlich der Feiern zum 400. Geburtstag Martin Luthers: »Es ist kein Zufall, daß Luther an die Großen und Mächtigen appellirte, anstatt wie einst Jesus von Nazareth für die Armen und Bedrängten das neue Evangelium zu verkünden.« 111 Daß indes die Bewertung Luthers in der Partei nicht unumstritten war, bezeugt der Bericht einer »öfFentliche(n) Socialistenversammlung« in Dresden, den die »Dresdner Volks-Zeitung« 1877 brachte. Max Kayser (1853-1888), einer der fuhrenden Parteiagitatoren der Elbe-Stadt, hielt in dieser Versammlung ein einstündiges Referat mit dem Thema »Luther, Schiller, Robert Blum«.112 Der Berichterstatter fasste Kaysers Ausführungen wie folgt zusammen: 109 Chemnitzer Freie Presse 14.9.1876 Nr.214 S.l. 110 1875 brachte der lassalleanische »Neue Social-Demokrat« einen Auszug aus dem Werk Zimmermanns, der Luthers profurstliche Hasstiraden gegen die Bauern direkt dem »Willen Jesu« gegenüberstellte und folgerte: »Die reine Lehre Christi, wie er sie lehrte, wollte nichts wissen von Priestern und Priesterherrschaft, eben so wenig von einer Aristokratie; [...].« Neuer Social-Demokrat 29.20.1875 Nr.128 S.4. 111 Süddeutsche Post 15.11.1883 Nr.76 S.l. 112 Dresdner Volks-Zeitung 16.11.1877 Nr.96 S.3f; dort die folgenden Zitate.

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»Luther vertrete das geistige Erwachen der Nation, Schiller jene Zeit, in welcher die klassische Bildung mehr Ausbreitung gewonnen und Robert Blum bezeichne das Erwachen der Nation zum politischen Bewußtsein. [...] Die Reformation sei die Auflehnung gegen die Autorität, welche damals von der Kirche verkörpert gewesen sei, es sei der protestantische Geist, der Geist des Wiederspruchs [sie], des Protestes, welcher sich geltend gemacht habe.«

Der »zufällig anwesende Reichstagsabgeordnete für Dresden-Altstadt, Gen. Aug. Bebet«, widersprach heftig den Ansichten Kaysers zur Reformation. Luther »[...] habe den Fortschritt verraten«; die Reformation habe lediglich »politische Uneinigkeit«, Kleinstaaterei, den 30jährigen Krieg und »überhaupt die Religionsstreitigkeiten der damaligen Zeit« hervorgebracht. Doch in seiner Replik beharrte Kayser darauf, »[...] daß die Reformation uns geistig befreit habe«. Der Bericht schließt mit den Worten: »Nachdem im Laufe der Debatte verschiedenes, besonders vom Referenten und von Gen. Bebel, für und wider beigebracht wurde, wurde durch den Schluß der Versammlung dieser akademische Streit beendet. Es war eine der interessantesten Versammlungen, welcher wir seit langem beiwohnten.«

Hier ging es um die keineswegs rein akademische Bestimmung des Verhältnisses der Partei und ihrer Mitglieder zu einer dominanten Kultur, die sich - mit Ausnahme des katholischen Milieus - im hohen Stellenwert, die sie der Reformation für das eigene geschichtliche Selbstverständnis beimaß, tatsächlich als eine einheitliche Kultur darstellte. Der Luther verehrende Sozialdemokrat Max Kayser zählte während des Sozialistengesetzes als erstes jüdisches Mitglied der Reichstagsfraktion zum moderaten Flügel der Partei, stimmte 1879 der Bismarekschen Schutzzollpolitik zu und stand den Parteiintellektuellen um Karl Höchberg nahe.113 Die Selbstvergewisserung der im Reich von 1871 gesellschaftlich dominanten protestantischen Kultur bedurfte auch der symbolischen Repräsentation. Die Feiern zum 400. Geburtstag Martin Luthers im Jahre 1883 boten dazu eine willkommene Gelegenheit 114 , die von der sozialdemokratischen Partei nicht ignoriert werden konnte. Nicht nur im »Sozialdemokrat«, sondern auch in vielen Regionalblättern erschienen teils moderate, teils scharfe kritische Kommentare zu den Lutherfeiern, die insbesondere die konkurrierenden Ansprü-

113 Vgl. zur Biographie Herzig, Kayser. Kayser schrieb für die »socialistische Revue« »Die Zukunft« von Höchberg; eventuell stammt von ihm der schon mehrfach erwähnte »K.«-Artikel der »Zukunft«: »Die Kirche im Zukunftsstaat«. Auf einer Versammlung der Dissidentenbewegung, der er offenbar als gemäßigter Vertreter nahestand, bekannte er sich nachdrücklich zum Grundsatz der notwendigen Gleichzeitigkeit von religiöser, politischer und sozialer Befreiung; s. Bericht im Votksstaat 9.8.1872 Nr.92 S.3f.. Von seinen jüdischen Wurzeln distanzierte sich Kayser jedoch ebenso wenig wie andere deutsch-jüdische Sozialdemokraten: s. Herzig, Kayser, S.105f.. 114 Vgl. Lehmann, Lutherjubiläum; Düfel.

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che von Konservativen und Liberalen auf den einen »Luther der deutschen Nation« hervorhoben. »Die Sozialdemokratie steht diesem häuslichen Zwist kühl bis an's Herz hinan gegenüber, für sie ist Luther eine Persönlichkeit, die trotz aller ihr anhaftenden Halbheiten und Inkonsequenzen eine ganz achtenswerthe Stellung in der Geschichte des deutschen Volkes einnimmt, aber keineswegs in die Reihe ihrer größten Vorkämpfer für die geistige und politische Freiheit des Volkes gehört. [...] Ist nun aber die Persönlichkeit Luther's nicht geeignet, uns für eine dem Andenken dieses Mannes bestimmte Feier zu erwärmen, so müssen wir ihr uns direkt feindselig gegenüberstellen, wenn wir sehen, zu welch' infam-reactionärem Humbug sie benutzt wird.« 115

Den Konservativen diene Luther zur Verherrlichung des Soldatentums und zur »Theorie vom beschränkten Unterthanenverstand«; die Liberalen hingegen stellten ihn fälschlich als »Mann des Fortschritts und der Freiheit« dar.116 Über den »wirklichen Luther« (im Unterschied zum »Luther der Pfaffen« und zum »ebenso unwahren ›freisinnigen‹ Luther« 117 ) belehrten Parteiredner ihre Anhängerschaft auf eigens hierfür einberufenen Volksversammlungen. 118 Auch jenseits der großen Zentren kam es zu Protestaktionen gegen die Feierlichkeiten wie etwa zu einer Plakatkampagne in Plauen und mehreren anderen Städten des Vogtlandes am Tag der Feierlichkeiten selbst.119 Das spektakulärste Zeichen setzte aber wohl die Braunschweiger Sozialdemokratie. Nachdem die Polizeibehörde eine Rede Wilhelm Liebknechts zur Lutherfeier verboten hatte, ließ der Braunschweiger sozialistische Redakteur und Agitator Samuel Kokosky (1838-1899) ein von ihm verfasstes Flugblatt mit der enormen Auflagenhöhe von 12.000 Exemplaren drucken. Darin erneuerte Kokosky die Kritik an Luther und der Reformation, konfrontierte die staatliche Verbotspolitik mit der von Luther nach offizieller Lesart bescherten »Gewissensfreiheit« und hob statt Luther die Kämpfer des Bauernkrieges aufs Schild.120 Auch dieses Pamphlet, am Vorabend von Luthers Geburtstag verbreitet, wurde tags darauf mit der Begründung polizeilich verboten, daß dem Vergleich von Bauernkrieg und sozialdemokratischen Kampf eine umstürzlerische Tendenz innewohne. 121 115 Sozialdemokrat 9.8.1883 Nr.33 S.2.. 116 Ebd.. Vgl. ebd. 8.11.1883 Nr.46 S.3;Fränkische Tagespost 12.11.1883 Nr.266 S.2; Süddeutsche Post 15.11.1883 Nr.76S.l. 117 Sozialdemokrat 9.8.1883 Nr.33 S.2. 118 So sprach z.B. der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Bios in Stuttgart über Luther: Süddeutsche Post 17.11.1883 Nr.78 S.4. 119 Ebd. 29.11.1883 Nr.82 S.3. 120 Vgl. Eckert, Arbeiterbewegung, S.151-158 (mit Abdruck des Flugblattes); Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.537f, dort auch die Kurzbiographie Kokoskys. Kokosky kam aus dem Umfeld des Radikaldemokraten Johann Jacoby zur Sozialdemokratie. 1873-1890 war er Redakteur der Braunschweiger Parteiorgane. Auf dem Parteikongress von 1874 hatte er den Kirchenaustritt der Parteimitglieder für »wünschenswerth« erklärt; die Entscheidung solle aber jedem Einzelnen überlassen bleiben: Protokoll 1874, S.93. 121 Stern, Kampf Bd. l,S.456-58.

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In seinen Erinnerungen hat Eduard Bernstein allerdings betont, daß die sozialdemokratische Kritik an Luther 1883 nicht einhellig war. Vielmehr habe sich durch die widersprüchlichen Würdigungen des Reformators in der Partei Karl Kautsky Ende 1883 zu einem Aufsatz in der »Neuen Zeit« veranlasst gesehen, der eine »historisch-materialistische« Sicht der Reformation und der Person Luthers auf den Punkt zu bringen suchte.122 »Er [Luther] hat die Klassengegensäze [sie], die in der Reformation wirkten, nicht n u r nicht erfaßt und seinen Zeitgenossen klar gemacht, er hat sogar diese Gegensäze hinter dogmatischen Streitigkeiten so dicht verschleiert, daß es manchem heute noch schwer wird, sie wieder zu erkennen.« 1 2 3

Daß sich diese Sicht keineswegs schlagartig durchsetzte, verdeutlicht ein ähnlich ausführlicher Luther-Aufsatz, der als verspäteter Beitrag zu den 400-JahrFeierlichkeiten 1884 in der »Neuen Welt« erschien, den »marxistischen« Duktus Kautskys vermissen ließ und bei aller Kritik an die bürgerliche LutherVerehrung anknüpfte - deutlich auch daran, daß dem Text die großformatige Reproduktion eines Luther-Stiches von Lucas Cranach beigefugt war.124 Den herrschaftskritischen Blick auf den Reformatoren Luther verband der sozialdemokratische Religionsdiskurs mit der Kritik an den herrschenden Verhältnissen der Gegenwart und deren kultureller Repräsentation, wie gerade die Proteste gegen die nationalen Lutherfeiern 1883 verdeutlichen. Die alternative Lesart der Kirchengeschichte bot zudem Möglichkeiten der Identifikation mit anderen historischen Vorbildern als denen der »dominanten Kulturen«. Die Urchristen als »Sozialdemokraten des Altertums« eigneten sich nur bedingt als Vorbild, da eine entsprechende Traditionslinie nicht milieuspezifisch gezogen werden konnte - liberale ReligionsaufTassungen und konservative Gesellschaftsutopien beriefen sich mitunter ebenfalls auf das frühe Christentum. 125 Den Bauernkrieg hingegen konnte die Sozialdemokratie exklusiver für sich reklamieren. 126 Die Erhebungen des frühen 16. Jahrhunderts fanden starken Widerhall in der Parteipublizistik, angefangen bei Studien von Friedrich Engels 18702 und August Bebel 1876 über belletristische Verarbeitungen des Stoffes bis zu unzähligen Artikeln und Erwähnungen in der Parteipresse.127 Inwieweit also 122 Bernstein, Lehrjahre, S.147. 123 Kautsky, Lutherjubliäum, S.493. 124 Rosus. 125 Vgl. dazu auch Leutzsch, S.79f.. 126 Allerdings hatte schon Wilhelm Zimmermanns Bauernkriegsdarstellung versucht, Müntzer und dessen »Reich brüderlicher Gleichheit, Freiheit und Lauterkeit« für den vormärzlichen Liberalismus zu beanspruchen, vgl. Schenk. 127 Vgl. Grote, Religion, S.171f; zur sozialdemokratischen Bauernkriegsdichtung Münchow, Arbeiterbewegung, S.213-39 (behandelt werden Ferdinand Lassalles allerdings schon 1858 entstandenes historisches Drama »Franz von Sickingen« sowie die Erzählungen Robert Schweichels »Der Pauker von Niklashausen« (1874), »Rote Ostern« (1875) und »Florian Geyers Heldentod« (1876)).

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dienten die Bauern von 1525, dienten Thomas Müntzer und andere lokale Anführer, dienten schließlich die Münsteraner Wiedertäufer als Vorbilder, und welcher Stellenwert wurde dabei den religiösen Motiven in der bäuerlichen Protestbewegung zugemessen? August Bebel erkannte zwar den Sozialrevolutionären Impetus der frühneuzeitlichen Bauernerhebung an, und Müntzer galt ihm im Gegensatz zu Luther als »der echte Vertreter der revolutionären Schicht des Volkes, der Bauern und der niederen Stadtbevölkerung«. 128 Der führende Kopf der Partei schloss seine Bauernkriegsstudie jedoch mit den Worten: »Der dunkle religiöse Mystizismus des sechszehnten Jahrhunderts, der für die allgemeine Brüderlichkeit und die Herstellung eines ›Gottesreiches‹ auf Erden nur schwärmen konnte, hat sich im neunzehnten Jahrhundert zum bewußten wissenschaftlichmaterialistischen Sozialismus entwickelt, der die Religion und den Himmel Preis giebt, aber um so fester sich an die Erde hält, um an Stelle des nur in der Einbildung bestehenden himmlichen Paradieses das wirkliche irdische zu setzen.«129 Auch wenn das Motiv des »irdischen Paradieses« als religiös konnotiert aufgefasst werden kann, unterscheiden sich die Bebeischen Abgrenzungen doch stark von anderen Traditionsziehungen, die in der Parteipublizistik anzutreffen waren. So hieß es 1874 in einer mehrteiligen Artikelserie des »Neuen SocialDemokrat« mit dem Titel »Der thüringische Bauernkrieg«: »Während dieser Zeit hatte sich Münzer zu Mühlhausen aufnehmen lassen und herrschte dort. Die Lehre von der Verbrüderung der Menschheit hatte seit langer Zeit keinen beredteren Prediger gefunden. Ein neuer Paulus, hob Münzer das wieder hervor, was des Apostels kühne Grundsätze Socialistisches hatten. ›[...] Aber Gott hat den Leib also vermenget und dem dürftigen Gliede am meisten Ehre gegeben, auf daß nicht eine Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder für einander gleich sorgen (1.Cor. 12,4-8; 11; 14-17;21-25).‹«130 Im sozialdemokratischen Religionsdiskurs, der immer auch als Mittel zur politisch-ideologischen Selbstverständigung der Partei sowie zur symbolischen und zugleich lebensweltlich verankerten Gewinnung kollektiver kultureller Identität verstanden werden will, übten kirchengeschichtliche Argumentationen nicht nur eine, sondern mehrere Funktionen aus. Eine zentrale Funktion stellte zweifelsohne die herrschaftskritische Delegitimierung der christlichen Religion aus ihrer Geschichte dar, anschließend an Traditionen vom Pietismus bis zum radikalen bürgerlichen, oft kulturkämpferisch überwölbten Antiklerikalismus. Die sozialdemokratische Lesart der Kirchengeschichte zog die Kritik des Bündnisses von Kirche und herrschenden Klassen zwar von der Historie in die Gegenwart, blieb aber in der Ausformulierung insgesamt eher einer 128 Bebel, Bauernkrieg, S.103. VgL Hohberg/Remer. 129 Bebel, Bauernkrieg, S.229f. 130 Neuer Social-Demokrat 21.8.1874 Nr.96 S.l. Vgl. Sozialdemokrat 28.5.1885 Nr.22 S.2f.

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bürgerlich-idealistischen Diktion und damit auch einem Verständnis der Kirchengeschichtskritik als zu pflegendem Bildungsgut verpflichtet. Die Polemik gegen das »finstere Mittelalter« und selbst die Attacken gegen den »Fürstendiener« Luther wurden zum Teil als Selbstverständlichkeit verhandelt; sozialdemokratische und liberale Ideale eines aufgeklärten Säkularismus konnten sich hier durchaus »positiv-integrativ« überschneiden. Sie kamen allerdings dann mit dem Pathos eines völlig neuen Geschichts- und Weltbildes daher, wenn die Kulturen der konkurrierenden soziokulturellen Milieus, namentlich die »dominanten Kulturen« des Liberalismus und des Konservatismus, ihre Legitimation auch aus den inkriminierten kirchenhistorischen Quellen zu schöpfen suchten. Sozialdemokratische Angriffe auf Luther anlässlich von dessen 400. Geburtstag 1883 beispielsweise wirkten dann »negativ-integrativ« (Guenther Roth, Dieter Groh) im Verhältnis zu den dominanten Kulturen, stärkten zugleich aber auch eine »alternative culture« (Vernon Lidtke) des eigenen sozialdemokratischen Milieus. Die alternative Kultur der frühen deutschen Sozialdemokratie bezog ihre identitätsbildende Kraftjedoch ebenso aus den positiven Leitbildern, als welche die ersten Christen und die religiösen Kämpfer der Bauernkriege vielen Parteigenossen galten. Inwieweit diese Vorbilder noch religiös konnotiert wurden, lässt sich häufig schwer bestimmen. Jedenfalls konnte etwa die verbreitete Sympathie für die ersten Christen säkular getönt, aber auch von der Vorstellung »wahren Christentums« motiviert erscheinen; sie musste keineswegs einer »Restkirchlichkeit« im Wege stehen. Die (aus den Quellen der Parteipublizistik nur mittelbar zu identifizierende) »Parteibasis« scheint stärker einem noch christlich-religiös gespeisten Diskurs verpflichtet gewesen zu sein als die »Parteielite« um Bebel und die Redaktion des »Sozialdemokrat«. Diese innerparteilichen Gegensätze werden noch präziser zu konturieren sein.

1.2.2 Religion u n d M o d e r n e

Glaube, Wissen und Wissenschaft Auch die Kritik an Kirche, Christentum und Religion, die dem im 19. Jahrhundert publizistisch breitenwirksam entfalteteten Modernitätsparadigma verpflichtet war, zielte auf ekklesiale Herrschaftspositionen in Staat, Gesellschaft und Kultur. Die Moderne grenzte sich vom Glaubensmodell der christlichabendländischen Tradition jedoch nicht primär »politisch«-herrschaftskritisch ab, sondern zunächst »philosophisch«-erkenntnistheoretisch aufgrund des Widerspruches des Glaubensmodells zum neuzeitlichen Rationalitätsprinzip. Die

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»Entzauberung der Welt« in der Moderne (Max Weber)131 beruhte auf einer idealtypischen Entwicklung von »Glauben« zu »Wissen«, einer Rationalisierung in Denkmustern und Handlungsentscheidungen. Zwar war sich schon das christliche Mittelalter der dichotomen Struktur von »Glaube« und »Wissen« bewusst gewesen. In der Theologie wie auch in den anderen Wissenschaften zielte die Vormoderne auf eine Überwindung dieses Gegensatzes, ein Vorhaben, das allerdings der unhinterfragbaren Autorität religiösen Wahrheitsanspruches unterzuordnen war. Mit dem Siegeszug von Naturwissenschaften und Technik in der Neuzeit, die im Jahrhundert der Industrialisierung endgültig für breite Bevölkerungsschichten arbeits- und lebensweltbestimmend wurden, konkretisierte sich dann in der Perzeption der liberalen Öffentlichkeit der Gegensatz von »Glaube« und »Wissen« zu einem Antagonismus von institutionalisierter Religion und moderner gesellschaftlicher Rationalität.132 Der religionskritische sozialdemokratische Diskurs war gerade dort ein M o dernitätsdiskurs, wo er den Widerspruch von Glaube und Wissen(schaft) in den Mittelpunkt der Argumentationsstruktur stellte. In der Polemik der Parteipublizistik gegen Wunder- und Aberglauben schloss dieser Diskurs zuweilen an die Tradition einer gerade in Deutschland oft noch christlich geprägten Aufklärung an. In der Zuspitzung galt jedoch dieser Polemik jede Religion als Aberglaube. Der prominente sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Frohme (1850-1933) hielt Ende November 1883 in Frankfurt am Main »vor einem gedrängt vollen Saale« einen Vortrag über Aberglauben, den die M ü n chener »Süddeutsche Post« referierte: »Was sei denn nun aber der Aberglaube? Wissenschaftlich genommen, nicht nur das, was heute allgemein als solcher gelte, sondern überhaupt der Inbegriff aller derjenigen religiösen Meinungen, die sich im offenbaren Widerspruche befinden mit wissenschaftlich feststehenden Grundsätzen, und ohne Rücksicht auf das den Nachweis der Ursache jeder Wesenheit fordernde Kausalitätsgesetz, das Ueber- oder Unnatürliche zum Gegenstande haben, für welches dieser Nachweis nicht erbracht werden könne. Wo wäre nun ein entscheidendes Merkmal zwischen Glauben und Aberglauben? Höchstens könne man die Worte auswechseln und sagen: ›Abergkube ist abgethaner Gkube und Glaube ist noch geltender Aberghube.‹«133 Der dualistischen Formel von »Wissen« contra »Glauben« wurden verwandte Antagonismen zur Seite gestellt wie »Dieseits« contra »Jenseits«, »Naturgesetz« 131 Weber, Aufsätze, S.564-67 (u.ö.). Vgl. zur Wirkungsgeschichte des Weberschen Säkularisierungsbegriffes knapp Meyer, Religionskritik, S.189-201. 132 Zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft im »langen« 19. Jahrhundert bietet Pfister, S.304-47 einen guten Überblick. Pfister geht auch ausführlich auf die kirchlichen sowie am Rande auf die staatlichen »Gegenmaßnahmen« gegen den vordringenden »Materialismus« ein. 133 Süddeutsche Post 11.12.1883 Nr.87 S.2. Frohme nahm diesen Vortrag auch in eine 1884 publizierte Sammlung von »Essay's« auf: Frohme, S.23-30. Zum sozialdemokratischen Wissenschaftspathos auch Webkopp, Banner, S.596-99.

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contra »Offenbarung«, »Ideencultus« contra »Personencultus« oder »Fortschritt« contra »Autorität«. Die Gegenüberstellung von »Glaube« und Wissen« zählte zu den Grundfiguren sozialdemokratischer Rhetorik auch in belletristischen Texten, Erzählungen oder Gedichten, so in dem hymnischen Gedicht »Es gilt!« von Hermann Friedrichs (1854—1911), das die Elberfelder »Volksstimme« 1889 abdruckte: Ermannt euch endlich, Geistgenossen, Zum Kampfe mit dem Glaubenswahn. Erhebt euch einig und geschlossen Zum heißen Sturme himmelan. Macht dienstbar euch des Lichtes Schwingen, die selbst die tiefste Nacht durchdringen, Und zweifelt nicht an ihrer Kraft [...] - Einst sieht der Mensch den Himmel offen Der Himmel ists der Wissenschaft!« 134

Die Hochschätzung der Naturwissenschaften sowie die Popularisierung und Vermittlung entsprechender Kenntnisse als parteipädagogische Aufgabe135 sahen sich einem neuen Weltbild, dem Weltbild der Moderne verpflichtet, das in der Regel auf den Begriff »Materialismus« gebracht wurde. Der Materialismus als erkenntnistheoretisches Prinzip und als weniger von einem marxistischen »historischen Materialismus« als vom zeitgenössischen naturwissenschaftlichen »Vulgärmaterialismus« inspirierte »Weltanschauung«, wie sie der Arzt Ludwig Büchner, der Zoologe Ernst Haeckel und andere in weitverbreiteten Schriften vertraten, gewann überhaupt erst ein konturiertes Profil durch seine Opposition zum alten Weltbild, zur alten, veralteten »religiösen Weltanschauung«.136 Das Pathos, mit dem diese Gegenüberstellungen vorgetragen wurden, erklärt sich durch den Zusammenhang, in den nicht nur die Propagandisten des weltanschaulichen Materialismus, sondern die Wissenschaftsorientierung der Epoche insgesamt Wissen und Wissenschaft stellten. Die Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis galt dem sozialdemokratischen wie auch dem bürgerlich-liberalen Diskurs als synonym mit einem als naturgesetzlich aufgefassten kulturellen und sittlichen Fortschritt. »Wissenschaft« - »Fortschritt« - »Kultur« - »Moral« - »Naturgesetz« bildeten eine Art »Konnotationsnexus«, der das ein134 Volksstimme Nr 4 29.9.1889 S.4. 135 In einer Serie mit dem Titel »Aus der Naturwissenschaft«, die mehr als ein dutzend Artikel umfasste, führte beispielsweise ein F. Moralt die Leserschaft des Augsburger »Volkswille« lexikalisch in naturwissenschaftliche Grundbegriffe ein, nicht ohne stets die Unvereinbarkeit von Glaube und Wissen zu betonen: Votkswille 8.3.-8.5.1878 Nr.29-55. 136 Zum von C. Vogt, J . Moleschott, L. Büchner und E. Häckel propagierten populären naturwissenschaftlichen Materialismus vgl. Gregory-, Rybarczyk, S.85-106.

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zelne Teilsystem stets mit den anderen zusammendenken ließ. 137 So enstand das Bild einer Epochenwende von der »alten« zur »neuen Weltordnung«. In einem Roman, der 1884 in Fortsetzung in der sozialdemokratischen »Neuen Welt« und 1885 selbständig erschien, findet sich der folgende Dialog zwischen dem im Mittelpunkt stehenden Liebespaar, Elsa und Arnold, ein junger Sozialdemokrat: Elsa: »Wenn in dieser Welt alles schlecht ist und alles Sünde, wenn wir uns abwenden müssen von dem Wirklichen, weil es das Gemeine ist, das uns unaufhörlich verlezt [sie], das uns bedroht, wäre es dann nicht besser, sein Herz, das doch nicht glücklich werden kann, an diese Täuschung hinzugeben? seine Seligkeit in jenes Ungewisse zu verlegen, in ein Jenseits, von dem wir ja nichts, gar nichts wissen können und darum alles, alles glauben dürfen?« Arnold: »Wir stehen allerdings noch auf einer tiefen Stufe der Entwicklung, aber wir gehorchen einem ewigen unwandelbaren Gesez [sie], es ist der Fortschritt; und auch für uns gibt es noch ein anderes Leben, das sich forterbt von Geschlecht zu Geschlecht, es ist das Wissen.«138 Verfasst hatte diesen Roman Minna Kautsky (1837-1912), die Mutter Karl Kautskys. Die Sozialdemokratin hatte ihm den emphatischen Titel »Die Alten und die Neuen« gegeben. Der Gegensatz von altem Glauben und neuem Wissen als zentrale Kategorie der Weltorientierung stand in sozialdemokratischen Texten häufig im Kontext der Rezeption einer nicht originär sozialdemokratischen Religionskritik. Die sozialdemokratischen Verfasser beriefen sich auf diese Tradition, Rezensionen empfahlen die Schriften, die (nach ihrer Wahrnehmung) auf der Dichotomie Glauben/Wissen fußten, die Verlagsmagazine der Partei vertrieben einige der entsprechenden religionskritischen Klassiker, und Sozialdemokraten zählten diese Werke, insbesondere die populären naturwissenschaftlichen Darstellungen, zu ihrer wichtigsten Lektüre. Als Autoritäten, die in der Geschichte zur Durchsetzung von Wissen und Wissenschaft gegen Glauben und Theologie beigetragen hätten, galten diesem Diskurs Albertus Magnus, Giordano Bruno, Baruch Spinoza und Gottfried Ephraim Lessing, sodann die Linkshegelianer David Friedrich Strauß, Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach, unter den Materialisten die Naturwissenschaftler Ludwig Büchner und Carl Vogt, der Philosoph Eugen Dühring und die von Bebel übersetzten französischen Materialisten Yves Guyot und Sigismond Lacroix, schließlich die Darwinisten Arnold 137 Zu diesem in der Literatur häufig auch als »Glauben« (»Wissenschaftsglauben«, »Fortschrittsglauben« u.ä.) bezeichneten Weltbild als Phänomen der europäischen bürgerlichen Gesellschaften vgl. Hobsbawrn, Blütezeit, S.314-40; Nipperdey, Geschichte 1866-1918 Bd.l, S.623-29. Allerdings erwecken m.E. Hobsbawm und Nipperdey zu Unrecht den Eindruck, als liefen diese Denkmuster zwangsläufig auf eine sozialdarwinistische Ideologie zu, die trotz ihrer großen Resonanz doch eher den Sonderfall darstellte. 138 Kautsky, Alten, S.152. Vgl. den Titel des Romans mit Bosse, Alten. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

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Dodel-Port und Ernst Haeckel, aber auch Kulturhistoriker wie Georg Friedrich Kolb. Die Popularisierung dieser Autoren erhoffte man sich nicht nur durch Aufsätze und Hinweise in der Parteipublizistik, sondern auch durch eigene umfangreichere Darstellungen wie die Schrift »Weltschöpfung und Weltuntergang« des Sozialdemokraten Oswald Köhler, die seit 1887 vom Dietz-Verlag vertrieben wurde. In den 1870er Jahren musste man hingegen noch auf den Freireligiösen Karl August Specht (1845-1909) zurückgreifen, von dessen 1878 erschienenem Werk »Theologie und Wissenschaft oder alte und neue Weltanschauung« der »Vorwärts« erwartete, daß es die den Gottglauben widerlegenden Arbeiten von Kant, Feuerbach und Darwin zum Allgemeingut machen würde. 139 August Bebel berichtet in seinen Erinnerungen, während seiner Hubertusburger Festungshaft 1872-1874 u.a. Darwin, Haeckel und Büchner gelesen zu haben (s.o.). Aber auch zahlreiche Arbeiterautobiographien bezeugen für den Ausgang der 1880er Jahre ein ähnliches Leseverhalten. So vermerkt Wilhelm Keil über seine Lektüre in dieser Zeit: »Der [sozialdemokratische] Verein besaß auch eine kleine Bibliothek, vor allem naturwissenschaftliche Werke, die wir benutzten. Eines dieser Werke gewährte mir tiefen Einblick ins Weltall und die Entstehung der Himmelskörper und führte mir den unglücklichen Gegensatz zwischen diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der biblischen Schöpfungsgeschichte vor Augen. Damit war mein Urteil nicht nur über die Schöpfungsgeschichte, sondern über alle übersinnliche Weltbetrachtung gefällt.«140 Nicht zu Unrecht verwies daher der »Nürnberger-Fürther Social-Demokrat« in seinem Leitartikel vom 27. September 1878 (also drei Wochen vor der Verabschiedung des Sozialistengesetzes!) darauf, daß die Sozialdemokratie in der Tradition einer bürgerlichen Religionskritik »der herrschenden Klassen« stehe: »Nicht Socialdemokraten, sondern Mitglieder der herrschenden Klassen sind es gewesen, welche zuerst gegen den religiösen Aberglauben zu Felde gezogen sind. So lange die Schriften und Lehren jener Denker und Forscher nur in den Kreisen der reichen und vornehmen Leute gelesen und anerkannt wurden, so lange hat sich auch keine Stimme des Protestes gegen die Berechtigung des Unglaubens erhoben. [...] Nun sich aber Männer gefunden haben, welche die Errungenschaften der Wissenschaft der Masse des Volkes zugänglich machen und den Unglauben der oberen Zehntausend auch in die unteren Millionen hineintragen - da auf einmal fängt man oben an, wieder von dem Segen der Religion zu sprechen.«141 139 Vorwärts 10.4.1878 Nr.42 S.3. Die von Specht dargelegte »Weltanschauung« sei, so der Rezensent ergänzend, »ein integrirender Bestandtheil des Sozialismus«. Zum 1851 geborenen Köhler vgl. Hölscher, Weltgericht, S.395f; zu Specht s. in Kap. 2.1. 140 Wilhelm Keil, Erlebnisse eines Sozialdemokraten. Bd.l (1947), hier zitiert nach Ritter, Arbeiterbewegung, S.224. Vgl. zur Popularität vulgärmaterialistischer und darwinistischer Autoren die Erinnerungen von Wilhelm Reimes: Emmerich, Lebensläufe, S.284f. 141 Nürnberg-Fürther Social-Demokrat27.9.1878 Nr.227 S.l (Leitartikel »Religion und Sittlichkeit«).

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Dieselbe Verteidigungslinie gegen Vorhaltungen von Regierung und gegnerischen Parteien, die Sozialdemokratie sei religionsfeindlich und auch deshalb zu bekämpfen, hatte elf Tage zuvor August Bebel in einer Reichstagsrede abgesteckt.142 Als deutliches Bemühen nicht um Abgrenzung, sondern um Zustimmung erweist sich der Versuch, die »herrschende Kultur« als eine notwendig liberale zu definieren. Das Ende des religiösen und der Triumph des wissenschaftlichen Zeitalters galten einerseits als - durch die Sozialdemokratie mitgetragene, wenn nicht gar herbeigeführte - Epochenwende, zugleich aber auch als »fait accompli« der Moderne. Diese Verteidigungsstrategie prägte ebenso lokale Auseinandersetzungen wie die Dispute anlässlich der Anklagen gegen Sozialdemokraten wegen »Gotteslästerung«. So legte der Anwalt von Karl Grillenberger (1848-1897), der als verantwortlicher Redakteur der »Fränkischen Tagespost« aufgrund RStGB Art. 166 angeklagt worden war, einen Widerspruch ein, der derselben Strategie folgte: »Und erst Ludwig Feuerbach, der titanenhafte Geist des Rechenberges, dessen körperliche Reste im St. Johanniskirchhofe zu Nürnberg ruhen, David Strauß, alle bedeutenden Geister unserer Nation - sie müßten sich neben den Redakteur der ›Fränkischen Tagespost‹ auf die Anklagebank setzen, wenn - es zu einer Verweisung desselben in dieser Sache käme. Allein dieses Schauspiel aus dem Volke der Denker wird - dessen bin ich sicher überzeugt - dem Heere der Spötter versagt sein.«143

Den (»antipfäffischen«) Artikel, aufgrund dessen Grillenberger belangt worden war, hatte keineswegs ein sozialdemokratischer Redakteur verfasst; es handelte sich vielmehr um eine auch als solche gekennzeichnete Übernahme aus der demokratischen »Berliner Volkszeitung«. Auch aus der linksliberalen »Frankfurter Zeitung« übernahm die Parteipresse nicht selten religionskritische Artikel und Aufsätze.144 Die Erwartungen der Partei an »Liberalität« und »Modernität« der deutschen Gesellschaft in der religiösen Frage wurden jedoch weitgehend enttäuscht. Die Moderne - und diese zeichnete sich nicht nur nach sozialdemokratischer Auffassung durch die Ablösung religiöser durch wissenschaftliche Diskurse aus stieß dort an ihre Grenzen, wo die Sozialdemokratie ihre politische, gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe einforderte. Die Werke des naturwissenschaftlichen Materialismus - Büchner, Vogt, Dodel-Port, Haeckel - zählten 142 »Waren die Edgar und Bruno Bauer, die Feuerbach, die David Strauß, die Ernest Renan waren das Sozialdemokraten?« Stenographische Berichte 1878, S.48 (Rede vom 16.9.1878). 143 Beniner Votksblatt 30.8.1889 Beilage zu Nr.202 S.l. Grillenberger wurde durch Ferdinand Heigl anwaltlich vertreten, der nicht der Partei angehörte, jedoch in dieser Zeit aufgrund seiner Schrift »Spaziergänge eines Atheisten« von 1889 eine große Popularität in der Sozialdemokratie genoss. 144 Unter ihrem Chefredakteur Carl Volkhausen stand die »Frankfurter Zeitung« 1867-1873 »vollständig aufdem Boden des religiös-politischen Radikalismus Ludwig Feuerbachs«: Geschichte, S.247.

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vielfach zum Grundbestand der Bibliotheken des gehobenen Bürgertums. Wenn aber Sozialdemokraten diese Autoren zu popularisieren suchten, mussten sie Sanktionen einkalkulieren. Am 3. März 1887 wollte die Freidenkerin und Sozialdemokratin Hedwig Henrich-Wilhelmi (1833-1910) im schlesischen Liegnitz vor dem Freidenkerverein »Humboldt« einen Vortrag mit dem Thema »Wissenschaftlicher und sittlicher Materialismus« halten. Unter Hinweis auf Art. 9 des Sozialistengesetzes (sozialdemokratische Agitation) wurde dies jedoch polizeilich verboten. »Auf die Bemerkung der Dame, daß sie allerdings nicht gewußt habe, daß eine vom kirchlichen Dogma abweichende und in diesem Sinne ausgesprochene wissenschaftliche Ansicht über den jüngsten Tag und die Auferstehung der Todten aus ihren Gräbern mit irgend einer sozialistischen Frage in Verbindung gebracht werden könne, entgegnete der Beamte: Ja, wenn sie ein Professor oder Doktor wäre, dann dürfte sie ganz unbeschadet dies und noch vieles Andere sagen; denn dann wäre es eine wissenschaftliche Abhandlung - aber so müsse es als sozialistische Tendenz bezeichnet werden^ (!!)«145

Der aus dem Antagonismus von »Glauben« und »Wissen« abgeleitete »sozialdemokratische Materialismus« nahm nur selten das Gepräge eines an Marx und Engels geschulten »historischen Materialismus« an. Gegenüber der doch recht abstrakten »marxistischen« Zuspitzung: »Der Sozialismus ist die mit klarem Bewusstsein und voller Erkenntniss auf alle Gebiete menschlicher Thätigkeit angewandte Wissenschaft«146 überwog ein pathetisches Motiv der »Ganzheitlichkeit«, das den Sieg des Wissens über den Glauben mit der Erwartung der sozialen Befreiung verknüpfte. Wenn es der Reichstagsabgeordnete Julius Motteier (1838-1907) in seiner Rede zum Stiftungsfest des Arbeitervereins in Neuschönfeld in Niederschlesien am 19. März 1876 als wesentlichen Zweck des Vereins bezeichnete, den »religiöse(n), politische(n) und wirthschaftliche(n) Aberglaube(n)«147 zu bekämpfen, formulierte er einen Anspruch, den der Materialist Ludwig Büchner bereits 1868 gegenüber Bebel zum Ausdruck gebracht hatte: »Haben unsere Arbeiter erst einmal den alten religiösen Aberglauben und den lieben Herrgott hinter sich, so wird ihnen auch der politische und sociale Aberglaube keine großen Beschwerden mehr machen.«148 145 Als »Zeichen der Zeit« vermeldet nicht in der sozialdenokratischen, sondern in der freidenkerischen Presse: Menschenthum 13.3.1887 Nr.l 1 S.44. Vgl. zum Verbot der naturwissenschaftlichen Vorträge des Freidenkers und Sozialdemokraten Albert Dulk schon vor dem Sozialistengesetz: Vorwärts 8.5.1875 Nr.53 S.4. 146 So der Spitzensatz am Ende von Bebeis Hauptwerk »Die Frau in der Vergangenheit« in der wesentlich veränderten zweiten Auflage von 1883: Bebet, Vergangenheit, S.214. 147 Volksstaat 24.3.1876 Nr.35 S.3. 148 Brief vom 26.7.1868, abgedruckt in Fischer, S.282. Von dieser Überzeugung waren auch die frühen Besprechungen von Ludwig Büchners Werken in der Parteipresse getragen, wie z.B. die Rezension von »Die Stellung des Menschen in der Natur« (1869) im Volksstaat 11.9.1870 Nr.73 S.4. Zwanzig Jahre später distanzierten sich Parteiblätter von Büchner, dessen »Kraft und

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Daß der (natur-)wissenschaftliche Fortschritt wenn nicht als Voraussetzung, so doch zumindest als Bahnbrecher iur die soziale Befreiung anzusehen sei, davon war die sozialdemokratische Publizistik grundsätzlich überzeugt. Von diesem den religionskritischen Diskurs aus dem bürgerlichen Lager herausfuhrenden Zusammenhang wusste auch das Gedicht »Sylvester!« von Andreas Scheu (1824—1927), einem der führenden österreichischen Sozialdemokraten, das in der vielgelesenen Anthologie »Vorwärts!« von 1886 abgedruckt war: »So wie des Glaubens Nacht durchbrach der Wissenschaften himmlisch Licht; O, so gewiß kommt auch der Tag, der uns'res Elends Ketten bricht! ‹‹149

Bibel- und Dogmenkritik In aller Schärfe und mit weitreichenden Konsequenzen hatte zuerst der philosophische Rationalismus des 17. Jahrhunderts (Descartes, Spinoza) das Verhältnis von Glaube und Wissen(schaft) als ein antagonistisches gefasst. Die Infragestellung des Wahrheitsgehaltes von Bibel und christlicher Lehre nahm hier ihren Ausgang und setzte sich fort in der europäischen Aufklärung. Hatte jedoch die Bibel- und Dogmenkritik des 17. und 18. Jahrhunderts zumindest in Deutschland noch eine Versöhnung von christlichem Glauben und menschlicher Vernunft offengehalten bzw. eine Überführung von Glaubens- in Vernunftbegriffe weitgehend noch nicht dezidiert als Widerspruch zum christlichen Bekenntnis formuliert, radikalisierte sich die Kritik in den 1830er und 1840er Jahren durch das literarische »Junge Deutschland« und durch die junghegelianische Schule. David Friedrich Strauß' »Leben Jesu, kritisch betrachtet« (1835) und »Christliche Glaubenslehre« (1840/41) ebenso wie Bruno Bauers »Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker und des Johannes« (1841/ 42) zielten auf eine Interpretation der ältesten christlichen Überlieferung, welche die biblischen Schriften als literarische Produkte auffasste, aus denen die Entwicklung von Dogmen historisch-genetisch abgeleitet werden konnte. Die Dogmen durften damit im Lichte moderner Wissenschaft keinerlei apriorischen Wahrheitsanspruch geltend machen. 150 Die Historisierung von Bibel und christlicher Lehre vollzog auch ein bedeutender Teil der akademischen Stoff« nun als »Evangelium(s) des aufgeklärten Spießbürgerthums« galt: Sozialdemokrat 29.3.1890 Nr.13. 149 Vorwärts 1886, S.63f. 150 Zur Bibel- (und Dogmen-)kritik in der Moderne allgemein Harrismlle/Sundberg; zu D. F. Strauß ebd. S.89-110. Einen hervorragenden Überblick über die junghegelianische »Schule« (der trotz der Attacken Bruno Bauers auf Strauß auch der letztgenannte zuzurechnen ist) bietet nach wie vor McLellan, Junghegelianer; zu Bauers Christentumskritik ebd. S.68-72. Das Hervorgehen des politischen aus dem philosophisch-religionskritischen Radikalismus im Vormärz eindrucksvoll dargestellt in Mayer, Anfänge.

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Theologie nach, ohne jedoch den Boden des Bekenntnisses zu verlassen. Fast zeitgleich mit Strauß und Bauer setzte sich in der »Tübinger Schule« um Ferdinand Christian Baur (1792-1860) die historisch-kritische Bibelauslegung durch, die einen Höhepunkt in der Erforschung des Alten Testaments durch Julius Wellhausen (1844-1918) und seine Schule seit den 1880er Jahren fand.151 Sofern die Sozialdemokratie sich als »Kulturbewegung« verstand, die der modernen Wissenschaft die Bahn brechen wollte152, konnte sie in ihrer kritischen Perzeption von Bibel und christlicher Dogmatik also an eine breite und vielschichtige Tradition und Gegenwart anknüpfen. Daß Strauß und Bauer und nicht die in Kirche und Universitätstheologie verbleibenden Baur und Wellhausen diejenigen waren, auf die sich die Autoren der Arbeiterpartei (en) bezogen, liegt angesichts des kritischen Impetus in der Sozialdemokratie und wegen der Herkunft führender Sozialisten aus dem vormärzlichen Radikalismus nahe. Doch auch an Baruch Spinoza als den »Vater der modernen Bibelkritik«153 knüpften Parteigenossen an, um ihre Anschauungen zu legitimieren. Für das »Lager der Bibelgläubigen«, das »[...] mit Verachtung der wissenschaftlichen Forschung im trüben Strome der Ueberlieferung schwimmt«154, hatte die sozialdemokratische Publizistik (hier in Übernahme von Worten der freireligiösen Presse) nur Verachtung, Hohn und Spott übrig. Sie verstand die Arbeiterpartei(en) als Teil oder auch als alleinigen Träger einer »Kultur der Moderne«, der die Historisierung der Heiligen Schrift des Christentums selbstverständliche wissenschaftliche Aufgabe sein musste: »Während die Bibel mehr und mehr von ihrem Ansehen als Religionsbuch und Quelle göttlicher Offenbarung verliert, gewinnt sie stetig als Geschichtsbuch.«155 Ähnlich wie hier die »Neue Welt« leitete die Parteipresse verstärkt seit Beginn der 1880er Jahre Artikel ein, welche die biblischen Erzählungen als historische Quellen be-

151 Zur Würdigung der »Tübinger Schule« vgl. Köpf. 152 Verbreitung fand der Begriff der sozialistischen »Kulturbewegung« in der Partei in den 1920er Jahren, s. z.B. Man, Kulturbewegung; in der Sache ist ein solches Selbstverständnis jedoch wesentlich älter. Die wichtigste Arbeit zum Selbstverständnis der frühen Sozialdemokratie als »Kulturbewegung« nach wie vor Emig. Siehe weiterhin Roth, Bestrebungen; Lidtke, Culture, der sich S.4-20 von Roths Begriff einer sozialdemokratischen »Subkultur« abgrenzt und stattdessen von einer »alternativen Kultur« spricht. Weber, Sozialismus, betont, daß sich Frühsozialismus und früher Anarchismus noch dezidierter als die »marxistische« Sozialdemokratie als »Kulturbewegungen« verstanden hätten und die Religionskritik bei ihnen deshalb einen besonders hohen Stellenwert einnahm (S.502 passim). 153 Stern, Traktat, S.36. Stern, der den Traktat und andere Schriften Spinozas übersetzte, kann mit Sicherheit als Verfasser dieses Aufsatzes angenommen werden. Zu Sterns Spinoza-Rezeption vgl. Lauermann. 154 Beniner Volksblatt 22.9.1885 Nr.221 S.l (Artikel »Das Entstehen einer neuen Welt. (Aus ›FreieGlocken‹.)«). 155 Neue Welt 36/1882, S.463.

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stätigten, infragestellten oder auf ihren Wahrheitsgehalt bzw. auf andere, ältere schriftliche Zeugnisse zurückführten.156 In der Rückschau auf die Jahre 1885-1887 vermerkte Karl Kautsky, daß in diesen Jahren bei ihm der Entschluss reifte, die von ihm hochgeschätzte moderne Bibelkritik aufgeklärter Theologen durch eine materialistische Reinterpretation für die Sozialdemokratie fruchtbar zu machen. Als »erste Behandlung des Gegenstandes vom marxistischen Standpunkt aus durch einen Marx-Schüler«157 legte er 1885 in der »Neuen Zeit« den Aufsatz »Die Entstehung des Christenthums« vor.158 Doch nicht die »historisch-materialistische Bibelinterpretation«, die sich hier andeutete, bestimmte bis 1890 das Bibelbild der meisten am religionskritischen Diskurs der Partei partizipierenden Parteigenossen. Im Jahr 1869 schrieb der Siebenbürger Arzt Dr. med. Friedrich Hermann Krasser (1818-1893), ein 1848er Demokrat und Freidenker, unter dem Eindruck des von ihm besuchten ersten internationalen Freidenker-Kongresses in Italien ein breitangelegtes Gedicht »Anti-Syllabus«, das an die Beschlüsse dieses Kongresses gegen das beginnende Erste Vatikanische Konzil 1869/70 anknüpfte.159 Noch im selben Jahr warb der zunächst ADAV-nahe »Proletarier« aus München/Augsburg für einen Separat-Druck dieses Gedichtes: »als Morgengabe zum ›oekumenischen Concil‹ in Rom« und als Antwort auf die Behauptung einer Zusammenarbeit von Ultramontanen und Lassalleanern.160 Ein Jahr später druckte der Bebel-Liebknecht'sche »Volksstaat« den »Anti-Syllabus«, nachdem kurz zuvor ein Parteigenosse wegen der Verlesung des auch in der liberalen bzw. demokratischen Presse aufgenommenen Gedichtes mit der Begründung angeklagt worden war, »[.„] die Bibel als Gegenstand der Verehrung der christlichen Kirche in Worten verspottet zu haben.«161 Damit begann ein beispielloser Siegeszug dieses kleinen Werkes in der Sozialdemokratie. Mehrere Parteiblätter druckten den Anti-Syllabus, die Presseverlage warben mit dem Vertrieb des Gedichts (wie auch anderer Krasser-Gedichte, die aber nicht die gleiche Verbreitung erreichten), und die erzielten Auflagenhöhen überschritten alles bisher Dagewesene: 60.500 Exemplare sollen zwischen 1872 und 1876 von der »socialistischen Partei« vertrieben worden sein162; andere Angaben sprechen von 400.000 Exemplaren aus Braunschweig und nahezu einer Million aus 156 Als typische Beispiele der Aufsatz »Die Sintflut« in Neue Welt 22/1886, S.522-26 und der Leitartikel »Das Paradies der Bibel. Wahrheit und Dichtung« in der rheinischen Volkstimme 11.9.1890 S.lf.. 157 Engels/Kautsky,SA79. 158 Kautsky, Entstehung. 159 Biographische Angaben zu Krasser in Trausch Bd.2, S.304, Bd.3, S.589, Bd.4, S.252. 160 Proletarier 2.12.1869 Nr.20S.162. 161 Volksstaat 1.1.1870 Nr.l S.3; Erstabdruck des Gedichtes ebd. 12.1.1870 Nr.4 S.2f. 162 Angaben in Wälder 7/1876, S.l—4. Nur eine Broschüre Wilhelm Brackes erzielte nach dieser Aufstellung eine höhere Gesamtauflage im Zeitraum 1872-1876.

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Leipzig. 163 Auch wenn diese Zahlen übertrieben erscheinen, bestätigen sie doch die Eigenwerbung der Neuauflage einiger Krasser-Gedichte im Jahre 1920: »Viele Arbeiter kannten sie auswendig wie einst den Katechismus.«164 Was aber begründete den Ruhm dieses literarisch nicht besonders anspruchsvollen und zudem überlangen (häufig von Sozialdemokraten auf einem vierseitigen, klein und eng bedruckten Din-A-5-Faltblatt bei Parteiversammlungen, aber auch bei Versammlungen des politischen Gegners 165 verteilten) Poems, sicherlich das verbreitetste religionskritische Gedicht in der Sozialdemokratie zwischen 1863 und 1890 und in diesem Zeitraum im parteinahen Milieu wohl auch eines der bekanntesten Gedichte überhaupt? Der »Anti-Syllabus« bot zunächst eine satirische Nacherzählung vorwiegend alttestamentlichen Stoffes, der jedem Leser aus dem schulischen Religionsunterricht bekannt war, hier jedoch polemisch-mitreißend aufgearbeitet erschien. Die Sintfluterzählung beispielsweise fand mit folgenden Worten Erwähnung: »Schlimmer war's in keinem Falle, als es später offenbar, Laut der biblischen Geschichte, um die Zeit der Sündfluth war, wo des ›Himmels Stellvertreten ihre Sünden so gehäuft, Daß sie Gott der Herr im Zorne sammt dem Pöbel hat ersäuft.«166 Unmittelbar an diese Zeilen schloß Krasser nun - inhaltlich eher locker - eine sozialkritische Passage über das Elend von »Bauer« und »Proletar« an: »Doch Jahrtausend um Jahrtausend ging dahin in raschem Flug, Und noch immer keucht der Bauer darbend hinter seinem Pflug, Und der Proletar der Städte hungert noch bei allem Fleiß, Und es hungern Weib und Kinder, die er nicht zu nähren weiß; Von der »besseren Gesellschaft« ausgenützt und müdgehetzt, Von der öffentlichen Meinung insultirt und tief verletzt, Geht der Arme ewig trauernd durch der Erde Paradies, Stumm verzweifelnd an sich selber, weil die Menschheit ihn verstieß; [...].«167 Der »Anti-Syllabus« verband in offenbar einmaliger Weise populäre, vornehmlich gegen die Unsittlichkeit des Erzählstoffes zielende Bibelkritik und Dogmenkritik auf der Grundlage von alter Priestertrug-These und Pfaffenschelte, antikapitalistische soziale Anklage und politisches Bekenntnis gegen Gottesgnadentum, Monarchismus und Militarismus. Gekrönt aber wurde diese Verschmelzung verschiedener Diskurse durch einen - auch als Reaktion auf den 163 Trausch Bd.4, S.252. 164 Krasser, Antisyllabus, SA 165 Verteilung durch Sozialdemokraten z.B. am Ende einer Düsseldorfer Katholikenversammlung gegen die Maigesetze am 5.11.1877, s. Vorwärts 18.11.1877 Nr.l36 S.4. 166 Hier zitiert nach dem frühen Abdruck im Volksstaat 12.1.1870 Nr.4 S.2. 167 Ebd.

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antimodernistischen päpstlichen »Syllabus errorum« von 1864 zu wertenden Hymnus auf Fortschritt und Wissenschaft: »Fort mit allen Rumpelkammern voller Schutt und Moderduft! Menschheit, bade deine Schwingen in der frischen Morgenluft! [...] Dulde nicht, daß deiner Kinder unverdorbenen Geisteskraft Ferner vorenthalten bleibe die moderne Wissenschaft!« 168

Diese Bibelkritik aus radikaldemokratischem Geiste169 betonte also auch ihre Verankerung im »Aufbruch der Moderne« und zielte damit auf positive Integration in eine Gesellschaft, die, wenn sie sich zum Fortschritt bekenne, endlich zu sich selbst fände. Die »Sozialdemokratizität« des »Anti-Syllabus« aber garantierten die Sanktionen, der die Partei und ihre Mitglieder aufgrund der Verbreitung des Gedichtes unterworfen wurden. Schon der »Volksstaat« hatte es 1870 ja gerade wegen der damit verbundenen Anklage gegen einen Genossen gedruckt; weitere Anklagen gegen Parteimitglieder folgten. Die antisozialistische Stimmung gibt ein anonymes Schreiben an die »Volksstaat«-Redaktion von 1876 wider: »Bezüglich Eures famosen Gedichtes, des Anti-Syllabus, muß ich Euch etwas schreiben: [...] Ihr gottvergessenen Menschen, daß Ihr dem Arbeiter den Glauben nehmen wollt und Alles und Jedes läugnet. Ich wünschte doch, daß Eure Sterbestunde derartig wäre, daß Ihr gar nicht ersterben könntet!« 170

Während des Sozialistengesetzes 1878-1890 stand Krassers Gedicht auf dem Index, wurde jedoch vom Verlags-Magazin in Hottingen-Zürich für 5 Pfennige vertrieben.171 Noch 1889 kam es in Berlin zu Verhaftungen und Verurteilungen aufgrund des Besitzes des »Anti-Syllabus«.172 Wie der Freidenker Friedrich Hermann Krasser zogen ungezählte sozialdemokratische Autoren nicht nur gegen die Bibel, sondern auch gegen den christlichen Dogmenglauben publizistisch zu Felde. Von den frühchristlichen Lehrsetzungen wie der Göttlichkeit Jesu oder der trinitarischen Auffassung Gottes bis hin zu denjüngsten dogmatischen Entscheidungen der katholischen Kirche - an erster Stelle die Unfehlbarkeit des ex cathedra sprechenden Papstes (1869/ 70) -, von den systemischen Grundfiguren »Sünde« und »Erlösung« über den 168 Ebd. S.3 169 Vgl. den im Duktus Krasser ganz ähnlichen radikaldemokratisch geprägten Johann Philipp Becker und seine Bibelsatiren, z.B. in Becker, Daniel. 170 Volksstaat 21.4.1876 Nr.46 S.3. 171 Vgl. die Werbung im Sozialdemokrat 21.8.1886 Nr.4 S.4. Zum Verbot s, Stern, Kampf Bd.l, S.429, 434f; u.a. aus den Versen »Und der Proletar der Städte [...]« (s. Zitat) gingen der Verbotsbestätigung zufolge eindeutig »sozialdemokratische Bestrebungen« hervor (!). Auch im anarchistischen Milieu war der »Anti-Syllabus« beliebt: Als Nr.3 der »Internationalen Bibliothek« erschien in New York 1887 in einem Band »Die Gottespest (12. verm. u. verb. Aufl.) John Most. Anti-Syllabus. Von Dr. Hermann Krasser«. 172 Nach Krasser, Anti-Syllabus.

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GottesbegrifF bis hin zum Dogma als Prinzip der Erkenntnisformulierung reichte das Spektrum sozialdemokratischer Dogmenkritik. Ein polemisch-ironischer Tonfall kolorierte die rationalistische Argumentation gegen das Dogma als »Wunderglauben«, »sinnlose Phrase«173 und »Logik des Unsinns« 174 , die aller Erkenntnisentwicklung und damit der Wissenschaft, dem Fortschritt und der Kultur im Wege stehe. Der Umstand, daß der sich immer noch christlich-religiös legitimierende Staat in den Augen der Arbeiterbewegung den Modernitätsschub verhinderte, verlieh dieser Religionskritik ihren konkreten politischen Charakter. In Presse, Broschüren und Parteibelletristik, aber auch in Vorträgen und in der mündlichen Agitation wurde die Dogmenkritik verbreitet.175 Die erfolgreichste von der Partei vertriebene Broschüre zum Thema, das »ABC des Wissens« des 1848er-Revolutionärs und Amerika-Emigranten, Sozialisten und Freidenkers Adolf Douai (1819-1888), rechnete mit den traditionellen Gottesbeweisen in der Begrifflichkeit der Kant'sehen »Kritiken« ab.176 Der jahrzehntelange publizistische Erfolg dieses eher akademisch-trocken philosophierenden Traktats177 eines bei Marx und Engels in Misskredit stehenden Verfassers178 erklärt sich zum einen aus der Ermangelung eines Besseren - und um dem Anspruch der Kulturträgerschaft gerecht zu werden, brauchte die Partei eine Schrift zu diesem Gegenstand - und aus den Begleitumständen ihrer Entstehung. Douai wurde zu dem Text angeregt durch einen Antrag auf dem SDAPKongreß 1874, der den in der Partei heftig diskutierten obligatorischen Kirchenaustritt für alle Mitglieder forderte; und er löste mit seiner Schrift eine im »Volksstaat« ein volles Jahr lang währende publizistische Kontroverse mit einem anonym bleibenden Redakteur der katholischen Zeitschrift »Concordia« aus, ein Schlagabtausch, der dann, zumeist unter dem Titel »Antwort an den Bekenner des Theismus«, teils separat, teils gemeinsam mit dem »ABC des Wissens« 173 Glauchauer Nachrichten 10711.5.1878 Nr.108f. S.l (die christliche Erlösungslehre im Leitartikel als »sinnlose Phrase«). 174 Johann Philipp Becker über das Unfehlbarkeitsdogma in Vorbote 7/1871 S.99, 175 Als der sozialdemokratische Mainzer Tarn-»Verein zur Förderung des Volkswohls und volkstümlicher Wahlen« 1889 aufgrund des Sozialistengesetzes geschlossen wurde, begründete die Landespolizeibehörde dieses Verbot auch mit den zur »Verbreitung sozialistischer Grundsätze« geeigneten Vorträgen, darunter das Referat des Schriftführers Stock »Über die Gottesidee«: Stent, Kampf Bd.2, S.960f.. In ihren Erinnerungen »Jugendgeschichte einer Arbeiterin« berichtet Adelheit Popp von ihrer Agitation gegen Gottesglauben und Schöpfungslehre unter den FabrikArbeitskolleginnen in den 1880ern Jahren, s. den Auszug bei Emmerich, Lebensläufe, S.278. 176 Erstveröffentlichung im »Volksstaat« 1874. Erster Separat-Druck: Douai, ABC. Über das »ABC des Wissens« und die anschließende Kontroverse ausführlich Grote, Religion, S.217-27. Biographisch zu Douai Baumgart. 177 Weitere Auflagen nach der Erstauflage von 1874: 1875, 1878, 1884 (Hottingen-Zürich); zuletzt 1919. Während des Sozialistengesetzes verboten. Auflage 1874-1876: 6500 Exemplare (Wähler 7/1876 S.2). 178 Vgl.dazuHorvdAS.321f..

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veröffentlicht den Parteigenossen zugänglich blieb.179 Es war wohl weniger die Argumentation der Schrift als dieser Charakter der direkten und nach eigenem Verständnis erfolgreichen Auseinandersetzung mit dem weltanschaulichen und politischen Gegner, der zur kulturellen Selbstverständigung des sozialdemokratischen Lesers beitrug und die Broschüre viele Jahre in der Vertriebs`werbung der Parteipresse hielt. Wie die Bibel- gehörte auch die Dogmenkritik zum sozialdemokratischen »Kanon der Moderne«. »Identitätswirksam« wurde sie aber im besonderen aufgrund der an ihr durchgeführten Ausgrenzungsstrategie durch die »herrschenden Klassen« - in Chemnitz etwa bewegte die Parteipresse monatelang der gegen den Redakteur Gustav Saevecke geführte Gotteslästerungsprozess wegen eines die Lehre von der Himmelfahrt Christi infragestellenden Artikels in der »Chemnitzer Freien Presse«180 - und bei einer Mischung von religions-, politik- und sozialkritischen Motiven. Nach dem Attentat auf Wilhelm I. am 11. Mai 1878 wies die schlesische »Wahrheit« ironisch auf die Lehre von Gottes Allmacht hin, derzufolge Gott doch diese Bedrohung des Lebens des Monarchen vorhergesehen und bejaht haben müsse.181 Als fünf Jahre später der sächsische König Albert eine Fabrik in Mylau im Vogtland besichtigte, fast von einem herabstürzenden Fahrstuhl erschlagen worden wäre, dem statt seiner ein Zwickauer Kreishauptmann zum Opfer fiel, und die kirchennahe sächsische Presse daraufhin vom hier wirkenden »Finger Gottes« sprach, empörte sich der »Sozialdemokrat« mit einem ganz unironischen Pathos der Betroffenheit: »Ganz gut; wie kommt's aber, daß Gottes Schutz nicht ebenso wie über dem Monarchen über jedem einzelnen Arbeiter waltet? Warum kommen in den Fabriken und auf den übrigen Schhchtfeldern der Industrie alljährlich viel Tausende von Arbeitern um's Leben und viele Hunderttausende um ihre Gesundheit?'Wie erklärt sich dieser Widerspruch? Vor Gott sind doch ›alle Menschen gleich‹, und das Leben eines Arbeiters ist doch um kein Atom weniger werth als das Leben des Monarchen - für die menschliche Gesellschaft ist's oft sogar viel mehr werth. Nun - ein Narr wartet auf Antwort. Logik und Gottesglaube (nebst obligatem Pfaffenhumbug) sind zwei Dinge, die einander ausschließen.«182 Das Motiv des sozialdemokratischen Glaubenszweifels als Theodizee-Frage begegnet - hier aus der ganz persönlichen Betroffenheit heraus - auch in Arbeiterautobiographien. Franz Rehbein berichtete 1911 über seine 1880er Lehr- und Wanderjahre: »Zu Hause in meiner Heimat bin ich außerordentlich religiös und patriotisch erzogen worden, und gerne las ich religiöse und vaterländische Geschichten. [...] Als mich das 179 Zuerst im »Volksstaat« 1875. Erster Separat-Druck: Douai, Antwort. Zusammen mit dem »ABC« 1894 unter dem Titel »Wider Gottes- und Bibelglauben«. 180 Der den Prozeß auslösende Artikel »Himmelfahrt« in Chemnitzer Raketen 28.5.1876 Nr.22 S.lf.. 181 Wahrheit 26.5.1878 Nr.122 S.l (Leitartikel »Was man Alles beweisen kann«). 182 Sozialdemokrat 12.7.1883 Nr.29 S.l (Leitartikel »Der Finger Gottes«).

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Schicksal nun aber frühzeitig von einer Ecke Deutschlands in die andere warf, als ich mich dann, so mutterseelenallein in der Welt stehend, als blutjunges Bürschchen von fremden Leuten umherstoßen lassen mußte, als ich sah, wie diese Leute mich zum Teil nur als eine niedere menschliche Arbeitskreatur betrachteten und mich in ihrem Interesse lieblos ausnutzten - da kamen mir sehr bald die Gedanken, daß es mit all den schönen Geschichten, die ich gelesen hatte, doch wohl nicht ganz seine Richtigkeit haben könne. Weshalb waren die Menschen so herzlos? Weshalb half mir kein Gott? Das waren Fragen, die ich mir sehr oft vorlegte, wenn ich mich unter dem Drucke deprimierender Gemütsstimmung in irgend einer Ecke sattweinte.«183

Entstehen und Entwicklung von Religion Die Religionskritik seit der Aufklärung band die Infragestellung der Autorität von Bibel und christlichen Dogmen in ein grundsätzliches Verständnis der Religion als zeit- und entwicklungsgebundenes Phänomen ein, aus der sich im 19. Jahrhundert Religionswissenschaft, Religionssoziologie und Religionspsychologie als zunächst freie und gegen Ende des Jahrhunderts universitär verankerte akademische Disziplinen entwickelten. 184 Die Religionskritik des 19. Jahrhunderts trennte sich vom Deismus, der in Rationalismus und Aufklärung noch vorherrschte, und seiner Vorstellung einer »natürlichen Religion«. Nach Ludwig Feuerbach oder dem Franzosen Auguste Comte (1798-1857) schufen die Menschen selbst die religiösen Vorstellungen.185 Die Frage nach dem Ursprung der Religion beantworteten Feuerbach, Comte und auch Friedrich Engels aber durchaus noch im Anschluss an die Religionsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Das Motiv etwa, daß an der Wiege der Religion die Furcht des Menschen vor unbekannten und unbezwingbaren Mächten (der Natur, dem Tod) gestanden habe, bestimmte bereits die »Naturgeschichte der Religion« (1757) des schottischen Empiristen und Positivisten David Hume (17111776).186 Bei Comte, Feuerbach und Engels wirkte dieses Motiv fort, und in der Publizistik der deutschen Arbeiterbewegung 1863-1890 begegnet es auf Schritt und Tritt, ohne daß der Name Hume damit verbunden worden wäre. Theoretiker wie Joseph Dietzgen (1828-1888), Spitzenfunktionäre wie Karl Frohme, Parteiredakteure und -agitatoren, aber auch in der Parteipresse gedruckte nicht183 Aus Rehbeins von Paul Göhre herausgegebenem »Leben eines Landarbeiters« (1911), zi tiert nach Emmerich, Lebensläufe, S.279f. 184 Zur knappen Einführung in Gegenstand und Geschichte der Religionswissenschaft und ihrer Teildisziplinen vgl. Kehrer. Aufden »Vater der modernen Religionswissenschaft« Max Müller (1823-1900) bezog sich Joseph Dietzgen ausführlich in einem 1888 geschriebenen Aufsatz »Wie die Götter entstanden sind« (in der Parteipresse veröffentlicht?): Dtetzeen, Götter, bes. S.207. 185 Zum Verhältnis von aufklärerischer und nachaufklärerischer Religionskritik Kantzenbach, S.14-34. 186 Smith, Philosophy.

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sozialistische naturwissenschaftlich-materialistische Autoren wie Ludwig Büchner führten den Ursprung der Religion - polemisch oder sachlich-objektiv gestimmt - auf die Furcht des Menschen vor dem Tod, seine Angst vor der Natur, die Selbstreflexion der menschlichen Gattung oder - seltener - auf konkrete gesellschaftliche bzw. ökonomische Konstellationen des Entstehungsumfeldes zurück.187 In dieser Hinsicht aufschlussreich ist eine »Theorie der zwei Wurzeln von Religion«, die Kautsky in seiner More-Studie von 1888 entwickelte: »Die Religion wird ein menschliches Bedürfnis von dem Augenblick an, da der Mensch beginnt, über die Natur nachzudenken bis zum Erstehen der Naturwissenschaft. Die Religionen, die dieses Bedürfnis erzeugt hat, die Naturreligionen, sind heiter, lebenslustig und tolerant, wie die Menschen, in deren Köpfen sie erwachsen; sie sehen in den Naturerscheinungen mehr das Grossartige, Göttliche, als das Grausenerregende, Teuflische. Mit dem Aufkommen der Warenproduktion erstehen indessen soziale Mächte, deren der Mensch nicht Herr ist und damit erwächst die zweite Wurzel der Religion. [...] Die Naturreligionen sind wesentlich lokaler Natur; die sozialen Religionen, die sie verdrängen, sind von vornherein Massenreligionen, Weltreligionen.«188 Durch Historisierung und Anthropologisierung waren ebenso die Auffassungen der genetischen Entwicklung von Religion in der Parteiliteratur geprägt, in denen das Christentum nur ein Stadium in einer allgemeinen Religionsgeschichte darstellte. Die Stadien dieser Entwicklung, deren gedachte Stringenz wenig Raum für Differenzierungen ließ, benannten Autoren unterschiedlicher Provenienz und ideologischer Prägung doch recht übereinstimmend. Auf »primitive«, »kannibalische Religionen« und Fetischismus folgte der antike Polytheismus, den schließlich die monotheistischen Religionen abgelöst hätten: eine in den Texten häufig auf Feuerbach zurückgeführte, jedoch ebenso wie die Annahme des Entstehens der Religion aus Furcht im Ansatz auch schon bei Hume, Claude Adrien Helvetius (1715-1771) und anderen Aufklärern erkennbare Reihung. 189 »Sozialdemokratisch konnotiert« erschien dieses Konstrukt erst in der Bündelung mehrerer Diskursperspektiven. 1. Die Sozialdemokraten sprachen über die Entwicklungsgeschichte der Religionen in kritischer Absicht, eine Absicht, die sich nur unzulänglich unter einer scheinbar wissenschaftlich-neutralen sprachlichen Oberfläche verbarg. In der von Johannes Most redigierten ersten Exils-Zeitung der Sozialdemokra187 Die religionskritischen Anteile von Dietzgens berühmten »Kanzelreden« mit dem Titel »Die Religion der Sozialdemokratie« (1870flf., s. bibliographische Angabe im Quellenverzeichnis) beruhen weitgehend aufder genannten Annahme sowie auf der Vorstellung einer fortschreitenden Höherentwicklung religiöser Ideen, die schließlich den Charakter des Offenbarungsglaubens verlören. Vgl. Frohtne, S.25; Büchner. 188 Kautsky, More, S.93f.. 189 Zum Fortwirken des Entwicklungsgedankens von Hume und Helvetius bei Feuerbach und anderen vgl. Kantzenbach, S.22f, 31.

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tie nach dem Sozialistengesetz, deren erste Ausgabe im Januar 1879, d.h. zehn Monate vor dem Züricher »Sozialdemokrat« erschien, leitete S. Friedrich Kaufmann eine neunteilige Artikelserie »Ueber religioese Ideen« wie folgt ein: »Ruhig und leidenschaftslos wollen wir diese Untersuchung vornehmen, wie ein Chirurg eine anatomische Analyse vornimmt. Es ist nicht unsere Absicht, diese oder jene Religion zu Gunsten anderer zu bekämpfen, sondern [...] die religiösen Ideen im Allgemeinen einer Kritik zu unterwerfen. Beim Eingehen in die einzelnen Religionssysteme wird unser Urtheil über dieselben nur durch den mehr oder weniger schädlichen Einfluß derselben auf die Entwicklung und das Glück der Menschheit bestimmt werden. [...] Die Untersuchung über die Entstehung religiöser Ideen vernichtet von vornherein den Glauben an alle sogenannten geoffenbarten Religionen, das heisst an solche, die von einem ›Gotte‹ selbst durch einen Auserwählten [...] dem Volke kundgeworden sein sollen.« 190 2. Die Aufklärung und die »bürgerliche« Religionskritik der ersten Jahrhunderthälfte hatten nur teilweise die Interpretation des Entwicklungsprozesses der religiösen Ideen mit jener Logik ausgestattet, die diesen religionskritischen Teildiskurs in der Sozialdemokratie kennzeichnete: Der geschichtliche »Fortschritt oder die Entwicklung der Religion« bestünde »wesentlich in ihrer Auflösung«191 und münde zwangsläufig in eine »atheistische Kulturperiode«192 ein. Das Ende dieses Entwicklungsprozesses bestimmte der Diskurs wesentlich öfter als religionslos - Most etwa benannte Rechtswesen und Naturwissenschaften als Institutionen, welche die Religion in der Moderne ersetzten193 - , denn als religiös erneuert - etwa mit einem »Monismus« als neuer »Volksreligion«.194 3. Der zumeist in die Prognose des Endes aller Religion (oder zumindest des Theismus) auslaufenden Religionsgeschichte der sozialdemokratischen Publizistik lag ein krasser Fortschrittsoptimismus 195 als wesentliches Interpretament

190 Freiheit 5.4.1879 Nr. 14 S.l. Der Tapezierer Kaufmann war im November 1878 aus Berlin ausgewiesen worden, nach London emigrien und dort als Mitarbeiter der »Freiheit« tatig geworden, in der er nach eigenem Bekunden »nur das atheistische Gebiet cultiviert« habe. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland im Dezember 1879 wurde er sofort verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt: Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.688. Wenn die »Freiheit« unter Mosts Leitung auch immer mehr einen radikal-anarchistischen Anstrich erhielt und es schließlich zum Bruch mit der Partei kam, ist Kaufmanns Artikelserie doch keineswegs untypisch für die in der Sozialdemokratie propagierten Auffassungen zur Entwicklung der Religionen. 191 Dietzgen, Ein Cyklus von Kanzelreden. 3., S.2. 192 Boruttau. Socialismus, S.2f.. 193 Most, Menschengeschlecht, S.2. Die Übertragung von vormals von religiösen Trägern ausgeübten Funktionen auf profane Institutionen in der Moderne steht auch im Zentrum von einigen in der Religionssoziologie diskutierten Säkularisierungskonzepten; vgl. Dobbelaere, S.1522. 194 Stern, Vergangenheit, S.223-25 (Entschlüsselung des Pseudonyms nach Haasis, S. 130). 195 Zum »Fortschritt als sozialistische Hoffnung« Langewiesche, Fortschritt.

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dieses Prozesses zugrunde, der ex post wiederholt als religionsähnlicher »Entwicklungsglauben« der Partei gekennzeichnet worden ist. Das Verständnis des historischen Prozesses als stetem Aufwärtsgang, der durch unumstößliche Naturgesetze vorherbestimmt ist, wurzelte auch und gerade in der Gegenüberstellung von Glaube und Wissen bzw. in der Gewissheit einer Ablösung der Religion durch Wissenschaft und Bildung. Dieser Fortschrittsoptimismus und »Entwicklungsglauben« kennzeichnete die Epoche und hatte zunächst mehr mit Charles Darwin und seiner »anthropologisierenden«, von der Natur- auf die Menschheitsgeschichte übertragenden Rezeption als mit einer spezifischen »sozialistischen Ideologie« zu tun. Allerdings mühte sich die Partei, dieses Paradigma der Moderne zu ihrem Eigentum zu erklären, indem sie sich als alleinigen Träger von Fortschritt und Entwicklung stilisierte. »Die Entwicklung, die fortschreitende Organisierung nicht nur in der Natur- sondern auch in der Menschengeschichte anzuerkennen, ist eine spezielle Sache der SozialDemokratie. Ihre bessere Einsicht besteht gerade darin, das, was man sonst noch für stabil und ewig hält, nicht mehr als heilige Ausnahme, sondern als profane, entwicklungsfähige und entwicklungsbedürftige Theile des Ganzen zu erkennen. [...] Aus dem Chaos ist die Welt zum geistbegabten Menschen fortgeschritten, der nun die erfreuliche Pflicht und Fähigkeit hat, den weiteren Fortschritt unserer vergleichsweise noch sehr chaotischen Welt dadurch zu poussieren, daß er ihre Kräfte studirt und organisirt. In der unbewußten Ausfuhrung dieses Berufs wurden die epochemachenden Instanzen, die Katze des Aegypters, der Hund des Persers, das Gesetz der Juden, die Menschlichkeit des Christen u.s.w., mit religiösem Gefühl angestaunt. Wo sich der Mensch seiner Aufgabe bewußt wird, wo er sich als den absoluten Organisator erkennt, tritt an Stelle der Religion die antireligiöse Sozial-Demokratie.«196 4. Seltener findet sich die Anbindung der religiösen Entwicklungsgeschichte an eine über ökonomische Interessen definierte Ideologiegeschichte. Dieses Diskursmotiv tauchte zwar in den 1870er Jahren bei Engels, Bebel, Dietzgen und anderen auf, wurde aber in einem den Multiplikatoren der Partei gut erreichbaren Forum, der »Neuen Zeit«, erst 1886 von Friedrich Engels in seinem Feuerbach-Aufsatz klassisch »marxistisch« ausformuliert. Engels setzte neue Akzente - etwa die Popularisierung der Formel von der »religiösen Verkleidung« zur Enttarnung der Religion als eine von Klassenverhältnissen abhängige Ideologie - , erreichte damit aber kurzfristig kaum eine grundsätzliche Umorientierung 196 Dietzgen, Ein Cyclus von Kanzelreden. 3., S.2. Für das sozialdemokratische Reklamieren eines Alleinvertretungsanspruches auf Fortschritt und Menschheitsentwicklung ist dieser Text typisch, unbeschadet seiner Prägung durch die eigenwillige philosophische Begrifflichkeit Dietzgens. Den rheinischen Lohgerber und Autodidakten Joseph Dietzgen rühmte die Partei als »ihren Philosophen« (mit größerer Berechtigung, als sie dies auch bei Feuerbach tat); mit der Rezeption seines Werkes hatte sie aber ihre Schwierigkeiten (s. die Verurteilung des vermeintlich »revisionistischen« »Dietzgeanismus«, den Dietzgens Sohn Eugen propagierte). Vgl. Strüning.

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des religionskritischen Diskurses, der zumindest bis 1890 einem eher »unmarxistischen« Entwicklungsdenken verpflichtet blieb.197 Engels' Aufsatz »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« stellte auf der einen Seite eine anerkennende Würdigung des Philosophen Feuerbach und seiner Konzeption von Ursprung und Entwicklung der Religionen dar. Ausgehend von der Marxschen Erkenntnis der 1840er Jahre, daß die Kritik der Religion im engeren Sinne abgeschlossen sei, interessierte Engels Religion aber wesentlich nur als Klassenideologie, eine Sichtweise, die Feuerbach noch fremd gewesen sei. So attackierte der »Neue Zeit«-Aufsatz auf der anderen Seite den zu unpolitischen Charakter der Philosophie Feuerbachs. Für deren Festhalten am Religionsbegriff, die sich in der Vorstellung einer Transformation der Philosophie in Religion und der Vision einer »Religion der Liebe« auch als gesellschaftliche Zukunftsperspektive konkretisierte, hatte Engels nur ein hässliches Wort übrig: »allgemeiner Versöhnungsdusel«. 198 Die Engelsschen Auslassungen können als kritischer Reflex auf eine ungebrochene Feuerbach-Begeisterung in der deutschen Arbeiterbewegung gelesen werden. Eine 1872 angedachte populäre Feuerbach-Ausgabe 199 konnte zwar nicht von der Partei realisiert werden; in Reden, Vorträgen, Broschüren und Zeitungsartikeln feierte man den Philosophen jedoch als den »[...] neue(n) Prometheus, der nicht den göttlichen Funken, nein, Gott selber auf die Erde, in seine Heimath zurückgeführt, und ihm seine Wiege zum Grab gegeben hat«200 (Wilhelm Liebknecht), als »großen Geisteskämpfer«, der die Gottesidee vernichtet habe. Zum Grundgedanken Feuerbachs erklärte diese Rezeption die die Theologie in Anthropologie übersetzende Idee, »Gott« sei eine Projektion des Menschen, von diesem ersonnen, um sich selbst bzw. die Gattung »Menschheit« denken zu können, und die Befreiung vom Gottesgedanken sei die entscheidende Befreiung des Menschen zu sich selbst. Das dieser Rezeption entspringende Pathos von einer sich zu sich selbst befreienden Menschheit konnte ohne weiteres in ein sozialdemokratisches Fortschrittspathos eingefügt werden - Feuerbach wurde für die Partei »unser - wir sagen das mit ebensoviel Berechtigung als Stolz - unser Philosoph.« 201 Nicht nur publizistisch beanspruchten die Sozialdemokraten den 1870 in Nürnberg tatsächlich der Arbeiterpartei beitretenden Feuerbach als »ihren« Philosophen. Ihren frühen Höhepunkt erlebte die Vereinnahmung bereits 197 Engeb, Feuerbach. Würdigung von Engels' Feuerbach-Rezeption als der im Vergleich mit den »bürgerlichen« Zeitgenossen angemessensten durch Lefevre. 198 Engeh, Feuerbach, S. 197. 199 Fürther Demokratisches Wochenblatt 13.1.1872 Nr.2 S.l. 200 Liebknecht, Wissen, S.38. Die Schrift wurde bis zur Jahrhundertwende immer wieder neu aufgelegt. 201 Neue Weh 15/1878 S.179 (Artikel »Ludwig Feuerbach«).

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1871/72, als der »Volksstaat« und andere Parteiblätter die »Demokraten aller Länder« zu einer Spendensammlung für den auf dem Rechenberg bei Nürnberg verarmt und schwerkrank lebenden Philosophen aufriefen und, wiederum nach einem Parteiaufruf, gerichtet nun an »Arbeiter! Genossen!«, tausende »Arbeiter« ihm am 16. September 1872 zu Nürnberg unter »Aufzug, Fahnen, Musik, radikale(n) Reden« (wie Carl Grillenberger an den »Volksstaat« telegraphierte) das letzte Geleit gaben.202 Während die demokratische »Frankfurter Zeitung« in einem auch von der sozialistischen Presse gedruckten Nachruf Feuerbach als den »Vater des demokratischen Humanismus« und »Vater des religiös-politischen Radicalismus« ehrte 203 , wies man in der Sozialdemokratie daraufhin, daß Feuerbach »stets auch Leser und Freund des ›Volksstaat‹« gewesen sei.204 Das Zögern (national)liberaler Blätter wie der »Gartenlaube«, sich dem Spendenaufruf für den Erkrankten anzuschließen 205 , schien zudem im politischen Alltag an der »religionskritischen Front« zu bestätigen, daß die Arbeiterparteien zurecht den Alleinvertretungsanspruch auf die Moderne erhoben, eine Abgrenzung, welche die kulturelle Identität des Milieus stärken konnte. »Feuerbach starb. Arbeiter haben seiner mit Liebe gedacht, Arbeiter haben ihn der Vergessenheit entrissen, Arbeiter haben seinen Sarg zu Grabe getragen; die Männer der Kutte, des Geldsacks, des goldbetreßten, des zweierlei Tuches und der Wissenschaft waren an seiner Bahre nicht zu sehen. Arbeiter waren es, Tausende von Arbeitern, die ihm die letzte Ehre erwiesen. Sie überlassen es den Andern, den ›deutschen‹ Männern, Feuerbach ein Monument zu setzen, dem Toten einen Stein zu geben, nachdem sie als deutsche Männer dem Lebenden das Brod verweigert hatten.«206

Religion und Kultur Die Leitdiskurse der Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dachten Wissenschaft, Bildung, Kultur, Zivilisation und Fortschritt zusammen. Diesem Kultur- und Fortschrittspathos huldigten auch Luwig Feuerbach, die naturwissenschaftlichen Materialisten wie Ludwig Büchner und der späte David Friedrich Strauß in seiner Altersschrift »Der alte und der neue Glaube« 202 Spendenaufruf: Volksstaat 6.12.1871 Nr.98 S.4. Aufruf zur Begräbnisteilnahme: Fürther Demokratisches Wochenblatt 14.9.1872 Nr.37 S.l. Telegramm: Volksstaat 18.9.1872 Nr.75 S.4. Die jahrelang von der Parteipresse vertriebenen Grabreden hielten der Freireligiöse Carl Scholl sowie die Nürnberger Parteiagitatoren Anton Memminger und Friedrich Mook (wiedergegeben in Fürther Demokratisches Wochenblatt 21.9.1872 Nr.38 S.1-4). 203 Crimmitschauer Bürger- und Bauernjreund 24.9.1872 Nr.223 Nr.l. 204 Volksstaat 31.1.1872 Nr.9 S.l. 205 Fürther Demokratisches Wochenblatt 13.1.72 Nr.2 S.l; ebd. 21.9.1872 Nr.38 S.l. 206 Chemnitzer Freie Presse 29.9.1872 Nr.230 S.2 (Schluss des Nachrufes von Anton Memminger).

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von 1872. Bei diesen Autoren gewannen die genannten zentralen Themen der Moderne ihr Profil gerade aus dem Gegensatz zur überlieferten Tradition religiöser Weltbilder und Lebensdeutungen. Unter dem Einfluss dieser religionskritischen Zuspitzung der Vorstellung von »moderner Kultur« standen nicht nur viele Bildungsbürger, diesem Diskurs waren auch die frühen Sozialdemokraten in ihrem Selbstverständnis der »Kulturträgerschaft« weitgehend verpflichtet.207 In der Agitationsarbeit mühten sie sich, die Unvereinbarkeit von Religion und Kultur bzw. von Religion und Zivilisation aus der Entwicklung der Religionen und insbesondere des Christentums nachzuweisen. Dieses letztere sei in seiner ganzen Geschichte bildungs- und kunstfeindlich gewesen. Von der angeblichen Zerstörung der antiken Bibliothek Alexandrias durch die Christen bis zum Unfehlbarkeitsdogma von 1870 wurden Belege dafür angeführt, daß die christliche Religion sich stets der Kulturentwicklung entgegengestemmt habe. In München agitierte 1874 Bruno Geiser (1846-1893) in einem Vortrag »Religion und Cultur« in diesem Sinne.208 Und auf einer Volksversammlung in Erfurt ebenso wie beim Leipziger Arbeiterbildungsverein suchte 1878 der Maler Friedrich Nauert, Parteiredner und Vorsitzender des Leipziger Verbandes der deutschen Maler, Lackierer und Vergolder, in seinem Referat »Christentum und Sozialdemokratie« nachzuweisen, »[...] daß das Christenthum durchaus nicht besser wie die anderen Religionen sei, sondern bemüht gewesen wäre, jeden Culturfortschritt zu hemmen und nöthigenfalls mit Gewalt.«209 Nauert verteidigte diese Position in Erfurt gegen den Widerspruch des Ortsvorsitzenden eines »christlich-conservativen Vereins«, und der Berichterstatter feierte den Erfolg des sozialdemokratischen Agitators: »Viele der Versammelten waren wohl mit ganz anderen religiösen Gefühlen in die Versammlung gekommen, als sie dieselbe verließen, und die hiesigen Geistlichen, welche offenbar den Plan haben, hier in nächster Zeit mit der Gründung einer ›Staatssozialisten-Partei‹ vorzugehen, haben gestern bedeutend an Terrain verloren.«210 Auch wenn man den Optimismus des »Vorwärts«-Korrespondenten über die spontane Wirkung dieser Versammlung etwas skeptisch aufnimmt, erscheint doch die Aussage glaubhaft, daß Nauert einem noch religiös, womöglich auch kirchlich gebundenen Publikum eine andere als die ihnen geläufige, eine »aufklärerische« Sichtweise des Verhältnisses von Religion und Kultur nahezubringen suchte. Das konservative, traditionell dominante Deutungsmuster, das 207 Hierzu insgesamt Emig, s. auch Leonhard-Schmid, bes. S.92-94; Meuter dagegen enttäuschend. Die wichtige Rolle der Arbeiterbildungsvereine bei der Vermittlung eines bürgerlichen Kulturideals in die Arbeiterbewegung vor 1863 betont Birker, bes. S. 149-59. 208 Zeitgeist 24.5.1874 Nr.l 17 S.2f.. Geisers Hauptquelle war wieder einmal Kolbs »Kulturgeschichte«. 209 Vorwärts 20.2.1878 Nr.21 S A Vgl. Stern, Kampf Bd.2, S.684f.. 210 Vorwärts 20.2.1878 Nr.21 S.4.

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Kultur nur als religiös vermittelte »christliche Kultur« zuließ211, verlor in dieser Sichtweise seinen Ausschließlichkeitscharakter. Die Relevanz dieses religionskritischen Diskurses für die politische Auseinandersetzung im Kaiserreich deutet der Schluss des Versammlungsberichtes an, wenn auch der tatsächliche Einfluss von Nauerts Veranstaltung auf eine projektierte Zweiggründung von Adolf Stoeckers »Christlich-Sozialer Partei«, auf die hier angespielt wird, schwer überprüfbar sein dürfte. »Daß das Christenthum durchaus nicht besser als die anderen Religionen sei«: Dieses Werturteil aus der Tradition der Aufklärung, das sich seit dem 19. Jahrhundert auch auf die Erkenntnisse einer sich wissenschaftlich etablierenden vergleichenden Religionsgeschichte und einer ältere außerchristliche Einflüsse einbeziehenden, historisch-kritischen Bibelexegese berufen zu können glaubte, grifFder sozialdemokratische Diskurs gerne auf So wertete ein Artikel »Das Gesetz der Erhaltung der Kraft in der Kulturgeschichte« in der wissenschaftlichen Beilage des »Vorwärts« von 1877 die Übernahme des Christentums durch die Germanen als einen Kulturverlust ungeheuren Ausmaßes.212 Die umfangreichste Ausführung dieses Arguments wurde aber wohl von August Bebel 1884 in seiner Studie über die »Mohammedanisch-arabische Kulturperiode« vorgelegt. Auf 144 Seiten versuchte der Verfasser die Überlegenheit eines kultur-, wissenschafts- und bildungsfreundlichen Islam gegenüber dem Christentum nachzuweisen. Das europäische Mittelalter sei, insofern es christlich geprägt war, eine Epoche der kulturellen Barbarei gewesen; die Grundlagen der modernen europäischen Kultur lägen dagegen in der vorchristlichen Antike und im Islam. »Die moderne Kultur ist eine antuhristliche Kultur«: Darin würden die »vorgeschrittensten« mit den »rückständigsten« Geistern übereinstimmen. Von einer befreienden Mission des Christentums, von der man gegenwärtig oft spreche, könne also gar keine Rede sein.213 Bebeis Reminiszenz an die »rückständigsten« Geister schien sich darin zu bestätigen, daß aus dem in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen antimodernen katholischen Lager der massivste (und in der Sachkritik durchaus berechtigte) Protest gegen seine Schrift aufbrandete.214 Doch wenn Bebel am 31. Januar 1884 in einem Brief gegenüber Karl Kautsky kundtat, daß er mit seiner Schrift bezwecke, dem »Christentum und Heuchlertum« »eins aus(zu)wischen« und den »Schwindel [...], mit der christlichen Kultur zu prahlen«, zu 211 »Das Volk wird zum Volk nicht durch die gemeinsame Sprache, sondern durch den gemeinsamen Gottesbegriffund seine Erscheinungen Staat und Kirche.«: so der konservative Historiker Heinrich Leo (1799-1878). Zitiert nach Maltzahn. S.196. 212 Vorwärts, Wissenschaftliche Beilage 14.9.1877 Nr.6 S.2. 213 Bebel, Kulturperiode, bes. S.III,144 (Zitat). 214 C.;L·, C. A.. Zumindest »C.« huldigte aber keineswegs einem intransigenten Antimodernismus, s. z.B. sein Widerspruch gegen das Diktum, die moderne Kultur sei eine antichristliche (G.S.703).

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enttarnen215, hatte er wohl auch noch einen anderen politischen Gegner im Visier. Innerkirchliche »Modernisten« von Friedrich Schleiermacher (17681834) bis Richard Rothe (1799-1867) hatten theologisch das vorbereitet, was als »Kulturprotestantismus« seit den 1870er Jahren erhebliche Teile der liberalen bürgerlichen Öffentlichkeit mental bestimmte: ein Programm der Aussöhnung von aufgeklärter Religion und Kultur der Moderne, christlichem Glauben und Welt. Gern wurde in der Parteipublizistik - und zwar in kritischer Absicht - der prominente Mediziner und Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei Rudolf Virchow (1821-1902) zitiert, einer der profilierten »Kulturkämpfer« im Kaiserreich, der noch 1868 im Preußischen Abgeordnetenhaus über den »Geist« des Christentums erklärt hatte: »Er beruht in erster Linie auf dem Satz: Liebet Euch unter einander! Meine Herren, von diesem Satze aus hat sich allmälig das Prinzip der Rechtsfreiheit gestaltet, welches gegenwärtig die Grundlage unseres Staatslebens sein soll; von diesem Standpunkte aus ist die Sklaverei gefallen und die Befreiung der Individuen macht mit jedem Tage größere Fortschritte.«216

Der sozialdemokratische Diskurs über »Religion und Kultur«, der das Verhältnis dieser beiden Größen fast ausnahmslos als weltgeschichtlichen Gegensatz markierte, stand also in doppelter Frontstellung in der öffentlichen Debatte: in Auseinandersetzung mit einer Antimoderne, die der Gesellschaft das Modell einer vormodernen christlichen Kultur anempfahl, und in Auseinandersetzung mit einer Moderne, welche die christliche Überlieferung als wesentlichen Teil ihrer Kultur begriff. Allerdings stellt eine scharfe Scheidelinie zwischen Antimodeme und Moderne eher ein analytisches Konstrukt als ein Abbild von Realitäten dar: Sowohl »moderne« Liberale als auch »antimoderne« Konservative hielten beispielsweise dem Christentum die Sklavenbefreiung zugute, bei Virchow eine der Moderne und dem Fortschritt zugehörige Verwirklichung individueller Menschenrechte, bei Konservativen eher eine Umsetzung traditioneller christlicher Theologie und Morallehre (»Barmherzigkeit«). Sozialdemokratische Autoren und Redner verstanden es dagegen im Rahmen der Reflexion über Religion und Kultur in der Regel217 als ihre Aufgabe, den vermeintlichen »Mythos« der Sklavenbefreiung als kulturelle Errungenschaft des Christentums zu destruieren. Das Urchristentum habe keineswegs die Sklaverei bekämpft, sondern dieselbe vielmehr theologisch gerechtfertigt, eine 215 BeM, Briefwechsel Kautsky.S. 10. 216 Braunschweiger Volksfreund 29.2.1872 Nr.50 S.l (Leitartikel »Das Christenthum und die Zivilisation«). 217 Dem gesellschaftlich dominanten Diskurs hingegen war in diesem Fall Boruttau, Religion, verpflichtet: »Jeder vorschreitende Sieg des Christenthums ist eine Ueberwindung der Sklaverei.« (S.31). Und noch 1889 rühmte L.Vierecks »Recht auf Arbeit« den sklavereibekämpfenden Mönch Las Casas; dieser sei »[...] der Erste in der neueren Geschichte, der sich ganz der Lebensaufgabe gewidmet, die Lage einer arbeitenden Klasse zu mildern; [...] ‹‹ Recht auf Arbeit 31.1.1889 Nr.246S.4.

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Linie, die über Augustin bis auf das Mittelalter und Luther ausgezogen und - beispielsweise in Hinsicht auf die Stellung Luthers zur Leibeigenschaft im Bauernkrieg-herrschaftskritisch unterfuttert wurde. 218 In die politische Tagesdiskussion reichte diese Frage insofern hinein, als die Reichsregierung die Kolonialunternehmungen der 1880er Jahre auch als »Kreuzzüge wider den Sklavenhandel« zu legitimieren suchte. 219 Der »Sozialdemokrat« bemerkte hierzu, daß es der kirchlichen Kolonialmisssion in Afrika, welche diese Rechtfertigungsstrategie unterstützte, nicht um humanitäre Anliegen, sondern einzig um die christlichen Herrschaftsansprüche gegenüber dem Islam ginge.22() Selbst die historische Tatsache der Befreiung von Sklaverei und Leibeigenschaft versuchte die Partei, insofern als sie »die arbeitende Menschheit« vertrat, für sich zu reklamieren: »Nicht der Kirche, nicht der Geistlichkeit haben wir alles Gute, Schöne und Edle zu verdanken, wie man es uns, den Arbeitern, dem armen und enterbten Volke, so gerne aufbinden möchte. Nicht die Geistlichkeit hat die Sklaverei abgeschafft, sondern die Bauern haben für die Abschaffung der Sklaverei gegen den Clerus gekämpft. Nur die kämpfende, nur die denkende, nur die arbeitende Menschheit hat das meiste, hat das beste für die Kultur und Civilisation gethan.«221

Religion und Sittlichkeit Mit dem »Religion und Kultur«-Diskurs verknüpft, aber doch analytisch von ihm zu scheiden ist der Diskurs über das Verhältnis von Religion und »Sittlichkeit« in der frühen deutschen Sozialdemokratie. Humanismus und Aufklärung hatten sich bei der philosophischen Begründung von »Sittlichkeit«, von der die zeitgenössische Debatte eher sprach als von »Moral« oder »Ethik«, von der Religion als alleiniger Bezugsgröße verabschiedet bzw. das Verhältnis von Religion und Moral in einer differenzierteren Weise bestimmt, als das in der vom theologischen Denken geprägten Vormoderne möglich gewesen war. Im deutschsprachigen Raum entfalteten die epochalen Grundbegriffe Immanuel Kants, dessen »kategorischer Imperativ« als oberstes moralisches Begründungsprinzip das eigenverantwortliche Individuum und nicht das einem kirchlich definierten Normenkanon unterworfene Kollektiv als Ansatz- und Zielpunkt sah, die größte Breitenwirksamkeit in der bürgerlichen Kultur.222 218 Bebet, Bauernkrieg, S.10; Guyot/Lacroix, S.53f.; Kautsky, Entstehung, S.533-37; Beniner Volksblau 11.9.1888 Nr.213 S.1f.. 219 Vgl. zum »zivilisatorischen Programm«, auf das sich die christlichen Missionsgesellschaften in der deutschen Kolonialepoche beriefen: Prüfer, Kolonialmission, S.277-79. 220 Sozialdemokrat 3.2.1889 Nr.5 S.3. 221 Kölner Freie Presse 27.1.1877 Nr.5 S.l. 222 Im Grunde kreiste die gesamte ethische Diskussion vom Rationalismus des 17. Jahrhun-

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Das Auseinanderfallen von Religion und Sittlichkeit in der philosophischen Diskussion, das bei Kant weder anfing noch aufhörte, mag hier als Symptom für eine »Säkularisierung des europäischen Geistes«223 stehen, die weit über das Publikum hinausging, dem philosophische Diskurse unmittelbar zugänglich waren. Wenn die sozialdemokratische Publizistik immer wieder auf die vermeintliche »Unsittlichkeit« des Christentums hinwies, geschah das in der Tradition der herrschaftskritischen Pfaffen- und Kirchenschelte, aber ebenso vor dem Hintergrund des Auseinanderfallens von Religion und Moral im »Diskurs der Moderne«. Vor diesem Hintergrund trug auch die Empörung über die (mutmaßlichen) sittlichen Verirrungen der Geistlichkeit in Geschichte und Gegenwart ein spezifisches Signum der Modernität, ebenso wie die Polemiken gegen die Pflichtlektüre »unmoralischer« alttestamentlicher Erzählungen im schulischen Religionsunterricht, gegen eine »wollüstige« Christusmystik in den Kirchengesangbüchern oder gegen Beichtspiegel für Kinder als ein »moralisches Gift«. Diese Angriffe wurden häufig gegen konkrete Personen oder Einrichtungen gefuhrt und förderten kaum das Klima zwischen Kirchen und Arbeiterparteien.224 Einen »Verfall der Moral«, der sich in besonderer Weise in einer Mehrung von Verbrechen niederschlage, hatten die christlichen Kirchen durch die Jahrhunderte hindurch stets als Anzeichen für »Glaubenskrisen« interpretiert; von entsprechenden Ermahnungen war ihre Verkündigung noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt.225 Seit den 1870er Jahren wurde nun aber im Deutschen Reich eine offizielle »Moralstatistik« gefuhrt, die sanktioniertes sittliches Fehlverhalten, z.B. Suizidfälle, auch auf soziale Bedingungen zurückführte.226 Diese »Enttheologisierung« und »Soziologisierung« des ethischen Denkens vollzog die sozialdemokratische Agitation einerseits nach, indem sie als Ursache der »vorhandenen Unmoralität«, der »Nachtseite(n) der bürgerlichen Gesellschaft«, auf gesellschaftliche Faktoren, auf »Bildungs-, Ernährungsund Besitzverhältnisse« verwies.227 Ebenso gerne arbeitete die Parteiagitation aber mit Statistik und Zahlenmaterial, um - »wissenschaftlich« und daher unanfechtbar - einen direkten Zusammenhang zwischen hoher regionaler Kirchderts bis zu Kant um das Problem des Verhältnisses von Religion und Moral; vgl. hierzu Rohls·, S.200-304. 223 Chadwkk (Titel). Zur Trennung von Religion und Moral in der »säkularisierten Gesellschaft« des 19. Jahrhunderts s. ebd., S.229-41 (Kap.9: »The moral nature of man«). 224 Zu den Beispielen: Becker, Daniel, S.9 (alttestamentliche Geschichten); Social-Demokrat 24.2.1869 Nr.24 S.2 (Gesangbuch); Sozialdemokrat 1.9.1886 Nr.36 S.3f. (Beichtspiegel). 225 Zur »Auflösung der ›christhch-sittlichen Lebensordnung‹« in der Wahrnehmung von Geistlichen 1850-1910vgl. die Lokalstudie von Marbach,S.131-72. Die Klagen über die »Entsittlichung«, die sich nach Meinung der Pfarrer besonders in Sonntagsentheiligung, Genusssucht und Unkeuschheit niederschlug, versteht Marbach primär als kirchliches Versagen angesichts des soziokulturellen Wandels der Industrialisierung, den die Geistlichen nicht akzeptieren wollten. 226 Niooerdev. Geschichte 1866-1918 Bd.l. S.512. 227 Braunschweiser Volksfreund 24.6.1874 Nr. 145 S.2.

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lichkeit und niedrigem Sittlichkeitsniveau herzustellen 228 und an den statistischen Rückgang von Taufe, kirchlicher Trauung und Abendmahlsteilnahme die Erwartung einer Minderung der »Sittenverrohung« zu knüpfen. 229 Damit entstand der zweifache Topos vom »sittlich reinen Ungläubigen« und vom »sittlich verrohten Frommen«, den der »Braunschweiger Volksfreund« 1876 im Stil einer Kalender-Betrachtung ausführte und sozialkritisch unterlegte: »Der kirchliche Glauben ist nicht mit der Sittlichkeit zu vereinigen. Das wird der Leser im Leben bereits erfahren haben. Da gibt es manchen Mann, welcher, was die Kirche anbetrifft, der wahre Heide ist, aber jeder Ehrenmann reicht ihm gern die Hand, denn er weiß, daß dieser ›Heide‹ immer das Gute will, daß er ein guter Familienvater ist, daß er hilft, wo er helfen kann, daß er seinem Nächsten gern mit Rath und That beispringt, daß auf ihn Verlaß ist, wenn man einmal in Noth kommt. Dagegen kennt jeder Leser auch wohl fromme Männer. Sie gehen alle Sonntag in die Kirche, schimpfen auf die Verderbniß dieser Welt, verlästern und verketzern Alle, welche ihnen nicht zu Willen leben, und wissen dabei so schafsfromm die Augen zu verdrehen, und sind so süß und sanft, kurz die reinen Lämmerschwänzchen. Und so Mancher von diesen frommen Menschen, wie weiß er zu spekuliren! Wehe, wenn ihm der Nächste in die Klauen fällt.«230 Zum Verhältnis der gelebten (Un-)Sittlichkeit von Gläubigen und Kirche zur christlichen Moral in ihrem Ursprung bzw. ihrem Lehrgehalt begegneten der parteinahen Leser- und Hörerschaft zwei Diskursvarianten. Der ersten Variante zufolge verfugte das Christentum als Religion der Nächstenliebe über eine »erhabene« Moral; die Christen jedoch verstießen ohne Unterlass gegen die Grundsätze ihres Glaubens, eine Denkfigur, welche die Vorbildhaftigkeit der christlichen Ethik zum Teil durchaus bestehen ließ, die sich zum Teil aber auch mit der Forderung verband, die Moral nun auf eine nichtreligiöse Grundlage zu stellen.231 Die zweite Variante, die u.a. von August Bebel in seinen religionskritischen Schriften immer wieder vorgebracht wurde, bestritt den hohen Wert der christlichen Moral, indem sie die grundlegenden Moralvorstellungen als allen Kulturvölkern gemeinsam ansah und diese Universalität mit naturrechtlichen Gegebenheiten, Anleihen der historischen Religionssysteme untereinander oder unter Verweis auf vergleichbare Gesellschaftszustände erklärte.232 In einer weiteren Zuspitzung konnten Religion und Sittlichkeit aber auch geradehin als Gegensatz aufgefasst werden, ein Schritt, der angesichts der zahl228 Neuer Social-Demokrat 187.1875 Nr.84 S.3; Berliner Volksblatt 2.10.1885 Nr.230 S.l. 229 Volksstaat 29.9.1876 Nr.l14 S.3. 230 Braunschweiger Volksfreund 23.9.1876 Nr.233 S.1. 231 »Wie erhaben erscheint die christliche Ethik in der Theorie und wie wenig bildet sie die Richtschnur für das Leben bei den christlichen Völkern! Man sieht, daß die wirkliche Moral der Gesellschaft eine ganz andere Basis haben muß, als die vermeintliche religiöse.« Neue Zeit 6/1888 S.421. 232 August Bebel im Votksstaat 24.2.1874 Nr.24 S.3; Bebel, Kulturperiode, S.7f..

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losen negativen Assoziationen der Parteipublizistik zur Lebenspraxis von Gläubigen nicht so ferne zu liegen schien und zwischen den Zeilen viele Äußerungen bestimmte. 1865/66 hatte sich in der »internationalen ArbeiterAssociation« (IAA) eine überscharfe Antireligiosität radikaldemokratischer Provenienz, die Johann Philipp Becker und die »deutsche Abtheilung« vertraten, allerdings nicht durchsetzen können. In einer von ihm redigierten »Denkschrift« der deutschen Abteilung der IAA vom September 1865 hatte Becker in einem abschließenden elften Punkt gefragt: »Unterscheidet sich die Moral von der Religion? Da das Wesen der Religion über das Erforschte und Erkannte hinausgeht, das der Moral dagegen mit der Wirklichkeit stets in innigem Zusammenhange steht, allgemeiner Wohlfahrt wegen, die Menschenveredelung zum einzigen Zwecke haben muß, so unterscheidet sich die Religion von der Moral in der Theorie, wie etwa das Phantasiegebilde von der Erkenntniß, der Irrthum von der Wahrheit, und in der Praktik, wie etwa Steine von Brod, die Klugheit von der Weisheit, wo die erstere ohne die letztere immer eine Gemeinheit, die Grundlage zu Gewissenspolizeianstalten und Ursache allen Uebels ist.«233 Der sozialdemokratische Diskurs reflektierte das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit selten in derartig scharfen Dichotomien. Die Einbindung in das »Entwicklungs«-Paradigma führte zu verschiedenen Annahmen: von einem metahistorischen sittlichen Prinzip, das in der Geschichte religiöse und schließlich arreligiöse Moralvorstellungen hervorbringe, von einem Fortschritt der ethischen Ideen, die mit der Zeit ihr religiöser Gewand abstreiften, oder, traditioneller, von der Sittlichkeit als der »Tochter« der Religion, die sich heute aber von den religiösen Vorstellungswelten emanzipiert habe.234 Damit zeitigte die Debatte gelegentlich auch ein Zerfließen der begrifflichen Trennschärfe. »Das Religiöse oder Sittliche, wie man es auch nennen mag [,..]«235: Solche in zeitgenössischen »freien« Formen des Christentums üblichen Redewendungen finden sich auch im sozialdemokratischen Diskurs. Dem widerspricht nicht, daß ein durchgängiges Zentralmotiv des Diskurses gerade die Bestreitungjener Identität von christlicher Religion und Moral war, von der kirchlich Konservative und kirchlich Liberale gleichermaßen ausgingen (mit dem Unterschied, daß im liberalen, auch Randkirchliche erfassenden Protestantismus sich die Religion tendenziell in der Moral - unter Hintanstellung von Glaubensdogmen - erschöpfte). August Bebel brachte die Bestreitung der Identität von Religion und Moral am 18. April 1877 in einer Rede vor dem Reichstag auf den Punkt: 233 Vorbote 8/1866 S. 122. 234 Dietzgen, Ein Cyclus von Kanzelreden. 3., S.2;Vorwärts 62.1878 Nr.15S 1f.;Braunchweiger Volksfreund 29.9.71 Nr.21 S.1f. (Leitartikel »Religion und Sittlichkeit«). 235 Braunschweiger Volksfreund 22.1.1873 Nr. 17 S .2.

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»[...] Wir stellen unsere Forderungen im Namen der Humanität, im Namen der Menschlichkeit, im Gegensatze zur Forderung im Namen der christlichen Moral, wie sie hier vertreten worden ist. Meine Herren, eine eigentlich christlichreligiöse Moral kenne ich überhaupt nicht. Ich gehe weiter und sage, daß es überhaupt falsch ist, wenn man die Moralgrundsätze und Sittlichkeitsgesetze nur mit einer bestimmten Religion zusammenfallend erachtet [...]. Wäre das richtig, so würden Millionen Menschen, die gegenwärtig in Deutschland leben und [...] einen wesentlichen Antheil an unserer Kulturentwicklung nehmen, wenn dies auch von manchen Richtungen in diesem Hause nicht gerne zugegeben werden dürfte, als der Moral und der Sittlichkeit baar angesehen werden müssen. Ich verweise hier auf das Judenthum [...]. Man würde auch Millionen derer davon ausschließen, die auf einem ganz religionslosen, auf einem atheistisch-materialistischen Standpunkte stehen, auf welchem ich und meine Parteifreunde stehen.«236 Bebel sprach mit seinen scheinbar so selbstbewussten Worten doch aus der Defensive heraus. Dem Vorwurf der »Unsittlichkeit«, der Beförderung von sittlicher Verrohung und Sittenverfall sah sich die junge Sozialdemokratie auf allen Ebenen der politisch-gesellschaftlichen Debatte vom Reichstag bis hin zu den kirchlichen Sonntagspredigten ausgesetzt. Kirchliche und konservative, aber auch liberale Kritiker stellten weniger die ökonomischen Prinzipien des Sozialismus als »[...] gerade die ethischen Fragen in den Vordergrund.«237 Die U n sittlichkeit der Sozialdemokratie offenbarte sich der antisozialdemokratischen Agitation zufolge in den Anschauungen der sozialistischen Arbeiterbewegung zu Nation, Monarchie und Heer, zum Eigentum, zur Familie und zur Ehe, die die Arbeiterpartei angeblich zugunsten eines ungebändigten Libertinismus aufgeben wollte, insgesamt aber in ihrem areligiösen Materialismus, der jedes sittliche Ideal eo ipso infragestelle. Diese in den Kontext deutlicher Ausgrenzungsstrategien einzubettenden Polemiken machten der Sozialdemokratie wohl mehr zu schaffen, als sie zumeist zuzugeben bereit war. Eingeständnisse wie das folgende, das einen »Volksstaat«-Artikel »Die Sittlichkeit des Sozialismus« aus dem Jahr 1876 einleitete, sind eher selten anzutreffen: »Unter dem Hagel von Anklagen, mit welchen der Sozialismus von den Leuten, die ihn nicht kennen oder nicht kennen wollen, überschüttet wird, ist die Beschuldigung der Unsittlichkeit eine der meistwiederholten und nicht am leichtesten zu widerlegenden.« 238 Eine Widerlegung dieser feindbildprägenden Angriffe fiel der Partei vielleicht auch deshalb schwer, weil sie selbst ja ebenfalls die »herrschende sittliche Fäulniß« 239 beklagte, sich der Topos von der »sittlichen Fäulniß« aber 236 Stenographische Berichte 1877,S.571. 237 Hölscher, Weltgericht, S.404; zum folgenden mit Quellenbelegen ebd., S.403-06; Roller, S.91-99. 238 Volksstaat 5.5.1876 Nr.52S.l. 239 Ehd. 17.12 187S Nr 146 S 2

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mindestens ebensogut in eine antimoderne, fortschrittskritische Diktion fügte wie in eine Diktion der Moderne und des Fortschritts. Daher versuchte die sozialdemokratische Publizistik eine doppelte »Beweisführung«. Erstens galt es, immer wieder die »Sittenverderbniß der herrschenden Klassen«, d.h. die moralische »Minderwertigkeit« von Bourgeoisie sowie Gläubigen, Geistlichen, Kirche, Christentum und »Religion« zu belegen. Aus dieser Notwendigkeit heraus sind auch die Passagen in Bebeis »Die Frau in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (1883) zu verstehen, die sich kritisch mit der Frauenfeindlichkeit des Christentums auseinandersetzten240: Ehe und Familie stellten in der Gegenwart nicht die Sozialdemokratie, sondern die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft und die geistige Tradition der Kirche mit ihrer Abwertung des weiblichen Geschlechts infrage.241 Zweitens aber musste die »sittliche Überlegenheit« des Sozialismus und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung verkündet und begründet werden. Die Hebung der Sittlichkeit sei heute nicht mehr Aufgabe der Kirche, sondern einer laizistischen Bildung, für die der Staat einzustehen habe: In der Einforderung einer solchen »Moral der Natur« und »empirischen Ethik«242 waren sich die Diskurse der Arbeiterpartei(en) mit dem bürgerlich-liberalen Antiklerikalismus einig. Wenn Wilhelm Liebknecht jedoch die Sozialdemokratie als »an sittlicher Kraft den bürgerlichen Parteien überlegen«243 rühmte, grenzte er sich in mehrfacher Hinsicht von einer »herrschenden« bürgerlichen Kultur ab. Die Bourgeoisie habe aus rein machtpolitischen Erwägungen ihre religionskritischen Forderungen nach einer Befreiung der gesellschaftlichen Moral von der Religion über Bord geworfen; und die herrschenden sozioökonomischen Verhältnisse, welche die »bürgerlichen Parteien« zu verantworten hätten, seien von Grund auf unsittlich. Diese Motive beförderten die Verknüpfung von Religions- und Sozialkritik im sozialdemokratischen Sittlichkeitsdiskurs. »Sittlichkeit des Sozialismus«, »sozialistische Sitte« und »Moral der Sozialdemokratie« wurden insbesondere von Vertretern eines frühen »ethischen Sozialismus« reklamiert, die zwar in der Partei keine geschlossene Gruppenstruktur besaßen, teilweise aber informell miteinander in Verbindung standen und sich in ihren Veröffentlichungen und Reden durchaus aufeinander bezogen. Albert Dulk, Adolf Douai, (mit Einschränkungen) Joseph Dietzgen, Carl Boruttau, 240 Bebet, Verhangenheit, S.19-25 u.ö. Vgl. aber schon im von Bebel übersetzten Werk von Guyot/Lacroix, S.71. Behandlung dieser Frage auch in der Tagespresse, s. z.B. im Leitartikel »Die Ehe und die Sozialdemokraten« in Braunschweiger Volksfreund 18.11.1876 Nr.270 S.1f.. 241 Diese doppelte Stoßrichtung wird infolge der Vernachlässigung des kirchenkritischen Arguments in der Literatur nicht immer deutlich; s. z.B. den entsprechenden Abschnitt im ansonsten wertvollen Überblick von Niggemann, S.237-47. 242 Box, Ethik (Gegenüberstellung »empirische Ethik«/«theologische Ethik«); Fehleisen (Gegenüberstellung »Moral der Natur« / »religiöse Moral«). 243 In seiner Verteidigungsrede beim Leipziger Hochverratsprozeß 1872, hier zitiert nach Ritter/Tenfelde, S.793f..

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Jakob Stern244 und Bruno Geiser, auch Friedrich Albert Lange (1828-1875), Karl Höchberg (1853-1885) und Max Kayser können diesem frühen ethischen Sozialismus zugerechnet werden. Sie verstanden den Sozialismus auch und gerade als »Sittlichkeit« und dessen politische, ökonomische und soziale Forderungen als »sittliche Forderungen«. Ohne die entsprechende »sittliche(n) Gesinnung« könne »[...] man kein ächter Sozialdemokrat sein [...].«245 In der Begrifflichkeit eher konventionell - mit der antibürgerlichen Zertrümmerung überlieferter Moralbegriffe, wie sie das »Junge Deutschland« gefordert hatte und wie sie später in anderer Weise Friedrich Nietzsche vollzog, verband diese »ethischen Sozialisten« kaum etwas -, zielte diese »neue Sittlichkeit« auf die untrennbar verbundene religiöse und politisch-ökonomische Befreiung, wie auch in den von Douai 1875 aufgestellten »sittlichen und freiheitlichen Grundsätzen« der Sozialdemokratie deutlich wird: »Es ist unrecht, das höchste unterscheidende Kennzeichen des Menschen vom Thiere, sein Aufstreben zur vollen Menschlichkeit und Freiheit, gerade an den bedürftigsten und unterdrückten Klassen als Aufruhr, Unsittlichkeit und Bestialität zu verurtheilen und zu unterdrücken. Es ist ein scheußliches Unrecht, die Menschennatur als ursprünglich verderbt, erbsündig, ohne Offenbarung ewig verloren, ohne Bevormundung der zufällig Mächtigen zur Selbstbestimmung und vernünftigen Weltordnung unfähig, und darauf hin jede eben bestehende Unterdrückung für gerechtfertigt zu erklären.« 246

Der Sozialismus dieser Parteiintellektuellen - Dulk war promovierter Apotheker, Douai Oberlehrer mit Studium der Theologie und Philosophie, Boruttau promovierter Arzt, Stern ehemaliger Rabbiner, Dietzgen dagegen philosophischer Autodidakt - stieß mit Ausnahme Dietzgens auf den Widerstand der höchsten Parteiebene, d.h. genauer jenes Parteiflügels, den Vernon Lidtke als die »Radikalen« kennzeichnet. Eine religionskritisch konnotierte, zukünftige »sozialdemokratische Sittlichkeit« aber - und insofern sind diese frühen »ethischen Sozialisten« nicht als »Randphänomen« abzutun - zählte zu den großen Visionen der Parteiagitation, eine Vision, der auch Wilhelm Liebknecht zeitlebens treu blieb.247 Wenn auch die (häufig in der Freidenkerbewegung organi244 Jacob Stern (1843-1911), Rabbiner und Schriftsteller (u.a. philosophische und religionstheoretische Schriften). Als Rabbiner im Schwarzwald und auf der Schwäbischen Alb Konflikte mit dem orthodoxen und dem Reformjudentum. 1880 Amtssuspension. Übersiedlung nach Stuttgart. Lebensunterhalt durch literarische Gelegenheitsarbeiten. Seit den späten 1870ern Engagement bei den Freidenkern und in der Sozialdemokratie Stuttgarts. In beiden Bewegungen übernimmt Stern nach dem Tod Albert Dulks die führende Rolle (als Literat, Redner sowie als Landtags- und Reichstagskandidat). Vgl. Haasis. 245 Volksstaat 22.9.1875 Nr. 109 S.l (Douai's »Schlußerklärung gegen den Bekennerdes Theismus«). 246 Ebd. 9.7.1875 Beilage zu Nr.77 S.l (in der »Antwort an den Bekenner des Atheismus«). Vgl. Boruttau, Kommunismus; Dietzgen, Moral; Dulk, Religion. 247 Ritter/Tenfelde, S.793f.

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sierten) »bekennenden« ethischen Sozialisten eine kleine Minderheit in der Partei blieben, war der Diskurs der frühen deutschen Sozialdemokratie insgesamt doch mindestens ebenso »ethisch« wie »ökonomisch« bestimmt. Daher genoss auch die religiöse Frage im Parteimilieu einen so hohen Stellenwert. Der tendenziell parteiflügelübergreifende sozialdemokratische Diskurs über »Religion und Moderne« mit seinen Teildiskursen zum Gegensatz von Glaube und Wissen, zur Bibel- und Dogmenkritik, zur Entstehung und Entwicklung von Religionen und zum Verhältnis von Religion und Kultur sowie von Religion und Moral partizipierte auf der einen Seite in hohem Maße an einer Art »Leitdiskurs der bürgerlichen Gesellschaft«, der traditionelle Religion, Religiosität und Kirchlichkeit als im Widerspruch zum »Projekt der Moderne« stehend begriff. »Fortschritt« und »Entwicklung« als treibende Begriffe dieses sozialdemokratischen Diskurses standen im Horizont eines bürgerlichen Begriffs der Moderne. Warum aber trug auf der anderen Seite der kollektive kulturelle Identitäten entwickelnde und stabilisierende »Religion und Moderne«-Diskurs nicht zur »positiven Integration« der Sozialdemokratie in die bürgerliche Gesellschaft, sondern zu Ausgrenzung und »negativer Integration« bei? Hier ist auf Zuspitzungen zu verweisen, welche die Hegemonialkulturen offenbar nur sehr partiell mitvollzogen. Dabei ist gar nicht nur an die lautstarken Bekenntnisse zum Atheismus zu denken, sondern etwa auch an die Absage gegenüber den zahlreichen Formen »modernisierter Religion«, die einen Ausgleich zwischen Religion und Moderne suchten. Der satirisch-polemisch pointierte Verbalradikalismus z.B. von Krassers Erfolgsgedicht »Anti-Syllabus« diente darüber hinaus der Staatsgewalt als Vorwand zur Verfolgung des verhassten politischen Gegners, zumal wenn dessen radikale Religionskritik herrschafts- bzw. sozialkritisch angereichert erschien. Diese Mischung von Religions- und keineswegs parteilich scharf akzentuierter Sozialkritik reichte - für die Partei und ihre Opponenten ! - schon zur Kennzeichnung als »sozialdemokratisch«. Daneben war der Eindruck der Parteiagitatoren wohl auch nicht falsch, daß Staat und Gesellschaft die bürgerliche Religionskritik akzeptiert, teilweise auch internalisiert hatten, deren Massenverbreitung durch die Sozialdemokratie aber negativ sanktionierten. Das Motiv des »Verrates«, hier des Verrates der »Bourgeoisie« an der Moderne, lässt sich ebenso wie andere parteispezifische Akzentuierungen jedoch nur durch den Blick auf die Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit den Religionsdiskursen der konkurrierenden soziokulturellen Milieus verstehen. Sozialdemokratische Religionskritik wurde besonders da identitätsbildend, wo sie ihren Sitz im politischen Alltag hatte, wie der folgende Teil der Untersuchung verdeutlichen wird.

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1.3 Sozialdemokratische Kritik an den Religionsdiskursen der konkurrierenden soziokulturellen M i l i e u s

1.3.1 Parteien, soziokulturelle M i l i e u s u n d Religionsdiskurse Der sozialdemokratische Religionsdiskurs mit seinen teils systemisch ineinandergreifenden, teils nebeneinander, teils auch gegeneinander stehenden Teildiskursen kann in seine einzelnen Topoi, Denkfiguren und Motive dekonstruiert werden. Dieser Diskurs schwebte jedoch nicht im luftleeren Raum über den Niederungen einerseits des parteipolitischen Tagesgeschäftes, andererseits der lebensweltlichen Alltagspraxis von Wählern und Sympathisanten der sozialistischen Arbeiterpartei(en). Die Anforderung an die letztere(n) bestand nicht in der musealen Aufbewahrung eines zeitlosen »religionskritischen Erbes« aus Aufklärung und transzendenzbefreiter wissenschaftlicher Moderne, sondern in der kollektive Identitäten stiftenden Selbstverortung der Sozialdemokratie als gesellschaftliche Formation in der diskursiven Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Der im Rahmen der Priestertrug-Theorie attackierte Pfarrer beispielsweise verkörperte nicht nur eine antiemanzipative kirchlich-institutionalisierte »Pfaffenherrschaft«. Als »politisches Wesen« zählte dieser Geistliche in sozialdemokratischer Sicht zu den »herrschenden Klassen«, deren Interessen er innerhalb und außerhalb seiner Profession vertrat. Und wenn der Religionsdiskurs der Arbeiterpartei (en) einer areligiösen »sozialistischen Sittlichkeit« das Wort redete, begaben sich die Diskursproduzenten bewusst in den Konflikt mit einer gesellschaftlich-kulturell dominanten Lesart, die auch und gerade durch ihre Vertreter im politischen Feld auf der religiösen Begründung von Moral und Ethik insistierte und der Sozialdemokratie als »religionsfeindlicher« Partei die sittliche Legitimation absprach. Als politische Parteien, die ein maximales Wählerpotenzial innerhalb (und außerhalb) der »Arbeiterschaft« rekrutieren wollten, setzten sich die frühen Arbeiterparteien mit ihren politischen Konkurrenten auseinander. Gerade bei der Wählerwerbung geriet aber nicht nur die parlamentarische Praxis der Konkurrenzparteien, sondern auch der Zusammenhang von »Sozialstruktur, Kultur und politische(m) Verhalten«248 in den sozialdemokratischen Blick. Es war der Politologe Rainer M. Lepsius, der 1966 den Begriff des »Milieus« aufgriff, den Emile Durkheim und andere in die soziologische Debatte eingeführt hatten, der von Lepsius nun aber auf die Ebene der politischen Systemintegration getragen wurde. Er verwandte ihn »[...] als Bezeichnung für soziale Einheiten, die durch eine Koinzidenz mehrerer Strukturdimensionen wie Religion, regionale Tradition, wirtschaftliche Lage, kulturel248 Rohe,S.14.

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le Orientierung, schichtspezifische Zusammensetzung der intermediären Gruppen gebildet werden. Das Milieu ist ein sozio-kulturelles Gebilde, das durch eine spezifische Zuordnung solcher Dimensionen auf einen bestimmten Bevölkerungsteil bestimmt wird.« 249

In der Folge ist der Milieubegriff Lepsius' immer wieder redefiniert und differenziert, aber auch heftig kritisiert worden. Ein für die vorliegende Untersuchung operationalisierbares Konzept kann sich von den folgenden Überlegungen leiten lassen: 1. Der Milieubegriff vermeidet - und darin liegt seine Stärke - eine deterministische Verknüpfung von Sozialstruktur bzw. ökonomischer »Klassenlage« und politisch-ideologischer Option. Er fokussiert stärker als die sozialen die kulturellen Komponenten von Vergemeinschaftung250 (daher auch die Rede von den Milieus als »Gesinnungsgemeinschaften« und von »Moralgrenzen« zwischen den Milieus 251 ). 2. In den meisten mit dem Milieubegriff arbeitenden Untersuchungen wird die Bedeutung der Abgrenzung eines Milieus gegenüber den koexistenten Milieus als konstitutiv für die Bildung dieser soziokulturellen Formationen betont.252 Eine solche Abgrenzung erfolgt 3. zum einen auf der Ebene von Lebensweisen und kultureller Alltagspraxis, zum anderen auf der Ebene von »Deutungskultur(en)«, die den »Weltanschauung(s)«-Charakter der Vergemeinschaftung in Milieus bestimmen.253 4. Die enge Verbindung von »soziokulturellen Milieus« und bestimmten politischen Optionen ist umstritten.254 Im Sinne einer gegebenenfalls zu modifizierenden Arbeitshypothese wird im Folgenden von einem dichten Konnex ausgegangen, da der hier zugrundegelegte Milieubegriff von Lepsius ganz auf dieser Konnektierung aufliegt und alternative Modelle nicht unbedingt überzeugen. Der Milieuansatz erscheint auch dann konsistent, wenn man ihn aus dem bei Lepsius unbestritten zentralen - historisch-genetischen Argument herauslöst, demzufolge die »Versäulung« des Parteiensystems in stark voneinander abgegrenzte Milieus während des deutschen Kaiserreiches von 1871 eine gesamtgesellschaftliche Integration bis in die Weimarer Republik hinein verhindert und die Frage der Demokratisierung im politisch-gesellschaftlichen Dis-

249 Lepsius, S.68. 250 Ebd,; Rohe, S.13, 19f.; Vester, S.71 (»Aus einer bestimmten »ökonomischen Klassenlage‹ ergibt sich noch nicht zwingend, welchem ›lebensweltlichen Klassenzusammenhang‹ ein Mensch sich zugesellt, und auch die Menschen des gleichen Klassenmilieus können sich ganz verschiedenen politischen und ideologischen Lagern zuordnen.«), S.72-74. 251 Lepsius, S.62, 77 u.ö. 252 Ebd., S.77; Vester, S.76f. Rohe sieht S,21f den Faktor »Abgrenzung« im Zentrum nicht des Milieubegriffes, sondern eines eigenen Konzepts von »politischen Lagern«. 253 Rohe, S.14-19, Vester, S.76f., 130-132. 254 Lepsius, bes. S.67 (hier etwas überspitzt die Formulierung: »Die Parteien waren die politischen Aktionsausschüsse dieser in sich höchst komplex strukturierten sozialmoralischen Milieus, [...].«) und Ritter, Parteien, S.50 betonen die Verknüpfung; vgl. dagegen Vester, S.77.

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kurs an eine untergeordnete Stelle verdrängt habe.255 Wohl zu Recht ist dieses Argument kritisch hinterfragt worden und gerade auch auf die gesellschaftliche Integrationskraft von Milieus hingewiesen worden. 256 Zumindest aber wirft Lepsius' Ansatz die nicht unwichtige Frage nach der »Modernität« von Milieus als soziokulturellen Formationen auf Für Lepsius bestimmen »vorpolitische«, »vorindustrielle«, regionale und auch konfessionelle Prägungen die Milieubildung. 257 Daß die Milieus sich um solche, den gesellschaftlichen Wandel von Urbanisierung, Industrialisierung und Säkularisierung kaum widerspiegelnden Traditionsbestände und nicht trotz ihrer parteipolitischen Anbindung - um moderne politische Programme herum konstituierten, macht für ihn die Problematik der sich nach 1871 zunehmend schließenden Milieus aus. Allerdings scheint hier ein Konzept von »Partei« zugrundezuliegen, das den Stellenwert, den ein politisches Programm für Parteien idealiter haben sollte bzw. empirisch haben konnte, doch überbewertet.258 Zudem wird »Milieu« bei Lepsius zu statisch-stagnativ verstanden, werden moderne Momente wie etwa die Organisations- und Medienpolitik der Milieus vernachlässigt, wird ein aktiver »Wille zum Milieu« 259 unterschätzt. Die Milieus, die im Deutschen Kaiserreich nach 1871 ihre endgültige Gestalt annahmen, in ihren Wurzeln aber wesentlich weiter zurückreichten 260 , waren nicht nur Produkte vorpolitischer Prägungen, sondern wurden auch durch entsprechende Angebote von »Milieuspezialisten« im Blick auf Lebensweise und Deutungskultur konstruiert. Gegen eine oft vorgebrachte Kritik sei hingegen an dem aus dem engen Konnex von Partei und Milieu resultierenden Lepsius-Schema von vier sich stark voneinander abgrenzenden großen Milieus - konservatives, liberales, katholisches und sozialdemokratisches Milieu - festgehalten. Natürlich wird man innerhalb dieser Formationen Binnendifferenzierungen vornehmen können, 255 Lepsius, bes. S.68, 76, 78. 256 Vgl. Walter, S.492f. 257 Lepsius, S.61,73,74,76. 258 Vgl. Rohe, S.27: Entscheidend für die Wählerschaft sind nicht Parteiprogramme, sondern »stets Politikinhalte mit einer kulturellen Dimension«, die zeigen, wofür die Partei grundsätzlich steht. 259 Blaschke/Kuhlemann, Geschichte, S.55. Zur (partiellen) Modernität von Milieus vgl. ebd., S.45-47. 260 Für das katholische Milieu wird die Bedeutung der Jahre 1848-1870 als Milieuformationsphase in der grundlegenden Studie von Sperber, Catholicism, anschaulich vorgeführt. Vgl. Weichlein, bes. S. 196-207; Weichlein datiert die Genese des katholischen Milieus ebenfalls eindeutig auf die Zeit vor dem Kulturkampf. Mögen auch die Milieuschließungsprozesse erst im Kaiserreich ganz eindeutig nachweisbar sein, so ist generell doch schon das Jahrzehnt 1860-1870 als Phase anzusprechen, in der die vier großen Milieus der Folgezeit deutliche Konturen gewannen. Anders Lösche/Walter, die aufgrund mehrerer empirischer Studien eines 1996-1999 durchgeführten Forschungsprojektes davon sprechen, daß es vor 1918 unter Katholiken, Konservativen und Liberalen allenfalls »sehr partiell Milieustrukturen« (ebd., S.476) gegeben habe. Der hier zugrundegelegte Milieubegriffist allerdings auch besonders eng gefasst.

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und sicher sind die Milieugrenzen nicht so trennungsscharf, wie Lepsius unterstellt. Arbeitshypothetisch sei zunächst jedoch von diesen vier Milieus ausgegangen, um anschließend aufgrund der Analyse gegebenenfalls Korrekturen an der engen Verbindung von Partei, Milieu und Deutungskultur vornehmen zu können.261 Jüngst unternommene Versuche, den Milieubegriff einseitig konfessionell festzuschreiben oder in (über)komplexe Gefbge von »Makro-«, »Meso-« und »Mikromilieus« aufzulösen, sind entweder empirisch nicht überzeugend oder forschungspraktisch nicht sinnvoll operationalisierbar.262 Andere, zum Teil schon genannte Kritiken am Lepsius-Konzept263 können berücksichtigt wer261 In seiner Untersuchung über »Wahlen und Wähiertraditionen in Deutschland« (1992) geht Karl Rohe auch von der Notwendigkeit aus, das Verhältnis von Parteien und Wählerschaften begrifflich zu fassen; er bevorzugt in diesem Zusammenhang jedoch gegenüber dem (von ihm ansonsten geschätzten) Milieu- den Lagerbegriff(s. dazu bes. Rohe, S.21f.). Allerdings scheint mir Rohes LagerbegrifTdurchaus mit einem weiter gefassten MilieubegrifT in Übereinstimmung zu stehen, der Milieubegriff aber das wesentliche Element der kulturellen Vergemeinschaftung stärker zum Ausdruck zu bringen. Rohe geht für das Kaiserreich von einem »Dreilagersystem« aus; neben dem katholischen und dem sozialistischen Lager hätte sich ein »nationales Lager« aus Liberalen und Konservativen formiert (ebd., S.64—69 u.Ö.). Dieses Konzept wird zu prüfen sein. Nicht überzeugend dagegen Mommsen, Ringen, S.701-13, der vier »Kulturmilieus« im Kaiserreich unterscheidet: »das aristokratisch-höfische, das bürgerliche [protestantische und dominante], das kleinbürgerlich-katholische und das sozialdemokratische Milieu« (ebd., S.702). Soziale Schichtung, kulturelle Prägung und politische Option sind hier zu schematisch-einlinig verknüpft. Vgl. auch den Forschungsüberblick zur »Christentumsgeschichte [des 19. Jahrhunderts] als Geschichte von Milieus und Mentalitäten im religiös-kirchlichen Vereins- und Parteiwesen« in Bester, Kirche, S.86-98. 262 Blaschke/Kuhlemann, Geschichte, etablieren ein Konzept »religiöser Milieus«; d.h. sie nehmen eine Sozialstrukturierung der Gesellschaft durch Milieus an, in denen »der Religion eine dominierende Geltungsmacht« zukommt (ebd., S.53, vgl. die Definition von »religiösem Milieu« ebd., S.53f.). Von diesem Ansatz aus unterscheiden sie katholische(s) Milieu(s), protestantische(s) Milieu(s) und »Religion ohne Milieu« (ebd., S.43). Damit gerät jedoch m.E. aus dem Blick, daß die »Geltungsmacht« von Religion im trotz aller Binnendifferenzierung doch regional und sozialstrukturell übergreifenden »katholischen Milieu« von einer ganz anderen Qualität war als in einem (hypothetischen) umfassenden »protestantischen Milieu« (zu »Protestantismus und Milieu« vgl. ebd., S.35-41). Von »Positiv-orthodoxe(n)« und »Moderne(n)« als von Angehörigen protestantischer »Teilmilieus« zu sprechen, birgt m.E. die Gefahr, die konfessionelle Gemeinsamkeit zuungunsten kultureller und politisch-ideologischer Gegensätze zu überschätzen. Die vorliegende Studie verfolgt stattdessen den Ansatz, Charakter, Funktion und Stellenwert religiös-konfessioneller Mentalitäten und Ideologien für kollektive Identitäten in soziokulturellen Milieus zu analysieren. Dann müssen Phänomene »nationaler Religion« auch nicht diffus als »Religion ohne Milieu« kategorisiert werden (ebd., S.43f), sondern können den zum Teil religiös-konfessionell heterogenen soziokulturellen Milieus zugeordnet werden. Die ebenfalls von Blaschke/Kuhlemann, Geschichte vorgenommene Unterscheidung von »Mikro-«, »Meso-« und »Makromilieus« (zu einer Definition vgl. ebd., S.47f.) erscheint sinnvoll, sofern sie den Blick auf Binnendifferenzierungen innerhalb der großen, »leitenden« Milieus lenkt; wenn aber Spannungen »zwischen Katholizismus und Protestantismus, Arbeitern und Bürgern, ländlicher und urbaner Lebenswelt« allesamt als »Konflikte zwischen den Milieus« aufgefasst werden (ebd., S.52), verliert m.E. der Milieubegriff seine analytische Schärfe im Ubiquitären. 263 S. dazu zusammenfassend Ritter, Parteien, S.49f, 98f, der die Kritik von James Sheehan, David Blackbourn, Geoff Eley und Wilfried Loth reflektiert; vgl. auch Rohe, S.9, 193.

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den, ohne dieses Konzept grundsätzlich infragezustellen. Neben Statik und Stagnation sind dynamische Momente der Milieukonstituierung und -reproduktion zu berücksichtigen, ebenso neben der Abgrenzung der Milieus und der Milieuangehörigen voneinander Milieuüberschreitungen, Koalitionen zwischen Milieus, gemeinsame Sozialisationsinstanzen (Schule, Militärdienst, Kirche) und (allerdings stets problematische 264 ) Mehrfachloyalitäten. Milieus verhinderten zudem nicht nur, sondern ermöglichten auch gesellschaftliche Integration (z.B. durch die Förderung der konstruktiven Teilnahme der Milieuangehörigen an den politischen Diskursen der Gesellschaft). Relativierend ist gegenüber Lepsius zudem anzumerken, daß kaum immer von einer völligen Milieuidentifikation der Milieuangehörigen auszugehen ist und die einigenden Momente im Milieu von Faktoren der Heterogenität überlagert sein konnten, so daß Spannungen innerhalb der Milieus nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Abschließend sei zur kritischen Differenzierung des Milieukonzepts angemerkt, daß es sich bei den Parteien sicherlich nicht um einen »naturwüchsig(en)« Ausdruck von Milieus handelte265 und insofern parteispezifische Fragestellungen wie zum Beispiel das Verhältnis der Parteiorganisation zur Basis der Mitglieder und der (potenziellen) Wähler nicht im MilieubegrifF aufgehen. Die ein Milieu formenden sozialen und kulturellen Komponenten können auch mit einem analytischen Paradigma Max Webers gefasst werden, demzufolge Beziehungshandeln auf den drei Ebenen der »Vergemeinschaftung«, der »Vergesellschaftung« und des »Kampfes« realisiert werden kann.266 Mit »Vergemeinschaftung« kann in Anlehnung an Weber die lebensweltliche Ebene der privaten Kontakte und Bindungen, der Lebensweisen und Lebensstile, mit »Vergesellschaftung« die Zugehörigkeit zu bestimmten Erwerbs- und Einkommensgruppen, mit »Kampf« die Ebene der identitätsbildenden Ab- und Ausgrenzungen durch die einer Gruppe gemeinsamen Deutungsmuster und Ideologien bezeichnet werden. Im empirischen Befund stehen die drei Ebenen in einem komplexen Interdependenzverhältnis zueinander. Das wird auch am Stellenwert und an der Funktion der Diskurse im soziokulturellen Milieu deutlich: Als zentrales Element der Deutungskulturen formieren und reproduzieren Diskurse das soziokulturelle Milieu auf der Weberschen Ebene des »Kampfes«, unabhängig davon, ob es sich bei diesen Diskursen nun um »vorpolitische Prägungen« oder um aktuelle Konstruktionen des Milieus handelt. 264 Das von Ritter, Parteien, S.50, angeführte (hypothetische) Beispiel für Mehrfachloyalitäten deutet m.E. eher auf prekäre, konflikthaltige Loyalitätslagen hin: »Ein Bergarbeiter etwa konnte gleichzeitig Wähler der Sozialdemokratie, kirchentreuer Katholik und christlicher Gewerkschafter sowie Mitglied eines nationalen Kriegervereins sein.« 265 So auch die kritische Formulierung bei Rohe, S.26. 266 Weber, Wirtschaft, S.20-25 u.ö. Für ein theoretisch fundiertes Milieukonzept fruchtbar gemacht wurde Webers Ansatz auch von Vester, bes. S.71-78, 130-33.

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Nicht selten reflektieren die für das jeweilige Milieu charakteristischen Diskurse jedoch auch Erfahrungen der Milieuangehörigen auf der Ebene ihrer sozioökonomischen »Vergesellschaftung«.267 Und ebenso reflektieren und beeinflussen sie Mentalitäten und Habitus auf der lebensweltlichen Ebene der »Vergemeinschaftung«.268 In der Bestimmung des Verhältnisses verschiedener soziokultureller Milieus zueinander eröffnen Übereinstimmungen auf der Diskursebene den Milieus auf der Ebene der politischen Praxis die Möglichkeit einer punktuellen Zusammenarbeit bis hin zur Bildung von »Koalitionen«. Die Realisierung dieser Möglichkeiten hängt von verschiedenen politischen wie außerpolitischen Faktoren ab, wobei jedoch die Tendenz der Milieus zur gegenseitigen Abgrenzung in Rechnung zu stellen ist. Diese Tendenz zur Abgrenzung von den im politischen Raum »konkurrierenden« Milieus korrespondiert mit dem Wunsch der Milieueliten, auf der Ebene der Deutungskulturen eine (sich nach außen abgrenzende) Homogenität zu erreichen, die heterogene Elemente auf den Ebenen von »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« gleichsam umklammern kann. In der vorliegenden Untersuchung stehen die milieuspezifischen Religionsdiskurse im Mittelpunkt des Interesses. Die Bedeutung konfessioneller Prägungen der im Kaiserreich von 1871 voll ausgebildeten »sozialmoralischen«, »soziokulturellen« oder »gesellschaftlich-politischen« Milieus269 betonen die meisten der an Lepsius anknüpfenden Milieukonzepte270 (selten allerdings unter forschungspraktischer Umsetzung dieser Erkenntnis), so daß »Religion« offensichtlich als konstitutiver Faktor der Milieuformierung anzuerkennen ist. Bei dem »klassischen« Objekt der Milieuforschung, dem »katholischen Milieu«, liegt die konstitutive Funktion der Religion offen zutage; dem Religions267 Ein Beispiel aus der bisherigen Analyse: Gegen neu erhobene Kirchensteuern rebellierten Sozialdemokraten als Angehörige einer ökonomisch ausgebeuteten Klasse; auf der Ebene der Deutungskultur bestärkte dieser Protest einen scharf kirchenkritischen Diskurs. 268 Das soziologische Milieukonzept der Forschungsgruppe um Michael Vester, das Originalität und Überzeugungskraft aus der Art und Weise bezieht, »[...] wie die klassischen Untersuchungsansätze und die davon ausgehenden Forschungstraditionen kombiniert werden.« (Vester, S.71), nimmt neben den genannten Kategorien Max Webers auch den »Habitus«-Begriff von Pierre Bourdieu (vgl. z.B.Bourdieu, S.277-86) auf, um lebensweltliche Formen des Beziehungshandelns zu erfassen. Der Ansatz Vesters bringt diese »Konnotation ›Habitus‹« in den BegriiTder »Mentalität« ein, und daran anschließend spreche auch ich überwiegend von »Mentalität« und nicht von »Habitus«. Siehe Vester, S.89-92, Zitat S.92. 269 Unter diesen (und anderen) adjektivischen Bestimmungen von »Milieu« im hier angesprochenen Sinne bevorzuge ich im folgenden den BegriiTder »soziokulturellen Milieus«, der präziser als »gesellschaftlich-politische Milieus« auf die sozialen und kulturellen Konstituenten von Milieus hindeutet, aber im Gegensatz zum Terminus »sozialmoralische Milieus« (so Lepsius) das Missverständnis von Milieus als reinen »Wertecemeinschaften« vermeidet. 270 Siehe z.B.. Lepsius, S.67-74,76i.;Rohe, S.16,18,20 u.ö.; Vester, S.132; Blasthke/Kuhlemann, Geschichte, S . l l u.ö..

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diskurs der Sozialdemokratie ist die vorliegende Studie gewidmet. Daß auch das liberale (zuweilen als »bürgerlich-protestantisches« bezeichnete271) und das konservative Milieu stark konfessionell geprägt waren und diese Prägungen sich im politischen Raum auswirkten, hat zuletzt eine Regionaluntersuchung zu Baden 1860-1918 von Frank-Michael Kuhlemann durch den Verweis auf die Verbindung von »bürgerlich-protestantischer Gesinnungsgemeinschaft« und Nationalliberalismus einerseits, positiv-orthodoxem Protestantismus und politischem Konservatismus andererseits betont.272 Inwieweit religiös-konfessionelle Prägungen in den Milieus in »identitätsbildenden« Religionsdiskursen aktualisiert wurden und so der immer wieder vollzogenen »symbolischen Erneuerung« des Milieuzusammenhaltes dienten, mögen die nachfolgenden Ausfuhrungen erweisen. Auf der Ebene des »Kampfes« waren Religionsdiskurse zweifelsohne besonders gut zur milieunotwendigen Abgrenzung geeignet, da dem religiösen Glauben im Hegemoniestreit der Deutungskulturen bei »Freund« und »Feind« auch im sich säkularisierenden 19. Jahrhundert noch ein zentraler Platz eingeräumt wurde, ja, alte Prägungen durch Religion im Gegensatz zu den neuen Prägungen etwa durch Klassenzugehörigkeit auch in den soziokulturellen Milieus einen vorrangige Stellung als mentale Phänomene einer »longue duree« einnehmen konnten.273 Diese - potenzielle - Bindekraft der milieuspezifischen Religionsdiskurse, die das Zugehörigkeitsgefiihl der Milieuangehörigen zum Milieu mitbestimmen konnte, trug auch zu der Bedeutung bei, welche die Sozialdemokratie der religiösen Frage zumaß. 1.3.2 Konservatismus und Staatsreligion Christlicher Staat und Nationalreligion Daß die Religion - im 19. Jahrhundert noch weitgehend selbstverständlich in Form des überlieferten Christentums - an der Wiege jedes gesunden Staatswesens stehen und dessen geistiges Fundament bilden müsse, kann als »Urüberzeugung« konservativen Denkens gelten. Dieser Grundsatz prägte den Konservatismus noch und vielleicht gerade in Zeiten der fortschreitenden Säkularisierung von Staat und Gesellschaft, wenn auch gegenläufige Tendenzen von religiöser Indifferenz bis hin zu dezidiert antichristlichen Ideologien langsam Eingang ins konservative Milieu fanden.274 Mit Friedrich Julius Stahl (1802-1861) besaß der preußisch-deutsche Konservatismus um die Mitte des 271 Lepsius, S.77; Rohe, S.43f u.ö.; vgl. Höbcher, Säkularisierungsprozesse. 272 Kuhlemann, Religion, bes. S. 156-159.

273 Vd.Jbfe,S.18.

274 Huntington, S.91; Greiffenhagen, S.85-103. Zum antichristlichen Konservatismus seit Ende des 19 Jahrhunderts vgl. Kaltenbrunner.

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19 Jahrhunderts den maßgeblichen Theoretiker, der die sich um 1848 formierende konservative Parteibewegung mit dem Verfassungsstaat (allerdings zunächst nur in dessen restaurativer Gestalt der 1850er Jahre) aussöhnte, diesen Staat zugleich aber radikal antimodern begründet wissen wollte. Der »christliche Staat« in der Fassung Stahls war nicht geschichtlich gewachsene menschliche Schöpfung, sondern absolut gesetzte göttliche Ordnung, die ein Monarch »von Gottes Gnaden« vertrat. Dieser Staat müsse »ein Zeugnis für das Christenthum geben« und »in einem Bunde zur Kirche stehen«, dürfe von der Kirche aber »die Weihe und Feier seiner staatlichen Vorgänge« einfordern.275 Das kirchlich verfasste Christentum ist hier »Staatsreligion« im vollen Sinne. Deutlich reagierte diese den gegenrevolutionären restaurativen Diskurs in Preußen nach 1848 prägende Lehre auf den »Angriff der Moderne« von 1789 und 1848, auf naturrechtlichen Rationalismus, Religionskritik und Revolution. Doch inwieweit bestimmte sie Politik und Gesellschaft noch in den 1860er Jahren und in den ersten beiden Jahrzehnten des Kaiserreiches? Und beschränkten sich diese Modelle von »christlichem Staat« und »Staatsreligion« auf den Religionsdiskurs im konservativen Milieu? Die Beantwortung der ersten Frage fiel der sozialdemokratischen Publizistik nicht schwer. Das Deutsche Kaiserreich nahm sie durchaus als »christlichen Staat«276 wahr; wesentlich häufiger noch bezeichnete die Parteiagitation ihr Gegenüber als »Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte«, das den Anspruch erhebe, eine »göttliche Weltordnung« zur Geltung zu bringen. Mit diesen altertümelnden, ein vermeintlich anachronistisches Staats- und Weltverständnis kritisierenden Begriffen war von vornherein ein ironisch-polemischer Ton angeschlagen. Oft scheinbar unabhängig von einer religiösen Thematik - etwa in dem in sozialdemokratischen Lied- und Gedichtsammlungen abgedruckten »Lobgesang der göttlichen Welt-Ordnung« von Michael Schwab oder in Johann Philipp Beckers Satire »Ein Neues Wintermärchen. Heinrich Heine's Besuch im neuen deutschen Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte (1871)«277 - intendierten diese Zuschreibungen die Bloßstellung der »herrschenden Verhältnisse« als in Wahrheit zutiefst unmoralisch, geprägt von Krieg und Hunger, sozialem Elend und sittlicher Verrohung. Diese Verhältnisse aber 275 Stahl, Friedrich Julius, »Der christliche Staat« (1847), hier zitiert nach Mau, S. 60. Vgl. zur Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Staat bei Stahl die Biographie von Füssl, bes. S. 137— 42. Zur Repräsentativst Stahls für die Altkonservativen s. Martin; Rohe, S.94. Zur konservativen Prägung des protestantischen Staatskirchensystems und seiner politischen Kultur s. den Überblick in Kandel, S.59-80. 276 So richtete auch Bebel seine Attacken wider die Unmoralität der Gesellschaft gegen den »christlichen Staat«, z.B. in Bebel, Vergangenheit, S.79 u.ö.. 277 Schwabs »Lobgesang« in: Sozialdemokratische Lieder, S.l00f.; Dekhmator, S.107f. (dasselbe Gedicht auch anderenorts unter anderem Titel). Becker, Wintermärchen: mindestens von 18731886 von Parteiblättern empfohlen bzw. vertrieben. In dieser Broschüre spielt die sonst bei Becker allgegenwärtige Religionskritik allerdings nur eine untergeordnete Rolle.

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stünden in einem schreienden Gegensatz zum hohen ethischen Selbstanspruch des sich als »christlich« verstehenden Staatswesens, so daß die konservative Rede von einer »göttlichen Weltordnung« einzig der Legitimation von Klassenherrschaft diene.278 Das »Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte« war in sozialdemokratischer Optik keine bloße Imagination aus dem religionskritischen Arsenal vergangener Zeiten; dieses Reich wurde vielmehr 1871 auf deutschem Boden etabliert. Erst jetzt fand die einschlägige Wendung vom »Reich der Gottesfurcht« Eingang in den Parteidiskurs. Aufmerksam verfolgte der »Volksstaat« während des Deutsch-Französischen Krieges die Regierungspresse. Am 24. August 1870 zitierte das Blatt den offiziellen »Königlich Preußischen Staatsanzeiger«, der die letzten militärischen Siege »in einem bureaukratisch-pietistisch-poetischen Prosaerguß« kommentiert habe: »[...] »Der Herr, der unsere Heerschaaren zum Siege führt über Lüge und Unsitte, Er wird jetzt gnädiglich fursorgen, daß unsere edlen Opfer nicht vergeblich fallen, Er wird unseren Königlichen Kriegsherrn im Silberhaare segnen, daß ihm vergönnt sei, einen dauernden Völkerfrieden herzustellen im Herzen Europa's, durch ein großes einiges deutsches Vaterland, als Hort der Gottesfurcht, edler Sitte und wahrer Freiheit! Das walte Gott!‹«279

Die religiöse Rhetorik des neuen Staates gab den Sozialdemokraten immer wieder Anlass zu Parodien wie dem »Deutschen Reichsgebet«280 oder den »Zehn Geboten im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte«281, die sich mit der religiösen Legitimation der Hohenzollernmonarchie auseinandersetzten. Die von kirchlichen Kreisen angestoßene Diskussion um den 2. September als »Sedanstag«, der sich zum zentralen Nationalfeiertag und wichtigen Bestandteil einer integrativen Reichsideologie entwickeln sollte, dokumentierte die Parteipresse ausführlich, und die sozialdemokratische Kritik an den Sedansfeiern richtete sich besonders heftig gegen die Synthese von religiösen und »weltlich«nationalen Elementen bei diesen Feiern. Einen Festgottesdienst am Sedanstag spiegelte ironisch das Gedicht »Christliche Sedanfeier«, das am 30. August 278 Vgl. Wilhelm Bios' »Offene Antwort an Herrn Kaplan W. Hohoff« in Volksstaat 4.2.1874 Nr.14 S.4. 279 »Königlich Preußischer Staatsanzeiger«, zitiert nach Volksstaat 24.8.1870 Nr.68 S.l. 280 Abgedruckt in Nürnberg-Fürther Social-Demokrat 21.1.1875 Nr.9 S.l; ebenso in Chemnitzer Raketen 31.1.1875 Nr.5 S.l. Verfasst wurde das »Reichsgebet« von Conrad Jäger. 281 »Die zehn Gebote im Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte« erschienen nach Abdrucken in der Parteipresse 1871 in Dresden als Separatdruck in der Expedition des »Dresdener Volksboten«; als Verfasser figurierte der sozialistische Schriftsteller und Journalist August Otto-Walster. 1872 wurde gegen ihn wegen dieses Textes von der Staatsanwaltschaft Zwickau ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung angestrengt, da er angeblich Kaiser Wilhelm I. die deutsche Annexionspolitik 1871 als Diebstahl und Verstoß gegen das 7. Gebot vorgeworfen habe; vgl. Dresdner Volksbote 21.2.1872 Nr.42 S.lf.. Nach dem Vertriebsverbot 1883 wurde das Werk als anonyme Schrift immer wieder vom Züricher »Sozialdemokrat« empfohlen (zuletzt 1888).

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1874, also drei Tage vor dem Festtag, in den »Braunschweiger Leuchtkugeln« erschien: ›»Herr Gott, Dich loben wir‹, Weil Du uns Sieg gegeben, Darob voll Dank die Hände zum Himmel wir erheben. Der Pflicht sich seines Amtes Der Priester da erledigt [sie], Und reichstreu-patriotisch Erklinget seine Predigt.« In der Sicht des Verfassers stellte diese Reichsideologie durchaus ein Novum gegenüber den liberaleren Staatsbegründungen der 1860er Jahren dar, und so hieß es in der letzten Strophe: »Das ist die neueste Phase Der staatsreligiösen Zeit; Freu' Dich und jubilire Neu-deutsche Christenheit!« Die politische Instrumentalisierung der Feiern beklagte in der »Chemnitzer Freien Presse« auch die Einsendung eines Parteigenossen aus dem sächsischen Mittweida, der mit einem sozialdemokratischen Freund den Gottesdienst zum Sedanstag in der Stadtkirche besucht hatte,»[...] welche wir seit langen Jahren nicht wieder in Augenschein genommen [...]«, die sie nun aber wieder betraten, »[...] um eine Rechtfertigung der Sedanfeier, die uns bekanntlich [...] nicht in den Kopf will, vom Standpunkt der Religion aus dem Munde eines Gottesmannes zu hören. Unsere lieben ›strenggläubigen‹ Bekannten [...] machten große Augen, als sie den ungewohnten Besuch gewahrten; wir kümmerten uns aber wenig um das Köpfezusammenstecken und bedeutsame Flüstern, sondern ich nahm ruhig mein Notizbuch aus der Tasche, um mir die Kirchenlieder und die Predigt in ihren Grundzügen zu notiren.«283 In seiner Predigt habe der Pfarrer, Diakonus Nikolai, zuerst gegen die »vaterlandslosen Parteien« gewettert, die den Festfeierern eine Verherrlichung des menschenmordenden Krieges vorwerfen würden. Nur »im Vertrauen auf den Lenker der Schlachten« hätten die deutschen Soldaten »den Sieg an ihre Fahnen geheftet«. Die Aufgabe der Zukunft sei es, sich wider die »inneren Feinde«,»[...] möchten sie rothe oder schwarze Röcke tragen [...]«, zu schützen, und »[...] ein immer stärkeres, sittlicheres und gottesfürchtigeres Volk zu erziehen.« Mit der Bitte um den Segen für Kaiser und König schloss der Gottesdienst.284 282 Braunschweiger Leuchtkugeln 30.8.1874 Nr.203 S.2. 283 Chemnitzer Freie Presse 8.9.1876 Nr.209 S.3. 284 Ebd.. Mehrheitlich hatte der kirchliche Protestantismus enthusiastisch den deutsch-fran-

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Mit der neuen, primär religiös begründeten Reichsideologie sahen die Sozialdemokraten die Wiederbelebung der Lehre vom »Gottesgnadentum« der Monarchen verbunden, der auch bei Friedrich Julius Stahl eine zentrale Bedeutung eingeräumt worden war. Drei Tage nach der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles spottete der »Volksstaat« in seiner Zeitbetrachtung »Säbel, Herrgott, Geldsack und Patriotismus«: »Nach den Begriffen der Bibel ist der König eine ›Zuchtruthe Gottes‹. Er wurde von Gott eingesetzt, als das Volk anders nicht mehr im Zaum zu halten war. Dies ist wohl auch der wahre Ursprung des Königthums; von den Fürsten jedenfalls wird er anerkannt, daher von ›Gottes Gnaden‹. Von Volkes Gnaden sind sie nicht, sonst könnte ihnen diese Gnade alle Augenblicke entzogen werden, was ja nicht sein darf.«285 Die Kirchen bände der christliche Staat in eine staatskirchliche Verfassung ein und verpflichte sie damit als staatstragende Organe. Der sozialdemokratische Religionsdiskurs sah den staatsreligiösen Charakter des zeitgenössischen Christentums besonders in der engen Verbindung von Kirche und Staat sowie von Kirche und Schule realisiert. Den Kulturkampf als zentrales innenpolitisches Ereignis der 1870er Jahre wertete die Parteiagitation weniger als Konflikt um die Loslösung des modernen Staates von kirchlicher Fremdbestimmung denn als einen Streit um die Durchsetzung eines spezifischen Modells vom christlichen Staat. »Nicht um die Befreiung von der Kirche handelt es sich, im Gegentheil wird die Herrschaft der Kirche im Staate durch die neuen [Kulturkampf-]Gesetze sanktionirt. Der Staat ruft der Kirche zu: Nach wie vor sollt ihr die Herrschaft über das Volk ausüben, aber in meinem Dienste.«286 »Der Kampf ist zwischen Ultramontanismus (mit lutherisch-orthodoxen Anhang) auf der einen Seite und dem Staatskirchenthum auf der anderen Seite entbrannt. [...] Wir aber, wir stehen beiden gleich feindlich gegenüben«287 Daß der Kulturkampf Bismarckscher Handschrift auch auf den Widerstand der genannten »lutherisch-orthodoxen« Kreise stieß, verdeutlicht jedoch eher eines: Das »Staatskirchenthum«, wenn es denn überhaupt die Zielperspektive der »Kulturkampf-Partei« war, unterschied sich wesentlich von dem altkonservativen Ideal des christlichen Staates. Ernst Ludwig von Gerlach (1795-1877), wie Friedrich Julius Stahl lutherisch-orthodox geprägt und als Mitbegründer und Kommentator der »Neuen preußischen Zeitung« (»Kreuzzeitung«) von 1848 auch ein »Gründungsvater« des politischen Konservatismus, schloss sich 1873 aus Protest gegen die Regierungspolitik und den mangelnden Widerstand zösischen Krieg und die Reichsgründung 1871 begrüßt; er verstand sich nun als zentrale »Trägerschicht des neuen Reiches«: s. Brakelmann, Krieg (Zitat S.319). 285 Volksstaat 21.1.1871 Nr.7 S.3. 286 Braunschweiger Volksfreund 18.5.1873 Nr.l 16 S.l. 287 EU 25.3.1875 Nr.71 S.l.

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der Konservativen gegen diese Politik als »Hospitant« spektakulär der Zentrumsfraktion an. Der letzte Bannerträger des Stahlschen »christlichen Staates« gestand damit ein, daß dieses Modell selbst im konservativen Milieu keine breite Akzeptanz mehr fand.288 Bismarck und seine liberalen Verbündeten strebten gegen den Widerstand konservativer Protestanten tendenziell eine stärkere Trennung von Kirche und Staat sowie von Kirche und Schule an; die sozialdemokratische Agitation verkannte zumeist (willentlich oder unwillentlich) dieses grundlegende politische Ziel. Wenn auch auf Seiten des deutschen Reichskanzlers machtpolitische Erwägungen im Vordergrund standen und von den Kulturkampfgesetzen nach der durch die »konservative Wende« 1879/80 geförderten Beilegung des Konflikts in den 1880er Jahren nicht viel übrig blieb: Diese innenpolitische Auseinandersetzung behielt das Signum eines »begrenzten Modernisierungskonfliktes«289, in dem der (teil-)moderne Staat und die ihn tragenden weltanschaulichen Milieus um die Autonomie staatlichen Selbstverständnisses und Handelns rangen. Dennoch war es nicht ganz unberechtigt, wenn die Sozialdemokraten das »Staatskirchenthum« als kulturkämpferisches Gegenkonzept zum Ultramontanismus bezeichneten. Nicht nur blieb im Kaiserreich die evangelische Kirchenverfassung an das seit der Reformation bestehende landesherrliche Kirchenregiment mit dem Landesherrn als »oberstem Bischof« (summus episcopus) gebunden, worauf in Preußen sowohl Wilhelm I. als auch Wilhelm IL sehr wohl Wert legten. Die enge Beziehung der Kirche zum Staat sollte keineswegs entgegen den Prinzipien der »Kulturkämpfer« - durch das (allerdings nie realisierte) Vorhaben einer »deutschen Nationalkirche« noch gestärkt werden. Das Reich besaß zwar eine »klare kulturprotestantische Prägung im Sinne eines weltlichen Christentums«290; die religiöse Überhöhung der Reichsgründung und die Renaissance der Idee vom Gottesgnadentum291 trugen aber auch deutlich restaurative Züge. Die Schulpolitik in Preußen blieb zudem den Prinzipien des konservativen Kultusministers Heinrich von Mühler (1813-1874) verpflichtet. Der Versuch seines liberalen Nachfolgers Adalbert Falk (1827-1900), ein Schulgesetz zu erlassen, das den bestimmenden Einfluß der Kirchen auf die Schule zurückdrängte, scheiterte 1879 und führte zum erzwungenen Rücktritt Falks. Die zugleich restaurative wie »innovative« »protestantische ›Reichsreligion«292 trat allerdings außerhalb Preußens, etwa im katholischen Bayern, in 288 Vgl.Schoeps,S.163-05. 289 Becker, Kulturkampf, S.445. 290 Bester, Religion, S. 197. 291 Bereits bei den Feierlichkeiten seiner Krönung zum preußischen König 1861 hatte Wilhelm I. erklärt: »Von Gottes Händen ist mir die Krone zugefallen, und wenn ich mir dieselbe von Seinem geweihten Tische auf das Haupt setzen werde, so ist es Sein Segen, der sie mir erhalten wolle.« Zitiert nach Bester, Religion, S.60f. 292 Biessing, Staat, S.195; v g l Huber/Huber, S.1002ff..

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Konkurrenz zu einem bereits vorfindlichen staatsreligiösen Traditionalismus: »Der patriotische Bayern- und Königskult stand zwar mit den unverändert geübten allsonntäglichen Gebeten, Festgottesdiensten, Kirchenparaden und Loyalitätspredigten quantitativ weiterhin im Vordergrund. Aber der Kult um Kaiser, Reich und Nation entfaltete daneben durch Novität und Intensität ein starkes Gewicht.«293 Das an altkonservative Mentalitäten gebundene Konzept des christlichen Staats erschien zunehmend überlagert, wenn auch nicht völlig verdrängt durch ein auch in Richtung Liberalismus offenes »nationalreligiöses« Modell der Identitätsstiftung. Die »weitgehende Diffusion religiöser und nationaler Glaubensvorstellungen«294 erreichte zwar erst nach der Jahrhundertwende ihren Höhepunkt, war jedoch bereits im »nationalen Aufbruch« der Befreiungskriege 1813/15 etwa in der Dichtungeines Ernst Moritz Arndt angelegt.295 Mit der Reichsgründung 1871 realisierten sich in den Augen vieler die nationalreligiösen Träume, allerdings in konfessionell einseitiger Hinsicht: »Die religiöse Aufwertung von Volk, Nation und Vaterland fand nach 1871 einen starken Verbündeten in der evangelischen Kirche, welche die Identifikation von deutscher Nation und protestantischem Christentum zum Glaubensbekenntnis erhob. [...] Das politische Ereignis der Reichsgründung erlangte auf diese Weise eine eschatologische Dimension. Die Gründung des Deutschen Reiches war zugleich ein Fortschritt in der Geschichte Gottes. [...] Nationales Ethos und christlicher Glaube vermischten sich zu einem nationalreligiösen Pflichtbewusstsein.«296 Die Sedansfeiern mit ihren Festgottesdiensten waren nur der sichtbarste Ausdruck dieser preußisch-protestantischen »Nationalreligion«. Daß es mit Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) und der »Inneren Mission« auf der einen Seite konservative kirchliche Kräfte, mit Franz von Holtzendorff (1829-1889) und dem Protestantenverein auf der anderen Seite liberale Kirchenkreise waren, die auf eine Institutionalisierung des Sedanstages drangen297, wirft noch einmal die Frage auf, ob »christlicher Staat« und »Nationalreligion« als Leitvorstellungen nicht auch milieuübergreifend die mit der Sozialdemokratie konkurrierenden Religionsdiskurse zwischen 1860 und 1890 prägten. Im Folgenden gilt es daher zu erörtern, welche Trägerkreise diese Leitvorstellungen reproduzierten.298 293 Blessing, Staat, S.197, vgl. auch ebd., S. 195-99. 294 Walkenhorst, S.520. 295 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Altgeld. 296 Walkenhorst, S.517-519. Vgl. Nowak, S.158-61. Nowak betont allerdings auch »die ursprünglichen Schwierigkeiten beim Zusammengehen von konservativem Protestantismus und Nation« und vermerkt: »Schneller fand sich der liberale Protestantismus in das neue nationale Reich hinein.« (eW., S. 160). 297 Schellack, bes. S.69-78. Insgesamt scheinen mir die kirchlichen bzw. nationalreligiösen Prägungen des Sedanstaees von Schellack allerdings nicht ausreichend konturiert worden zu sein. 298 Der Tendenz in der Forschung, den deutschen Konservatismus nur mit der Aristokratie zu assoziieren, treten zurecht L. E.Jones und J. Retallackentgegen; ihnen zufolge muss in Zukunft

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Der religionskritische Diskurs in den Arbeiterparteien rückte mit seinen Angriffen auf das »Gottesgnadentum« zunächst Monarchie und Monarch ins Zentrum der Kritik am christlichen Staat. Bereits 1869 konstatierte die Parteipresse den zunehmenden religiösen Konservatismus Wilhelms I.. Dessen Worte »Wenn wir nicht den Glauben haben an den Heiland, daß er ist der Sohn Gottes, was soll dann werden?« beim Empfang des Vorstandes der Brandenburger Synode 1869 galten fortan als klassischer Beleg für die rückwärtsgewandte Gesinnung des preußischen Königs, der als Kronprinz 1858 noch reaktionären politischen Bestrebungen unter dem Deckmantel der Religion eine Absage erteilt hatte.299 Von Wilhelm IL erwartete die Sozialdemokratie kaum eine Abkehr von der »Thron-und Altar«-Ideologie - »Der junge Herr wird so das Szepter führen, Als hätte er das Lutherthum erdacht.«, dichtete der »Sozialdemokrat« »Dem Neuesten!« ins Summbuch. 300 Auf ihrem Gottesgnadentum beharrten ebenso andere Fürsten im Deutschen Reich.301 Daß aber auch der Reichskanzler auf Seiten des »positiven Christentums« protestantischer Lesart stand, galt der sozialdemokratischen Agitation nicht erst als unumstößliche Tatsache, als Bismarck in seiner Kulturkampf-»Friedensrede« vom 6. Februar 1888 mit »nationalreligiösem« Pathos erklärte: »Wir Deutsche furchten Gott, aber sonst nichts auf der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt [..,].«302 Seit 1872 zitierte die Parteipresse immer wieder aus Reichs- und Landtagsreden Bekenntnisse Bismarcks zum christlichen Glauben. Den »evangelischen konservativen Stützen« im Preußischen Herrenhaus warf er vor, aus lauter Mitgefühl mit dem Papst den Reichsglauben zu verraten; der gegen die Kulturkampfgesetze auftretende Altkonservative Hans Hugo von Kleist-Retzow (1814-1892) etwa sage sich »[...] von seiner sonst so bewährten Treue gegen König und Vaterland los, er sagt sich von unserem Evangelium los [...]«.303 Bismarck schien hier einen »Protestantismus als politisches Prinzip« deutlicher als die Konservativen zu vertreten. In sozialdemokratischer und linksliberaler Sicht zeigte sich der Kanzler in seiner Politik als »eben so confessionalistisch und reactionär« wie seine konservativen Kritiker, etwa der weifische Legitimist, Theologe und hannoveranische stärker das Ausmaß berücksichtigt werden, in dem konservative Gesinnungen »into the ranks of middle and lower classcs« diffundiert seien: Jones/Retallaek, S.8. Wenn im Folgenden ostelbische Adlige, Militärs und Pfarrer als Trägergruppen des konservativen Milieus genannt werden, so ist auch an das soziale Ansehen und den politischen Einfluss zu denken, die diese Gruppen z..B. bei Landarbeitern, Soldaten, Mitgliedern von Kriegervereinen und Kirchgängern hatten. 299 Volksstaat 15.12.1869 Nr.22 S.2; ebd. 1.1.1870 Nr.l S.t. 300 Sozialdemokrat 23.12.1888 Nr.52 S A Im Gegensatz zu Wilhelm I. verband Wilhelm II. die Idee des Gottesgnadentums auch mit der mittelalterlichen Kaiseridee; vgl. Fehrenbach, S.89f.. 301 So z.B. der sächsische König (It. Sozialdemokrat 24.11.1888 Nr.48 S.2) und der Herzog von Baden (lt. ebd. 16.11.1882 Nr.48 S.4). 302 Zitiert nach Görtetnaker, S.324. 303 Aus dem Auszug einer Rede Bismarcks in Dresdner Volksbote 21.4.1875 Nr.48 S. 1.

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Reichstagsabgeordnete Heinrich Ewald (1803-1875) oder Ludwig von Gerlach, der treue Anhänger des alten christlichen Staates.304 Von Kleist-Retzow und Gerlach galten auch im konservativen Parteispektrum eher als übermäßig traditionalistische Außenseiter. Wenn die sozialistische Presse den Reichskanzler aufgrund seiner vorgeblichen Christlichkeit als »reactionär« zu enttarnen suchte, ordnete sie auch dessen politischen Protestantismus einem konservativen Diskurs zu. Die Zuordnung von »positivem Christentum« und konservativer Gesinnung schien auf der Ebene der Parteiprogramme bestätigt zu werden. 1876 zitierte die »Chemnitzer Freie Presse« in ihrem Leitartikel »Eine neue Partei« aus dem Programm der eben gegründeten »Deutsch-Konservativen Partei«, die darin »das religiöse Leben unseres Volkes, die Erhaltung und Wiedererstarkung der christlichen und kirchlichen Einrichtungen« als »wichtigste Bürgschaft gegen die zunehmende Verwilderung der Massen und die fortschreitende Auflösung der gesellschaftlichen Bande« charakterisierte und den Kulturkampf als »vom Liberalismus zum Kampfe gegen das Christenthum ausgebeutet«305 verwarf. Die Berufung auf das Christentum als notwendiges Fundament jedes Staatswesens zählte auch zu den rhetorischen Grundfiguren der deutschkonservativen Wahlagitation.306 Den stärksten Rückhalt besaß die Deutschkonservative Partei im großgrundbesitzenden Adel der preußischen Ostprovinzen 307 , der durch die noch intakten Patronatsverhältnisse eine spezifische Verfügungsgewalt über die lokale kirchliche Organisation besaß. Ihr politisches Sprachrohr, die »Neue Preußische Zeitung« (»Kreuzzeitung«), stellte eine ganz eigene neopietistischorthodoxe Frömmigkeit zur Schau.308 Wenn auch die Kirchlichkeit im Einzugsbereich des ostelbischen Adels309 keineswegs immer die anderer Regionen übertraf 310 und das sozialdemokratische Kampfstereotyp von der »Frechheit des reaktionären Junker- und Pfaffengesindels« kaum einmal präzise die Ver304 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 3.11.1872 Nr.258 S. 1. Den Artikel unter dem Titel »Specifisch christliche Opposition« hatte das Blatt der demokratischen »Frankfurter Zeitung« entnommen. 305 Programm der Deutschkonservativen Partei, zitiert nach Chemnitzer Freie Presse 15.7.1876 Nr.162 S.l; vgl. Mommsen, Parteiprogramme, S.68. 306 Zum sozialdemokratischen Blick auf die konservative Wahlagitation in der Reichstagskampagne 1884 vgl. Sozialdemokrat 2.10.1884 Nr.40 S.l. 307 Booms, S.6f„ 308 Zur »Kreuzzeitung« vgl. Heffer, S.l 1-19; Rohleder/Treude, bes. S.216-20. Auch der »Vorwärts« attackierte die »reaktionär-pietistische ›Kreuzzeitung‹« und reagierte damit auf eine Polemik gegen die sozialdemokratische »Neue Welt«, deren Geist man dem konservativen Blatt zufolge mit den »Zuchtmitteln« der Kirche begegnen müsse. Vorwärts 17.11.1876 Nr.21 S.2. 309 Reiß S.149 verweist auf den durch Bismarcks Politik erzwungenen Wandel der ostelbischen Junker von einer sich wesentlich religiös legitimierenden Weltanschauungselite zu einer reinen Interessenpartei, konzidiert aber auch (S.152), daß die Ideologie von »Thron und Altar« bedeutend für dieses konservative Teilmilieu blieb. 310 Hölscher, Weltgericht, S. 142-47.

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hältnisse ostelbischer Gutsherrschaft religionskritisch analysierte: Die Probleme der Arbeiterparteien auf dem Land - und hier ist insbesonders an die preußischen Ostprovinzen zu denken - beruhten auch auf der dort verbreiteten Akzeptanz eines konservativen Diskurses, der die traditionell überlieferte Religion als notwendiges Fundament des Staatswesens verstand. Konservative Gesinnung herrschte ebenso im Militär, dessen Sieg 1870/71 religiös überhöht wurde und dessen kirchliche Anbindung der Ausbau der Militärseelsorge noch stärkte.311 Daß Soldaten zum Kirchenbesuch abkommandiert wurden, konnte die »Chemnitzer Freie Presse« »beim Heer im deutschen ›Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte‹« nicht verwundern.312 Über den Militärdienst hinaus beeinflussten Staats- bzw. nationalreligiöse Leitideen die proletarischen Unterschichten auch in den scharf antisozialistischen, fest ins konservative Milieu eingebundenen Kriegervereinen.313 Am eindeutigsten aber konnte die Parteiagitation das Feindbild »Thron und Altar« im Blick auf konservative Kirchenkreise einsetzen. Der antirevolutionäre politische Konservatismus nach 1848/49 hatte durch Stahl, Gerlach und andere seine starke protestantische Prägung erhalten. Der theologisch konservativen Richtung dieser von Neopietismus, Neoorthodoxie und Neuluthertum geprägten »positiven Christen« stand allerdings ein durchaus kräftiger kirchlicher Liberalismus gegenüber, der sich 1863 mit dem »Deutschen Protestantenverein« ein gesellschaftliches Forum schuf Der Auftrieb, den jedoch insbesondere die norddeutsche kirchliche Orthodoxie durch die Reichsgründung erhielt, ist an den Versammlungen und Konferenzen ablesbar, die - verstärkt nach 1870 - im kirchlichen Raum stattfanden und denen die sozialdemokratische Presse oft über Seiten ihre Aufmerksamkeit widmete. So berichtete der »Braunschweiger Volksfreund« ausführlich von der kirchlichen »Oktoberversammlung«, die 1871 in Berlin unter Vorsitz von Moritz August von Bethmann Hollweg (1795-1877, Rechtsprofessor, 1848 Mitbegründer und langjähriger Abgeordneter der Konservativen sowie 1848-1872 Präsident der Kirchentage) und unter zeitweiliger Anwesenheit des Kaisers die Frage erörterte: »Was haben wir zu thun, damit unserm Volke ein geistliches Erbe aus den großen Jahren 1870 und 1871 verbleibe?« Wenn auch die Versammlung sich ursprünglich die Vereinigung aller deutschen evangelischen Christen zum Ziel gesetzt hatte, dominierte unabhängig von den Konflikten um Union und Konfession doch 311 Vgl. Vogt, Religion. Verstärkt seit Wilhelm II. wurde die Militärseelsorge auch als antisozialdemokratisches Instrument genutzt, da ein sozialistischer Einfluss besonders im Militär zu furchten war. »Es galt, zur Abwehr der Sozialdemokratie ein Gegengewicht zu bilden, das durch eine Rückbesinnung auf die bedrohten traditionellen Grundwerte, einen dynamisch-konservativen Patriotismus und ein obrigkeitstreues, monarchistisches Christentum charakterisiert war. Als Träger dieser militärpädagogischen Gegenoffensive boten sich das Offizierskorps und die Militärgeistlichkeit an.« (S.169). 312 Chemnitzer Freie Presse 19.3.1876 Nr.65 S.l. 313 Vgl.Rohkrämer, S203-14;Klenke.

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eine konservative Richtung die Zusammenkunft. Prominente liberale Theologen wie der Kirchenhistoriker Karl von Hase (1800-1890) waren im Vorfeld wieder ausgeladen worden.314 Den kirchlich-konservativen Diskurs, den auf der Oktoberversammlung besonders eindringlich Johann Hinrich Wichern (1808-1881) repräsentierte, charakterisierte theologischer Traditionalismus, eine pessimistische Ethik (die »Sündhaftigkeit« des gesellschaftlichen Lebens), die unbedingte Treue gegenüber Monarchie und Fürsten, die Ableitung allen politischen Gestaltungswillens aus dem Gegensatz von »Ordnung« und »Chaos/Revolution« und ein zuweilen subtiler, zuweilen rüder Antisozialismus, der Predigten und schließlich auch offizielle kirchliche Verlautbarungen prägte.315 Nicht nur Johann Most hielt daher »protestantische Finsterlinge« und »Muckerthum« für »eine Art schwarzer Gendarmerie.«316 Die Kraft des kirchlich-konservativen Diskurses, die Sozialdemokraten sehr wohl beeindruckte, lässt sich an der Massivität der Polemik in der Parteipublizistik ablesen. Schwaben beispielsweise galt in der Parteiagitation aufgrund der Stärke seiner orthodox-pietistischen Milieus als eine auf längere Sicht der Sozialdemokratie verschlossene Region.317 Die Leitvorstellung einer »nationalen Religion« assoziierte die Sozialdemokratie zunehmend auch mit dem Nationalliberalismus. Das politische Zusammengehen von Nationalliberalen und Konservativen ermöglichte die endgültige Beilegung des »Kulturkampfes« in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre. Diese Zusammenarbeit setzte keineswegs nur die parteitaktische Einsicht in die machtpolitische Notwendigkeit eines solchen Bündnisses, sondern auch einen gewissen Grundkonsens in zentralen politischen Fragen wie in der religiösen Frage voraus. Das altkonservative Modell des christlichen Staates verblasste im konservativen Milieu als Hindernis für die Verständigung; der Begriff verschwamm derart, daß schon früher selbst der ultraliberale Theologe Richard Rothe (1799-1867) von einem idealen »christlichen Staat« hatte sprechen können, um damit gänzlich »akirchlich« die modernen kulturellen Grundlagen des Staatswesens zu bezeichnen. Ausschlaggebend für die Verständigung in dieser Frage war es aber wohl, daß gerade auch im Nationalliberalismus nationalreligiöse Vorstellungen Platz gegriffen hatten. Und dies geschah nicht nur in 314 Bericht in Braunschweiger Volksfreund 11.10.1871 Nr.30 S.2f.; vgl. Bester, Oktoberversammlung, bes. S.185, 190f.. 315 Vgl. zum Antisozialismus von Wichern, Richard Schuster und anderen evangelischen Publizisten Kandel, S.81-94. 316 Dresdner Volksbote 31.10.1875 Nr.130 S.lf.; vgl. Chemnitzer Freie Presse 1.11.1875 Nr.233 S.lf.. 317 Sozialdemokrat 23.11.1879 Nr.8 S.2. Der Berichterstatter über »Schwäbische Zustände« ging ausführlich auf die württembergischc pietistische Seminartradition ein, deren Pfarrerschaft die kirchlichen Milieus prägten, und stellte dann eher resignativ als rebellisch fest: »Hier kann man recht deutlich erkennen, wie es unsere Konservativen meinen, wenn sie das Volk mit Religion vom Sozialismus bekehren und glücklich machen wollen.«

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der Art des im nationalliberalen Milieu durchschlagend erfolgreichen Werkes »Der alte und der neue Glaube« (1872), in dem der radikale Christentumskritiker des Vormärzes David Friedrich Strauß ein Konzept von »Nationalreligion« jenseits aller christlich-kirchlichen Konnotationen318 entfaltete (eine Tendenz, die späterhin auch die »völkische Religiosität« der konservativen Kriegervereine prägen sollte). Das gerade von Liberalen vorangetriebene nationalkirchliche Projekt319 oder »Der Nationalliberalismus auf der Kanzel«320 am Sedanstag bezeugten den Enthusiasmus für eine noch christliche nationalreligiöse Staatsideologie im (national-)liberalen Milieu. Dem im konservativen Milieu zwar verblassenden, aber nie völlig verschwindenden traditionalistischen Modell des christlichen Staates allerdings stand der Liberalismus weiterhin fremd, wenn nicht feindlich gegenüber. Die Katholiken hingegen, obwohl im »Kulturkampf« zeitweise Seit' an Seit' mit den (Alt-) Konservativen gegen einen in ihrer Sicht kirchenfeindlichen Staat streitend, konnten sich weder dem konservativen Diskurs vom christlichen Staat noch dem tendenziell die Grenzen des konservativen Milieus überspringenden Diskurs der nationalen Religion ungebrochen anschließen. Die in konfessioneller, kultureller und politischer Hinsicht protestantische Prägung dieser Diskurse erklärte neben den »Roten« auch die »Schwarzen« zu beispielsweise anlässlich der Sedansgottesdienste attackierten »Reichsfeinden«. Und umgekehrt erhoben sich im Katholizismus immer wieder kritische Stimmen zum Sedanstag321, attackierten auch Katholiken dieses protestantische Reich der »Gottesfurcht und frommen Sitte«322, griffen katholische Publizisten das Christentum Wilhelms I. als religiös verbrämten politischen Pragmatismus an.323 318 Vgl. Graf, Bürgertheologie. Sozialdemokratische Kritik an dieser Schrift: Braunschweiger Volksfreund 26.11.1872 Nr.276 S.3 (Spottgedicht von Georg Herwegh), ebd. 27./28.11.1872 Nr.277f. S.3f. (kritische Rezension von Karl Vogt); Nürnberg-Fürther Social-Demokrat 12.11.1874 Nr.85 S.2 (Artikel »Etwas über David Strauß«). 319 Bester, Religion, S.94f.. 320 So der Titel eines Leitartikels im Braunschweiger Volksfreund 4.9.1873 Nr.207 S.l, mit dem Bericht eines Sozialdemokraten vom Besuch des Sedansgottesdienstes in Braunschweig. Der Verfasser kommentierte den Ruf des Pastors nach einer »deutschen Nationalkirche« am Schluss der Predigt mit den Worten: »Das neue Reich Bismarck'scher Herrlichkeit kann weder die absolute Geltung eines sittlichen noch eines religiösen Prinzips vertragen. Wir brauchen eine Nationalkirche, d.h. eine Kirche mit einem schwarz-weiß-roth oder lieber noch schwarz-weiß angestrichenen lieben Gott.« 321 So verbot etwa der Mainzer Bischof Ketteier 1874 den Geistlichen seiner Diözese, am Sedanstag Festgottesdienste abzuhalten und die Glocken läuten zu lassen: Schelhck, S.88f.. 322 Als Zeichen für das Scheitern des »politischen Protestantismus« wertete die katholische Zeitung »Germania« 1878 den (relativen!) Erfolg einer Kirchenaustrittskampagne des Sozialdemokraten Johann Most in Berlin als »der Hauptstadt der ›Gottesfurcht und frommen Sitte‹«: »Germania«-Zitat in Braunschweiger Volksfreund 13.3.1878 Nr.61 S.l. 323 Vgl. die Wiedergabe eines Artikels des katholischen »Basler Volksblattes« in Sozialdemokrat 8.9.1888 Nr.37 S.l.

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Die sozialdemokratische Agitation hingegen bekämpfte die auf den Konzepten vom christlichen Staat und von nationaler Religion aufliegenden Religionsdiskurse mit den argumentativen Waffen der radikalen Religionskritik. Eine klare Gegenposition erzwang nicht allein die Wirkungsmächtigkeit dieser Diskurse in der politischen und gesellschaftlichen Praxis, sondern auch ihre Instrumentalisierung für die antisozialistische Propaganda der konkurrierenden Milieus. So legten auf der Grundlage dieser Konzepte die zumeist konservativ orientierten Kirchenbehörden nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 die frühere Zurückhaltung ab und agitierten mehr oder weniger offen wie vordem schon zahllose Pfarrer gegen die Sozialdemokratie. Das »Berliner Volksblatt« dokumentierte beispielsweise eine Kanzelansprache des Landeskonsistoriums im Königreich Sachsen vom 18. Mai 1890 zur »sozialen Frage«. Die Verlautbarung rief zur »nationalen Buße« als Voraussetzung der »nationalen Erneuerung« auf, mahnte zur »Treue gegen König und Vaterland, Kaiser und Reich« und verdammte den »geflissentlich genährten Klassenhaß« als »Geist der Revolution«.324 Der sozialdemokratische Religionsdiskurs »entlarvte« nicht nur das »Klasseninteresse« des »christlichen Staates«, sondern konfrontierte zudem dessen »unmoralische« gesellschaftlich-politische Praxis mit seinem ethischen Selbstanspruch: auf ironisch-polemische Weise, als eher taktisches Argument, zuweilen aber auch noch christlich motiviert. Zwischen diesen Polen irisierend schloss der Bericht des »Braunschweiger Volksfreundes« über die kirchliche Oktoberversammlung 1871: »In der Bibel lesen wir von keinen Feld- und Mordpredigern, von keinem Doktor Johannes, Professor Matthäus, General-Superintendent Lukas, Pastor Markus, Oberhofprediger Paulus oder Konsistorial-Präsident Petrus, da die Apostel noch keine Kanzeln und Futterkrippen im Staate der Gottesfurcht und frommen Sitte hatten. Der mythologische Stifter des Christenthums selber war Proletarier, denn er hatte nicht, wohin er sein Haupt legen konnte. Würde jetzt der Menschensohn in seiner Kraft und Herrlichkeit auf der Wolke erscheinen, würde er den Berliner Muckern zurufen: ›Ich kenne euch nicht, weichet alle von mir, ihr Missethäterl!«325

Taufe, kirchliche Eheschließung und religiöser Eid Die allmähliche Überlagerung des Diskursleitbildes »christlicher Staat« durch die neue Leitvision der »nationalen Religion« scheint die von Karl Rohe entwickelte Vorstellung eines »nationalen Lagers«, das Konservative, Nationalliberale und auch Linksliberale umfasste, zu stützen. Doch im konservativen Verständnis von »nationaler Religion« lebten deutlich Strukturelemente des alten Ideals vom christlichen Staat fort. Wenn Konservative das Christentum nicht nur als 324 Ebd. 25.5.1890 Nr.119 S.3 (Dokumentation der Kanzelansprache). 325 Braunschweiger Volksfreund 11.10.1871 Nr.30 S.2f..

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sittliche Grundlage der Gesellschaft, sondern die kirchlich verfasste Religion als Säule im ordnungspolitischen Geiuge des Staatswesens verstanden, wirkte sich das im Rahmen des konservativen Diskurses negativ auf die Bekenntnisfreiheit des einzelnen Staatsbürgers aus, die dem Verfassungsliberalismus als wichtiges zu erkämpfendes bzw. zu erhaltendes Gut galt. Die Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession stellte trotz fortschreitender Säkularisierung im christlichen Staat des Kaiserreiches noch den unbestrittenen Regelfall dar.326 Die selbstverständliche, im Zweifelsfall auch erzwungene Taufe der Kinder christlicher Eltern schuf die Voraussetzung für eine flächendeckende Kirchlichkeit (hier im Sinne der Kirchenmitgliedschaft, nicht der aktiven Teilnahme am kirchlichen Leben), welche durch die zunächst alternativlose kirchliche Eheschließung und das »christliche Begräbnis« gleichsam bestätigt wurde. Dem religionskritischen Diskurs der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung galt grundsätzlich jede statistische Tendenz, die auf einen Rückgang dieser flächendeckenden Kirchlichkeit hindeutete, als Zeichen für den letztlich unaufhaltsamen Siegeszug von Fortschritt und Modernität. Sinkende Gottesdienstbesuchsfrequenzen, Tauf- und Kirchentrauraten begrüßte die Parteipresse mit polemischer Nachdrücklichkeit. Nachdem in Preußen die obligatorische Zivilehe per Gesetz vom 9. März 1874 (Reichsgesetz: 6. Februar 1875) eingeführt worden war, veranlasste der Berliner Evangelische Oberkirchenrat (EOK) eine statistische Erhebung, deren Ergebnisse der »Neue SocialDemokrat« aufgriff:»[...] Es wurden immer noch getauft bzw. getraut in Königsberg unter je 5 Kindern 4, unter je 5 Paaren 3; in Stettin unter je 2 Kindern 1, unter je 10 Paaren 3; in Breslau unter je 5 Kindern 3, unter je 2 Paaren 1.« Damit sei der Befund zwar immer noch »sehr dunkel«; der Leitartikel unter der Überschrift »Ein Fortschritt« schloss jedoch ganz hoffnungsvoll mit dem Fazit: »Nichtsdestoweniger sind diese Zahlen ein Beweis dafür, daß wir vorwärts kommen. Das Volk attestirt damit, daß es dem Glauben endlich den Rücken kehrt [...]. Das Gezeter der Pfaffen darüber ist für unsere Ohren nur eine herrliche Musik. Es zeigt uns an, daß wir wohl im Stande sind, aufzuräumen, wenn wir nur ernstlich Hand an's Werk legen.«327 Angesichts solcher Töne verwundert es nicht, daß die konservative, protestantisch-orthodoxe »Kreuzzeitung« 326 Von 25.742.404 statistisch erfassten preußischen Staatsbürgern im Jahre 1875 gehörten 16.636.990 der evangelischen Landeskirche an, 8.625.840 der römisch-katholischen und der altkatholischen Kirche, zusammengenommen ein Bevölkerungsanteil von um 98% (die von Rom getrennten Altkatholiken fallen dabei zahlenmäßig kaum ins Gewicht). Dem folgten 339.790 Angehörige des »mosaischen Glaubens« sowie weitere protestantische und katholische Gruppierungen und Sekten. Als »Dissidenten« (ohne die älteren protestantischen Freikirchen der Baptisten, Mennoniten etc.) kommen höchstens 27.354 Staatsangehörige in Betracht (in der Statistik unter »Deutsch- und Christ-Katholische«, »Freireligiöse und sonstige Dissidenten« oder »andere Religion und nicht angegebenes Bekenntnis« geführt). Zeitschrift des Königlich-Preußischen Statistischen Bureaus 19/1879, S.XXXf., hier zitiert nach Besier, Religion, S.77. 327 Neuer Sociat-Demokrat 24.3.1876 Nr.35 S.l.

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1877 die »kirchliche Verwahrlosung« einiger Berliner Kirchengemeinden beklagte, in denen nur ein Drittel aller Neugeborenen getauft und nur 11% der Ehen kirchlich getraut worden seien (eine untypische, nicht lange andauernde Extremsituation), und dazu erklärend anfügte, daß im Einzugsbereich dieser Gemeinden zwei Sozialdemokraten in den Reichstag gewählt worden seien. Der »Vorwärts« aber brachte dieses Zitat aus der »Kreuzzeitung« unter dem Titel: »Eine erfreuliche Thatsache«.328 Die Agitation der Partei konzedierte dem Staat punktuell einen gewissen »Modernisierungswillen« in Richtung einer Staat und Kirche trennenden Gesellschaftsverfassung.329 Insgesamt fiel die sozialdemokratische Bewertung der preußischen und deutschen Kulturkampfgesetzgebung jedoch außerordentlich kritisch aus. Zudem stieß die praktische Umsetzung der gesetzlichen Modernisierungsinitiativen (d.h. Kirchenaustritts- und Zivilstandsgesetze) vielerorts auf eine Mauer von Obstruktion und Konterkarierung, deren Dokumentation das Diskursprofil von sozialdemokratischer Partei und sozialdemokratischem Milieu gegenüber den konkurrierenden Religionsdiskursen schärfen sollte. Pfarrer und Pfarrgemeinderäte übten demnach durch Mahnschreiben und Hausbesuche unter Androhung von »Kirchenstrafen« einen erheblichen Druck auf dissidentische Gemeindeglieder aus, um diese zur Taufe ihrer Kinder oder zur kirchlichen Eheschließung zu bewegen.330 Staatliche Behörden, selbst Standesbeamte erweckten nicht selten den Eindruck, daß auch nach den Zivilstandsgesetzen der Jahre 1874/75 Taufe und kirchliche Trauung für jeden Staatsbürger verpflichtend seien.331 Während der Staat be328 Vorwärts 16.5.1877 Nr.57 S.2. Gemeint waren die Zions-, die Elisabeths-, die Invalidenhaus-, die Nazareth- und die St.Paulsgemeinde und die in deren Einzugsbereich gewählten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Friedrich Wilhelm Fritzsche und Wilhelm Hasenclever. 329 Immerhin bezeichnete der »Vorwärts« das Zivilehegesetz als »eines von den wenigen Gesetzen, mit welchen man sich einigermaßen anfreunden kann« (Vorwärts 15.11.1876 Nr.20 S.2); und den Landtag rief die »Chemnitzer Freie Presse« zur Durchsetzung des Reichszivilehegesetzes und des sächsischen Dissidentengesetzes gegen renitente Kirchenvorstände und Behörden auf, denen es an »schuldige(r) Achtung« vor diesen Gesetzen mangele (Chemnitzer Freie Presse 25.10.1877 Nr.251 S.3). 330 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 17.11.1874 (über einen Vortrag des Berliner Oberkonsistorialrats Bachmann, der u.a. die Entlassung von nicht kirchlich getrauten Fabrikarbeitern empfohlenhatte);Vlksstaat 12.3.1876 Nr.30S.3; ebd. 3.5.1876 Nr.51 S.3;ebd. 12.7.1876 Nr.80 S.2; Vorwärts 15.11.1876 Nr.20 S.2 (sächsische Landessynode dringt auf Anwendung der Kirchenzucht bei Unterlassung der kirchlichen Ehe); Chemnitzer Freie Presse 7.6.1877 Nr.131 S.3; Vorwärts 15.7.1877 Nr.82 S.2 (Mahnschreiben an einen Webermeister wegen unterlassener kirchlicher Trauung, hier mitunterzeichnet vom Amtshauptmann und vom Bürgermeister). Solche Berichte beschränkten sich nicht auf die unmittelbare Zeit nach der Verabschiedung der Zivilstandsgesetze, s. noch Sozialdemokrat 20.7.1889 Nr.29 S.3. 331 Volksstaat 10.11.1875 Nr.130 S.2; Chemnitzer Raketen 6.2.1876 Nr.6 S.2. Es handelte sich wohl zumeist um eine verzerrte Auslegung des § 82 des Reichszivilehegesetzes, der hervorhob, daß die kirchlichen (!) Verpflichtungen in Bezug auf Taufe und Trauung durch das Gesetz nicht berührt seien. Vgl. Huber/Huber, S.631 (Gesetzestext und Hinweis, daß dieser § aufgrund der Bedenken Kaiser Wilhelms I. gegen die Zivilehe in das Gesetz aufgenommen wurde).

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sonders Beamte, Schutzleute, Lehrer und Militärpersonal in die Pflicht zu nehmen suchte, richteten sich kirchliche Kreise in ihrem de facto die neuen Gesetze obstruierenden Kampf für einen christlich verfassten Staat auch an Arbeiter.332 Den Widerstand gegen die Relativierung bzw. Abschaffung des Zwangscharakters von Taufe und kirchlicher Trauung, den die sozialdemokratische Presse als Parteinahme für traditionalistisch-«vormoderne« Konzepte des christlichen Staates verstand, trugen maßgeblich konservative Teilmilieus: das Kaiserhaus und kirchlich-konservative Kreise, Beamtenschaft und Verantwortliche des Militärapparates, auch aristokratische Gutsbesitzer.333 Die gelegentliche Akzeptanz des »Kirchenzwanges« im liberalen Milieu registrierte die Publizistik der Arbeiterbewegung allerdings mit besonderer Aufmerksamkeit, stützte sie doch das sozialdemokratische Feindbild eines mit den Konservativen paktierenden Liberalismus.334 So schärften in den 1870er Jahren mehr noch als die Kulturkampfgesetze die Beharrungsversuche des christlichen Staates zugunsten der Zwangskirchlichkeit den sozialdemokratischen religionskritischen Diskurs. Bereits 1876 und nicht erst mit der Kampagne von Johannes Most 1878 häuften sich in diesem Zusammenhang die Aufrufe zum Kirchenaustritt, den die neue Gesetzgebung ermöglichte.335 Die Radikalisierungstendenzen können aber auch als Reaktion auf die Rückgewinnung proletarischer und kleinbürgerlicher Schichten durch 332 Volksstaat 10.11.1875 Nr.130 S.2 (Hinweis auf eine Kabinettsorder Kaiser Wilhelms I., die Militärangehörigen die kirchliche Trauung vorschrieb); ebd. 9.6.1876 (preußischer Ministerialbescheid verpflichtet einen Lehrer zur kirchlichen Trauung); Menschenthum 5.1.1879 Nr.1 S.7 (Berliner Schutzleute werden von ihrer vorgesetzten Behörde aufgefordert, unterlassene Taufen und kirchliche Trauungen nachzuholen); Sozialdemokrat 20.7.1889 Nr.29 S.3 (das sächsische Industriegebiet als Schwerpunkt der kirchlichen Agitation gegen das Zivilstandsgesetz; diese Einschätzungwird durch Fallberichte bestätigt). 333 Vgl. zu letzteren Dresdner Votksbote 75 Nr.154 S.3 (vom Gutsherrn erzwungene kirchliche Eheschließung eines Knechtes). 334 So verwies der Braunschweiger Volksfreund 16.3.1875 Nr.63 S.1 genüsslich auf die Zustimmung der Liberalen für den Kultusminister Falk im preußischen Abgeordnetenhaus, auch nachdem dieser die Absetzung eines Volksschullehrers wegen Verweigerung der kirchlichen Trauung verteidigt hatte. Vgl. auch die Kritik an liberalen Berliner Kirchenräten wegen deren Taufmahnschreiben in Berliner Freie Presse 29.11.1876 Nr.280 S.3 (die sozialdemokratische Aufregung war allerdings kaum gerechtfertigt, handelte es sich hier doch eher um ein höfliches »Erinnerungsschreiben«). 335 Der Schwerpunkt dieser Kirchenaustrittsagitation lag eindeutig in Sachsen. Aber auch im Fichtelgebirge kam es durch sozialdemokratische Propaganda in den 1870er Jahren zu Kirchenaustritten, wie die Arbeiterautobiographie Josef Peukerts berichtet: »In kurzer Zeit machten sich im ganzen Fichtelgebirge die Folgen unserer unermüdlichen Propaganda bemerkbar. Die Kirchen blieben selbst an Feiertagen leer; fast bei jeder Kindstaufe, Trauung und Begräbnis kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit und schließlich zu Massenaustritten aus der Kirchengemeinschaft. Die Pfaffen waren in heller Verzweiflung. Aber auch die Behörden begannen uns zu drangsalieren, obwohl wir uns nicht die geringste Ungesetzlichkeit zu schulden kommen ließen.« Zitiert nach Emmerich, Lebensläufe, S.265.

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die Kirche seit 1875 gelesen werden. Zu der neuen Kirchlichkeit trug sicherlich die »Überzeugungsarbeit« kirchlich-konservativer Kreise zugunsten von Taufe und kirchlicher Eheschließung bei, die der sozialdemokratischen Agitation zufolge insbesondere bei Frauen erfolgreich war.336 Doch die symbolische Reproduktion des christlichen Staates in seiner konservativen Lesart bezweckten nicht nur »Zwangstaufe« und obligatorische kirchliche Trauung, für die das konservative Milieu stritt. Auch das Festhalten an einer religiösen Formel bei der Eidesleistung vor Gericht zählte für die sozialdemokratische Agitation zu den eindeutigen Selbstkennzeichnungen des christlichen Staates.337 Der religiöse Eid mit den Formeln »Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen und Allwissenden« bzw. »Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe«338 wurde im Jahrzehnt der Reichsgründung, als mit dem Kulturkampf die politisch-gesellschaftlichen Milieus auch um die Hegenomie im kulturellen Raum rangen, zum Gegenstand heftiger Debatten. Liberale plazierten Vorschläge zur »Laisierung« der Eidesformel; die in Staat-KircheFragen am ehesten dem Linksliberalismus verbundene Bewegung der Freireligiösen bzw. der Freidenker petitionierte beharrlich an Reichstag und Landtage, um die Abschaffung der Eidesformel zu erreichen.339 Der Staat und die ihm 336 Statistisch zur »neuen Kirchlichkeit« Hölscher, Weltgericht, S. 155f ,159. Den durch Mahnschreiben und durch Hausbesuche die Arbeiterfrauen zu Taufe und kirchlicher Trauung drängenden Pfarrer stilisierte die Parteipublizistik zu einem festen Typus, knüpfte dabei aber zumeist an ihr zugetragene Fälle an: s. Braunschweiger Volksfreund 14.4.1876 Nr.89 S.l; Volksstaat 23.6.1876 Nr .72 S.4; Sozialdemokrat 13.4.1882 Nr. 16 S.4; ebd. 18.11.1887 Nr.47 S.3; u.ö.. Der Redakteur der »Chemnitzer Freien Presse« Gustav Saevecke wurde 1876 sogar wegen eines Artikels zur »Hausund Frauenagitation« der evangelischen Pfarrer gegen die Zivilstandsgesetzgebung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, s. Volksstaat 9.6.1876 Nr.66 S.3. Bemerkenswerterweise hatte die pfarrherrliche Einflussnahme selbst den sozialdemokratischen Presseberichten zufolge in vielen Fällen Erfolg. 337 So griffder Sozialdemokrat 5.1.1882 Nr.2 S.2 zugleich mit dem Kampf Adolf Stoeckers für die religiöse Eidesformel auch »das ganze Gerede von der Wiederherstellung des christlichen Staates‹« an. - Die Sozialdemokratie trat recht geschlossen gegen den religiösen Gerichtseid auf. Das Ablegen der auf Gott Bezug nehmenden Verfassungseide für Parlamentsabgeordnete war hingegen innerparteilich zwischen »Pragmatikern« und religionskritischen »Dogmatikern« umstritten; vgl. die Auseinandersetzung um die sozialdemokratischen Abgeordneten im sächsischen Landtag 1880, dokumentiert in Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.825-28, 834f. Schon beim Vereinigungskongress der beiden Arbeiterparteien 1875 hatte sich ein Antrag auf »Entfernung aller religiösen Formeln aus dem öffentlichen Leben« als Programmforderung nicht durchsetzen können, s. Protokoll 1875, S. 10. 338 Diese (und ähnliche) Formeln, auf die die Prozessordnungen verpflichteten und denen die Bezugnahme auf einen »persönlichen Gott« gemeinsam war (in diesem Sinne sei im folgenden von »dem« religiösen Eid gesprochen), galten mit gewissen Abweichungen in allen deutschen Einzelstaaten; Ausnahmeregelungen für den Eid prinzipell ablehnende christliche Gemeinschaften waren allerdings vorgesehen (z.B. für Mennoniten). Vgl. zur (komplizierten) Rechtslage die eidkritische freireligiöse Schrift von Reichenbach, bes. S.24-27, 40. 339 Demokratische Zeitung 9.5.1872 Nr.107 S.l; Scholl, Reform (Scholl war Freireligiöser mit gewisser Sympathie für die Sozialdemokratie; neben grundsätzlichen Erwägungen dokumentierte er in dieser Schrift S.20-42 ausführlich den Fall seiner eigenen Eidesverweigerung); Neuer Social-

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verbundenen konservativen Milieus verweigerten aber jegliches Entgegenkommen etwa in Gestalt einer alternativ zu sprechenden Eidesformel ohne Gottesbezug. Der sozialdemokratische Diskurs spitzte diesen Konflikt zu einer Entscheidungsfrage über den zivilisatorischen Stand der deutschen Gesellschaft zu340 und nutzte ihn zugleich zu einer parteimilieuspezifischen Profilierung. Denn wiederum konnte nicht nur die religionspolitische Intransigenz der Konservativen, sondern auch die vermeintliche Uneindeutigkeit des Liberalismus zur Zielscheibe scharfer Attacken werden, wie die in der Parteipresse zahlreich dokumentierten Fälle der Repression aufgrund von religionskritisch motivierter Eidesverweigerung belegen sollten. Am intensivsten beschäftigte sich die Partei mit dem »Fall Rohleder«. Der Lehrer am Progymnasium zu Friedberg in der Neumark (Provinz Brandenburg) Franz Rohleder war am 23. November 1874 als Geschworener vor Gericht gerufen worden, hatte die vorgeschriebene Eidesformel geleistet, ergänzend aber eine Erklärung abgegeben, in der er bekundete, »[...], daßnach meiner wusenschaftlkhen Ueberzeugung es keine Einwirkung eines persönlichen Gottes auf menschliche Handlungen giebt, [...]. Wenn ich also frei handeln könnte, würde ich den Eid ohne die Schlußworte: ›So wahr mir Gott helfe‹ leisten.« Wegen »unwürdigen Verhaltens außer dem Amte« entließ ihn das Provinzial-Schulkollegium im Mai 1875 aus dem Schuldienst. 341 Für den derart Gemaßregelten und seiner beruflichen Existenz Beraubten begann nun ein neues Leben. Noch 1875 nahm die demokratische »Frankfurter Zeitung«, die sich für Rohleder eingesetzt hatte, den entlassenen Lehrer als Korrektor auf. Der »Gymnasiallehrer a.D.« begann nun, öffentlich auf seinen Fall aufmerksam zu machen. Am 22. Februar 1876 fand in der Berliner Sophienstraße 15 eine (wohl nicht allein von den örtlichen Sozialdemokraten organisierte) Volksversammlung statt, in der Rohleder über seinen Fall referierte. Die anschließende Debatte war von einer Auseinandersetzung zwischen dem Sprecher der Berliner freireligiösen Gemeinde G.S. Schäfer und »einigen der zahlreich anwesenden Demokrat 14.5.1876 Nr.56 S.l (Vorstoß des Nationalliberalen Eduard Lasker zur verkürzenden Abänderung der Eidesformel auf »Ich schwöre«); Rekhenbach; Menschenthum 18.5.1884 Nr.20 S.77 (Petition des Freidenker-Bundes an den Reichstag, vorgeschlagen durch den Sozialdemokraten und Freidenker Albert Dulk); ebd. 22.7.1888 Nr.30 S. 117f. (Petition des Freireligiösen-Bundes an den Reichstag zwecks Aufhebung des religiösen Eides). 340 »An die Queue der Civilisation statt an die Tete derselben will Deutschland in der Eidesfrage gelangen.«: Volksstaat 14.5.1876 Nr.56 S.2. 341 Braunschweiger Volksfreund 21.5.1875 Nr. 116 S.1. Die Braunschweiger Leuchtkugeln 23.5.1875 Nr.l 18 S.2 veröffentlichten kurz darauf ein Gedicht »An den abgesetzten Oberlehrer Franz Rohleder«, das mit den Versen schloss: »Und doch trotz Allem wird es nie gelingen, Den Mannesmuth zu beugen und zu brechen; Es naht die Zeit, sie wird Vergeltung bringen, Lebt auch kein Gott zu strafen und zu rächen.« - Androhung eines (weltlichen) Endgerichts, geboren aus dem Geiste der Religionskritik!

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Sozialisten« bestimmt. Schäfer bezeichnete den Sozialismus als »zu wenig radikal und universal« in der religiösen Frage, Eduard Bernstein verwies dagegen auf die »Bestimmtheit« der »sozialistischen Programme« in dieser Frage im Gegensatz zur freireligiösen Unentschiedenheit. Im Juni 1876 bemühte sich Rohleder offenbar erfolglos um eine Anstellung als Sprecher der freireligiösen Gemeinde in Apolda (Großherzogtum Weimar). Am 25. März des folgenden Jahres legte der Dissident gemeinsam mit dem Reichstagskandidaten der SAP für die Wahlkreise Frankfurt am Main und Hanau Karl Frohme (1850-1933) einer Volksversammlung in Bornheim bei Frankfurt am Main eine Resolution für »volle Glaubens- und Gewissensfreiheit« und Abschaffung des religiösen Eides vor. Kurz darauf konnte Rohleder im April 1877 in die Redaktion des Münchener sozialdemokratischen Blattes »Der Zeitgeist« eintreten, das er zeitweilig neben Bruno Geiser und anderen auch herausgab. Bereits 1876 hatte er für die Partei eine Schrift über die Pariser Kommune übersetzt. Seine Auseinandersetzung mit dem christlichen Staat - die Affäre um die Eidesformel, die Entlassung aus dem Beruf und die Suche nach einer befriedigenden Arbeit - hatten den ehemaligen Lehrer soweit politisiert und radikalisiert, daß er sich der Sozialistischen Arbeiterpartei anschloss.342 Die Parteipublizistik aber nutzte den »Fall Rohleder« nicht allein für Attacken gegen die Regierung - »[... ] von Gewissens- und Glaubensfreiheit ist im Reiche der Gottesfurcht und frommen Sitte‹ noch lange nicht die Rede.«343 - , sondern auch zur Bloßstellung eines »halbherzigen« Liberalismus, der hinter vorgehaltener Hand die christlichen Dogmen infragestelle, für Rohleder aber nicht offen Stellung beziehe.344 August Bebel schrieb in seinem Parlamentsbericht für die Jahre 1874—1876 sowohl dem eher liberalen preußischen Kultusminister Falk als auch der Fortschrittspartei die unmittelbare Verantwortung für die Entlassung Rohleders zu.345

342 Braunschweiger Volksfreund 26.6.1875 Nr.147 S.3 (Bewerbung in Apolda); Volksstaat 8.3.1876 Nr.28 S.3 (Berliner Volksversammlung); Vorwärts 30.3.1877 Nr.38 S.4 (Bornheimer Resolution); Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.231 (die weiteren Informationen). Der 1843 in Pommern geborene Rohleder war während des Sozialistengesetzes in der von Louis Viereck maßgeblich aufgebauten Münchener Parteipresse tätig und publizierte zudem sozialpolitische Schriften für die Partei. 1884 gründete er ein »Bureau für Arbeiter Statistik«, erkrankte jedoch im selben Jahr an einer Geisteskrankheit, so daß er 1887 in die »Landesirrenanstalt« Eberswalde überfuhrt werden musste. Vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.231 f.. 343 So der Kommentar zur erwarteten Stellungnahme der Regierung gegenüber freireligiösen Petitionen zwecks Revision der gerichtlichen Eidesformel: Neuer Social-Demokrat 16.2.1876 Nr.19 S.2. 344BraunschweigerVolksfreund21.5.1875Nr.ll6S.lf.;NeuerSocial-Demokrat 1.3.1876 Nr.25 S.l; Volksstaat 10.3.1876 Nr.29 S.2. 345 Bebel, Thätigkeit 1874-1876, S.65.

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Die Dissidentengesetzgebung Die behördliche Intransigenz in der Frage der religiösen Eidesformel schien den schlagenden Beweis dafür zu erbringen, daß dieser Staat, seine Rechtsordnung und die ihn tragenden Milieus mindestens noch an einigen Symbolen des christlichen Staates unverrückbar festhielten. Der Kulturkampf und sein gesetzgeberisches Reformwerk der 1870er Jahre nährten aber im sozialdemokratischen wie im liberalen Milieu Hoffnungen, daß es sich bei diesen »Symbolen« lediglich um Rudimente einer überkommenen Staatsauffassung handele, die nun schrittweise beseitigt werden könnten. Diese Hoffnungen schienen seit 1870 durch einen neuen Umgang der deutschen Einzelstaaten mit denjenigen Staatsbürgern, die sich nicht mehr den großen Religionsgemeinschaften zurechneten, bestätigt zu werden. In Preußen hatte zwar bereits das Königliche Patent vom 20. März 1847 einen Kirchenaustritt ermöglicht. Zur Anwendung kam diese Regelungjedoch selten, da ein solcher Austritt an den Eintritt in eine »andere Religionsgemeinschaft«- seinerzeit neben der Gemeinschaft »mosaischen Glaubens« vor allem »Deutschkatholiken« und protestantische »Freie Gemeinden« - gebunden war. Erst der Kulturkampf brachte in Preußen das »Gesetz betreffend den Austritt aus der Kirche vom 14. Mai 1873« hervor, das einen tatsächlichen Austritt ohne Übertritt ermöglichte. Das Königreich Sachsen war Preußen bereits im Juli 1870 mit einem »Dissidentengesetz« zuvorgekommen, Braunschweig folgte im Februar 1873, weitere Länder zogen im Laufe der 1870er und 1880er Jahre nach. Nicht alle Bundesstaaten beschritten allerdings diesen Weg; die Rechtslage war uneinheitlich und teilweise uneindeutig, und zu einer reichseinheitlichen Regelung kam es vorerst nicht.346 Insbesondere in ihrer Regionalpresse, aber auch in Separatdrucken der Verlagsmagazine dokumentierte die Sozialdemokratie die neuen Gesetze der Bundesstaaten ausführlich, kommentierte sie als überfälligen Schritt zu einem modernen Staatswesen und rief nicht selten das parteinahe Milieu auf, von den neuen gesetzlichen Regelungen reichlich Gebrauch zu machen, d.h. den Kirchenaustritt zu erklären.347 Daß der Erfolg dieser Aufrufe sich in engen Gren346 Schmidt, Austritt (Überblick S.3-22); Kaiser, Sozialdemokratie, S.265; Stemberg. Text des preußischen Kirchenaustrittsgesetzes wiedergegeben auch in Huber/Huber, S.609f. Einer der wenigen, dem der Kirchenaustritt vor 1870 gelang, war 1849 der spätere Stuttgarter SAP-Reichstagskandidat Albert Dulk; vgl. Bätterie, S.163. 347 Crimmibchauer Bürger- und Bauerfreund 6.6.1871 Nr.128 S.2 (sächsisches Dissidentengesetz); Braunschweiger Volksfreund 2.12.1873 Nr.282 S.lf. (braunschweigisches Gesetz). Separatdrucke z.B. des sächsischen Dissidentengesetzes wurden durch die Verlagsexpeditionen u.a. des »Dresdner Volksboten« und des »Volksstaates« vertrieben. Aufruf Bebeis, vom Dissidentengesetz trotz aller Hürden (z.B. Gebühren, kirchliche Vorladungen) Gebrauch zu machen und aus der Kirche auszutreten, in einer Vereinsversammlung des sozialdemokratischen Gemeindevereins Stötteritz (mit dem ersten Tagesordnungspunkt »Das Dissidentengesetz«), begründet mit traditionellen religionskritischen Topoi: Volksstaat 27.9.1876 Nr.l 13 S.3.

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zen hielt, lag nicht nur, aber auch an der staatlichen Rechtspraxis wie an dem Bemühen konservativer Milieus, trotz der Dissidentengesetze die Zwangskirchlichkeit als Bastion des christlichen Staates nicht völlig aufzugeben. So verwiesen die Gegner der religiösen Eidesformel wohl mit einigem Recht auf den Widerspruch, einerseits den Austritt aus der Kirche rechtlich zu ermöglichen und damit die bürgerliche Gleichstellung auch der »dissidentischen«, im Zweifelsfall also religionslosen Staatsangehörigen zu garantieren, andererseits diesen Bürgern aber die religiöse Eidesformel vor Gericht zuzumuten. Hartnäckig versuchten zudem Gesetzgeber bzw. untergeordnete Behörden, Kindern von Dissidenten das Recht auf Befreiung vom schulischen Religionsunterricht zu verweigern. 548 Aufrufe in der Parteipresse, die neuen Gesetze zu nutzen und aus der Kirche auszutreten, konnten strafrechtlich verfolgt werden. 349 Und dort, wo kirchlich-konservative Kreise die Rechtslage zunächst akzeptieren mussten, gab es von dieser Seite doch immer wieder Versuche, durch sozialen Druck die Erklärung der Konfessionslosigkeit zu verhindern. 350 Zur Wahrung, Verteidigung und Vertiefung der Rechte von religiösen Dissidenten wurden insbesondere im Königreich Sachsen zunächst auf lokaler Ebene Vereine gegründet, die sich 1876 zu einem »Dissidentenbund« zusammenschlossen.351 In dieser Dissidentenbewegung engagierten sich viele Angehörige der »freireligiösen« Gemeinden, die politisch zum Teil im Liberalismus, zum Teil in der Sozialdemokratie beheimatet waren. In der konservativen Optik verschwamm gerade in der Phase der verschärften staatlichen Repression gegen die Sozialdemokratie seit 1878 »Dissident« und »Sozialist« zu einem einzigen 348 Berichte zum Religionsunterrichtszwang für Kinder von »Dissidenten« (teilweise Sozialdemokraten) bezogen sich auf entsprechende Lücken im Gesetz (z.B. in Bezug auf das sächsische Gesetz Chemnitzer Freie Presse 25.4.1875 Nr.94 S.2) oder auf behördlichen und kirchlichen Druck zum Besuch des Religionsunterrichts gegen den Buchstaben des Gesetzes (so unterstrich in Preußen ein Erlass von Kultusminister Falk vom 14.6.1877 das Dissidentenrecht auf Religionsunterrichtsbefreiung, vgl. Menschenthum 22.6.1884 Nr.25 S.98; der Minister reagierte damit auf die Weigerung eines Provinzial-Schulkollegiums, den Sohn eines Dissidenten vom konfessionellen Religionsunterricht zu befreien, s. Fackel 15.6.1877 Nr.70 S.2). 349 Vgl. Chemnitzer Freie Presse 3.9.1876 Nr.205 S.1. 350 Eine Gelegenheit zur abschreckenden Diskriminierung der Dissidenten bot sich den Geistlichen bei der Regelung von Dissidentenbegräbnissen. So ordnete 1876 der evangelische Pfarrer Pfeil aus Deuben bei Dresden für Dissidentenbegräbnisse eine entlegene Grabstelle, erhöhte Gebühren, das Verbot von Grabinschriften außer Name und Alter, eine Feier ohne Geläut, ohne jede Zeremonie, ohne Grabrede und ohne Trauergemeinde außer der Familie an: Bericht in Chemnitzer Freie Presse 21.11.1875 Nr.271 S.2; Spottgedicht auf Pfeil in Chemnitzer Raketen 21.11.1875 Nr.46 S.2. Austrittserschwerend wirkte zudem der Umstand, daß in vielen deutschen Staaten die Austrittsformalitäten von den Kirchen und nicht von einer weltlichen Behörde zu erledigen waren, wodurch weitere kirchliche Einflussmöglichkeiten entstanden: vgl. Schmidt, Austritt, S.280. 351 Die Dissidentenvereine waren anfangs oft sozialdemokratisch dominiert, so auch in Braunschweig der 1874 von Samuel Kokosky initiierte »Dissidentenverein«: Braunschweiger Volksfieund 16.6.1874 Nr.138 S.l. Bericht vom (ebenfalls maßgeblich von Sozialdemokraten bestimmten) Gründungskongress des »Dissidentenbundes« vom 28.-29.7.1876 in Dresden: Chemnitzer Freu Presse 1.8.1876 Nr.176 S.2f.

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Feindbild. Am 4. September 1879 wurde der Dissidentenbund auf der Grundlage des Sozialistengesetzes verboten. Als die »Reichs-Commission« am 30. Januar 1880 die Schließung des von dem Parteigenossen Oscar Schuster gegründeten sozialdemokratischen Ortsvereins Striesen bei Dresden bestätigte, verwies die Behörde »strafverschärfend« auf Schusters Mitgliedschaft im Dissidentenbund.352 Den Verteidigern des christlichen Staates blieb die ein Recht auf »Religionslosigkeit« einschließende Religionsfreiheit im Grunde inakzeptabel. Strafrechtliche Verfolgung wegen Religionsschmähung und Gotteslästerung Als Einschränkung der Religionsfreiheit (im Sinne eines auch die Freiheit von Religion einschließenden Grundrechts, nicht im Sinne einer Freiheit der Religion, wie sie die katholische Kirche im Kulturkampf einforderte) empfand nicht nur eine sozialdemokratisch orientierte Öffentlichkeit auch die strafrechtliche Regelung der »Vergehen, welche sich auf die Religion beziehen«, in den §§ 166-168 des Reichsstrafgesetzbuches von 1871, und hier insbesondere den § 166, den sogenannten »Gotteslästerungsparagraphen«. Mit dem auf das Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes von 1870 und das »Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten« von 1851 zurückgehenden Reichsstrafgesetzbuch wurden die einzelstaatlichen Regelungen zur »Religionsschmähung« durch eine einheitliche Regelung folgenden Wortlautes ersetzt: »Wer dadurch, daß er öffentlich in beschimpfenden Aeußerungen Gott lästert, ein Aergerniß gibt, oder wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Bundesgebietes bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft, ingleichen wer in einer Kirche oder in einem anderen zu religiösen Versammlungen bestimmten Orte beschimpfenden Unfug verübt, wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft.«353

Bei den legislatorischen Beratungen zum Strafgesetzbuch im Reichstag geäußerte Bedenken hatten zwar zu gewissen Präzisierungen geführt - so stand unter Strafandrohung nicht lapidar der »Gotteslästerer«, sondern nur der, der durch entsprechende Äußerungen ein Ärgernis erregte -; dennoch führte die 352 Stern, Kampf Bd.2, S.799f, 804. In Dresden gehörte Schuster 1879/80 zu jenem Parteiflügel, der in Anlehnung an Johann Most's »Freiheit« eine stärkere Radikalisierung einforderte und eine »zu matt(e)« Haltung etwa von Max Kegel und Max Kayser beklagte: s. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.216, 260f. 353 ReUhs-Gesetzblatt, S. 159. Diese Regelung blieb bezüglich der Gotteslästerung unverändert bis zur Strafrechtsreform 1969. Zu den einzelstaatlichen Regelungen vor 1870/71 vgl. Moser, S.5155. Die einzelstaatlichen Regelungen waren äußerst heterogen; Bayern beispielsweise kannte seit 1813 gar keinen expliziten Straftatbestand der Gotteslästerung mehr. Das Strafmaß war bemerkenswerterweise vor 1871 im ganzen geringer als danach; nur Preußen (1861) und Österreich (1852) drohten mit Strafen bis zu drei bzw. bis zu zehn Jahren.

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zuweilen extensive Auslegung des § 166 zu einer Vielzahl von Prozessen.354 Der Vorwurf der Religionsschmähung zählte neben der Majestätsbeleidigung und der »Volksverhetzung« bzw. der »Aufwiegelung zum Klassenhass« zweifellos zu den häufigsten Ursachen der Strafverfolgung von Sozialdemokraten zwischen 1863-1890 (und darüber hinaus)355, wenn es auch kaum möglich ist, aus den verstreuten Berichten eine genaue Quantifizierung vorzunehmen. Klassische Opfer des Gotteslästerungsparagraphen waren sozialdemokratische Freireligiöse und Freidenker wie Ludwig Würkert, Albert Dulk und Oskar Kiemich.356 Aber auch religionskritisch profilierte Autoren und Agitatoren der Partei wie Johann Philipp Becker, Johann Most und Franz Rohleder357 kamen in persona oder mit ihren Werken mit dem § 166 in Berührung, ebenso wie sozialdemokratische Zeitungsredakteure oder auch »einfache« Parteigenossen, wenn sie sich etwa in einer Parteiversammlung eine später inkriminierte Bemerkung zuschulden kommen ließen. Doch Anklagen wegen Religionsschmähung aufgrund von § 166 RStGB blieben keineswegs auf die Arbeiterpartei(en) beschränkt, wie die in der sozialistischen und freidenkerischen Presse dokumentierten Fälle von namenlosen oder prominenten Freireligiösen und Freidenkern, bürgerlich-liberalen Schriftstellern (Paul Lindau), aber auch nationalliberalen evangelischen Geistlichen und radikalen Antisemiten (Max Liebermann von Sonnenberg) zeigten.358 In der Regel richteten sich die Anklagen aufgrund von § 166 gegen polemisch pointierte, von den Strarverfolgungsbehörden als »beleidigend« eingestufte religions- und kirchenkritische Ausführungen, seien sie schriftlich in eigenständigen Publikationen oder Zeitungsartikeln niedergelegt oder mündlich in Versammlungen oder auch nur im Alltagsgespräch geäußert.359 Die Spanne reichte hier vom scharf antireligiösen Traktat und Bekundungen der Freude 354 Vgl. Leutenbauer, bes. S.265f.. 355 Am ausführlichsten hierzu bisher Grote, Quaestor. Grote, der Fälle bis 1876 aufgreift, spricht ebd., S.163 zu Recht von einem Forschungsdefizit in dieser Frage. 356 Crimmitschauer Büger- und Bauernfreund 29.12.1875 Nr.302 S.3 und Votksstaat 12.1.1876 Nr.4.S.2 (Würkert); Chemnitzer Freie Presse 28.12.1876 Nr.301 S.3 und ebd. 5.6.1878 Nr.129 S.3 (Klemich)Jestrabek, S.13 (Dulk). 357 Volksstaat 1.9.1876 Nr.102 S.l (behördliche »Unbrauchbarmachung« von Beckers »Neue Stunden der Andacht«); Vorwärts 5.5.1878 Nr.52 S.4 und Freiheit 4.1.1879 Nr.l S.3 (Most); Vorwärts7.11.1877 Nr.131 S.2 u n d eebd.24.2.1878 Nr.23 S.3 (Rohleder). 358 Chemnitzer Freie Presse 2 0 . 3 A S 7 4 NR.,65 SA und Neuer Sociat-Demokrat 14.2.1875 Nr.20 S.2 (Lindau);Menschenthum 19.9.1886 Nr.38 S.150f. undebd. 24.7.1887 Nr.30 S.117f. (Prozess gegen den evangelischen Geistlichen Thümmel); ebd. 18.3.1882 Nr.11 S.44 (Liebermann von Sonnenberg). 359 So wurde z.B. von der Kieler Strafkammer der Arbeiter Kasch aus Dodau wegen der Äußerung, »er glaube nicht an Gott, sondern mehr an die Sozialdemokraten«, zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt: Volkswille 25.4.1877 Nr.49 S.195. Aber auch wegen Verlesens religionskritscher Texte, z.B. des »Antisyllabus«, in öffentlichen Versammlungen konnte eine Verurteilung wegen Religionsschmähung erfolgen: Volksstaat 12.1.1870 Nr.4 S.l (aufGrundlage der sächsischen Gesetzgebung).

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angesichts des zu beobachtenden Kirchenbesuchsrückganges über harmlose Scherze bis hin zu christlich gefärbten Bekenntnissen zur Sozialdemokratie. So konnte selbst die gängige Überzeugung von Parteigenossen, Jesus sei der erste Sozialist gewesen, zu einem § 166-Prozess fuhren.360 Häufig machten die Anklageschriften das religionsschmähende Vergehen an einzelnen Begriffen und Formulierungen fest, wie der Bezeichnung von Theologie und christlichem Glauben als »vermorschte Fabel- und Märchenwelt« in einem Artikel der »Fränkischen Tagespost«.361 Die Willkür dieser Rechtspraxis lässt sich an den dokumentierten Fällen ermessen, ebenso aber an der Tatsache, daß auch vielfach scharfe religionskritische Polemik aus den Reihen der Sozialdemokratie nicht zur Strafverfolgung führte.362 Da die Justiz in Sachen des Religionsparagraphen oft erst tätig wurde, wenn sie auf vermeintlich anstößige Äußerungen direkt hingewiesen wurde, spielten Denunziationen eine entscheidende Rolle für die Strafverfolgung. Nicht nur Staatsanwälte und Polizisten, die Parteiversammlungen überwachten, zeigten Sozialdemokraten aufgrund von § 166 an, sondern auch christliche Sozialreformer, kirchlich-orthodoxe Geistliche und Redakteure konservativer Blätter.363 So denunzierten häufig Angehörige des konservativen Milieus sozialdemokratische »Religionsschmähungen« bei den Strafverfolgungsbehörden. Nicht wenige § 166-Verfahren endeten mit Freisprüchen. Häufig verhängten die Gerichte Gefängnisstrafen zwischen drei und zehn Monaten, wobei Richter gelegentlich das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß noch überschritten.364 In einigen Fällen kassierten übergeordneten gerichtliche Instanzen auch die milden Urteile niederer Kammern und erhöhten das Strafmaß oder erzwangen eine Neuverhandlung. 365 Proteste gegen die von Kritikern gerne als 360 Der Berliner Parteigenosse Stricker, der in einer Restauration erklärt hatte, Christus sei der erste Sozialdemokrat gewesen, wurde allerdings von der Anklage auf Gotteslästerung freigesprochen, obwohl der Staatsanwalt eine zehnmonatige Gefängnisstrafe beantragt hatte: Menschenthum 2.8.1885 Nr.31 S.124. 361 Beniner Volksblatt 30.8.1889 Beilage zu Nr.202 S.1. Der verantwortliche Redakteur der »Tagespost« und Reichstagsabgeordnete Carl Gnllenberger, der den attackierten Artikel der Berliner »Volkszeitung« entnommen hatte, wurde allerdings nach dem Widerspruch des Rechtsanwalts und bekannten Atheisten Ferdinand Heigl außer Verfolgung gesetzt. Vgl. die Aufstellung (nicht nur sozialdemokratischer) »beschimpfender Äußerungen« in Leutenbauer, S.270. 362 So wurde Josef Dietzgen wegen seiner bekannten religionskritischen »Kanzelreden« »Die Religion der Sozialdemokratie« (1870-1875) bis 1878 nicht belangt: s. Stern, Kampf B d . ! , S.511. 363 Vgl. Neuer Social-Demokrat 12.11.1873 Nr.131 S.l; Chemnitzer Freie Presse 26.10.1876 Nr.250 SA, Menschenthum 21.2.1886 Nr.8 S.31. 364 Häufig sahen die Gerichte durch die inkriminierten Äußerungen der Verklagten noch weitere Straftatbestände erfüllt. Die höchste hauptsächlich aufgrund von § 166 verhängte Strafe in den untersuchten Quellen wurde 1876 gegen den Redakteur der »Chemnitzer Freien Presse« Bruno Looff ausgesprochen und lautete auf 1 Jahr und 4 Monate Haft: Chemnitzer Freie Presse 2.9.1876 Nr.204 S.l. 365 Vgl. die Verfahren gegen den sozialdemokratischen illustrierten Kalender »Der arme Conrad« 1875/76, die bei Grote, Quaestor, S.169-171 dokumentiert sind.

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»Ketzerprozesse« titulierten Verfahren nach § 166 zielten zunächst auf den Schutz der den Protest vortragenden Interessengruppe. So petitionierten sogar evangelische Geistliche an den Reichstag um eine Aufhebung des Religionsparagraphen, als ein Amtsbruder wegen polemischer Ausfälle gegen die katholische Dogmenlehre nach § 166 verurteilt wurde. 366 Bei Freireligiösen und Freidenkern 367 , Sozialdemokraten und linksliberalen, demokratischen Kräften (»Frankfurter Zeitung«) überschritt die Kritik an dieser Gesetzgebung jedoch auch die eigenen Grenzen. Und als liberale Zeitungen in einem der aufsehenerregendsten Verfahren jener Jahre für den aufgrund eines Artikels über die Himmelfahrtslehre verurteilten sozialdemokratischen Redakteur der »Chemnitzer Freie Presse« Gustav Saevecke Stellung bezogen, sprach man in der Partei mit seltener Eindeutigkeit von einer möglichen Zusammenarbeit. In einer überfüllten Chemnitzer Volksversammlung am 15. August 1876 wurde ein Artikel der liberalen Leipziger »Volkszeitung« gegen Saeveckes Verurteilung verlesen. Anschließend erklärte der Chemnitzer sozialdemokratische Redakteur und Reichtagsabgeordnete Julius Vahlteich (1839-1915), »[...] er habe von der liberalen Partei eine sehr geringe Meinung, er sei aber überzeugt, daß in dieser Partei ebenfalls eine entsprechende Anzahl ehrlicher Leute sich befinden, die jetzt zwar im Vorurtheil befangen sind, aber durch solche Verfolgungen, wie die jetzigen, über die Richtung der Bismarck'schen Aera aufgeklärt würden. [...] Es zeige sich demnach, daß die Verfolgungen geeignet sind, alle ehrlichen Elemente auch in anderen Lagern unter dem Banner der Opposition zu vereinigen.« 368

Der sozialdemokratischen Agitation galt der § 166 des Reichsstrafgesetzbuches als nicht hinnehmbare Einschränkung der Gewissensfreiheit. Kaum einmal wurde ein besonderer Rechtsschutz der Religionsgemeinschaften vor Verunglimpfungen anerkannt. 369 In seiner gegenwärtigen Fassung sollte der Paragraph unbedingt abgeschafft werden, und die »Zukunftsstaats«-Vision des Liegnitzer Parteimitgliedes und populärwissenschaftlichen Schriftstellers Oswald Köhler negierte explizit die Notwendigkeit einer entsprechenden Regelung in der Zukunft. 370 Nicht allein die Grundforderung der Gewissensfreiheit, sondern auch religionskritische Topoi unterstützten immer wieder die Argumentation gegen den § 166, der unter den Bedingungen fortgeschrittener 366 Menschenthum 31.7.1887 S. 121f.; ebd. 12.8.1888 Nr.33 S. 131 f.. Der Fall des Pfarrers Thümmel sorgte für eine breite Bewegung im Protestantismus zur Reform, wenn nicht zur Aufhebung des angeblich die katholische Kirche bevorzugenden § 166; vgl. scharf antikatholisch der evangelische Theologe Weitbrecht. 367 Die freidenkerisch orientierten »Klemich's Blätter für geistigen Fortschritt« versprachen in einer Anzeige im »Vorwärts«, »alle Vorkommnisse der modernen Inquisition«, darunter auch »alle Ketzerprozesse«, chronologisch zu registrieren. Vorwärts 8.10.1876 Nr.4 S.4. 368 Chemnitzer Freie Presse 16.8.1876 Nr. 189 S. 1. 369 Ebd. 3.9.1876 Nr.205 S.l. 370 Köhler, S. 131. Zur Würdigung dieser Schrift vgl. Höbcher, Weltgericht, S.395f.

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Wissenschaft und angesichts der sittlichen Dekadenz der Geistlichen nicht zu legitimieren sei. Die Sozialdemokraten bemühten sich zudem, die »Ketzerprozesse« als obrigkeitsstaatliches Instrument gegen die Arbeiterpartei(en), den politischen Hauptgegner des Staates darzustellen; der geltend gemachte Anspruch, die Religion schützen zu wollen, diene nur als Vorwand. Der Religionsparagraph war an sich keine Geburt klassenjurisdiktionellen Denkens, sondern blickte auf eine lange Rechtstradition zurück. In den Jahren 1876-1878 jedoch, als die behördlichen Repressionen gegen die zunehmend als Bedrohung empfundene Partei sich verschärften, nahmen die massiven Strafverfolgungen wegen Religionsschmähung und Gotteslästerung insbesondere im Königreich Sachsen als sozialdemokratischem Kernland371 doch den Charakter von »Klassenjustiz«372 an, worauf auch die Art der Verfahrensbeteiligung höherer Instanzen hindeutet. Die Justizbehörden bestätigten außerdem zuweilen ungewollt die entsprechende sozialdemokratische Kritik, indem sie die Parteizugehörigkeit von Angeklagten oder religionsschmähende Äußerungen vor einem Arberierpublikum als strafverschärfende Umstände anführten.373 Wenn auch Liberale der Mitverantwortung für diese Gesetzgebung geziehen wurden, galten im sozialdemokratischen Religionsdiskurs doch der christliche Staat und die ihn verteidigenden konservativen Teilmilieus als die eigentlichen Träger dieser Strafverfolgungen.374 Hier kam nun eine Diskursfigur ins Spiel, derzufolge die Partei aus der sich intensivierenden Verfolgung gestärkt hervorgehen würde. Wie aus den Repressionen propagandistischer Nutzen geschlagen wurde, verdeutlicht wiederum der Fall des Chemnitzer Redakteurs Saevecke, dessen Strafverfolgung die Parteimitglieder mobilisierte, Breitenwirksamkeit schuf (Volksversammlungen, Plakataktionen) und der Kirchenaustrittsagitation in Sachsen Auftrieb gab.375 Wenn andererseits aber der sozialdemokratische Diskurs den vermeintlichen sozialdemokratischen Religionsschmähungen »echte« Gotteslästerungen wie etwa die kirchliche Rechtfertigung des Krieges gegenüberstellte, entbehrten diese Einwendungen nicht immer einer religiösen bzw. christlichen Motivation; zumindest konnten sie Mentalitäten eines religiös gestimmten Publikums bedienen. Den Fall Saevecke kommentierten die »Braunschweiger Leuchtkugeln« mit einem ganz unpolemischen Gedicht »Gotteslästerung«: 371 In einem aus der »Frankfurter Zeitung« übernommenen Leitartikel »Ketzergerichte« verwies der Crimmitschauer Bürger- und Bauemfreund 20.4,1877 Nr.89 S. 1 allerdings darauf, daß sich »in der jüngsten Zeit« Prozesse nach § 166 nicht nur in Sachsen, sondern auch in Württemberg, Preußen und Baden häuften. 372 So die Wertung bei Grote, Quaestor, S. 169. 373 Vgl. Volksstaat 17.9.1876 Nr.109 S.2; Vorwärts 7.8.1878 Nr.92 S.3. 374 Chemnitzer Freie Presse 2.9.1876 Nr.204 SA; Dresdner Votksbote 3.9.1876 Nr.104 S.l. 375 Ebd. 12.8.1876 Nr.186 S.l; ebd. 16.8.1876 Nr.189 S.1.

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»Den Gott im Himmel braucht ihr nicht zu schützen, ›Die Rach' ist mein', hat er sich vorbehalten, Doch Euer Schutz, er kann dem Gott nichts nützen, Drum den Allwalter für sich selbst laßt walten. [...] Wenn's Gottesläst'rung giebt, so ist's nur eine, Daß man das Recht dem Unrecht läßt erliegen, Das ist das ›Aergerniß‹, das einzig Eine, Daß sich der Gute muß dem Bösen schmiegen.« 376

Evangelische Sozialreform und »chrbtlkher Sozialismus« Die Intensität der Religionsdiskurse im »Jahrhundert der Säkularisierung« erklärt sich nicht zuletzt aus der hohen sozialpolitischen Bedeutung, die der religiösen Frage in vielerlei Hinsicht zuerkannt wurde. In religionskritischer Sicht stabilisierte Religion namentlich in der historischen Konkretion orthodoxer Obrigkeitstheologie den gesellschaftlichen Status quo und damit auch die herrschende Sozialordnung. Die Überzeugung hingegen, daß die durch den sozioökonomischen Strukturwandel bedingten Verwerfungen eher ein sittliches denn ein wirtschaftliches Problem seien und die »Lösung der sozialen Frage« in letzter Instanz nur durch eine religiöse Erneuerung zu erreichen sei, prägte das christlich-konservative Milieu insgesamt und nicht nur die in diesem Milieu eher randständigen »evangelischen Sozialreformer«. »[...] die Sozialkonservativen konnten sich von einer letzthin christlichen Betrachtung der sozialen Frage nicht loslösen, die übrigens nicht nur die Liebe zum leidenden Mitmenschen gebot, sondern auch das Prinzip der persönlichen Verantwortung und der Selbsthilfe geltend machte; f...].«377 Soziale und religiöse Fragen konnten im konservativen Diskurs durch einen aggressiven Antiliberalismus verbunden sein, stand doch die liberale Ideologie in konservativer Sicht für ungehemmten Kapitalismus und für Aufklärung, moralischen Libertinismus und damit die Zersetzung der traditionellen christlichen Wertegemeinschaft.378 Auch liberale Sozialreformer im 1872 begründeten »Verein für Socialpolitik«379 und der Sozialkatholizismus waren einem sol376 Brautischweiger Letxhtkugeln 13.8,1876Nr.l88S.2. Kirchliche Kriegsrechtfertigung als »gotteslästerlich«: ebd. 15.7.1877 Nr.163 S.1; Sozialdemokrat 22.1.1887 Nr.4 S.3. 377 Kondylis, S.442; zur Minderheitenposition der Sozialprotestanten im konservativen Milieu ebd., S.443-46. Vgl. zum Sozialkonservatismus auch die Problemskizze von Beck, die diese Bewegung positiver als Kondylis beurteilt, allerdings den sozioreligiösen Konnex weitgehend ausblendet. Zum »Protestantismus vor der sozialen Frage« die Überblicke von Shanahatt; Kouri, bes. S.4248; Bester, Kirche, S.30-33. Beiträge in Kaiser/Loth überwiegend zur Zeit nach 1890. 378 Beck, S.90. 379 Vgl. hierzu die dem »Verein« nahestehende christlich geprägte »Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage«. 1872 merkte das Blatt allerdings auch an: »Gegen den Hinweis aufdas Christen-

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chen »sozioreligiösen« Diskurs verpflichtet. Doch bot die Ideologie des christlichen Staates dem protestantischen konservativen Milieu die Möglichkeit einer spezifischen Vertiefung des Programmes einer Lösung der sozialen Frage durch die Religion. An den evangelischen Sozialreformern, die im Mittelpunkt des kritischen Interesses der Arbeiterparteien am Sozialprotestantismus standen, wird dies deutlich. Johann Hinrich Wichern begründete 1848/49 die »Innere Mission«, den zentralen Dachverband evangelischer Sozialarbeit, als Antwort auf die »antichristliche« kommunistische Bedrohung von 1848. Seine hochkonservativ-monarchische Haltung verband ihn mit den anderen Mitgliedern des »Zentralausschusses für die Innere Mission«, darunter Friedrich Julius Stahl als Vizepräsident der »Inneren Mission« und der spätere preußische Kultusminister Heinrich von Mühler (1813-1874). Diese Konservativen drückten dem Sozialwerk auf Jahrzehnte den Stempel als »kontrarevolutionäres Instrument«380 auf. Auch der zweite, radikalere evangelische Sozialreformer der Frühzeit neben Wichern, Victor Aime Huber (1800-1869), war dem konservativen Milieu verpflichtet, zählte er 1848/49 doch zu den Mitbegründern der »Konservativen Partei« in Preußen.381 Daß die »Innere Mission« in den 1880er Jahren eine Blütezeit erlebte, verdankte sie in erster Linie Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910), dem Leiter der »Betheischen Anstalten« zur Pflege epileptisch Kranker und Begründer der »Arbeiterkolonie« Wilhelmsdorf. Nicht nur theologisch stand Bodelschwingh, der in Bethel die erste »Kirchliche Hochschule« Deutschlands als Gegengewicht zur »ungläubigen« Universitätstheologie gründete, auf konservativer Seite. Von ihm ging ebenso die maßgebliche Anregung für den Sedanstag als nationalreligiösem Feiertag aus.382 Adolf Stoecker (1835-1909), der 1878 die »Christlich-soziale Arbeiterpartei« ins Leben rief, war zwar im konservativen Lager keineswegs unumstritten, zählte diesem jedoch zweifellos zu; seine Berufung zum Hofund Domprediger im Jahre 1874, die eine monarchisch-konservative Gesinnungvoraussetzte, verdankte er hauptsächlich seinem Engagement als Militärgeistlicher 1870/71. Diese führenden Vertreter der evangelischen Sozialreform kennzeichnete somit ihr antisozialistischer und antiliberaler Konservatismus sowie ihre national getönte Religiosität, die in das Konzept vom christlichen Staat eingebunden war. thum, als Heilmittel unserer sozialen Krankheit, erheben sich zahlreiche Einwände, welche [...] manchen Schein für sich haben, ja dieser oder jener Form des christlichen Denkens oder Lebens gegenüber unstreitig berechtigt sind.« Concordia 23.5.1872 Nr.21 S.164. 380 Brakelmantt, soziale Frage, S. 139. Zu Wicherns Kommunismuskritik ders., Wichern, S.2863. 381 Schwentker, S.103f.. Zu Hubers Konservatismus und seinem - nach 1850 durchaus gebrochenen - Verhältnis zur konservativen Partei und ihren Parteigängern ausführlich Kanther/Petzina, S.112-128, 163-67. 382 Vgl. Lehmann, Bodelschwingh und das Sedanfest.

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Die sozialdemokratische Agitation unterzog theoretische Überlegungen und konkrete Projekte der konservativen evangelischen Sozialreform in der Regel einer vernichtenden, häufig beißend ironischen Kritik. Ihre Protagonisten wurden der völligen Ahnungslosigkeit geziehen; als Beleg verwies die Parteipresse etwa auf die von ihr breit dokumentierten und kommentierten Konferenzen der »Inneren Mission«. Daß die christlich-konservativen Vorschläge zur Lösung der sozialen Frage vermeintlich allenfalls Almosen und »Palliativmittelchen« empfahlen, führte die Parteiagitation auf eine Jahrhunderte alte kirchliche Tradition zurück, höchstens »Barmherzigkeit«, nie aber Gerechtigkeit zu üben. Menschenrechtlich legitimierte Gerechtigkeitsansprüche hätten die Pfaffen stets unter Vertröstung auf ein besseres Jenseits abgewehrt. Das Christentum habe 2000 Jahre Zeit gehabt, die Armut zu bekämpfen; nun, nach seinem definitiven Scheitern, solle es dem Sozialismus Platz machen.383 Wohl billigte der dergestalt religionskritisch unterfutterte Diskurs den konservativen Sozialtheoretikern und ihrer kapitalismuskritischen Rhetorik durchaus richtige analytische Ansätze zu. Die Zustimmung zu konkreten Vorschlägen des politischen Gegners, z.B. hinsichtlich der Abschaffung der Sonntagsarbeit, bildete jedoch die Ausnahme. 384 Gerade die 1882 gegründeten Bodelschwinghschen »Arbeiterkolonien« für Obdachlose boten der SAP-Presse über Jahre hinweg Anlass zu schärfsten Angriffen. Schon bald nach der Gründung polemisierte diese gegen die »Musterausbeutungsanstalt« des »christlichen Sozialismus«, wie sich verschiedene Ansätze konfessioneller Sozialreform zur Erheiterung oder auch Verärgerung der Sozialdemokratie gerne selbst bezeichneten. Natürlich sei das Interesse an dieser Einrichtung »vom Landjunker bis zum Herrn Minister« groß und bewilligten die Provinzialstände von Westfalen hohe zinslose Kredite, könnten sie doch nun »den armen Handwerksburschen« guten Gewissens vor die Türe setzen.385 Diese »sozialistischen Karrikaturen«386, von denen jetzt in Deutschland soviel Aufhebens gemacht werde, seien in Wahrheit »eine raffinirte Dressuranstalt für menschliche Sklaven«, ihr großer Zustrom lediglich als »vernichtende Kritik unserer sozialen Zustände« zu verstehen.387 An den humanitären Leistungen 383 Crimmitschauer Bürger- und Bauemfreund 778.11.1872 Nr.261f. S.l; Vorwärts 17.6.1877 Nr.70 S.l; ebd. 13.1.1878 Nr.5 S.4; u.ö.. 384 S. z.B. Wahrheit 31.7.1877 Nr.175 S.l; Beniner Volksblatt 26.1.1886 Beilage zu Nr.21 S.1. Vgl. auch Neuer Social-Demokrat 3.12.1873 Beilage zu Nr. 140 S.2 (Forderung nach Abschaffung der Sonnatagsarbeit im ADAV-Programm für die Reichstagswahlen 1874 unter Verweis auf »das alte religiöse Gesetz«). Daß sozialreformerische evangelische Theologen wie Rudolf Todt zur Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie in der »Sonntagsfrage« aufriefen, kam allerdings ebenso selten vor; vgl. Todt, S.338. 385 Sozialdemokrat 15.6.1882 Nr.25 S.l (Leitartikel »Steine statt Brod«). 386 Ebd. 1.4.1886 Nr. 14 S.3. 387 Ebd. 22.3.1883 Nr.13 S.2. Dieses Bild stellte seinerseits eine bloße »Karrikatur« der Arbeiterkolonien dar; der unbestreitbare antisozialdemokratische Impuls der Bodelschwinghschen

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Bethels, dem Bemühen um die gesellschaftliche Integration von »Randgruppen«, sah diese Polemik vorbei. Die Auseinandersetzung mit dem Sozialkonservatismus wurde keineswegs nur auf dem Papier geführt. So nutzten Sozialdemokraten immer wieder das Forum kirchlicher Versammlungen zur kontroversen Darstellung ihrer sozialpolitischen Bestrebungen und zur Abgrenzung vom konkurrierenden christlich-konservativen Milieu. Am 3. Mai 1876 meldete der »Neue Social-Demokrat« unter der Rubrik »Vermischtes«: »Ein sogenannter Verein für Sonntagsheiligung‹ - nicht bloß für ›Sonntagsruhe‹, wie die Begründer desselben besonders betonen, - ward am vorigen Mittwoch, den 26. April, in Berlin ins Leben gerufen. Die Ziele desselben entsprechen dem evangelisch-orthodoxen Standpunkt der Theilnehmer, welche die kirchliche Feier [...] in den Vordergrund schieben und die Abschaffung der Sonntags-Arbeit zum Zwecke der menschlichen Erholung mit einigermaßen bedenklichen Blicken betrachten. [...] Da anoncirt war, daß Jedermann freien Zutritt habe, begab sich auch der Sozialist Hasselmann mit einigen Gesinnungsgenossen dorthin und entwickelte die Stellung, welche die SozialDemokratie der Sonntags-Arbeit gegenüber einnimmt. Ein Zusammengehen mit jener politischen Richtung sei für die Social-Demokratie prinzipiell ein Ding der Unmöglichkeit, im Uebrigen wolle dieselbe die Sonntags-Arbeit von Grund aus beseitigen und zwar mit Hülfe der Gesetzgebung.«388 Zwei Jahre später scheiterte derselbe Wilhelm Hasselmann (1844—1916) mit dem Versuch j o h a n n Mosts Berliner Kirchenaustrittskampagne in seinen Bergischen Wahlkreis hineinzutragen. Most war schon in den vorangehenden Jahren als besonders radikaler Religions- und Kirchenkritiker hervorgetreten. Die von ihm initiierte, in der Partei umstrittene Massenagitation für Kirchenaustritt reagierte aber auf einen konkreten Anlass: die Gründung der »Christlich-sozialen Arbeiterpartei« am 3. Januar 1878 in Berlin durch den Hof- und Domprediger Adolf Stoecker. Daß gerade Stoeckers Aktivitäten zu der intensivsten und heftigsten Auseinandersetzung führten, welche die Partei mit dem konservativen Sozialprotestantismus je führte, mag auf den ersten Blick verwundern. Der Theologe Stoecker als Parteigründer und lautstarker populärer Agitator galt nicht nur Bismarck als suspekt, sondern wurde auch von seinen kirchlich orthodoxen vorgesetzten Behörden reglementiert und auf Betreiben Kaiser Initiative erklärt allerdings die aggressive Polemik. Vgl. Lehmann, Bodelschwingh und Bismarck, S.613-16; ders., Bodelschwingh, S.250f.. Bodelschwingh teilte zwar nicht wie Stoecker eine romantische Auffassung vom christlichen Staat; doch waren auch für ihn Königtum, Heer und Kirche die wichtigsten »Dämme wider den Umsturz« (zitiert nach Lehmann, Bodelschwingh und Bismarck, S.625). 388 Neuer Social-Demokrat 3.5.1876 Nr.51 S.4. Vgl. den Bericht über eine kirchliche Versammlung gegen die Sonntagsarbeit in Hamburg, an der Sozialdemokraten aktiv teilnahmen, in Vorwärts 4.3.1877 Nr.27 S. 1. Eine von I. Auer eingebrachte Resolution nahm die Versammlung allerdings nicht an, so daß die Parteigenossen wenige Tage später zu einer eigenen Veranstaltung einluden: ebd. 23.3.1877 Nr.35 S.3.

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Wilhelms II. schließlich zur parteipolitischen Enthaltsamkeit gezwungen. Seine Partei blieb innerhalb des Sozialprotestantismus zudem eine Randerscheinung. Bei den Wahlen erreichte sie in der Phase ihrer Selbständigkeit nur klägliche Ergebnisse. Allerdings war dieses Scheitern der Partei 1878 noch kaum abzusehen, und außerdem kann Stoeckers Gründung ex post in mancher Hinsicht auch als Erfolg gewertet werden. Geschickt griffder charismatisch begabte Pastor die über das konservative Milieu hinaus akzeptierte Diskursfigur einer »Lösung der sozialen Frage durch die Religion« auf, bettete sie in eine dezidiert patriotische, christlich-monarchische, bald auch scharf antisemitische Rhetorik ein, die mittelfristig breit in die Gesellschaft diffundierte. Stoecker fand Unterstützung bei angesehenen Sozialreformern wie Albert Schäffle (1831— 1903) und Adolph Wagner (1835-1917). Als eigenständige Partei scheiterten die Christlich-Sozialen zwar ebenso wie die ihr nachfolgenden radikalen Antisemitenparteien; 1881 jedoch konnte Stoecker seine Bewegung in die Deutschkonservative Partei integrieren, die seit den Reichstagswahlen 1884 ihren Stimmenanteil beträchtlich ausweitete und 1892 in ihr »Tivoliprogramm« Stoeckers Antisemitismus aufnahm.389 Die sozialdemokratische Presse verzeichnete 1878 oft von Pfarrern initiierte Versuche von christlich-sozialen Ortsvereinsgründungen in Barmen-Elberfeld, Berlin, Braunschweig, Dortmund, Dresden, Duisburg, Düsseldorf, Erfurt, Frankfurt/Oder, Hamburg, Köln, Magdeburg, Naumburg, Stettin, Stuttgart und in vielen kleineren Orten z.B. der Niederlausitz und des Rheinlandes. Erstmals suchte damit eine explizit als Alternative zur Sozialdemokratie konzipierte »Arbeiterpartei« (1878: »Christliche-soziale Arbeiterpartei«, 1881 umbenannt in »Christlich-soziale Partei«) Fuß zu fassen, die von der SAP als Konkurrenz wahrgenommen werden musste: weniger kurzfristig aufgrund einiger »Überläufer«390 als langfristig wegen programmatischer und praktischer Abgrenzungsprobleme. Stoecker warb nicht nur um sozialdemokratische Überläufer, sondern auch um die Partei selbst, die er zu Wahlabsprachen und zur Unterstützung bei Stichwahlen zu bewegen versuchte391 und deren sozialpolitische Forderungen er öffentlich begrüßte. Die an sich richtigen Forderungen der Sozialdemokratie waren für ihn allerdings durch demokratische Begehrlichkeiten und Kirchenfeindschaft entwertet: »Nicht der Sozialismus 389 Vgl. auf der Grundlage teilweise erstmals ausgewerteter Archivalien die Biographie von Koch. Zur Politik Stoeckers und zu seinem Antisemitismus ertragreicher Braketmann/Greschat/ Jochmann; zur »Christlich-sozialen Arbeiterpartei« Fricke, hier S.441-45. 390 Von christlich-sozialen Agitatoren wurde immer wieder auf die Berliner Überläufer Emil Grüneberg und Wilhelm Körner hingewiesen. Zu Körner vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.72L Probleme bei der Abgrenzung hatte auch die Berliner Polizei, die ein von Grüneberg verteiltes christlich-soziales Flugblatt für ein sozialdemokratisches hielt: Vorwärts 26.6.1878 Nr.74 S.2. 391 Bernstein, Geschichte, S.76-79 (von Stoecker angestrebte, von den Sozialdemokraten aber abgelehnte Absprache 1881); Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.726-29 (christlich-soziale Unterstützung für die Sozialdemokraten bei den Stichwahlen 1884).

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trennt uns von Ihnen, sondern die Liebe zum König, zum Vaterland, zum Christenthum und zur Ordnung.«392 Nicht nur die antikapitalistische Rhetorik Stoeckers, sondern auch deren antisemitische Zuspitzungen konnten eine Gefahr für die Integrität des in dieser Hinsicht nicht völlig immunen sozialdemokratischen Milieus darstellen.393 So suchten nicht nur die Presse-, sondern auch die Versammlungsagitatoren der Partei immer wieder die direkte Konfrontation, um die deutliche Abgrenzung von Stoecker zu unterstreichen. Zu christlich-sozialen Versammlungen bestellten Sozialdemokraten eigens geeignete auswärtige Parteiredner. Die anwesenden Genossen versuchten die Versammlungsleitung zu übernehmen und eigene Resolutionen durchzusetzen. Im Zweifelsfall sprengten Sozialdemokraten die Veranstaltung, sofern diese aufgrund der Unruhe und der drohenden Saalschlägerei nicht ohnehin polizeilich aufgelöst wurde.394 Dennoch sahen auch altgediente Mitglieder die Differenzen gelegentlich nicht so scharf. Der Magdeburger Sozialdemokrat Julius Bremer (geb. 1828) etwa grenzte sich zwar bei einer Versammlung Stoeckers Ende 1883 von diesem ab, »erläuterte« aber »[...] ferner, daß das Programm, welches Herr Stöcker als das seinige hier vorfuhrt, den Redner [Bremer] schon seit dem Jahre 1864 beschäftige [,..].«395 Die Sozialdemokraten reagierten keineswegs einheitlich auf die Stoeckersche Herausforderung. Wohl eignete sich der christliche Monarchismus des Theologen trefflich zu einer Abrechnung mit den »Errungenschaften« des christlichen Staates in Geschichte und Gegenwart.396 Einen Anlass, in Konsequenz aus dieser Abrechnung die Parteigenossen massiv zum Kirchenaustritt aufzufordern, sah jedoch nur ein minderheitlicher radikaler Flügel der Partei. Gelegentlich wurde sogar dem »falschen« konservativen »christlichen Sozialismus« ein »wahrer« sozialdemokratischer »christlicher Sozialismus« gegenüber392 So Stoecker in einer Versammlung 1886, zitiert nach Berliner Volksblatt 2.3.1886 Nr.51 SA. 393 Zum Antisemitismus in der Sozialdemokratie s. Leuschen-Seppel, S.38-50; Herzig, Antisemitism;Jacobs, socialists, S.5-70. Im Zusammenhang mit der Stoecker-Agitation grenzten sich Sozialdemokraten aber immer wieder auch vom Antisemitismus ab; s. z.B. den Grundsatzartikel »Die Arbeiterbewegung und der Antisemitismus« in der Volksstimme 16.7.1890 S.1f.. Vgl. Wistrich; Leuschen-Seppel, S.87-117. 394 Vorwärts 27.3.1878 Nr.36 S.3; ebd. 19.4.1878 Nr.46 S.4; ebd. 3.5.1878 Nr.51, S.3f.; Westfälische Freie Presse 30.5.1878 Nr.51 S.3; Berliner Volksblatt 2.3.1886 Nr.51 S.4; u.ö.. 395 Süddeutsche Post 1.1.1884 N r . l S.2. Zu Bremer vgl. Liebknecht, Briefwechsel B d . l , S.273. Bemerkenswert sind auch die Formulierungen in einem gegen den »Kathedersozialisten« Adolph Wagner gerichteten Aufsatz des »Vorwärts«, der mit den Worten schließt: »Nieder mit demfalschen, utopisch-reaktionären, pfäffischen Staatssozialismus! Es lebe der Staatssozialismus der Sozialdemokratie!« Vorwärts 12.4.1878 Nr.43 S.lf.. Zu den Abgrenzungsproblemen der Sozialdemokratie zu staatssozialistischen Konzepten vgl. Lidtke, Social Democracy; Beck, S.89f. 396 So gab August Bebel selbst eine seiner zentralen christentumskritischen Schriften, die »Glossen« zu Guyot und Lacroix, die den Topos vom sozialen Versagen in der Kirchengeschichte breit aufgriffen, im Januar 1878 in deutlicher Anspielung auf Stoecker heraus: Bebel, Glossen, S.3. Christentumskritische Vorträge in Erfurt schwächten nach Ansicht des »Vorwärts« sogar direkt den Boden für die dort geplante Parteifiliale der Christlich-Sozialen: Vorwärts 20.2.1878 Nr.21 S.4.

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gestellt und Attacken christlich-sozialer Redner gegen »[...] die Partei, welche die vom Christentum gepredigte Gleichheit und Brüderschaft der Menschen zu verwirklichen bemüht ist [...]«397, zurückgewiesen. Der Parteiflügel um Bebel und die Redaktion des »Sozialdemokrat« konnte zwischen diesen kontroversen Ansichten nicht vermitteln; er musste sich vielmehr um einen dritten Wegjenseits dieser Positionen bemühen. Stoecker musste sachlich widerlegt werden; einzelne Komponenten seines christlichen Sozialismus wie der Antisemitismus konnten dabei als den ethischen Grundsätzen des Christentums entgegenstehend entlarvt werden; das sozialdemokratische Milieu galt es aber als ohnehin »religiös immun« darzustellen. 398 Zwischen 1863 und 1890 beanspruchten öffentliche Diskurse, die sich an den Leitvisionen vom »christlichen Staat« und von »nationaler Religion« orientierten, noch eine beträchtliche Geltungsmacht im Ringen um kulturelle Hegemonie. Sie beschränkten sich keineswegs auf eine kirchenpolitische Fragestellung, sondern besaßen ebenso eine verfassungs- und national-, sozial- und kulturpolitische Dimension und ragten in die Alltagspraxis vieler Menschen hinein. Allerdings erlaubten die genannten Leitvisionen vielfältige Assoziationen und Interpretationen und unterlagen einem steten Wandel. Auch sperrt sich dieser in den Übergängen unscharfe Religionsdiskurs gegen eine zu eindeutige Zuordnung zu den parteinahen Milieus: Weder kann ein konservatives Konzept von nationaler Religion völlig trennungsscharf von einem entsprechenden liberalen Konzept unterschieden werden (Beispiel Sedanstag), noch trat der Konservatismus z.B. in der Frage des Staat-Kirche-Verhältnisses einheitlich auf (vgl. das freikonservativ-liberale Bündnis im Kulturkampf). Dennoch kann unter Berücksichtigung dieser Differenzierungen an der Rede von einem »konservativen Religionsdiskurs« festgehalten werden: Stand doch an der Wiege des Konservatismus als politischem und soziokulturellem Milieu ein spezifischer Diskurs vom christlichen Staat, dessen ordnungspolitischer Akzent auch nicht bei der »Nationalisierung« dieses Diskurses verloren ging, und erforderte doch der christliche Staat für die Konservativen wesentlich das Festhalten an einer traditionalistisch verstandenen Kirchlichkeit, von deren faktischem Zwangscharakter das konservative Milieu nur mühsam Abschied nahm. Der milieustabilisierende Charakter des konservativen Religionsdiskurses bestätigt sich in einer doppelten Abgrenzungsperspektive: Zum einen war eine antisozialistische Pointierung integraler Bestandteil des konservativen Religionsdiskurses (deutlich z.B. an der Kongruenz der Feindbilder »Sozialdemokrat« und »Dissident«), zum anderen definierte sich umgekehrt das sozialdemokratische Milieu unter anderem gerade durch eine fundamentale Abgrenzung zum christlichen Staat und seinen gesellschaftlichen Trägermilieus. 397 Wähler 5.4.1890 Nr.43 S.l. 398 Vgl. Sozialdemokrat 7.12.1882 Nr.50 S.3; ebd. 21.12.1882 Nr.52 S.l; ebd. 7.6.1883 Nr.24 S.l.

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1.3.3 Politischer und sozialer Katholizismus Katholisches Milieu und politucher Katholizismus Das »katholische Milieu« ist forschungsgeschichtlich geradezu als Idealtyp (Max Weber) des sozialwissenschaftlichen Milieukonzeptes zu bezeichnen. Ein im Zentrum des Milieukonzepts stehender spezifischer Nexus von kommunikativen Beziehungen, gemeinsamen religiösen bzw. weltanschaulichen Werthaltungen, kulturellen Praktiken, politischen Optionen und Artikulationen sowie sozialen Programmen und Aktionen scheint dem Katholizismus als gesellschaftlicher Formation seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in besonderer Weise sein Gepräge gegeben zu haben. Der Milieuzusammenhang konstituiert sich ja Lepsius zufolge nicht ausschließlich und zentral an der sozioökonomischen Vergesellschaftung der Milieuangehörigen, sondern an vormodernen Formen der Vergemeinschaftung. Das »klassenübergreifende« Moment verdeutlicht die in der Mitte des Milieus stehende Partei, die in Wählerschaft, Programmatik und politischer Praxis viel weniger »Klassenvertretung« als »Aktionsausschuss« (Lepsius) des soziokulturellen Milieus, das sie vertritt, darstellt. Mit dem Aufbruch des sozialen und politischen Katholizismus in Deutschland nach der Revolution von 1848/49 kann der Beginn der eigentlichen Milieuformation angesetzt werden. Zur Zeit der Reichsgründung 1871 war dieser Prozess wenn nicht abgeschlossen, so doch zumindest weit fortgeschritten. Die Zentrumspartei vertrat den politischen Katholizismus, während der soziale Katholizismus in zahlreichen Vereinen und überregionalen Verbänden (1870 noch am bedeutendsten: der »Katholische Gesellenverein« Kolpings) organisiert war. Die kommunikative Vernetzung ermöglichte eine umfangreiche katholische Presse (seit 1871 mit der »Germania« als einer Art Zentralblatt), eine eigene Festkultur und ein weitgespanntes Netz von nicht nur sozialpolitischen, sondern auch religiösen, geselligen und Bildungsvereinen.3w Der Kulturkampf führte im Ergebnis zu einer massiven Milieustabilisierung und Schließung.400 399 Zum katholischen Milieu (in Auswahl): Sperber, Catholicsm (zum Milieuformicrungsprozess m.E. nach wie vor die beste empirische Studie); Loth, Integration; Klöcker, mehrere Beiträge in Blaschke/Kuhlemann, Kaiserreich, darunter konzeptuell Blaschke/Kuhlemann, Geschichte, S.24-34; Arbeitskreis. Der Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte in Münster konnte in Auswertung zahlreicher Regionalstudien soziologisch fundiert das - umstrittene - Konzept »katholisches Milieu« bestätigen. Besonderes Interesse verdient die Erkenntnis, daß die Milieubildung keineswegs vornehmlich von »oben« gesteuert erfolgt, sondern viel häufiger aus Bedürfnissen von »unten« (Laien, soziale Gruppen) hervorgeht (s. Arbeitskreis, S.382). Zur konstitutiven Bedeutung der eigenen Festkultur für den Zusammenhalt des katholischen Milieus Stambolis, Festkultur, bes. S.242, 254-56. 400 Lönne, S.168-72; Blackboum, Volksfrömmigkeit, S.36f., 50f; Rohe, S.81f.; Nipperdey, Geschichte 1866-1918 Bd.2, S.364-81, bes. S380.

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Das Konzept »katholisches Milieu« ist in der historisch-empirischen Forschung bis hin zur gänzlichen Ablehnung umstritten gewesen. Inzwischen hat es sich mehrheitlich durchgesetzt, an dem Begriff festzuhalten, jedoch Differenzierungen innerhalb des Konzeptes vorzunehmen. So führt z.B. die grundlegende Arbeit von Wilfried Loth eine breit rezipierte Theorie der »Milieukoalition« ein, derzufolge verschiedene Sozialmilieus im katholischen Bereich (Arbeiter, Landbevölkerung, Bürgertum) sich je nach Interessenlage zeitweise zu einer Bewegung, dem politischen Katholizismus, zusammenschlossen, also eine »Koalition« der Sozialmilieus bildeten.401 Die sozioökonomische und soziokulturelle Heterogenität des »katholische Milieus« betont die umfassende Regionalstudie von Thomas Mergel über das rheinische katholische Bürgertum im 19. Jahrhundert. Die vollständige Milieuintegration eines erheblichen Teiles bürgerlicher Katholiken im Rheinland scheiterte demnach an den heterogenen wirtschaftlichen Interessen der Milieupartizipierenden, an der Fremdheit des katholischen Bürgertums gegenüber dem ultramontanen Katholizismus, an seiner Orientierung auf bürgerliche Werte und den daraus entstehenden mentalen Konfliktlagen.402 Den »Milieucharakter« des deutschen Katholizismus brachte der sozialdemokratische Diskurs zwar begrifflich nicht auf den Punkt. In der Auseinandersetzung mit dem Zentrum erkannte (und kritisierte) die Parteiagitation allerdings sehr wohl dessen Anspruch, Sprachrohr der deutschen Katholiken zu sein. Die sozioökonomische Heterogenität der Zentrumsklientel stellte eine Herausforderung dar. In seiner Bilanz der Reichstagsarbeit von 1887 bis 1889 nannte August Bebel das Zentrum ein ebensolches »Conglomerat von Interessenvertretungen«, wie es auch die katholische Kirche sei. Aus »Vertretern der Kirche, der Bourgeoisie und der Aristokratie zusammengesetzt«, vertrete es wesentlich die politisch wie ökonomisch reaktionären Interessen von Aristokratie und Agrariertum. »Der ›liberale‹ und ›demokratische‹ Theil des Centrums«, der »hauptsächlich Kleinbürgern und Arbeitern seine Existenz verdankt«, sei in der Minderheit; die nur »mäßige(n) Arbeiterschutzanträge« dieses Flügels stießen schnell an jene Grenzen, die katholische Bourgeoisie und katholische Handwerker setzten. »So ist das Centrum eine zwieschlächtige Partei, 401 Loth, Katholiken, S.35f. u.ö.; modifiziert (Loth spricht nun von Teilmilieus »innerhalb des angestammten ultramontanen Milieus«) in Loth, Integration, S.269-76 (Zitat S.269); zuletzt Loth, Milieus (mit Präferenz des Begriffs der »katholischen Subgesellschaft« gegenüber dem Milieubegriff, ebd., S.134-36). Zur Kritik an der Milieukoalitionstheorie s. Ritter, Parteien, S.51-53; Bkschke/Kuhlemann, Geschichte, S.26-28. 402 Mergel, Klasse; Zusammenfassung in ders., Grenzgänger, bes. S.174. Ein weiteres Forschungsproblem stellt die Frage nach der Integration der Aristokratie ins katholische Milieu dar. In Westfalen konnte der katholische Adel eine Führungsrolle im Milieu einnehmen, doch ist diese Schlüsselstellung nicht unbedingt auch für andere Regionen anzunehmen. Vgl. Reif, S. 143-46.

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im Widerspruch mit sich selbst und dieser Widerspruch, der ein Widerspruch der in ihm vereinigten gegensätzlichen Interessen ist, wird seinen Zerfall herbeiführen, an dem namentlich die Arbeiterklasse am lebhaftesten interessiert ist.«403 Die durchaus realistische Betonung des Krisenpotentials, das in der sozialen Heterogenität der Zentrumsklientel und des katholischen Milieus 404 lag, beantwortete jedoch nicht die Frage nach den partei- und milieustabilisierenden Konstituenten. Denn der von der Sozialdemokratie immer wieder und insbesondere im ausgehenden Kulturkampf prognostizierte »Zerfall« des Zentrums 405 blieb ja aus; seit Ende der 1880er Jahre an Gewicht abnehmend, blieb der politische Katholizismus doch eine konstante Größe im Parteiensystem. Was hielt also katholisches Milieu und Zentrumswählerschaft in ihrer prekären Heterogenität zusammen? Die gemeinsam bekannte und praktizierte Religion bot den entscheidenden Integrationsfaktor des katholischen Milieus - eine bemerkenswerte Antwort auf die »Herausforderung der Moderne«. Religion im katholischen Milieu erschöpfte sich nicht im Konfessionalismus protestantischer Teilmilieus. Die »katholische Religion« hatte nicht nur einen stärker lebensweltlichen Charakter; politische, soziale und kulturelle Politik schien sich im Selbstverständnis des Katholizismus vielmehr unmittelbar aus der Deutungskultur des religiösen Fundamentes herleiten zu lassen. Das im katholischen Bereich hochgehaltene korporative Staats- und Gesellschaftsideal war deutlich auf das Idealbild von einem christlichen Mittelalter zurückorientiert. Eine in den 1820er Jahren einsetzende Bewegung der religiösen Erneuerung reorganisierte und revitalisierte das katholische Leben durch religiöse Vereine, Volksmissionen, Marienkult, Herz-Jesu-Verehrung und Wallfahrten. Der Ultramontanismus schließlich als übernationale, romorientierte, theologisch »fundamentalistische« Prägekraft sorgte für die streng kirchliche Einbindung der neuen Massenreligiosität. 406 403 Bebel. Thätigkeit 1887 bis 1889, S.71, 148f. (Zitat S.149). 404 Wenn hierein Zusammenhang von ZentrumsWählerschaft und katholischem Milieu hergestellt wird, soll nicht »das ältere Bild der Einheit zwischen Zentrum und katholischem Volk« unkritisch übernommen werden; zwischen dem Ultramontanismus der »Mehrheit der kirchentreuen Katholiken« und dem »Pragmatismus einer skeptischen Zentrumsfraktion« bestanden erhebliche Differenzen, wie auch Blaschke/Kuhlemann, Geschichte, S.27 betonen. Umgekehrt dürfen aber m.E. Zentrum und katholisches Milieu nicht völlig auseinandergezogen werden. Im Kulturkampf rückte vielmehr die Zentrumspartei in die Mitte des katholischen Milieus, vgl. Blackboum, Zentrumspartei, S.77-80. 405 Prognosen des Zentrum-Zerfalles: Braunschweiger Volksfreund 26.4.1878 Nr.97 S. 1; Berliner Volksblatt 25.9.1884 Nr.148 S.2 (Artikel »Der Zerfall des Zentrums«); u.ö.. Daß auch Zentrumsfiihrer um 1890 ein derartiges Auseinanderfallen befürchteten, betont Loth, Integration, S.275. 406 Zur (in der Forschung etwas vernachlässigten) zentralen Bedeutung von Religion bei der Formierung und »Reproduktion« des katholischen Milieus vgl. Blackboum, Volksfrömmigkeit, S.27-37; Klöcker, S.243-245; Prüfer, Damm, S.117-120 (Stellenwert der Religion im Sozialkatholizismus); Blaschke/Kuhlemann, Geschichte, S.26, 31; am Fallbeispiel des Herz-Jesu-Kultes

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Politische, sozioökonomische und kulturelle Diskurse im katholischen Milieu waren immer auch religiöse Diskurse. Entsprechend rückte die antisozialistische Agitation des Katholizismus noch stärker als Konservatismus und Liberalismus die vermeintliche »Religionslosigkeit« der Sozialdemokraten in den Mittelpunkt ihrer Polemik. In der Reichstagsdebatte um die Verlängerung des Sozialistengesetzes 1886 empfahl der Zentrumsführer Ludwig Windthorst (1812-1891): »Mehr die unsittlichen, unreligiösen Bücher verbieten, als sozialdemokratische, denn auf Religion beruhen in erster Linie Gesetz und Ordnung.«407 Die Sozialdemokratie - so ein anderer Topos - sei ohnehin nur das Ziehkind von Liberalismus und modernem Staat, die durch die Zerstörung der alten Wirtschafts- und Sozialordnung, aber auch durch die Verbreitung von Aufklärung und Atheismus die Arbeiterbewegung erst hervorgerufen hätten.408 Die Sozialdemokratie konnte ihr religionskritisches Potenzial gegenüber dem katholischen Religionsdiskurs voll einbringen. Die Gesellschaftsutopien des Ultramontanismus würden lediglich das »finstere« christliche Mittelalter reproduzieren; der Katholizismus sei wissenschafts- und bildungsfeindlich und, wie etwa das wiederauflebende Wallfahrtswesen zeige, dem Aberglauben verpflichtet. Das Zentrum setze sich in erster Linie für die Aufrechterhaltung der »Religionsfreiheit« (als Sicherung der Rechte der katholischen Kirche) ein; die Partei erstrebe aber damit nichts anderes als die kirchliche Herrschaft, die es im Kulturkampf gegen die staatskirchlichen Ansprüche der Regierung durchsetzen wolle. 409 Die Prophezeiung einer »conservativ-ultramontanen Coalition« mobilisierte den traditionellen religionskritischen Topos des Bündnisses zwischen »Junker und Pfaff«.410 Dennoch waren die Angriffe der Sozialdemokratie auf die »ultramontane Religion« des katholischen Milieus zuweilen seltsam doppeldeutig. Die das katholische Deutschland bewegenden Marienerscheinungen in Marpingen (Saargebiet) 1876 galten zwar der sozialistischen Parteipublizistik als das Zeugnis eines anachronistischen Wunderglaubens; im Enthusiasmus der katholischen Bergleute der Region erahnte sie aber doch auch einen subversiven Protest gegen Obrigkeitsstaat und soziale Deklassierung. 411 So konnte der Busch, Faktor. Vgl. auch die Lokalstudie zur katholischen Milieubildung von Weichlein, bes. S.230, 232. 407 Zitiert nach Bayerische Votksstimme 2.4.1886 Nr.2 S.2. 408 So z.B. Pachtler. Vgl. zur katholischen Sozialismuskritik auch Friedberger; zur Front gegen Liberalismus und Sozialismus bei Bischof Ketteier ebd., S.67-69. 409 Sozialdemokrat 2.10.1884 Nr.40 S. 1; Wähler 24.9.90 Nr. 186 S. 1; u.ö.. Aufdie entscheidende Rolle der kirchenpolitischen Forderungen bei der Gründung der Zentrumspartei hat in neuerer Zeit noch einmal Weber, Phalanx» verwiesen; Weber betont allerdings m.E. zu stark einen »klerikalkonservativen« Charakter des Zentrums. 410 Z.B. in Fränkische Taoespost 5.4.1882 Nr.81 S.2. 411 Vgl. Volkswille 26.7.1876 Nr.32 S.2. Zu Marpingen eingehend Blackboum, Marienerscheinungen; die sozialdemokratische Sicht auf Marpingen spricht der Verfasser allerdings nicht an.

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katholische Einspruch gegen die Moderne auch mit Respekt anklingen: »Der Katholizismus ist noch eine Religion, und der Protestantismus ist keine Religion mehr.«412 Auf der anderen Seite erkannten die führenden Sozialdemokraten durchaus, daß zwar im katholischen Milieu der Religion eine zentrale identitätsstiftende Funktion zukam, daß sich das Wahlverhalten der Katholiken aber nicht im religiösen Bekenntnis erschöpfte: »Meine Herren, wenn es den Herren von der ultramontanen Partei gelungen ist, eine größere Zahl ihrer Vertreter in den Reichstag zu bringen, dann ist ihnen das nicht möglich gewesen, weil sie bestimmte religiöse Anschauungen haben, sondern weil sie mit den religiösen Anschauungen zugleich ganz bestimmte sociale und politische Anschauungen und Grundsätze verbinden. [...] So kommt es, daß der kleine Bürger- und Bauernstand, der in der Verwirklichung der modernen Idee, im Prinzip des Industrialismus seinen Untergang sieht, sich einer Seite anschließt, wo er glaubt, daß gegen diese modernen Prinzipien ein energischer Widerstand erhoben wird.413 Gerade Bebel, der dies in der Debatte um das »Jesuitengesetz« äußerte, war sich des »zwieschlächtige(n)« Charakters von katholischer Partei und katholischem Milieu, der die Arbeiterparteien verunsicherte, bewusst. Das Zentrum, als Gegner von Moderne, Fortschritt, Liberalität, Demokratie und Sozialismus attackiert, konnte einerseits der Reaktion zugerechnet werden. Die Charakterisierung der Partei als »mittelalterlich« leitete den vermeintlich reaktionären Charakter des Zentrums auch aus dem Religionsdiskurs des katholischen Milieus ab, der ein theokratisches Gesellschaftsmodell impliziere.414 Doch andererseits störte eine gewisse »Modernität« des Katholizismus diese scheinbare Eindeutigkeit, eine Modernität, an der die sozialdemokratische Agitation nicht vorbeisehen konnte, da sie unbestritten die Attraktivität von Partei und Milieu für die Katholiken beförderte.415 Dem modernen Vereinswesen und der modernen Kommunikationsstrategie des katholischen Milieus, aber auch den »modernen« demokratischen Forderungen nach Meinungs- und parlamentarischer Freiheit aus dem politischen Katholizismus begegneten die Sozialdemokraten teils spöttisch, teils besorgt warnend mit einer »Entlarvungsrhetorik«: Wo der Katholizismus modern sei, setze er eine Maske auf, er umhülle sich mit einem Mantel, um seine wahre reaktionäre Gestalt zu verbergen.416 Das Entlarvungsmotiv diente der klaren Abgrenzung zum politischen Gegner, erschwerte jedoch eine punktuelle Zusammenarbeit etwa in der Frage der Wah412 Völksstaat 19.11.1874 Nr.139 S.l. 413 Ebd. 13.7.1872 Nr.56 S.2 (Bebel in der Reichstagsdebatte um das Jesuitengesetz am 17.6.1872). 414 Braunschweiger Volksfreund 24.6.74 Nr.145 S.2; Berliner Volksblatt 31.1.86 Nr.26 S.l; u.ö.. 415 Zum Verhältnis von Katholizismus und Moderne im 19. Jahrhundert vgl. Loth, Katholizismus, S.l l f.; Graf, Kultur, S.225-28 (eher kritisch über den Charakter der katholischen »Modernität«). 416 Allgemeine deutsche Arbeiterzeitung 18.10.63 Nr.42 S.232; Vorwärts 14.1.77 Nr.6 S.2; Berliner Volks-Tribüne 3.3.88 Beiblatt zu Nr.9 S.lf.; Bebel, Thätigkeit 1887-1889, S.148f.

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rung der Verfassungsrechte. Daß sich freiheitlich-demokratische Forderungen auch aus einem religiös-ethischen Diskurs speisen konnten, bestritt dieser Denkansatz implizit ebenso.417 Die Maske diente der sozialdemokratischen Deutung des katholischen Diskurses zufolge weniger der Täuschung von kritischer Öffentlichkeit und politischer Konkurrenz, sondern war notwendig im Bemühen des Zentrums, »[...] den eigenen, zum großen Teil demokratischen Wählern zu schmeicheln.«418 Die Unsicherheit in der Sozialdemokratie bei der Verortung der Zentrumswählerschaft ist offensichtlich. War hier von den mehrheitlich »demokratischen Wählern« die Rede, sprach man anderenorts nur von »reaktionären Elemente(n) [...]: Bauern, Kleinbürger, Feudaljunker«.419 Den ausgehenden Kulturkampf nutzte der sozialdemokratische Diskurs seit 1878 immer wieder zu der Prophezeiung, daß der Katholizismus bei der Beendigung dieser Auseinandersetzung sein »demokratische(s) Gewand(e)« fallen lassen, sich den herrschenden Klassen, denen er doch eigentlich zugehöre, wiederanschließen und damit endlich zur Vergrößerung der »schwarzen Armee« beitragen werde - im Sinne jenes Diktums, daß außerhalb der Sozialdemokratie nur »reaktionäre Masse« bestehe. Als Beleg führte die Parteipublizistik die Zustimmung des Zentrums zur Verlängerung des Sozialistengesetzes 1886 an, die Milderungsanträge von Windthorst und anderen konnten in dieser Deutung nur als quantite négligeable erscheinen.420 Die Sozialdemokraten verstanden sich als Anwalt, ja, als Bannerträger der Moderne; mit der mutmaßlichen Partei der Gegenmoderne schien sie nichts zu verbinden. Der politische Katholizismus berief sich in zentralen Fragen auf die Religion, und Religion und Moderne verstand man in den Arbeiterparteien aus der religionskritischen Tradition als unüberbrückbaren Gegensatz. Doch abgesehen von der Problematik einer Gleichung von »religiös« und »antimodern«: Zählten nicht auch das Reich Bismarckscher Observanz und der Klassengegensatz der Industriegesellschaft zur Moderne? Selbst August Bebel zollte der katholischen »Antimoderne« bisweilen einen gewissen Respekt: Mit den Sozialdemokraten seien die Katholiken die einzigen, die nicht an die Unfehlbarkeit Bismarcks glaubten, und den Bourgeoisstaat würden sie ebenfalls ablehnen im Unterschied zur Sozialdemokratie allerdings deshalb, weil er der alten, d.h. christlich-ständischen Gesellschaft das Fundament nehme.421 417 Die auch religiös-ethisch fundierte »freiheitliche« Seite nicht nur des politischen Katholizismus, sondern auch des Ultramontanismus betont die Windthorst-Biographin Margaret L. Anderson; vgl. auch Anderson, Piety, S.705. 418 Vgl. Aufruf, S.190. 419 Sozialdemokrat 2.10.84 N r . 4 0 S . l . 420 Ebd. (»demokratische(s) Gewand(e)«); Bayerische Volkstimme 2.4.1886 Nr.2 S.2. Zustimmung zur Verlängerung des Sozialistengesetzes: Beniner Volksblatt 2.4.1886 Nr.78 S.t; Bayerische Volksstimme 2.4.1886 Nr.2 S.1.2f; ebd. 4.4.1886 Nr.4 S.1f.; ebd. 6.4.1886 Nr.5 S.l; ebd. 8.4.1886 Nr.7 S.l. 421 Volksstaat 13.7.1872 Nr.56 S.2 (Bebel in der Debatte um das Jesuitengesetz im Reichstag am 17.6.1872); Bebel, Thätigkcit 1874-1876, S.67.

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Sozialkatholizismus und »christlicher Sozialismus« Der Katholizismus hat sich früher und intellektuell profilierter als der Protestantismus den durch die Durchsetzung des Kapitalismus und den industriellen »Take-off« hervorgerufenen sozioökonomischen Veränderungen gestellt. Waren es in der Frühphase des Sozialkatholizismus um 1830/1840 einzelne Persönlichkeiten wie der katholische Theologe und Philosoph Franz von Baader (1765-1841) oder der Präsident des ersten Katholikentages Franz Joseph von Buß (1803-1878), die auf das »Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät« hinwiesen und einen gesetzlichen Arbeiterschutz forderten, existierte in den 1860er Jahren bereits eine organisierte katholische (von der Handwerkerbewegung noch kaum zu trennende) Arbeiterbewegung, die mit dem Mainzer Bischof von Ketteier (1811-1877) einen Sozialtheoretiker von Rang und mit dem vom Priester Adolf Kolping (1813-1865) begründeten »Katholischen Gesellenverein« einen mitgliederstarken und das katholische Milieu mancherorts bestimmenden Verband besaß.422 Eines aber hatte diese Bewegung mit dem Sozialprotestantismus gemeinsam: Auch der sozialkatholische Diskurs sah Wahrung und Restitution von Religion und Kirche als Schlüssel zur Lösung der »sozialen Frage«. Durch die Ultramontanisierung von Theologie und kirchlichem Leben schien dieses Diskursmotiv im Sozialkatholizismus ein womöglich noch stärkeres Gewicht als im Sozialprotestantismus zu haben. Auch daher meinte die sozialdemokratische Publizistik immer wieder auf dieses Grundkonzept hinweisen zu müssen, das die römische Kirche und die katholisch-soziale Bewegung etwa durch Wilhelm Emmanuel von Ketteier und Franz Hitze (1851-1921) als maßgebliche katholische Sozialpolitiker der 1870er und 1880er Jahre vertraten.423 1876 zitierte das in Breslau erscheinende Parteiorgan »Die Wahrheit« aus einem Artikel »Die sozialdemokratischen Reformer« der ultramontanen »Schlesischen Volks-Zeitung«: »Und da finden wir nun in dem vorliegenden Schriftchen [Wilhelm Brackes »Nieder mit den Sozialdemokraten!« (1876), eine sozialdemokratische Agitationsschrift] [...] einfach und klar die zum Ueberdruß fast wiederholte Wahrheit bestätigt, [...] daß die sozialdemokratischen Ideen der Abwendung von Gott ihren Ursprung verdanken, daß mit dem wachsenden Unglauben der Welt die Aspekten der sozialdemokratischen 422 Zitat: s. den Titel der 1835 in München erschienenen Schrift »Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in betreffihres Auskommens, sowohl in materieller als in intellektueller Hinsicht, aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet« von F. X. von Baader. Einführend zum Sozialkatholizismus Stegmann; Hanisch, Denken; Rauscher (mehrere Beiträge); Brose,; Görner, Heitzer, knapp Bester, Kirche S.26-28. Die Beiträge in Kaiser/Loth reflektieren überwiegend die Zeit nach 1890. 423 Crimmitschauer Bürger- und Bauemfreund 12.8.1877 Beilage zu Nr.185 S.l (Nachruf auf Ketteier unter dem Titel »Bischof und Sozialist«); Kölner Freie Presse 19.1.1878 Nr.3 S.l; Berliner Votksbiatt 5.9.1886 Nr.207 S.l (Persiflage einer Rede Hitzes); Bebet, Papstthum, S.100; u.ö..

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Zukunftspartei wachsen, und daß nur von der Kirche die Rettung für unsere soziale Misere zu erwarten steht. Der gläubige Arbeiter trägt die Schwere seines Looses, den blutsaugerischen Druck eines gewissenlosen Gründers mit dem christlichen Opfermuthe, in der HofFnung auf eine ewige Vergeltung der im Vergleiche ja nur kurzen Mühen. Der gottlose Arbeiter, dem der strenge Brotherr vielleicht selbst die letzte Wurzel des Glaubens aus dem Herzen gerissen hat, begreift die Idee eines Opfers natürlich nicht. [...] Etwas Höheres kennt der nicht, dem die göttlichen Verheißungen nur mehr ein »altes Entsagungslied, ein Eiapopeia vom Himmel· dünken, und darum erstrebt er dieses ihm allein erreichbar erscheinende höchste Gut, den Genuß, und daher der sozialdemokratische trügerische Traum eines zukünftigen goldenen Zeitalters.«424 Die »Schlesische Volks-Zeitung« griff hier mehrere Topoi des sozialkatholischen Diskurses der 1860er bis 1880er Jahre auf: die konservative Kritik am materialistischen und ausbeuterischen Kapitalismus, die Erwartung der »Rettung für unsere soziale Misere« allein durch Religion und Kirche, die Ablehnung der Sozialdemokratie wegen ihrer angeblich konstitutiven Religionsfeindschaft und ihres »Materialismus« (und nicht in erster Linie wegen ihrer sozialen Forderungen oder ihrer mutmaßlichen »Staatsfeindlichkeit«). Es verwundert kaum, daß Sozialdemokraten hier eine »offene Flanke« des Sozialkatholizismus sahen und die eine »verdammte Bedürfnißlosigkeit« predigende Demutstheologie anprangerten, durch welche die sozialen Missstände verewigt würden. Daß das Programm einer »Lösung der sozialen Frage durch die Religion« sich nicht in der Jenseitsvertröstung erschöpfte, sondern den Ansatz zur ersten Formulierung einer katholischen Soziallehre barg, ging im religionskritischen Gegendiskurs der Arbeiterparteien unter. 2000 Jahre habe die christliche Kirche nichts für die Arbeiter erreicht bzw. gegen sie gearbeitet; auch die gegenwärtige »Umarmung« der Arbeiter durch die katholische Sozialreform diene nur als Mittel zum Zwecke der Bekämpfung des Sozialismus, um die Herrschaft von Pfaffen, Junkern und Bourgeois zu stabilisieren; die soziale Frage sei nicht durch Religion und Kirche zu lösen, sondern durch eine gesellschaftliche Umwälzung, die allein die menschheitsbefreiende Sozialdemokratie anstoßen könne.425 Daß jedoch die traditionellen religionskritischen Topoi nicht ausreichten, um die Parteibasis über den vermeintlichen Charakter der katholischen Sozialreform aufzuklären und auf die politische Kontroverse mit dem Sozialkatholizismus vorzubereiten, verdeutlichen die wiederholten Meldungen von Parteifunktionären über den Erfolg der katholisch-sozialen Bewegung in 424 Wahrheit 5.11.1876 Nr.27 S.l (Leitartikel »Wie der schwarze Reichsfeind über den rothen denkt«). 425 Vgl. Volksstaat 22.6.1870 Nr.50 S.l; Protokoll, 1874, S.45; Neuer Social-Demokrat 1.8.1875 Nr.90 S. 1; Becker, Geschichte, S.220; Kölner Freie Presse 19.1.1878 Nr.3 S.l; Wesfälische Freie Presse 25.4.1878 Nr.36 S.2 (»Junker und Pfaffen«); Beniner Volksblatt 6.9.1885 Nr.208 S.l; ebd. 14.9.1888 Nr.216 S.l; Fränkische Tagespost 13.5.1890 Nr.111 S.2; Berliner Volksblatt 24.8.1890 Nr.196 S.l (»verdammte Bedürfnißlosigkeit«); Volksstimme 9.9.1890 S.l; Freie Presse 18.12.1890 Nr.295 S.l.

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katholisch dominierten Regionen. Bei der Berliner Generalversammlung des ADAV vom 18. bis 24. Mai 1873 berichtete der Essener Delegierte Seelig aus dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet, daß dort die Pfaffen, »die gefährlichsten Feinde unserer Sache«, mit dem sozialdemokratischen Programm unter der Devise aufträten: »Wir wollen dasselbe, was die Social-Demokraten wollen, aber die Religion gewahrt wissen.‹«426 Diese bis 1890 anhaltenden Klagen427 implizierten zum einen die kritische Auseinandersetzung mit der sozialkatholischen Programmatik und Praxis, zum anderen aber eine Debatte über deren Synthese von sozialem und religiösem Anspruch, die dem ADAV-Delegierten Seelig 1873 offenbar als wesentlicher Grund für den Erfolg dieser Bestrebungen erschien. Brachten die Sozialdemokraten reformerischen Ansätzen wie dem aus dem französischen Sozialkatholizismus angeregten Projekt klosterähnlicher »christlicher Fabrikinstitute« nur Hohn und Spott entgegen, begegneten sie anderen Forderungen mit kritischem Wohlwollen, auch wenn diese, etwa die Forderung nach einer angemessenen Sonntagsruhe, primär religiös begründet waren.428 Gerade hier konnte die Differenz von vormodernem und modernem sozialpolitischen Diskurs verdeutlicht und »Modernität« als Schlüsselbegriff der Konstruktion kollektiver Identität im sozialdemokratischen Milieu akzentuiert werden. Die Gegenüberstellung von zum Absterben verurteilten Überkommenem und Modernem bestimmte auch das sozialdemokratische Verdikt über das ständische Staats- und Gesellschaftsideal, das den Sozialkatholizismus bis in die 1880er Jahre hinein prägte. Die diese Stände-Ideologie besonders energisch vertretenden »Katholischen Gesellenvereine« erschienen so trotz ihrer relativen Mitgliederstärke und der proletarischen Prägung der »KolpingGesellen« nicht als der gefährlichste Gegner innerhalb der katholisch-sozialen Bewegung.429 Wenn hingegen auf Katholikentagen oder aus der Zentrums426 Protokoll, 1873, S.63. 427 Vgl. Neuer Social-Demokrat 30.7.1875 Nr.89 S.l; Hamburg-Attonaer Volksblatt 24.10.1876 Nr.128 S.2 (Erfolg der katholisch-sozialen Bewegung in Bayern und im Rheinland); Vorwärts 5.12.1877 N r . l 4 2 S . 4 (Klagen über den Sozialkatholizismus in einer Düsseldorfer sozialdemokratischen Volksversammlung); Bebet, Papstthum, S.100; Trevir, bes. S.633f. (Erfolg der sozialkatholischen Agitation des Kaplans Friedrich Dasbach im Trierer Raum); u.ö.. 428 Zu den »Fabrikklöstern«: Neuer Social-Demokrat 16.8.1871 Nr.20 S . l - 3 ; Sozialdemokrat 8.9.1886 Nr.37 S.2f; Schoenlank, Katholizismus. Zur Sonntagsarbeit: Social-Demokrat 8.7.1868 Nr.79 S.2; Berliner Volksblatt 6.9.1885 Nr.208 S.l; Bebel, Sonntagsarbeit, S.4 (Hinweis auf eine Aufforderung der Zentrumsfraktion in der Reichstagssession 1884/85, die Regierung möge die Sonntagsarbeit weitgehend einschränken. Der Zentrumsvorschlag kam der entsprechenden sozialdemokratischen Initiative von allen Parteien am nächsten). Vgl. zur Übereinstimmung in der »Sonntagsfrage«, die sich auch in den (separaten) Gesetzesinitiativen von Zentrum und Sozialdemokratie im Jahre 1877 zeigte: Heckmann, S.l 16, 119-22. 429 Daß in der Sozialdemokratie die »Katholischen Gesellenvereine« eher als nicht ernstzunehmende Konkurrenz galten, verdeutlichen ex post auch die Erinnerungen August Bebeis, der in seiner Jugend in den 1850er Jahren selbst Mitglied eines solchen Gesellenvereins war: Bebel, Leben

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fraktion sich Forderungen nach Arbeiterschutz und Normalarbeitszeit erhoben, musste die Auseinandersetzung intensiver ausfallen, schien doch durch die Nähe dieser Forderungen zur Programmatik der sozialistischen Arbeiterparteien die milieukonstitutive Abgrenzung zum politischen Gegner gefährdet.430 Deren Notwendigkeit verschärfte die in der Partei verbreitete Ansicht, daß die katholische Sozialreform »an Gehalt und Wissenschaftlichkeit« bei weitem alles überrage, »[...] was von Stöcker'scher und protestantisch-staatssozialistischer Seite auf diesem Gebiete geleistet worden ist.«431 Dem »christlichen Sozialismus« katholischer Provenienz musste in sozialdemokratischer Perspektive dennoch das Unzureichende seiner sozialpolitischen Forderungen vorgehalten werden. Daß der sozialkatholische Diskurs stärker und wesentlich erfolgreicher als der Sozialprotestantismus den SozialismusbegrirT besetzen konnte, indem er den eigenen »idealen«, christlichen Sozialismus vom »Zerrbild« des sozialdemokratischen Sozialismus abgrenzte432, bereitete der Parteiagitation erhebliche Probleme. Gegenüber der diskursiven Symbiose von sozialer und religiöser Frage im Sozialkatholizismus argumentierten Sozialdemokraten einerseits mit traditionellen religionskritischen Topoi, andererseits mit konkreter Kritik an der sozialkatholischen Theorie und Praxis. Dem (relativen) Erfolg dieser Symbiose standen die Arbeiterparteien letztlich verständnislos gegenüber. So blieb neben der kritischen Auseinandersetzung einzig die Hoffnung auf einen Niedergang und Zerfall der katholisch-sozialen Bewegung. Daß katholische Amtskirche und Zentrumspartei sich im Verlauf der 1870er Jahre von den programmatisch der Sozialdemokratie am nächsten stehenden katholischen christlich-sozialen »Arbeitervereinen« in Aachen und Essen distanzierten, erregte zwar den Protest der Sozialdemokratie, schien aber auch den absehbaren Misserfolg der katholisch-sozialen Konkurrenz anzukündigen.433 In dieselbe Richtung wiesen die organisatorischen Bemühungen der katholischen Bergarbeiter im Ruhrbergbau 1877/78 und 1889, die sich unter sozialdemokratischem Einfluss einer Bd.l, S.26-28, 36-39. Den sozialen Status der Vereinsmitglieder am Rande der proletarischen Existenz in den 1860er und 1870er Jahren hat die Forschung bisher weitgehend übersehen; anders Prüfer, Damm, S. 109-13. 430 Berliner Volksblatt 4.7.1886 Beilage zu Nr.153 S.3; ebd. 14.9.1888 Nr.216 S.l; Freie Presse 18.12.1889 Nr.295 S.l; Bebel, Thätigkeit 1887 bis 1889, S.71; u.ö. 431 Sozialdemokrat 21.9.1882 Nr.39 S.1. Vgl. Volksstaat 8.10.1873 Nr.95 S.3f. (»sozialistisches Programm« des Bischofs Ketteier); Neuer Social-Demokrat 30.7.1875 Nr.89 S.1; Hamburg-Altonaer Volksblatt 10.12.1876 Beilage zu Nr.148 S.1f.; Bebel, Papstthum, S.100 (die »Waffen« des Sozialkatholizismus seien dem »sozial-demokratischen Arsenal entnommen«). 432 Diese Gegenüberstellung z.B. in der katholischen Polemik von L.. Die Schrift wurde vom Leiter des katholischen »Christlich-sozialen Vereins« in Düsseldorf verfasst (s. ebd., S . l ) . Vgl. zum Begriff des »christlichen Sozialismus« im Katholizismus die Anmerkungen von Lepper, S.71*-73*. 433 Vorwärts 30.9.1877 Nr.115 S.2; vgl. die Anspielung in Berliner Volksblatt 5.9.1886 Nr.207 S.l. Zum Aachener »Arbeiterverein zum heiligen Paulus«Lepper, bes. S.68*-142*.

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kirchlichen Lenkung entzogen. 434 Der Hinweis auf diese Entwicklungen sollte den oft wiederholten sozialdemokratischen Prognosen Rückhalt geben, daß die katholisch-soziale Bewegung spätestens nach der Beilegung des Kulturkampfes, diesem »Pyrrhussieg« des Zentrums 435 , zerfallen und die katholischen Arbeiter in Scharen zum Sozialismus überlaufen würden. »Die ultramontane Partei hat mit der Lehre vom christlichen Sozialismus allerdings momentane Erfolge aufzuweisen, indem ein großer Theil der industriellen Arbeiterbevölkerung, insbesondere katholischer Confession, denen der Sozialismus im christlichen Gewände mehr zusagt als der Sozialismus in der Blouse, sich dieser Partei angeschlossen haben. Allein da alle Christlichkeit, aller Glaube, alles Beten die soziale Frage eben so wenig lösen wird, als die Kirche im Stande ist, die hungernden Arbeiter zu ernähren, so unterliegt es gar keinem Zweifel, daß im Moment der Entscheidung die christlich-sozialistischen Arbeiter den Kirchenrock mit der Blouse vertauschen werden.«436 Bis zum Ende des Sozialistengesetzes 1890 konnte jedoch von solch einem massenhaften Überlaufen noch kaum die Rede sein. Die Implikation dieser Prognosen: daß die katholisch-soziale Bewegung letztendlich der Sozialdemokratie zuarbeite, wollten die Parteigenossen daher auch nicht immer einer selbstlaufenden Entwicklung überlassen. Bereits am 24. Dezember 1871 druckte der »Neue Social-Demokrat« unter der Rubrik »Einsendungen von Arbeitern« einen Appell »An die christlich-sozialen Brüder!« von Adolf Herzig aus dem katholischen Essen, in dem Herzig fragte: »Ist der Socialismus nicht die praktisch verkörperte Idee des Christenthums, die Nächstenliebe nicht blos für den Pastor, sondern für alle Menschen durch gesellschaftliche, gesetzliche Einrichtungen praktisch endlich nach 1800 Jahren zu verwirklichen?« 437 Zwanzig Jahre später veröffentlichte Wilhelm Liebknechts Schwiegersohn Bruno Geiser eine umfangreiche Auseinandersetzung mit der päpstlichen Sozialenzyklika »Rerum Novarum« von 1891. Geiser stellte in dieser Schrift dem »Abfall der Kirche vom sozialdemokratischen Christenthum« mit Blick auf eine Leserschaft katholischer Arbeiter den Parteisozialismus als eine Art »überbotenes Christentum« gegenüber. 438 Wurde hier dem Sozialkatholizismus eine Sozialdemokratie mit »religiösen Qualitäten« entgegengehalten?

434 Kölner Freie Presse 16.2.1878 Nr.7 S.4; Votksstimme 9.11.1889 Nr. S.1f.. Vgl. zu diesem Konflikt zwischen christlich-sozialer (katholischer) und sozialdemokratischer Bergarbeiterbewegung an der Ruhr: Hartmann, Weg, S.136-39, 187-89. 435 Fränkische Tagespost 17.4.1886 Nr.91 S.l. 436 Protokoll, 1874, S.45(ausdem Redebeitrag Theodor Yorks auf dem SDAP-Kongreß 1874). Vgl. Hamburg-Altonaer Volksblatt 10.12.1876 Beilage zu Nr.148 S.lf.; Sozialdemokrat 22.7.1886 Nr.30 S.l; Schoenlank, Preußen, S.493. 437 Neuer Social-Demokrat 24.12.1871 Nr.76 S.3f.. 438 Geiser, Kirche, S.59.

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Abgrenzu ngsprobleme In ganz anderer Weise schuf der deutsche Nationalstaat für die Sozialdemokratie ein Abgrenzungsproblem gegenüber dem Katholizismus. Hatten die konservative und die liberale Publizistik schon vor 1870/71 vor einem Bündnis von »Roten« und »Schwarzen« gewarnt, gewann mit der Reichsgründung dieses Motiv einen zentralen Platz im politischen Diskurs des »nationalen Lagers« (Karl Rohe) aus Liberalen und Konservativen. 1873 erklärte Bismarck im Preußischen Herrenhaus: Gegen diese beiden Parteien [Zentrum und Sozialdemokratie] gegen welche die Regierung nach ihrer vollen Ueberzeugung die Pflicht der Nothwehr hat, gegen die Partei der weltlichen Priesterherrschaft ebenso wie gegen die Partei der Internationalen, welche beide die Nation, die nationale Bildung und den nationalen Staat leugnen, die ihn angreifen, untergraben oder bedrohen - gegen diese beiden Parteien müssen meines Erachtens alle Diejenigen, denen die Kräftigung des staatlichen Lebens am Herzen liegt, zusammenstehen.«439 Die »Partei der weltlichen Priesterherrschaft« und die »Partei der Internationalen« wurden nicht nur als »Reichsfeinde« stigmatisiert und verfolgt; ihnen wurde auch ein geheimes Zusammengehen bis hin zu umfassenden Wahlabsprachen unterstellt, die den Zweck verfolgten, das neugeschaffene Reich zu untergraben und zu zerstören. 440 Während vor dieser »reichsfeindlichen« Gefahr evangelische Geistliche besonders nachdrücklich warnten 441 , grenzten sich Liberale wie der Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger (1823-1899) auch von den ökonomischen Konzepten ab, die »Schwarze« und »Rote« angeblich teilten.442 Darüber hinaus aber warf die sozialdemokratische Publizistik dem politischen und sozialen Katholizismus vor, durch den »roten Mantel«, den er sich illegitimerweise umhänge, dem »Märchen« vom schwarz-roten Zusammengehen neue Nahrung zu geben.443 Eine Abgrenzung gegenüber diesen »Gerüchten« erschien den Sozialdemokraten dringend geboten. Die Reproduktion des sozialdemokratischen Milieus erforderte eindeutige kollektive Identitäten, und Uneindeutigkeiten im Kernbestand der Deutungskultur galt es wenn möglich auszuschließen. Auch hier musste der religionskritische Diskurs greifen, um eine eigene Identität zu konstruieren. In einer Wählerversammlung des 6. Berliner Wahlkreises am 30. September 1876 ging der 439 Zitiert nach Fränkische Tagespost 9.9.1886 Nr.211 S.l; vgl. Volksstaat 3.5.1873 Nr.36 S.l. 440 Vgl. Volksstaat 8.7.1874 Nr/78 S.2; u.ö. 441 Volksstaat 17.8.1872Nr.66S.3;ebd. 24.4.1876Nr.48S.4(Rede eines evangelischen Pfarrers in einer sozialdemokratischen Volksversammlung); Jösting (Verfasser evangelischer Pfarrer in Remscheid). 442 Bamberver, S.33-35. 443 Vgl. Neuer Social-Demokrat 30.7.1875 Nr.89 S. 1; Hamburg-Altonaer Volksblatt 10.12.1876 Beilage zu Nr.148 S.lf; VolkswiUe 13.3.1878 Nr.31 S.122 (Gedicht »Schwarz oder Roth«).

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Reichstagsabgeordnete Wilhelm Hasenclever (1834-1889) auf die Bündnistheorie ein: »Was aber sagen die U l t r a m o n t a n e n ? Sie vertrösten u n s auf ein Jenseits - ›dort d r ü b e n sollt Ihr alle glücklich sein!‹ N e i n , nicht die U l t r a m o n t a n e n u n d S o z i a l d e m o k r a t e n kann m a n in einen Topf z u s a m m e n w e r f e n [...], sondern eher kann m a n dies mit den Liberalen u n d U l t r a m o n t a n e n t h u n . Beide sind sie Personenanbeter! D e n n o b m a n d e n ›heiligen Rock‹ von Trier oder das Futter von Bismarck's H u t anbetet, das bleibt sich vollständig gleich!« 444

Sozialdemokraten und Katholiken galten dem dominanten nationalen Diskurs des jungen deutschen Staates dennoch dauerhaft als Reichsfeinde. Wenn auch die Agitation der Arbeiterpartei(en) reklamierte, daß nur die Sozialisten dem neuen Reich als »Unversöhnliche« gegenüberstünden und der Katholizismus spätestens nach Beendigung des Kulturkampfes seinen Frieden mit den »herrschenden Klassen« schließen werde, musste sie doch der »Ausgrenzungsgemeinschaft« gewahr werden, in welche die angeblichen Reichsfeinde durch die politisch dominanten Kräfte gedrängt worden waren.445 Zu Repressalien gegen Katholiken während der intensiven ersten Phase des Kulturkampfes bezog die Parteipublizistik insbesondere dann kritisch Stellung, wenn nicht nur Geistliche Opfer der Repression waren. Doch auch die verfolgten Jesuiten fanden die Solidarität der Arbeiterparteien, als der Orden 1872 verboten wurde.446 444 Vorwärts 6.10.1876 Nr.3 S.4. Vgl. Volksstaat 8.10.1873 Nr.95 S.3f.; ebd. 12.5.1875 Nr.54 S. lf. (Johann Jacoby zur »Bündnistheorie« bei der Feier seines 70.Geburtstags); Votkswitte 7.7.1876 Nr.24 S.2f.; Bebet, Thätigkeit 1874-1876, S.72; u,ö. Das in der Sozialdemokratie verbreitete antikatholische Gedicht »Antisyllabus« von Friedrich Hermann Krasser wurde als Separatdruck von dem Sozialdemokraten Jakob Franz schon 1869, also vor der Reichsgründung mit dem Ziel herausgegeben, eine klarstellende »[...] Antwort auf die von›liberaler‹Seite erhobene Behauptung, daß die Lassalleaner ultramontan gesinnt seien [...].«, zu geben: s. die Anzeige in Proletarier 12.12.1869 Nr.20S.162. 445 Chemnitzer Freie Presse 29.1.1874 Nr.23 S.l (Sozialdemokraten als einzig »Unversöhnliche«, in Anlehnung an die frühe Selbstbezeichnung der französischen Radikalen). 1878 analysierte der »Vorwärts« dagegen die Reichstagswahlergebnisse unter der Überschrift »Das Anwachsen der ›Reichsfeinde‹ im deutschen Reiche«, wobei unter »Reichsfeinden« explizit »Ultramontane, Sozialdemokraten und die verschiedenen kleineren oppositionellen Gruppen« gefasst wurden. Deren Wahlerfolg ermutigte den Kommentator des »Vorwärts« zu der Prophezeiung: »Daß die Tage der heiligen Blut- und Eisen-Ordnung gezählt sind, dürfte demnach auch dem verbohrtesten Bismarck-Anbeter bald einleuchten.« Vorwärts 4.9.1878 Beilage S.l. Vgl. zur lang anhaltenden »Unbehaustheit« der deutschen Katholiken im neuen Reich angesichts des radikalen nationalistischen Diskurses: Smith, Nationalism, S.61-78. 446 Kritisch zu Benachteiligungen und Repressionen gegen katholische Laien u.a. Volksstaat 8.7.1871 Nr.55 S.4; Duisburger Freie Zeitung 20.7.1876 Nr.9 S.3. Gegen das Jesuitengesetz als Ausnahmegesetz: Volksstaat 13.7.1872 Nr.56 S.2 (Wiedergabe der Rede Bebeis gegen das Jesuitengesetz im Reichstag am 17.6.1872); Neuer Social-Demokrat 28.11.1873 Nr.138 S.l (gegen das Jesuitengesetz trotz der Gerüchte über ein rot-schwarzes Bündnis); Bebel, Thätigkeit 1873, S.48; Rückschau: Berliner Volksblatt 7.9.1886 Nr.208 S.l.

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Die Sozialdemokraten verwahrten sich gegen das Jesuitengesetz wie auch gegen weitere Ausnahmegesetze nicht, wie sie stets betonten, aus Sympathie mit der römischen Kirche. Sie bezeichneten sich vielmehr als entschiedende Gegner der Kirche; Staat und Kirche gelte es zu trennen, den klerikalen Einfluss auf das Schulwesen zurückzudrängen. Ausnahmegesetze müssten jedoch als den Rechtsstaat untergrabende Gesetze aus prinzipiellen Gründen bekämpft werden. Zu dieser Begründung traten weitere hinzu. Schon früh zeigte sich zum einen, daß der Kulturkampf die Solidarität der katholischen Bevölkerung mit ihrer Kirche stärkte und die Wählerrekrutierung des Zentrums forderte, daß die Ausgrenzung durch Staat und Gesellschaft zur Stabilisierung und Schließung des katholischen Milieus beitrug, was nicht im Interesse der Sozialdemokraten liegen konnte. Zum anderen aber befürchtete man in der Partei, daß sich die Ausnahmegesetze bald auch gegen die Sozialdemokraten richten könnten: »Nachdem die sogenannten schwarzen Internationalen als Zielscheibe ungesetzlicher Verfolgungen hingestellt worden sind, werden zunächst die rothen Internationalen an die Reihe kommen. Alles, was demokratisch ist, wird verfolgt werden.« 447 Im Reichstag, in Wahlprogrammen, auf Wahlflugblättern und -Versammlungen bezogen Parteigenossen daher Stellung gegen die antikatholischen Maßnahmen. Tatsächlich wurden von staatlicher Seite die Kulturkampfgesetze bald auch zur Rechtfertigung antisozialistischer Maßnahmen herangezogen. So berichtete der »Neue Sozialdemokrat« am 7. Mai 1876, daß die sozialistische Arbeiterpartei für Preußen vorläufig geschlossen worden sei; als Rechtsgrundlage sei gerichtlicherseits auf einen Präzedenzfall verwiesen worden, in dem 1875 Funktionäre des »Vereins deutscher Katholiken« zu Mainz verurteilt worden seien.448 Diese »Gemeinschaft in der Verfolgung« konstruierte der politische Diskurs der Arbeiterparteien selbst mit. So führten sozialdemokratische Blätter in sog. »Kulturkampf-Kalendern« nicht nur die Chronik antikatholischer Verfolgungen; unter der Überschrift »Kulturkämpferisches« figurierten im »Volksstaat« 1875 auch Maßnahmen gegen die Arbeiterparteien.449 Umgekehrt wiesen Feindbildkonstruktionen im katholischen und im sozialdemokratischen Milieu neben klaren Differenzen auch deutliche Parallelen 447 Braunschweiger Volksfreund 15.6.1872 Nr.138 S.l. Katholische Mobilisierung durch das Jcsuitengesetz: Neuer Social-Demokrat/11.9.1872 Nr.l05S.l;ebd. 27.9.1874 Nr.l22S.2. Zur Bedrohung auch der Sozialdemokratie durch die unrechtsstaatlichen Repressionen gegen die katholische Kirche s. auch Volksstaat 6.9.1874 Nr.104 S.l (Einschränkung der Pressefreiheit). 448 Sozialdemokratische Agitation gegen das Jesuitengesetz: Neuer Social-Demokrat 3.12.1873 Beilage zu Nr. 140 S. 1 (im Reichstagswahlprogramm des ADAV: der Druck der Priesterherrschaft müsse aufhören, aber nicht durch Ausnahmegesetze wie das Jesuitengesetz); vgl. Bernstein, Geschichte Bd.1, S.267, 275 zu einer Volksversammlung (1872) und einem ADAV-Wahlflugblatt (1874), in denen gegen die Ausnahmegesetze Stellung bezogen wurde. Zu Parallelen im Rechtsvorgehen gegen Katholiken und Sozialdemokraten s. Neuer Social-Demokrat 7.5.1876 Nr.53 S.3. 449 Volksstaat 7.3.1875 Nr.27 S.2; vgl. ebd. 11.4.1875 Nr.41 S.l.

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auf.Bestimmte antikapitalistische, antiliberale und antibürgerliche Topoi lassen sich häufig im Diskurs dieser Milieus nicht eindeutig voneinander scheiden. Selbst auf dem religiösen Feld begegneten sich hier Sozialdemokratie und politischer Katholizismus, da beide die »protestantische Reichsreligion« des nationalen Lagers infragestellten. Der Sedanstag als zentrale Repräsentation der »Reichsreligion« war weder ein Fest der Katholiken noch eines der Sozialdemokraten.450 Und als bei den Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag von Kaiser Wilhelm I. am 22. März 1877 evangelische Pastoren in Worbis im Eichsfeld angeblich ein Trinkgelage veranstalteten und anschließend randalierten, war das nicht nur der katholischen »Germania« eine Meldung wert: Der sozialdemokratische »Vorwärts« übernahm die Nachricht aus der »Germania« und versah sie mit der Überschrift: »Gottesfurcht und fromme Sitte«.451 Die gemeinsame Fremdheit im »Reich der Gottesfurcht und frommen Sitte« protestantischer Observanz ebenso wie die Ablehnung des nationalistischen Geistes und des preußischen Militarismus, der diesen Staat zu beseelen schien, spitzten Sozialdemokraten wie Katholiken auch sozialkritisch zu. 1877 lehnte der Zentrumsfuhrer Ludwig Windthorst im Reichstag das Budget für eine projektierte »Ruhmeshalle« mit der Begründung ab: »So lange ein Arbeiter hungert - und es hungern jetzt viele - bewillige ich keinen Groschen zu Luxusausgaben, wie dieses eine ist.« Der »Vorwärts« kommentierte: »Vor circa zwei Jahren schloß der Parteigenosse Hasselmann im Reichstage eine Rede mit fast denselben Worten - man sieht, daß aus den Ultramontanen noch etwas werden kann, das heißt, so lange sie im Kulturkampf sich befinden.«452 Es gab also Gemeinsamkeiten. Trotz aller auch radikalen Kritik, ja, allem Hohn und Spott traute die sozialdemokratische Öffentlichkeit dem Sozialkatholizismus mehr zu als entsprechenden protestantischen konservativen oder liberalen Ansätzen. Nicht nur wurden die theoretischen Überlegungen wie auch die konkreten sozialpolitischen Initiativen insgesamt positiver beurteilt; vielmehr gehe durch den ganzen Katholizismus ein kommunistischer Zug.453 Ebenso tat die Parteipublizistik den Einsatz der katholischen Parteien auf Landes- und Reichsebene für die Freiheitsrechte nicht immer als schwarzes Täuschungsmanöver ab. Der Tendenz nach demokratische Wahlgesetzentwürfe der katholischen Parteien etwa fanden durchaus Zustimmung in der sozialdemokratischen Presse.454 Kurz vor der Verabschiedung des Sozialisten450 Vgl· Lepp, Protestanten, S.220: In erster Linie habe der Sedantag »im Dienst eines äußerst aggressiven religiösen, kulturellen und politischen Antikatholizismus« gestanden. Vgl. zur katholischen »Fremdheit« gegenüber der bürgerlichen (Schillerfeste) und nationalen Festkultur, die nur in der katholischen Diaspora überwunden wurde: Stambolis, Festkultur, S.251-54. 451 Vorwärts 15.4.1877 Nr.44 S.3. 452 Vorwdrts 26-l.1877 Nr.11 S.2 (dort auch das Windthorst-Zitat). 453 Liebknecht. Bodenfrage. S.14. 454 Siehe z.B. Volkswitle 23.7.1876 Nr.121 S.l.

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gesetzes im Reichstag gegen die Stimmen des Zentrums bemerkte der »Vorwärts« im August 1878, daß das Zentrum sich den »Bahnen der Reaktion« verweigere und deren Kandidaten sich bei den Reichstagsstichwahlen »[...] durchweg gegen Ausnahmegesetze und Beschränkung des Wahlrechts erklärten.«455 Daß die Zentrumspartei diesen Kurs bei den Abstimmungen über die Verlängerung des Sozialistengesetzes nicht durchhielt, verbitterte dann viele Sozialdemokraten. Bei den letzten Reichstagswahlen vor der Verabschiedung des Gesetzes herrschte jedoch noch eine andere Stimmung. Hatte nach den Vorjahreswahlen das Zentrum ein Stichwahlvotum zugunsten der Sozialdemokraten noch prinzipiell abgelehnt, unterstützten 1878 bei den Stichwahlen Zentrumsanhänger im Wahlkreis Offenbach-Dieburg Liebknecht, sozialdemokratische Parteigenossen hingegen die ultramontanen Kandidaten Ruppert (München) und Moufang (Mainz). »Die liberale Presse meint, damit sei das Bündniß der Rothen und der Schwarzen endgiltig besiegelt - die Zeit wird lehren, daß diese Annahme eine irrthümliche ist; für den Augenblick handelt es sich darum, nur solche Leute in den Reichstag zu bringen, die keine Beschränkung der Presse und des Versammlungsrechts herbeiführen wollen, die keinerlei neuen Steuerprojekten ihre Zustimmung geben und alle Ausnahmegesetze verwerfen [...].«456 Doch weniger die politischen Übereinstimmungen, die eher seltenen Stichwahlunterstützungen, die zwischen Demokraten, Linksliberalen und Sozialdemokraten weitaus häufiger vorkamen, als ein immer wieder anklingender spezifischer Respekt vor dem politischen Gegner erwecken den Eindruck, daß nicht wenige Sozialdemokraten sich in einer gewissen Wesensverwandtschaft zum Katholizismus und seiner Deutungskultur sahen. Die vielbewunderte Standhaftigkeit der katholischen Priester im Kulturkampf unterstrich eine Vorstellung von Ultramontanismus und Sozialdemokratie als den »[...] beiden allein consequenten Parteien [...]. Was dazwischen liegt, ist Halbheit.« In der Idee läge die Macht des Katholizismus als einer geschlossenen Weltanschauung, die wisse, daß es entscheidend auf die »Beherrschung der Seelen« ankäme; darin und in der Stärke ihrer Organisation seien sich Katholizismus und Sozialismus gleich. Den Kampf zwischen den Antipoden aber um die Idee und um die Beherrschung der Seelen umhüllte der sozialdemokratische Diskurs fast mythologisch mit der Aura eines »Endkampfes«, stünden sich hier doch das Prinzip der Vergangenheit und das Prinzip der Zukunft gegenüber. 457 Ein - sicher 455 Vorwärts 14.8.1878 Nr.95 S.2. 456 Ebd. 11.8.1878 Nr.94 S.2. Vgl. ebd. 14.1.1877 Nr.10 S.l; ebd. 18.8.1878 Nr.97 S.4. Die katholischen Wahlkomitees hatten sich teilweise gegenüber der Kandidatenfrage bei Stichwahlen neutral erklärt, die Zentrumswähler entschieden sich dann aber für den sozialdemokratischen Kandidaten. 457 Social-Demokrat 6.1.1865 Nr.5 S. 1 (»Den vollen Muth ihrer Sache haben nur die extremen Parteien, die auf großen, die ganze Weltanschauung beherrschenden Ideen fußen.«); ebd. 8.1.1865 Nr.6 S.4 (Zitat

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janusköpfiger - Respekt blieb trotz der Gegnerschaft. Und so konnte eine Broschüre des protestantischen Theologen Gerhard Uhlhorn (1826-1901) noch 1887 zu Recht betonen, daß die Sozialdemokratie den Protestantismus bei weitem mehr hasse als den Katholizismus.458 Das Gefühl einer Wesensverwandtschaft, einige (nicht zu hoch zu veranschlagende) Gemeinsamkeiten in Programmatik und politischer Praxis, die Marginalisierung gegenüber einer protestantisch-nationalen Kultur, die für »Rote« und »Schwarze« zum Teil recht ähnliche Feindbilder ersann, schließlich »Arbeiter« als wesentliche sozialstrukturelle Größe im katholischen wie im sozialdemokratischen Milieu: Die sozialistischen Arbeiterparteien standen vor dem Problem einer notwendigen, da milieukonstitutiven, aber aus den genannten Gründen auch schwierigen Abgrenzung gegenüber dem katholischen Milieu. Andererseits brauchten die Sozialdemokraten ein Einfallstor in dieses Milieu, um katholische Arbeiter für die Partei gewinnen zu können. Wie trennscharf waren die Milieugrenzen? Das Postulat Gerhard A. Ritters, daß ein Bergarbeiter »[...] gleichzeitig Wähler der Sozialdemokratie, kirchentreuer Katholik und christlicher Gewerkschafter sowie Mitglied eines nationalen Kriegervereins [...]« gewesen sein könne, müsste erst noch empirisch belegt werden.459 Die Schließungstendenzen des katholischen Milieus beschäftigten die sozialdemokratische Presse jedenfalls schon frühzeitig. 1867 dokumentierte und kommentierte sie breit eine Kontroverse, die von Vorfällen in dem Dorf Dünnwald bei Köln ausgegangen war. Der dortige katholische Pfarrer verweigerte seit Februar 1866 Gemeindegliedern, die dem »Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein« Ferdinand Lassalles beigetreten waren, die Kommunion. Der von den derart Geächteten eingeschaltete Mainzer Bischof von Ketteier äußerte in einem Schreiben zwar seine Anerkennung für die sozialen Anliegen der Lassalleaner und bestätigte auch nicht explizit die vom Dünnwalder Pfarrer ausgesprochene Kirchenstrafe. Ketteier betonte aber auch: »Wir Katholiken können uns unmöglich an irgendeinem Vereine beteiligen, der nicht einmal unsere religöse Überzeugung achtet und sie unangetastet läßt.« Im Juni 1867 schaltete sich Johann Baptist von Schweitzer, der neue Präsident des ADAV, durch eine Versammlung in Dünnwald und einen Brief an den Kölner Erzbischof direkt in die Kontroverse ein. »Beherrschung der Seelen«); Neuer Social-Demokrat 10.3.1872 Nr.30 S.l; ebd. 8.5.1872 Nr.54 S.l; Chemnitzer Raketen 21.3.1875 (Gedicht »Das rechte Mittel« über die standhaften Priester); Wahrheit 5.11.1876 Nr.27 S.l (Zitat »consequente(n) Parteien« etc.); u.ö.. 458 Uhihorn, S.7. Die Absicht von Uhlhorns Schrift lag im Nachweis des Versagens von katholischer und protestantischer Kirche gegenüber der sozialen Frage. Vgl. Kandel, S.89-91. 459 Ritter, Parteien, S.50. Von einer Nationalisierung der rheinischen und westfälischen Katholiken durch die hauptsächlich von Katholiken frequentierten Schützenvereine spricht Stambolis, Nation, bes. S.203; für das frühe Kaiserreich bis 1890 werden von ihr allerdings nur wenig Belege beigebracht.

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Der vom Erzbischof bestätigte Ausschluss der örtlichen Lassalleaner vom Altarsakrament jedoch blieb bestehen. 460 Ähnliche Ausschlussbestimmungen griff die Parteipublizistik immer wieder auf und an, zuweilen auch unter Berufung auf ein »wahres Christentum«. So berichtete 1872 der »Neue Social-Demokrat«, im »Katholischen Leseverein« zu Düren könne laut Statut nur der Mitglied werden, der nicht einem sozialdemokratischen Verein angehöre, und fragte: »[...] wie hängt der Paragraph mit der christlichen Liebe zusammen? Ein verlorenes Schaf war Jesus lieber wie seine ganze treue Heerde. Doch, was soll man hierüber rechten? Es geht eher ein Kameel durch ein Nadelöhr, ehe man bei den Schwarzröcken ein Fünkchen wahrer christlicher Liebe findet.«461 Die sozialdemokratische Agitation forderte eine Offenheit des Milieuzuganges ein, wozu im Falle des katholischen Milieus die uneingeschränkte Teilnahme am kirchlichen Leben und an den »apolitischen« Vereinen des Milieus zu zählen war. Die Hoffnung auf den »Klasseninstinkt«, der die katholischen Arbeiter beseele462 und sie vom Zentrum zur Sozialdemokratie fuhren werde, erforderte eine .zumindest zeitweise Hinnahme von »Doppelloyalitäten« gegenüber katholischer Kirche und Arbeiterpartei(en). Wie auch die Kommunionsverweigerung gegenüber Sozialdemokraten in der katholischen Kirche wohl eher die Ausnahme bildete, setzte sich ebensowenig in der Partei die Forderung durch, daß alle Mitglieder aus der Kirche auszutreten hätten. Dennoch aber implizierte der sozialdemokratische Religionsdiskurs durch den Satz von der Unvereinbarkeit von Katholizismus und Sozialdemokratie einen Ausschließlichkeitsanspruch. Katholiken und Sozialdemokraten betrachteten sich gegenseitig als gefährlichste politische Gegner. Beide lehnten jedoch grundsätzlich die vom Staat ausgeübte strukturelle Gewalt zur Bekämpfung des Gegners ab, die Kulturkampf und Sozialistengesetz prägte. Sah der Religionsdiskurs des sozialen und politischen Katholizismus letztlich allein die Religion als Instrument zur Lösung der sozialen Frage und als wirksame Waffe gegen die Sozialdemokratie an, proklamierte letztere als Strategie gegen die Macht des Katholizismus »[...] den wirklichen, ganzen Culturkampf für die denkbar höchste geistige und physische Vervollkommnung des Menschengeschlechts.« Allein vor der sozialdemokratischen »Idee der Gleichheit auf Erden« werde die Kirche das Knie beugen. Gerade durch die Auseinandersetzung mit Zentrum und katholischem Milieu 460 Der Dünnwalder Vorfall ausführlich dokumentiert in Grote, Religion, S.29-43 (Zitat S.32). 461 Neuer Social-Demokrat 17.5.1872 Nr.57 S.4. Vgl. zur Nichtzulassung von Sozialdemokraten in den Katholischen Gesellenvereinen Kolpings Krimmer, S.169 (hier belegt für die 1890er Jahre). 462 Sozialdemokrat 5.6.1884 Nr.23 S.4.

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erschienen die programmatischen Visionen der Arbeiterparteien nicht nur religionskritisch, sondern auch »religiös« konnotiert.463

1.3.4 Liberalismus und bürgerliche Religion Bürgerlicher Verrat und sozialdemokratische Beerbung Trotz der »Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie« (Gustav Mayer) und des Gründungsimpulses der Arbeiterparteien aus dem Bruch mit der bürgerlich-liberalen Arbeitervereinsbewegung blieb das sozialdemokratische Milieu als »Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenbereich« in Wertorientierungen, in gesellschaftlich-kulturellen Leitbildern, in Rhetorik und Habitus den grundlegenden Modellen bürgerlicher Kultur verpflichtet, so daß in der Folge oft von einer »Verbürgerlichung des Proletariats« durch die Arbeiterbewegung gesprochen wurde. 464 Zweifellos standen auch kirchen- und religionskritische Mentalitäten im sozialdemokratischen Milieu in der Tradition des bürgerlichen Liberalismus. Nicht nur waren die maßgeblichen kirchen- und religionskritischen Autoren des theologisch-philosophischen Vormärzes wie David Friedrich Strauß, die Gebrüder Edgar und Bruno Bauer oder Ludwig Feuerbach ebenso wie die mit dem traditionellen Christentum brechenden Literaten des »Jungen Deutschland« (Heinrich Heine, Ludwig Börne oder Georg Herwegh) zunächst deutlich der bürgerlichen Demokratie verpflichtet gewesen; auch insgesamt hatte der Prozess einer »Säkularisierung der Deutungskulturen« zuerst in den liberal eingestellten »höheren Klassen« Fuß gefaßt und eine breitere Wirksamkeit entfaltet.465 Dieses Erbe prägte politischen Liberalismus und liberale(s) Milieu(s) nachhaltig: »Zum Glaubenskem der Liberalen zählte stets die Weltlichkeit des Staates. Mit diesem Ziel konnte in der politischen Praxis religiöse Toleranz, aber auch Kampf gegen kirchliche Kompetenzen und Ansprüche verbunden sein. Konflikte zwischen Staat und Kirchen sowie in und zwischen den Konfessionen bestimmten deshalb in hohem Maße die Reichweite der liberalen Milieus. In Deutschland wurde spätestens seit der Gründung des Nationalstaats (1871) 463 Sozialdemokraten als gefährlichste Gegner der Katholiken: Sozialdemokrat 22.9,1888 Nr.39 S.3 (Äußerung Windthorsts); Historisch-Politische Blätter 107/1891, S.72-80. Gegenseitige Abgrenzun^Bekämpfung durch Religion bzw. sozialdemokratische »Idee«: Vorwärts 16.8.1878 Nr.96 S.l (u.a. »Idee der Gleichheit auf Erden«); Bebet, Thätigkeit 1874-1876, S.116 (»Culturkampf«); Sächsisches Wochenblatt 17.4.1886 Nr.18 S.l. 464 Vgl. Einleitung der vorliegenden Studie (dort auch Zitatnachweise), 465 Hilbert/Mehlhausen, bes. S.306-11. Die Rezeption der modernen Religionskritik zuerst im gebildeten Bürgertum wird in der Literatur oft hervorgehoben, so Höhcher, Säkularisierungsprozesse, S.241.

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und dem Kulturkampf die Konfessionsgrenze zur politischen Demarkationslinie für die Liberalen.«466 Die Arbeiterparteien der »proletarischen Demokratie« scheuten sich gerade in den Anfangsjahren nicht, dieser kirchen- und religionskritischen Tradition Anerkennung zu zollen, ausdrücklich an sie anzuknüpfen und so auch hier ein Stück »bürgerlicher Kultur« und »Bürgerlichkeit« für die Sozialdemokratie in Anspruch zu nehmen: »Das Bürgerthum war Sieger in dem Kampfe gegen die Priestermacht; durch das Bürgerthum selbst - und dies ist eines seiner weltgeschichtlichen Verdienste - ist ein mildes, ein helleres Jahrhundert angebrochen.«467 25 Jahre später befand die Dortmunder »Volksstimme«: »Das heute so conservative, ja reactionäre Bürgerthum war in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts sehr radical und revolutionär. EsgriffEigenthum, Religion, Staat und Gesellschaft in rücksichtslosester Weise an und nahm im politischen Leben ganz die gleiche Stellung ein, welche heute die Arbeiterpartei erfüllt. [...] Besonders revolutionär war der Liberalismus auf religiösem Gebiete, denn er, nicht die Socialdemokratie, hat den Kirchenglauben gestürzt, er, nicht die Socialdemokratie, hat Männer wie Renan, Mill, Strauß, Feuerbach, Wislicenus, Vogt und Büchner hervorgebracht.«468 Die Rückführung der theologischen, philosophischen und politischen Infragestellung religiöser Geltungsansprüche auf den Liberalismus und das Bürgertum nahm ebenfalls im evangelisch-konservativen wie im katholischen Religionsdiskurs eine prominente Stellung ein, galt diesen modernitätskritischen Diskursen doch der Sozialismus nur als »Ausgeburt« des politischen wie weltanschaulichen Liberalismus, der Konservativen und Katholiken für lange Zeit der Hauptfeind noch vor dem Sozialismus blieb. Auf der Anklagebank saßen hier Goethe, D.F. Strauß, Darwin, Haeckel, Virchow, das Satireblatt »Kladderadatsch«, die Freimaurer, aber auch der »moderne liberale Staat«, die »bürgerlichein) Demokratie« und das »gebildete(n) besitzende(n) Bürgertum(s)« schlechthin, um zu verdeutlichen, daß »[...] zwischen dem religiösen Credo 466 Langewiesche, Liberalismus, S.77. An anderer Stelle betont Langewiesche, daß der Liberalismus kein geschlossenes, der Sozialdemokratie oder dem Katholizismus vergleichbares soziokulturelles Milieu habe ausbilden können und auch der Protestantismus in dieser Hinsicht aufgrund der starken Säkularisierungskräfte im Liberalismus nicht eine ausreichende Milieu-Bindekraft habe entfalten können. Dennoch hält Langewiesche letztlich am Begriff des »liberalen Milieus« fest, dessen protestantische Prägungen er betont. Die Offenheit des Protestantismus auch zum Konservatismus, auf die der Historiker hinweist, spricht m.E. nicht gegen den Rückgriff auf das Milieukonzept, wenn idealtypisch zwischen einem protestantisch-liberalem und einem protestantischkonservativen Diskurs unterschieden wird. Vgl. ders., Liberalismus in Deutschland, S. 134,162. Die Gegnerschaft zur kirchlichen Orthodoxie als Grundbestand bürgerlichen Selbstverständnisses betont auch Kocka, Obrigkeitsstaat, S.109. 467 Social-Demokrat 12.3.1865 Nr.33 S.1 (Leitartikel »Der Kampf der liberalen Bourgeoisie gegen das Christenthurm). 468 Volksstimme 20.8.1890 S.l.

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der Sozialdemokratie und dem des Liberalismus kein wesentlicherer Unterschied obwalte(t) als der durch die verschiedene Bildungsstufe bedingte.«469 Der Hinweis auf die bürglich-liberale Tradition hatte im sozialdemokratischen Religionsdiskurs allerdings kaum die strategische Funktion, Brücken ins bürgerliche Milieu oder gar zu den liberalen Parteien zu bauen. In der Reichstagsrede August Bebeis vom 16. September 1878 diente das »genealogische Argument« eher defensiv dem Einspruch gegen die Forderung nach repressiven Maßnahmen wider die Arbeiterpartei, eine Forderung, die auch mit der vermeintlichen »Religionsfeindschaft« der Sozialdemokratie begründet worden war: »Nun, wir haben diese atheistischen Ansichten [des Bürgertums] auf Grund unserer wissenschaftlichen Ueberzeugung adoptiert, und halten uns verpflichtet, sie weiter zu verbreiten und in die Massen zu tragen. Warum soll uns das, was auf der einen Seite erlaubt ist, auf der andern verboten sein.«470 Wenn in der Agitation der Arbeiterpartei(en) darauf verwiesen wurde, daß in der Bourgeoisie die »Pfaffenfresserei« früher zum »guten Ton« gehört habe 471 , schwang aber auch ein kritischer Beiklang mit: zum einen eine Distanz zu bestimmten Formen der liberalen Polemik (obwohl die Sozialdemokratie an der »Pfaffenfresserei« durchaus partizipierte), eine Distanz gerade dann, wenn diese Polemik eine den Rechtsstaat aushöhlende Politik begleitete (Beispiel: die Ausnahmegesetze gegen die Jesuiten); zum anderen aber auch eine Kritik an der gegenwärtigen Stellung von liberalen Parteien und liberalem Milieu zu Kirchen- und Religionsfragen. Die Sozialdemokraten warfen den Liberalen vor, auf den wichtigsten Schauplätzen des Kampfes um eine Säkularisierung des Gemeinwesens versagt zu haben. Weder die Trennung des Staates von der Kirche noch die Trennung der Schule von der Kirche habe der politische Liberalismus im Kulturkampf durchsetzen können und wollen. Die vermeintliche liberale Inkonsequenz im Kulturkampf- eine partielle Realisierung der Trennungsforderungen etwa durch das Zivilstandgesetz konnte j a nicht abgestritten werden - führte die Parteiagitation auf die grundsätzliche liberale Konzeptualisierung des Konfliktes zurück: Nicht die Zurückdrängung des öffentlichen Einflusses von Kirche und Religion hätten die liberalen Kulturkämpfer erstrebt, sondern nur die »Dienstbarmachung« der Religion und ihrer Priesterschaft. Die Schlacht sei für den Staat, für die Monarchie und für das Kapital, nicht aber für Kultur, Zivilisation und Fortschritt geschlagen wor469 Concordia 21.11.1873 Nr.47 S.369-71 (S.369 »bürgerlichen Demokratie«); Pachtler, S.40 (der »moderne liberale Staat«); Schlecht, S.15f., 20~29;Jösting, S.30-36 (S.30 »gebildeten besitzenden Bürgertums«); Oldenberg, S.73 (abschließendes Zitat). 470 Stenographische Berichte, 1878, S.48. 471 Nümherg-Fürther Social-Demokrat 27.9.1878 Nr.227 S.1. Vgl. Fränkische Tagespost 9.9.1886 Nr.211 S.l.

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den.472 Die Sozialisten stellten zwei Deutungsmuster zur Bewertung des Kulturkampfes bereit. Der dominante innenpolitische Konflikt des frühen Kaiserreichs erschien einerseits als »Komödie« und Schwindel, letztlich aber angesichts der Konsolidierung von politischem Katholizismus und katholischem Milieu als ungeheure Niederlage des Liberalismus, in deren Folge dieser »auf den Kehricht« fliegen werde (ein Untergang, der allerdings auch dem nachkulturkämpferischen Katholizismus prognostiziert wurde).473 Andererseits hätten im Kulturkampf nicht nur der Katholizismus, sondern auch Liberalismus und Bourgeoisie die freiheitliche Maske abgelegt, so daß nun die reaktionären Kräfte wieder wie in einer Art politischem Urzustand vereint seien: als »Trias« von »Säbel, Geldsack und Kutte«, von »Aristokrat, Pfaffund Bourgeois« zur Wahrung der »heutige(n) ›göttliche(n)‹ Weltordnung«.474 Diese Interpretationen des Kulturkampfes band der sozialdemokratische Religionsdiskurs in eine Motivik ein, die das Verhältnis der sozialistischen Arbeiterbewegung zum liberalen Bürgertum auch auf anderen Politikfeldern bestimmte: die Motivik vom liberalen Verrat an den Prinzipien der Demokratie, an den bürgerlichen Idealen von Freiheit und Gleichheit und am religionskritischen Erbe bürgerlicher Tradition.475 Dieses die 1870er und 1880er Jahre durchgehaltene Verratsmotiv beschränkte sich keineswegs auf die politisch-institutionelle Ebene. Als Verrat brandmarkten Sozialdemokraten auch die mangelnde Solidarität des liberalen Milieus mit dem verarmten und schwerkranken Ludwig Feuerbach, ebenso das Schweigen bzw. die Beihilfe der Liberalen zu strafrechtlichen Verfolgungen wegen Verweigerung der religiösen Eidesformel oder wegen »Gotteslästerung« und die Kritik liberaler Blätter an der Kirchenaustrittskampagne von Johannes Most, die Unterstützung der liberalen Stadträte von Chemnitz 1876 und Leipzig 1886 für Kirchenneubauprojekte, den Einsatz eines der Fortschrittspartei nahestehenden »Brandenburgischen Lehrervereins« für die Beibehaltung des schulischen Religionsunterrichtes 472 Votksstaat 21/24.2.1872 Nr.l5f. S.l; ebd. 93.1872 Nr.20 S.3; Braunschweiger Volksfreund 22.8.1872 Nr.196 S. 1f ;Protocoll,1872,S.11 ;Braumchweiger Volksfreund 21.1.1873 Nr.17 S.1;Dresdner Volksbote 21.4.1875 Nr.48 S.lf.; Bebel, Thätigkeit 1874-1876, S.67 (»Dienstbarmachung«); u.ö.. 473 Volksstaat 8.10.1873 Nr.95 S.l (»Komödie«); Braunschweiger Voiksfreund 26.4.1878 Nr.97 S.1 (»Kehricht«); vgl. Sächsisches Wochenblatt 17.4.1886 Nr. 18 S.1. 474 Volkswille 23.4.1876 Nr.12 S.46 (»Trias« und »Weltordnung«); Sozialdemokrat 9.11.1889 Nr.45 S.1 (»Aristokrat, Pfaff und Bourgeois«, eine Redewendung aus dem Vorwort zur Wiederauflage von Guyot/Lacroix's »Die wahre Gestalt des Christentums« in der »Sozialdemokratischen Bibliothek«, die der redaktionellen Empfehlung zufolge 1889 »sehr zeitgemäß« komme). Vgl. auch Sozialdemokrat 8.3.1883 Nr. 11 S.l (der Christlich-Soziale Stöcker, der Konservative Minnigerode, der Zentrumsfuhrer Windthorst und der Fortschrittler Virchow vereint als »Die reaktionäre Masse« - so der Titel des Leitartikels - , hier ausschließlich deshalb so bezeichnet, weil sie alle an der wissenschaftsfeindlichen Religion festhielten). 475 Vgl. zum »Verrat« als zentralem sozialdemokratischen Interpretament von bürgerlicher Ideologie, Gesellschaft und Kultur Emig, S.161-64.

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1876 und das Mahnschreiben eines liberal geprägten Kirchenvorstandes an Eltern wegen der Nichtanmeldung ihres Kindes zur Taufe.476 »Zu den widerlichsten Erscheinungen der Reaktionsperiode, in der wir leben, gehört der frömmelnde Liberalismus.« 477 - »Die Rückkehr unserer weiland so ketzerisch gesinnten Bourgeoisie zur göttlichen Zuchtanstalt, Kirche benannt, macht immer weitere Fortschritte.«478 - »Was in Frankreich und England längst sich vollzogen hat, vollzieht sich jetzt und in reißender Schnelligkeit in Deutschland: die besitzenden Klassen werden fromm; sie erblicken in der Religion ein Mittel, das einzige noch wirksame, zur Niederhaltung der Geister.«479

Der Topos des neuerdings »frommen« Liberalismus, der jetzt wieder »frommen« Bourgeoisie entstand Mitte der 1870er Jahre in Reaktion auf die vermeintliche Halbherzigkeit, Inkonsequenz und Schwäche des politischen Liberalismus im Kulturkampf Er behauptete sich in den 1880er Jahren, scheinbar bestätigt durch die »konservative Wende« 1879 mit der Annäherung von rechten Nationalliberalen, traditionell kirchentreuen Konservativen und Zentrum sowie durch die von diesen Kräften gestützte bzw. hingenommene friedliche Beilegung des Kulturkampfes. Die mutmaßliche neue Frömmigkeit der Bourgeoisie schien diese Entwicklung im politischen Liberalismus zu bestätigen. Die Gründe für den liberalen Verrat am religionskritischen Erbe lagen dem sozialdemokratischen Religionsdiskurs zufolge offen zutage. Die Angst vor den erstarkenden Arbeiterparteien lasse die Bourgeoisie wieder fromm werden. »Religion für das Volk« heiße die neue liberale Parole, und daher hätten die bürgerlichen Politiker die Trennungsforderungen der religionskritischen Tradition im Kulturkampf zugunsten eines Konzeptes der Dienstbarmachung der Religion für die eigenen machtpolitischen Interessen aufgegeben.480 Ihre These vom bürgerlichen Paradigmenwechsel sahen die Sozialdemokraten nicht nur in der liberalen Kultur kampfpolitik bestätigt. Die Parteipresse zitierte beispielsweise 1877 den sozialliberalen Redner Dr. Julius Schulze, der vor dem 476 Braunschweiger Volksfreund 17.9.1872 Nr.217 S.lf. (Weigerung der »Gartenlaube«, zur Feuerbach-Spende aufzurufen); ebd. 17./21.11.1875 Nr.269/273 S.l (Eidesverweigerung); Chemnitzer Freie Presse 15.8.1876 Nr.188 S.2f. (§ 166); ebd. 24.9.1876 Nr.223 S.1 (§ 166); Chemnitzer Raketen 8.10.1876 Nr.41 S.lf. (Kirchenneubauprojekt Chemnitz); Chemnitzer Freie Presse 11.10.1876 Nr.237 S.l (Lehrerverein); ebd. 26.10.1876 Nr.250 S.l (§ 166, mit der Ankündigung, die liberale Haltung im Wahlkampf zum Thema zu machen); Berliner Freie Presse 29.11.1876 Nr.280 S.3 (Taufmahnschreiben); Lehn, S.236f. (§ 166, Eidesfrage); Braunschweiger Volksfreund 25.1.1878 Nr.21 S.2 (Kirchenaustrittskampagne); Sozialdemokrat 8.1.1886 Nr.2 S.3 (Kirchenneubauprojekt Leipzig). 477 Berliner Volksbfott 4.1.1888 Nr.3 S.l (Leitartikel »Der fromme Liberalismus«). 478 Sozialdemokrat 8.1.1888 Nr.2 S.3 (Artikel »Die fromme Bourgeoisie«). 479 Volksstaat 19.1.1876 Nr.7 S.l. 480 Braunschweiger Volksfreund 21.1.1873 Nr.17 S.l; ebd. 23.9.1876 Nr.233 S.l; u.ö.. Sozialismusfurcht und Klassenegoismus identifizierte die Parteipresse auch als Ursache für den angeblichen bürgerlichen Verrat auf anderen Politikfeldern; vgl. Emig, S.l 62.

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Hamburger liberalen »Reichstagswahlverein« für die Lösung der sozialen Frage durch die Religion und daher für die Beibehaltung des schulischen Religionsunterrichtes mit dem Hinweis plädiert hatte, daß dort, wo die Religion stark sei, die Sozialdemokratie erfolglos bleibe. Selbst die linksliberal-demokratische »Frankfurter Zeitung« habe der Sozialdemokratie den Hass gegen die Kirche zum Vorwurf gemacht. Bereits vor der Reichsgründung hatte der »Neue Social-Demokrat« die liberale Wahlkampagne in Barmen-Elberfeld für Rudolf Gneist (1816-1895) angegriffen, in der dem Präsidenten des ADAV Johann Baptist von Schweitzer in Zeitungsannoncen seine (vorsozialdemokratische) Schrift »Der Zeitgeist und das Christentum« (1861) und deren »offene und rückhaltlos wider-christliche Tendenz« vorgehalten wurde, um konservative Wähler von der Stichwahl-Unterstützung von Schweitzers gegen Gneist abzuhalten.4«1 Der Blick in die Parteibroschüren prominenter Liberaler offenbart ein weniger eindeutiges Bild. Während der linksliberale Reichstagsabgeordnete Theodor Barth (1849-1909) die sozialdemokratische »Religionsfeindschaft« angriff, verzichtete sein Fraktionskollege Eugen Richter (1838-1906) explizit darauf, ja, benannte als Hauptfeinde des Liberalismus neben der aus sozial- und verfassungspolitischen Gründen abgelehnten Sozialdemokratie »[...] die kirchliche Hierarchie und den politischen Absolutismus.«482 Liberale Rekurse auf einen positiv-religiösen Diskurs stießen zudem auch milieuintern mitunter auf Ablehnung. Die Kritik wurde am schärfsten von dem Flügel vorgetragen, der am linken Rand des bürgerlich-liberalen Milieus angesiedelt war, z.B. von der Zeitschrift der Freidenkerbewegung »Menschenthum« oder von der »Frankfurter Zeitung«, die trotz ihrer Kritik am religionspolitischen Kurs der Sozialdemokratie energisch etwa für die wegen Verweigerung des religiösen Eids Verfolgten Partei ergriff Doch die Kritik kam auch aus der Mitte des Milieus. So forderte die nationalliberale »Weser-Zeitung« ihren Reichstagsabgeordneten Rudolf von Bennigsen (1824—1902) auf, den »rücksichtslosen Kampf gegen die priesterlichen Herrschgelüste« und den »Schutz der Schule gegen die Uebergriffe der Kirche« als liberale Grundsätze stärker zu beachten.483 Umgekehrt verweigerte auch die Publizistik der Arbeiterparteien den Liberalen nicht immer ihre Anerkennung in der Religionsfrage. Die Unterstützung für die aufgrund des Gotteslästerungsparagraphen verfolgten Sozialdemokra481 Social-Demokrat 22.3.1867 Nr.36 S.l (zur Agitation gegen Schweitzer, dort auch das Zitat aus den liberalen Wahl-Annoncen); Hamburg-Altonaer Volksbbtt 2.12.1877 Beilage zu Nr.144 S.l (Schulze-Rede); Vorwärts 5.7.1878 Nr.78 S.l (»Frankfurter Zeitung«). 482 Richter, S.30; Kölner Freie Presse 19.10.1878 Nr.42 (über Reichstagsrede Richters); Barth, S.58f.. 483 Hier zitiert nach Menschenthum 25.7.1880 Nr.30 S.124. Vgl. Braunschweiger Volksfreund 21.5.1875 Nr.l 16 S.2 (»Frankfurter Zeitung«); Menschenthum 9.5.1880 Nr.19 S.79f. (Kritkam liberalen Versagen im Kulturkampf).

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ten durch liberale Blätter wie die »Vossische Zeitung« wurde dankbar registriert; Johann Most wähnte 1878 sogar seine Kirchenaustrittskampagne durch die bürgerliche Presse unterstützt. Doch gegenüber dem Deutungsmuster des bürgerlich-liberalen »antisozialistischen Verrats« blieben diese Anerkennungen marginal. Die Ausführungen von Ignaz Auer (1846-1907) auf dem Gothaer Kongreß der SDAP 1877 verdeutlichen das gesamtpolitische strategische Interesse der Partei. »Die liberale Partei [...], sie wurde aus Angst vor der Socialdemokratie gottesfurchtig und rief die Religion als Schutzmittel gegen sie an. Gleich Franz Moor in der Verzweiflungs-Scene versuchte die Bourgeoisie im Wahlkampf zu beten und so die Schrecken des Socialismus zu bannen. Diese vollständige Preisgabe aller Gesinnung und aller Prinzipien hat denn noch diesmal ausgereicht, um bei den Stichwahlen die Socialisten zu schlagen. Wie lange die Wähler aber politische Camäleons wählen werden, ist freilich eine andere Frage. Eines aber ist heute schon sicher: die socialistische Agitation ist heute schon stark genug, um die Bourgeoisie zur Verleugnung aller ihrer Grundsätze zu zwingen; die Bourgeoisie ist fromm geworden durch uns, und ihre Siege über uns tragen alsrichtigeSignatur die Firma: Gottes Segen bei Cohn!484 Kollektive Identitäten im sozialdemokratischen Milieu meinte die Parteiagitation gerade während der Fundamentalpolitisierung im frühen Kaiserreich nur durch die scharfe Abgrenzung zu den konkurrierenden soziokulturellen Milieus ermöglichen zu können. Die »proletarische Demokratie« konnte sich von der »bürgerlichen Demokratie«, aus der sie doch zu einem guten Teil hervorgegangen war, am besten durch die Motivik vom bürgerlichen »Verrat« und der sozialdemokratischen »Beerbung« absetzen, und insoweit lag es im Parteiinteresse, wenn die Liberalen (vermeintlich) ihre ureigensten demokratischfreiheitlichen Grundsätze aufgaben. Nur die Sozialdemokraten als die »echten Fortschrittskämpfer« für einen »wahren und wirklichen Kulturkampf« - wieder griff der Diskurs wie schon für »Christentum« und »Sozialismus« im Monopolkampf um Leitideen und -begriffe auf die Gegenüberstellung von »echt«/ »wahr«/»wirklich« und »falsch«/»sogenannt« zurück - würden konsequent die Forderungen nach der Trennung von Staat und Kirche sowie von Schule und Kirche vertreten, nur sie hätten in ihrem Programm die Religion zur »Privatsache« erklärt.485 Die Sozialdemokratie trete das religionskritische Erbe an, über den Liberalismus aber »[.„] wird der majestätische Strom hinwegrauschen und 484 Protokoll, 1877, S.25 (negativ auffällig die abschließende antisemitische Wendung). Zur Anerkennung liberaler Religionspolitik vgl. Berliner Freie Presse 2.5.1878 Beilage zu Nr.102 S.l (Kirchenaustrittskampagne); Volksstaat 30.1.1876 Nr.12 S.3 (§ 166). 485 Dresdner Volks-Zeitung 3.10.1877 Nr.78 S.2 (»Fortschrittskämpfer«); Wahrheit 10.10.1877 Nr.236 S.l (»wahren und wirklichen Kulturkampf«). Der Kampf um den Fortschrittsbegrirff drängte sich der Sozialdemokratie auch deshalb auf, da ihr der politische Linksliberalismus als »Deutsche Fortschrittspartei« gegenüberstand. 164 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

keine Spur von ihm zurücklassen -während der Strom sich zum Ocean erweitern und Herrscher sein wird!«486 In der Sicht der Arbeiterparteien, aber wohl auch im bürgerlichen Selbstbild vertiefte sich im Verlauf der 1870er und 1880er Jahre der Graben zwischen sozialdemokratischem und liberalem Milieu auch aufgrund unterschiedlicher Auffassungen in der religiösen Frage. Die »fromme Bourgeoisie« war zuallererst ein Kampfbegriff der Sozialdemokratie. Die begrenzte kirchliche Regeneration seit Mitte der 1870er Jahre wird aber auch in der Forschungsliteratur »auf die verstärkte politische Anlehnung des Bürgertums an die Kirche als stabilisierendem Ordnungsfaktor in der Abwehr der Sozialdemokratie« zurückgeführt. Die kirchliche Regeneration im protestantischen Bereich hatte ihren sozialen Ort weniger in der gehobenen Bildungs- und Wirtschafts-«Bourgeoisie« als im Kleinbürgertum, nunmehr und in Zukunft »die eigentliche soziale Trägerschicht der protestantischen Kirche«.487 Politisch, vor allem aber kulturell blieb die zum Teil bis zur Feindschaft gehende Fremdheit des Liberalismus gegenüber Katholizismus und protestantischer Orthodoxie jedoch bestehen, gerade auch deshalb, weil das liberale Milieu an der Kritik bestimmter Formen von kirchlicher Lehre und kirchlicher Institution festhielt. Anderen Formen dagegen stand es offener gegenüber. Liberale Theologie Das Verratsmotiv im sozialdemokratischen Religionsdiskurs erfuhr eine weitere Konkretisierung durch die Kritik an Sympathien im Bürgertum für summarisch als »liberal« zu kennzeichnende Tendenzen in der zeitgenössischen Theologie, die auch kirchliches Leben und individuelle Glaubenshaltungen der Gemeindeglieder stark prägten. »In der zunehmend größer werdenden Distanz zwischen neuzeitlicher Wissenschaftsorientierung und der christlichen Frömmigkeit will liberale Theologie den entstehenden Freiraum durch historischkritischen und religionsgeschichtlichen Realismus füllen. Sie will sich von der Voraussetzungsgebundenheit des konfessionellen Denkens lösen. [...] Liberale Theologie will dem heilsgeschichtlichen Offenbarungsverständnis, aber ebenso dem kausalen Wirklichkeitsverständnis der positiven Naturwissenschaften das Bild der freien, sich aus dem Geist selbst bestimmenden, menschlichen Person und Menschheit gegenüberordnen und das Recht menschlicher Freiheit zur religiösen Selbstbestimmung sichern. Darin liegt die Beziehung auch zum politischen Liberalismus.«488 486 Dresdner Volks-Zeitung 3.10.1877 Nr.78 S.2. 487 Hölscher, Weltgericht, S.156 (erstes Zitat), 160f. (zweites Zitat). 488 Jacobs, Liberale Theologie, S.47.

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Im katholischen Bereich ließ die dogmatisch-«fundamentalistische« Ultramontanisierungvon Theologie, Klerus und kirchlichem Leben zunächst wenig Raum für eine binnenkirchliche liberale Reformbewegung. Als liberale katholische Theologie galt dem sozialdemokratischen Diskurs in erster Linie die altkatholische Bewegung, die Parteiredakteure und -redner besonders in den 1870er, aber auch noch in den 1880er Jahren aufmerksam beobachteten. Ausgehend von dem 1871 mit der Exkommunizierung bestraften Einspruch des Münchner katholischen Kirchenhistorikers Ignaz Döllinger (1799-1890) gegen das Unfehlbarkeitsdogma des Ersten Vatikanischen Konzils 1869/70 formierte sich außerhalb der römisch-katholischen eine antiultramontane »altkatholische« Kirche, die - nach ihrem Selbstverständnis in Nachfolge der ursprünglichen apostolischen Kirche, d.h. »alt-katholisch« - nicht nur die päpstliche Unfehlbarkeit bestritt, sondern Schritt für Schritt »liberale« kirchliche Reformen wie den gottesdienstlichen Gebrauch der Volkssprache und die Abschaffung des Ablasses einführte. Politisch stand diese bildungs- und wirtschaftsbürgerlich, zum Teil auch kleinbürgerlich geprägte »Honoratiorenkirche« zunächst der nationalliberalen Partei am nächsten.489 Im protestantischen Bereich hingegen stellte der kirchliche Liberalismus während des gesamten 19. Jahrhunderts eine feste innerkirchliche Größe dar.490 Er hatte mit Friedrich Schleiermacher (1768-1834) einen herausragenden Theologen hervorgebracht, der eine ganze Generation von Pfarrern prägen sollte, differenzierte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte aus (mit dem Theologen Richard Rothe am »linken Rand«, der ein Aufgehen der Kirche im Kulturstaat befürwortete) und behauptete sich trotz eines gewissen Bedeutungsverlustes auch nach dem Wiedererstarken des orthodoxen Luthertums Anfang/ Mitte der 1870er Jahre. Als bedeutendste kirchenpolitische Organisation des kirchlichen Liberalismus wurde 1863 - im selben Jahr wie der ADAV - der »Deutsche Protestantenverein« gegründet. Der Protestantenverein hatte sich die Ablösung der altkirchlichen Dogmen durch auf dem privaten Urteil und auf der allgemeinen Kulturentwicklung beruhende Glaubensauffassungen, die Wiedergewinnung der der Kirche Entfremdeten, eine Trennung von Staat und (»demokratisierter« Gemeinde-)Kirche sowie die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens der »protestantischen Nation« zum Ziel gesetzt.491 Auch er genoss das Interesse der Arbeiterpartei(en). Und als sozialpolitisch engagierte Partei musste die Sozialdemokratie ebenfalls die sozialliberalen Pastoren kritisch würdigen, wenn diese auch innerprotestantisch nur eine kleine Minderheit bildeten. 489 Zum (noch unzureichend erforschten) Altkatholizismus Blaschke, Altkatholizismus, bes. S.58-64. 490 Vgl. knapp Bester, Kirche, S.39f.; Jung, S.51-55. 491 Nach Bester, Religion, S.94f.. Vgl. die Monographie von Lepp, Aufbruch, bes. S.58-69 (zur Programmatik).

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Altkatholizismus, Protestantenverein und sozialliberale Pfarrer ordnete der sozialdemokratische Religionsdiskurs dem bürgerlich-liberalen Milieu zu, das sich keineswegs vollständig von seinen kirchlichen Bindungen losgesagt hatte. Die Ablehnung von liberalen Theologien unterschiedlicher Färbung und des diesen Theologien verpflichteten kirchlichen Liberalismus war bis auf wenige Ausnahmen unstrittig.492 Die Kritik ordnete sich dabei um Begriffe wie »Halbheit« und »Heuchelei«. 493 Als »Halbheit« konnte ein Reformprogramm verworfen werden, das noch nicht einmal die bereits in der Reformation erhobenen Forderungen einlöse (Altkatholizismus) bzw. sich den Erkenntnissen der modernen Wissenschaft nur partiell öffne und eine Vermittlung von Glaube und Wissenschaft anstrebe (protestantischer Liberalismus). Als »heuchlerisch« aber sollten jene Geistlichen gebrandmarkt werden, die im privaten Kreis ihre »liberalen«, d.h. zumeist dogmenkritischen Überzeugungen kundtun, aber in der gemeindlich-kirchlichen Öffentlichkeit diese Überzeugungen verleugnen würden. Einen beispielhaften Charakter gewann in der sozialdemokratischen Agitation der »Apostolikumsstreit« in der preußischen Kirche nach 1871. 1872 hatten sich die prominenten Berliner liberalen Prediger Friedrich Gustav Lisco und Adolf Sydow für eine Beseitigung des nach ihrer Überzeugung nicht mehr zeitgemäßen altkirchlichen Apostolischen Glaubensbekenntnisses aus der gottesdienstlichen Liturgie ausgesprochen, worauf das Brandenburger Konsistorium ein Lehrzuchtverfahren gegen diese Schleiermacher-Schüler und fuhrenden Mitglieder des Protestantenvereins anstrengte. Sozialdemokratische Redakteure warfen den vermahnten Geistlichen, die weiterhin das Apostolikum in ihren Gottesdiensten sprachen, und mit ihnen der »liberale(n) Bourgeoisie«, die Sydow und Lisco zu »Märtyrer(n) des Liberalismus« erklärt habe, »Halbheit« und »Heuchelei« vor. Spätere, ähnlich gelagerte Fälle (Emil Sülze 1876 in Sachsen, Theodor Johann Hoßbach und Franz Georg Rhode 1877 in Berlin) führten zur Empfehlung an die Leser der Parteipresse, alle ihnen begegnenden »freisinnigen« Prediger aufzufordern, die Gottessohnschaft Jesu von 492 Zu den Ausnahmen: 1882 lobte die »Neue Welt« ausführlich eine Rede Ignaz von Döllingers gegen die antisemitische Bewegung - allerdings eine Würdigung außerhalb des Gebietes der kirchlichen Reform: Neue Welt 2/1882, S.30f. (vgl. zur Antisemitismuskritik des frühen Altkatholizismus Blaschke, Altkatholizismus, S.64-75). Einige Ausgaben später bezeichnete der Freidenker und »ethische Sozialist« Jacob Stern »eine kräftige liberale Ausbildung des Protestantismus« als wichtigen Entwicklungsschritt auf dem Weg zu einer anzustrebenden universal-monistischen Weltanschauung: Stern, Vergangenheit (Schluss), S.234. 493 Braunschweiger Volksfreund 16.6.1874 Nr.138 S.2 (Altkatholiken »Heuchler«); Neue Offenbacher Tageszeitung 22.8.1875 Nr. 195 S.l (»Halbheit« des Altkatholizismus); Neuer Social-Demokrat 28.5.1876 Nr.61 S.3 (ebenso); u.ö.. Noch 1888 berichtete das »Berliner Volksblatt« über eine Versammlung des als »Spottgeburt« bezeichneten »nationalliberale(n) Altkatholizismus«: Berliner Volksblatt 11.9.1888 Nr.213 S.l. Kritik an der »Halbheit« des Protestantenvereins: Neuer SocialDemokrat 15.9.1876 Nr. 107 S.2.

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der Kanzel aus zu bestreiten: So könnten die »Heuchler« überführt und entlarvt werden.494 Die Positionierung in den Auseinandersetzungen um das Apostolikum verdeutlicht, daß es der sozialdemokratischen Agitation in der Regel kaum um ein Vorantreiben innerkirchlicher Reformen ging. »Ueberhaupt sind alle Reformen auf kirchlichem Gebiete nichtssagender Natur, sofern nicht die Reform eine vollständig radicale ist, sofern nicht danach gestrebt wird, daß das Wissen an Stelle des Glaubens gesetzt werden soll. Solch eine radicale Reform wird aber der heutige Staat schwerlich vornehmen, denn es wäre dies sein eigenes ›Unglück‹, und so berühren uns denn alle die verschiedenen Reformen, welche auf kirchlichem Gebiete in Aussicht gestellt werden, nicht im Geringsten.« 495

Wie schon bei der Bestreitung der Möglichkeit einer vermittlungstheologischen Aussöhnung von christlichem Glauben und Wissenschaft bestimmten Topoi der religionskritischen Tradition den Diskurs, im Falle der liberalen Pastoren nun allerdings in ihrer populären Variante: »Pfaffen sind eben Pfaffen.«496 Allerdings »präzisierte« und wandelte sich die sozialdemokratische »Pfaffenschelte« mit der Zeit. Das Feindbild des konservativen orthodoxen »Muckers« verblasste gegenüber dem Bild von den liberalen »Heuchler(n) und Schwachköpfen«: »[...] da steht uns der Orthodoxe, wenn wir seine Ansichten auch bekämpfen, doch als ehrlicher Mann höher; [,..].«497 Dieses immer wieder anzutreffende Motiv ließ konnotativ verschiedene Deutungsvarianten offen. Einerseits zeigt sich hier die Bevorzugung eines »eindeutigen« weltanschaulichen Gegners, der mithilfe von klaren Feindbildkonstruktionen für das parteinahe Milieu die identitätsfördernde Abgrenzung erleichtern konnte. Denn - so legt es der heftige Widerspruch der Parteipublizistik doch nahe - liberale Theologie stellte sich durchaus als diskutables Deutungsangebot auch für Angehörige des sozialdemokratischen Milieus dar, ein Gegenangebot zur sozialdemokratischen Christentumskritik, vor dem eindringlich gewarnt werden musste. Diese Konkurrenzsituation unterstreicht auch die wohl nicht immer erfolglose antisozialistische Agitation liberaler Kirchenfunktionäre.498 Andererseits klang bisweilen auch ein Stück »Nostalgie 494 Braunschweiger Volksfreund 1.11.1876 Nr.256 S.l (Zitate); ebd. 17.6.1877 Nr.139 S.lf.; Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 26.6.1877 Nr. 144 S. 1; Braunschweiger Volksfreund 30.7.1877 Nr.176 S.lf. Vgl. zu den »Fällen« Lisco, Sydow und Hoßbach: Lessing, S.342f.. 495 Social-Potitische Blätter 30.10.1875 Nr.44 S.346. Der oft angeführte »K.«-Artikel der »Zukunft« vertrat eine klare Minderheitenposition, wenn er vorsichtig kirchliche Reformer als zukünftige mögliche Bündnispartner beschrieb: K, S.558. 496 Neuer Social-Demokrat 9.2.1872 Nr.17 S.2, in einem Artikel über die Altkatholiken als »die liberalen Bourgeois in der katholischen Kirche« (ebd. S.l). 497 Braunschweioer Volksfreund 1.11.1876 Nr.256 S.l (Zitaten vel. ebd. 17.6.1877 Nr.139 S.l. 498 Vgl. z.B. Dresdner Volksbote 23.3.1877 Nr.35 S.lf; Dresdner Volks-Zeitung 3.4.1878 Nr.40 S.2f. (zu einer antisozialistischen Broschüre bzw. einem entsprechenden Vortrag desselben Pastor Sulzes, der wegen seiner Position zum Apostolikum kirchlich gemaßregelt worden war. Vgl. Sulze. Das Organ bürgerlicher Sozialreform »Der Arbeiterfreund« empfahl in einem sozialismuskriti-

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für die Religion« (Eric J . Hobsbawm) in den unerwarteten sozialdemokratischen Sympathieerklärungen für die orthodoxen gegenüber den liberalen Geistlichen an. »Die bekenntnistreuen Gläubigen [gemeint sind Geistliche] stehen in unseren Augen immer noch höher, als jene liberalisierenden Pfäfflein, die sich den Schein der Freisinnigkeit geben möchten [...]. Grade sie sind es, welche die Ueberzeugungstreue im Volke vernichten [,„]«.499 Bürgerliche Religion Die »liberalisierenden Pfäfflein« bildeten einerseits ein abgrenzbares Segment innerhalb des großen, sozioökonomisch und kulturell stark differenzierten bürgerlich-liberalen Milieus. Andererseits aber entbehrte es auch nicht jeder Grundlage, den Protestantismus schlechthin als »bürgerliche Religion« zu charakterisieren, wie auch Marx und Engels es taten, indem sie auf den Zusammenhang von religiös »bemänteltem« protestantischen Antifeudalismus und ökonomischen Klasseninteressen der aufstrebenden Bourgeoisie verwiesen. Eine solche historisch-ökonomische Begründung der Wesensverwandtschaft von Protestantismus und Bürgertum schien zwar auch im Diskurs der frühen deutschen Arbeiterparteien auf500 Doch mehr noch fußte die These einer solchen Wesensverwandtschaft in der frühen Sozialdemokratie auf der Wahrnehmung kirchlich-religiöser Mentalitäten im protestantisch-liberalen Milieu, wo einer »bürgerlichen Religiosität«, sofern sie sich noch auf das Christentum bezog, als wichtigstes Merkmal »die Suche nach immer neuen Synthesen von Wissenschaft, Kultur und christlicher Tradition« eignete.501 Der »Deutsche Protestantenverein« als organisatorisches Symbol einer derart geprägten kulturellen Identität war keineswegs Interessenvertretung und Wertegemeinschaft nur der liberalen evangelischen Pfarrerschaft, sondern reichte in Führungsund Mitgliederstruktur weit ins liberale Milieu hinein. »Das liberal gebildete Bürgertum [...] prägte [...] nachhaltig den Charakter des Gesamtvereins.« Auch zwischen liberalem Protestantismus und politischem Liberalismus bestand auf der Vereinsebene ein »interaktionistisches Beziehungsgeflecht«, wie u.a. die nicht geringe Zahl von Vereinsmitgliedern in den Reichstags- und Landtagsfraktionen der Liberalen belegt (z.B. Rudolf von Bennigsen für die Nationallischcn Aufsatz implizit, dem Religionshass der Sozialdemokraten eine liberale Theologie entgegenzusetzen, um die Arbeiter zurückzugewinnen: Lammers, SA05. Lammers war Gründungsmitglied des Deutschen Protestantenvereins und 1877-1879 nationalliberales Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. 499 »Braunschweigisches Unterhaltungsblatt« 1883, hier zitiert nach: Eckert, Arbeiterbewegung, S.152. »Nostalgie für die Religion«: Hobsbawm, Blütezeit, S.343. 500 Z.B. bei Wilhelm Liebknecht, s. Liebknecht, Bodenfrage, S.14. 501 Hölscher, Religiosität, S.214.

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berale Partei, Hermann Schulze-Delitzsch [1808-1883] für die Fortschrittspartei).502 Ebenso begeisterten sich zum Luther-Jubiliäum 1883 keineswegs nur Pfarrer und Kirchengemeinden, sondern große Teile der bürgerlich-liberalen Eliten für den 400 Jahre zuvor geborenen Reformator als Heros deutschen Nationalbewusstseins und freier Geistesentwicklung auch in Wissenschaft und Kultur. Die Sozialdemokratie sah es dagegen als ihre Aufgabe an, ein Lutherbild jenseits der konservativ-orthodoxen und der liberalen Geschichtsbilder zu propagieren.503 Die Parteiagitation beschuldigte die Liberalen ebenso, sich von den fundamentalen christlichen Sprach- und Deutungsmustern nicht konsequent genug verabschiedet zu haben. So warf sie ihnen vor, die katholische Wundergläubigkeit zu bekämpfen, anlässlich des misslungenen Attentats auf Bismarck aber von der »Hand Gottes« zu »faseln«, die den Reichskanzler gerettet habe. Ein anderes Mal polemisierte die Parteipresse gegen den liberalen Sozialreformer Hermann Schulze-Delitzsch, der für die Trennung von Kirche und Staat eintrete, im selben Atemzug aber explizit am Vaterunser als sittlicher Grundlage festhalte.504 In den skizzierten liberalen Einstellungen konkretisierte sich »bürgerliche Religion« als wenn auch nicht mehr kirchlich stark gebundene, so doch noch christliche, »kulturprotestantische« Identität.505 Der Mediziner Rudolf Virchow, 1861 Mitbegründer der Deutschen Fortschrittspartei, seit 1862 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, 18801893 zunächst für die Fortschrittspartei, dann für die Freisinnige Partei im Reichstag, galt im bürgerlich-liberalen Milieu als »Bannerträger« des Linksliberalismus und als Vorkämpfer des Kulturkampfes. Im sozialdemokratischen Religionsdiskurs dagegen wurde er in einer Strategie der Personalisierung von Feindbildern über Jahre hinweg zur Inkarnation eines die eigene religionskritische Tradition verratenden Kulturprotestantismus. Anlass gaben 502 Lepp, Aufbruch, S.107, 420 (Zitate); s. auch die Abgeordnetenübersicht S.382f . 503 Sozialdemokrat 9.8.1883 Nr.33 S.2. 504 Volksstaat 24.7.1874 Nr.85 S.2 (»Hand Gottes«, in einem Artikel »Nationalliberales Wunder«); ebd. 23.6.1875 Nr.70 S.2f (Schulze-Delitzsch). 505 In der Forschung besteht eine große Vorsicht gegenüber definitorischen Eingrenzungen von »Kulturprotestantismus«, ein kulturgeschichtlicher Begriff, der m.E. nicht erst für die Jahrhundertwende, sondern bereits für die 1860er Jahre Verwendung finden sollte. »Gemeint ist irgendeine Form von naivem Fortschrittsoptimismus, der Kulturgüter auf dem Boden der eigenen konfessionellen Tradition affirmiert. Auf die Reformation zurückgeführte sog. ›Werte‹ (Freiheit von kirchlicher Bevormundung, unbefangene Diesseitsgestaltung, nationale Selbstbehauptung) werden als Bedingungen der eigenen Gegenwart und Zukunft selbstgewiss in Anspruch genommen. [...] Das verdeutlicht der sog. preußische Kulturkampf [...], aber schon bei der Gründung des ›Protestantenvereins‹ (1863) wird programmatisch eine protestantische Weltgestaltung im Einklang mit der allgemeinen Kulturentwicklung gegenüber politischer Reaktion und katholisierenden Tendenzen gefordert.«: so der Definitionsversuch von Ringsleben, Sp.1523. Vgl. zum »Kulturprotestantismus« des Protestantenvereins Graf, Kulturprotestantismus. Begriffsgeschichte, S.24—36; zur Verbindung von Kulturprotestantismus und politischem Liberalismus ders.r Kulturprotestantismus, S.232f.; allgemein Hübinger (überwiegend späterer Zeitraum).

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Äußerungen Virchows in der Debatte zum Schulaufsichtsgesetz im Preußischen Abgeordnetenhaus 1868, die das Christentum als Grundlage der gegenwärtigen Zivilisation anerkannten506, vor allem aber die »Münchner Rede« vor der Versammlung der »Deutschen Akademie der Naturforscher und Ärzte« 1877, in der Virchow die Deszendenztheorie von Charles Darwin als wissenschaftlich nicht voll gesichert bezeichnete und daher die Beibehaltung der Schöpfungslehre im schulischen Unterricht befürwortete: »Jeder Versuch, die Kirchenlehre zu depossediren und durch eine Descendenztheorie zu ersetzen, muß scheitern und muß die höchste Gefahr für die Wissenschaft mit sich bringen. Man möge sich nur vorstellen, wie die Descendenztheorie sich heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt.«507

Die kirchliche Orthodoxie - so die Kritik in der Presse der Arbeiterpartei(en) sei von Virchows Poltern gegen den Darwinismus begeistert. Aus Furcht vor der sozialdemokratischen Bedrohung und im Grunde gegen die eigene Überzeugung schließe sich der Mediziner und Politiker und mit ihm das liberale Milieu der »reaktionären Masse« an. Der Darwinismus - eine Metapher für die »moderne Wissenschaft« schlechthin - hätte Heimstatt nur im Sozialismus. Für eine ›politische That‹ halten wir Virchow's Retraiteblasen allerdings auch. Ob aber der Liberalismus, insbesondere der ›Fortschritt‹ Ursache hat, sich dieser ›That‹ zu freuen? Wir glauben kaum; denn die echten Fortschrittskämpfer, die Socialisten, werden zum Schaden des Liberalismus die Worte Virchow's nicht so bald vergessen. Das wird auch der einzige ›Erfolg‹ des in München ausgestoßenen Angstrufes sein. Denn die Zeit der Wunder ist vorbei und keine Beschwörungsformel macht heutzutage mehr den Strom bergan laufen; der Wahnwitzige, der sich ihm entgegenstemmt, wird niedergerissen werden. Auch Herr Virchow wird niedergerissen werden, j a er liegt schon am Boden und die Anerkennungsvoten, die ihm von Ministern, Pfaffen und anderen Reactionären werden, drücken ihn nur noch mehr nieder.« 508

Den liberalen Religionsdiskurs in seiner kulturprotestantischen Variante prägten die Postulate vom Christentum als Grundlage der modernen Zivilisation und als notwendiges Fundament ethisch-«sittlicher« Orientierung - was eine 506 Braunschweiger Volksfreund 29.2/1.3.1872 Nr.50f. S.l (Leitartikel »Das Christenthum und die Zivilisation«, übernommen aus der »Demokratischen Zeitung«). 507 Zitat aus Virchows Rede, nach Braunschweiger Volksfreund 29.9.1877 Nr.228 S.l. Vgl. zu dieser Rede und ihrem Echo in der katholischen und in der christlich-konservativen Presse Boyd, S. 186-90. Die Rede, »one of the most important Speeches of his career« (ebd., S.l86), markiert nach Boyd eine Wende Virchows zu konservativeren Positionen. Die (unübliche) Zuordnung Virchows zum Kulturprotestamtismus erscheint in diesem Kontext berechtigt. 508 Dresdner Volks-Zeitung 3.10.1877 Nr.78 S.lf.. Vgl. Braunschweiger Volksfreund 29.9.1877 Nr.228 S.1f.; Braunschweiger Leuchtkugeln 30.9.1877 S.l (satirisches Gedicht »Virchow«); Vorwärts 30.9.1877 Nr.l 15 S.2; ebd. 3.10.1877 Nr.l 16 S.l (Artikel von Karl Kautsky unter dem Pseudonym »Symmachos«); Sozialdemokrat 9.11.1882 Nr.46 S.3; ebd. 8.3.1883 Nr.11 S.l; Sächsisches Volksblatt 10.2.1889 Nr. 18 S.l. Vgl. ähnlich die freidenkerische Kritik an Virchows Distanzierung vom Darwinismus: Menschenthum 3.9.1882 Nr.36 S.141-44.

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ausgesprochene Skepsis gegenüber der Kirche als Institution oder gar deren Ablehnung zwar nicht zwangsläufig ein-, aber auch keineswegs ausschloss, wie am Beispiel Virchows erkennbar ist. Diesen Positionen gegenüber mobilisierte und aktualisierte der sozialdemokratische Diskurs eine Religionskritik, die das Verhältnis von Religion und Moderne als unversöhnlich kontradiktorisches definierte. Auch die im liberalen Kulturprotestantismus genauso wie im christlichen Konservatismus verbreitete, etwa an der Sedansbegeisterung deutlich werdende religiöse Überhöhung der Nation im Rahmen einer protestantischen »Nationalreligion« - Beispiel einer »Milieukoalition« zwischen Konservativen und Nationalliberalen auf der Ebene der Deutungskulturen - stieß auf ätzende Polemik.509 Die Bestimmung der Religion als »nationales Prinzip«, mehr noch aber als »sittliches Fundament« konnte im liberalen Milieu allerdings den christlichkulturprotestantischen Diskurshorizont auch überschreiten. Pantheismus, Deismus und Monismus figurierten in der Polemik der Arbeiterparteien gelegentlich als »bürgerliche Religion«, die den christlichen Deutungsrahmen bewusst verlassen hatte, aber - ebenso wie die bürgerlichen Bildungs-, Wissenschafts-, Kunst- und politischen »Religionen« - doch noch »prägende Überhänge religiöser Denkformen und Grundvorstellungen« aufwies.510 Als bürgerliche Ideologien standen die Gleichsetzung von Religion (als geistigem Prinzip) und Sittlichkeit, der Pantheismus Goethes (»rationalistisch-pantheistisch-spinozistischer Quark«), der um die Naturabhängigkeit des Menschen und um Wissenschaft, Kunst und Nation als sittliche Werte kreisende »Neue Glaube« des David Friedrich Strauß und selbst der als »Evangelium des aufgeklärten Spießbürgerthums« apostrophierte Materialismus Ludwig Büchners in der Kritik der Arbeiterparteien.511 Auf der anderen Seite zählten Goethe, David Friedrich Strauß und Ludwig Büchner im sozialdemokratischen Diskurs zum bewahrenswerten religionskritischen Erbe, der Monismus genoss in weiten 509 Vgl. zum nationalkirchlichen bzw. nationalreligiösen Enthusiasmus des kirchlichen Liberalismus am Beispiel des Deutschen Protestantenvereins Lepp, Protestanten, S.294-319; zu den kulturprotestantisch-nationalliberalen Ursprüngen des Sedantages dies., Protestanten. Kirchenfernere nationalreligiöse Tendenzen prägten auch den 1874 durch den nationalliberalen Historiker Heinrich von Sybel (1817-1895) begründeten »Deutschen Verein für die Rheinprovinz«, ein antiultramontaner Kampfverband, in dem Protestanten sowie einige Altkatholiken und liberale sog. »Staatskatholiken« zusammenfanden; vgl. Schlossmacher, bes. S.499f.. 510 Hölscher, Religion, S.626f.. Zu den »Religionen« des unkirchlich gewordenen Bürgertums vom Pantheismus und Monismus über die Bildungs-, Kunst-, und Wissenschaftsreligionen bis zur Sakralisierungder Nation vgl. auch die Überblicke in Nipperdey, Geschichte 1800-1866, S.440-42, 449-51; ders, Geschichte 1866-1918 Bd.1, S.509f., 516-23. 511 Volksstaat 22.1.1873 Nr.7 S.l (Kritik Josef Dietzgens an Aaron Bernstein (1812-1884), liberal-demokratischer Publizist, Gründer der Berliner »Volkszeitung« und Onkel Eduard Bernsteins, der die »Grundlagen sittlicher Eigenthümlichkeiten« in einem Aufsatz als »Wesen der Religion« bezeichnet hatte); ebd. Nr.51 7.5.1875 S.l (zu Goethe); Sozialdemokrat 23.11.1879 Nr.8 S.2; ebd. 29,3.1890 Nr.13 (zu Büchner).

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Kreisen des Parteinmilieus Anerkennung, und so schwankte das Urteil zwischen der Polemik gegen die »bürgerlichen Religionen« und der Hochachtung vor diesen Lehren als modernen wissenschaftlichen Weltanschauungen. Als bürgerliche Religion attackierten Parteipublizisten aber auch die »Religion des Capitals«. Seit den Anfängen kapitalistischen Wirtschaftens begleiteten sprachlich vergleichbar gestaltete Polemiken die Durchsetzung dieser Marktökonomie, wie schon der Blick auf die Verwerfung der »Mammonsanbetung« durch Martin Luther zeigt.512 Religiöse Begrifflichkeit und theologisch-literarische Gattungen wurden eingesetzt, um den ideologischen Charakter und den Autoritätsanspruch realkapitalistischer Rhetorik und Praxis zu entlarven. In Form eines Katechismus angelegte Kritik knüpfte zudem an durch schulische und kirchliche Unterweisung bekannte Formen kultureller Praxis an. »Frage: Wie heißest du? Antwort: Lohnarbeiter. [...] Fr.: Was ist deine Religion? Α.: Die Religion des Kapitals. [...] Fr.: Welches sind die Gebete deiner Religion? Α.: Ich bete nicht mit Worten. Mein Gebet ist die Arbeit. Jedes Sprechen eines Gebetes würde mein wirkliches Gebet, die Arbeit, stören. Sie ist das einzige Gebet, das wohlgefällt, denn sie ist das einzige, das dem Kapital nützt und Mehrwerth schafft.«513

Eingebettet in den sozialdemokratischen Religionsdiskurs erschöpfte sich die Polemik gegen die »Religion des Capitals« nicht in bloßer Metaphorik. Vielmehr unterstellte sie eine schon von Marx und Engels behauptete (und später von Max Weber aufgearbeitete) reale Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismus und Protestantismus. Der populären Version der Parteiagitation zufolge garantiere letzterer - anders als der Katholizismus mit seinen altfeudalen Bindungen einerseits, seiner altchristlich-«kommunistischen« Tendenz andererseits - in besonderer Weise den Schutz des (Kapital-)Eigentums als »heilige Ordnung«. Auch in Erkenntnis dieser Tendenz des Protestantismus zur Sakralisierung des Privateigentums sei das bürgerlich-liberale Milieu wieder zur Kirche zurückgekehrt. Weder der (bei Max Weber im Zentrum stehende) calvinistisch-«arbeitsethische« noch der orthodox-konfessionalistische, sondern der liberale Protestantismus wurde hier bezichtigt, der Herrschaftssicherung der Bourgeoisie zu dienen: fortschrittliche Theologie als »das auf das religiöse Ge512 Zu Luthers Kapitalismuskritik vgl. Marquardt, Gott. Sozialdemokratische Polemik: Social· Demokrat 13.3.1868 Nr.32 S.l; Sozialdemokrat 5.2.1886 Nr.6 S.2f. (Schluss einer Artikelserie des Marx-Schwiegersohns Paul Lafargue (1842-1911) mit dem Titel »Die Religion des Kapitals«); ebd. 7.12.1889 Nr. 49 S.3 (der »allmächtige(n), allwissende(n) und allumfassende(n) Herrgott Kapital«). 513 Sozialdemokrat 5.2.1886 Nr.6 S.2f. (Lafargues »Katechismus eines Arbeiters« in der typischen Frage-Antwort-Form). Vgl. Fürther demokratisches Wochenblatt 21.6.1873 Nr.25 S.2f. (sozialkritische »Zehn Gebote nach der neuesten Verfassung«).

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biet übertragene Manchesterthum«.514 Der »Religion des Capitals« sprach der arbeiterparteiliche Diskurs eine eigene religiöse Dimension gegenüber dem tradierten Christentum zu. Daß hier nicht nur ideologische Absolutheitsansprüche metaphorisch übersetzt werden sollten, zeigen die Gegenüberstellungen von »alter« (christlicher) und »neuer« (bürgerlich-kapitalistischer) Religion: Dem Liberalismus gebühre der Ruhm, die überlieferte positive Religion abgeschafft zu haben, doch habe er an deren Stelle nun die neue Religion des goldenen Kalbes gesetzt. Das zum Schein wieder christliche Bürgertum verehre in Wahrheit den neuen Gott des Mammons.515 Die Kontrastierung der religiöse Verehrung beanspruchenden Gesetze des Kapitals mit den zu diesen Gesetzen in Widerspruch stehenden biblisch-christlichen Geboten, die Polemik also gegen die kapitalistische bürgerliche Religion aufgrund ihrer Unchristlichkeit verweist kaum nur auf »religiöse Nostalgie« (Eric J . Hobsbawm), sondern vielmehr auf christliche Motivationsbestände im sozialdemokratischen Milieu. » Die Bourgeoisie thut sich viel zu Gut auf ihr Christenthum, sie baut prachtvolle Kirchen, geht jeden Sonntag hinein respective läßt sich durch Frauen und Kinder vertreten und läßt ihre Kinder im Katechismus unterrichten. Im Katechismus aber sind die Zehn Gebote enthalten und unter den Zehn Geboten lautet das fünfte: ›Du sollst nicht todten.‹ [...] Die capitalistische Gesellschaftsordnung ist ein schreiender Hohn auf das fünfte Gebot und der moderne Capitalismus ist ein Molochdienst, schlimmer als derjenige der alten Asiaten. [...] Und wenn die Kirche nicht so sehr dogmatisch verknöchert und nicht so ängstlich beflissen wäre, es nicht mit der herrschenden Klasse zu verderben, hätte sie ihren Einfluß längst auf diesem Gebiete geltend machen müssen.«516 »Bürgerliche Religion« konnte als umfassendes Weltdeutungskontrukt beschrieben werden - auf kirchlich-religiöser Ebene als »Freisinn«, auf ökomischer Ebene als Kapitalismus, auf wissenschaftlicher Ebene z.B. als Sozialdarwinismus - oder auf einen psychischen Kernbestand zurückgeführt werden: der Egoismus als »die wahre Bourgeoisreligion«.517 Der sozialdemokratische Religionsdiskurs hatte in der Kritik an der bürgerlichen Religion seinen »Idealtyp« von Religion gefunden, der die Deutung von Religion als Herrschafts514 Liebknecht, Bodenfrage, S.14 (»Religion des Privateigenthums«); Sozialdemokrat 22.9.1887 Nr.39 S.2 (»[...JManchesterthum«). Vgl. Boruttau, Frage, S.14f.; Dietzgen, Ein Cyclus von Kanzelreden.3.. Max Weber leitete den ökonomischen Rationalismus der kapitalistischen Dynamik aus einer calvinistisch-asketischen Ethik ab. Daß religiöse Kräfte die mentalen Dispositionen für die Durchsetzung des Kapitalismus schufen, verstand Weber wohl auch als eine Art exemplarische Widerlegung des historischen Materialismus. S. Weber, Ethik; Lehmann, Ethik, bes. S.50, 137. 515 Sociat-Demokrat 13.3.1868 Nr.32 S.l (Leitartikel »Eine neue Religion«); u.ö.. 516 Volksstimme 21.9.1890 S.lf. 517 Sozialdemokrat 22.5.1884 Nr.21 S.l (aus einem Vortrag Paul Lafargues); Volksstaat 23.9.1874 Nr.111 S.l (Egoismus als »die wahre Bourgeoisreligion«, aus Douais »ABC des Wissens«). 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

Instrument der Mächtigen in einmaliger Weise, aktuell und milieunah zu bestätigen schien. Liberalismus und liberales Milieu erschienen in diesem Deutungsmuster aber andererseits auch als im Grunde glaubenslos, sofern man »Glauben« mit christlichem Bekenntnis und christlicher Lebenspraxis identifizierte. Dem Verdikt der Glaubenslosigkeit - in diesem Kontext handelte es sich tatsächlich um eine Verurteilung - konnten die liberale Theologie und der Protestantismus schlechthin unterliegen. 518 Die frommen Liberalen Wie seid ihr plötzlich geworden fromm, Könnt euch vor Entsetzen nicht fassen, Daß die bösen Sozialisten zumal Die christliche Kirche hassen. [...] Wir [die Liberalen] unter uns, wir glauben zwar Auch nicht an Gott und Teufel, Und jedes Wort, das ein Pfaff uns sagt, Erfüllet uns mit Zweifel. [...] Wir brauchen einen Gott; er soll zwar nicht Zu orthodox erscheinen, Und wenn wir reden von einem Gott, Wir einen liberalen meinen. [...] »Einen Gott muß haben der gemeine Mann; Mehr als die besten Gendarmen Erhält ein Gott, wie er uns gefällt, In Zucht und Furcht die Armen.«519 Die Angriffe aus dem liberalen Milieu gegen die Sozialdemokratie aufgrund von deren vermeintlicher Religionslosigkeit 520 fügten sich in das Bild einer 518 Dietzgen, Ein Cyclus von Kanzelreden.3, (fortschrittliche Theologie nicht mehr christlich); Braunschweiger Volksjreund 23.9.1876 Nr.233 S.l; Sozialdemokrat 7.6.1883 Nr.24 S.1; ebd. 22.9.1887 Nr.39 S.2 (»freisinniger Protestantismus« hat die christliche Grundlage verlassen); u.ö.. 519 Braunschweiger Leuchtkugeln 10.2.1878 S.l. Vgl. Dresdner Volkszeitung 3.10.1877 Nr.78 S.l; Bebet, Vergangenheit, S.180; Sozialdemokrat 10.1.1884 Nr.2 S.1. 520 Ein antisozialistisches Traktat von 1878 bezeichnete die Religionsfeindschaft der Arbeiterpartei als Grund,»[...] welcher alle Parteien gegen die Socialdemokraten sich zu vereinigen auffordert.« Das religiöse Thema dürfe nicht Ultramontanen und Sozialisten überlassen werden, sondern müsse vom Liberalismus besetzt werden, da das Volk Trost brauche, »[...] die Religion vom Bösen abräth und die in der Menschheit lauernde Bestie bändigen hilft [...].« Wild, S.18f. Vgl. das Diktum des (noch) nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke (1834-1896): »Keine Socialreform wird den arbeitenden Klassen jemals größeren Segen bringen, als die alte einfaltige Mahnung: bete und arbeite!« Treitschke, S.96-99 (Zitat S.99). Der Volksstaat zitierte die Passage mit dem Bemerken, dieser »grauenhafte Gipfel der Tartüfferie« stelle eine Beleidigung der Religion dar: Volksstaat 28.8.1874 Nr.100 S.lf..

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politisch motivierten religiösen Fassade des Liberalismus. Auch diese Angriffe vereinten in der Optik der Arbeiterparteien »Säbel, Geldsack und Kutte« im reaktionären Bündnis für den Erhalt der »göttlichen Weltordnung« des gesellschaftlichen Status quo. Mit der »Entlarvung« der bürgerlichen Religion erreichte die sozialdemokratische Religionskritik in gewisser Hinsicht ihr Telos. Zugleich offenbarten sich gerade hier aber auch Aporien des Diskurses. So gelang es nicht vollständig, den sozialdemokratischen Diskurs trennscharf gegen die konkurrierenden Diskurse abzugrenzen. Daß die Bourgeoisie im Grunde dem Atheismus fröne, heuchlerisch aber dem Volk Religion predige, behaupteten auch der konservative protestantisch-orthodoxe sowie der katholische Religionsdiskurs.521 Und noch ein anderes Motiv war den antiliberalen Religionsdiskursen gemeinsam. Der Liberalismus habe den Menschen den religiösen Trost genommen, das Elend, über das dieser Trost hinweghelfen sollte, aber in der Welt bestehen lassen. »Der Kampf der liberalen Bourgeoisie gegen das Christenthum ist zu einer schreienden Inconsequenz geworden. Denn wer dem Volke den Himmel nimmt, der muß ihm die Erde geben. Die Erde aber und ihre Güter wollen jene für sich behalten und trotzdem sich gebärden, als wurzle in ihnen der weltgeschichtliche Fortschritt.«522 Konservative und Katholiken begegneten dieser »Unerlöstheit« der Erde mit dem Ruf zurück zur Religion. Der sozialdemokratische Diskurs verwies auf die revolutionären sozialen und politischen Forderungen der Arbeiterpartei (en). Doch keineswegs immer erschöpfte sich in der Sozialdemokratie die Antwort auf die religiöse Frage in diesem Verweis und in der Forderung nach einem radikalen Bruch mit jeder religiösen Form. Der Ruf nach Ersatz für die »alte« Religion und nach einem neuem »Glauben« erwies sich gerade im Kontext des sozialdemokratischen Antiliberalismus als unüberhörbar. So verhallte der Ruf des ethischen Sozialisten Carl Boruttau nicht ungehört: Die Partei müsse einsehen, »[...] daß der Haß gegen das Bourgeois-Eigenthum nicht genügt, sondern daß auch eine der Bourgeois-Gesinnung entgegengesetzte Religiosität dazu gehört, um den socialistischen Staat zu organisiren.«523 Die sozialdemokratische Agitation grenzte sich von dem (parteiisch wahrgenommenen) bürgerlich-liberalen Religionsdiskurs energisch ab. Eine solche 521 Aus evangelisch-konservativer Perspektive Concordia 8.8.1874 Nr.32 S.128£; aus katholischer Perspektive Frantz, S.17 sowie Pachtler, S.44, 52 (ausdrückliche Bestätigung der sozialdemokratischen Sicht). 522 Social-Demokrat 12.3.1865 Nr.33 S.l. Das Motiv verschwand auch nicht nach der »religiösen Wende« des bürgerlich-liberalen Milieus; vgl. »Braunschweigisches Unterhaltungsblatt« 1883, nach Eckert, Arbeiterbewegung, S.152. Zum entsprechenden katholischen Diskurs vgl. HistorischPolitische Blätter 56/1865, S.546f. 523 Boruttau, Religion, S.51. Vgl. Chemnitzer Freie Presse 14.2.1872 Nr.37 S.2; Sozialdemokrat 23.11.1879 S.2 (gegen die bürgerliche Religion des David Friedrich Strauß, der keine Ahnung davon habe, daß »[...] im Sozialismus schon der neue Heiland erschienen ist [...].«).

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Abgrenzung ermöglichte die Stärkung der kollektiven Identität im sozialdemokratischen Milieu, die einer permanenten symbolischen Erneuerung bedurfte. Die Milieukonstruktion durch eine möglichst homogene Deutungskultur erforderte scharfe Trennlinien. Der sozialdemokratische Religionsdiskurs baute nicht zielgerichtet Brücken zu den konkurrierenden Parteien und zu den diese Parteien tragenden gesellschaftlichen Milieus über idente Topoi, Motive und Perspektiven der Deutungskulturen. Dennoch bestanden solche Überschneidungen durchaus, etwa in der auch von der bürgerlichen Demokratie erhobenen Forderung nach der Trennung von Kirche und Staat oder in der Kritik an der verschleierten Religionslosigkeit des Liberalismus, die die Sozialdemokratie mit Konservativen und Katholiken teilte. In der sozialdemokratischen diskursiven Wirklichkeitskonstruktion bestand sowohl ein weitgehend einheitliches politisches »liberales Lager« als auch ein tendenziell homogenes »liberales Milieu«. Daß der RückgrifFauf religiöse (d.h. religionshaltige) Diskurse in Teilen des liberalen Milieus mindestens umstritten war, musste diese Wirklichkeitskonstruktion vernachlässigen. Im Motiv des machtpolitisch bedingten Verrates des Liberalismus an den eigenen freiheitlichen, religionskritischen Wurzeln wollte der sozialdemokratische Diskurs das zentrale Interpretament zum Verständnis bürgerlicher Religiosität liefern, das die Einordnung von Milieuphänomenen wie der liberalen Theologie erlaubte. Wenn auch die sozialdemokratischen Verdikte partiell wenig überzeugen und das Bild der »frommen Bourgeoisie« überzeichnet erscheint: Unbestritten gab es religiöse Diskurse, über die sich liberale Teilmilieus definierten, die Milieu und liberale Parteipolitiker verbanden und die kulturelle Hegemonialansprüche geltend machten. Die Lutherbegeisterung des Kulturprotestantismus beispielsweise trug nicht unerheblich zur Formierung einer kulturellen kollektiven Identität liberaler Teilmilieus bei. Der Lutherbezug oder auch nationalreligiöse Tendenzen konnten je nach ihrer aktuellen Ausformulierung das liberale vom konservativen Milieu abgrenzen, diese aber auch auf der Ebene der Deutungskultur verbinden. Die Sozialdemokratie bezog ihr sachlich fragwürdiges, politisch problematisches, im Zuge von Milieu-«Versäulung« und negativer Integration jedoch konsequentes Urteil über die politischen Gegner als »reaktionäre Masse« nicht marginal, sondern zentral auch auf die Religionsdiskurse der konkurrierenden Parteien und »ihrer« Milieus. Sie sah die (nicht immer erfolgreiche) Bemühung um scharf gezogene Trennungslinien nicht als Abschreckung, sondern umgekehrt gerade als Einladung an Angehörige anderer Milieus, sich der - in der religiösen Frage »einzig konsequenten« - Sozialdemokratie anzuschließen. Diesem Werben war allerdings nur teilweise Erfolg beschieden. Wie aber realisierte die Sozialdemokratie als politische Partei in der religiösen Frage die Abgrenzung zu den anderen Parteien auf der programmatischen Ebene? 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

1.4 Religionskritik und sozialdemokratisches Programm »Wähler müssen sich in den Signalen und Zeichen, die eine Partei aussendet, mit ihren Interessen ›wiederfinden‹ können. Das ist nicht einfach eine Frage von Parteiprogrammen, die ohnehin mehr der Integration der Mitglieder als der Wähler dienen, sondern eine Frage des wahrgenommenen Parteicharakters, der eine komplexe Größe darstellt und aus einer Vielzahl von realen und symbolischen ›Politiken‹ gebildet wird.«524 In der Rekonstruktion des sozialdemokratischen Religionsdiskurses können die programmatischen Aufstellungen und Forderungen der deutschen Arbeiterparteien zwischen 1863 und 1890 nicht unberücksichtigt bleiben. Gleichwohl wird deutlich werden, daß sich die Religionspolitik der sozialistischen Arbeiterbewegung kaum in diesen Programmforderungen erschöpfte, sondern die Programmentwicklung vielmehr ein Produkt zum einen von innerparteilichen Auseinandersetzungen um die religiöse Frage, zum anderen von Auseinandersetzungen mit den Religionsdiskursen der konkurrierenden politisch-soziokulturellen Milieus darstellte. Die entsprechende Agitation der parlamentarischen Vertreter, Autoren, Redakteure und Versammlungsredner der Partei bildete einen integralen Bestandteil sozialdemokratischer »symbolischer Politik« (Karl Rohe). Trennung von Schute und Kirche Die bildungspolitische Forderung nach einer Trennung von Schule und Kirche bzw. von Schule und Religion profilierte die sozialdemokratische Programmdebatte im Untersuchungszeitraum von den Programmen der sächsischen Volkspartei Bebeis und Liebkechts 1866 - im Übergang von der bürgerlichradikalen zur proletarischen Demokratie - bis hin zu den Beschlüssen des Erfurter Parteitages von 1891.525 Die nähere inhaltliche Bestimmung dieser Forderung förderte allerdings erhebliche innerparteiliche Differenzen zutage. 524 Rohe, S.27. 525 Trennungsforderung im Programm der sächsischen Volkspartei 1866 (Mommsen, Parteiprogramme, S.307), im Eisenacher Programm 1869 (ebd., S.312), im Programm der bayerischen »Lassalleschen Arbeiterpartei« 1870 (Schröder, Parteitage, S.467), im Gothaer Programm 1875 allenfalls implizit durch die Forderung der Erklärung der Religion zur »Privatsache« (ebd., S.314; vgl. die Kritik von Marx an der Uneindeutigkeit von Gotha in den berühmten »Randglossen« ebd., S.330), im Erfurter Programm 1891 (ebd., S.352: »Weltlichkeit der Schule«). In den frühen programmatischen Texten des ADAV fehlt die explizite Trennungsforderung; vgl. aber Neuer SociatDemokrat 3.12.1873 Beilage zu Nr.140 S.l (Trennungsforderung in einem Reichstagswahlprogramm des ADAV). Der fließende Übergang von der bürgerlichen zur proletarischen Demokratie wird deutlich in der Forderung nach Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichtes auf dem 4. Vereinstag des »Verbandes Deutscher Arbeiter-Vereine« 1867 in Gera; siehe Deutsche ArbeiterhaUe 15.10.1867 Nr.8 S.81-83. Diese Forderung erhoben aber auch schon die Beschlüsse des »Arbeiter-Kongresses zu Berlin« 1848, dokumentiert in Quarck, S.359.

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Unstrittig war allein die Forderung nach Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht. Durch das Hervorgehen des kommunalen bzw. staatlichen aus dem kirchlichen Schulwesen der mittelalterlichen Lateinschulen hielt sich bis in das 20. Jahrhundert hinein im Deutschen Reich als »christlichem Staat« die Aufsicht der Geistlichen über das lokale Schulwesen und insbesondere über die ländliche Volksschule.526 Diese Möglichkeit der kirchlichen Einflussnahme auf Konzept und Praxis des Bildungswesens bekämpfte die Sozialdemokratie als einen vormodernen Anachronismus. Das Schulwesen sollte aus der Bindung an die kirchliche Aufsicht, aber auch aus der Bindung an eine Konfession heraustreten. Bis 1918 bestanden im Deutschen Reich fast ausschließlich konfessionelle Schulen; die wenigen während der liberalen »Ära Falk« (1872-1879) »simultanisierten« Schulen wurden nach dem Rücktritt des preußischen Kultusministers rekonfessionalisiert.527 Wenn die sozialdemokratische Parteiagitation dem Ende der konfessionellen Schule das Wort redete, verband sie damit nicht immer ein Votum für die »religionslose Schule«. Ob die Schulen rein weltlich sein sollten, oder ob man sich - vorerst - mit Simultanschulen (Schulen, in denen Lehrer beider Konfessionen unterrichteten und Religionsunterricht für evangelische und katholische Schüler angeboten wurde) zufrieden geben könne, war innerparteilich zwischen radikalen und moderaten Schulpolitikern heftig umstritten.528 An diese Diskussion schloss sich die Frage an, ob die Arbeiterparteien für eine vollständige Abschaffung des schulischen Religionsunterrichtes plädieren sollten, wie es u.a. Freireligiöse und Freidenker einforderten, oder ob der Religionsunterricht lediglich in seinem Stundenanteil gesenkt bzw. durch einen überkonfessionellen Unterricht in Religion und Ethik ersetzt werden solle. Die Anteile des Faches Religion am schulischen Unterricht waren insbe526 Zur geistlichen Schulaufsicht vgl. für Preußen Berg, Okkupation, bes. S.18f.; Kuhtemann, Modernisierung, S.77f (der kirchliche Einfluss auf die Schule war nicht immer staatsaffirmativ, zudem bisweilen mit Tendenz zur pädagogischen Reform). Die Kulturkampfgesetzgebung stellte die geistliche Schulaufsicht infrage; gegen deren Restauration nach dem Kulturkampf agitierte die Sozialdemokratie beispielsweise im Berliner Votksblatt 1.2.1890 Beilage zu Nr.27 S,l. 527 Berg, Okkupation, S.l 10-22 (auch: schulpolitische Diskussion um die Konfessionalitätder Schulen). 528 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 31.1.1872 Nr.25 S.l (Leitartikel »Die confessionslose Schule und die Confessionsschule«: ein Plädoyer für die konfessionslose Schule, das jede pädagogische Reform vom Ende des konfessionellen Schulcharakters abhängig machte); NürnbergFürther Social-Demokrat 20/23.5.1875 Nr.60f. S.lf. (Leitartikel »Die Simultanschulen eine Pflanzstätte des Socialismus«: Abwehr entsprechender katholischer Angriffe. Mit der Simultanschule werde sich außerdem die Sozialdemokratie nicht zufriedengeben); dagegen Braunschweiger Volksfreund 22.1.1873 Nr. 17 S.2 (Artikel »Die konfessionslosen Schulen«: für konfessionslose Schulen, aber mit einer Erziehung zur Religion als »Symbol der Eintracht«); Fränkische Tagespost 7.11.1879 Nr.262 S. 1 (Leitartikel »Zur Simultanschul-Frage«: eindeutig pro Simultan-, nicht pro religionslose Schule). Vgl. hierzu auch Grote, Religion, S.206-09.

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sondere in den Volksschulen tatsächlich beträchtlich. Wenn auch diese hohen Anteile nicht ausschließlich als »Konzept religiös verbrämter Bildungsbeschränkung«529 verstanden werden können, diente der Religionsunterricht zwischen 1860 und 1890 doch ohne Zweifel oft der Legitimierung der herrschenden Ordnung, der Sozialdisziplinierung und der »Instrumentalisierung der Volksschule zum Zwecke der auf Integration zielenden politischen Sozialisation von Unterschichtenkindern«530, wie obrigkeitliche und kirchliche Verlautbarungen recht unverhohlen einräumten. Diese Tendenz verschärfte sich, als das Ende des Sozialistengesetzes absehbar wurde. In einem »Erlaß zur Bekämpfung sozialistischer und kommunistischer Ideen durch die Schule« ließ Kaiser Wilhelm II. am 1. Mai 1889 verlautbaren: »Schon längere Zeit hat Mich der Gedanke beschäftigt, die Schule [...] nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch Pflege der Gottesfurcht und Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. [...] Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Ueberzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in Wirklichkeit unausführbar und [...] verderblich sind. [...] U m den Religionsunterricht in dem angedeuteten Sinne fruchtbar zu machen, wird es erforderlich sein, die ethische Seite desselben mehr in den Vordergrund treten zu lassen, dagegen den Memorirstoff auf das Nothwendige zu beschränken.« 531

529 Kuhletnann, Modernisierung, S.210-13 (Zitat S.213). Vgl. die Kritik an Kuhlemanns einseitiger Bewertung des Religionsunterrichtes durch Btessing, Rezension, S.310. Blessing hinterfragt Kuhlemanns »modernisierungsaffirmative Entclechie«, in der das Volksschulwesen im Untersuchungszeitraum ausschließlich »rückständig« erscheinen müsse. Vormoderne Lebenswelten wie auch die den realen Anforderungen an die Agrarbevölkerung womöglich durchaus angemessene alte Dorfschule verlören in dieser Perspektive ihr Eigenrecht. Einem Modernisierungsparadigma war natürlich auch die Schulkritik 1860-1890 verpflichtet. 530 Lundgreen, S.92. Zum relativ hohen Anteil des Religionsunterrichtes an Volksschulen vgl. die Tabellen in Berg, Handbuch, S.220. Zur »Ausbildung einer christlich überwölbten Untertanenmentalität« trugen ebenso die »gcsinnungsbildenden« Fächer Deutsch und Geschichte bei: s. ebd., S.204-06 (Zitat S.205). Kritik an Stundentafeln mit hohem Anteil von Religionsunterricht in der sozialdemokratischen Parteipresse z.B. in Volksstaat 26.1.1870 Nr.8 S. 1 f. (Regierungsbezirk Gumbinnen: Verhältnis 9 Religionsstunden zu 1 Schreibstunde); Freie Zeitung 29.6.1870 Nr. 138 S.560; Berliner Volksblatt 10.8.1884 Nr. 109 S.t (in Preußen Erhöhung des Religionsunterrichtsanteiles in der Volksschule auf 6 Stunden). 531 Zitiert nachMkhael/Schepp, S.409. Vgl. Berg, Okkupation, S.91-95 zum Stellenwert schulischer religiöser Erziehung aus staatlicher Perspektive insgesamt; speziell zum Religionsunterricht ebd.y S.133-37. Zur katholischen Sicht vgl den Abdruck eines Aufrufs der Zentrumspartei, demzufolge »Umsturzbestrebungen und Gottlosigkeit« nur durch christliche Schulen und durch einen von den Kirchen verantworteten Religionsunterricht verhindert werden könnten, in Beniner VolksTribüne 6.10.1888 Nr.40 S.3f. Doch auch eine »Allgemeine Conferenz der Volksschullehrer« empfahl 1878 die Stärkung der religiösen Erziehung zur Abwehr von Materialismus und Sozialismus, vgl. die Gegenpolemik in NeueGesellschaft2/1878/79, S.45-50.

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Dennoch konnte sich die Sozialdemokratie bis 1890 nicht darauf verständigen, die in der Parteipresse oft erhobene Forderung nach einer vollständigen Abschaffung des Religionsunterrichtes explizit in ihr Grundsatzprogramm aufzunehmen. Die Protokolle der Parteitage geben über die Gründe der Ablehnung entsprechender Anträge keine Auskunft; taktische Rücksichten auf potenzielle Wähler dürften hier im Vordergrund gestanden haben.532 Die Trennung von Schule und Kirche zählte nicht zu den originär sozialdemokratischen Forderungen, sondern war Erbteil der bürgerlichen Demokratie, die seit ihren Anfängen den modernen als säkularen Staat gedacht und einer aus den kirchlichen Fesseln befreiten Bildung bei der »Fortentwicklung des Menschengeschlechts« den höchsten Rang eingeräumt hatte. Auch zwischen 1860 und 1890 forderten liberale Parteiprogramme diese Trennung ein, und auf dem schulpolitischen Feld feierte der Liberalismus im Verbund mit einem zeitweiligen staatlichen Modernisierungswillen seine wohl überzeugendsten, wenn auch zum Teil nur temporären Erfolge im Kulturkampf, besonders deutlich im preußischen Schulaufsichtsgesetz und den »Allgemeinen Bestimmungen« von 1872.533 Einen weiteren Fürsprecher besaß die weltliche Schule in den religiösen Dissidenten, den Freireligiösen und Freidenkern, die mitunter unter sozialdemokratischem Einfluss standen. Bildung nahm im politischen Denken der frühen Sozialdemokratie einen zentralen, aber doch auch ambivalenten Stellenwert ein. Einfache Zuordnungen wie die Unterscheidung eines bildungsskeptischen »revolutionären Flü532 Braunschweiger Volksfreund 7.5.1873 Nr.106 S.l (Forderung nach einer Schulreform »[...] nicht bloß in dem Sinne, daß statt des Geistlichen ein weltlicher Schulrath die Aufsicht führe, sondern in dem Sinne, daß aus dem Lehrplane der Schule alles Kirchenthum entfernt werde«; alles andere seien »Schönpflästerchen« der Liberalen); Armer Conrad 1878, S.60-71 (im Artikel »Die Erziehung zur Ungleichheit und Unfreiheit« Ablehnung des Religionsunterrichtes als »Abrichtung zum Knecht Gottes und gehorsamen Unterthan« (ebd. S.67)); Recht auf Arbeit 17.2.1886 Nr.91 S.l (milde: dieser »so wichtige(n) Gegenstand« der Religion sollte elterlichem Unterricht überlassen bleiben). Für einen »kirchenfreien Religionsunterricht« traten bisweilen freidenkerische ethische Sozialisten wie Albert Dulkein: s. Dulk, Stimme. Scheiternde Parteitagsanträge auf Übernahme der Forderung nach Abschaffung des schulischen Religionsunterrichts ins Parteiprogramm: Protokoll 1874, S.8 (SDAP); Protokoll, 1875, S.10 (Vereinigungsparteitag); Protokoll, 1891, S.30f. Die Anträge 1874 und 1875 aus Berlin (Heinrich Vogel), 1891 von mehreren Delegierten. 533 Trennungsforderung in liberalen Parteiprogrammen: im Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei 1867 (Mommsen, Parteiprogramm, S.148, allerdings nur indirekt), in der »Erklärung« der Liberalen Vereinigung 1880 (ebd., S.157), im Programm der Deutsch-Freisinnigen Partei 1884 (ebd., S.158 (indirekt)). Zur liberalen Trennungsforderung im Kulturkampf Berg, Okkupation, S.l 17; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S.183f.. Vgl. dagegen die sozialdemokratische Kritik am preußischen Schulaufsichtsgesetz und den Falk'sehen »Allgemeinen Bestimmungen« von 1872, die die Trennung von Schule und Kirche gerade vermeiden und damit eine Niederlage für die Nationalliberalen darstellen würden: Volksstaat 21724.2.1872 Nr.lSf. S.l; ebd. 31.8.1872 Nr.70 S.l f.; u.Ö.; vgl. Grote, Religion, S.57f.. Spätere Initiativen des Kultusministers Falk begrüßte die Partei dagegen bisweilen; zudem übernahm sie Stellungnahmen zur Schulfrage aus dem Lager der bürgerlichen Demokratie, z.B. den Artikel »Zur Konfessionslosigkeit der Schulen« von Georg Friedrich Kolb, in Braunschweiger Volksfreund 1.8.1873 Nr.178 S.lf.

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gels« von einem bildungsenthusiastischen »reformerischen Flügel« lassen sich kaum belegen. Das maßgeblich von Wilhelm Liebknecht geformte und in der Parteipresse verbreitete Selbstbild sah die Arbeiterpartei zwar als den Hort der Bildung schlechthin an. Im sozialdemokratischen Zukunftsstaat sollte zudem die Aufhebung der Klassengrenzen auch an der Chancengleichheit im Bildungswesen sichtbar werden, und in der Gegenwart knüpfte die Partei zuweilen durchaus an die liberale Tradition der Bildungsvereine und ein bürgerliches Bildungsverständnis an. Doch sie tat dies ausdrücklich unter der Losung »Durch Freiheit zur Bildung« statt »Durch Bildung zur Freiheit«. Von (früh-liberalen Erwartungen einer durch Bildung klassenlosen Gesellschaft grenzte sich die Parteiagitation scharf und polemisch ab.534 Der dominante religionskritische Diskurs in der Sozialdemokratie fasste Glauben, Religion und Kirchlichkeit als Antithesen zu Wissen, Wissenschaft und Bildung auf Christentum und Sittlichkeit erschienen ihm unvereinbar etwa mit Verweis auf die dem Religionsunterricht zugrundeliegende Bibel, die Brutalität und Sittenverrohung lehre -, so daß die Trennung von schulischer Bildung und kirchlicher Einflussnahme sich zwingend aufdrängte. Dieser Begründungszusammenhang entsprach einem aufgeklärt-liberalen Standpunkt. Der im sozialdemokratischen Diskurs stets präsente antiliberale Abgrenzungsimpuls forderte jedoch zur ständigen Kritik an den Erfolgen liberaler Schulpolitik und zur radikalisierenden Überbietung liberaler Politik heraus. Als die Münchner Nationalliberalen 1875 die bisweilen auch von sozialdemokratischer Seite gestützte Simultanschule herbeiführen wollten, drang die regionale Presse der Arbeiterpartei sofort auf die »absolute Entfernung des ganzen Religionswesens aus der Schule«.535 An der Agitation gegen die vermeintlich übermäßigen Anteile des Religionsunterrichtes beteiligten sich die Parteizeitungen, aber auch Experten wie der Sozialdemokrat und Volksschullehrer Eduard Sack (1831-1908). Sack war Autor zahlreicher, in der Parteipresse empfohlener schulpolitischer Schriften wie der von Wilhelm Bracke in Braunschweig verlegten Broschüren »Unsere Schulen im Dienste gegen die Freiheit« (1874) und »Beiträge zu der Schule im Dienste für die Freiheit. 1« (1878), die während des Sozialistengesetzes verboten waren. Seine Biographie belegt wie die anderer linksbürgerlicher Intellektueller, daß aus diesen Kreisen häufig nicht im engeren Sinn politische oder 534 Zitat nach dem Leitartikel »Die Schule« in Chemnitzer Freie Presse 11.4.1874 Nr.82 S.l (Redewendung ursprünglich von Wilhelm Liebknecht). Zum bildungs- und schulpolitischen Anspruch der Sozialdemokratie vor 1890 grundlegend Wendorff, S.77-241 (auch zur Forderung nach Trennung von Kirche und Schule bei Liebknecht); vgl. Bendele, S.21-29; Emig, bes. S.136-53; Lidtke, Culture, S.l59-62. 535 Neue Offenbacher Tageszeitung 22.8.1875 Nr. 195 S.l. Vgl. ergänzend auch die Kritik an der liberalen Schulpolitik im Kulturkampf und die Polemik gegen den Linksliberalen RudolfVirchow, der die Beseitigung des schulischen Religionsunterrichtes abgelehnt hatte.

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sozialökonomische Überlegungen in die Nähe der frühen Arbeiterparteien führten, sondern andere gesellschaftliche Reformanliegen. Eduard Sack kam als Vertreter der pädagogischen Reformbewegung zur SDAP, in der er es immerhin 1870 zum Reichstagskandidaten für den Waldenburger Bezirk brachte.536 Gemeinsam mit zahllosen ungenannten Parteigenossen stritt er in Broschüren, in der Parteipresse, auf Versammlungen und in Wahlflugblättern für die sozialdemokratische Programmforderung nach einer Trennung der Kirche von der Schule, für eine konfessionslose Schule bzw. die Simultanschule, für die Abschaffung oder Einschränkung des Religionsunterrichtes (bzw. wenigstens für einen überkonfessionellen Charakter dieses Unterrichtes) und für das Ende der geistlichen Schulaufsicht. Sack und die Schulreformer seiner Partei polemisierten deshalb gegen die katholischen und protestantisch-orthodoxen Fürsprecher einer christlich-konfessionell geprägten Schule und zogen so klare Abgrenzungslinien gegenüber katholischem und konservativem Milieu. Milieubildend wirkten jedoch auch und besonders lokale Vorkommnisse. Die »Chemnitzer Freie Presse« berichtete z.B. 1876 ausführlich über den kirchlichen Schulvorstand einer evangelischen Schule im sächsischen Altchemnitz. Dieser Vorstand unterstützte unter Verweis auf kirchliche Bestimmungen einen Lehrer, der einen Schüler wegen versäumten Kirchenbesuchs bestraft hatte, nach Ansicht der Zeitung eine ungeheuerliche Maßnahme, die gegen das neue Schulgesetz verstoße. Der gegen die Bestrafung beschwerdeführende Vater des Kindes war der Altchemnitzer Sozialdemokrat Friedrich Wilhelm Neuber. Am 29. Juli 1876 übernahm der »Braunschweiger Volksfreund« den Lokalbericht, am 2. August 1876 druckte der »Volksstaat« ihn ab; die Forderung nach einer Trennung von Schule und Staat verstand sich in diesem Zusammenhang von selbst.537 Die Frage »Religion und Schule« bewegte aber auch nach dem Kulturkampf noch heftig die Gemüter. Am 18. September 1890 verabschiedete eine sozialdemokratische Versammlung gewerblicher Hilfsarbeiter zum Thema »Die Religion der Zukunft« in Berlin nach langer Diskussion einstimmig eine Resolution, die den Reichstagsabgeordneten der Partei eine Forderung besonders ans Herz legte: »Vor allem aber und mit Aufbietung aller Kraft ist die Befreiung der Schule von jedweder Beaufsichtigung der Kirche zu erstreben.«538

536 Zur Biographie Sacks s. Glöckner; Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.172f.. Die in Sack gesammelten Aufsätze decken das gesamte inhaltliche Spektrum der Trennungsforderung ab: »Ueber den Religions-Unterricht in der Schule«, »Die Simultan-Schule«, »Wie arme Kinder von gewissen Brüdern für Zeit und Ewigkeit eingefangen werden«, u.a.. 537 Braunschweiger Volksfreund 297.1876 Nr.175 S.2f; Volksstaat 2.8.1876 Nr.89 S A 538 Bericht und Zitat in Beniner Volksbhtt 20.9.1890 Beilage zu Nr.219 S.3.

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Trennung von Staat und Kirche Der programmatisch orientierte Religionsdiskurs der Sozialdemokratie verband die Forderung nach einer Trennung von Schule und Kirche häufig, jedoch keineswegs immer mit der Forderung nach der Trennung auch von Staat und Kirche.539 Grundsätzliche schulpolitische Überlegungen mit religionskritischem Akzent stellten die Parteiaktivisten in Leitartikeln, Broschüren und Versammlungsreden oft an; demgegenüber erscheint die Reflexion des Verhältnisses von Staat und Kirche weniger intensiv und vager. Daß der Staat der Gegenwart aufgrund der Stellung, die in ihm die Kirchen als Institutionen und als Instrumente zur religiösen Legitimierung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung einnahmen, unter einem veränderungsbedürftigen Modernitätsdefizit litt, war indessen in der Partei kaum strittig. In diesem Grundsatz dürfte Einigkeit zwischen den in der Frage des Staat-Kirche-Verhältnisses Moderaten und den in dieser Frage Radikalen wie z.B. Johann Philipp Becker bestanden haben: »Ein moderner Staat und eine moderne Gesellschaft [...] bestehen eben bisher nur in der Theorie und so lange nicht in der Praxis, als sie mittelalterliches gottbegnadigtes Monarchenthum und mittelalterliche Rechtsverhältnisse in sich bergen.«540 Im Laufe des 19. Jahrhunderts setzte sich in der deutschen Staatenwelt schrittweise, wenn auch kaum vollständig die individuelle Bekenntnisfreiheit durch, ebenso wie die staatliche Kontrolle über Ehe, Schule und Armenfürsorge, die traditionell kirchlich reglementiert worden waren. Mit der Säkularisation und dem Ende des alten Reichskirchenrechtes durch den Wiener Kongress wurde der konfessionell neutrale Staat gestärkt. Damit verschwanden weder die Ideologien vom christlichen Staat und einer nationalen Religion, noch endete im evangelischen Bereich das Summepiskopat. Doch das Konzept einer Trennung von Kirche und Staat gewann in den politischen Diskursen an Einfluss, gefordert sowohl von liberalen und demokratischen Reformern als auch vom entstehenden politischen Katholizismus, der damit die Konsequenz aus den Entwicklungen seit der Säkularisation zog. So beruhte die Trennungsgesetzgebung der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 insbesondere auf der Initative katholischer Abgeordneter, die sich so die Garantie für die staatsunabhängige »Freiheit der Kirche« erhofften. Die deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert zielte allerdings kaum auf eine vollständige Trennung von Kirche und Staat: weder auf eine »freundliche« Trennung (»Freiheit der Kirche«; keine Privilegien, aber auch keine staatliche Überreglementierung) noch gar auf eine »feindliche« Trennung im Sinne des laizistischen Staates. Es entwickel539 In den Parteiprogrammen selbst allerdings zumeist verbunden, s. die Programme 1869 (SDAP), 1870 (bayerische Lassalleaner) und 1891 (SAP), wie Anm.2. 540 Becker. Psalmen S .227

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te sich vielmehr eine Form zwischen Staatskirchentum und radikaler Trennung, ein »System der staatlichen Kirchenhoheit«: »Die staatliche Gewalt über die Kirchen lockerte sich nun zur bloßen Staatsaufsicht über die Kirchen.«541 Die sozialdemokratischen Schwierigkeiten bei der inhaltlichen Konturierung der Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche bzw. von Staat und Religion zwischen 1863 und 1890 gründeten einmal mehr in den Religionsdiskursen der konkurrierenden soziokulturellen Milieus. Denn nicht nur Teile des Staatsapparates und der religiös aufgeklärte Liberalismus drangen auf eine Modernisierung in Richtung eines säkularen Staatsverständnisses, ein Drängen, das auf politischer Ebene eine Reihe von Gesetzen während des Kulturkampfs hervorbrachte, insbesondere die Zivilstandsgesetzgebung von 1874/75542. Die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche erhoben aber auch Vertreter der protestantischen Orthodoxie und des politischen Katholizismus: Die kirchlichen Traditionalisten verstanden ihr Votum für eine Trennung als Einspruch gegen die Fremdbestimmung der Kirche durch den Staat, die sie dem praktizierten Staatskirchentum vorwarfen. Die Trennung von Kirche und Staat sollte dagegen die Freiheit der Kirche garantieren.543 Die sozialdemokratische Distanzierung von der konservativen und der katholischen Option konnte von einer diesen entgegengesetzten Zielperspektive aus erfolgen, ging es den Arbeiterparteien doch keinesfalls um einen Ausbau kirchlicher Rechte (im Sinne von Garantieerklärungen), sondern eher um deren Abbau. Dem Liberalismus hingegen wurde zum einen die mangelnde Konsequenz in der Durchsetzung der entsprechenden Forderungen, zum anderen auch der Verrat an ihrem ursprünglich freiheitlichen Charakter vorgehalten. Nicht für eine echte Trennung - »[...] eine alte liberale Forderung, die seit Jahrzehnten im Programm der liberalen Partei gestanden, aber seitdem sie zur Herrschaft gelangt ist, in die Rumpelkammer gestoßen wurde, f...]«544, sondern für die Dienstbarmachung der Religion durch den Staat im Rahmen des staatskirchlichen Modells würden die Liberalen im Kulturkampf streiten. 541 Vgl. Hesse, Sp.1550-53 (erstes Zitat S.1552); Zippelius, S.104-13, 138-47 (zweites Zitat S.109), 542 Breite Dokumentation der Kulturkampfgesetze in Huber/Huber. Inwieweit die Gesetze, Erlasse usw. auf eine »echte« Trennung von Staat und Kirche oder eine Stärkung der Staatskirchenhoheit zielten, kann nur eine hier nicht mögliche Gesamtinterpretation des Kulturkampfes beantworten. Eindeutig in die letztgenannte Richtung verweist z.B. die Änderung der Staatskirchenrechtlichen Verfassungsartikel in Preußen durch das Gesetz vom 5.4.1873, s. Huber/Huber 1976, S.592f., 543 Zur Bevorzugung einer Trennung von Kirche und Staat gegenüber der staatlichen Reglementierung der Kirchen s. für den politischen Katholizismus Birke, S.94-97; für den konservativen Protestantismus Greschat, Stoecker, S.38-43. Vgl. Menschenthum 22.2.1880 Nr.8 S.20f. (Trennungsforderung beim Liberalen Virchow und beim Christsozialen Stöcker). 544 Bebet, Commune, S.19. In dieser Leipziger Disputation mit dem nationalliberalen Lokalpolitiker Bruno Sparig verteidigte Bebel die Commune, der auch die Durchführung der Trennung von Staat und Kirche vorgeworfen worden war.

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»Der Kampf ist zwischen Ultramontanismus (mit lutherisch-orthodoxem Anhang) auf der einen Seite und dem Staatskirchenthum auf der anderen Seite entbrannt. Auf Seite des letzteren stehen heute die Liberalen; es ist Heuchelei dieses leugnen zu wollen. Wir aber, wir stehen Beiden gleich feindlich gegenüber. Wir wollen Trennung der Kirche vom Staat; [...].«545

Die parteiflügelübergreifende Kritik am »Bündnis« von Staat und Kirche, das der Legitimation des gesellschaftlichen Status quo diene, rückte die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kirche in den Raum konkreter politischer und kultureller Praxis. Der »christliche Staat« von monarchischem Gottesgnadentum, landesherrlichem Kirchenregiment, Zwangskirchlichkeit, Obrigkeitstheologie, Nationalreligion und Gotteslästerungsparagraphen gab der sozialdemokratischen Programmatik erst Fleisch und Blut. Diffiziler gestaltete sich die Entwicklung konkreter Zukunftsmodelle zur realpolitischen Gestaltung des weltlichen Staates. Die Parteipublizistik suchte in Irland und in den USA Vorbilder zu finden. Besonders das amerikanische Trennungsmodell wurde jedoch außerordentlich kontrovers diskutiert, da in den USA trotz der formalen Trennung von Staat und Kirche der öffentliche Einfluss der Kirchen doch beträchtlich war. Wilhelm Liebknecht lehnte auf dem Vereinigungskongreß von 1875 vor diesem Hintergrund die in seinen Augen missverständliche Formulierung »Trennung von Staat und Kirche« für das sozialdemokratische Parteiprogramm ab: »Gerade Amerika, woselbst sich die Geistlichkeit unter dem System der Trennung der Kirche vom Staat sehr wohl befinde, müsse uns eine Warnung sein.«546 Eine Minderheit von moderaten Kräften in der Partei wollte eine von den staatskirchlichen Fesseln und Legitimationsfunktionen befreite Kirche als Teil des erstrebten sozialistischen Zukunftsstaates akzeptieren. Radikalere Sozialdemokraten hingegen verbanden mit der Trennung von Staat und Kirche die Hoffnung auf ein vollständiges Verschwinden von Kirchen und Religion aus der gesellschaftlichen Realität. Auf der Folie einer derartigen Erwartung sind auch gelegentliche Appelle von Parteigenossen zu lesen, durch den gesetzgeberisch ermöglichten Kirchenaustritt die Trennung von Staat und Kirche 545 Braunschweiger Volksfreund 25.3.1875 Nr.71 S.l; vgl. ebd. 21.1.1873 Nr.17 S . l . 546 Zitat aus der Zusammenfassung der Rede Liebknechts im Protokoll, 1875, S.51. Der Antrag auf Aufnahme der expliziten Trennungsforderungen ins Parteiprogramm wurde in Gotha getrennt von Heinrich Vogel (Berlin) und August Bebel (Leipzig) gestellt; Bebeis Antrag wurde in einem Redebeitrag von Georg Schumacher (Solingen) unterstützt. Skepsis gegenüber dem amerikanischen Modell auch in Vorwärts 1.6.1877 Nr.63 S.3 (Einfluss der Kirchlich-Orthodoxen auf die US-Wahlen, auf die Konfessionsschulen; Steuerprivilegien für kirchlichen Besitz); dagegen Vorbildfunktion der U S A in Sack, S.227-42 (Aufsatz »Das amerikanische Prinzip«). Die Arbeit von Kremp berücksichtigt kaum diesen Aspekt des sozialdemokratischen Amerikabildes zwisichen 1860 und 1890; lediglich S.510f. der Hinweis auf Bemerkungen Bebeis in seinem Christentumsbuch von 1878, denen zufolge Religion in Amerika ein bloßes Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie sei.

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praktisch herbeizuführen. Denn durch die Austritte sollte nicht nur die faktische Zwangskirchlichkeit fallen, sondern die Kirche in ihrer Substanz getroffen werden.547 Unabhängig von diesen divergierenden Erwartungshaltungen schlugen moderate und radikale Kräfte übereinstimmend eine privatrechtliche Organisation der Kirchen als Zukunftsmodell vor. Danach sollten die Kirchen den Status privater Vereine ohne Finanzierungshilfen durch die öffentliche Hand erhalten. Auch von der moderaten, reformorientierten Regionalpresse unter dem Sozialistengesetz wurde dieses Modell vertreten. 1883 schrieb Louis Vierecks Wochenschrift »Das Recht auf Arbeit« im Leitartikel »Zur Trennung von Staat und Kirche«: »Wer kleinliche Mittel anwendet, dem glaubt man nicht leicht, daß er wahrhaft Großes erstrebt. Deßhalb läge es im eigenen Interesse der Religionsgemeinschaften, wenn sie durch den Wegfall aller äußeren Vortheile der Zugehörigkeit die Sicherheit erlangten, daß deren Bethätigung auch wirklich Sache der freien Ueberzeugung ist. Eine Wendung zum Besseren wird aber nicht eintreten, ehe der Staat von dem Grundsatz ausgehen wird, daß er sich um die Religionsgemeinschaften ebensoviel und ebensowenig zu bekümmern hat, als um jeden beliebigen ›Leseverein‹, ›Konkordia‹ oder ›Harmonie‹.« 548

In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf Wilhelm Liebknechts Ablehnung der Aufnahme der Trennungsforderungen in das Gothaer Programm 1875 zurückzukommen. Wenn Liebknecht gegen die Aufnahme mit den Worten »Mit der Erklärung der Religion zur Privatsache reichen wir völlig aus« argumentierte, dachte er auch an das genannte privatrechtliche Kirchenmodell: »[...] der Staat dürfe die Kirche nur wie jeden andern Verein betrachten [...] ,«549 Dennoch überrascht die Eindeutigkeit, mit der sich Liebknecht und ihm folgend die Mehrheit der Delegierten des Vereinigungskongresses gegen die explizite Aufstellung der Trennungsforderungen aussprach. Befürchtete der Kongress einen Mangel an Profil gegenüber dem Liberalismus?

547 Pro »freie Kirche«: K, S.558f.. Für das »Verschwinden« von Kirchen und Religion: Becker, Jesuitismus, S.8 (Trennung Kirche/Staat reicht nicht, die Kirche muß »ganz verschwinden«); Chemnitzer Freie Presse 11.8.1875 Nr. 184 S.3f (Artikel von Johann Most). Aufforderung zum Kirchenaustritt als praktischem Vollzug der Trennungsforderung: Zeitgeist 29.3.1874 Nr.71 S.3 (in einer Leserzuschrift); Chemnitzer Freie Presse 2.4.1876 Nr.77 S.l. 548 Recht aufArbeit 17.2.1886 Nr.91 S.l. Vgl. Volkswille 16.8.1876 Nr.40 S.l (polemisch: Kirchen sollten »Privatvereinigungen, etwa wie heute Feuerversicherungs-Gesellschaften« werden). Anders K, S.558f. (die Kirche im Zukunftsstaat hat Anspruch auf ein öffentliches Kultusbudget). Vgl. zur Forderung einer privatrechtlichen Verfassung der Kirchen Zippelius, S. 111. 549 Protokoll, 1875, S.51.

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Kirchenaustritt Das sozialdemokratische Profil hatten auf den Parteitagen der Eisenacher Arbeiterpartei vor 1875 einzelne örtliche Parteigruppen und ihre Delegierten durch Anträge schärfen wollen, die den Parteimitgliedern den Kirchenaustritt anempfahlen. Womöglich war es gerade die Widersprüchlichkeit der politischen und kirchlichen Umfeldbedingungen, die den SDAP-Kongressen von 1871, 1872 und 1874 diese Diskussion aufzwang. Denn auf der einen Seite rangen die Regierung und der Liberalismus als »herrschende Partei« in diesen ersten, härtesten Kulturkampfjahren offensichtlich um Reformen, die zumindest Elemente einer säkularen Staatlichkeit aufwiesen. Zu diesen Elementen zählten auch die Kirchenaustrittsgesetze für sogenannte Dissidenten, die mehrere deutsche Staaten von 1870 an erließen. Auf der anderen Seite erlebten Sozialdemokraten verstärkt seit der Reichsgründung die Neuformierung von Kirchlichkeit: Schließungstendenzen des katholischen Milieus, ein Wiedererstarken protestantischer Orthodoxie, die Entstehung einer nationalliberalen bis konservativen »Reichsreligion«. Diese doppelte Entwicklung musste vor dem Hintergrund der stets aktualisierten religionskritischen Tradition, in die sich die Arbeiterparteien stellten, fast zwangsläufig seit 1870 zu Kirchenaustrittsaufrufen und -kampagnen führen.550 Am 20. Juni 1870 erhielt das Königreich Sachsen als erster deutscher Staat ein Dissidentengesetz, das klar die Möglichkeit eines Austrittes aus der Kirche ohne weitere Bekenntnisverpflichtung, also eines »Austrittes in die Religionslosigkeit« einräumte. Wenige Wochen später empfahl die Landesversammlung der sächsischen SDAP in Chemnitz den Parteigenossen den Austritt aus den Landeskirchen. Einen Zusatzantrag, der den Eintritt in freireligiöse Gemeinschaften empfahl, verwarf sie.551 Im folgenden Jahr 1871 waren es dann Dresdener Sozialdemokraten, die den in der Elbestadt stattfindenden Parteikongress der SDAP per Antrag aufforderten, durch Schriften und Versammlungen »[... ]für den Austritt aus der Landeskirche zu agitiren, um auf diese Weise die in unserem Programm aufgestellte Forderung der Trennung der Kirche vom Staate zu vollziehen, und somit das Bündniß unserer Gegner auf politischem und kirchlichem Gebiete zu vernichten, die am Ruder befindliche Gewalt ihrer mächtigsten Stütze zu berauben.« Eine zusätzliche Begründung erfuhr dieser Antrag durch das Argument, die Kirche habe »ihrer Natur nach« die Aufgabe, »unpartheiisch und mit der That einzutreten in den Kampf für die Befreiung der Völker vom Joche der Tyrannei und Willkürherrschaft«, sei aber »von der 550 Der Zusammenhang von Dissidentengesetzgebung, sozialdemokratischer Austrittsagitation und Parteitagsdiskussion bis 1875 wird intensiv aufgearbeitet bei Grote, Religion, S.109-20. 551 Volksstaat 6.5.1871 Nr.37 S.2. Der Artikel »Das sächsische Dissidentengesetz«, der den Chemnitzer Beschluss erläuterte und die Bestimmungen des Dissidentengesetzes erklärte, erschien zudem als Separatdruck.

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Höhe ihres ursprünglichen Berufs zur Sclavin [...] der am Ruder stehenden Gewalt herabgesunken«.552 Der Dresdener Parteitag ging nach heftiger Diskussion über den Antrag mit großer Mehrheit zur Tagesordnung über: Die Forderung nach Trennung von Staat und Kirche müsse präzisiert werden und sei im gegenwärtigen Staat ohnehin nicht zu realisieren; die Partei solle sich auf die sozialpolitische Agitation beschränken und nicht bei Nebensächlichkeiten aufhalten; die Sozialdemokratie dürfe nicht den »religiösen Zankapfel« in sich hineinwerfen und die Sympathien jener Arbeiter verscherzen, die »theilweise noch in den kirchlichen Dogmen befangen« seien.553 Die auf Kirchenaustrittsagitation drängende Dresdner Minderheit kann als proto-freidenkerisch charakterisiert werden: überzeugt von der Bedeutung der religiösen Frage, antikirchlich, aber noch entfernt christlich inspiriert, kritisch gegenüber den vermeintlich nationalliberal orientierten Freireligiösen. Dieser Fraktion standen beim Dresdener Parteitag die Pragmatiker gegenüber - Bebel und Liebknecht, Bracke und andere -, die zwar durchaus ihren Standpunkt in der religiösen Frage hatten, diesen aber taktischen Erwägungen unterordneten. Die Ausgangslage beim Mainzer SDAP-Kongress 1872 unterschied sich insofern von Dresden, als Bebel, Liebknecht und Bracke nicht an der Versammlung teilnehmen konnten, da sie nach dem Leipziger bzw. dem Braunschweiger Hochverratsprozess Gefängnisstrafen verbüßten. Dem Parteitag lagen drei Anträge zur Kirchenaustrittsfrage vor. Die Genossen aus dem westsächsischen Mülsen-St.Niclas forderten die Nichtbehandlung aller Anträge auf Austrittsagitation als »noch nicht zeitgemäß«; die Münchner Sozialdemokraten beantragten hingegen einen formellen Parteitagsbeschluss, der den Kirchenaustritt für alle Parteimitglieder zur Pflicht erklärte. Ohne Diskussion wurde daraufhin der Kompromissantrag des Nürnberger Delegierten und Redakteurs des »Fürther Demokratischen Wochenblattes« Anton Memminger vom Kongress angenommen: »Der Congreß empfiehlt den Parteimitgliedern, nachdem sie durch Anerkennung des Parteiprogramms factisch mit jedem kirchlichen Bekenntniß gebrochen, auch formell ihre Ausscheidung aus allen kirchlichen Genossenschaften zu vollziehen.«554 Memminger hatte seine Überzeugungen in der Austrittsfrage zuvor dargelegt. Einen »Zwang in dieser Beziehung« lehnte er als parteischädigend ab, eine »Kundgebung« zu dieser wichtigen Frage sei aber vonnöten. Der Nürnberger Delegierte räumte ein, daß in vielen deutschen Staaten der Austritt aus einer Religionsgemeinschaft noch an den Eintritt in eine andere gebunden sei. Altkatholiken und Freireligiöse stellten für Memminger jedoch aus wissenschaftlichen und politischen Gründen keine gangbare Alternative dar. Die »einzig 552 Ebd. 14.6.1871 N r . 4 9 S . l . 553 Protokoll 1871, S.116, 124. 554 Protocoll 1872, S.41. Vgl. Volksstaat 14.8.1872 Nr.65 SA;ebd. 21.8.1872 Nr.67 S.l.

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wahre Religion« sei »die Religion der Sozialdemokratie«. Vielerorts führte der Mainzer Beschluss dennoch zu lokalen Agitationen für den Eintritt in freireligiöse Gemeinden.555 Die Mainzer Wende gegenüber Dresden erklärt sich nicht nur aus der Abwesenheit einiger pragmatisch orientierter Parteistrategen, sondern auch aus der tagespolitischen Situation des Jahres 1872. Der Kulturkampf bestimmte in Preußen wie im Reich völlig den politischen Diskurs, und die sozialdemokratischen Delegierten mussten ihren radikalen Standpunkt in der religiösen Frage verdeutlichen. Der Kirchenaustritt bedeutete Memminger mehr als den bloßen Vollzug der Trennungsforderungen, wie es der Dresdener Antrag 1871 nahelegt hatte. Jetzt wurde der Sozialdemokratie selbst vielmehr eine religiöse Dimension zugeordnet. Eine Kontroverse in der »Chemnitzer Freien Presse« einige Wochen nach Mainz fasst die parteiinterne Programmdiskussion um Austrittsempfehlung bzw. -Verpflichtung zusammen. Den Kritikern des Beschlusses zufolge war die Parteitagsempfehlung aufgrund der starken Residualreligiosität des eigenen Wählerpotentials taktisch unklug: Die Empfehlung werde kaum auf Resonanz stoßen und zudem einen Keil in die Partei treiben. Die Sozialdemokratie solle daher besser »interkonfessionell« eine strenge religiöse Neutralität wahren. Gegen diesen Pragmatismus wandte sich eine bekennend-ganzheitliche Argumentation, derzufolge die Partei sich aufgrund des herrschaftssichernden Charakters der Religion erklären müsse. »Der öffentliche Charakter der Partei ist [...] ein religionsloser [...].«; damit aber sei der Kirchenaustritt der Mitglieder das Gebot der Stunde.556 Den in der Austrittsfrage radikalen Parteimitgliedern ging der Mainzer Beschluss allerdings noch nicht weit genug. Beim SDAP-Kongress 1874 waren es Marburger Genossen, die das umstrittene Thema mit einem Antrag wiederaufnahmen: »Alle Parteimitglieder haben sich als konfessionslos zu betrachten und demgemäß aus der Landeskirche auszuscheiden.«557 Mehrere Folgeanträge sorgten jedoch dafür, daß über die Marburger Initiative zur Tagesordnung übergegangen wurde. Die ausführlichste Begründung lieferte der in der religiösen Frage durchaus engagierte Braunschweiger Delegierte Samuel Kokosky, der den Kirchenaustritt als zwar »wünschenswerth« bezeichnete, die Entscheidung hierüber aber »jedem Einzelnen« überlassen sehen wollte.558 Vom Vereinigungskongress 1875 an verschwand die Kirchenaustrittsfrage von der Tagesordnung sozialdemokratischer Parteitage - zum Ärger manches 555 Ebd., S.12f, S.41. Sozialdemokratische Agitation für die Freireligiösen als Folge des Mainzer Beschlusses z.B. in Fürth: Fürther Demokratische Wochenblatt 2.11.1872 Nr.44 S.l. 556 Chemnitzer Freie Presse 5/.6.10.1872 Nr.235f. S.l (Leitartikel »Interkonfessionell«);ebd. 117 12.10.1872 Nr.240f. S.lf. bzw. S.l (Zitat) (Leitartikel »Interkonfessionell Erwiderung«). 557 Protokoll, 1874, S.11. Dieser Antrag gab Grote, Religion, S.119f. zufolge übrigens Adolf Douai den Anlass für seine Schrift »ABC des Wissens für die Denkenden«. 558 Protokoll, 1874, S.33.

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Parteigenossen, der eine entschiedenere Haltung bevorzugt hätte. So beklagte der Zwickauer Korrespondent des »Volksstaates« A. Eichhorn 1876 in einem »Agitations-Bericht« den mangelnden Erfolg der Partei im ländlichen Umland von Chemnitz; die Bauern stünden noch völlig »unter dem Banne einer kulturfeindlichen Clerisei«. Daher bewertete Eichhorn den Austritt von sechs Parteigenossen aus der Landeskirche als »bedeutenden Fortschritt in unserer lokalen Bewegung«: »Ein Religionsschwärmer kann kein Sozialist sein. Nicht umsonst paradirte auf allen Arbeiterkongressen der Antrag auf Confessionslosigkeit aller Sozialdemokraten, welcher leider vielfach aus nicht stichhaltigen Gründen abgelehnt wurde.«559 Antisozialistischen Agitatoren dienten die entsprechenden Parteitagsanträge von 1871-1874 noch einige Zeit als rhetorische Munition.560 Doch August Bebel konnte in einer Reichstagsrede vom 31. März 1881 zu Recht daraufhinweisen, daß sozialdemokratische Parteikongresse eine Verpflichtung zum Kirchenaustritt für die Mitglieder stets abgelehnt hätten; die Partei wolle den Mitgliedern Toleranz in religiösen Dingen gewähren.561 Im Hintergrund aber standen zum einen taktische Erwägungen gegenüber den eigenen Mitgliedern. Seit 1875 war man mit den Lassalleanern verschmolzen, auf deren Kongressen nie eine Kirchenaustrittsverpflichtung gefordert worden war. Noch 1890 befürwortete der sozialdemokratische Berliner Stadtverordnete Vogtherr auf einer Volksversammlung zwar den Kirchenaustritt der Parteimitglieder; aus taktischen Gründen empfehle sich jedoch die Aufnahme der Verpflichtung zum Kirchenaustritt in das Parteiprogramm zum gegenwärtigen Zeitpunkt »im Hinblick auf die noch zu wenig aufgeklärten Landbewohner« nicht.562 Zum anderen sah sich die Partei gegenüber jenen Diskursen der konkurrierenden Milieus in die Defensive gedrängt, welche die Sozialdemokraten auch wegen ihrer angeblichen Religionsfeindschaft illegalisieren wollten. Und schließlich wuchs in den 1880er Jahren auch die Distanz zur Freireligiösenbewegung, deren Anhänger ebenfalls zum Austritt aus den Landeskirchen aufforderten. Eine sozialdemokratische Kirchenaustrittsverpflichtung für die Mitglieder der Partei erschien auch vor diesem Hintergrund eher kontraproduktiv. 559 Volksstaat 26.1.1876 N r . l 0 S.3f.. 560 So meldete sich ein Pfarrer Henkelmann in der sozialdemokratischen Volksversammlung vom April 1876 in Großenlinden bei Gießen zu Wort und bemerkte unter Hinweis auf den Marburger Antrag von 1874, die Partei wolle die Religion abschaffen: Volksstaat 26.4.1876 Nr.48 S.4. 561 Stenographische Berichte, 1881 Bd.3, S.657. Die Mainzer Empfehlung des Kirchenaustrittes erwähnte Bebel allerdings nicht. In derselben Rede bekannte sich der Parteiführer zu Republik, Sozialismus und Atheismus. Entscheidend für ihn warjedoch der fehlende Zwang in der religiösen Frage. 562 Menschenthum Oktober 1890 Nr.41S.163f. Die Versammlung wurde polizeilich aufgelöst, nachdem die Repliken eines Kandidaten der Theologie, der den zivilisatorischen Charakter des Christentums hervorhob, zu tumultartigen Szenen führten.

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Religion a b Privatsache

Die »Erklärung der Religion zur Privatsache« fand beim Vereinigungskongress der beiden Arbeiterparteien ADAV undSDAP,der vom 22. bis 27. Mai 1875 in Gotha abgehalten wurde, erstmals Eingang in das sozialdemokratische Programm.563 Die Formel fehlte noch in dem Programmentwurf, den der lassalleanische »Neue Social-Demokrat« und der Eisenacher »Volksstaat« übereinstimmend am 7. März 1875 präsentiert hatten. Abgesehen von der (in Gotha übernommenen) Forderung nach »Verbot der Sonntagsarbeit« äußerte sich dieses März-»Programm der deutschen Arbeiterpartei« allenfalls indirekt zu religiösen Fragen: »Die deutsche Arbeiterpartei verlangt als geistige und sittliche Grundlage des Staats: [...] 2) Freiheit der Wissenschaft. Gewissensfreiheit.«564 Der »Programmentwurf der Social-Demokratie Deutschlands«, den der am 11. April 1875 zusammentretende »Westdeutsche Arbeitertag« unter der Leitung des Lassalleaners Carl Wilhelm Tölcke (1817-1893) vorlegte, räumte dagegen im Rahmen einer Ganzheitlichkeitsrhetorik der religiösen neben der politischen und der sozialen Frage eine zentrale Bedeutung ein. Tölcke zählte neben August Bebel und Wilhelm Bracke zu den Kritikern des März-Programmes, machte jedoch im Gegnsatz zu den beiden Eisenachern seine Kritik öffentlich, wozu ihm der Westdeutsche Arbeitertag als Bühne diente. Wie Marx und Engels ging auch Tölcke von der Notwendigkeit einer Übergangsgesellschaft vor der Verwirklichung des Sozialismus aus; die religionskritischen Aspekte im Programmentwurf des »Arbeitertages« können auch als eine auf diese Übergangssituation hin orientierte Einbeziehung von Forderungen der bürgerlichen Demokratie verstanden werden.565 Der »erste Theil« des Entwurfs bestand aus einem einzigen Diktum: »Die Social-Demokratie erstrebt die volle politische, sociale und religiöse Freiheit für das ganze Menschengeschlecht.« Die dann ausgeführten »nächsten Ziele« forderten »in religiöser Beziehung« die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, obligatorischen unentgeltlichen Unterricht in konfessionslosen Volksschulen, Trennung des Staates von der Kirche und der Schule von der Kirche.566 Der drei Wochen vor dem Vereinigungskongress vorgestellte Programmentwurf des »Westdeutschen Arbeitertags« reagierte damit auf die »religiöse Sprachlosigkeit« des März-Programmes. Carl Wilhelm Tölckes Vorstoß zur Revision des März-Programms fand wenig Gehör innerhalb der Arbeiterparteien.567 In Gotha griffimmerhin der Ber563 Vgl. hierzu Grote, Religion, S.120f.; Reitz, S.195f. 564 Volksstaat 7.3.1875 Nr.27 S.l. Vgl. Neuer Social-Demokrat 7.3.1875 Nr.29 S.l. 565 Vgl. Herzig, Arbeiterverein, S.315-25. Herzigs Studie ist zugleich eine der maßgeblichen Arbeiten über den ADAV und die beste vorliegende Biographie von Tölcke. 566 Neuer Social-Demokrat 30.4.1875 Nr.51S.3(Zitat);ebd. 2.5.1875 Nr.52S.4 (Forderungen). 567 Vgl. die Kritik Liebknechts im Volksstaat 14.5.1875 Nr.55. Liebknecht bestritt hier die Autonomie einer religiösen Frage.

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liner ADAV-Delegierte Heinrich Vogel einen Teil von Tölckes Forderungen in einer eigenen Fassung des Parteiprogrammes auf, für die er sich auf die Unterstützung anderer Berliner Parteigenossen berufen konnte. Auch Bebel unterstützte in einem eigenen Antrag die Aufnahme der Trennungsforderungen in das Programm der vereinigten Partei, denn zumindest mit der Forderung nach Trennung von Schule und Kirche könne sich die Sozialdemokratie eindeutig vom politischen Katholizismus abgrenzen. 568 Doch in Gotha setzte sich nicht Vogel oder Bebel in dieser Frage durch, sondern Wilhelm Liebknecht. Die Formulierungen des »Gewissensfreiheit« fordernden März-Programmes lehnte Liebknecht ab, da Gewissensfreiheit auch vom »kulturkämpfenden«, aber reaktionären Preußen gefordert werde. Liebknecht reagierte damit offensichtlich auf eine Kritik an diesem Programmentwurf aus London. Karl Marx hatte in einem Schreiben an führende SDAP-Politiker u.a. den Religionsparagraphen des Entwurfes kritisiert: »Aber die Arbeiterpartei mußte doch bei dieser Gelegenheit ihr Bewußtsein darüber aussprechen, daß die bürgerliche ›Gewissensfreiheit‹ nichts ist außer der Duldung aller möglichen Sorten religiöser Gewissensfreiheit und daß sie vielmehr die Gewissen vom religiösen Spuk zu befreien strebt. Man beliebt aber das ›bürgerliche‹ Niveau nicht zu überschreiten.«569 Liebknecht wandte sich im Verlauf des Kongresses aber auch gegen die Aufnahme der Trennungsforderungen ins Parteiprogramm, die er in ihrem Grundanliegen zwar unterstützte, deren breitem Interpretationsspielraum er jedoch misstraute. So wies der Parteiführer auf das amerikanische Modell einer freundlichen Trennung von Staat und Kirche hin, welches die Aktivitäten der Kirchen eher befördere. Damit kam er zu einer für die Delegierten zunächst überraschenden Schlussfolgerung: »Mit der Erklärung der Religion zur Privatsache reichen wir völlig aus.« Eine Erläuterung zu dieser daraufhin ins Parteiprogramm übernommenen Formel lieferte Liebknecht gleich mit: »[...] der Staat dürfe die Kirche nur wie jeden andern Verein betrachten [...].«570 Der Deutungsspielraum, den auch der »Privatsache«-Satz von 1875 ließ und der bis 1890 (und darüber hinaus) zu heftigen inner- und außerparteilichen Kontroversen Anlass gab, musste Liebknecht schon beim Vereinigungskongress 1875 vor Augen gestanden haben. Bewusst wohl brachte er eine Formel ins Spiel, die einerseits den kulturkämpfenden Staat und das »bürgerliche Niveau« über-

568 Protokoll, 1875, S.10.51f. 569 Marx, Randglossen, S.24. Die geradezu legendär gewordenen »Randglossen« werden in der Literatur irrefiihrenderweise häufig unter dem Titel »Kritik des Gothaer Programms« zitiert; dabei weist das Gothaer Programm gegenüber dem von Marx kritisierten »Programm der deutschen Arbeiterpartei« vom März 1875 erhebliche Differenzen auf, die zum Teil auf die Aufnahme der Marxschen Kritik zurückzuführen sind, wie dies ja auch in der Religionsfrage der Fall ist. 570 Protokoll 1875, S.51.

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schritt, andererseits aber auch alle anderen Interessen in der Partei zu bedienen schien. Im engeren Sinn »erfand« der Gothaer Kongress tatsächlich die Formel »Erklärung der Religion zur Privatsache«.571 Doch wie schrieb die Partei die Deutungsgeschichte fort? Innerparteilich stand der Anschluss an den religionskritischen Diskurs der Sozialdemokratie im Vordergrund. Die Partei musste in Konsequenz des Herrschaftscharakters und der wissenschaftlichen Unhahbarkeit von Religion und Kirchen auch programmatisch radikale Forderungen erheben, die sie möglichst deutlich über das »bürgerliche Niveau« hinaushob. Nicht »Religion ist Privatsache« stand im Gothaer Programm. Die »Erklärung der Religion zur Privatsache« verstand sich vielmehr als Forderung an den Staat der Gegenwart bzw. an den sozialdemokratischen Zukunftsstaat (die vorhergehende Formulierung »Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands fordert als Grundlagen des Staates:« ließ beide Varianten zu). So betonten Parteiagitatoren, daß die »Erklärung der Religion zur Privatsache« die Forderungen nach Trennung von Schule und Kirche sowie nach Trennung von Staat und Kirche einschließe.572 Selbst die Werbung für den Kirchenaustritt sahen manche Genossen durch diese Formel im Vereinigungsprogramm abgedeckt.573 Der in der religiösen Frage radikale Parteiflügel aber wollte sich mit dem offenen Charakter der Formel von Gotha dennoch nicht zufriedengeben. Mitte der 1880er Jahre, als sich das Ende der Verbotszeit abzuzeichnen begann und eine innerparteiliche Programmdiskussion für »die Zeit danach« einsetzte, liefen in der sozialdemokratischen Presse Leserzuschriften ein, die den Artikel »Erklärung der Religion zur Privatsache« für unzureichend erklärten und Änderungsvorschläge einbrachten. So offerierte eine Genosse mit (pseudonymem?) Namen »Haß« 1886 im »Sozialdemokrat« einen »Vorschlag zur Abänderung unseres Programmes«: »Die Sozialdemokratie betrachtet es als ihre Pflicht, Aufklärung auf allen Gebieten des Wissens, einschließlich der Religion, 571 Darauflässt zumindest der Artikel »Religion als Privatsache« in Ladendorf, S.268 schließen. Die interpretativen Spielräume, die eine Auffassung der Religion als »Privatsache« eröffnete und die der sozialdemokratische Diskurs auch ausschöpfte (Trennung von Kirche und Staat, Kirchen als Privatvereinigungen, staatsbürgerliche und bürgerliche Glaubens- und Gewissensfreiheit, religiöse Toleranz e t c ) , waren aber schon lange fester Bestandteil von »Diskursen der Moderne«. So reklamierte die »Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche« von Paul Hinschius 1883 das Prinzip »Religion ist Privatsache« als Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche schon für die amerikanische Verfassung und die Französische Revolution: s. Steiger, S.356. Vgl. begrifflich auch das Konzept einer »Privatisierung von Religion« als Teil gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktion in der Moderne bei Luckmann. 572 Oldenburg,S.33-35 (Erläuterungsbroschüre zum Gothaer Programm); Volksstaat 10.5.1876 Nr.54 S.3 (Bericht über eine Volksversammlung u.a. zur »religiösen Frage«); Braunschweiger Volksfreund 17.6.1877 Nr.139 S.2; L.,P„ S.80f; Bebet, Thätigkeit 1874-1876, S.l 10; der.., Sozialismus, S.161f; Menschenthum November 1890 Nr.48 S.190f. 573 Vgl. Chemnitzer Freie Presse 22.2.1878 Nr.45 S.l (Leitartikel »›Die Religion ist Privatsache*«); Vorwärts 26.4.1878 Nr.48 S.3.

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im Volke zu verbreiten und den Aberglauben in jeder Richtung hin zu bekämpfen.« Haß forderte Radikalität der Partei auch auf religiösem Gebiet. Entscheidend war in diesem Änderungsvorschlag und seiner Begründung die Rhetorik aus dem Geist populärer radikalaufklärerischer Religionskritik, die offenbar stärker identitätsbildend als konkrete (kirchen)politische Forderungen wirken konnte, und die lebensweltliche Verankerung seines religionskritischen Votums. Der Einsender schilderte breit den Misserfolg der sozialdemokratischen Wahlagitation in einem westfälischen katholischen Dorf, hervorgerufen durch den Einspruch des Ortspriesters bei einer Parteiversammlung.574 Die redaktionelle Entgegnung des »Sozialdemokrat« hinderte nicht weitere Einsender, sich ebenfalls für eine ähnliche Programmänderung auszusprechen; und noch drei Jahre später wunderte und beklagte sich das zentrale Organ der Partei, daß die meisten Einsendungen zur Programmdiskussion die doch eigentlich unwesentlichen »Doctorfragen« der Religion beträfen.575 Schon wesentlich früher hatten andererseits die »ethischen Sozialisten« in der Partei betont, daß die Religion nicht einfach zur Privatangelegenheit erklärt werden könne. Avant la lettre hatte schon Carl Boruttaus posthume Schrift »Religion und Sozialismus« (1874) der Privatsache-Formel den ganzheitlichen Anspruch der Partei gegenübergestellt. »Selbst ist der Mann« - »Das geht die Partei nicht an« - »das ist Privatsache« - so lauteten Boruttau zufolge die Tagesparolen der Liberalen. Aber »[...] für den Sozialisten giebt es keine Privatsachen in diesem Sinne. [...] dem Sozialisten ist der Mensch ein einheitliches Ganze [sie], er weiß den religiösen, den politüchen, den ökonomüchen und den politischen Menschen nicht voneinander zu trennen [...]. Es kann daher ein Parteiprogramm, das heutzutage die religiösen Fragen völlig ignoriert, als Ausdruck menschenwürdiger Grundsätze nicht anerkannt werden.«576 Zehn Jahre später nahm der sozialdemokratische Freidenker und Stuttgarter Parteiführer Albert Dulk diesen Faden wieder auf: »Daß die Religion Privatsache sei, ist daher ein mißverstandener Ausdruck, die Konfession, der Aberglaube ist es!«; der »natürliche(n) Religion« aber könne sich niemand entziehen. 577 Während Boruttau und Dulk den nach ihrer Überzeugung zentralen ganzheitlichen Charakter der sozialdemokratischen Partei zum Anlass ihrer Kritik an der Privatsache-Formel nahmen, betonten die Befürworter deren taktischen Nutzen. Die Formel erlaubte nach dieser Argumentation auch eine individualisierende Lesart. Die Sozialdemokratie übe keinerlei Religionszwang aus; sie vereinige unter der Fahne ihrer politischen und sozialen Forderungen »eifrige Kirchengänger« und Kirchengegner; jedes Mitglied könne »nach seiner Fagon 574 575 576 577

Sozialdemokrat 14.1.1886 Nr.3 S.2f. (dort auch das vorhergehende Zitat). Ebd. 28.1.1886 Nr.5 S.l; ebd. 19.2.1886 Nr.8 S.lf.; ebd. 2.11.1889 Nr.44 S.2 (Zitat). Boruttau, Religion, S.21f.. Sozialdemokrat 3.4.1884 Nr.14 S.l (Artikel »Der Kampf der Ideen« von A.Dulk).

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selig werden«, denn die Partei betrachte das individuelle religiöse Bekenntnis als Privatsache.578 Sozialdemokratische Redner und Redakteure reagierten hier auf die Defensive, in die sie von den Religionsdiskursen der konkurrierenden Milieus gerade nach 1875 gedrängt worden waren. Die individualisierende Lesart stieß bei Konservativen, Katholiken und sogar bei Linksliberalen auf Kritik; die Bemühungen gingen dahin, die so verstandene »Erklärung der Religion zur Privatsache« durch zahllose Hinweise auf religionsfeindliche Äußerungen aus der Partei als »eitel Flunkerei« 579 , als »nothdürftiges Mäntelchen zur Verhüllung der krassesten Gottesläugnung« 580 , als »leere Phrase« und »Aushängeschild [...], um hierdurch die Arbeiter für sich zu gewinnen und unter den Banner des Socialismus zu bringen« 581 , zu enttarnen. Diesen massiven Attacken zum Trotz wurden Sozialdemokraten nicht müde, sich »strictissime« zur Religionsformel von 1875 zu bekennen, die nun als »Toleranzformel« ausgelegt wurde. 582 Diesem Bekenntnis zur Toleranz sahen sich auch die innerparteilichen Abgrenzungen gegenüber den »Privatäußerungen« des religionspolitisch radikalen Flügels verpflichtet: »Einer Partei, welche in ihrem Programm die Religion zur Privatsache erklärt, steht es schlecht an, eine Agitation zu organisiren, oder auch nur in ihrem Namen organisiren zu lassen, deren Zweck dahin geht, den Massenaustritt aus der Kirche herbeizufuhren. Ihre eigene Logik sollte es ihr verbieten, die Logik der Welt zu provociren.«583 Der Protest gegen die Kirchenaustrittsagitation wollte jedoch nicht nur die »Logik der Welt«, sondern auch die Herzen gegenwärtiger und zukünftiger Parteiwähler schonen, die zwar noch dem »alten Glauben« Treue bewahrten, aber »gute Sozialdemokraten« seien bzw. werden könnten. Die Entscheidung für die Religionsformel von 1875 zielte also auch auf das eigene Milieu. Zwar 578 Chemnitzer Freie Presse 3.1.1876 Nr.205 S. 1; Duisburger Freie Zeitung 1.8.1876 Nr. 14 S. 1; An die Einwohner, S.2; Westfälische Freie Presse 25.4.1878 Nr.36 S.l (»nach seiner Faqon selig werden«, eine häufige Wendung in diesem Zusammenhang); Volkswille 4.10.1878 Nr.l 19 S.l (»eifrige Kirchengänger«); u.ö.. 579 Jösting, S.4 (evangelisch-konservativ). Vgl. ebenfalls aus der Sicht von »Thron und Altar« Schönberg, S.27-29. 580 Pachtler, S.39 (katholisch), mit Hinweis auf den taktischen Nutzen der Formel z.B. bei der Agitation unter »christlichen Bergleuten«. Zu Vorwürfen aus dem linksliberal-demokratischen Milieu gegen das sozialdemokratische »Wüthen gegen die Kirche« vgl. Vorwärts 5.7.1878 Nr.78 S. 1. 581 Helferich, S.19f. (der Autor bezeichnet sich als früheres Mitglied der SAP). 582 Volkswille 11.6.1876 Nr.19 S.lf; Duisburger Freie Zeitung 1.8.1876 Nr.14 S.l; Chemnitzer Freie Presse 3.9.1876 Nr.205 S.l; Vorwärts 5.7.1878 Nr. 17 S. 1 (»strictissime«); Stenographische Berichte, 1881 Bd.3, S.657 (Reichstagsrede August Bebeis vom 31.3.1881); u.ö.. 583 K.t S.549. Vgl.eM., S.550 die Betonung des taktischen Nutzens der »Privatsache«-Formel. Zumindest in dieser Frage stand der »K«-Artikel, der in der Literatur zumeist als »einsame Stimme« (Reitz, S.207) gekennzeichnet wird, nicht allein; vgl. z.B. zur Austrittsagitation die Wahrheit 12.2.1878 Nr.36 S. 1 (»Nach unserem Parteiprogramm soll Religion Privatsache sein, im Namen der Partei kann daher eine auf das religiöse Gebiet sich beziehende Thätigkeit von Niemandem entfaltet werden.«); Vorwärts 5.7.1878 Nr.78 S.l (»Privatäußerungen«).

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wandten sich kaum dezidiert kirchlich gebundene Sozialdemokraten an die Parteiöffentlichkeit, um unter Hinweis auf die einschlägige Programmformulierung innerparteilich religiöse Toleranz einzufordern. Doch plädierten redaktionelle Kommentare und Einsendungen an die Parteipresse oft für eine Betonung des »Privatsache«-Grundsatzes gegenüber den noch gläubigen Parteigenossen, ein Grundsatz, »[...] dessen Abänderung [...] von keinem deutschen sozialdemokratischen Kongreß angenommen werden wird, so lange die Religion noch ein Faktor ist, mit dem gerechnet werden muß.«584 Gerade im Blick auf die Landagitation, welche die Partei seit Ende der 1870er Jahre verstärkt betrieb und deren Bedingungen sie debattierte - häufig unter der Prämisse, es auf dem Land mit intellektuell besonders rückständigen Menschen zu tun zu haben - , mahnte die sozialdemokratische Presse zur Zurückhaltung bei der antireligiösen Polemik. Es gelte, auf das Prinzip hinzuweisen, daß die Partei Religion als Privatsache ansehe und niemandem auf diesem Feld Beschränkungen auferlege.585 Die Redakteure bezogen so Stellung gegen Parteiagitatoren in ländlichen Bezirken, die in Einsendungen »zur Diskussion der Religionsfrage in bäuerlichen Kreisen« empfohlen hatten: »Stets den Stier an den Hörnern gefaßt!«586 Andere Lokalkorrespondenten empfahlen aufgrund ihrer einschlägigen Erfahrungen bei der Landagitation selbst eine taktische Zurückhaltung in der religiösen Frage: »Man muß dem ländlichen Arbeiter klar machen, und unsere oberbayerischen Bauern sind nichts weniger als unintelligent, wie es mit ihrer ökonomischen Lage bestellt ist; die Religionsfrage muß, und dazu berechtigt vollkommen unser Parteiprogramm, ganz aus dem Spiel gelassen werden. Jeder mag glauben, oder mag nicht glauben, was oder wie er will; das ist seine Sache.«587 Mitte der 1880er Jahre begründete der »Sozialdemokrat« die Gothaer Formel erstmals dezidiert »marxistisch«.588 Mit dem Erfurter Parteitag und Programm 584 Sozialdemokrat 2.11.1889 Nr.44 S.2; v g l Jahrbuch 1879 S.91; Sozialdemokrat 18.3.1886 Nr. 12 S.2 (»Eingesandt«). 585 Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2; Beniner Volksblatt 30.9.1890 Nr.227 S.3. Die wichtige taktische Funktion der Religionsformel von 1875 für die sozialdemokratische Landagitation wurde auch von katholischer Seite erkannt: s. Pachtler, S.39; Wähler 24.9.1890 Nr. 186 S.l. 586 Sozialdemokrat 29.10.1885 Nr.44 S.3. Der Einsender unterstützte damit eine Zuschrift »aus einem protestantischen Distrikt des westlichen Deutschland«, die sich ebenfalls gegen ein »Offenlassen der Religionsfrage« bei der Bauernagitation unter Berufung auf das »Privatsache«-Diktum eingesetzt hatte: Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2. Ebd. auch eine Zuschrift »aus dem katholischen Theile Schlesiens«; der Einsender berichtete von seinem Ansprechen der Religionsfrage bei der Landagitation, einer Mischung aus Pfaffenschelte und Christus als »erster Sozialist«. 587 Sozialdemokrat 21.5.1885 Nr.21 S.3 (Korrespondenzbericht aus München); ähnlich ebd. 26.11.1885 Nr.48 S.lf. (»Zur Bauernagitation. Aus Schleswig-Hostein«). 588 Sozialdemokrat 17.7.1884 Nr.29 S.l (Leitartikel »Atheismus, Materialismus und Sozialdemokratie«: »Die Sozialdemokratie erklärt die Religion für Privatsache, und mit Recht. Steht sie doch auf dem Boden der materialistischen, marxistischen Geschichtsauffassung, welche besagt, daß die materiellen Zustände die wesentlich wirksamen Ursachen seien, welche die geistigen Her-

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1891 sowie auch dem vorhergehenden ersten Kongress der SAP nach Ende des Sozialistengesetzes in Halle 1890 wird in der Literatur die innerparteiliche »Durchsetzung des Marxismus« verbunden. Der Programmparteitag von 1891 entschied sich für eine erweiterte Beibehaltung der Religionsformel von 1875. Nach einer theoretischen »marxistischen« Grundlegung erhob das Erfurter Programm eine Reihe praktischer Forderungen. Der sechste Punkt betraf die Religionsfrage; er präzisierte die Forderung nach »Erklärung der Religion zur Privatsache« inhaltlich und wertete das Religionsthema gegenüber Gotha durch eine Absetzung von den schulpolitischen Forderungen auf: »6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller Aufwendungen aus öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken. Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als private Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen. 7. Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen [...J.«589

Ein Jahr zuvor hatten Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Bios auf dem Hallenser Parteitag die Gothaer »Privatsache«-Formel verteidigt. Diese Formel sei den von einigen Delegierten wieder in die Diskussion gebrachten herkömmlichen Trennungsforderungen vorzuziehen, da sie dieselben umschlösse und überbiete. Die angestrebte Auffassung der Kirchen als Privatvereinigungen gehe über die bloße Trennung von Staat und Kirche hinaus. Außerdem sei die Formel gerade bei der Agitation im katholischen und im ländlichen Bereich sowie aufgrund der antisozialistischen Verdächtigungen der politischen Gegner taktisch eminent wichtig (ein Punkt, der in den Redebeiträgen zahlreicher Delegierter hervorgehoben wurde). Die Sozialdemokratie garantiere jedem Menschen absolute Gewissensfreiheit. Durch Bildung und gerechtere gesellschaftliche Verhältnisse werde aber die Religion im Zukunftsstaat von selbst verschwinden.590 Dagegen bezog in Halle vor allem der Heidelberger Parteitagsdelegierte und Freidenker August Rüdt Stellung, der ein antikirchliches Bekenntnis in das Programm aufgenommen wissen wollte, da die »Erklärung der Religion zur Privatsache« von den Gegnern der Sozialdemokratie zu Recht als bloße Heuchelei empfunden werde. Doch Rüdt konnte sich nicht durchsetzen.591 Dem Erfurter Parteitag schließlich wurden mehrere alvorbringungen einer Zeit bedingen, daß die Ideen nicht die Produktionsweisen, sondern die Produktionsweisen die Ideen erzeugen.«); vgl. Wähler 24.9.1890 Nr. 186 S.l (Leitartikel »Sozialdemokratie und Religion«); Beniner Votksbhtt 30.9.1890 Nr.227 S.3. 589 Protokoll, 1891, S.5. Die abwertende Beurteilung des zweiten Teiles des Erfurter Programms als »reformistisch« und damit »unmarxistisch« in der älteren Literatur trifft wohl weder den realen Charakter des Programms noch die Selbstwahrnehmung der Erfurter Delegierten, in deren Marxismus-Rezeption sich der Religionsparagraph mühelos einfügte. Zur Kritik dieser Bewertungen vgl Grebing, S.107f.. Anders Miller, Erfahrungen, die das »Auseinanderklaffen von Theorie und Praxis« im Erfurter Programm betont. 590 Protokoll 1890, S.158, 174-77, 185, 188-90, 193f. Vgl. Horvath, S.412f.. 591 EW., S.183f., 191-93.

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ternative Programmentwürfe und Einzelvorschläge vorgelegt, die sich in der Religionsfrage entweder auf die Formel von 1875 beschränkten, diese Formel erweiterten, die Trennungsformeln bzw. die Forderung nach Abschaffung des schulischen Religionsunterrichtes explizit aufnahmen, weitere antikirchliche Zuspitzungen einbrachten oder gar jede Äußerung zur Religionsfrage gänzlich vermieden.592 Mit denselben Begründungen wie 1890 verteidigte Liebknecht aber erfolgreich die im wesentlichen von Georg von Vollmar (1850-1922) eingebrachte Neuformulierung, die ohne weitere Diskussion den Parteitag passierte.593 Die religiöse Frage war auch in der Programmdiskussion zwischen 1869 und 1891 heftig umstritten. Radikale wollten im Programm die Forderungen nach der religionslosen Schule, nach der Abschaffung des schulischen Religionsunterrichtes, nach der durch eine Kirchenaustrittsverpflichtung für die Parteimitglieder zu fordernden Abschaffung der Kirchen verankert sehen. Moderate bevorzugten die Simultanschule, den konfessionslosen Religionsunterricht und womöglich gar eine Reformkirche als Partner im Zukunftsstaat; sie erhielten eine gewisse Rückendeckung durch die »unbekannte Größe« der Wählerpotenziale mit einer Restkirchlichkeit, auf die die Diskussion des öfteren verwies. Weder aber deckt sich eine solche (ohnehin permeable) Trennlinie zwischen »Radikalen« und »Moderaten« in der Programmdiskussion zur religiösen Frage völlig mit den von Vernon Lidtke 1966 idealtypisch ebenso bezeichneten Parteiflügeln, noch sind diese Kategorien mit Zuschreibungen von »antireligiös« und »religiös« treffsicher zu charakterisieren. Zudem sind von Radikalen und Moderaten in der religiösen Frage noch die Pragmatiker um Bebel und (in stärkerem Maße) um Liebknecht abzuheben, die taktische Erwägungen in den Vordergrund rücken, Religionskontroversen dagegen hintanstellen wollten und die durch die Marx-Rezeption der 1880er Jahre Auftrieb erhielten. Den gordischen Knoten der religiösen Frage versuchte im parteiprogrammtischen Diskurs als »Kompromissformel«594 die »Erklärung der Religion zur Privatsache« zu zerschlagen. Diesem Befriedungsversuch war allerdings nur in begrenztem Maße Erfolg beschieden.

592 Protokoll, 1891, S. 13-31. 593 Ebd.,SJ50-52,357f. 594 Spohn, Religion, S.123.

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1.5 Der sozialdemokratische Religionsdiskurs zwischen Säkularisierung, kirchlicher Persistenz und religiöser Modernisierung Entkirchlichung Der sozialdemokratische Religionsdiskurs kann in seiner bislang entfalteten Struktur vornehmlich als ein »Säkularisierungsdiskurs« verstanden werden. Wie verhielten sich dieser Diskurs und die gesellschaftliche Realgeschichte zueinander? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden. In Rückgriffauf die in Kap.l vorgenommenen Definitionen ist zunächst von Dimensionen der Entkirchlichung zu sprechen: vom Rückgang der aktiven kirchlichen Partizipation und von der Zurückdrängung kirchlicher Befugnisse im politisch-gesellschaftlichen Ordnungsgefüge. Nimmt man die Abendmahlsfrequenz, d.h. die Häufigkeit der Teilnahme an Abendmahlsgottesdiensten pro Jahr als verlässlichsten Indikator für kirchliche Gebundenheit 595 , muss für das Territorium des Deutschen Reiches von 1871 ein bereits im 18. Jahrhundert einsetzender dramatischer Verfall der Kirchlichkeit konstatiert werden, der in seinem Ursprung keineswegs mit der Industrialisierung oder gar mit den Anfängen einer sozialistischen Bewegung korreliert war. In Sachsen etwa sank die Abendmahlsfrequenz schon im Laufe des 18. Jahrhunderts von 250/275 auf ca. 160 jährliche Teilnahmen pro 100 evangelische Einwohner. 1862 betrug dieser Wert im Königreich Sachsen noch 72, 1880/81 49,1895 44,1913 schließlich nur noch 35. Von 1700 bis 1900 sank die Quote hier auf ein Fünftel an Abendmahlsteilnahmen (und entsprechend an Gottesdienstbesuchen) ab. 596 Diese Zahlen fallen um so mehr ins Gewicht, als nach dem Verständnis sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche die Teilnahme am Gottesdienst nicht bloß ein Zeichen der Zugehörigkeit, sondern eine kirchliche Verpflichtung für jeden Gläubigen darstellte. Bereits seit 595 Die quantitative Erfassung von »realer« kirchlicher Bindung stellt ein gewisses Problem für die historische Forschung dar Unter den gegebenen rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Untersuchungszeitraum konnte der Kirchenaustritt nur für eine kleine Minderheit zum deutlichsten Zeichen der Kirchendistanz werden. Auch bei Sozialdemokraten blieb der Austritt eine Randerscheinung (bestätigt im Blick auf Arbeiterau tobiographien bei Loreck, S.156). Grundsätzlich zum Problem der historisch-statistischen Erfassung kirchlicher Bindung Hölscher, Möglichkeiten. 596 Zahlen nach Hölscher, Weltgericht, S.142f. Für den evangelischen Bereich bietet diese Arbeit unter den neueren Untersuchungen wohl das beste Zahlenmaterial sowie eine differenzierte Analyse dieses Materials; den folgenden Ausfuhrungen liegen daher im wesentlichen die S. 14063 dieses Werks (ergänzt durch andere Arbeiten desselben Verfassers) zugrunde. Für den katholischen Bereich ist eine derartige Quantifizierung zur Zeit noch schwierig, so daß ein Gesamteindruck aus Einzeluntersuchungen abgeleitet werden muss; vgl. Hölscher, Secularization, S.279f.

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dem 18. Jahrhundert vernachlässigte die Geistlichkeit jedoch selbst die Kirchenzucht, d.h. »die öffentliche Bestrafung säumiger Kirchenbesucher durch Ausschluss von Abendmahl und Patenschaft sowie de(n) Verlust bürgerlicher Berufe und Ehrenrechte«597, so daß den Pfarrern nur das mahnende Wort als Druckmittel verblieb. Die Spannbreite der Teilnahmewerte innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches von 1871 war allerdings außerordentlich hoch. Lag 1862 die Abendmahlsfrequenz in der evangelischen Landeskirche im Fürstentum Schaumburg-Lippe bei 83 und 1895 noch bei 74, so betrugen die entsprechenden Werte in Berlin nur 17 (1862) bzw. 16 (1895). Ähnliche Schwankungen kennzeichnen einen anderen Indikator von Kirchlichkeit, die Trauquote (Anzahl kirchlicher Trauungen pro 100 standesamtlich registrierte Eheschließungen), für welche die Einführung der obligatorischen Zivilehe 1874 (Preußen) bzw. 1875 (Deutsches Reich) einen gravierenden Einschnitt bedeutete. Sank dieser Wert 1875/ 76 in den süddeutschen Landeskirchen auf ca. 95% und in den norddeutschen Landeskirchen auf ca. 90%, fiel die Quote im protestantischen Berlin 1876 auf dramatische 29,4%, um in den späten 1880er Jahren hier wieder auf Werte um 60% zu steigen. Allerdings stellen die Berliner Zahlen eindeutig eine Ausnahme dar.598 Der Rückgang der Kirchlichkeit folgte regionalen, konfessionellen, wirtschafts- und sozialstrukturellen Mustern, zu denen mikroanalytische Studien vorliegen, die allerdings noch kaum einer synthetisierenden Systematik unterworfen wurden. Die vorliegenden Arbeiten betonen überwiegend folgende Trends: 1. Der Rückgang der Kirchlichkeit folgte einem Nord-Süd-Gefälle. Im Süden Deutschlands schritt die Entkirchlichung erheblich langsamer voran als im Norden. 2. Die katholische Kirche aktivierte ihre Mitglieder stärker und langfristiger zur gottesdienstlichen Partizipation, als die evangelischen Kirchen dies vermochten. Konfessionell durchmischte Situationen als häufige Folgeerscheinung massiver Zuwanderungen durch industrielle Erschließungen konnten kirchlich-konfessionelle Orientierungen durch den Verlust ursprünglicher Bindungen an eine Kirchengemeinde schwächen oder auch konfessionelle Kirchlichkeit als Halt gebendes Refugium stärken. 3. Geographische Mobilität, Urbanisierung und Industrialisierung beförderten insgesamt eindeutig den Verlust kirchlicher Bindungen. Das »ganze Haus« mit seiner gemeinsam gelebten Vita religiosa und die heimatliche Kirchengemeinde gingen verloren, die Städte waren bis in die 1890er Jahre pastoral unterversorgt. Die Daten des Stadt/Land-Vergleiches unterstreichen diese Problematik, wobei von einer völlig intakten ländlichen Kirchlichkeit schon in der 597 Hötscher, Religion, S.602. 598 Hötscher, Weltgericht, S.143, 155f. Zum Ausnahmecharakter Berlins ebd., S.156-62.

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Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Einflüsse urbaner Kultur, durch neue Freizeitgewohnheiten und durch zunehmende industriekapitalistische Prägungen nur noch regional spezifizierend gesprochen werden kann und sich ländliche Unterschichten teilweise bereits im Pauperismus der 1840er Jahre deutlich von ihrer Kirche entfremdet hatten. 4. Die Abwendung von der Teilnahme am kirchlich-gottesdienstlichen Leben erfasste zuerst das gehobene städtische Bürgertum, um später in der entstehenden Arbeiterschaft zum Massenphänomen zu werden. Die Arbeiter in den Städten und im industrialisierten ländlichen Raum folgten also auch dem Vorbild religiöser Indifferenz im Bürgertum. Volksreligiosität und Frömmigkeit waren ganz auf die agrarische Lebenswelt ausgerichtet gewesen, deutlich etwa am Beispiel der Flurprozessionen; zudem orientierte sich die christliche Morallehre und -predigt noch lange ganz am Bild des ländlichen Armen und nicht am Bild des urbanen »Proletars«. Ständische Kontrollen kirchlicher Partizipation entfielen mit der schrittweisen Durchsetzung der Gewerbefreiheit. An Sonn- und Feiertagen bestand zum Teil in Bergwerken und Fabriken Arbeitspflicht, zum Teil mussten diese Tage zur Bestellung der einkommensunterstützenden eigenen Landparzellen genutzt werden, und nicht zuletzt setzten sich die arbeitsfreien Sonn- und Feiertage auch als Hort von Rekreation und proletarischer Freizeitgestaltung durch.599 Die sozialdemokratischen Arbeiterparteien unterstützten den Rückgang gottesdienstlicher Teilnahme selten durch gezielte Aktivitäten. Auch Kirchenaustrittskampagnen fanden innerparteilich keine Mehrheiten. Allerdings wurden durch proletarische Freizeitgestaltung und partei- bzw. milieugebundene Aktivitäten sonntägliche Alternativen zum Gottesdienstbesuch aufgebaut. So annoncierte der Augsburger »Volkswille« am 3. September 1876 für den folgenden Sonntagvormittag die Öffnung des Einschreibungsbüros der »Gewerkschaft der Manufactur-, Fabrik- und Hand-Arbeiter«, die Monatsversammlung des »Fachvereins der Weißgerber« sowie einen Ausflug des »Arbeiter-Sängerbundes« zum Volksfest nach Rosenheim.600 Die »symbolische Politik« der Sozialdemokratie konnte zudem durch eine massive Kirchen- und Religionskritik Prozesse der Aufweichung kirchlicher Loyalitäten bei Milieuangehörigen begleiten und unterstützen. Arbeiterautobiographen korrelieren häufig (allerdings in der retrospektiven Stilisierung) den endgültigen inneren Bruch mit der 599 Hippel, S.105-111 (Rückgang der Kirchlichkeit durch Industrialisierung im ländlichen Raum seit 1840 am Beispiel von Berkheim am Neckar); Blessing, Reform, S.116 (bürgerliche Gottesdienst-Distanz); Mallmann, Last, S. 155-63 (Stärkung der Kirchlichkeit von katholischen Bauern-Arbeitern durch die Zuwanderung in den industriellen Raum); Höhcher, Weltgericht, S.140-63 (Überblick); Hölscher, Säkularisierungsprozesse, S.241 (Abwendung Bürgertum vom Gottesdienstbesuch)Janz, S.69-73 (kirchliche Unterversorgung). Zur Frage der Sonntagsarbeit Plaut, S.177-92, bes. S.185; Sperber, Kampf, bes. S.135f; Wischermann, S.12-14. 600 Volkswille 3.9.1876 Nr.48 S.196.

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Kirche mit dem Parteieintritt, dem allerdings den Texten zufolge oft Erfahrungen wie prügelnde oder unsittliche Pfarrer, das Bekanntwerden mit modernen naturwissenschaftlichen Theorien oder ein Verzweifeln an der Gerechtigkeit Gottes durch das Erleben sozialen Elends vorausgingen.601 Der religionskritische Diskurs der Arbeiterpartei(en) suchte zuweilen den Eindruck zu erwecken, als sei der Gottesdienstbesuch besonders bei den Parteigenossen, aber auch in der gesamten Arbeiterschaft weitgehend außer Gebrauch gekommen. Statistische Daten, die den Rückgang von Gottesdienstbesuch, Taufen und kirchlichen Trauungen bestätigten, feierte die Parteipublizistik nicht nur als Triumph von Sittlichkeit und Fortschritt, sondern auch als Erfolg sozialdemokratischer Agitation.602 Derartige Kundgebungen betrafen allerdings häufig Berlin, eine Stadt, die mit einer besonders niedrigen Teilnahme seiner Bevölkerung am kirchlichen Leben eher die Ausnahme denn die Regel darstellte. Nicht nur den Sozialdemokraten, sondern auch ihren kirchlichen Kritikern erschien die fortschreitende Distanzierung der Getauften von der gelebten Kirchlichkeit wie ein unabwendbarer, ja, geradezu naturgesetzlicher Prozess, der von kirchlicher Seite als existentielle Bedrohung erlebt wurde: »Was jedoch am meisten betrüben und beunruhigen muß, das ist eben die Ausbreitung des Unglaubens auf die unteren Klassen, während er in früheren Zeiten stets auf die oberen, gebildeten Stände beschränkt, das eigentliche Volk aber unberührt von ihm geblieben war. Und zwar ist es durchgehends nicht der halbe, gemäßigte, mit einem größeren oder geringeren Reste von Glauben versetzte Unglaube, der auf diesem Bo601 Emmerich, Lebensläufe, S.279f. (Autobiographie Rehbein); ebd., S.284 (Autobiographie Reimes, allerdings noch »christlich-sozialistisch«); Loreck, S.145-58 (Sammeldarstellung, vgl. zur zeitlichen Einordnung der Autobiographien ebd., S.221); Reuter, S. 17-29, 39-41 (Sammeldarstellung). 602 Chemnitzer Freie Presse 14.6.1872 Nr. 138 S.3; Neuer Social-Demokrat 12.2.1875 Nr.19 S.lf. (Rückgang kirchlicher Eheschließungen und Taufen in Berlin infolge der Zivilstandsgesetzgebung); Volksstaat 17.12.1875 Nr.146 S.2 (Berlin); Neuer Social-Demokrat 24.12.1875 2.Beilage zu Nr. 152 S.1; ebd. 24.3.1876 Nr.35 S.l; Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 5.4.1876 Nr.79 S.l (Leitartikel »Der große Kirchenstrike«); Volkswille 14.5.1876 Nr.15 S.57f. (kirchliche Klage, daß in Stuttgart wegen der Verbreitung der sozialistischen »Süddeutschen Volksstimme« die kirchliche Traurate auf 50% gesunken sei); Volkswille 4.8.1876 Nr.36 S.3 (Schlussfolgerung aus den Zahlen für Berlin: »Die Religion ist also endlich - im wirklichen, entschiedenen und rapiden Rückgange!«); Chemnitzer Raketen 8.10.1876 Nr.41 S.lf. (Schwacher Kirchenbesuch in Chemnitz durch nur 5% der Parochialangehörigen macht den neuen Kirchbau überflüssig); Vorwärts 11.10.1876 Nr.5 S.3 (Wiedergabe von Klagen der Sächsischen Landessynode angesichts der Kirchenstatistik: Der Kirchenbesuch sei gut nur auf »entlegenen Bauerndörfern« und bei Frauen, schlecht dagegen in Städten, bei »gebildeten Ständen«, Lehrern, Hand- und Fabrikarbeitern und bei Sozialdemokraten, welche die Kirchgänger verspotten würden. Replik: kein Spott, sondern nur Mitleid. Die Ausrottung des Kirchenglaubens ist für die Partei eine vornehme, mit Erfolg durchgeführte Aufgabe); Votksbhtttfir das Herzogthum Altenburg 30.1.1878 Nr.9 S.3 (Rede Mosts bei einer Kirchenaustrittsversammlung, in der er auf die niedrigen Kirchenbesuchszahlen für Berlin hinweist); Neue Zeit 3/1885 S.284 (Kirchlichkeit heutzutage nur noch aus Gewohnheit).

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den vorkommt, sondern die radicale, die atheistische und materialistische Denkweise; [...]. Dies alles gilt freilich zunächst nur von den Städten, besonders den größeren Städten; aber diese sind es nun einmal, die ›an der Spitze der Civilisation marchiren‹ und auf die Richtung der Gesammtbewegung des Nationalgeistes überwiegenden Einfluß üben; und daß das platte Land allgemach nachkommt, dafür wird schon durch eine massenhafte populäre Literatur hinlänglich gesorgt, durch Blätter wie die ›Gartenlaube‹ und ähnliche Pioniere der Socialdemokratie, die [...] schon bis in die entlegensten Dörfer vorgedrungen sind, ››603 Den Rückgang individueller kirchlicher Loyalität betrachtete schon die zeitgenössische Kritik zu Recht in Wechselwirkung mit dem Macht- und Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen in Staat und Gesellschaft. Die Sozialdemokratie verstand sich in dieser Entwicklung als »Partei der M o dernisierer«. In Programmdiskussion und Agitation erhob sie die Forderungen nach der Trennung von Kirche und Staat bzw. von Schule und Kirche. Die radikale Zielperspektive einer privatrechtlichen Verfassung der Kirchen war allerdings politisch nicht mehrheitsfähig. Die polizeistaatliche Durchsetzung der die Trennungsforderungen partiell verwirklichenden Kulturkampfpolitik stieß zudem in der Sozialdemokratie auf grundsätzliche Bedenken, und schließlich erlaubte die einerseits aufgezwungene und andererseits durch das Abgrenzungsverhalten gerade gegenüber den Liberalen selbst geförderte »negative Integration« keine relevante Mitgestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses durch die Sozialdemokratie. »Säkularisierung« auf dieser Ebene wurde von den Arbeiterparteien durch die Teilhabe an den gesellschaftlichen Modernisierungsdiskursen zumindest aber mittelbar gestützt und gefordert.

Entchristlichung und Religionsverlust Mit dem individuellen und dem politisch-gesellschaftlichen Rückgang kirchlichen Einflusses verband sich häufig ein Verlust an normativer Bindungskraft der christlichen Religion, der unter den Begriff der »Entchristlichung« gefasst sei. Diese begriffliche Scheidung dient im Folgenden nicht der Beschreibung einer über die Entkirchlichung hinausgehenden Stufe im Säkularisierungsprozess, sondern vielmehr der analytischen Strukturierung. Sie unterstreicht die mögliche Unabhängigkeit von »Entkirchlichung« und »Entchristlichung« in der lebensweltlichen Konkretion: Habituelle häufige Gottesdienstteilnahme und religionsunabhängige Wertfindung schließen sich ebensowenig aus wie Kirchenabstinenz und Orientierung an einem christlichen Wertekanon. Die Lösung normenorientierter Auffassungen von durch die christlichen Kirchen definierten Werthierarchien ist ebensowenig wie der Rückgang des 603 Cotuordia 33/1874 S.133. Vgl. zum Bedrohungssyndrom und zum Zukunftspessimismus der evangelischen Pfarrerschaft in den 1870er und 1880er Jahren auch Janz, S.68, 320 u.ö..

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Gottesdienstbesuches ein erst im 19. Jahrhundert zu beobachtendes Phänomen. Womöglich kann jedoch von einer Beschleunigungsphase des Wertewandels im Sinne einer »secularization of the european mind in the nineteenth century«604 gesprochen werden, an der auch das sozialdemokratische Milieu in Deutschland partizipierte. Die sich an einer relativ starren christlichen Morallehre orientierenden Kirchen wurden als Normenvermittler von neuen, innerweltlichen Agenturen der Wertorientierung zurückgedrängt. Staatliche Bürokratien, die gegen kirchliche Feiertage und das (katholische) Wallfahrtswesen mit dem Argument ökonomischer Notwendigkeiten (Verhinderung von Produktionsausfällen) vorgingen, setzten ein kapitalistisches Arbeitsethos vor die Forderung der Kirchen nach einer Vita religiosa.605 Die Pflichtvolksschule vermittelte zunehmend ein politisch geleitetes Weltbild, in dem der Staat, seine monarchisch-bürokratische Verfassung, öffentliche Werte und disziplinierter Gemeinsinn stärker als das religiöse Sittengesetz den mentalen Ordnungsrahmen darstellten.606 Damit trat neben die religiöse eine säkulare, politische Herrschaftslegitimation. Schule, nichtkirchliches Vereinswesen und Massenpublizistik verstanden sich zudem immer mehr als Vermittlungsinstanzen nicht religiös legitimierter Bildung, die nicht nur dem Wissenserwerb, sondern auch der Wertorientierung diente und die sich zugunsten des alleinigen Maßstabs der Wissenschaftlichkeit von den durch die Theologie gesetzten Tabus löste (exemplarisch nachvollziehbar an den Kontroversen um die darwinistische Abstammungslehre). In der Lebenspraxis entkoppelten sich kirchlich gesetztes Sittlichkeitsideal und gelebtes moralisches Verhalten. Die steigende Anzahl unehelicher Kinder, für viele Geistliche das Symbol schlechthin für den schleichenden »Sittenverfall«, steht ebenso für die lebensweltliche Implantierung neuer, von kirchlichen Normsetzungen unabhängiger Auffassungen zu Ehe, Familie und Sexualität, wie die von Kirchenvertretern attackierte Konsumorientierung der unterbürgerlichen Schichten für eine Aufweichung christlicher tradierter Auffassungen zur in der christlichen Tugendlehre idealisierten »Armut« und zum »Reichtum«.607 604 Chadwick (Zitat Titel); zur Trennung von »Religon« und »Moral« ebd., S.229-41. 605 Sperber, Catholicism, S.21f. (erste Jahrhunderthälfte). Vgl. Sozialdemokrat 13.2.1885 Nr.8 S.2: In einem Punkt - der Beschränkung kirchlicher Feiertage - gehe es wenigstens in dieser reaktionären Zeit voran, eine Beschränkung, welche die Sozialdemokratie nicht »wegen des damit verbundenen wirtschaftlichen Profits«, sondern wegen der »Nothwendigkeit einer rationellen Regulierung der Arbeitszeit« begrüße. 606 Blessing, Staat, S.265-69 (Zusammenfassung dieser Studie, die den mentalen Wandel des 19. Jahrhunderts weitgehend als »Verweltlichung« versteht und der Volksschule bei der Vermittlung eines primär politischen bzw. nationalen Weltbildes eine herausragende Stellung einräumt). 607 Zum Anstieg illegitimer Geburten Fasst, S.144f; Sperber, Catholicism, S.17. Allerdings betonen diese Autoren, daß die religiöse Erneuerung nach 1848 durchaus Erfolge bei einer »Remoralisierung« in der Frage der illegitimen Geburten aufweisen konnte; entsprechend auch Blessing, Reform, S.116. Zur Konsumorientierung und dem neuen Moralbegriff bereits bei den Protoindustrialisierten der 1840er Jahre Phayer, bes. S.106-18.

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Diese Transformationsprozesse deuten auf einen erheblichen Verlust religiöser Deutungskultur hin. Die Überzeugung, daß das »religiöse Zeitalter« seinem Ende entgegengehe, einte große Teile der radikalen publizistischen Religionskritik in Deutschland zwischen 1830 und 1900, wenn auch manche ihrer Vertreter eine neue, achristliche Religiosität proklamierten. Die radikale ReHgionskritik stieß im gebildeten Bürgertum und - zeitlich versetzt - bei vielen Arbeitern, die am religionskritischen Diskurs der sozialdemokratischen Arbeiterpartei(en) partizipierten, auf erhebliche Resonanz. Religionsverlust als »Transzendenzverlust« äußerte sich im sozialdemokratischen Milieu jedoch nicht nur in der intellektuellen Rezeption kirchen- und religionskritischer Theorie. Zum einen machen gerade die frühen Arbeiterautobiographien deutlich, daß der Lektüre der einschlägigen Parteipublizistik häufig negative Alltagserfahrungen mit Kirchenvertretern vorausgingen, diese Lektüre also eines lebensweltlichen Fundaments bedurfte. Zum anderen kann von »Transzendenzverlust« ebenso im Blick auf eine »Säkularisierung von Mentalitäten« gesprochen werden, wie sie etwa in einer sich verweltlichenden Feiertagskultur zum Ausdruck kam.608 Will man den »Religionsverlust« hingegen unter Zugrundelegung eines funktionalistischen Religionsbegriffes fassen, lassen sich die neuen Agenturen der Wertorientierung - Staat und Nation, Schule, Bildung und Wissenschaft, Ökonomie, politische und soziokulturelle Gruppen und Milieus - auch als Funktionsträger beschreiben, die in der Moderne die vormals von der Religion ausgeübten Funktionen übernehmen. Zur Angstbewältigung etwa tragen in der Moderne verschiedene Faktoren neben bzw. anstelle der Religion bei: wissenschaftliche Deutungen von Naturereignissen, aber auch staatliche soziale Sicherungssysteme, die nicht nur die Restbestände kirchlicher Armenfürsorge, sondern langfristig ebenso das Gefühl ständiger Bedrohung der materiellen Existenz verdrängen. Darüber hinaus legitimieren sich Gemeinschaftsbildung und soziale Integration immer stärker über nicht primär religiös bestimmte Identitätsbildner wie nationale Zugehörigkeit oder politische Ideologie. Auch der Protest gegen als ungerecht erfahrene Gesellschaftszustände beruft sich in der modernen säkularen Gesellschaft eher auf natur- und menschenrechtliche Postulate und politische Programme denn auf religiöse Begründungen. 609 Sozialdemokratische Partei und parteinahes Milieu drängten auch diesen Säkularisierungsprozess in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in vielfa608 Vgl. zum Wandel der Feiertagskultur Blessing, Fest, S.365-79. Vgl. zum säkularisierten »politischen Fest« auch Düding/Friedemann/Münch (Beiträge u.a. zu Lassalle-, 18.März-, 1 .Mai- und Gewerkschaftsfesten der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung). 609 Von einem Übergang der »Functionen« der Religion auf Staat, Schule und private Träger sprach auch schon explizit der Philosoph, demokratische Publizist und bisweilen wegen seiner Nähe zur Sozialdemokratie als erster »ethischer Sozialist« bezeichnete Schriftsteller Friedrich Albert Lange (1828-1875): Lange, S.511.

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eher Hinsicht voran, wie die Rekonstruktion ihres religionskritischen Diskurses verdeutlicht haben mag. Ob bei der Entkoppelung von ethischen Verhaltensnormen und kirchlichem Sittengesetz, der innerweltlichen Herrschaftslegitimation, der Definition von Lebenszielen (»Wohlstand« und Konsum) oder der Popularisierung wissenschaftlicher Religionskritik; in der Wechselwirkung von Partei und Milieu entstand eine »Säkularisierungskultur«, die kollektive Identitäten nachhaltig prägte. Die sozialdemokratische Säkularisierungskultur beanspruchte einen Modernisierungsvorsprung gegenüber den anderen politischen Lagern und soziokulturellen Milieus, sie bot aber auch Alternativmodelle an wie etwa im Rahmen der säkularisierten Feiertagskultur das Parteifest gegenüber dem Nationalfest. Die Arbeiterparteien waren zudem selbst Teil des Säkularisierungsprozesses, an dem sie in mancher Hinsicht eher passiv partizipierten: Die Säkularisierung von Politik, Gesellschaft, Kultur und Alltagspraxis im beschriebenen Sinne war bei Gründung des ADAV als erster deutscher Arbeiterpartei im Jahre 1863 bereits vielfältig gelebte gesellschaftliche Wirklichkeit, und in gewisser Weise waren die modernen politischen Parteien auch ein Produkt dieses Prozesses.610 Doch es gab auch gegenläufige Entwicklungen.

Kirchlich-religiöse Persistenz und Regeneration 1875 waren ca. 98% der preußischen Staatsbürger Mitglied der evangelischen oder der katholischen Kirche. An dieser in allen deutschen Staaten ähnlichen Quote änderte sich kaum etwas bis zum Jahre 1890.611 Damit ist zwar keinerlei Aussage über den Grad der aktiven Teilnahme der Kirchenmitglieder am gemeindlichen Leben getroffen. Wohl aber belegen diese Zahlen die Präsenz der Kirchen im öffentlichen Raum eines Gemeinwesens, das sich nach wie vor als volkskirchlich bestimmt verstand und den Kirchenaustritt negativ sanktionierte.612 Selbst in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion hatten keineswegs alle Parlamentarier die Kirchenmitgliedschaft abgelegt, wie in der freireligiösen Presse noch 1890 moniert werden konnte.613 610 Die Entwicklung der modernen Parteien aus den »Religionsparteien«, die ihrerseits Folgeerscheinungen der Konfessionalisierung seit dem 16. Jahrhundert darstellen, wird deutlich in Beyme, S.697-701. Die Dialektik von »Säkularisierung« und »Religion in der Moderne« zeigt sich allerdings an der dauerhaften konfessionellen Prägung des modernen deutschen Parteiwesens über die Zentrumspartei hinaus. 611 Bester, Religion, S.77 (für 1875); vgl. StatistischesJahrbuch, S.9 (für 1890). 612 S. hierzu auch die Klage des Heidenheimer Korrespondenten des »Sozialdemokrat«, daß Parteigenossen, die mit der Kirche längst innerlich gebrochen hätten, gegen ihren Willen die äußere Form der Kirchenmitgliedschaft beibehalten würden, um ihre »[...] Existenz nicht gleich von Anfang an zu untergraben.«: Sozialdemokrat 17.8.1882 Nr.34 S.4. 613 Sozialdemokrat 24.5.1890 Nr.21 S.3. V g l die - vielfach unscharfen, offensichtlich auf Eigenangaben der Abgeordneten beruhenden - Zuordnungen in Amtliches Reichstags-Handbuch von

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Zudem brach die aktive Teilnahme der getauften Christen am Gemeindeleben im Deutschland der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts keineswegs unterschiedslos ein: Katholische Christen besuchten häufiger den Gottesdienst als evangelische Christen, der Süden Deutschlands und das Land blieben kirchlicher als der Norden und die Städte. Doch auch für Schleswig-Holstein im evangelischen Norden meldete das der Schönfärberei unverdächtige sozialdemokratische »Hamburg-Altonaer Volksblatt« für das letzte Quartal 1874 noch eine Taufrate von 88% und eine kirchliche Traurate von 74% trotz Inkrafttreten der preußischen Zivilstandsgesetzgebung.614 Auch in den Städten konnte nur bei 10-20% der evangelischen Kirchenmitglieder von einer vollständigen Entfremdung gesprochen werden. Die Abendmahlsfrequenz stabilisierte sich hier in der zweiten Jahrhunderthälfte auf dem (allerdings niedrigen) Niveau von 10-30 Teilnahmen pro Jahr bei 100 Kirchenmitgliedern, und durch - in der sozialdemokratischen Presse heftig attackierte - Kirchbauprogramme sowie eine Intensivierung der seelsorgerlichen Betreuung gelang partiell eine Regenerierung städtisch-kirchlichen Lebens.615 O. Blaschke hat zuletzt das 19. Jahrhundert als »Zweites Konfessionelles Zeitalter« bezeichnet, eine Zuspitzung, die sicherlich anfechtbar ist.616 Für das protestantische Deutschland des 19. Jahrhunderts kann jedoch zumindest von zwei größeren Regenerationsphasen des kirchlichen Lebens gesprochen wer-

1895: Auer - katholisch; Bebel - religionslos; Birk - altkatholisch; Bios - ohne Angabe; Bock Dissident; Bruhns - evangelisch; Dietz - evangelisch; Dreesbach - freireligiös; Förster - evangelisch-lutherisch; Frohme - Dissident; Geyer - Dissident; Grillenbergcr - freireligiös; Harm - ohne Angabe; Heine - konfessionslos; Hickel - ohne Angabe; Jöst - ohne Angabe; Kunert - Atheist (1887 Austritt aus der Landeskirche); Liebknecht - ohne Angabe; Meister - lutherisch; Metzger konfessionslos; Molkenbuhr - ohne Angabe; Schippel - lutherisch; Schmidt (Frankfurt) - konfessionslos (Atheist); Schmidt (Sachsen) - Dissident; Schultze - evangelisch; Schumacher - Dissident; Schwartz - lutherisch; Seifert - Dissident; Singer - mosaisch; Stadthagen - mosaisch; Stolle - freireligiös; Tutzauer - Dissident; Ulrich - freireligiös; Vollmar - ohne Angabe; Wurm - mosaisch. Schröder, Parlamentarier, S.l 18 zufolge waren von den 35 sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag von 1890 mindestens 24 aus der Kirche ausgetreten, oder sie traten später aus; die übrigen aber behielten dauerhaft die Mitgliedschaft in einer christlichen Kirche bzw. einer jüdischen Gemeinde. 614 Hamburg-Altonaer Volksbiatt 22.2.1876 Nr.23 S.4. Vgl. die Klage über die breite Akzeptanz, die der schleswig-holsteinische Pietismus im Volk finde, in Vorwärts 3.9.1877 Nr. 107, S.3. 615 Janz, S.73f. (Neubaupolitik allerdings verstärkt erst seit 1890); Hölscher, Secularization, bes. S.278L Vgl. die sozialdemokratische Kritik an Kirchenneubaute η z.B. in Chemnitz: Chemnitzer Freie Presse 14.6.1872 Nr. 138 S.3;ebd. 18.9.1875 Nr.217 S.3 (Versammlungs beschluss des Chem­ nitzer »Städtischen Vereins« gegen einen projektierten Kirchenneubau, einvernehmlich von Liberalen und Sozialdemokraten); Chemnitzer Raketen 8.10.1876 Nr.41 S.1f. (polemisch: Angesichts des schwachen Kirchenbesuchs sei ein Chemnitzer Kirchenneubau überflüssig; kirchliche Räume seien besser für Volksversammlungen zu nutzen). 616 Blaschke, 19. Jahrhundert. Die Zuspitzung wird nachvollziehbar, wenn man die m.E. berechtigte scharfe Kritik Blaschkes an einer jahrzehntelang weitverbreiteten sozialgeschichtlichen Ignoranz gegenüber religiösen Phänomenen als ihren Auslöser in Rechnung stellt.

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den: zum einen zwischen 1820 und 1850 durch die pietistische Erweckung, zum anderen zwischen 1880 und 1895. Für die zweite, ländliche und städtische Gemeinden gleichermaßen erfassende Regenerationsphase spielte die kirchliche Mobilisierung des Kleinbürgertums eine herausragende Rolle. Der Katholizismus hingegen konnte die Kirchlichkeit mit der Bewegung der religiösen Erneuerung seit den 1830er, verstärkt seit den 1850er Jahren wieder beleben.617 In einigen beruflichen Milieus der Arbeiterschaft wie in Teilen des Bergbaus hatte sich ohnehin eine starke traditionale Religiosität erhalten.618 Doch vorzugsweise erfasste der kirchliche Wiederaufschwung die Landbevölkerung sowie das ländliche und das städtische Kleinbürgertum. Die christliche Festkultur prägte gerade hier noch bzw. wieder den Lebensrhythmus. 619 Besonders in den Städten entstanden um 10% aller Gemeindemitglieder erfassende Kerngemeinden kirchlicher Aktivisten, zu denen zuvor der Kirche entfremdete Bildungs- und Wirtschaftsbürger wieder zurückkamen. Den Sozialdemokraten galten diese Rückkehrer aus dem gehobenen Bürgertum als Kirchgänger aus Zweckmäßigkeit, getrieben hauptsächlich von einem antirevolutionären, antisozialdemokratischen Impetus. 620 Darüber hinaus verschwand auch ein teils christlich, teils »heidnisch« geprägter Volks- und Aberglauben nicht völlig aus der Alltagspraxis gerade unterbürgerlicher Schichten.621 Der Aufstieg der religionskritischen Sozialdemokratie schwächte nicht nur die Kirchlichkeit und nährte Bedrohungsängste in der Kirche. Der durch den Staat mit seinen Repressionsmöglichkeiten wie auch durch ein wachgerütteltes Bürgertum gestützte antisozialdemokratische Kurs stärkte kirchliche Selbstbehauptungskräfte und löste eine Welle publizistischen und sozialkaritativen Engagements aus. Der Nationalökonom Albert Schäffte (1831-1903), alles andere als ein unreflektierter »Sozialistenfresser«, konstatierte 1885: »Die Aussichten der Socialdemokratie mit dem Volksglauben aufzuräumen, sind [...] schlecht. Im solidarischen Interesse der Kirchen und der Staaten an der positiven Bekämpfung der Socialdemokratie liegt ein Antrieb zum Frieden zwischen den Kirchen und zwischen der katholischen Kirche und dem protestantischen Staat. Die Socialreform ist das Allen gemeinsame praktische Christenthum‹. [...] Die großen christlichen Kirchen leisten darin so Außerordentliches, daß auch an ihrem Werke die socialistische Revolution scheitern muß.«622 617 Evans, Religion, S.273 (kleinbürgerliche Prägung); Sperber, Catholicism, S.39-98 (»religious revival« des Katholizismus seit 1850); Hölscher, Weltgericht, S. 155f, 160f. (Protestantismus). Vgl. allgemein zur kirchlichen Persistenz auch Hölscher, Secularization, S.277-81. 618 Brepohl, bes. S.183f; Tenfetde, Sozialeeschichte, S.95f u.ö.. 619 Stambolis, Festkultur, S.246. 620 HöUcher/Männuh-Potenz, S.202; Höbcher, Secularization,, S.281 (Kerngemeinden). 621 Pkayer, S.144; Evans, Religion, S.268-70; Reuter, S.38f (zur Erwähnung von elterlichem Volks- und Aberglauben in Arbeiterautobiographien). 622 Schäße, SA105-09,Zitat S.106f.

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Die Volksschule als Sozialisationsinstanz für einen überwiegenden Teil von Basis und Führung der Arbeiterparteien fugte sich in dieses Konzept. Sie vermittelte eine traditionale religiöse Erziehung, die im Kaiserreich - antisozialistisch überbaut - noch gestärkt wurde. Die sozialdemokratischen Beobachter zeigten sich immer wieder erstaunt über »Die ›Kirchlichkeit‹ unserer Zeit«, wie sie sich in den öffentlichen Debatten über den Kulturkampf, die Marienerscheinungen in Marpingen und den christlichen Staatssozialismus niederschlage.623 Die Religwnsdbkurse der nichtsozialdemokratischen soziokulturellen Milieus, welche die öffentliche Debatte mitbeherrschten und die Alltagspraxis der Menschen mitprägten, waren in einem erheblichen Maße religiös orientierte Diskurse. Modernisierung von Religion Die partielle kirchlich-religiöse Persistenz und Regeneration sowie die Präsenz von Kirchen und christlicher Religion in den öffentlichen Debatten und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit waren auch jenen Transformationsprozessen geschuldet, denen Religion in der Moderne selbst unterlag. Nur die einem undialektischen Fortschrittsparadigma verpflichtete Identifizierung von Säkularisierung und Modernisierung versteht »Religion« und »Moderne« als statischen Gegensatz. Der Rückgang von Kirchlichkeit und Religiosität muss in dieser Perspektive als untrügliches Kennzeichen gesellschaftlicher Modernisierung erscheinen. Religion und Kirche sind jedoch keine statischen Größen, sondern unterliegen auch im 19. Jahrhundert Transformationsprozessen, die in den vorangehenden Kapiteln bereits anklangen. Dieser kirchlich-religiöse Wandel ist in der Forschung auch als »Modernisierung von Religion« bezeichnet worden. Die religiöse Erneuerung begann im Katholizismus in den 1820er bzw. 1830er Jahren, erlebte aber erst in den Jahrzehnten nach der Revolution von 1848/49 ihre eigentliche Hochphase. In der katholischen Kirche setzte sich der durch Zentralisierung und Romausrichtung, Verkirchlichung des Volksglaubens (Marienfrömmigkeit, Massenwallfahrten) und eine Synthese von Neodogmatismus, moralischem Rigorismus und Emotionalisierung der Glaubenshaltungen (Herz-Jesu-Frömmigkeit) gekennzeichnete Ultramontanismus durch. Diese neue »katholische Kirchenreligion« verband miteinander - teils widersprüchlich, teils auch symbiotisch - Modernisierung, Antimodernismus und eine Entlastungsfunktion angesichts der Umbrüche der Moderne. Der Katholizismus löste sich aus den überkommenen Strukturen staatlicher Dominanz, entwickelte als Teil einer sich pluralisierenden Gesellschaft eigene, mo623 Lindwurm.

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derne Organisations- und Kommunikationsstrukturen (Vereinswesen, Pressewesen, Parteiwesen) und griff in mancher Hinsicht den sozioökonomischen Wandel der Moderne auf (Sozialtheorie, Gesellen- und Arbeitervereine, Sozialpolitik der katholischen Zentrumspartei). Allerdings sind auch die dezidiert antimodernen Aspekte der ultramontanen »weißen Revolution« deutlich: im Bereich der Gesellschaftslehre ein Festhalten am ständestaatlichen Modell, das durch eine Verwerfung von Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus ideologisch überbaut wurde; im theologischen Bereich eine antiaufklärerische Restauration durch Neoscholastik und neue Kirchenfrömmigkeit. Doch kann z.B. selbst die scheinbar anachronistische Blüte der Marienverehrung multiperspektivisch interpretiert werden: als Verkirchlichung von Volksfrömmigkeit und Instrument der Sozialdisziplinierung einerseits, andererseits aber auch als unterbürgerlicher Protest gegen die kulturelle Fremdbestimmung kapitalistisch-bürokratischer Rationalität (deutlich etwa bei den Marienerscheinungen von Marpingen 1876) oder als sozialpsychologisches Entlastungsmoment zur Verkraftung der Umbrüche der Moderne. In dem Spannungsfeld zwischen Modernisierung, Antimodernismus und Reflex auf die Moderne ist das katholische Milieu zu verorten, für das die Jahre 1860-1890 die entscheidende Formations- und Stabilisierungsphase darstellten. In begrenzterem Umfang fasste auch im Protestantismus eine Erneuerungsbewegung seit Anfang der 1820er Jahre Fuß. Wie der Ultramontanismus setzten Neopietismus und Neoorthodoxie in der evangelischen Kirche auf eine kirchlich gelenkte Intensivierung religiösen Lebens (Bibel- und Missionsstunden, Konfirmation und Kindergottesdienste), auf antiaufklärerische restaurative Theologie und »Herzensfrömmigkeit«, auf moralischen Rigorismus und einen modernisierten Sozialkonservatismus (Johann Hinrich Wichern und die »Innere Mission«).624 Das evangelische Vereinswesen, das ebenso wie das katholische Vereinswesen einen »[...] wesentlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Modernisierung wie zur innerkirchlichen Partizipation der Laien« leistete, öffnete sich erst in den 1880er Jahren stärker den unterbürgerlichen Schichten.625 Von einem »protestantischen Milieu« kann allerdings kaum gesprochen werden. Der Protestantismus spaltete sich ungleich stärker als der Katholizismus in viele Richtungen auf Neben konservativen Modernisierern und einer kirchenpolitischen Mitte bemühte sich vor allem der kirchliche Libe624 Zur Erweckungsbewegung und »Gemeinschaftsbewegung« (seit den 1880er Jahren) als Reaktionen auf die Säkularisierung: Lehmann, Neupietismus. 625 Kaiser, Verbände, S.187-209, Zitat S.209, Zur eher seltenen frühen Einbeziehung unterbürgerlicher Schichten in das evangelische Vereinswesen vgl. den Korrespondenzbericht aus Penig bei Chemnitz von 1873: Beim Fest des evangelischen Gustv-Adolf-Vereins hätte »[...] mancher Arbeiter einen Kranz oder eine Guirlande herausgehängt [...]. Es giebt wohl Sozialdemokraten hier, aber ich sage es offen heraus, daß sie sich nur so nennen; [...].« Volksstaat 17.8.1873 Nr.73 S.3. Arbeiter konnten schon vor den 1880er Jahren protestantischen Vereinen nahestehen, wenn auch diese Vereine sich nicht berufs- bzw. »klassenspezifisch« an sie wandten.

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ralismus um eine - liberal geprägte - Modernisierung von Kirche und christlicher Religion: durch eine positive Einstellung zur Moderne mit ihren kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, durch eine rationalistische, historisch-kritische und entdogmatisierte Theologie, durch einen »Kulturprotestantismus«, der allerdings mitunter kaum mehr kirchlich verankert war und sich zuweilen nur unscharf von Formen achristlicher bürgerlicher Religion abgrenzen ließ. Entkirchlichung bedeutete im Protestantismus keineswegs immer Religionsverlust. Das unterstreichen einerseits die Tendenzen zu einer Privatisierung der Religion (Schwerpunkt der religiösen Praxis auf der christlichen Kindererziehung, Tisch- und Nachtgebeten, privater Bibellektüre und Hausandachten) 626 , andererseits die Entwicklung einer öffentlichen Nationalreligion, die gegebenenfalls auch ohne kirchliches Fundament auskam. Den sozialdemokratischen Religionsdiskurs durchziehen Unverständnis und Ablehnung gegenüber diesen »Modernisierungen« von Religion, zugleich aber auch die Furcht vor letzteren wie ein roter Faden. Das Fortschrittsparadigma des sozialdemokratischen Diskurses ließ keine Idee konservativer Modernisierung zu; Religion und Moderne konnten nur als Gegensatz gedacht und erlebt werden, und der Niedergang erschien als einzig mögliche Perspektive für Religion in der Moderne. Selbst Transformationsprozesse von Religion, wie sie im kirchlichen Liberalismus und im Kulturprotestantismus stattfanden, führten kaum zur Infragestellung dieses monochromen Bildes, das allerdings durch die strukturkonservative, antirevolutionäre und antisozialistische Akzentuierung nicht weniger kirchlich-religiöser Modernisierungen gerechtfertigt erschien. Das sozialdemokratische Bedrohungsgefühl resultierte aber nicht nur aus dieser Stoßrichtung kirchlich-religiöser Modernisierung, sondern auch aus der realen Attraktivität, die traditionelle und modernisierte Kirchlichkeit und Religiosität immer noch bzw. wieder ausüben konnten. Die Attraktivität der nationalreligiösen Kriegervereine für proletarische Unterschichten sei als ein Beispiel unter vielen erinnert. Auch die aktiven Mitglieder der Arbeiterparteien waren keineswegs alle den Kirchen und der christlichen Religion völlig entfremdet. Lebte selbst unter bürgerlichen Parteiintellektuellen eine »Nostalgie für die Religion«627 fort, wie sie in Rudolf Lavants Gedicht »Pfingsten« zum Ausdruck kommt: »Und doch, wenn Pfingsten naht mit linden Lüften, In denen wohlig sich ein Falter wiegt, Wenn jungen, zarten Birkenlaubes Düften In Haus und Flur wie mildes Trösten liegt, Muß ich des alten Bibelbuchs gedenken, 626 Habermas, S.128; Höischer, Secularization, S.282, 284. 627 Hobsbawm, Blütezeit, S.343.

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Das i m m e r w i e d e r m i r in's Auge stach, U n d m i c h i m Geist in j e n e s Bild versenken, Das stark u n d ernst zur Knabenseele sprach« 6 2 8 ,

handelte es sich beim »einfachen Parteivolk« oft um mehr als bloße Nostalgie. Die in der sozialdemokratischen Agitation proklamierte Einschätzung, alle Genossen seien bereits religionslos, überzeugt viel weniger als Hinweise auf eine persistente Verwurzelung des christlichen Glaubens in einem nicht unerheblichen Segment des sozialdemokratischen Milieus. Am 1. Januar 1870 vermeldete ein Brief aus Lößnitz im sächsischen Industrieland zwischen Chemnitz und Zwickau Wilhelm Liebknecht die Gründung eines »Demokratischen Arbeitervereins«:»[...] Gott helfe, und stehe uns bei, um das große Werk zu vollenden [...].« Einen Monat später beklagte sich der »Vice-Vorsteher« dieses Vereins nachdrücklich über die antichristliche Propaganda des »Volksstaates«; »[...] wollen wir Gott verwerfen dann sein wir Elend genug.«629 Aus Korrespondenzberichten der sozialdemokratischen Presse geht hervor, daß eingeschriebene Parteimitglieder bei Kirchenvorstandswahlen in evangelischen Kirchengemeinden kandidierten, und das bisweilen mit Erfolg, wenn auch die Teilnahme an diesen Wahlen innerparteilich umstritten war.630 Das sozialdemokratische Milieu löste sich zudem nur langsam von der traditionellen jahres- und lebenszyklischen religiösen Alltagspraxis. »Der fromme Singsangs- und ebenso der Kindstauf- und Gevatterschaftsunfug nimmt wieder einmal recht überhand, so daß ihm energisch entgegengetreten werden muß, wenn die gerade jetzt recht zahlreich in unseren Reihen vertretene jüngere Generation durch solche Beispiele nicht korrumpiert werden soll.«, mahnte der Geraer Korrespondent des »Sozialdemokrat« noch 1886 anlässlich der 628 Wahrerjacob 53/1888, S.417. Vgl. zu Lavant, der eigentlich Richard Cramer (1844-1915) hieß und zu den bekanntesten Arbeiterdichtern gehörte, Mütuhow, Arbeiterbewegung, S.335-46. 629 Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.283,290. Zu sozialdemokratienahen Arbeitern, die »theilweise noch in den kirchlichen Dogmen befangen« seien, s. Äußerungen in Protokoll, 1871, S.124 (Zitat); Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 12.3.1878 Nr.60 S.l; u.ö.. 630 Chemnitzer Freie Presse 13.7.1875 Nr.159 S.2 (über den Sozialdemokraten Bochmann aus Niederrabenstein bei Chemnitz, Kirchenvorstandsmitglied und Vertrauensmann der Sozialdemokratie für die Region); Hamburg-Altonaer Volksblatt 12.3.1876 Nr.31 S 3 (Sieg der sozialdemokratischen Kandidaten gegen die Kandidaten aus »Staatsbürger-Verein«, »Handelsverein«, Verein »Commune« und »Bürgerverein des 4. Quartiers« bei den Kirchenvorstandswahlen in Wandsbeck); Vorwärts 21.12.1877 Nr.149 S.4 (die Redaktion des »Vorwärts« würde sich über Kirchenaustrittsmeldungen aus Wandsbeck und Ottensen mehr freuen als über die eingegangenen Meldungen über Siege bei den Kirchenvorstandswahlen); ebd. 27.1.1878 Nr.l1 S.4 (erneute scharfe »Briefkasten«-Notiz der Redaktion gegen einen Einsender: Gläubige Christen können auch von außerhalb der Kirche zur Vernunft gebracht werden; ein Einsender hatte offensichtlich innerkirchliche Reformen durch Sozialdemokraten in Kirchenvorständen befürwortet); Chemnitzer Freie Presse 17.4.1878 Nr.90 S.3 (Beschluss des Gablenzer Arbeiter-Wahlvereins, sich in diesem Jahr erstmals nicht an der Kirchenvorstandswähl zu beteiligen, sondern für den Kirchenaustritt zu agitieren).

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kirchlichen Bestattung zweier Parteigenossen. Bei Frauen und Kindern könne man diese »Schwachheit entschuldigen«, nicht aber bei gestandenen Sozialdemokraten. Parteimitglieder hatten als Gesangsverein bei der Trauerfeier »Jesus meine Zuversicht« gesungen.631

Katholiken, Landbevölkerung und Frauen: »Grenzen der Klassenbildung«? In den frühen sozialdemokratischen Parteien Deutschlands blieb es bis 1890 (und darüber hinaus) umstritten, ob man sich auf die sozioökonomische Programmatik konzentrieren oder einen ganzheitlichen Gestaltungsanspruch auf sämtliche gesellschaftlichen Handlungsfelder erheben solle. Größere Einigkeit schien zumindest den Parteinamen nach in der Frage zu bestehen, wen der »Allgemeine Deutsche Arbeiter-Verein« (1863), die »Sozialdemokratische Arbeiter-Partei« (1869) und die vereinigte »Sozialistische Arbeiter-Partei« (1875) politisch zu vertreten hätten und wen sie als Mitglieder und Wähler mobilisieren sollten. Die Formierung einer lohnabhängigen Arbeiterschaft ermöglichte und begleitete die Durchsetzung kapitalistischer Marktökonomie im Industrialisierungsprozess, dessen Beschleunigungsphase (»Industrielle Revolution«) in Deutschland um 1870 einen vorläufigen Abschluss fand. Die Vielschichtigkeit dieses Entstehungsprozesses der »Arbeiterklasse« ist in den empirischen Studien der letzten Jahrzehnte immer wieder hervorgehoben worden. Der Klassenbegriffselbst ist dabei nicht unumstritten geblieben.632 Auf sozioökonomischer Ebene wurde die »Vielfalt der Arbeiterexistenz« - Gesinde, Landarbeiter, Heimarbeiter, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter - deutlich. Lohnarbeit als Kriterium für die Zugehörigkeit zur »Arbeiterklasse« setzte sich hier keineswegs einheitlich und vollständig durch.633 Zudem wird heute noch stärker und differenzierter als früher betont, daß »Arbeiterklasse« zu einem politischen Faktor erst durch Formen sozialer und kultureller Vergesellschaftung wird, also durch die Herausbildung eines proletarischen Erfahrungs- und Lebenszusarnmenhanges, einer gemeinschaftlichen »alternativen Kultur« und einer eigenen diskursiven Ebene.634 Doch selbst so mancher differenzierte Begriff von »Arbeiterklasse(n)« stößt noch auf argumentative Aporien: Denn als Angehörige einer ökonomisch, sozial, politisch und kulturell »voll entwickelten« Arbeiterklasse können de631 Sozialdemokrat 22.7.1886 Nr.30 S.3f. 632 Vgl. Gall (statt von »Klassenbildung« ist hier die Rede von einem Wandel der »geburtsständischen« zur »berufsständischen Gesellschaft«). 633 Skizziert in Kocka, Lohnarbeit, S.73-123 (Zitat S.71). Vgl. die breite Darstellung dieser Vielfalt in ders., Arbeitsverhältnisse. 634 Vgl. die hier zugrundegelegte, an Karl Marx und Max Weber orientierte Skizze analytischer Ebenen des Klassenbildungsprozesses in Kocka, Lohnarbeit, S.23-30.

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finitionsimmanent oft nur jene »Arbeiter« erscheinen, die sich der in Parteien und Gewerkschaften organisierten sozialistischen Bewegung anschlossen.635 »Arbeiterklasse« gab es aber auch außerhalb von sozialdemokratischen Organisationen und sozialdemokratischem Milieu, am deutlichsten sicherlich im katholischen Milieu, dessen Arbeiter trotz anderer Formen kultureller und politischer Vergesellschaftung nicht mit einem »Defizit an Klassenhaftigkeit« gegenüber den sozialistisch orientierten Arbeitern behaftet waren. Die Sozialdemokratie musste jedenfalls darum bemüht sein, Arbeiter aus konkurrierenden Milieus für sich zu gewinnen. Auf die größten Widerstände und damit an die Grenze »sozialistischer Klassenbildung« stieß die Agitation der Arbeiterpartei(en) wohl in ausgesprochen katholischen Gegenden. So galten in der innerparteilichen Diskussion Bayern, Schlesien und das Rheinland generell als schwieriges Gelände. Niederschmetternde Korrespondenzberichte über die jedwedes Fußfassen der Sozialdemokratie verhindernde Vormachtstellung des Ultramontanismus erreichten die Redaktionen der Parteipresse in den 1870er Jahren aus katholisch geprägten Städten wie Saarbrücken, Würzburg, Trier, Bochum und Münster. 636 Selbst einem profilierten Parteigenossen wie Joseph Dietzgen gelang es trotz mehrerer Anläufe nicht, den Zentrumskandidaten seines rheinischen Wahlkreises (Siegkreis) bei den Reichstagswahlen auch nur einen minimalen Stimmenanteil abzuringen: 1877 erhielt Dietzgen eine, 1881 zwei Stimmen im Wahlkreis. Noch 1890 musste sich hier die Sozialdemokratie mit 0,5% der Stimmen zufriedengeben, während das Zentrum 76,2% verbuchen konnte. 637 . Auch die zeitgenössische evangelische Publizistik vermerkte selbstkritisch, daß eine Region desto sozialdemokratischer wähle, je protestantischer sie sei.638 Ein Blick auf das Wahlverhalten bei den Reichstagswahlen bestätigt diese Einschätzung: 635 Die konzentrierte Studie ebd., die die Struktur von Kockas mehrbändiger Darstellung der Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland zwischen 1800 und 1875 vorgibt, entgeht m.E. nicht völlig dieser Gefahr, wenn sie als letzte analytische Ebene des KlassenbegrifFs »die Entstehung der Arbeiterbewegung als Teil des Klassenbildungsprozesses« anspricht (S. 163-98) und gleichsam als Schlusspunkt die Entstehung der sozialdemokratischen Arbeiterparteien 1863 bis 1875 setzt 636 Volksstaat 23.1.1874 Nr.9 S.3f. (Korrespondenzbericht Würzburg); Vorwärts 10.1.1877 Nr.4 S.4 (Korrespondenzbericht Münster); ebd. 27.5.1877 Nr.61 S.4 (Korrespondenzbericht Trier);ebd. 4.11.1877 Nr.130S.3f. (Korrespondenzbericht Saarbrücken);ebd. 20.3.1878 Nr.33 S.3 (Korrespondenzbericht Bochum). 637 Zahlen nach Huck, S.88f. Dazu der Kommentar ebd., S.91: »Vor allem die starke konfessionelle Einbindung der Arbeiter und die Aktivität der katholischen Vereine, darunter des seit den 1850er Jahren bestehenden Siegburger Gesellenvereins, wirkten sich hemmend auf den Erfolg der sozialdemokratischen Agitation aus. Das Zentrum, dem die Unterstützung der Geistlichkeit zu Gebote stand, vermochte gerade auch die breiten katholischen Unterschichten anzusprechen und festzuhalten.« 638 Todt, S.456. Vgl. Wähler 4.6.1890 Nr.90 S.l (Stöcker räumt vordem »Evangelisch-sozialen Kongress« die sozialdemokratische Ausbreitung gerade in evangelisch dominierten Gebieten ein).

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So erreichten die Sozialdemokraten 1871 in Wahlbezirken mit vorwiegend protestantischer Bevölkerung 5,7%, in jenen mit vorwiegend katholischer Bevölkerung hingegen nur 1,8% der Wahlstimmen. 1887 waren es in vorwiegend protestantischen Wahlbezirken 16,1%, in vorwiegend katholischen nur 2,5% der Stimmen. »Thus working dass formation was constructed along confessional lines. [...]«639 Die Schwierigkeiten der Arbeiterpartei(en), in ein soziokulturelles Milieu einzubrechen, das sich primär konfessionell, d.h. über eine religiöse und nicht über eine sozioökonomische Zugehörigkeit definierte, führte innerparteilich zu einem erheblichen Klärungsbedarf, der im sozialdemokratischen Religionsdiskurs seinen Niederschlag fand. Sozialdemokratische Versuche einer Analyse des Zentrumserfolges bei katholischen Arbeitern setzten immer wieder religionskritisch an, insbesondere mit Hinweis auf die elendsentlastende Jenseitsvertröstung im Katholizismus. Differenzierter und zumeist ohne die religionskritische Zuspitzung dieser Argumentation hat auch die neuere Katholizismusforschung auf die herrschaftsstabilisierenden Momente der ultramontanen religiösen Erneuerung und die sozialpsychologische Funktion religiös-konfessioneller Beheimatung angesichts der Umbrüche der Moderne verwiesen.640 aß katholische Regionen zögerlicher industrialisierten als protestantische641 , nährte in der Parteipublizistik kaum Hoffnungen auf einen Einbruch des katholischen Milieus mit fortschreitender Industrialisierung, reichte das katholische Milieu doch schon weit in die Arbeiterschaft hinein. Je offener sich die Parteiaktivisten dem eigenen Misserfolg stellten, desto mehr ging ihre Analyse über das religionskritische Schema hinaus. So fiel der Blick auf Übereinstimmungen von katholischen und sozialdemokratischen Elementen kollektiver Identität (soziales Engagement, »Volksnähe«, Antikapitalismus, Antiliberalismus, Antimilitarismus). Vor allem aber entging selbstkritischen Beobachtern in der Partei eben doch nicht die Attraktivität des »modernen Katholizismus«, des katholischen Presse- und Vereinswesens und des katholischen Milieus als Entstehungsort »moderner« kollektiver Identitäten. 1876 bemerkte die »Chemnitzer Freie Presse« zum katholischen Vereinswesen: »Es ist notorisch - so unangenehm und überraschend es Manchem klingen mag - daß in den ultramontanen Volks-, Jünglings-, Gesellen-, Männervereinen und wie 639 Ritter/Niehuss,S.99f. (Zahlen); Spohn, Religion, S.112 (Zitat). 640 Akzent auf den sozialdisziplinierenden und herrschaftsstabilisierenden Momenten der katholischen Frömmigkeit z.B. in zwei Studien über die im 19. Jahrhundert kirchlicherscits als Massenereignis organisierte Trierer »Rockwallfahrt«: Schieder, Kirche; Korff, Formierung. Zur sozialpsychologischen Entlastungsfunktion des katholischen Milieus für die katholische Arbeiterschaft im Industrialisierungsprozess zusammenfassend Mallmann, Ultramontanismus, S.78-84; dieses Interpretationsmodell prägend auch in der großen Studie von Btackboum, Marienerscheinungen, über Marpingen. 641 Vgl Baumeister( S . 9 6 - 1 0 1Berufsstatistik für 1895 bzw. 1907) ;Nipperdey, Geschichte 18661918 Bd.t, S.449-51; Spohn, Religion, S.l 12; Ritter/Tertfelde, S.71f.

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derartige ,fromme‹ Verbindungen sonst noch heißen mögen, eine Anzahl von Arbeitern zusammengepfercht ist, welche über die Mitgliederzahl der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands und der sämmtlicher Gewerkschaften immer noch weit hinausgeht f...].«642 Auch die sozialdemokratische Einsicht in die Anziehungskraft des »christlichen Sozialismus« katholischer Prägung offenbarte ein solches Gespür. Es wurde deutlich, daß die Ultramontanisierung des Katholizismus nicht nur kirchliche Restauration und Neodogmatismus, sondern ebenso eine Transformation religiöser Formen und Gehalte hervorbrachte, die durchaus moderne Züge trug. Angesichts der katholischen Arbeiterbastionen überwogen im sozialdemokratischen Diskurs zunächst Ratlosigkeit und Resignation. Angespornt durch die in der Gesamtsicht fulminanten sozialdemokratischen Wahlerfolge bei Reichstags- und Landtagswahlen, traten aber neben diesen Pessimismus zunehmend Kundgebungen unerschütterlicher Siegesgewissheit. Der Zugriff von römischer Kirche und Zentrumspartei auf die katholische Arbeiterschaft sei im Schwinden begriffen; der Sieg der Freiheit unaufhaltsam; der »christliche« werde dem »echten« Sozialismus Platz machen, die katholischen Arbeiter in Scharen zur Sozialdemokratie überlaufen. Diese Wende werde spätestens mit der Beilegung des Kulturkampfes eintreten. Es werde »[...] den katholischen Arbeitern, soweit sie dem Zentrum gefolgt sind, wie Schuppen von den Augen fallen«, und dann »[...] gehört die rheinische Arbeiterbevölkerung uns.«643 Die sozialdemokratischen Siegesprognosen allerdings bewahrheiteten sich nur insofern, als der politische Katholizismus einen Mobilisierungsgrad wie zu Zeiten des Kulturkampfes nie wieder erreichte. Unter wahlanalytischem Gesichtspunkt kennzeichnete das katholische Lager jedoch während des gesamten Kaiserreiches eine »erstaunliche(n) Konstanz«. Zwar erreichte das Zentrum 1874 29,8% Stimmen der Wahlbeteiligten, 1912 dagegen nur noch 16,2%. Legt man für die Frage der Stabilität des katholischen Milieus aber den Anteil der Wählerstimmen gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten zugrunde, kommt man für das Kulturkampfjahr 1874 auf einen Anteil von 17,5%, für 1877 auf 15,5%, für 1912 auf 16,3% und für 1917 auf 13,5%. Die Ausdehnung des sozialistischen Lagers verdankte sich weitgehend der Rekrutierung früherer Nichtwähler, unter denen sich auch viele Katholiken befanden. Die milieugebundenen katholischen Arbeiter löste die sozialdemokratische Arbeiterpartei bis 1890 aber kaum massenhaft aus ihren eher konfessions- als klassenförmigen Loyalitäten. Lediglich bei problemträchtigen massenhaften Zuwanderungen

642 Chemnitzer Freie Presse 30.3.1876 Nr.74 S. 1. 643 Berliner Volksbtatt 17.11.1886 Nr.269 S.l (erstes Zitat); Vorwärts 9.3.1877 Nr.29 S.l (zweites Zitat).

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von katholischen Arbeitskräften in industrielle Gebiete versagte zuweilen die sonst nur schwer zu erschütternde Bindekraft des katholischen Milieus. 644 Eine ähnliche Bindekraft für klein- und unterbürgerliche Schichten attestierten Sozialdemokraten im Bereich des Protestantismus allenfalls dem südwestdeutschen, zuweilen auch dem norddeutschen Pietismus. 645 Eine pietistische Gefahr wurde im sozialdemokratischen Religionsdiskurs zumeist im Zusammenhang mit Problemen bei der Landagitation heraufbeschworen, deren Notwendigkeit und deren Bedingungen jahrzehntelang innerparteilich heftig umstritten waren. Erst Ende der 1880er Jahre, nachdem der Kopenhagener Parteitag die Werbung um Bauern und Landarbeiter (außerdem um Frauen, Soldaten, Studenten und Intellektuelle) als neue Zielgruppen beschlossen hatte, wuchs der Stimmenanteil auf dem Land. So erhielt die Sozialdemokratie 1883 im vorwiegend agrarischen Mecklenburg 1887 nur 5,3%, 1890 aber schon 24,3% der Stimmen, ein besseres Ergebnis als der Reichsdurchschnitt von 19,7%. Zum Erreichen dieses Ergebnisses hatte die Partei aber die kleinbauernfeindlichen Forderungen nach Vergesellschaftung des ländlichen Grund und Bodens und die Prophezeiung vom Untergang des Bauernstandes im fortgeschrittenen Kapitalismus zugunsten der Berücksichtigung praktischer Anliegen der Landbevölkerung zurückstellen müssen. 646 Die Schwierigkeiten, in jenen ländlichen Regionen Fuß zu fassen, die noch vorwiegend agrarisch verfasst waren, führte man in der Partei u.a. auch auf eine noch relativ fest verankerte traditionelle Religiosität zurück, die der kirchlichkonservativen Agitation Tür und Tor öffne. Auch die kirchliche Publizistik brachte jetzt angesichts von Säkularisierung, Liberalisierung und Sozialdemokratisierung der urbanen Zentren den Topos vom »frommen Landvolk« auf, während im 18. und frühen 19. Jahrhundert das Land den kirchlichen Beobachtern noch als christlich-religiös erschlafft und zugleich abergläubisch galt.647 Zwar fiel die Abendmahlsfrequenz zumindest im protestantischen Bereich in den Landgemeinden während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich rascher ab als in den Stadtgemeinden: im agrarischen nördlichen Tiefland des Königreichs Sachsen z.B. um 40-50%, im Umkreis der Großstädte 644 Rohe, S.99 (»erstaunliche Konstanz«), 102, 105. 645 Vorwärts 7.9.1877 Nr.105 S.4 (Württemberg); ebd. 23.9.1877 Nr.112 S.3f (SchleswigHolstein); ebd. 8.5.1878 Nr.53 S.3f. (Württemberg); Sozialdemokrat 21.11.1879 S.2 (Schwaben). Anziehend auf ländliche Unterschichten konnte auch das sozial konservative Engagement des Pietismus wirken. Während der vormärzlichen Pauperismuskrise unterstützten pietistische Pfarrer bisweilen sogar Maschinenstürmereien. Andererseits wurde in der Forschung auch auf eine Art »Wahlverwandtschaft« zwischen pietistischer Morallehre und kapitalistischem Arbeitsethos hingewiesen, ein »moderner« und zugleich antiemanzipativer Zug des Pietismus. Siehe Scharfe, S.87f, 115-118; Mooser,S.39-47. 646 Grebtng, S.86 (auch Zahlen); vgl. Lehmann, Agrarfrage, S . l - 4 0 , zur Frage »Religion und Landagitation« bes. ebd., S.20, 26, 33; Stephan, S.42-65. 647 Korff, Sinnlichkeit, S. 136-48; Blessing, Reform, S. 109-111.

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Leipzig und Chemnitz hingegen nur um 20-30%. Doch der Niveauunterschied zwischen Stadt und Land blieb beträchtlich: 1881 betrug die durchschnittliche Abendmahlsfrequenz in Chemnitz 31%, im agrarischen Norden Sachsens hingegen 60-69%. 648 In mancher Hinsicht schlossen die Sozialdemokraten an die Bauernkritik: der aufklärerischen Theologie des 18. Jahrhunderts an: Die ländlich-bäuerliche Bevölkerung sei ungebildet, dumm und abergläubisch und könne sich von einer religiös überbauten Naturabhängigkeit nicht lösen. In sozialdemokratischer Sicht befanden sich die Bauern genau aus diesen Gründen völlig unter der Knechtschaft der reaktionären Mächte in Staat und Kirche.649 Für den Parteiflügel, der angesichts der immer umfassenderen Durchsetzung des kapitalistischen Marktes von einem nahen Untergang des Bauernstandes ausging, entfiel die Notwendigkeit einer intensiven Agitation der religiösen Landbevölkerung.650 Doch die ländliche ökonomische Arbeiterklassenbildung war bereits um 1870 weit fortgeschritten 651 , und der Anteil zumindest partiell lohnabhängiger Arbeiter sollte der Parteiprognostik zufolge noch wachsen. Jenen, welche die zunehmende Dringlichkeit der Landagitation betonten, musste sich zwangsläufig die Frage nach einer religiös bedingten Verweigerung der sozialistischen Parteinahme stellen: wie mit der religiösen Frage auf dem Lande umgehen? Mehrere Varianten wurden diskutiert, ohne daß es bis 1890 zu einer eindeutigen Präferenz gekommen wäre. 1. Bei der Landagitation sei die religiöse Frage völlig auszuklammern oder allenfalls mit äußerster Vorsicht zu behandeln, radikale Positionen wie etwa die Kirchenaustrittsaufforderung seien unbedingt zu vermeiden. 652 2. Gerade gegenüber der auch wegen ihrer kirchlichen Bindungen antisozialistischen Bevölkerung auf dem Land sei kirchenund religionskritische Aufklärungsarbeit zu leisten. 653 3. Der »Landmann« müsse nicht gegen, sondern mithilfe seiner Religiosität für die Sozialdemokratie gewonnen werden, indem entweder ein ursprüngliches freiheitlichemanzipatives Moment des Christentums betont oder der vorfindlichen unterdrückerischen Kirchenreligion eine freie Menschheitsreligion gegenüberge-

648 Hötscher, Weltgericht, S. 150-52. 649 Deutlich etwa im Hamburg-Altonaer Votksblatt 13.2.1876 Beilage zu Nr.19 S.2 (Schluss eines Artikels von Most »Das Menschengeschlecht«, der auch auf die aktuelle ländliche Religiosität einging). 650 Siehe z.B. Trevir. 651 Zur Klassenbildung der Landarbeiterschaft s. Schildt; zur schwierigen sozialdemokratischen Landagitation ebd., S.23. 652 Sozialdemokrat 21.5.1885 Nr.21 S.3; ebd. 8.10.1885 Nr.41 S.2 (redaktioneller Kommentar zu Zuschriften zur Bauernagitation); ebd. 26.11.1885 Nr.48 S.lf.; Beniner Volksblatt 30.9.1890 Nr.227 S.3. 653 Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2 (Zuschrift zur Bauernagitation); ebd. 29.10.1885 Nr.44 S.3.

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stellt werde, die in der sozialdemokratischen Partei ihren politischen Ausdruck fände.654 Neben Katholiken und Landbevölkerung 655 traten als dritte »Problemgruppe« die Frauen. Frauen hatten im Untersuchungszeitraum 1863-1890 in Deutschland kein Wahlrecht, ihre Stimmen mussten von den Parteien bei Reichstags- und Landtagswahlen nicht gewonnen werden. Als politisch und wirtschaftlich, rechtlich und kulturell Ungleichberechtigte, die allein der Sozialismus befreien könne, spielten Frauen in der sozialdemokratischen Politikformulierung jedoch eine große Rolle. Nicht umsonst erlebte August Bebeis Werk »Die Frau und der Sozialismus« (zuerst 1879, später unter anderem Titel) eine enorme Verbreitung, ein Buch, auf dessen letzten Seiten zu lesen war: »Auch an die Frau tritt die Aufforderung heran, in diesem Kampfe [dem großen Geisteskampf des Sozialismus] nicht zurück zu bleiben, wo für ihre eigene Befreiung und Erlösung mitgekämpft wird.« 656 Doch ebenso als familiäre Sozialisations- und Kommunikationsinstanzen mussten die Frauen in der Partei ernstgenommen werden. Die zumeist sozialdemokratischen Arbeiterautobiographien betonen mit gutem Grund den bestimmenden Einfluss der Mütter auf die Kindererziehung in Arbeiterfamilien zwischen 1860 und 1890. Auch religiöse Prägungen wurden den Kindern in der Regel zuerst durch Frauen vermittelt.657 Die schon in der zeitgenössischen Literatur sprichwörtliche »weibliche Religiosität« ist keineswegs als bloßes Traditionsrelikt anzusehen. Die religiöse Erneuerung des 19. Jahrhunderts brachte eine »Feminisierung der Religion« mit sich, die auch der Familialisierung der Frauenrolle im Bürgertum geschuldet war. Die Kirchen wandten sich in Seelsorge und Gemeindeleben intensiv den bürgerlichen Frauen zu, die durch die Verdrängung aus nichtfamiliären Arbeitsbereichen freie Kapazitäten besaßen und nun in der kirchlichen, oft 654 Eckert, Flugschriften, S.351 (Wahlflugblatt für W. Bracke und F. W. Fritzsche von 1867, das dem »Landmann« versicherte, die sozialdemokratischen Ideen würden sich mit Notwendigkeit aus Christentum und Wissenschaft ableiten); Dulk, Gespräch (eine dramatische Szene für die Landagitation, in der die von der Sozialdemokratie verwirklichte, personifizierte Menschheitsreligion gegen einen »Doktor Orthodoxus« und einen kirchlich-liberalen »Doktor Lichtfreund« auf die Bühne geführt wird); Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2 (Zuschrift zur Bauernagitation, die für die Agitation den Hinweis auf die sittlichen Lehren Jesu und die Unsittlichkeit der Geistlichen empfiehlt). 655 Ländliche und katholisch dominierte Regionen als der Sozialdemokratie verschlossen: zu diesem Ergebnis gelangt auch der Erklärungsversuch für die Wahlergebnisse zwischen 1867 und 1878 von Welskopp, Banner, S.502-08 (unter Zugrundelegung der Drei-Lager-Theorie von K. Rohe). 656 Bebel, Sozialismus, S.4, 179 (ähnlich in späteren Auflagen). Vgl. Niggemann, S.43f. u.ö.. 657 McLeod, Protestantism, S.339; Reuter, S.27; Götz von Olenhusen, Feminisierung, S.11. Vgl. auch den Kindheits- und Jugendbericht Eduard Bernsteins, in dessen reformjüdischem Elternhaus die Bergpredigt Jesu hohe Wertschätzung genoss. Erst nach dem Tod der Mutter, so Bernstein, sei in ihm der Glaube an einen persönlichen Gott vollständig erloschen. Bernstein, Von 1850, S.87,164.

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karitativen Arbeit Bestätigung fanden, ja - wenn auch innerhalb von männlichautoritären Strukturen - ein Stück Emanzipation verwirklichen konnten. Die ihre Religiosität lebenden Ehefrauen und Mütter verlangsamten durch den Einfluss auf ihre Familien in gewisser Weise auch das Tempo der Säkularisierung.658 Die Dominanz weiblicher Religiosität beschränkte sich nicht auf das Bürgertum. Auch Arbeiterfrauen fanden in Kirchen und kirchlichen Vereinen Ausgleich, Gegenwelt, schützendes Milieu und Unterstützung bei Alltagsproblemen (z.B. durch kirchliche Stellungnahmen gegen männliche »Trunksucht«). 659 Nicht in jeder Ehe herrschte aber dieselbe Toleranz zwischen kirchenfernen sozialdemokratischen Männern und ihren religiösen Ehefrauen, wie es offensichtlich bei Joseph Dietzgen und seiner Frau der Fall war: Bei einem Strafprozess gegen Dietzgen 1878 betonten Entlastungszeugen, der kirchenkritische Siegburger Sozialdemokrat halte seine streng kirchliche Frau nie vom Gottesdienstbesuch ab. 660 Die ständigen Klagen in der Parteipublizistik über noch dem religiösen »Aberglauben« verpflichtete (Ehe-)Frauen sprechen eine andere Sprache. Es waren nicht nur »alte Weiber« - so ein beliebter Kampfbegriffin der Partei - , sondern auch junge Arbeiterfrauen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchten, ihre Kinder religiös erzogen, Taufen und kirchliche Trauungen durchsetzen wollten und darin von den Ortsgeistlichen bestärkt wurden. 661 Zwischen kirchenkritischen Sozialdemokraten und ihren kirchentreuen Frauen kam es offenbar nicht selten zu erheblichen ehelichen Auseinandersetzungen. Die Klagen fügten dem sozialdemokratischen Frauenbild eine abwertende Färbung hinzu: »Wie bekannt, haben die Pfaffen ihren Hauptstützpunkt in den Frauen, welche durch immerwährende Nörgeleien selbst denkende 658 Die »Feminisierung der Religion« im 19. Jahrhundert ist erst in den letzten Jahren hinreichend gewürdigt worden. Zusammenfassend Götz von Olenhusen, Feminisierung; vgl. McLeod, Frömmigkeit; Habermas; Busch, Feminisierung; Mergel, Macht. 659 McLeod, Protestantism, S.337-39. 660 Vorwärts 14.8.1878 Nr.94 S.2f.. 661 Braunschweiger Volksfreund 14.1.1876 Nr.89 S.l (Druck eines Pfarrers auf einen Chemnitzer Strumpfwirker, dessen Frau ihm die kirchliche Eheschließung zugesagt hatte); Volksstaat 23.6.1876 Nr.72 S.4 (Korrespondenz aus Anger bei Leipzig: Eine Arbeiterfrau lässt ihr Kind taufen, als der Ehemann verreist ist); Sozialdemokrat 31.1.1884 Nr.5 S.3 (Taufe eines achtjährigen Kindes bald nach dem Tod des sozialdemokratischen Vaters); ebd. 15.9.1888 Nr.38 S.4 (Korrespondenz aus Alt- und Neu-Gersdorf (2. sächsischer Wahlkreis): Der Pfarrer hetzt bei »alten Weibern« gegen sozialdemokratische Kinder und Enkel und trägt so »Unfrieden in die Familien«). Vgl. auch Karl Kautskys Aufsatz »Die zukünftige Stellung des Weibes«, in dem Kautsky das »weibliche Geschlecht« als »Stütze der Priesterschaft und der religiösen Verdummung« ausmacht, dies aber auf die Vorenthaltung der Menschenrechte zurückfuhrt, welche die Frauen in die Arme religiöser Vertröstung treibe: Vorwärts 16.5.1877 Nr.57 S.lf. In kirchlichen Konzepten zur Lösung der sozialen Frage wurde den Frauen oft die wichtige Aufgabe zugesprochen, die Familien zusammenzuhalten und so Entsittlichung und Sozialismus entgegenzuwirken: s. Baumann, S.54f u.ö..

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Männer dazu bewegen, sich die kirchlichen Zeremonien gefallen zu lassen.«662 Auch die Kirchenaustrittsaufrufe scheiterten wohl nicht zuletzt am Widerstand der Ehefrauen von Parteigenossen, und die Pfarrer nutzten die durch die Dissidentengesetze garantierte Einbeziehung der Geistlichen in das Kirchenaustrittsverfahren zur Einflussnahme besonders auf die Ehefrauen austrittswilliger sozialdemokratischer Männer.663 Aggressive kirchliche Beeinflussung, aber auch ein Bildungsdefizit und die »geistige Einfalt« von Frauen wurden im sozialdemokratischen Diskurs als - unzureichende und vorurteilsvolle -Erklärungsmuster für weiblichen Affinitäten zur Religion herangezogen, sofern nicht die Kirchlichkeit der Frauen zur bloßen »Modesache« erklärt wurde. 664 Nur einmal scheint die Sozialdemokratie dem »religiösen Bedürfnis« von Frauen aktiv entgegengekommen zu sein: Im religiösen Lassalle-Kult der 1860er und 1870er Jahre spielten Frauen eine herausragende Rolle. 665 Ohne Zweifel tendierten in sozialdemokratischer Optik religiöse Loyalitäten bei Katholiken, in der Landbevölkerung und bei Frauen dazu, Parteiloyalitäten zu erschweren und damit der »Klassenbildung«, die ihr Ziel in der Zugehörigkeit zur sozialistischen Arbeiterbewegung haben sollte, Grenzen zu setzen. Andererseits mühte sich die Parteiagitation, die grundsätzliche Vereinbarkeit von religiösem Bekenntnis und »Klassenbekenntnis« inner- und außerparteilich zu betonen. Die Auflösung dieses Dilemmas konnte nur in einer deutlichen »Beantwortung der religiösen Frage« liegen, für die der sozialdemokratische Religionsdiskurs drei Modelle zur Verfügung stellte: ein freireligiöses bzw. freidenkerisches Modell, ein atheistisches Modell und ein genuin sozialistisches Modell. 662 BraunschweigerVolksfreund 3.8.1876 Nr.179 S.3. Für das sozialdemokratische Frauenbild ist es wohl auch bezeichnend, daß die Forderung nach dem Frauenwahlrecht erst 1891 in das Parteiprogramm aufgenommen wurde; auf dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 hatte sich noch Wilhelm Hasselmann durchsetzen können, der das Frauenwahlrecht u.a. wegen der »Rückständigkeit der Frauen« ablehnte, s. Niggemann, S.44f.. Zu dieser »Rückständigkeit« zählte nach allgemeiner Überzeugung auch die weibliche Religiosität. 663 Vgl. Volksstaat 24.4.1872 Nr.33 S.4 (eine Frau will vor der Heirat mit einem Sozialdemokraten aus der Kirche austreten; daraufhin Druck des Pfarrers); Braunschweiger Volksfreund 21.2.1873 Nr.44 S.l (Warnung vor der geistlichen Einflussmöglichkeit auf Frauen beim Kirchenaustrittsverfahren in Braunschweig); Vorwärts 15.2.1878 Nr.19 S.3 (Johann Most räumt in einer Kirchenaustrittsversammlung vor Frauen Schwierigkeiten bei der Frauenagitation aufgrund der weiblichen Religiosität ein). Auch in dem Agitationsstück von Friedrich Bosse »Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft!« (1888) werden die Bedenken sozialdemokratischer Fraucü beim Kirchenaustritt thematisiert: Bosse, Mai, S.58f.. 664 Hamburg-Altonaer Volksblatt 18.7.1876 Nr,86 S.3 (»Modesache«). Frauenfeindliche Stereotypen als Erklärungsmuster für weibliche Religiosität (mindere Denk- und Urteilskraft etc.) schon in der vorsozialdemokratischen Schrift des späteren ADAV-Präsidenten Schweitzer, Zeitgeist, S.323-25. Vgl. aus kirchlicher Sicht Wähler 23.9.1890 Nr.185 S.l (Zitat aus einer evangelischsozialen Broschüre, welche die Frau aufgrund ihrer christlichen Gesinnung zur »natürlichste(n) Gegnerin der Sozialdemokratie« erklärte). 665 Herzig, Lassalle-Feiern, S.324f. Vgl. Freie Zeitung 19.10.1870 (zentrale Rolle von »Frauen und Jungfrauen« bei der Fahnenweihe des ADAV Teuchem).

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2 Die Beantwortung der religiösen Frage durch die Sozialdemokratie 2.1 Freireligiösen- und Freidenkertum Freireligiöse und Freidenker bis 1890 »Freie« Auffassungen von christlicher Religion und Kirche sind ebenso alt wie das kirchlich verfasste Christentum selbst. Immer wieder entstanden im Laufe der Geschichte der Kirche antihierarchische Reformbewegungen, die den christlichen Glauben »reinigen« und auf seinen idealen ursprünglichen Gehalt zurückfuhren wollten. In dieser Tradition standen zunächst auch die vormärzlichen religiösen Reformbewegungen der »Deutschkatholiken« und »Lichtfreunde«. Insbesondere die protestantischen Lichtfreunde sahen sich als die Pioniere einer »zweiten Reformation«. Rückbezüge auf ein früheres, »reineres« Christentum verbanden sich in den 1840er Jahren mit der Forderung nach einer Anpassung der christlichen Glaubenslehre an den »Kulturstand der Moderne« im Sinne einer Versöhnung von Religion und Wissenschaft. Die rationalistische, dogmenkritische Theologie des 18. Jahrhunderts bot ebenso wie die Philosophie der Aufklärung wichtige Anknüpfungspunkte für Deutschkatholiken und Lichtfreunde. In den folgenden Jahrzehnten radikalisierten Teile der Reformbewegung ihren religiösen Standpunkt bis zur Aufgabe des Religionsbegriffes zugunsten des Ideals einer areligiösen Sittlichkeit, während andere, konservativere Gemeinden in Lehre und Form auf ihrer Christlichkeit beharrten.1 Die Anfang/Mitte der 1840er Jahre begründeten Gemeinden bzw. Vereine der Deutschkatholiken und Lichtfreunde trennten sich schon vor 1848/49 teils aus eigenem Antrieb, teils erzwungenermaßen von der katholischen bzw. der evangelischen Großkirche. In der Reaktionszeit nach der Revolution unterstand die Bewegung starker polizeilicher Kontrolle, in den liberalen Arbeiterbildungsvereinen der 1850er und 1860er Jahre konnte sich ihr Gedankengut jedoch erhalten. »Aus den zahlreichen Vereinsmeldungen der liberalen wie der frühen Arbeiterpresse und den biographischen Daten der Vereinsfunktionäre 1 Vgl. allgemein Heyer. Regionalstudie zur Pfalz: Bahn. Zuletzt Groschopp, S.82-102 und Simon-Ritz, Organisation, S.57-92 (Zeitraum bis 1890). Knapper Überblick zum Vormärz: Obst.

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und -mitglieder ergibt sich, daß die Mehrheit der persönlich in Erscheinung tretenden Mitglieder fast aller Arbeitervereine bereits Anfang der 60er Jahre den freireligiösen Gemeinden zuneigte. [...] Der kulturell und politisch aufgeklärte Tenor der bildungsbezogenen Vereinsarbeit richtete sich ausdrücklich gegen die etablierten und den konservativ-reaktionären Regierungen verbundenen Kirchen, die aber auch die Arbeiterbildungsvereine als Stätten antikirchlicher und freigeistiger liberaler Propaganda befehdeten.«2 Mit dem Beginn der »Neuen Ära« unter dem Prinzregenten und preußischen König Wilhelm I. gelang die Reorganisation von Deutschkatholiken und Lichtfreunden im 1859 begründeten »Bund freireligiöser Gemeinden« (später »Bund freier religiöser Gemeinden«) (BFG), dem sich viele deutschkatholische und (vom Protestantismus herkommende) »freie« Gemeinden anschlossen. Im Folgenden werden Deutschkatholiken und Lichtfreunden zusammenfassend als »Freireligiöse« bezeichnet. Als »Grundsatz« des BFG nannte die Bundesverfassung »Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten«, als »Zweck« die »Förderung des religiösen Lebens«3 - offene Formulierungen, die große Auslegungsspielräume zuließen. Die erstrebte rechtliche Gleichstellung mit den etablierten christlichen Religionsgemeinschaften konnte vor 1890 nicht realisiert werden, Expansionserfolge waren dem »Bund« ebenfalls nicht beschieden. Bestanden 1866 im BFG 118 Gemeinden mit 21.000 Mitgliedern, zu denen noch 3.000 weitere Mitglieder (sächsische Deutschkatholiken u.a.) hinzuzählen sind, belief sich die Mitgliederzahl im »Bund« 1888 nur noch auf 14.000 (116 Gemeinden, viele davon aber real erloschen), dazu 5.000 rheinhessische »Freiprotestanten«.4 Dieser Niedergang erklärt sich auch aus den Veränderungen des gesellschaftlich-politischen Umfeldes zwischen 1840 und 1870, auf weiche die Freireligiösen verunsichert reagierten. In den vormärzlichen Anfängen waren die religiösen Reformbestrebungen noch untrennbar mit den Forderungen der liberalen bzw. demokratischen politischen Bewegung verbunden gewesen. Die Auseinandersetzung mit dem traditionellen Kirchenverständnis zog nicht nur unweigerlich eine Kritik des »christlichen Staats« nach sich. Freireligiöse, Liberale und Demokraten fanden in einem vormärzlichen Reformmilieu mit engen kommunikativen Beziehungen zusammen, nicht selten verbanden sich religiöses und politisches Reformbekenntnis in einer Person. 1848/49 traten die Deutschkatholiken und die Lichtfreunde fast immer für die Belange der Revolution ein. So standen die lichtfreundlichen Prediger Leberecht Uhlich (17991872) in Magdeburg, Eduard Baltzer (1814-1887) in Nordhausen julius Rupp (1809-1884) in Königsberg und Rudolf Dulon (1807-1870) in Bremen sowie 2 Offermann, S.293. 3 Zitiert nach Bundesblätter H.47 /Januar 1875, S.7. 4 Zahlen bei Tsehirn, S.192. Vgl. die Statistik des BFG pro 1891 mit der Auflistung aller Gemeinden und ihrer jeweiligen Mitgliederzahl in Bundesblätter H.92 /Juli 1891, S.27-29.

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der Deutschkatholik Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776-1858) in Breslau an der Spitze der revolutionären Bewegungen ihrer Heimatstädte. Robert Blum (1807-1848), der »Märtyrer der Revolution«, war Mitbegründer der Leipziger deutschkatholischen Gemeinde. Der radikalste Flügel der Freireligiösen (u.a. Dulon, Nees) vertrat 1848/49 Positionen eines »religiösen Sozialismus« und feierte die Revolution als Anbruch des »Gottesreiches« sozialer Gerechtigkeit. Der greise Vorstand der Breslauer deutschkatholischen Gemeinde und Botanik-Professor Nees von Esenbeck leitete sogar den Kongress der »Arbeiterverbrüderung«, der ersten deutschen Arbeiterbewegung, vom 23. August bis zum 3. September 1848 in Berlin.5 In manchen freireligiösen Gemeinden überwog in den 1840er Jahren der Anteil der klein- bzw. unterbürgerlichen Schichten jenen der Mitglieder bürgerlicher Herkunft und Profession. Von den 337 Mitgliedern der Leipziger deutschkatholischen Gemeinde im Jahre 1847 sind für 261 Mitglieder die Berufe bekannt; unter diesen befanden sich 47 Hand- und Fabrikarbeiter, 97 Handwerksgesellen und 49 (wahrscheinlich oft pauperisierte) Handwerksmeister. Das gehobene, akademisch gebildete Bürgertum stellte allerdings zumeist das Führungspersonal der Gemeinden.6 Mit einer den »Eigen-Sinn« religiöser Reformbestrebungen hintanstellenden Einseitigkeit ist die frühe freireligiöse Bewegung sogar als »[...] besondere Form sozialen Protestes der städtischen unteren Mittel- und Unterschichten [...], motiviert durch die Erfahrung sozialer Desintegration als Folge des rapiden gesellschaftlichen Wandels«7, gekennzeichnet worden. Im Untersuchungszeitraum 1863-1890 scheint sich die Mitgliederstruktur insgesamt allerdings zum gehobenen Kleinbürgertum hin verschoben zu haben, wenn auch die verstreuten Angaben hier durchaus widersprüchlich sind. In den 1860er bis 1880er Jahren war die freireligiöse Bewegung eingebettet in einen breiten Strom gesellschaftlicher Bemühungen um »Lebensreform« auf den Gebieten von Justiz- und Schulwesen, Gesundheits- und Ernährungswesen bis hin zur Feuerbestattungsbewegung. Parteipolitischen Positionierungen verweigerten sich die Freireligiösen als Organisation jedoch mehrheitlich, wenn auch bei den führenden Mitgliedern entsprechende Präferenzen nicht selten anzutreffen waren. Uneinigkeit und heftige Kontroversen machten diese Jahre letztlich zu einer Epoche von »Stillstand und Tiefstand« der Bewegung, der erst ab 1890 ein neue Periode des Aufschwungs folgte. Die Auseinanderset5 Grundlegende Arbeiten aufdiesem Feld sind Kolbe, bes. S.24-166; Brederlow; Graf, Politisierung; Patetschek; Holzern. Vgl. zuletzt knapp Prüfer, Vormärz. 6 Zahlen von Leipzig in Kalbe, Anhang, S. III. Zu ähnlichen Werten kommen die meisten Untersuchungen, wobei die Zuordnungen »kleinbürgerlich« bzw. »unterbürgerlich« stark definitionsabhängig sind. Vgl. (auch zu den Führungseliten) Brederlow, S.76-79; Paletschek, S.85-90; Hölzern, S328-31. 7 Bredertow,S.81.

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Zungen betrafen organisatorische Fragen (Statut, Finanzen), aber auch zentrale Probleme des Selbstverständnisses wie die Stellung zum ReligionsbegrirTund die Notwendigkeit einer eigenen freireligiösen Bekenntnisformel. Doch auch die (zumeist negativ beantwortete) Frage, ob die Bewegung einen einheitlichen politischen Standpunkt vertreten solle und inwieweit sie sich der sozialen Frage anzunehmen habe, entzweite die Freireligiösen. 8 Die Hoffnung einiger Freigeister auf ein Bekenntnis zum Sozialismus stellte ein, wenn auch keineswegs das ausschlaggebende Motiv für die Konstituierung einer organisierten Bewegung der »Freidenker« in Deutschland dar. Die Gründung des »Deutschen Freidenkerbundes« (DFB) im Jahre 1881 (mit der Zeitschrift »Menschenthum« als Bundesorgan), die eine Welle von Gründungen lokaler Freidenkervereine nach sich zog, war vielmehr zunächst eine unmittelbare Folge der Konstituierung des »Internationalen Freidenkerbundes« 1880 in Brüssel. 9 Das Freidenkertum wurzelte noch stärker als die freireligiöse Bewegung im Rationalismus des 17. und 18. Jahrhunderts. Zudem bezogen sich die organisierten Freidenker des 19. Jahrhunderts von Beginn an eindeutig nicht auf das Christentum, sondern auf den modernen naturwissenschaftlichen Materialismus, worauf u.a. die führende Funktion Ludwig Büchners im DFB hinweist. 10 Gottes- und Religionsbegriff stießen bei den Freidenkern auf große Vorbehalte, wenn auch zumindest in den ersten Jahren einzelne Protagonisten durchaus noch an diesen Begriffen festhielten. So erklärte der sozialdemokratische Sprecher der Stuttgarter Freidenkergemeinde Albert Dulk in einem Vortrag 1884: »Ja, w i r brauchen Religion - w e i l sie allein das E r k e n n t n i s b i l d des G a n z e n , der Einheit des Lebens, des Alls gibt, das w i r nicht mit d e m Verstände zu erfassen v e r m ö g e n , m i t

8 Freireligiöse Selbstkritik z.B. in Bundesblätter H.49 /Juni 1875, S.2. Von »Stillstand und Tiefstand« spricht Tschim, S.120 für die Jahre 1873-1888; zu den Kontroversen im »Bund« vgl. ebd, S.123 u.ö.. Die marxistische Forschung hat aus der angedeuteten Pluralität und Permeabilität ihr Verdikt über die Freireligiösen abgeleitet, die aufgrund ihrer »kompromisslerischen weltanschaulichen Positionen« und ihrer Verkennung der Mission der Arbeiterklasse in die historische Bedeutungslosigkeit hinabgesunken seien: so die ansonsten gründliche, quellenintensive Arbeit von Kolbe, bes. S. 167f, 222 (Zitat). Vgl. kritisch zur Zeit nach 1860 auch Bredertow, S.l15; Bahn, SA9294. Die Geschichte der freireligiösen Bewegung zwischen 1860-1890 ist allerdings noch unzureichend erforscht. 9 Auch die frühe Freidenkerbewegung bis 1890 ist noch nicht intensiv erforscht worden. Einführend Kaiser, Arbeiterbewegung, S.81-85, 89f; Groschopp, S.92-98; Simon-Ritz, Organisation, S.92-98. »Freidenker«-Vereine bestanden auf deutschem Territorium schon in den 1870er Jahren als Teil der Freireligiösen- bzw. der Dissidentenbewegung, so in Dresden unter der Leitung von Oskar Kiemich. 10 Die von Ludwig Büchner entworfenen Statuten des DFB geben über den Standpunkt der Freidenker in der religiösen Frage allerdings keine Auskunft, sondern benennen als Zweck des Bundes lediglich allgemein die Sammlung, Organisierung und gegenseitige Verständigung der noch zerstreuten Freidenker. Vgl. den Abdruck der Statuten in Fränkische Tagespost 16.4.1881 Beilage zu Nr.89 S.3.

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dem Fühlen nur, mit dem Weltgefuhle. Aber Religion, die bestimmende Autorität, die höchste Macht, das höchste Recht, die höchste Wahrheit gemeinsam für alle Menschen, die sie zu einer Macht, einem Recht, einer Wahrheit für alle macht - nicht eine Religion der individuellen Habsucht und des Aberglaubens, sondern des Gemeinsinns und der höchsten Bildung, nicht des Hasses, sondern der Menschenliebe, der Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Religion des freien Gedankens, die Freidenkerreligion - unsere Religion!« 11 1881 vertrat der DFB 5-6 Zweigvereine und 512 Einzelmitglieder; im Jahre 1890 waren es bereits 11 Zweigvereine mit 1600 Mitgliedern zuzüglich von 411 Einzelmitgliedern. 12 Die Jahre 1860 bis 1890 stellten für die freigeistige Bewegung in Deutschland eine wichtige Differenzierungsphase dar. Im Blick auf die Freidenker gilt festzuhalten, daß zwischen 1880 und 1890 die Grenze zur freireligiösen Bewegung, mit der man eine gedeihliche Zusammenarbeit wünschte und zu der mehrere Personalunionen bestanden, noch fließend war. Die Scheidung von »bürgerlich-liberaler« und »proletarischer« Freidenkerbewegung stand noch aus. So saßen 1881 nicht nur Ludwig Büchner und der prominente Stuttgarter Sozialdemokrat Albert Dulk, sondern auch die freireligiösen Prediger Sachse (Magdeburg) und Scholl (Nürnberg) im Vorstand des DFB. 13

Solidarität und Übereinstimmung Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und freireligiös-freidenkerische Bewegung können beide als radikale Reformbewegungen im Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden, die unter dem Banner von Wissenschaft, Fortschritt und Moderne für ihre Ziele stritten.14 Folgte man auf Seiten der Arbeiterpartei(en) der Annahme einer Notwendigkeit von Kirchen- und Religionskritik auch zum Zwecke einer Religionsreform, mussten für 11 Dulk, Brauchen wir Religion, S.11. Dulk hielt zwar am Religionsbegriff fest, distanzierte sich aber von den Freireligiösen, die »ihren Zusammenhang mit dem Christenthum durchaus nicht aufgeben« wollten (was allerdings nur auf einen Teil der freireligiösen Bewegung zutraf): s. Sozialdemokrat 3.4.1884 Nr. 14 S. 1. 12 Zahlen nach Kaiser, Arbeiterbewegung, S.353. 13 Tschirn, S.154. Im selben Jahr kritisierten allerdings die Freireligiösen bereits die ihnen gegenüber bekundete Arroganz der Freidenker sowie deren vermeintlich rein destruktive Ausrichtung, die allein auf die Vernichtung aller religiöser Vorstellungen ziele: ebd., S.153f.. Vgl. dagegen Fränkische Tagespost 16.4.1881 Beilage zu Nr.89 S.3 (Resolution der DFB-Gründungsversammlung, die die Hoffnung auf ein »segensreiches Zusammenwirken« mit den Freireligiösen ausdrückt); Menschenthum 22.10.1882 Nr.43 S.171 (gleiches Streben von Freireligiösen und Freidenkern; keine unbedingte Ablehnung des Religionsbegriffes durch die Freidenker). 14 Vgl. zum Verhältnis von Sozialdemokraten und Freireligiösen bzw. Freidenkern Kolbe, S.176-83, 206-16; Grote, Religion, S.92-106 (Grundlage vieler späterer Darstellungen); Wunderer (wenig ergiebig); Kaiser, Sozialdemokratie, S.86-89; Hölscher, Weltgericht, S.169-73; Bahn, S.7579; Ritter/Tenfelde, S.765-67; Groschopp, S.116-22.

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die frühe deutsche Sozialdemokratie Freireligiöse und Freidenker potenzielle Dialogpartner darstellen, die auf anderem Felde als die Arbeiterparteien kämpften, aber doch für die gleiche Sache der Emanzipation des Menschen. Keineswegs standen sich hier eine »proletarische« politische und eine »bürgerliche« religiöse Bewegung gegenüber. Der Differenziertheit der arbeiterparteilichen Mitgliederstruktur entsprach die Heterogenität der sozialen Basis von Freireligiösen bzw. Freidenkern. Das Führungspersonal der religiösen Reformbewegungen bestand zwar im Gegensatz zur Sozialdemokratie fast ausschließlich aus Angehörigen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums. Die Basis nicht weniger freigeistiger Gemeinden und Vereine rekrutierte sich aber auch nach 1860 überwiegend aus den unterbürgerlichen Schichten. Stellten 1872 z.B. in der »Freireligiösen Gemeinde Berlin« Arbeiter und unselbständige Handwerker 31 1 und Handwerksmeister, kleine »Fabrikanten« und Werkmeister 129 von insgesamt 697 Mitgliedern, waren es 1879 bereits 434 der ersten Gruppe und 104 der zweiten Gruppe von insgesamt 787 Mitgliedern. Die Arbeiteranteile in der freigeistigen Bewegung nahmen in den 1870er und 1880er Jahren zu.15 Viele kirchen- und religionskritische Positionen und Forderungen wurden von einer Mehrheit von Sozialdemokraten und Freireligiösen bzw. Freidenkern gemeinsam getragen. Die Polemik gegen die Machtansprüche der Kirchen und ihrer Geistlichkeit in Geschichte und Gegenwart, Bibel- und Dogmenkritik, die Proklamation des Gegensatzes von Religion und moderner Wissenschaft sowie Attacken gegen die Protagonisten der religiös präformierten soziokulturellen Milieus und gegen den angeblich halbherzigen Kulturkampf der 1870er und 1880er Jahre fanden ihren Platz in Agitation und Publizistik beider Bewegungen, wobei sozialdemokratische Organe nicht selten freireligiöse und freidenkerische Zeitschriftenartikel übernahmen.16 Wie die Religionsreformer forderten die Sozialdemokraten Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Trennung von Staat und Kirche, die Trennung von Schule und Kirche, insbesondere 15 Die genannten Zahlen in Krapp, S.75. Vgl. Volksstaat 9.8.1876 Nr.92 S.3 (auf einer »Dissidenten Versammlung« in Dresden 1876 behauptet Julius Vahlteich die Zusammensetzung der Freireligiösen »vorwiegend aus Arbeitern«); Bundesblätter H.58 /Januar 1879 (Berufe der Vorstandsmitglieder der Freireligiösen Gemeinde Buckau bei Magdeburg 1879: 1 Schlossermeister, 1 Schlosser, 1 Modelltischler, 1 Fabrikarbeiter); Kolbe, S.210f.. 16 Besonders häufig wurde aus den bis 1875 von Ludwig Würkert und nach 1875 von August Specht redigierten freireligiösen »Freie(n) Glocken. Beiträge zur Förderung der Vernunft- und Humanitätsreligion« zitiert, z.B. in Volksstaat 11.8.1876 Nr.93 S.3 (Zitat der bibelkritischen Polemik gegen einen orthodoxen Superintendenten als Zeichen dafür, daß die Nacht der »religiösabergläubische(n) Verkleisterung des Volkshirns« zu Ende gehe); Sächsisches Wochenblatt 5.1.1884 Nr.l S.l (Leitartikel »Die Forderungen der Gewissensfreiheit« aus den »Freien Glocken«; für Trennung von Kirche und Staat bzw. Kirchen und Schule, gegen den religiösen Eid und den Zwang zu Taufe und kirchlicher Eheschließung); Berliner Volksblatt 5.4.1885 Nr.80 S.l (»Zum Osterfeste« aus den »Freien Glocken«); Neue Welt 6/1887, S.78f Häufig waren aber auch Übernahmen aus der sozialistisch eingefärbten, in Milwaukee/USA erscheinenden Zeitschrift »Freidenker«, z.B. in Volksstaat 19.7.1876 Nr.83 S.3f. (Rezension einer Schrift von Adolph Douai).

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die Befreiung der Kinder der Dissidenten vom Religionsunterricht 17 , die rechtliche Gleichstellung der Dissidenten 18 , die Abschaffung der religiösen Eidesformel vor Gericht19 und die Zurverfügungstellung von Begräbnisplätzen für Dissidenten 20 . Weder Freireligiöse noch Freidenker verpflichteten ihre Mitglieder zum Kirchenaustritt, was ja auch die Arbeiterparteien nicht taten. Die sozialdemokratische Formel von der »Religion als Privatsache« empfanden allerdings die meisten Freigeister als zu unscharf.21 Aufgrund dieser inhaltlichen Übereinstimmungen, aber auch aus grundsätzlichen rechtsstaatlichen Erwägungen solidarisierten sich Sozialdemokraten mit Freireligiösen und Freidenkern, wenn diese staatlichen Repressionen ausgesetzt waren, zumal sich solche nicht selten auch gegen Arbeiter richteten, die einer freireligiösen bzw. freidenkerischen Gemeinde angehörten.22 Die Parteipresse berichtete teils neutral, teils aber auch mit eindeutigen Sympathien von freireligiösen und freidenkerischen Zusammenkünften, insbesondere, wenn diese überwiegend von Arbeitern frequentiert wurden. Sie bot der religiösen Reformbewegung zudem durch Veranstaltungshinweise und Publikationsannoncen ein Forum.23 Und der religiöse Standpunkt der Freireligiösen schien 17 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreuttd 18.12.1872 Nr.295 S.1 (Wiedergabe einer Petition der freireligiösen Gemeinde Dresden gegen Einschränkungen der Befreiung der Dissidentenkinder vom Religionsunterricht); Braunschweiger Votksfreund 5.6.1873 Nr.129 S.l (im Leitartikel »Gewissenszwang« über den freireligiösen Zigarrenarbeiter Kramer aus Braunschweig, dessen Tochter zum Besuch des konfessionellen Religionsunterrichts gezwungen worden sei); Chemnitzer Freie Presse 8.8.1876 Nr.182 S.l. 18 Bebet, Thätigkeit 1874-1876, S.65 (in Bebeis parlamentarischem Rechenschaftsbericht ein AngrifTauf die Fortschrittspartei, die einen Kultusminister unterstütze, der der Berliner freireligiösen Gemeinde die Rechte einer juristischen Person verweigere). 19 Neuer Social-Demokrat 16.2.1876 Nr.19 S.2. 20 Social-Demokrat 31.7.1868 Nr.89 S.4. 21 Zur Kirchenaustrittsfrage: Bundesblätter H.56/Juli 1878, S.5-11 (Debatte der ostdeutschen Freireligiösen über Johann Mosts Berliner Kirchenaustrittskampagne, überwiegend Skepsis auch von sozialdemokratischen Freireligiösen); Menschenthum 16.4.1881 Beilage zu Nr.89 S.3 (die Gründungsversammlung des DFB lehnt eine Kirchenaustrittsempfehlung an die Mitglieder ab). Zu »Religion als Privatsache«: Bundesblätter H.56/Juli 1878, S.9f. (Votum Julius Rupps gegen die sozialdemokratische Formel »Religion ist Privatsache«, da »Religion an sich« eine Grundlage des Kulturfortschritts sei); ähnlich der Freireligiöse Carl Scholl in einem Vortrag 1880 (Fränkische Tagespost 23.10.1880 Nr.250 S.l) und der Sozialdemokrat und Freidenker Albert Dulk in einem Votum für den »Sozialdemokrat« 1884 (Sozialdemokrat 3.4.1884 Nr.14 S.l). Dagegen Verteidigung der Formel als taktisch klug durch einen sozialdemokratischen Freidenker im DFB-Organ Menschenthum November 1890 Nr. 48 S.190. 22 Siehe z.B. Braunschweiger Votksfreund 5.6.1873 Nr.129 S.l. 23 Berichte von freireligiösen Versammlungen und Vorträgen freireligiöser Sprecher: Crimmitschauer Bürger- und Bauemfreund 3.7.1870 Probenummer S.6 (freireligiöser Verein Crimmitschau); Dresdner Volksbote 27.6.1871 Nr.70 S.2 (sympathisierender Bericht von der Gründungsversammlung der Dresdener Freireligiösen Gemeinde); Braunschweiger Volksfreund 27.12.1871 Nr.93 S.3 (Vortrag in der freien Gemeinde Braunschweig über die Geburt Christi, der den anwesenden Parteigenossen zufolge »ganz auf sozialistischem Boden« stand); Vorwärts 22.6.1877 Nr.72 S.4 (Korrespondenz über den massenhaft besuchten Vortrag des Dresdener Freidenkers Oskar Kle-

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dort vollends akzeptiert zu sein, wo freireligiöse Lyrik kommentarlos übernommen wurde. 24 Wie die Sozialdemokraten sich nie in toto zur Freireligiösen- bzw. Freidenkerbewegungbekannten, sprachen auch die freireligiösen bzw. freidenkerischen Verbände kein »sozialistisches Bekenntnis« aus. Doch die freireligiöse und freidenkerische Publizistik honorierte bisweilen den sozialdemokratischen Einsatz für Religions- und Gewissensfreiheit, während die Nationalliberalen oft der »Halbheit« ihrer Kirchen- und Religionspolitik geziehen wurden.25 Freigeistige Zeitschriften warben für Publikationen der Arbeiterparteien (z.B. für die »Neue Zeit« und die »Neue Welt« 26 ), und die freireligiösen Publizisten Carl Scholl (1820-1907), freireligiöser Prediger in Nürnberg und Heidelberg, Herausgeber der Zeitschrift »Es werde Licht!«, und August Specht (1845-1909), Herausgeber der Zeitschriften »Freie Glocken« (ab 1876) und mich über die Frage: »Ist die Religion dem Menschen Bedürfnis?« im sächsischen Bad Mildenstein); Fränkische Tagespost 23.10.1880 Nr.250 S.l (Vortrag Carl Scholls in Nürnberg über »Die Friedens- und Versöhnungsmission der freien religiösen Gemeinden«); Süddeutsche Post 8.12.1883 Nr.86 S.3 (Bericht von einem Vortrag August Spechts über »Weltanfang und -ende«, von Arbeitern arrangiert und vor 1500 Zuhörern, zumeist Arbeitern, gehalten, daher von der »bürgerlichen« Presse ignoriert). Annoncen bzw. Empfehlungen (in den 1880ern allerdings häufig mit gewissen kritischen Einschränkungen): Altgemeine Deutsche Arbeiterzeitung 19.11.1865 Nr.151 S.844 (Werbun/Empfehlung für gedruckte Vorträge Leberecht Uhlichs); Deutsche Arbeiterhalle 1.12.1867 Nr.l 1 S.4 (ebenso); Volksstaat 2.12.1871 Nr.97 S.4 (Inserat für Carl Scholls freireligiöse Zeitschrift »Es werde Licht!«); ebd. 7.12.1872 Nr.98 S.4 (Annonce für »Freie Gedanken. Freireligiöse Gedichte« von Wilhelm Hontz); Chemnitzer Freie Presse 14.11.1873 Nr.267 S.l f. (Abdruck eines Gedichtes aus dem »Freireligiösen Kalender für das Jahr 1874«, der den Lesern »wegen seines vortrefflichen Inhalts« zu empfehlen sei); Sächsisches Wochenblatt 11.1.1889 Nr.5 S.3 (Empfehlung des von August Specht herausgegebenen »Freidenker-Almanachs«, auch wenn dieser wegen der Unzulänglichkeit des liberalen Freidenkertums »mit kritischem Verstande« zu lesen sei); ebd. 31.3.1889 Beilage zu Nr.39 S.2 (Leberecht Uhlichs »Handbüchlein der freien Religion«, empfohlen trotz seines »reinbürgerliche(n)Standpunkt(es)«). Veranstaltungshinweise: häufig für freireligiöse und FreidenkerVereine in Berlin (Werbung für freireligiöse und freidenkerische Vorträge in diesen Gemeinden über Geistes- und Gewissensfreiheit, monistische Weltanschauung, die natürliche Schöpfungsreihe, das freireligiöse Erziehungsideal etc. in der »Berliner Freien Presse«, der »Berliner VolksTribüne« und dem »Berliner Volksblatt« 1875-1890). 24 Vgl. etwa Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 5.4.1874 Nr,78 S. 1 (Gedicht »Ostern« des freireligiösen Predigers und Sozialdemokraten Ludwig Würkert); Westfälische Freie Presse 20.4.1878 Nr.35 S.l (»Ostermorgen im Walde« aus »Klemich's Blättern für geistigen Fortschritt«). 25 Kritik an den in der Kirchenpolitik versagenden Nationalliberalen, denen gegenüber die Sozialdemokratie eine Partei des Fortschritts sei: Menschenthum 19.12.1880 Nr.51 S.207; ebd. 9.10.1881 Nr.41 S.167;ebd. 29.3.1885 Nr.13 S.19f.. 26 Empfehlung von »Neuer Zeit« und »Neuer Welt« (»ein gutes freisinniges Unterhaltungsblatt«) in Menschenthum 18.1.1885 Nr.3 S.12. 1890 wurde einem Berliner Schriften-Kolporteur aufgrund der Zensurparagraphen in der Gewerbeordnung der Vertrieb zahlreicher Schriften untersagt. Die Zeitschrift »Menschenthum« gab die Liste der vom Vertrieb ausgeschlossenen Werke wieder, eine höchst aufschlussreiche Mischung freireligiöser (z.B. Uhlichs »Weisheitsbüchlein«), sozialistisch-freidenkerischer (z.B. Jacob Sterns »Religion der Zukunft«) und sozialdemokratischer Schriften (z.B. Karl Kautskys Schrift über Arbeiterschutz): Menschenthum August 1890 Nr.31 S.122f.

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»Menschenthum«, beide keine Parteigenossen, machten aus ihren Sympathien für die Sozialdemokratie keinen Hehl. 27 In einem 1877 in Mannheim und Fürth bei den Stiftungsfesten der dortigen freireligiösen Gemeinden gehaltenen und bald daraufgedruckten Vortrag, der bei den anwesenden Sozialisten auf begeisterte Zustimmung, bei den NichtSozialisten aber auf betretenes Erstaunen stieß, plädierte Scholl für eine positive Zusammenarbeit von Freireligiösen und Sozialdemokraten, von der beide Bewegungen profitieren könnten. Die unter Freireligiösen verbreitete antisozialdemokratische Stimmung sei unberechtigt, denn die - bei Scholl insbesondere aus Schriften von Ferdinand Lassalle, Friedrich Albert Lange und Bruno Geiser referierten - zentralen Anliegen der Arbeiterpartei wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf den vollen Lohnertrag und die Produktivgemeinschaft aller Staatsangehörigen mit einem kollektiven Eigentum der Produktionsmittel entsprächen den Grundsätzen von Menschlichkeit und Brüderlichkeit und damit der von den Freireligiösen geforderten neuen sittlichen Weltanschauung. Die Sozialdemokratie müsse sich allerdings auch als Partei der sittlich-humanen Ideale profilieren, denn es genüge nicht, die Religion zum überwundenen Standpunkt zu erklären. U m gekehrt müssten die freien Gemeinden ins praktische Leben treten, seien sie doch vielfach »zu einseitige, unpraktische, trockene und oft herzlich lederne Aufklärungsvereine« geworden. »Diefreien Gemeinden [...], sie k ö n n e n u n d dürfen sich nicht der Gewißheit verschließen, daß [...] d e r Grundgedanke doch der Glaube an die bessere Zukunft, an eine glücklichere M e n s c h h e i t , d e r Glaube, daß o h n e eigenes Zuthun diese Zukunft nicht k o m m t , der Glaube, daß sie n u r d u r c h ernste, mühevolle, tiefgehende und ausdauernde Reformatbeit, als eine g e m e i n s a m e Arbeit Aller k o m m e n kann, daß dieser ihnen mit der verlästerten 27 August Specht erfreute sich umgekehrt auch einer bemerkenswerten Rezeption in den Arbeiterparteien. Vgl. die empfehlenden Inserate für seine Publikationen z.B. in Votksstaat 18.11.1871 Nr.93 S.4 (Werbung für den von Specht herausgegebenen »Freireligiösen Kalender für 1872«, der den Parteigenossen empfohlen werden könne, da er eine freie Richtung in religiöser Hinsicht verfolge, z.B. statt der Heiligentage die Todestage von Lassalle oder Thomas Müntzer aufführe); ebd. 27.9.1874 (Abonnementseinladung für Spechts »Sonntags-Blatt«); Vorwärts 31.3.1878 Nr.38 S.4 (Abonnementseinladung für Spechts »Menschenthum«), Positive Rezensionen in Volksstaat 17.5.1876 Nr.57 S.4 (über Spechts »Populäre Entwicklungsgeschichte des Weltalls«, 1877 und 1878 auch in der Vertriebswerbung des »Volksstaats«); Vorwärts 10.4.1878 Nr.42, S.3 (über Spechts »Theologie und Wissenschaft oder alte und neue Weltanschauung«: »Zieht der Verfasser unerbittlich gegen Alles zu Felde, was sich dem naturwissenschaftlichen Wissen als Glauben, gleichviel in welcher Form, entgegen stemmt, so können wir wohl annehmen, daß die Consequenz dieser Anschauungen notwendigerweise zum Sozialismus führen muß.«); Neue Welt 20/1886, S.480 (Rezension eines Specht-Dramas). Übernahme von Texten Spechts: Neue Geselbchafi 1 / 1877/78, S. 190-208 (Artikel »Ueber die Erblichkeit und Vererbung geistiger und körperlicher Eigenschaften«) ; Crimmitsctiauer Bürger- und Bauernfreund 29.1.1 878 Nr.24 S. 1 f. (Artikel »Zur Psychologie des Mordes«), Mit der wachsenden Distanz zu einem sich nicht offen zur Sozialdemokratie bekennenden Freidenkertum wuchs jedoch auch der Abstand zu Specht, der nun der »Leisetreterei« und »schlaue(n) Rücksichtnahme« bezichtigt wurde: Sächsisches Wochenblatt 5.6.1889 Nr.67 S.2. Zur Biographie Spechts vgl. Simon-Ritz, Organisation, S.92.

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Social-Demokratie gemeinsam ist; ja, sie müssen früher oder später einsehen, daß die freien religiösen Gemeinden es sind, welche durch die Verbreitung der neuen Weltanschauung, durch die Aufhebung des unseligen Zwiespalts von einem Diesseits und Jenseits, durch die Bekämpfung der priesterlichen Vertröstungen auf die Seligkeit nach dem Tode, der Entstehung und Ausdehnung der social-demokratischen Bestrebungen zunächst in Deutschland wesentlich Vorschub geleistet haben, [...].«28

In einem Vortrag vor der freireligiösen Gemeinde im fränkischen Schwabach verteidigte Carl Scholl im darauffolgenden Jahr die sozialdemokratische Kirchenaustrittskampagne, wiederum mit der Bitte, daß die Arbeiterparteien den Religionsbegriffnicht aufgeben und zum Eintritt in die freien Gemeinden aufrufen sollten. Unmittelbar vor Scholls Vortrag fand im selben Saal eine sozialdemokratische Versammlung mit dem späteren Reichstagsabgeordneten Carl Grillenberger (1848-1897) als Referenten statt. Der Korrespondent des »Vorwärts« bemerkte in seinem Bericht: »Wir Genossen blieben [nach Grillenbergers Referat] natürlich auf unseren Sitzen und müssen constatiren, daß der Vortrag [Scholls] ein ausgezeichneter war.«29 Innerhalb des Parteimilieus stellten die sozialdemokratischen Mitglieder von freireligiösen und freidenkerischen Gemeinden und Vereinen eine gewichtige Minderheit dar. Genauere Quantifizierungen sind hier zwar kaum möglich. Daß es sich keineswegs um eine Quantite négligeable handelte, mag aber die Tatsache verdeutlichen, daß noch in der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion von 1890, als die erste Phase der innerparteilichen Marxismus-Rezeption bereits abgeschlossen war - Marx und Engels hatten sich stets kritisch insbesondere gegenüber der freireligiösen Bewegung geäußert -, noch mindestens 7 von 35 Fraktionsmitgliedern einer freireligiösen Gemeinde angehörten.30 Einen nennenswerten freireligiösen bzw. freidenkerischen Einfluss wiesen auch lokale Parteimitgliederschaften auf. Die 1845 begründete »Freireligiöse Gemeinde Berlin« (1869: 702 zahlende Mitglieder, 2876 »Seelen«; 1890: 1501 zahlende Mitglieder) wurde Mitte der 1880er Jahre von Sozialdemokraten regelrecht übernommen. Noch Anfang 1878 verhinderten die »bürgerlichen 28 Scholl, Gemeinden. Vgl. die positiven Besprechungen dieses Vortrags bzw. dieser Schrift in der sozialdemokratischen Presse: Wahrheit 20.9.1877 Nr.219 S.l; Vorwärts 26.10.1877 Nr.126 S.3; Neue Gesellschafi 1/1878, S.222. Zum Verbot der Schrift während des Sozialistengesetzes s. Stern, Kampf Bd. 1, S. 512-15. Vgl. auch Simon-Ritz, Organisation, S.65f.; zur Biographie Scholls ebd.. 29 Nümberg-Fürther Sozialdemokrat 9.2.1878 Nr.34 S.lf.; Vorwärts 15.2.1878 Nr.19 S.4 (Zitat). 30 Es waren dies August Dreesbach (1844-1900), Carl Grillenberger (1848-1897), Carl Wilhelm Stolle (1842-1918) und Carl Ulrich (1853-1933) (im »Reichstags-Handbuch« explizit als »freireligiös« bezeichnet), weiterhin August Heine (1842-1919) (Bezeichnung »konfessionslos«, Heine war jedoch Vorsitzender der Freireligiösen Gemeinde Halberstadt) sowie Fritz Kunert (1850-1932) (»Atheist«) und Franz Tutzauer (1852-1908) (»Dissident«) (beide aus der Freireligiösen Gemeinde Berlin). Vgl. Amtliches Rekhstags-Handbuch. Zur Ablehnung des Deutschkatholizismus durch Marx und Engels s. Bahn, S.76.

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Kräfte« in der Gemeinde die Wahl Theodor Metzners (1830-1902), neben Wilhelm Hasenclever (1834-1889), dem Organisator der Berliner Wahlkämpfe August Heinsch (1847-1878) und Adolph Hoffmann (1858-1930) das prominenteste sozialdemokratische Gemeindemitglied, zum Zweiten Vorsitzenden der Gemeinde. Wenig später schon vertrieb die freireligiöse Gemeindebuchhandlung zahlreiche sozialistische Druckschriften. Während des Sozialistengesetzes erlangten Sozialdemokraten durch Neueintritte die Mehrheit in der Gemeinde, so daß aus den Vorstandswahlen 1886 eine von Parteigenossen dominierte Gemeindeleitung hervorging. In den nächsten Jahren bestimmten Sozialdemokraten das Leben der Berliner Freireligiösen Gemeinde: das spätere Reichstagsmitglied Fritz Kunert (1850-1931), Franz Tutzauer (1852-1908), Ewald Vogtherr (1859-1923) und Bruno Wille (1860-1928), alle als Jugendlehrer der Gemeinde bzw. im Gemeindevorstand tätig. Die Gemeinde war nun behördlichen Restriktionen ausgesetzt, die auch auf ihre sozialdemokratische Prägung zurückgingen. 1886 wurden kurzzeitig die Sonntagsvorträge untersagt, da sie angeblich sozialistischen Bestrebungen Vorschub leisteteten. Drei Jahre später entzog die Provinzialschulbehörde nach einem denunziatorischen Artikel in Adolf Stoeckers »Reichsboten« Fritz Kunert, dem Religionslehrer der Gemeinde und in diesen Jahren ebenso wie Vogtherr sozialdemokratischer Stadtverordneter in Berlin, das Unterrichtsrecht, da Kunert als Stadtverordneter Grundsätze vertreten habe, die mit der Ehrfurcht vor Gott unvereinbar seien. Aber auch andere freigeistige Vereine in Berlin wie der Freidenker-Verein »Lessing« - im Vorstand saß der sozialistische Literat und Liebknecht-Vertraute Robert Schweichel (1821-1907) - und die »Ethische Gesellschaft« (1889) standen unter sozialdemokratischem Einfluss.31 In Leipzig wurde Ludwig Würkert (1800-1876), ehemaliger Pfarrer, 1848er und nach dem Ausscheiden aus dem Pfarramt und mehreren fahren Zuchthaus 31 Krapp, bes. S.86-91, 108-12 (Konflikt um Kunert), Zitat (»bürgerlichen Kräfte«) ebd., S.87. Vgl. Recht aufArbeit 28.2.1889 Nr.249 S.3; Beniner Volksbtatt 4.2.1886 Nr.29 S.4 (Bericht von der zukunftsweisenden Wahl eines sozialdemokratisch dominierten Gemeindevorstands; das »Berliner Volksblatt« berichtete in diesen Jahren ausfuhrlich von den Konflikten in der und um die Gemeinde); Wille, S.29-31; Tschim, S.188 (Zahlen); zuletzt Simon-Ritz, Organisation, S.69-71 (dort auch Kurzbiographien von Wille und Vogtherr). Schon 1869 gehörte der Gemeinde angeblich Carl-Wilhelm Tölcke (1817-1893) an, seinerzeit Vizepräsident des ADAV: Demokratisches Wochenblatt 7.8.1869 Nr.32 S.363f.. Von Wilhelm Hasenclever, 1869-1871 und 1874-1888 Mitglied des Reichstages, druckte die Parteipressse des öfteren freireligiöse Gedichte (z.B. das »Osterlied« in Neuer Soctal-Demokrat 31.3.1872 Nr.39 S.4). Ein Jahr nach seinem Tod wurde auf dem Berliner freireligiösen Friedhof in der Pappelallee unter der Beteiligung von 10.000 Teilnehmern ein Denkmal Hasenclevers enthüllt: Berliner Volksblatt 26.8.1890 Beilage zu Nr.197 S.l. Adolph HofTmann war seit 1873 Mitglied der Berliner freireligiösen Gemeinde und seit 1876 Mitglied der SAP. 1884 wurde er aus Preußen ausgewiesen, kehrte aber später nach Berlin zurück. HofTmann wurde nach der Jahrhundertwende zum bekanntesten antikirchlichen Agitator der Sozialdemokratie, was auch sein Wirken im preußischen Kultusministerium 1918 bestimmte. Siehe Groschopp, S.118f, 398-403. Zu Schweichel als Freidenker vgl. Menschenthum 3.12.1882 Nr.49 S.195.

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Gastwirt (in seinem »Hotel de Saxe« fanden 1863 die ersten Leipziger ADAVZusammenkünfte statt), sowohl als freireligiöser Prediger und Herausgeber der »Freien Glocken« (mit einer enormen Auflage von angeblich 100.000 Stück) wie auch als engagierter Sozialdemokrat (ADAV-Kandidat bei den Wahlen zum Norddeutschen Bund 1867) in der jungen Arbeiterschaft geschätzt. Seine Lassalle verherrlichenden Gedichte, etwa die »Arbeitertreue«, fanden große Verbreitung.32 In diese Tradition fügten sich auch die prominenten Genossen Julius Vahlteich (1839-1915) und Friedrich Wilhelm Fritzsche (18251905), deren sozialdemokratischer Weg in Leipzig begann und die beide einer deutschkatholischen Gemeinde angehörten. Freireligiöse Präferenzen blieben in Leipzig bis in die 1880er Jahre erkennbar. Während des Sozialistengesetzes diente der »Arbeiterbildungsverein« (ABV) als sozialdemokratische Tarnorganisation. Hier sprachen oft freireligiöse Redner (August Specht, Dr. Völkel) in hauptsächlich von Arbeitern besuchten Versammlungen zu Themen wie »Idealismus und Materialismus« oder »Die Reformationszeit«; unter den vom Verein abonnierten Zeitschriften befanden sich die »Freien Glocken« und »Klemich's Blätter für geistigen Fortschritt.« Im Leipziger ABV wirkte auch der Arbeiterdichter und Freireligiöse Friedrich Bosse. 1888 kam hier sein »Soziales Bild«: »Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft!« zur Uraufführung. Im Mittelpunkt dieses Agitationsstückes standen die Klaars, ein junges Proletarierpaar, dessen Weg in die Sozialdemokratie Bosse nachzeichnete. Eine wichtige Etappe stellte dabei der Kirchenaustritt dar; eine neue Heimat bot zunächst die freie Gemeinde, stand doch deren Prediger für »die herrlichsten Grundsätze«.33 In Nürnberg traten nach der Empfehlung des Mainzer SDAP-Kongresses September 1872 ca. 50 Sozialdemokraten aus den etablierten Großkirchen aus und in die Freireligiöse Gemeinde ein. Bei der Beerdigungsfeier für Ludwig Feuerbach am 16. September 1872, die zur ersten beeindruckenden MassenManifestation der Nürnberger Sozialdemokratie geriet, hielten mit Carl Scholl und Friedrich Mook (1844-1880) der erste und der zweite Sprecher der Nürnberger freireligiösen Gemeinde, beide Männer mit sozialdemokratischen Sympathien, und der örtliche Parteiagitator und Redakteur des »Fürther Demokratischen Wochenblattes« Anton Memminger, selbst Mitglied der Gemeinde, die Ansprachen. Memminger hatte auf dem Mainzer Kongress 1872 die Resolution für eine Kirchenaustrittsempfehlung an die SDAP-Mitglieder eingebracht. Bei den politisch aktiven sozialdemokratischen Mitgliedern der freireligiösen 32 ZuWürkert: Social-Demokrat 6.7.1865 Nr.83 S.2 (Würkerts »Arbeitertreue«); Crimmitschauer Bürger- und Bauemfieund 5.4.1874 Nr.78 S.l (Abdruck eines freireligiösen Ostergedichts Würkerts); Nürnberg-Fürther Social-Demokrat 25.1.1876 Nr.11 S.l (»Ueber das Begräbniß Ludwig Würkerts«). Vgl. Grote, Religion, S.12-14 u.ö.; Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.205, 207; Offermann, S.293. 33 Neues Freireligiöses Sonntagsblatt 18.9.1887 Nr.23 S.185 (freireligiöser Vortrag im Leipziger ABV); Stern, Kampf Bd.2 t S.680-82; Bosse, Arbeitervereine, S.59. Zu Sachsen insgesamt Kolbe,

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Gemeinde handelte es sich keineswegs nur um bürgerliche Parteiintellektuelle: Carl Grillenberger hatte den Schlosserberuf erlernt, M. Seischab war Flaschnerjohann Siebert Leistenmacher. Wilhelm Bios (1849-1927), später Reichstagsabgeordneter, pflegte in seiner Nürnberger Zeit die Freundschaft mit Carl Scholl. Scholl hielt in der freireligiösen Gemeinde der Stadt noch 1889 einen Vortrag zum Andenken an Ludwig Feuerbach, der überwiegend von Arbeitern besucht und in der lokalen Parteipresse ausführlich gewürdigt wurde. 34 In Stuttgart entstand am 2. April 1882 die erste Freidenkergemeinde Deutschlands nach Gründung des DFB. Ihr Gründer und erster Sprecher war Albert Dulk, Vorstandsmitglied im DFB und zugleich die maßgebliche Leitfigur der Stuttgarter Sozialdemokratie. Dulk hielt bis zu seinem Tod am 31. Oktober 1884 fast jeden Sonntag die Vorträge in der Gemeinde. Von Beginn an war die Stuttgarter Freidenkergemeinde, deren Mitglieder ganz überwiegend »der Arbeiterklasse« angehörten, polizeilicher Überwachung und behördlichen Schikanen ausgesetzt (z.B. Verbot von Zusammenkünften zur Gottesdienstzeit, entgegen den Bestimmungen des württembergischen Dissidentengesetzes). Nach Dulks Tod übernahm der frühere Rabbiner Jacob Stern Dulks Führungsrolle sowohl in der Stuttgarter Freidenkergemeinde und im DFB (Mitglied des DFB-«Ausschusses«) als auch in der württembergischen Sozialdemokratie. Sein eigenwilliges freidenkerisches Bekenntnis, demzufolge im sozialistischen Zukunftsstaat liberaler Protestantismus und Freidenkerbewegung in einer monistischen Religion aufgehen sollten, legte Stern, einer der besten Marx-Kenner der Partei und als solcher innerparteilich hoch angesehen, in mehreren Aufsätzen und in zwei größeren, im sozialdemokratischen DietzVerlag erscheinenden Arbeiten dar: »Die Religion der Zukunft« (1883) und »Halbes und ganzes Freidenkerthum« (1888). 35 Wohl nirgendwo kam es zu einer derart geschlossenen Symbiose von Freidenkertum und Sozialdemokratie wie im Stuttgart der 1880er Jahre, so daß Clara Zetkin 1911 in ihrem »Neue Zeit«-Nachruf auf Jacob Stern zu Recht daran erinnerte. 36

34 Fürther Demokratisches Wochenblatt 21.9.1872 Nr.38 S.1-4 (Abdruck der Reden von Scholl, Memminger und M o o k z u Feuerbachs Begräbnis); ebd. 2.11.1872 Nr.44S.l (Masseneintritt von Sozialdemokraten in die freireligiöse Gemeinde); Chemnitzer Freie Presse 12.11.1872 Nr.267 S.lf. (zu Mook); Fränkische Tagespost 10.9.1889 Nr.212 S.l (Scholl-Vortrag über Feuerbach); Bios, Denkwürdigkeiten Bd.l, S.105. Vgl. auch Eckert, Liberal- oder Sozialdemokratie, S. 146-51, 178, 240 (allerdings fehlerhaft). 35 Stern, Zukunft; ders., Freidenkerthum. 36 Vgl. Haasis, S.119. Das Freidenkerorgan »Menschenthum« berichtete laufend aus der Stuttgarter Freidenkergemeinde, siehe u.a. Menschenthum 4.6.1882 Nr.23 S.89 (Statuten und Gemeindeleben); ebd. 19.7.1885 Nr.29 S.l 15; ebd. 4.9.1887 Nr.36 S.143 (Zitat »der Arbeiterklasse«); ebd. 4.12.1887 Nr.49 S.195 (Statutenänderung, der Bezug auf den Religionsbegriff fällt weg). Vgl. außerdem Süddeutsche Post 16.2.1883 Nr.20 S.2f. (polizeiliche und behördliche Repressalien); Beniner Volks-Tribüne 5.5.1888 Beiblatt zu Nr. 18 S.2f. (»Dr. Albert Dulk. Eine Gedenkblatt von Franz Goldhausen«); Bäuerle, S.168f; Haasis, S.130f.;Jestrabek, S.12, 18.

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Enge Verbindungen zwischen Sozialdemokratie und Freireligiösen bzw. Freidenkern bestanden aber auch in Thüringen und in der Pfalz.37 Auf weitere prominente Freireligiöse und Freidenker in den Reihen der Sozialdemokratie sei ergänzend kurz verwiesen: Carl Boruttau, Franz Joseph Dittrich38, Bruno Geiser (1846-1898)39, August Heine (1842-1919)40, Moritz Rittinghausen (1814-1890)41 und Philipp August Rüdt42. Aber auch Frauen aus der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterinnenbewegung waren während der 1870er und 1880er Jahre in der freireligiösen Bewegung beheimatet, unter ihnen Agnes Wabnitz (1842-1894), Emma Ihrer (1857-1911) und Ida Altmann (1862-?).43 In sozialdemokratischen Arbeiter (innen) au tobiographien wird deutlich, daß der Weg in die Arbeiterparteien häufig über eine freireligiöse oder freidenkerische Gemeinde führte. Ottilie Baader (1847-1925), später führend in der sozialdemokratischen Frauenbewegung tätig, vermerkte 1921 in ihren Erinnerungen, daß sie erstmals in der freien Gemeinde, der ihre Familie seit dem Austritt aus der Landeskirche 1877 angehörte, mit Sozialdemokraten in Berührung ge37 Zu Thüringen Hess, S.296f; zur Pfalz Bahn, S.199f, 334f.. 38 Redakteur der freireligiösen Zeitschriften »Nemesis« und »Confessionslos« (für letztere Abonnementseinladung im »Votksstaat«), in denen er die Freireligiösen zu sozialpolitischem Engagement aufforderte; ähnlich in Dittrich (u.a. Empfehlung, die »Nemesis« und den »Volksstaat« zu abonnieren, um zu erfahren, ob es einen Himmel gibt, aber auch, wie die Kapitalisten ausbeuten). Als Delegierter forderte Dittrich auf dem sozialdemokratischen Parteikongress 1871 die Herausgabe eines »sozialdemokratischen Katechismus«. 1874 Rückkehr in die katholische Kirche, damit Ende der sozialdemokratischen Betätigung. Vgl. Grote, Religion, S.103f, 184f.. 39 Schwiegersohn Liebknechts, Mitglied des Reichstages 1881-1887, in den 1880ern innerparteilich umstritten. Geiser war 1890 Vorsitzender eines kurz zuvor gegründeten »Breslauer Freidenkerbundes« (s. Menschenthum März 1890 Nr.10 S.39). U m 1878 hatte er Carl Boruttaus Schrift von 1869 über die »religiöse Frage« neu herausgegeben; 1885 hielt er vor Tausenden in Stuttgart eine Gedenkansprache für Albert Dulk (Jestrabek, S.14). 40 Hutmacher. Mitglied des Reichstages 1884-1887 und 1890-1893. 187/ Vorsteher der Freireligiösen Gemeinde Halberstadt, 1885 Mitglied im Bundesvorstand des BFG. Bereits Heines Vater war 1846 Gründungsmitglied der Halberstädter Gemeinde gewesen. Vgl. Vorwärts 13.1.1878 Nr.5 S.3 (Wiedergabe eines von Heine gesprochenen »Prologs« zum Stiftungsfest der freien Gemeinde Halberstadt); Neues Freireligiöses Sonntagsblatt 31.7.1887 Nr.16 S.129; Tschirn, S.167 (Erwähnung der sozialdemokratischen Majorität in der Halberstädter freireligiösen Gemeinde). 41 In Köln tätig, 1877/78 und 1881-1884 Mitglied der Reichstagsfraktion, wegen Fragen der »Parteitagsdisziplin« aus der Fraktion ausgeschlossen, Parteiaustritt. Würdigung als engagierter Freidenker in Menschenthum Februar 1891 Nr.6 S.24. 42 Welch starke Wirkung die religionskritische Agitation des Freireligiösen, Freidenkers und Sozialdemokraten Rüdt an der Parteibasis ausübte, verdeutlichen die Arbeiterautobiographien von Joseph Belli (Wirken Rüdts in Heidelberg um 1870) und Heinrich Georg Dikreiter (in Ludwigshafen um 1890): Loreck, S.148. Vgl. auch Bahn, S.197f. 43 Siehe Krapp, S.244 18 u.ö.; Niggemann, S.296, 314, 342; Groschopp, S.120. Hinzuweisen wäre auch auf Hedwig Henrich-Wilhelmi (1833-1910), die eine führende Position in der Stuttgarter Freidenkergemeinde einnahm und religionskritische Vorträge vor Arbeitern und Arbeiterinnen in ganz Deutschland hielt (Niggemann, S.311; vgl. Simon-Ritz, Organisation, S.98). Vgl. zum Verhältnis von früher freireligiöser Bewegung und Frauenemanzipation auch Paletschek.

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kommen sei. Mitglieder der Gemeinde verschafften ihnen während des Sozialistengesetzes das »Kapital« von Marx, und so hätten sie sich »[...] in der Stille zu Sozialisten herangebildet.«44 Auch weiter zurückliegende familiäre Kontinuitäten konnten eine Rolle spielen. So wurde 1864 die Ortsgruppe des ADAV im pfälzischen Neustadt von Wilhelm Weber gegründet, dessen Vater Johann Valentin Weber 1848/49 der Neustädter deutschkatholischen Gemeinde vorgestanden hatte, in der Revolution den örtlichen Arbeiterverein geleitet und sich nach der Flucht in der Schweiz dem »Bund der Kommunisten« angeschlossen hatte.43 Für die Parteiagitation konnten diese Wege von eminenter Bedeutung sein. So vermerkte ein Korrespondent des »Vorwärts« aus dem nahe Leipzig und Chemnitz gelegenen Leisnig 1877 über freidenkerische Vorträge Oskar Kiemichs in der Region: »Nicht immer von derselben Seite ist allen Menschen beizukommen, um sie für unsere großen menschheitserlösenden Ideen zu gewinnen. So ist bei uns, denen das großindustrielle Leben eigentlich mangelt, anfänglich wenig Interesse für volkswirtschafthliche Fragen zu finden gewesen, wohl aber war unser Publikum für die Diskussion religiöser Fragen zu gewinnen, bis wir endlich von Stufe zu Stufe heute eben so gute Sozialisten geworden sind, als nur irgendwo zu finden sein mögen. Ein großer Theil unseres Verdienstes um die Aufklärung in hiesiger Gegend gebührt zweifellos Herrn Kiemich aus Dresden.«46 Doch darf die freigeistige Bewegung nicht nur als bloßer Katalysator für die Sozialdemokratie gesehen werden. Über die »religiöse Frage« definierten sozialdemokratische Teilmilieus maßgeblich ihre kollektive Identität. Manche Sozialdemokraten fanden auch erst nach dem Parteieintritt über die freireligiöse Bewegung zum Dissidententum. Während des Sozialistengesetzes erhielten Parteimitglieder in freireligiösen und freidenkerischen Gemeinden Heimat und einen gewissen Schutz vor Verfolgungen (von Wilhelm Bios für Bremen bezeugt; Hinweise aber auch für Leipzig, Köln und Hamburg). Daß manche Gemeinden zielgerichtet als sozialdemokratische Tarnorganisationen gegründet wurden, ist nicht ausgeschlossen. Jedenfalls waren auch Freireligiöse Repressalien aufgrund des Sozialistengesetzes ausgeliefert: Publikationen wie etwa die von Andreas Reichenbach herausgegebene »Freie Deutsche Warte« fielen dem Verbot anheim, und Vorträge freireligiöser bzw. freidenkerischer Sprecher wurden verboten, wenn sie auf Einladung von Sozialdemokraten und vor einem Arbeiterpublikum geplant waren. Die Berliner Freireligiöse Gemeinde stellten die Behörden 1879 aufgrund des Sozialistengesetzes erstmals seit der Reaktionszeit nach 1848 wieder unter polizeiliche Überwachung, und die Freidenkergemeinde Weimar erhielt noch 1889 ein Versammlungsverbot 44 Zitiert nach dem Teilabdruck in Emmerich, Lebensläufe, S.269. 45 Bahn, S.193,337. 46 Vorwärts 22.6.1877 Nr.72 S.4. 237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

mit der Begründung, daß ihre Mitglieder Anhänger bzw. Agitatoren der Sozialdemokratie seien und bei Diskussionen über die religiöse Frage auch politische Themen behandelten. 47 Noch näher als den Freireligiösen standen Teile der Sozialdemokratie der Freidenkerbewegung. Auch der jedweder »religiösen Reform« gegenüber grundsätzlich kritisch eingestellte »Sozialdemokrat« begrüßte im August 1880 enthusiastisch den bevorstehenden Brüsseler Freidenkerkongress, zu dem sich schon Joseph Dietzgen, Albert Dulk und Wilhelm Liebknecht angemeldet hätten. »[...] die Befreiung auf dem religiösen Gebiet ist von zahlreichen deutschen Sozialisten stets als hochwichtig genug betrachtet worden, um der Gegenstand einer besonderen Bewegung zu sein, die [...] von uns um so mehr zu fördern und zu begrüßen ist, weil der spezielle Kampf für die religiöse Befreiung oder vielmehr für die Befreiung von der Religion, nicht innerhalb des Wirkungskreises einer politischen Partei geführt werden kann. Aus diesem Grund haben sich von jeher zahlreiche deutsche Genossen - ohne deshalb ihre Kräfte zu sehr der sozialistischen Bewegung als dem Hort aller Befreiung zu entziehen - an den Angelegenheiten der Dissidenten etc. etc. betheiligt und in diesem Sinn begrüßen wir auch die Brüsseler Freidenkerversammlung und würden uns ihrer Arbeiten doppelt freuen, wenn es den in ihr anwesenden Sozialisten gelänge, den nichtsozialistischen Freidenkern den ursächlichen Zusammenhang der religiösen Befreiung mit der politischen und sozialen und die Unmöglichkeit der einen ohne die andere zum Bewußtsein zu bringen. 48 1889 waren die Sozialdemokraten August Rüdt, Jacob Stern und Friedrich Thiele (1837-?) Mitglied im Vorstand des DFB. 49 Daß die kirchliche antisozialistische Publizistik vor diesem Hintergrund der Sozialdemokratie vorwarf, freireligiös bzw. freidenkerisch orientiert zu sein, kann kaum verwundern. 50 Doch sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Verbindung von

47 Menschenthum 25.5.1879 Nr.21 S.83 (Überwachung Berlin); ebd. 22.4.1883 Nr.16 S.63 (Verbot eines Vortrags von August Specht über »Weltanfang und Weltende« in Plauen, zu dem sozialdemokratische Hörer erwartet wurden. Vgl. die Korrespondenz Spechts mit Wilhelm Liebknecht 1883 über die Verbote seiner Vorträge in Sachsen, zu denen Sozialdemokraten eingeladen hatten, in Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.545-56); Blos, Denkwürdigkeiten Bd.2, S.17; Stern, Kampf Bd.l 1956, S.121-25 und Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.178-80 (zum Verbot der »Freien Deutschen Warte«; der freireligiöse Prediger Reichenbach sympathisierte, obwohl Mitglied der Fonschrittspartei, mit der Sozialdemokratie); Stern, Kampf Bd.2, S.1011 (Weimar); Simon-Ritz, Organisation, S.97 (Köln und Hamburg). 48 Sozialdemokrat 15.8.1880 Nr.33 SA 49 Recht auf Arbeit 73.1889 Nr.250 S.4: Vorstandsmitglieder DFB. Der »Buchhändler E.Thiele, Leipzig« ist identisch mit Friedrich Thiele, Leipziger Sozialdemokrat und bis 1872 u.a. Verleger des »Volksstaats« (das »E.« erklärt sich daher, daß das Unternehmen unter dem Namen von Thieles Frau Emilie firmierte, vgl. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.527). 50 Vgl. Pachter, S.44 (der Katholik Pachtler attackiert die »socialistischen Frei-Gemeinden Berlins«); Neues Freireligiöses Sonntagsblatt 25.9.1887 Nr.24 S. 189-91 (Wiedergabe eines Artikels aus Adolf Stoeckers Zeitschrift »Der Reichsbote«, demzufolge die Sozialdemokraten in den freien Gemeinden die Oberhand gewännen).

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freireligiösem bzw. freidenkerischem Bekenntnis und sozialdemokratischer Option immer eine Minderheitenposition blieb, die sich nicht nur von kirchlicher Seite in die Defensive gedrängt sah.

Das Scheitern derfreireligiösen bzw. freidenkerischen Option Die Auffassung von Sozialdemokratie und Freireligiösen- bzw. Freidenkertum als zwei gleichberechtigten Emanzipationsbewegungen, welche die soziale und die religiöse Reform zum Wohle des Menschheitsfortschrittes vorantrieben, war selbst unter überzeugten sozialdemokratischen Freireligiösen und Freidenkern nicht unumstritten. Zwar verstanden diese Parteigenossen im Gegensatz zu den »Ökonomisten« den Emanzipationskampf als eine ganzheitliche Aufgabe mit sozioökomischer, politischer und religiös-weltanschaulicher Perspektive; doch zielte dieses Verständnis zumeist auf eine »Bündelung der Kräfte« und auf einen ganzheitlichen Anspruch nicht nur an den zu führenden Kampf, sondern auch an die in diesem Kampf stehenden Menschen. So forderten freireligiöse und freidenkerische Sozialisten die organisierte freigeistige Bewegung nicht nur zu einem stärkeren sozialpolitischen Engagement auf. 1888 veröffentlichte Jacob Stern eine Schrift »Halbes und ganzes Freidenkerthum«, in der er betonte, daß der »ganze« Freidenker auch Sozialist sein müsse. Ein Freidenkerthum, welches sich nur auf das religiöse Gebiet beschränkt, auf politischem Gebiet aber reaktionär ist, schlägt sich selbst in's Angesicht, sägt den Ast ab, worauf es sitzt. [...] Denn nur in gesunden staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen kann der freie Gedanke gedeihen und sich praktisch verwirklichen; vernünftige politische und soziale Verhältnisse sind der Boden, in welchem die Vernunft ihre Wurzeln ausbreiten, Blüthen treiben und Früchte tragen kann.« »Den Arbeitern gehört die Zukunft und dem Freidenkerthum gehört ebenfalls die Zukunft, wenn es sein Geschick mit dem der Arbeiterbewegung innig verkettet. Darum fort mit dem feigen und bornirten halben Freidenkerthum! Schaaren wir uns muthvoll und begeistert um das erhabene Banner des ganzen Freidenkerthums!« 51

Stern blieb der freigeistigen Bewegung verbunden, anders als zwanzig Jahre zuvor der Arzt Carl Boruttau, seit 1866 Freireligiöser und seit 1868 Mitglied des 51 Stern, Freidenkerthum, S.7f, 20. Wiederholt brachte die Parteipresse Auszüge und Empfehlungen von Sterns »Freidenkerthum«-Schrift (z.B. Berliner Volks-Tribüne 3.11.1888 Beilage zu Nr.44 S.2; Westfälische Arbeiterzeitung 22.12.1888 Nr.33 S.t). Sein Vortrag »Halbes und ganzes Freidenkerthum«, gehalten auf dem Freidenkerkongress von 1888, verursachte bei den Anwesenden nach Bekunden des »Sozialdemokrat« »keinen geringen Schrecken«: Sozialdemokrat 8.7.1886 Nr.28 S.4. Anlass zu Vortrag und gleichnamiger Schrift gab Jacob Stern die Diskussion in der freigeistigen Bewegung, wie man sich zur »sozialen Frage« stellen solle. Am 13. Oktober 1886 war im Chemnitzer »Verein zur Förderung freireligiösen Lebens« ein Vortrag »Ganzes und halbes Freidenkerthum« gehalten worden, derjedes sozialpolitische Engagement der freidenkerischen Vereine ablehnte.

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ADAV.Zur 4. Bundesversammlung des BFG brachte Boruttau 1868 den Antrag ein: »Die Bundesversammlung wolle contstatiren, daß die freien Gemeinden nicht mehr auf dem Boden des historischen Christenthums stehen, sondern das neue religiöse Prinzip des Socialismus als das ihrige anzuerkennen entschlossen sind.«52 Das Votum fand im »Bund« jedoch keine Zustimmung. Boruttau wandte sich von den Freireligiösen ab, denen er die Verteidigung des bürgerlichen Besitzprinzipes vorwarf Eine neue Heimat bekamen er und seine Auffassung vom ganzheitlichen Sozialismus im atheistischen Flügel der Ersten Internationalen (IAA).53 Noch deutlicher wurden die sozialdemokratischen Dominanzansprüche in der »Dissidentenbewegung« Mitte der 1870er Jahre. Angesichts des Widerstandes in Bürokratie und Kirchen gegen die im Kulturkampf in mehreren deutschen Staaten erlassenen Dissidentengesetze zur Regelung des Kirchenaustritts von »Dissidenten« entstanden vielerorts lokale Dissidentenvereine, in Braunschweig 1874 beispielsweise begründet durch den Sozialdemokraten Samuel Kokosky. Den kirchenaustrittswilligen Dissidenten - häufig Mitglieder freireligiöser Gemeinden - erschien bald auch eine überlokale Organisation ihrer Interessen geboten.54 Im Vorfeld eines in Dresden für Ende Juli 1876 anberaumten »Dissidentenkongresses« wurde in der liberalen Presse, die das Vorhaben grundsätzlich begrüßte, eindringlich vor einer »dominirende(n) Stellung« der Sozialdemokraten gewarnt: »Jeder Dissident und Freireligiöse muß dem Verbände beitreten können, und das wird praktisch nicht geschehen, wenn es den Anschein gewinnt, daß die Sozialdemokratie sich der Bewegung zu ihren Zwecken bemächtigt.«55 Diese Befürchtungen sollten sich als wohlbegründet erweisen. Das Dresdener Kongress-Präsidium stellten mit Louis Eckstein (18351922) und Max Kayser zwei ausgewiesene Sozialdemokraten. Während die Gründung eines »Sächsischen Dissidentenbundes« in geschlossener Sitzung auf allgemeine Zustimmung stieß, entfachte die öffentliche Kongressversammlung mit der Tagesordnung »Die Dissidenten und die Sozialdemokratie« lebhafte Kontroversen, an denen sich auf sozialdemokratischer Seite Goldstein, Julius Vahlteich, Petzsch, Oskar Kiemich, Eckstein und Kayser, auf gegnerischer Seite die freireligiösen Prediger Adolf Timotheus Wislicenus (18061883) und Moritz Eisner beteiligten. Während Wislicenus und Eisner auf die 52 Bundesblätter H.19/Juli 1868, S.4. 53 Vgl. Boruttau, Frage, S.15; ders., Religion, S.41-49. Gegen Boruttaus Antrag trat u.a. Leberecht Uhlich auf: Prüfer, Boruttau, S.333f.. 54 Vgl. Chemnitzer Freie Presse 15.6.1876 Nr. 136 S.3 (»Aufruf an alle Dissidenten und freireligiösen Gesinnungs-Genossen Sachsens und der angrenzenden Landestheile!«); ebd. 27.7.1876 Nr. 172 S.3 (Tagesordnung der »Dissidentenversammlung«). 55 »Dresdner Presse«, zitiert nach Chemnitzer Freie Presse 30.7.1876 Nr.175 S.3. Vgl. auch die späteren Tagungsberichte des liberalen »Leipziger Tageblattes«, zitiert in Berliner Freie Presse 2.8.1876 Nr. 178 S.l, und der »Dresdner Presse«, zitiert in Chemnitzer Freie Presse 1.8.1876 Nr. 176 S.2.

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Erfolge der freireligiösen Bewegung verwiesen, zu denen sie namentlich den Kulturkampf rechneten, darauf drangen, daß der Dissidentenbund »religiös gefärbt« sein solle, und das Motto ausgaben: »Hie Dissident, hie Sozialdemokrat!«, betonten die sozialdemokratischen Redner die notwendige Verschränkung von Dissidentenbewegung und Sozialdemokratie. »Die Bestrebungen der Sozialdemokratie wie der Dissidenten entspringen einem tief sittlichen Gefühl, freilich nicht dem, welches die verschiedenen Religionen sich den Anschein geben gepachtet zu haben. Die Dissidenten sind empört darüber, daß das, was man vor Jahrhunderten geglaubt, als Sittlichkeit und Recht anerkannt, noch heute gelten soll. Das allein bekämpfen, heißt wenig gethan, obwohl das Bestreben, dieses Einzelunrecht zu bekämpfen, nicht zu unterschätzen sei. Aber unsere gegenwärtigen Zustände sind eine Lüge, eine Unsittlichkeit; man muß also weitergehen, nicht blos Brosamen sammeln. Die Sozialisten wollen der ganzen Lüge den Schleier herunterreißen. Aus was für Gesellschaftsklassen setzen sich Deutschkatholiken und Freireligiöse zusammen? gewiß vorwiegend aus Arbeitern. Der Arbeiter denkt richtiger und hat auch den Muth, seiner Ueberzeugung Ausdruck zu geben [...] Der Sozialismus ist religionslos, er ist die Schule für die religiöse Freisinnigkeit. Man kann nicht erwarten, daß die Sozialisten mit ihrer Macht ausschließlich für die Dissidenten eintreten werden, dennnoch werden dieselben mit ihrer thatsächlichen Hilfe den Dissidenten beispringen, was übrigens schon heute geschieht.«56 Die beiden freireligiösen Prediger konnten sich gegen die sozialdemokratische Übermacht nicht durchsetzen. Noch am selben Tag trat Eisner aus dem Dissidentenbund wieder aus. Im Dezember 1876 präsentierte sich der Bund auf einer Versammlung in Chemnitz erstmals einer breiteren Öffentlichkeit. Als Hauptredner hatte man den Handelsakademiedirektor Oskar Kiemich (1845?) gewonnen, den Kopf der Dresdner freigeistigen Bewegung, 1876-1878 sozialdemokratischer Agitator im Königreich Sachsen (häufig im religionskritischen Sinne, was ihm mehrere § 166-Prozesse einbrachte) und 1877 Kandidat des Kreises Chemnitz-Land bei den sächsischen Landtagswahlen. Der publizistisch äußerst rege Kiemich, der mit »Klemich's Blättern für geistigen Fortschritt« zudem das offizielle Organ des Dissidentenbundes herausgab, vertrat ein radikales Dissidententum, das sich bereits vor der Gründung des DFB von freireligiösen Positionen gelöst hatte und eine religionslose Sittlichkeit anstrebte. Seit 1873 stand Kiemich der Dresdener »Freidenker-Gemeinde« vor.57 Seine 56 Chemnitzer Freie Presse 3.8.1876 Nr.178 S.3 (alle Zitate; das letzte aus der Wiedergabe des Debattenbeitrags von Julius Vahlteich, der selbst Deutschkatholik war). Von den sozialdemokratischen Rednern ging Petzsch am weitesten, nach seiner Überzeugung war eine gesonderte dissidentische Bewegung überflüssig, da jeder Dissident »auch sofort Sozialdemokrat sein« müsse (ebd.). 57 Zu Kiemichvgl.Bundesblätter H.43 / Februar 1874, S.10 (Kiemich 1873 Vorstand der Dresdener »Freidenker-Gemeinde« mit ca. 300 Mitgliedern); Haan, S.159f.; Stern, Kampf Bd.l, S.525f. (Vertriebsverbote der religionskritischcn Schriften Kiemichs während des Sozialistengesetzes; als Handelsakademiedirektor erhielt Kiemich Berufsverbot). 1880 war der freidenkeri241 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35166-7

polemische, scharf antireligiöse Chemnitzer Rede, die mit Spitzen gegen die sächsische Geistlichkeit nur so gespickt war, erntete lebhaften Beifall. Als jedoch ein »liberaler Kaufmann, Herr Roth«, den »zynischen« Ausführungen Kiemichs widersprach, rechneten Kiemich und der ebenfalls anwesende Julius Vahlteich mit dem Freireligiösentum ab, das als Auswuchs des halbherzigen kirchlichen Liberalismus gebrandmarkt wurde. »Die Liberalen« verließen daraufhin den Saal. Kiemich beschloss die Versammlung mit einem Aufruf zum Kirchenaustritt und zum Eintritt in den Dissidentenbund. Die »Chemnitzer Freie Presse« kommentierte: »Nur die Sozialdemokratie steht außerhalb der heutigen Weltordnung, und sie allein vertritt das Dissidententhum. U m die politische Parteifrage sich herumzudrücken, wie es zum Theil versucht wird, ist nicht möglich, denn alle wesentlichen Forderungen der Dissidenten sind politische Forderungen. Wer also als Dissident der Sozialdemokratie feindlich oder nur der nationalliberalen, resp. Fortschrittspartei freundlich ist, der ist ein Verräther an der Dissidentensache, ‹‹58

Auch in der kurzlebigen Dissidentenbewegung-1879 wurde der Dissidentenbund aufgrund des Sozialistengesetzes verboten - zeichnete sich also ein Bruch zwischen Sozialdemokraten und Freireligiösen ab. Freireligiöse und freidenkerische Sozialdemokraten, in noch stärkerem Maße aber andere, diesen Bewegungen kritisch gegenüberstehende Parteigenossen attackierten häufig die vorgebliche politische und sozioökonomische Ignoranz insbesondere der Freireligiösen. Die freigeistige Bewegung wurde als bürgerlich-liberale Veranstaltung diskreditiert, die - »in vielen Fällen Brutstätte des Nationat-Liberalismus« - fest im liberalen Milieu verankert sei und den Politik- und Gesellschaftskonzepten der Bourgeoisie huldige.59 Schon 1870 hatte ein Leitartikel des Augsburger »Proletariers« mit dem Titel »Die freireligiöse Propaganda und der Sozialismus« diese Kritik auf den Punkt gebracht:

sche Sozialdemokrat, 1876 noch als »einer der wackersten und thätigsten Parteigenossen in Dresden« gekennzeichnet (Chemnitzer Freie Presse 14.12.1876 Nr.289 S.1), in der Partei in Ungnade gefallen: Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.283. 58 Chemnitzer Freie Presse 14.12.1876 Nr.289 S.lf. (Leitartikel »Eine Dissidentenversammlung«). 59 Cnmmitschaer Bürger- und Bauernfreund 7.6.1872 Nr.130 S.l (Zitat aus dem Leitartikel »Ueber die Stellung der socialdemokratischen Partei zu den Freireligiösen«, übernommen aus der »Chemnitzer Freien Presse«). Vgl. entsprechend Chemnitzer Freie Presse 6.8.1871 Extra-Ausgabe: Aufsatz von Johann Most »Die religiöse Bewegung in Deutschland und der Sozialismus«; Wahrheit 20.9.1877 Nr.219 S.l (Kommentar zu einem Vortrag Carl Scholls: Nicht wegen des sozialdemokratischen »Religion als Privatsache«-Grundsatzes, wie Scholl meinte, sondern wegen der Gegnerschaft der meisten Freireligiösen auf politisch-sozialem Gebiet hielten sich viele Parteigenossen von der freireligiösen Bewegung fern); Protokoll, 1890, S.174f (Parteitagsrede Wilhelm Liebknechts, in der er die »Erklärung der Religion zur Privatsache« verteidigte; die Freireligiösen, zumeist »Fortschrittler oder Volksparteiler«, böten keine Alternative).

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»Die freireligiöse Bewegung hat ohne Zweifel für jeden denkenden Menschen etwas achtbares, wenn man sie bloß von ihrer idealen Seite betrachtet; vom praktischen Standpunkte aber und bei Erwägung der thatsächlichen Verhältnisse müssen wir sie als ein glänzendes Spielzeug, bestimmt die Volksmassen von der Politik ferne zu halten, erkennen. Das orthodoxe Christenthum hat seine Schuldigkeit gethan, es kanngehen!, so meint unsere ›liberale‹ Ausbeuterklasse (Bourgeoisie); [...] die liberale Bourgeoisie [...] will sich mit dem PfafFenthum nicht mehr die Beute theilen, und um den lästigen Spießgesellen von ehedem zu schwächen, dienen die Worte: ›Aufklärung, Licht, Menschlichkeit‹ [...]. Die Bourgeoisie, welche hin und wieder zum Zeitvertreib auch in Freigeisterei und Freimaurerei macht, wird hierdurch im Ganzen niemals sich abhalten lassen, nach wie vor von der Ausbeutung des arbeitenden Volkes ihren Reichthum zu sammeln [...].«60 Angesichts der Debatten im BFG, aber auch im DFB werden die sozialdemokratischen Attacken nachvollziehbar. Die »soziale Frage« landete zwar gelegentlich auf der Tagesordnung von Freireligiösen und Freidenkern, doch war die Diskussion in der Regel von einer bemerkenswerten Unentschlossenheit geprägt, die sich nicht über Allgemeinplätze aufschwang. Sie mündeten letztlich in der Selbstverständigung, daß man die religiöse bzw. ethisch-weltanschauliche Reform in den Mittelpunkt stellen müsse und soziale und politische Fragen allenfalls am Rande berücksichtigen könne. Als Organisationen verwahrten sich sowohl BFG als auch DFB gegen jedwede parteipolitische Festlegung. Sozialdemokratisch orientierte freireligiöse Protagonisten und Gemeinden Carl Boruttau, August Heine (für Halberstadt), Carl Ernst Klees (für Buckau bei Magdeburg) - liefen gegen diese in den Debatten der Provinzial- und Bundesversammlungen des BFG zur sozialen Frage 1867-1885 immer wieder bestätigte Enthaltsamkeit vergeblich Sturm. Selbst die Aufforderung, Lehrer und Sprecher der Gemeinden sollten »[...] in ihrer öffentlichen Thätigkeit nicht der Emanzipation der arbeitenden Klassen entgegen [...] treten«, wurde mit der Ablehnung von solch »wüste(m) Partheigezänk« beantwortet. Stattdessen berief die Bundesversammlung des BFG 1885 eine Kommission, um das freireligiöse »Verhältnis zu den brennenden und socialen Lebensfragen der Menschheit« zu klären. Was diese Kommission erarbeitete, ist unbekannt. 61 60 Proletarier 30.10.1870 Nr.66 S.l. In diese Motivik fugt sich eine Korrespondenz des »Vorwärts« von 1878 ein, derzufolge ein Tischler in Heidelberg wegen seiner sozialdemokratischen Agitation von seinem Arbeitergeber, dem Vorsteher der Heidelberger freireligiösen Gemeinde, entlassen worden sei: Vorwärts 10.7.1878 Nr.80 S.4. 61 Bundesblätter H.81 / Mai 1885, S.7: Antrag der freireligiösen Gemeinde Buckau an die Bundesversammlung (erstes Zitat). Auf der Versammlung konnten sich die von August Heine unterstützten Buckauer in der Debatte über die soziale Frage mit ihrem Votum für eine Politisierung der Bewegung nicht durchsetzen: ebd. H.82 / September 1885, S.20, 25f. (zweites und drittes Zitat); Menschenthum 21.6.1885 Nr.25 S.98f.. Vgl. auch die Berichte von Bundes- und Regionalverbandsversammlungen in Bundesblätter H.16/ 1867, S.8-13; ebd. H.26 / November 1869, S.8-10; ebd. H.28/Juli 1870, S. 12-15; ebd. H.29/Oktober 1870, S.6; ebd. H.33/Juli 1871, S.10f.;«M. H.44

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Mehrheitsmeinung im BFG blieb das, was bereits im Vorfeld der Bundesversammlung von 1885 die Resolution einer Synode südwestdeutscher freier Gemeinden zum Ausdruck gebracht hatte: »Wir erkennen jedes Streben [...], die freie religiöse Gemeinde für politische und sociale Parteizwecke zu beeinflußen, für eine Verirrung, gegen welche wir alle ohne Unterschied der Partei Verwahrung einlegen müssen, damit die freireligiöse Gemeinde nicht zu einem Parteiverein herabsinke.«62 Auch der sozialdemokratische Vorwurf einer liberalen Dominanz in der freigeistigen Bewegung entbehrte nicht jeder Grundlage. Daß freireligiöse Gemeinden wie Berlin oder Freidenkergemeinden wie Stuttgart sozialdemokratisch majorisiert waren, stellte eher die Ausnahme dar. Mehrere freireligiöse Prediger und Gemeindesprecher gehörten liberalen Parteien an und entfalteten entsprechende parteipolitische Aktivitäten: so Eduard Baltzer (Prediger der freien Gemeinde Nordhausen, Mitglied der Deutschen Fortschrittspartei von der Gründung bis zu seinem Tod, Vorsitzender der Nordhausener Stadtverordnetenversammlung), Julius Rupp (freireligiöser Prediger und Publizist in Königsberg, 1862/63 für die Fortschrittspartei im Preußischen Abgeordnetenhaus), Heinrich Ernst Sachse (1813-1883, freireligiöser Prediger und Schriftsteller, seit 1876 Sprecher der Magdeburger Gemeinde, in den 1860ern für die Fortschrittspartei Stadtverordnetenvorsteher in Aschersleben) und Andreas Reichenbach (Prediger der freireligiösen Gemeinde Breslau, 1879 Mitglied der Fortschrittspartei).63. Die Vorstände der Gemeinden rekrutierten sich in der Regel aus gehobenem Bürgertum und Kleinbürgertum. So wurden z.B. 1883 ein Architekt, zwei Fabrikanten, ein Weinhändler und ein Goldarbeiter in den Vorstand des »Freireligiösen Vereins Hannover« gewählt.64 Weniger eindeutig sind die z.Zt. verfügbaren Daten zur Mitgliederbasis von freireligiösen und freidenkerischen Gemeinden und Vereine. Auf der einen Seite beklagten BFG-Funktionäre Mitte der 1870er Jahre, daß die Arbeiter die freien April 1874, S.l lf. (hier besonders deutlich, daß sozialdemokratische Einflüsse in den Gemeinden bestanden, aber auf Widerstand stießen); ebd. H.49/Juli 1875, S.5f.; ebd. H.56/Juli 1878, S.23. 62 Es werde Licht Juni 1885 Nr.9, S.133. Entsprechenden Aggressionen gegen parteipolitische Färbungen begegnet man auch im Freidenkerorgan »Menschenthum«. In dem Bericht über einen Vortrag der sozialdemokratisch beeinflussten Hedwig Henrich-Wilhelmi aus der Stuttgarter Freidenkergemeinde z.B. belehrte die Zeitschrift die Rednerin, die eine freundliche Stellung des Freidenkertums zu den Bestrebungen der Arbeiter angemahnt hatte: »Die soziale Frage ist - das mag sich die geschätzte Rednerin ein für alle Mal gesagt sein lassen - keine Partei- sondern eine Kulturfrage.« Menschenthum September 1889 Nr.36 S.143; vgl. ebd. Dezember 1890 Nr.52 S.208. 63 Menschenthum 21.8.1881 Nr.34 S.136 (Baltzer); ebd. 5.8.1883 Nr.31 S.125 (Sachse); Neues Freireligiöses Sonntagsblatt 3.7.1887 Nr.12 S.97 (Baltzer); Stern, Kampf Bd.l, S.122 (Reichenbach); Prüfer, Boruttau, S.330 (Rupp). 64 Bundesblätter H.75 /Juli 1883, S.7. Ahnlich »bürgerlich« dominiert 1883 der Vorstand des »Vereins zur Förderung freireligiösen Lebens« in Chemnitz: ein Literat, ein Ingenieur, drei Kaufmänner, ein Cylinderfabrikant, ein »Agent«, ein Eisendreher (Menschenthum 2.12.1883 Nr.48 S.193).

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Gemeinden zunehmend mieden, was auch auf die feindliche Propaganda der Sozialdemokratie zurückgeführt wurde: »In vielen Arbeiterkreisen wird jetzt unser Bestreben als eine Ablenkung von den wichtigeren socialen Aufgaben betrachtet.«65 Auf der anderen Seite scheinen etwa in Sachsen während des Sozialistengesetzes, aber auch schon zuvor massiv Angehörige der »unteren Klassen« in die freireligiösen Gemeinschaften eingeströmt zu sein.66 Während der kurzzeitigen Blüte des liberalen Arbeitervereinswesens in den 1860er Jahren standen, wie erwähnt, viele in diesen Vereinen organisierte Arbeiter offensichtlich der freireligiösen Bewegung nahe. Daß freireligiöse Wortführer wie Leberecht Uhlich, zugleich Vorsitzender des Magdeburger Arbeiterbildungsvereins, die sich abzeichnende Emanzipation eines Flügels im »Vereinstag Deutscher Arbeitervereine« (VDAV) von der liberalen Dominanz zu unterbinden suchten, entfremdete manchen Arbeiter auch von der religiösen Reformbewegung.67 Uhlich hielt in Arbeiterbildungsvereinen Vorträge zugunsten der liberalen Selbsthilfe-Idee; im Anschluss daran ließ er das Publikum pro und contra Schulze-Delitzsch und Lassalle abstimmen. Der sozialdemokratische »Nordstern« kommentierte sarkastisch: »Die Schulze'sche Selbsthülfe ist - nur schärfer präzisiert - die rein menschlich-religiöse Sittlichkeit der Freigemeindler.«68 1868 erteilte Uhlich im Magdeburger Arbeiterbildungsverein dem Böttchermeister Julius Bremer (1828-1894) ein Redeverbot »für alle Zeiten«. Bremer hatte im Verein Vorträge über Lassalle und Marx gehalten. Eine heftige Polemik in der Arbeiterpresse gegen Uhlich, der in der Arbeiterschaft hohes Ansehen genossen hatte, war die Folge. Bremer löste sich vom Arbeiterbildungsverein und leitete zunächst die Magdeburger IAA-Sektion, ab 1869 dann den sozialdemokratischen Arbeiterverein der Elbestadt und wurde zu einer führenden Gestalt der Magdeburger Sozialdemokratie.69 65 Bundesblätter H.34 /Juli 1872, S.3. 66 Kalbe, S.210f„ 67 In der Auseinandersetzung mit einem für die freien Gemeinden werbenden Vortrag Carl Scholls in Nürnberg verwies die »Fränkische Tagespost« 1880 nochmals auf diese Situation in der liberalen Arbeitervereinsbewegung der 1860er Jahre; die sozialpolitische Ignoranz der bürgerlichen Eliten in der Bewegung habe die Arbeiter vom Freireligiösentum entfremdet: Fränkische Tagespost 23.10.1880 Nr.250 S.l. 68 Nordstern 30.7.1864 Nr.268, S.4 (Zitat); ähnlich schon ebd. 4.6.1864 Nr.260 S.3. Vgl. den im »Volksstaat« 1871 aufgenommenen »Offenen Brief« eines Wilhelm Hock aus Regenburg an Uhlich; Hock warf dem Freireligiösen vor, die »Versöhnung von Kapital und Arbeit« zu »predigen« (Volksstaat 29.7.1871 Nr.61 S.4). Ähnliche Vorwürfe richtete der Fabrikarbeiter, Gründer der freireligiösen Gemeinde Erfurt und ADAV-Aktivist F. Bruno Schramm in einem »Offenen Sendschreiben« an den Nordhausener freireligiösen Prediger Eduard Baltzer: s. Social-Demokrat 11.2.1866 Beilage zu Nr.35 S.5. 69 Zur Kontroverse Uhlich/Bremcr s. Vorbote Juli 1867 Nr.7 S.105; Demokratisches Wochenblatt 5.9.1868 Nr.36 S.286f; ebd. 7.11.1868 Nr.45 S.358f; Boruttau, Religion, S.43f; Grote, Religion, S.97,99. Zu Julius Bremer Liebknecht, Briefwechsel Bd.1, S.273; Offermann, S.463. Allerdings stießen die Angriffe des »Demokratischen Wochenblattes« auf Uhlich nicht auf ungeteilte Zustimmung in der Leserschaft; vgl. hierzu Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.274. Mit der liberalen

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Noch deutlicher als Uhlich wurde der Mainzer deutschkatholische Prediger und liberale Arbeitervereinler Wilhelm Hieronymi (1809-1884) in seinen antisozialistischen Broschüren. Die vaterlandslosen Sozialdemokraten wollten den gewaltsamen revolutionären Umsturz und die Aufhebung allen Privateigentums; deshalb sei das Sozialistengesetz völlig gerechtfertigt. Die Schulen müssten gegen die »rote Gefahr« gewappnet werden, jedoch nicht mit dem Katechismusunterricht vergangener Tage, sondern mit Bildung und Wissen. Die »wirksamsten Gegenmittel unserer Zeit gegen die communistische Revolution« und gegen die »programmäßige Aufhetzung und Anreizung zum Klassenhaß« seien die Genossenschaften Hermann Schultze-Delitzschs.70 Ähnlich erklärte 1880 das Freidenker-Organ »Menschenthum«, nicht das »wundergläubige Christenthum«, sondern nur »vernünftige Volksbildung und [„.] werkthätige Humanität« böten eine »[...] geeignete Waffe, um die Sozialdemokratie wirksam zu bekämpfen.«71 Nicht ohne Grund sahen freireligiöse Funktionäre die »socialistischen Partheiungen, sobald sie in die Gemeinden getragen werden«, als »die Gefahr, welche [...] die Gemeinden am stärksten bedroht«.72 So führte in Berlin der Dissens zwischen bürgerlich-liberalen und sozialdemokratischen Mitgliedern zur Spaltung der freireligiösen Gemeinde: Nach der Wahl eines sozialdemokratisch dominierten Vorstandes 1886 gründete der Sprecher der Gemeinde Georg Siegfried Schäfer (1828-1904) gemeinsam mit dem früheren Gemeinde-Vorsitzenden, dem Gärtnereibesitzer L. May, und weiteren Mitgliedern des alten, bürgerlich-liberalen Vorstandes eine »Humanistische Gemeinde« als Gegenunternehmen. Auch in Stuttgart zog sich das gehobene Bürgertum aus der Freidenkergemeinde zurück, nachdem sie 1887 unter Führung des Sozialdemokratenjacob Stern ihren »religiösen Standpunkt« radikalisiert hatte.73

Arbeitervereinsbewegung sympathisierte offensichtlich auch der »Vater« des Deutschkatholizismusjohannes Ronge (1813-1887), vgl. Nordstern 97.1864 Nr.265 S.2f.. 15Jahre später warf die Parteipresse Ronge eine sozialpolitische Annäherung an Adolph Stoecker vor: Vorwärts 20.2.1878 Nr.21 S.3;ebd. 14.4.1878 Nr.44 S A 70 Hieronymi, Utopia (Zitate S.5, 15). Vgl. ders., Herostrat-Lassalle. In der Sozialdemokratie wurden die Angriffe Hieronymis weitgehend ignoriert (Ausnahmen: die freireligiös-sozialdemokratischen »Offenen Briefe« an Hieronymi von Richard Schmelzer - »Begreifen Sie denn nicht, daß die Freidenkerei von heute im engen Zusammenhang mit der sozialen Frage steht?«- in Volksstaat 4.9.1872 Nr.71 S.4, und vom Nürnberger Sozialdemokraten und Freireligiösen Anton Memminger, in ebd. 11.9.1872 Nr.73 S.4. Vgl. auch Protokoll, 1872, S.12f.; Becker, Geschichte, S.219f.). Zur Biographie Hieronymis s. Offermann, S.293; Hölzern, S.377f. 71 Menschenthum 30.5.1880 Nr.22 S.90f; vgl. ebd. 22.5.1887 Nr.21 S.83 (Stellungnahme zugunsten liberaler Selbsthilfe-Genossenschaften). 72 Bundesblätter H.82 / September 1885, S.18 (Votum des Berliner freireligiösen Predigers Schäfer auf der Bundesversammlung des BFG). 73 Wille, S.30 (Berlin); Tschim, S.151 (Berlin); Menschenthum 4.12.1887 Nr.49 S.195 (Stuttgart).

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Angesichts des antisozialistischen Einschlages bei einer Mehrheit des freireligiösen Leitungspersonals einerseits und des religionskritischen Potenzials der Sozialdemokratie andererseits kann es kaum verwundern, daß die freireligiöse Bewegung nicht nur aufgrund der sozial- und allgemeinpolitischen Präferenzen ihrer führenden Vertreter, sondern auch prinzipiell aufgrund ihres Charakters als Bestrebung religiöser Reform bei den Arbeiterparteien in Verruf kam. Hatten in den ersten Jahren der Sozialdemokratie gewerkschaftlich organisierte Zigarrenarbeiter noch die Unchristlichkeit der Freireligiösen gerügt und sich die Aufnahme freireligiöser Artikel in ihr Vereinsorgan verbeten 74 , setzte sich doch bald der religionskritische Diskurs durch, der auch die Freidenker miteinschließen konnte. Freireligiöse und Freidenker, die am wissenschaftlich obsoleten Religionsbegriff festhielten, anstatt sich zur materialistischen Auffassung zu bekennen, übersähen das autoritäre, herrschaftsstabilisierende Wesen jeder Religion. Der auch gegen den politischen Liberalismus ins Feld geführte Topos der »Halbheit« wurde hier aufgegriffen.75 Die religiöse Frage werde von der freigeistigen Bewegung völlig überschätzt, eine per se undurchführbare »religiöse Reform« zersplittere die Kräfte und sei ebenso überflüssig wie die freidenkerische »Humanitätsduselei« von einer »reinen Sittlichkeit«. Die Arbeiter hätten den religiösen Standpunkt längst überwunden; den diesseitigen, materiellen Fragen gehöre die Zukunft. 76 Einer der führenden theoretischen Köpfe der jungen Sozialdemokratie, Joseph Dietzgen, erklärte 1872 vor freireligiösen Arbeitern des Wuppertals, die ihn zum Vortrag geladen hatten: »[...] freireligiös heißt soviel, wie frei von, los und ledig von Religion. Zwar giebt es noch viele, die das Konfessionelle aufgeben, und dennoch Religion haben wollen, d.h. sie sind wohl die Sache los geworden, aber können das Wort nicht los werden. Doch wird die geehrte Versammlung mit mir einverstanden sein, daß die Religion nicht auf dem fundamentalen Boden der Erde steht, sondern in den grund- und bodenlosen 74 Held, S.l16-18: Um 1872 seien im Organ der Zigarrenarbeiter »Der Botschafter« freireligiöse Artikel auf den Protest von Gewerkschaftsmitgliedern hin eingestellt worden, die sich als kirchentreue Christen angegriffen sahen und eine Beschränkung auf die Diskussion »materieller Fragen« im »Botschafter« einforderten. Vgl. Social-Demokrat 3.5.1867 Nr.53 S.3: unter »Einsendungen von Arbeitern. Zur Religionsfrage« ein Votum, das den von einem anderen Einsender geforderten Anschluss des ADAV an die freireligiöse Gemeinschaft ablehnte; es müsse »Rücksicht in religiösen Dingen« genommen werden. 75 »Halbheit«: Neuer Social-Demokrat 27.10.1875 Nr.127 S.4; ebd. 16.2.1876 Nr.19 S.2; Berliner Freie Presse 17.11.1876 Nr.270 S.l. Gelegentlich tauchte auch ein anderes Motiv der Liberalismuskritik wieder auf, z.B. in einem Brief der Solinger IAA-Sektion an den Londoner Generalrat von 1869: Die liberalen Freireligiösen, größtenteils »Ausbeuter(n)«, hätten den alten Herrgott, mit dem sie »durch ihre stets wachsenden Ausbeutungsgelüste in Konflikt geraten« seien, über Bord geworfen, um nun unbeschränkt dem »Gott »Mammon«« huldigen zu können. Die Erste Internationale, S.346. Vgl. Social-Demokrat 8.7.1868 Nr.79 S.2. 76 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 7.6.1872 Nr.130 S.l; Sozialdemokrat 25.6.1885 Nr.26 S.4 (»Kräftezersplitterung«); Sächsisches Wochenblatt 2.6.1889 Nr.66 S.l (»Humanitätsduselei«).

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R ä u m e n einer h i m m l i s c h e n Phantasmagorie schwebt. U n s Antireligiösen sind diese R ä u m e zu duftig u n d luftig, zu unfaßbar. [...] Statt nach d e m religiösen Jenseits w o l l e n w i r frei- u n d antireligiös nach e i n e m h u m a n e n , w o h n l i c h e n Diesseits streben f...].« 77

Es erhoben sich nicht nur Stimmen gegen freireligiöse Annoncen in der Parteipresse. Auch die Werbung von Sozialdemokraten für den Eintritt in die freien Gemeinden fand nie eine breite Zustimmung in der Partei 78 , wie die Entwicklungen in der Nürnberger Sozialdemokratie im Jahre 1872 unterstreichen. 1872 hatten sich Sozialdemokraten und Freireligiöse zur gemeinsam gestalteten Trauerfeier für Ludwig Feuerbach zusammengefunden; kurz zuvor war es infolge eines Beschlusses des Mainzer SDAP-Parteitages zu einem Masseneintritt von Sozialdemokraten in die Nürnberger freie Gemeinde gekommen. Der Literat Friedrich Mook, zweiter Sprecher der Gemeinde und Mitglied der Eisenacher Arbeiterpartei, setzte auch nach diesem Masseneintritt die Werbung unter Sozialdemokraten für den Eintritt in die freie Gemeinde fort. Damit stieß er jedoch nicht nur aufWiderstand innerhalb der freireligiösen Bewegung und des nichtsozialistischen Flügels in der Gemeinde, die Mook zudem seinen religiösen und seinen sozialpolitischen Radikalismus zum Vorwurf machten. Auch Anton Memminger, führender sozialdemokratischer Agitator vor Ort und Mitglied der freien Gemeinde, distanzierte sich von Mook nach dessen Abwahl als Gemeindesprecher. Die erbitterten Auseinandersetzungen der nächsten Monate, die 1873 mit dem Parteiausschluss sowohl von Mook als auch von Memminger endeten, führten fast zur Spaltung der örtlichen Sozialdemokratie. Vier Jahre später war von einer sozialdemokratischen Prägung der Nürnberger freien Gemeinde nicht mehr die Rede. 79 Fünfjahre nach der Feuerbach-Trauerfeier in Nürnberg scheiterte in Leipzig eine gemeinsame Würdigung von Sozialdemokraten und Freireligiösen für 77 Volksstaat 18.9.1872 Nr.75 S.2. Wenig später erschien dieser Vortrag auch als Separatdruck. Das freireligiöse Festhalten am Religionsbegriff war auch Gegenstand der Kritik in Dresdner Volksbote 10.5.1871 Nr.31 S.3 (Anlass: konzeptionelle Schwierigkeiten der freireligiösen Gemeinde Berlin bei dem Lehrplan für einen »konfessionslosen Religionsunterricht«). 78 Ablehnung eines Antrages auf Empfehlung des Eintritts in freie Gemeinden auf der sächsischen Landesversammlung der SDAP (Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 7.6.1872 Nr. 130 S.l), Gegen den Eintritt in freie Gemeinden auch Chemnitzer Freie Presse 6.8.1871 Extraausgabe; Vorwärts 22.3.1878 Nr.34 S.4 (im »Briefkasten der Redaktion«, offenbar auf eine diesbezügliche Anfrage hin. Vgl. das Votum Dulks gegen diese Briefkastennotiz in Vorwärts 19.2.1878 Nr.58 S.2). Gegen freireligiöse Annoncen: Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.631f. (Bebel äußert 1875 in einem Brief gegenüber Liebknecht die Hoffnung, daß der »Volksstaat« eine Werbung für Würkerts »Freie Glocken« nicht drucken werde). 79 Fürther Demokratisches Wochenblatt 2.11.1872 Nr.44 S.l (Distanzierung Memmingers von Mook; die Sozialdemokraten würden die freie Gemeinde nicht zur »Filiale irgend einer politischen Partei« machen wollen); Chemnitzer Freie Presse 12.11.1872 Nr.267 S. 1 f. (Angriffe gegen Mook auf einer freireligiösen Synode); Mook, Memminger, bes. S.9f., 13, 24—29, 52f.; Menschenthum 23.1.1881 Nr.4 S.14f. (Nachruf auf Mook). Vgl. weiterhin zur Memminger-Mook-Kontroverse Eckert, Liberal- oder Sozialdemokratie, S.222; Liebknecht, Briefwechsel Bd.l, S.486-89.

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Ludwig Würkert. Am 21. Januar 1877, ein Jahr nach Würkerts Tod, druckten der »Vorwärts« und freireligiöse Organe einen Aufruf zur Errichtung eines Grabdenkmals. Auch der »Verein für geistigen Fortschritt« in Leisnig, Würkerts alte freie Heimatgemeinde, übernahm die Spendensammlung, wogegen sich der Protest des Gothaer Freireligiösen (und späteren Freidenkers) August Specht erhob: Der Leisniger Verein folge sozialistischen Tendenzen, zu denen Würkert sich nie bekannt habe; er habe daher kein Recht zur Beitragssammlung. Aus Leisnig wies man diese Einwände zurück. Würkert sei stets Sozialdemokrat, wenn auch womöglich ohne »Parteikarte« gewesen; die von ihm geleitete freireligiöse Gemeinde sei zwar erst nach seinem Tod unter Einfluss von Vorträgen Oskar Kiemichs in den protofreidenkerischen und sozialdemokratisierenden »Verein für geistigen Fortschritt« umgewandelt worden, »[...] aber sollen wir etwa zur Ausübung solcher Akte [d.i. Sammlung für ein Würkert-Denkmal] unfähig geworden sein, seitdem wir geistige Fortschritte gemacht, d.h. außer dem religiösen auch den politischen und ökonomischen Aberglauben abgelegt haben?« 80 In den 1880er Jahren gerieten sozialistische Freidenker und Freireligiöse innerparteilich zunehmend unter Druck. Im April 1884 griff der »Sozialdemokrat« Albert Dulk an, der in einem Artikel »Der Kampf der Ideen« die Position eines freidenkerischen ethischen Sozialismus vertreten hatte.81 In seiner Erwiderung auf die Kritik des »Sozialdemokrat« verteidigte Dulk den »Kampf gegen die unsere Staatsordnung sichernde Religion der Massen und gegen die aus ihr fließende schlechte Moral« als »›real‹ wie der volkswirthschaftlich-politische« Kampf; dieser Kampf sei der mllerrevolutionärste« überhaupt. Der sozialistische Freidenker fügte eine »Erklärung« seiner Stuttgarter Gemeinde bei, in der diese sich zur »Sittlichkeit« als ihrer »praktische(n) Religion« bekannte. Außerdem schilderte sich Dulk als vorbildlichen Sozialdemokraten, der schon 1848 in Königberg einen Arbeiterverein gegründet und 1875 am Vereinigungsparteitag teilgenommen habe. Doch abermals fertigte das sozialdemokratische Zentralorgan Dulk ab: Freireligiöse und Freidenker seien mehrheitlich »antisozialistisch« und könnten sich nicht vom Religionsbegriff lösen; die von der Partei verbreiteten religionskritischen Broschüren reichten zum Kampf gegen die Religion vollständig aus; schon 1874 habe Friedrich Engels den Parteistandpunkt im »Volksstaat« vorgegeben: Die Sozialdemokraten seien Materialisten und »mit Gott einfachfertig«.82 Im Juli 1884 sah sich Albert Dulk gezwungen, von 80 Vorwärts 21.1.1877 Nr.9 S.3 (Aufruf zur Errichtung eines Grabdenkmals); ebd. 22.6.1877 Nr.72 S.4 (kritisch über Spechts Vorhaltungen); ebd. 4.7.1877 Nr.77 S.3f. (Entgegnung Spechts); ebd. 11.7.1877 Nr.80 S.2 (Liebknecht habe Würkert als Sozialdemokraten hochgeschätzt, sein Wirken auf freireligiösem Gebiet hingegen missbilligt); ebd. 20.7.1877 Nr.84 S.4 (nochmals aus Leisnig gegen Specht; ebd. die Zitate). 81 Sozialdemokrat 3.4.1884 Nr. 14 S.lf.. 82 Ebd. 8.5.1884 Nr.19 S.2.

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seiner Kandidatur als Reichstagsabgeordneter zurückzutreten, da er in seiner Auseinandersetzung mit dem »Sozialdemokrat« von seinen Stuttgarter Parteifreunden nicht unterstützt worden war.83 Ebenfalls keinen leichten Stand in der Partei hatte der Halberstädter Reichstagsabgeordnete und Freireligiösenfunktionär August Heine, der 1885 im BFG den Spott seiner Fraktionsgenossen über seine Religiosität beklagte. 84 Freigeistigen Sozialdemokraten, die weniger prominent waren als Dulk oder Heine, konnte darüber hinaus von vornherein ihre Parteitreue in Abrede gestellt werden. Der freireligiöse Reichstagsabgeordnete Moritz Rittinghausen verließ 1884 die Partei wegen deren angeblicher Wende zu einem autoritären Kommunismus. Als unabhängiger Kandidat trat er in Solingen jedoch noch einmal zu den Reichstagswahlen an, unterstützt von einem Wahlkomitee, dem auch der Sozialdemokrat Carl Rautenbach (1848-?) angehörte. Dieser bis dahin unauffällige, fleißige Parteigenosse wurde nun im »Sozialdemokrat« als ein »Freigemeindler« denunziert, und das seien »[...] Leute, die niemals für eigentliche Parteigenossen gegolten haben.«85 Es war abermals der »Sozialdemokrat«, der 1889 einen weiteren prominenten freidenkerischen Sozialdemokraten attackierte. Der Literat Dr. Philipp August Rüdt aus Heidelberg, Sozialdemokrat und Mitglied im »Ausschuss« des DFB, dessen freidenkerischer Sozialismus in Teilen der Partei begeisterte Zustimmung fand, war in Mannheim nur knapp dem gelernten Tischler August Dreesbach (1844-?) bei der Nominierung für die Reichstagskandidatur unterlegen. Nicht an der bloßen Tatsache von Rüdts freigeistigem Engagement störte sich das Parteiblatt - auch Dreesbach gehörte einer freireligiösen Gemeinde an. Doch Rüdt stehe »nicht auf dem Boden unserer Partei«. Als Beweis dieser Behauptung zitierte der »Sozialdemokrat« aus einem Vortrag Rüdts, in dem dieser erklärt hatte: »Nach meiner Auffassung ist nämlich die Fesselung des Geistes durch religiösen Wahn der Urgrundjeder politischen, wie sozialen Knechtschaft.« »Wer das schreiben kann [...] steht auf anderm Boden als unsere Partei. Er wird und muß bei den wichtigen Anlässen genau das Gegentheit von dem thun, was die Partei thun wird, die laut ihrem Programm in der Monopoleigenschaft des Kapitals, das heißt in der Scheidung der Gesellschaft in kapitalistische Eigenthümer der Arbeitsmittel und besitzlose Proletarier die Ursache des Elends und der Knechtschaft in allen Formen erblickt.«86 Wer Positionen wie die Rüdts unterstütze, überschätze die religiöse Frage und schwäche damit die sozialistische Bewegung. Auf dem Hallenser Parteitag 1890 83 EU 10.7.1884 Nr.28 S.3. Noch am 15.4.1884 hatte Karl Kautsky in einem Brief gegenüber Engels erklärt: »Eine Schmach ist es auch, daß Dulk in Stuttgart aufgestellt wurde [...].« Engels/ Kautsky, SAU. 84 Bundesblätter H.82 / September 1885 S.24. Vgl. Vorwärts 8.5.1878: Weigerung des »Vorwärts«, einen für die freien Gemeinden werbenden Artikel Heines aufzunehmen. 85 Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S.463f. (dort auch das »Sozialdemokrat«-Zitat). 86 Sozialdemokrat 3.8.1889 Nr.31 S.2f.

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wurden diese Angriffe fortgesetzt. Rüdt hatte in der Programmdiskussion einen Ersatz der Formel »Erklärung der Religion zur Privatsache« durch einen konkreteren, scharf kirchenkritischen Paragraphen beantragt (die Sozialdemokratie »[...] bekämpft jede Kirche, die auf Grund der Glaubensdogmen den sozialen und politischen Befreiungsbestrebungen der Arbeiterklasse entgegentritt.«) . Er verteidigte seinen Antrag in der Debatte, indem er die Bedeutung der religiösen Frage für die Partei betonte: »Die große sozialistische Bewegung dreht sich doch nicht blos um den Magen; sie ist eine große Kulturfrage und Bewegung [...].« Doch unter den vielen Delegierten, die zu diesem Antrag Stellung nahmen, ergriffen noch nicht einmal ausgewiesene Freireligiöse wie Theodor Metzner aus Berlin und Franz-Josef Ehrhardt (1853-1908), der führende Kopf der pfälzischen Sozialdemokratie, für den Heidelberger Stellung. Rüdt wurde mit Spott überzogen, wogegen sich der Verhöhnte mit dem Hinweis auf seine Agitationserfolge vergeblich zur Wehr setzte. Die Abfertigung seines Antrages geriet zu einem Tribunal über die freireligiöse bzw. freidenkerische Option in der Sozialdemokratie schlechthin: »Wir können auf diesem [religiösen] Gebiete der freien wissenschaftlichen Forschung und unserer Parteiliteratur ruhig ihren Lauf lassen, wir dürfen unsere Partei nicht zu einem Laboratorium für freireligiöse und freidenkerische Experimente machen. (Bravo!) [.„] Es könnten schließlich auch die Vegetarianer kommen [...]. (Heiterkeit und Beifall)«.87 1895 wurde August Rüdt aus der Partei ausgeschlossen. Über die organisierte freigeistige Bewegung partizipierte eine nennenswerte Minorität innerhalb des sozialdemokratischen Milieus zwischen 1863-1890 an jenen religionskritischen Diskursen, über die sich erhebliche, am Aufklärungsund Fortschrittsparadigma orientierte zivilbürgerliche Gesellschaftssegmente seit dem vormärzlichen Aufbruch mitdefinierten. Bereits in ihren vormärzlichen und revolutionären Anfängen schlossen sich religiöse Reformbewegung und soziale Bewegung keineswegs aus. Auch nach 1890 und noch vor dem Entstehen einer selbständigen proletarischen Freidenkerbewegung nach der Jahrundertwende fand die freireligiöse bzw. freidenkerische Option Anhänger in der Partei. Jacob Stern etwa blieb auch in den 1890er Jahren eine Autorität in der württembergischen Sozialdemokratie. Besonders in den Regionen starker protestantischer Kirchlichkeit wie im kirchlich orthodoxen Sachsen, in Stuttgart mit seinem pietismusgeprägten Umland und im in den 1870ern und 1880ern von den Aktivitäten Adolf Stoeckers überzogenen Berlin stieß die organisierte freigeistige Bewegung auf starke Resonanz in der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterschaft. 87 Protokoll, 1890, S. 184-203; Zitate S.184,185 (ausfuhrliches Zitat, aus dem Redebeitrag von Wilhelm Bios), 192. Zu Rüdt und Ehrhardt vgl. auch Bahn, S.197f, 330. Dem Protokoll zufolge hatte Rüdt in Halle abgestritten, Freidenker zu sein (Protokoll, 1890, S.191); im Freidenkerorgan »Menschenthum« bezeichnete er in einer »Erklärung« dies als unrichtige Wiedergabe seiner Ausführungen (Menschenthum Dezember 1890 Nr.51 S.204).

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Dennoch aber konnte diese Option niemals innerparteilich den Rang einer milieudominanten Kultur beanspruchen. Auf dem Weg der Sozialdemokratie von der Volks- zur Klassenbewegung schwand entweder die Sogkraft jenes Ganzheitlichkeitsanspruches, der auch und gerade der religiösen Frage eine zentrale Bedeutung zugewiesen hatte, oder dieser Ganzheitlichkeitsanspruch wurde von der Partei dergestalt vertreten, daß der Sozialismus als allumfassendes Befreiungsprogramm proklamiert wurde. Für eine religiöse Reformbewegung sollte neben der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kein Platz mehr sein, zudem der Gedanke der Religionsreform einige Ausstrahlungskraft im liberalen Milieu besaß und insbesondere der »Parteilinken« um den »Sozialdemokrat« eine Abgrenzung vom Freireligiösentum als Sonderform des liberalen Religionsdiskurses geboten erschien. Umstritten war die Reform-Option zur Beantwortung der religiösen Frage schon in den 1860er Jahren. Das Sozialistengesetz 1878 förderte auf der einen Seite die Partizipation von Sozialdemokraten an der organisierten freigeistigen Bewegung, die außerdem durch die Gründung des DFB 1881 neue Impulse bekam. Auf der anderen Seite führte das repressive Gesetz zu einer verstärkten, jedoch selektiven Marx-Rezeption und damit zu einer Ökonomisierung des Denkens, ebenso wie zu einer noch heftigeren Abgrenzung von liberalen Diskursen als bisher, Faktoren, durch die die freireligiöse bzw. freidenkerische Option weiter geschwächt wurde. Die Abrechnung mit August Rüdt in Halle 1890 setzte hier einen gewissen Schlusspunkt. Die religiöse Frage aber blieb gestellt.

2.2 Das Ende der Religion Die antireligiöse Option in der Sozialdemokratie Bei den organisierten Freireligiösen und Freidenkern in den deutschen Arbeiterparteien 1863—1890 überwog die Tendenz zu einer »positiven« Beantwortung der religiösen Frage, zum Bekenntnis zu einer wie auch immer gearteten Religion oder Religiosität, wenn auch gerade bei den Freidenkern der Religionsbegriff zunehmend infragegestellt wurde. Vom freireligiösen bzw. freidenkerischen Diskurs kann trotz mancher textempirischer Überschneidungen eine Option deutlich unterschieden werden, die in radikaler Weise die Brücken zu allen Bezugspunkten auf dem religiösen Feld abzubrechen suchte und sich der »Organisation einer Weltanschauung«88, wie sie für Freireligiöse 88 Vgl. den Titel von Simon-Ritz, Organisation. Nach derJahrhundertwende änderte sich diese Haltung: Dasjenige Freidenkertum, das nicht einem religiösen Monismus huldigte, löste sich deutlicher als 1880-1890 von jedem Religionsbegriff und und entschied sich damit für die areligi-

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und Freidenker typisch war, entzog. Der areligiöse Diskurs in der Sozialdemokratie negierte idealtypisch jede Notwendigkeit von Religion, jedes religiöse Bedürfnis; er bestritt die Notwendigkeit eines »Religionsersatzes« und tendierte in besonderer Weise zu einem aggressivem Verhältnis zu den positiv bestehenden Religionen und Konfessionen, so daß Areligiosität oft in Antireligiosität umschlug. Die a- bzw. antireligiöse Option zur Beantwortung der religiösen Frage lag zumeist auf jenen scharf kirchen- und religionskritischen Diskursen auf, die den Herrschaftscharakter von Religion in Geschichte und Gegenwart und den Gegensatz von Glauben und Vernunft betonten.89 Aufklärerisches Bildungspathos spitzte sich zu einem: »Die Wissenschaft ist der Tod der Religion [...] ,«90 zu. »Eine Priesterherrschaft, die im Brod und Dienst unserer Unterdrücker steht, vertröstet uns für die unvermeidlichen Mängel des Diesseits, für den Hunger, auf ein besseres Jenseits - als ob Himmel und Hölle, Gott und Jenseits etwas Anderes wären, als Ueberlieferungen, die von der Wissenschaft längst abgethan sind. Ich bin Materialist, ich glaube nur an die Existenz dessen, was wirklich ist; ich bin Atheist, als ächter Sozialist, denn der Atheismus ist die Kehrseite des Sozialismus. Ich kenne keine Gottesordnungen, sondern nur Naturgesetze; das Naturgesetz für den Menschen aber heißt: Arbeiten und Genießen.« 91

A- bzw. antireligiöse Diskurse entfalteten sich oft unter dem Begriffeines militanten Atheismus.92 Adolph Douai, der 1848er Revolutionär und USA-Emigrant, dessen für die deutsche Sozialdemokratie geschriebenen Broschüren im Parteimilieu größte Verbreitung fanden, wollte 1874/75 mit seinen auch separat erscheinenden Artikelserien im »Volksstaat« »ABC des Wissens für die Denkenden« und »Antwort an den Bekenner des Theismus« die theoretische Fundierung eines Atheismus vorlegen, der sich von der Philosophie Immanuel Kants und von der Kritik an Kant ableitete.93 Mit seiner Kritik der Gottesbeweiöse Option. Außerdem trennten sich 1908 die »proletarischen« organisatorisch von den »bürgerlichen« Freidenkern; s. hierzu die Arbeit von Kaiser, Arbeiterbewegung, S.95ff.. 89 Siehe z.B. Neue Mainzer Zeitung 17.1.1875 Nr.14 S.lf; Neuer Social-Demokrat 10.9.1875 Nr.107 S.l; Volksxvilte 21.5.1876 Nr.16 S.lf.; Sozialdemokrat 23.5.1880 Nr.21 S.2. 90 Volksstaat 5.1.1876 Nr.l S.2. 91 Ebd. 13.11.1872 Nr.91 S.3 (aus der Rede Julius Mottelers auf einer Parteiversammlung in Eßlingen). 92 Zur Geschichte des Atheismus vgl. jetzt die breit angelegte Darstellung von Mtnois, tur das 19. Jahrhundert allerdings vorwiegend ideengeschichtlich und auf die französischen Verhälnisse bezogen. 93 Douai, ABC; Douai, Antwort. Gelegentlich wurde der Atheismus in der Parteipublizistik auch auf die Tradition von Helvetius und Spinoza zurückgeführt: s. Chemnitzer Freie Presse 22.27.2.1877 Nr.46-48, 50 S.lf. bzw. S.l (ausführlicher Aufsatz über Spinoza, hier gefeiert als erster Atheist in der Philosophie); ebd. 28.3.1878 Beilage zu Nr.74 S.2 (Anlehnung an Helvetius). Vgl. zur Spinoza-Rezeption in der frühen sozialistischen Bewegung, die den Philosophen ebenso als Kronzeugen für einen religionsphilosophischen Monismus (Jacob Stern) heranziehen konnte: Erdös, S.318-31.

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se meinte Douai die Leugnung der Existenz eines persönlichen Gottes hinreichend begründen zu können. Die philosophischen bzw philosophiekritischen Widerlegungen der traditionellen Gottesbeweise und Gottesattribute (»Ewigkeit«, »Unendlichkeit«, »Allmacht«) in der Parteipublizistik dienten ebenso der Bildung einer kollektiven Identität im Parteimilieu wie politische oder sozioökonomische Beiträge. 94 Breit aufgearbeitete Fälle wie der des Volksschullehrers Franz Rohleder, der 1875 aufgrund seiner Ablehnung der philosophischen Gottesbeweise, mit der er die Verweigerung der religiösen Eidesformel vor Gericht gerechtfertigt hatte, Berufsverbot erhielt und fortan für die Sozialdemokratie arbeitete, stärkten die identitätsbildende Wirkung der atheistischen Agitation. Auch August Bebel erklärte den Atheismus zu einem konstitutiven Teil des Sozialismus. Am 18. April 1877 stellte er in einer Reichstagsdebatte klar, daß er und seine Parteigenossen sich im Gegensatz zu den Vorrednern »auf einem ganz religionslosen, auf einem atheistisch-materialistischen Standpunkte« befänden. Seiner Berufung auf die Grundsätze von Humanität und Menschlichkeit gebühre derselbe Respekt, wie er der Berufung auf die christliche Moral gezollt werde. 95 Der areligiöse Diskurs wurde zudem durch den Monopolanspruch, den die Arbeiterparteien auf diese Option erhoben, sowie durch die Verschränkung von politischer und religiöser Frage zugespitzt. »Aber wer sind nun Diejenigen, welche da frei von jeder religiösen Anschauung durch's Leben wollen? Nur einzig und allein sind es die Social-Demokraten; denn jeder Einzelne, welcher der Vernunft gehorcht [...], er schließt sich ganz selbstverständlicher Weise einer Partei an, deren Ziel dahin geht, die Wohlfahrt aller Menschen zu erzeugen.« 96

Es war eine radikale Immanenz, welche die Parteigenossen, die sich als Atheisten verstanden, einforderten: Auf die irdische »Wohlfahrt« sollten sich die Blicke richten, nicht auf ein illusionäres Jenseits. Materialismus, Darwinismus und der Entwicklungsgedanke bildeten das Fundament der erstrebten Diesseitsordnung der Zukunft, erwarteten diese Weltanschauungen doch das Ende des religiösen Glaubens mit der fortschreitenden wissenschaftlichen Erschließung von Materie, Natur und Kosmos. »Die geschichtliche Entwicklung der Religion besteht in ihrer allmählichen Auflösung.«97 Immer deutlicher werde 94 Besonders markant auch: Votksstaat 21725.12.1872 Nr.l02f. S.l bzw. S.2 (Artikel »Ueber Atheismus und Theismus« von »J.L.«. Gegen die Überzeugung des Verfassers, daß der letzte Grund der Dinge nicht erfassbar sei, wandte sich Joseph Dietzgen in einem Brief an Adolf Hepner nach dem 21.12.1872: s. Hermann, S.247f). 95 Stenographische Berichte, 1877, S.571. Vgl. zu Bebeis Atheismus in den 1870er Jahren Lidtke, Bebel, S.253-55. 96 Neuer Social-Demokrat 10.9.1875 Nr.107 S.l (Leitartikel »Glauben und Vernunft«). 97 Volksstaat 5.8.1871 Nr.63 S.21 (Joseph Dietzgen, »Die Religion der Sozial-Demokratie. 3. (Schluß)«). Vgl. auch die Entwicklungsreihen z.B. in der von Bebel übersetzten Schrift von Guyot/ Lacroix, die eine natürliche religionshistorische Entwicklung vom Fetischismus über den Monotheismus zum Atheismus postulierten (ebd., S.X u.ö.). Diejenigen bürgerlichen Darwinisten» die

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es, daß die Menschheitsentwicklung nicht religiösen, sondern Naturgesetzen folge. Religionslosigkeit musste in diesem Diskurs geradezu als untrügliches Signum der Fortschrittlichkeit gelten. Entsprechende Zukunftsszenarien unterschieden sich kaum von jenen des radikalen Flügels im religionskritisch orientierten liberalen Bürgertum. Allerdings erfuhren diese Entwicklungstheorien in der Sozialdemokratie durch die Marxismus-Rezeption der 1880er Jahre eine spezifische Akzentuierung. Mit der Klassenherrschaft verschwänden auch die der Klassenherrschaft eigenen Ideen, voran das Christentum als »deren prägnanteste(r) Ausdruck«. Nicht nur der wissenschaftliche und kulturelle, sondern auch und maßgeblich der gesellschaftlich-soziale Fortschritt führe das Ende der Religion herbei.98 Das Ende der Religion schien allerdings in der gesellschaftlichen Realität noch in recht weiter Ferne zu liegen. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung gehörte einer christlichen Kirche an Jahres- und lebenszyklische Religiosität prägten weiterhin den Alltag, Staatsideologie und politisch-gesellschaftliche Diskurse folgten Denk- und Deutungsmustern der christlichen Tradition. Daß die Parteigenossen, ja, die Arbeiter insgesamt schon heute religionslos seien, wurde zwar oft in der sozialdemokratischen Agitation behauptet.99 Doch selbst jene Parteiaktivisten, die offensiv die Begriffe »Atheismus« und »Religionslosigkeit« zur Kennzeichnung sozialdemokratischer Identität einbrachten, schreckten nicht selten vor einer völligen Ablehnung jedweder »Religion« zurück. Wie der von ihnen oft zitierte Ludwig Feuerbach konnten auch dezidierte Atheisten noch am Religionsbegriff festhalten: »[...] der Atheismus allein ist die Religion der Zukunft. Er ist die Religion der Menschenliebe, eng verbunden mit dem Socialismus.«100 In einem sehr begrenzten Parteisegment erfuhr der areligiöse Diskus hingegen eine weitere Radikalisierung. Die Antireligiösen, zu denen von den überregional bekannten Parteiaktivisten insbesondere Johann Philipp Becker und Johann Most (seit ca. 1876) zählten, bewegte ein leidenschaftlicher Hass auf sich wie Ernst Häckel nicht zum Atheismus bekannten, wurden von sozialdemokratischer Seite dagegen als inkonsequent geschmäht, s. auch Bebel, Vergangenheit, S. 110. 98 Sozialdemokrat 17.7.1884 Nr.29 S.l (auch Zitat). 99 Neuer Social-Demokrat 5,5.1876 Nr.52 S.3; Hamburg-Attonaer Volhbhtt 16.12.1877 Beilage zu Nr.150 S.l. Vgl. auch Volksstaat 1.12.1875 Nr.141 S.4: in einem Artikel Aufforderung an »alle Gesinnungsgenossen«, bei der Volkszählung unter der Rubrik »Religion« »Freidenker« oder »confessionslos« einzutragen; Anmerkung der Redaktion: Die Bezeichnung »religionslos« sei noch treffender. 100 Neue Mainzer Zeitung 17.1.1875 Nr.14 S.l. Auffällig war auch das Schwanken hinsichtlich des Religionsbegriffes bei Joseph Dietzgen, der Anfang der 1870er Jahre von der »Religion der Sozialdemokratie« sprach, sich selbst bzw. die Partei aber zugleich als »religionslos« bzw. als »antireligiös« bezeichnete (z.B. in:Volsstaat 6.11.1874 N r . l 3 0 S.l f. (»Die Religion der Sozialdemokratie.5«). Noch 1883 schrieb Dietzgen, man könne die sozialdemokratische Weltanschauung als »verkappte Theologie« oder als »logischen Atheismus« bezeichnen: Dietzgen, Theologie (Zitate S.331). Verfasserschaft ermittelt nach Dietzgen, Schriften, S.226.

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jede Religion und die Erwartung, daß nicht die gesellschaftliche die religiöse Befreiung, sondern umgekehrt das Ende der Religion den Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse herbeiführen werde: »Mit der wissenschaftlichen Vernichtung der Gottesidee ist aller autoritären Gewalt die Grundlage genommen. Ist einmal der Kaiser des Himmels entthront, so laufen die Kaiser der Erde, in Ermangelung jeden prinzipiellen Haltpunktes, von selbst davon, fallen die Bischofssitze und Fürstenthrone in den Staub und verlieren die Geldgötzen ihre Zauberkraft.«101 Die dezidiert antireligiösen Sozialdemokraten forderten die Abschaffung der Religion im sozialistischen Zukunftsstaat; dieser Abschaffung sei schon in der Gegenwart durch einen massenhaften Austritt aus den Religionsgemeinschaften vorzuarbeiten. Die Erklärung der Religion zur Privatsache konnte dieser radikalen Parteiminorität nicht genügen. Vielmehr - so befand die Einsendung an den »Sozialdemokrat« »Ein Vorschlag zur Abänderung unseres Programmes« 1 8 8 6 - sei es nötig,»[...] daß wir die Kirche und den christlichen Aberglauben offen und unumwunden angreifen und den Jahrtausende alten Bau einzureißen versuchen - erst dann dürfen wir hoffen, dem Volke auch Verständnis für seine irdische Lage beibringen zu können [...] .«102 Dem Einsender erschien einzig die gezielte Kirchenaustrittsagitation als Praxis sozialdemokratischer Kirchen- und Religionspolitik angemessen. 103

Kirchenaustrittskampagnen Die bisher gründlichste Untersuchung zur frühen Kirchenaustrittsbewegung in der Sozialdemokratie von Jochen-Christoph Kaiser hat die Aufforderung zum Kirchenaustritt als ›»praktische‹ Religionskritik« 104 bezeichnet, eine radikale Praxis, die innerparteilich stets umstritten gewesen sei. Es gilt im Folgen101 Vorbote November 1869 Nr.l1 S.163 (Artikel von Johann Philipp Becker). Vgl. -besonders scharf- Becker, Psalmen (S.225 u.ö.). Daß Becker trotz seines aggressiven religionsfeindlichen Übereifers im Gegensatz zu Most innerparteilich relativ unangefochten blieb, hängt mit seiner eindeutigen Loyalität zu Bebel/Liebknecht und Marx/Engels, wohl aber auch mit der - nicht nur räumlichen - Distanz des Genfers zu den Konflikten in der deutschen Sozialdemokratie zusammen. Johann Mosts Radikalisierung führte von der Ablehnung eines Kirchenaustrittszwanges für Parteigenossen wegen der Zweitrangigkeit der religiösen Frage Anfang der 1870er Jahre über seine eigene Austrittskampagne 1878 zur Schrift »Die Gottespest«, die der inzwischen Exilierte und aus der Sozialdemokratie wegen Anarchismus Ausgeschlossene in den Vereinigten Staaten erscheinen ließ: Most, Gottespest. Das Motto dieser Schrift ist ebenso bezeichnend wie ihr Titel: »Wenn es einen Gott gäbe, müsste man ihn abschaffen«. Unverkennbar ist dieser Traktat nicht nur von Bakunin, sondern auch von Johann Philipp Beckers Polemiken beeinflusst. - Aufrufe zum prinzipiellen und aktiven Kampf gegen alle Religion: Volksstaat 5.1.1876 Nr.1 S.2; Votkswüle 21.5.1876 N r . l 6 S.2. 102 Sozialdemokrat 14.1.1886 Nr.3 S.2. 103 Ebd. Ähnlich eine in ebd. 19.2.1886 Nr.8 S.lf. wiedergegebene Zuschrift. 104 Kaiser, Sozialdemokratie (Zitat im Titel dieses Aufsatzes).

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den die Frage zu beantworten, ob mit den sozialdemokratischen Kirchenaustrittskampagnen eine bestimmte Diskursoption verbunden war, welche diese Agitation als eine gegenüber anderen kulturellen Praktiken von Parteimitgliedern (freireligiöse bzw. freidenkerische Organisation, traditionelle Kirchlichkeit) deutlich abzugrenzende antireligiöse Praxis erscheinen lässt. Der Austritt aus einer der evangelischen Gliedkirchen bzw. aus der katholischen Kirche, der sich nicht mit dem Übertritt in eine andere rechtlich anerkannte Religionsgemeinschaft verband, war auf dem Gebiet des Deutschen Reiches bis zu Beginn der 1870er Jahre faktisch unmöglich. Der Aufruf zum Kirchenaustritt, mit dem der Arzt Carl Boruttau 1869 die erste sozialdemokratische Grundsatzbroschüre zur religiösen Frage beschloss, wirkte im Parteimilieu zwar noch bis Mitte der 1870er Jahre nach, doch spiegelte Boruttau hier eine Rechtslage vor, die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben war. Denn der Parteiliterat hatte ausdrücklich nicht den Übertritt zu den Freireligiösen, die er einer auf das »Halbheits«-Motiv gestimmten Kritik unterzog, sondern den »vollständigen« Kirchenaustritt gefordert.105 Doch auch nach Inkrafttreten der Dissidentengesetze der 1870er und 1880er Jahre, die in den meisten deutschen Staaten den Austritt aus den Großkirchen ohne Verpflichtung zum Eintritt in eine andere Religionsgemeinschaft regelte, verbanden sich Aufrufe zum Kirchenaustritt in der Sozialdemokratie gelegentlich noch mit der Aufforderung zum Eintritt in eine freireligiöse bzw. freidenkerische Gemeinde. Der religiös-politische Entwicklungsgang, den die 1847 geborene Arbeiterin Ottilie Baader 1921 in ihrer Autobiographie schilderte, dürfte keine Seltenheit gewesen sein: 1877 Austritt aus der Landeskirche, sofortiger Eintritt in eine freie Gemeinde, erst einige Jahre später Anschluss an die Sozialdemokratie. Noch 1890 entfaltete die Berliner Sozialdemokratie eine Kirchenaustrittsagitation im Parteimilieu, die auf einen Masseneintritt von Sozialdemokraten in die Berliner freireligiöse Gemeinde zielte. Eine Berliner Volksversammlung im Juni 1890 verabschiedete daher eine Resolution, in der es hieß: »Die Versammlung ist der Meinung, daß Religion allerdings Privatsache sei, daß aber Bethätigung der Ueberzeugung keine Privatsache, sondern öffentliche Pflicht sei und daß daher alle innerlichen Dissidenten auch austreten müssen aus den Kirchen. [,..]Die Versammlung erklärt sich bereit, ›in Masse‹ der freireligiösen Gemeinde beizutreten und mit allen Kräften dahin zu wirken, daß die Gemeinde in freiheitliche Bahnen, auf den Boden der modernen internationalen Arbeiterbewegung geleitet wird, [,..].«106 105 Boruttau, Frage, S.15f. Die Hinwendung des 1871/72 in Genf lebenden Boruttau zu einem militanten, von Johann Philipp Becker, aber auch vom Bakunismus beeinflussten Atheismus erscheint in dieser Perspektive nur folgerichtig; s. Prüfer, Boruttau, S.340-44. 106 Menschenthum Juni 1890 Nr.26 S.103. Vgl. Sächsisches Wochenblatt 22.9.1883 Nr.27 S.2 (bevorstehender »Massenaustritt« aus der Landeskirche in Solingen; die 31 Austretenden hätten sich im Solinger Freidenkerverein angemeldet); Emmerich, Lebensläufe, S.269 (Auszug aus der Autobiographie Ottilie Baaders).

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Schrittweise entkoppelten sich in sozialdemokratischer Agitation und Alltagspraxis jedoch Kirchenaustritt und Eintritt in eine freireligiöse bzw. freidenkerische Gemeinschaft. 1878 wurde im »Briefkasten der Redaktion« des »Vorwärts« einem württembergischen Genossen beschieden: »Fordern [...] Sozialdemokraten zum Massenaustritt aus der Kirche auf und wollen mit den Ausgetretenen eine ›freie Gemeinde‹ noch besonders bilden, so verstößt solches Vorgehen nicht allein gegen unser Programm, sondern schädigt auch direkt unsere Sache, da durch solche freigemeindlerische Nebensächlichkeiten der Blick der Genossen von den eigentlichen Zielen der Sozialdemokratie abgewendet wird, und sie in der Agitation für dieselbe erlahmen.«107

Weder der 1874 aus der evangelischen Kirche austretende August Bebel, noch Wilhelm Liebknecht, der 1878 diesen Schritt vollzog, wechselten zu einer alternativen religiös-weltanschaulichen Gemeinschaft, wenn auch Liebknecht um 1880 ein Engagement bei den Freidenkern nicht ausgeschlossen hatte.108 Ein solches Verhalten teilten offensichtlich viele jener Sozialdemokraten, die - ermuntert durch die Dissidentengesetze und die entsprechende Parteiagitation ihren Kirchenaustritt erklärten. Die meisten innerparteilichen Aufrufe zum Kirchenaustritt fußten auf einer Kirchen- und Religionskritik, die im Grundsatz auch von jenen Parteigenossen geteilt wurde, die eine offensive Austrittsagitation ablehnten. In einigen seltenen Fällen wollten jene, welche die Parteimitglieder zum Kirchenaustritt aufriefen, diese Forderung sogar ausdrücklich von der religiösen Frage getrennt sehen: Das dogmatisch-kirchliche Christentum, das man verließe, habe nichts mit der Religion zu tun als dem »Absoluten«, »[...] das zwingend an den Menschen herantritt« und »[...] ihm das Bewußtsein der Pflicht auferlegt«.109 Auch die Einbettung der Kirchen- und Religionskritik in Fortschrittsrhetorik und Ganzheitlichkeitspathos kennzeichneten kaum die Aufrufe zum Kirchenaustritt als spezifisch antireligiöse Praxis. Zudem riefen Sozialdemokraten nie ex-

107 Vorwärts 22.3.1878 Nr.34 SA 108 August Bebel hatte am 5.5.1871, also ein Jahr nach Erlass des sächsischen Dissidentengesetzes, gemeinsam mit seiner Frau eine schriftliche Anzeige zum Kirchenaustritt eingereicht; der rechtsgültige Eintrag in das Dissidentenregister beim Amtsgericht Leipzig erfolgte für August Bebel am 27.5.1874. Liebknecht und seine vier Kinder Theodor, Karl, Otto und Wilhelm machten erst am 23.1.1878, offensichtlich beeinflusst von der Mostschen Austrittskampagne, mündliche Anzeige zum Kirchenaustritt; der Eintrag in das Dissidentenregister erfolgte am 17.4.1878. Angaben nach: Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, Amtsgericht Leipzig, Nr.705 (1872-1874) und Nr.707 (1878). Liebknecht hatte sich 1880 zwar zum ersten europäischen Freidenkerkongress in Brüssel angemeldet, scheint jedoch dem Deutschen Freidenkerbund von 1881 nicht beigetreten zu sein. Die biographische Forschung hat diese Frage bislang vernachlässigt (vgl. z.B. Dominuk; der DFB bleibt hier unerwähnt). 109 Braunschweiger Volksfreund 7.2.1878 Nr.33 S.l (Leitartikel »Religion und Sozialdemokratie«).

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plizit auch zum Austritt aus denjüdischen Gemeinden auf.110 Die Kirchenaustrittspropagandisten in Parteipublizistik und Versammlungsagitation waren j e doch in besonderer Weise einem »Wahrhaftigkeits-« und »Konsequenz«-Diskurs verpflichtet. Der Bruch mit der Kirche, den die meisten Parteigenossen innerlich schon vollzogen hätten, solle nun auch formell bekräftigt werden, die Halbheiten müssten ein Ende haben. Jedes Kirchenmitglied sollte tun, »[...] was die moralische Pflicht jedes Menschen ist, dessen Geist nicht mehr vom Wahn des Glaubens befangen, deß Sinn nicht zu, deß Herz nicht todt, der aber auch nicht heucheln, nicht anders scheinen will als er ist: er tritt auchformell aus einer Gemeinschaft, der er in Wirklichkeit längst nicht mehr angehört, und erwirbt sich dadurch in geistiger Beziehung die vollkommenste, von keinem Pfaffen beschränkte Freiheit.«.111 Als Johann Mosts Kirchenaustrittskampagne von 1878 innerparteilich in die Kritik geriet, wurde dieses Motiv von Mosts Chemnitzer Parteifreunden defensiv umgeprägt. Die Austrittsagitation sei davon ausgegangen,»[...] daß es Ehrensachefiirjeden religionslosen Parteigenossen sei, diese seine Stellung auch öffentlich zu bekennen.« In die mitunter noch religiöse »Ueberzeugung des Einzelnen« hätte man damit aber nicht eingreifen wollen.112 Eine allgemeine Kirchen- und Religionskritik reichte allerdings nicht aus, um tatsächlich eine größere Zahl von Parteimitgliedern vor Ort zum Kirchenaustritt zu bewegen. 113 Vielmehr spielten lebensweltliche Anlässe eine wichtige Rolle bei der Entscheidung zum gesellschaftlich noch weitgehend tabuisierten Kirchenaustritt. Im sozialdemokratischen Diskurs begegnen vier lebensweltliche Begründungskomplexe für eine Welle von Kirchenaustrittsaufrufen, die im Jahre 1876 wohl ihren Höhepunkt erreichte: 1. Die Pfaffenschelte volkstümlicher bzw. populäraufklärerischer Tradition etwa im Protest gegen moralistische und pöbelhafte Geistliche konnte sich mit Austrittsaufrufen verbinden. So begrüßte die »Chemnitzer Freie Presse« 1876 110 Vgl. Herzig, Kayser, S.l 1 lf.. Damit waren innerparteiliche antisemitische Anfeindungen jüdischer Sozialdemokraten gerade in den ersten Jahren allerdings nicht ausgeschlossen: s. beispielsweise die Kontroverse zwischen Kayser und Hasselmann 1872/73 (ebd., S.107). 111 Dresdner Volkszeitung 12.9.1877 Nr.69S.3 (in einem Bericht über pfarrherrlichen Druck zur kirchlichen Eheschließung in Sachsen). Vgl. ihnVich Zeitgeist 29.3.1874 Nr.71 S.3; Chemnitzer Freie Presse 2.4.1876 Nr.77 S.l (Leitartikel »Der Austritt aus der Kirche«). Auch in der frühen Arbeiterliteratur begegnet dieses Motiv. So entgegnet der jugendliche Protagonist Klaar in Friedrich Bosses Agitationsstück »Die Arbeitervereine haben doch eine Zukunft!« (1888) seinem Vater auf dessen Vorhaltungen, daß Klaar aus der Kirche ausgetreten sei: »Nein, es ist die Pflicht jeden ehrlichen Mannes, daß er aus einer Gemeinschaft scheidet, der er nicht ganzer Überzeugung angehört. Ich habe gehandelt, Vater, wie ich mußte!«: Bosse, Arbeitervereine, S.48. 112 Chemnitzer Freie Presse 22.2.1878 Nr.45 S.l (Leitartikel »Die Religion ist Privatsache«). 113 Eher eine Ausnahme spiegelt das im Braunschweiger Volksfreund 30.6.1878 Nr. 151 S.2 wiedergegebene Wortprotokoll eines Arbeiters von seiner Kirchenaustrittserklärung beim Ortspfarrer, in dem der Austretende seinen Schritt allein mit der Lektüre sozialistischer Blätter, die alle Gottesbeweise wissenschaftlich widerlegt hätten, begründete.

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einen Kirchenaustritt im sächsischen Lößnitz nach einer Beerdigungsfeier. Die verstorbene Schwägerin des Austretenden war in der Grabrede vom Pfarrer als »büßende Sünderin« bezeichnet worden, da sie »außer der Ehe geboren« habe.114 2. Die Kirchen- und Religionskritik, mit der man in der Partei Kirchenaustrittsaufrufe begründete, wurde oft durch Attacken gegen die Politik religiöser Erneuerung und Reorganisation, welche die konkurrierenden Religionsdiskurse stärkte und verhärtete, aktualisiert. So führten das innerkirchliche Erstarken des neoorthodoxen Flügels im Protestantismus des Königreiches Sachsen nach der Reichsgründung, aber auch der Versuch, durch Kirchenneubauten die städtische Seelsorgesituation zu verbessern, zu Austrittsaufrufen in der lokalen Parteiagitation.115 3. Die Dissidentengesetzgebung, die den Kirchenaustritt ermöglichte, war ein integraler Bestandteil des Kulturkampfes, dessen Trennungsforderungen von den meisten Parteiaktivisten geteilt wurden. Der Kirchenaustritt sollten seinen sozialdemokratischen Propagandisten zufolge die Trennung von Staat und Kirche als zentrales Anliegen jedes wahren Kulturkampfes voranbringen, womit die Trennungsforderung eine radikale Interpretation erfuhr: Trennung von Staat und Kirche durch eine Austrocknung kirchlicher Substanz. Doch weniger solche Argumentationen als konkrete Betroffenheiten mögen den Schritt zum radikalen Bruch mit der Institution Kirche befördert haben. So begegnen in der Parteipresse immer wieder Berichte, die wegen der Versuche einzelner Pfarrer, die Kulturkampfgesetzgebung durch sozialen Druck in Richtung auf Taufe und kirchliche Eheschließung zu unterwandern, zum Kirchenaustritt aufriefen, oder die Austritte aus ebensolchen Gründen vermeldeten. 1882 erklärte ein aufgrund des Sozialistengesetzes ausgewiesener Sozialdemokrat aus Stötteritz bei Leipzig den Austritt seiner Kinder aus der Landeskirche, nachdem in seiner Abwesenheit der Ortspfarrer die Kinder getauft hatte. Die Mutter der Kinder hatte der Taufe zugestimmt, da sie so die Rückkehr ihres Mannes zu beschleunigen hoffte. Auch finanzielle Erwägungen schufen den Nährboden, auf dem die Austrittsagitation fruchtbar werden konnte. Eine anstelle der traditionellen Abgaben wie der Stolgebühren im Kulturkampf eingeführte Kirchensteuer konnte zum Kirchenaustritt bewegen, zumal wenn weitere Steuererhöhungen die Einkommenssituation belasteten. So wies eine Einsendung aus Dortmund an die Elberfelder »Volksstimme« 1890 darauf hin, daß »[...] die Steuerschraube hierselbst ganz gewaltig angedreht« werde: »Um 114 Chemnitzer Freie Presse 18.7.1876 Nr.l64S.3. Vgl. ebd. 24.10.1876 Nr.249 S.4 (Bereitschaft zum Kirchenaustritt bei vielen Mitgliedern einer westpreußischen Gemeinde, in welcher der Pfarrer angeblich einen 86jährigen Greis zur Heirat mit seiner Gastwirtin gedrängt hatte). 115 Aufforderung zum massenhaften Kirchenaustritt angesichts der neuen Macht der sächsischen protestantischen Orthodoxie: Chemnitzer Freie Presse 5.7.1876 Nr. 153 S.l; wegen eines Kirchenneubaus in Chemnitz (Versammlungsrede Julius Vahlteichs): ebd. 18.9.1875 Nr.217 S.3.

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sich nun von der Steuer zu befreien, welche man nicht zu bezahlen braucht, und das ist die Kirchen-Steuer, tretet alle an, Mann und Frau, zum Austritt aus der Landeskirche.« 116 4. Schließlich bewegte einige Parteigenossen auch die antisozialdemokratische Repressionspolitik mit religiösem Vorzeichen, wie sie in den Gotteslästerungsprozessen gegen Redakteure von Parteiorganen zum Ausdruck kam, den radikalen Schritt aus der Kirche zu vollziehen. 117 Ob die in die institutionelle Religionslosigkeit fuhrenden Kirchenaustritte der 1870er und 1880er Jahre überwiegend das sozialdemokratische Milieu betrafen, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Nicht selten lassen die Berichte in der Parteipresse offen, ob lokale Kirchenaustritte etwa aufgrund der neu erhobenen Kirchensteuer oder aufgrund pfarrherrlicher Pressionen zur kirchlichen Trauung tatsächlich auf das Konto der Sozialdemokraten gingen. Auch die Vorträge, die der Sozialdemokrat und Freidenker Albert Dulk 1876 in Stuttgart hielt und in denen er offen zum Kirchenaustritt aufforderte, richteten sich keineswegs ausschließlich an ein sozialdemokratisches Publikum. In der Versammlung des »Städtischen Vereins« Chemnitz schließlich war sich der So116 Volksstimme 11.6.1890 S.3. Verbindung von Austrittsaufruf und der Forderung nach Trennung von Staat und Kirche: Zeitgeist 29.3.1874 Nr.71 S.3; Braunschweiger Volksfreund 14.4.1876 Nr.89 S.l; Volksstaat 27.9.1876 Nr. 113 S.3 (Rede Bebeis vor Sozialdemokraten: ein Aufruf, vom Dissidentengesetz regen Gebrauch zu machen und damit die Trenung von Kirche und Staat zu befördern). Zur Obstruktion bzw. Konterkarierung der Kulturkampfgesetze durch die Geistlichkeit als Austrittsmotiv: Volksstaat 2.9.1871 Nr.71 S.4 (Kirchenaustritt des sächsischen Parteigenossen F. Tischer sofort nach der Publikation des Dissidentengesetzes; daraufhin lässt der Pfarrer Tischers verstorbenes Kind ohne dessen Wissen begraben; der Sozialdemokrat fordert angesichts dieses Verhaltens die Genossen zu weiteren Austritten auf); ebd. 24.4.1872 (Chemnitz: Eine junge Frau, die wegen der bevorstehenden Hochzeit mit einem Sozialdemokraten aus der Kirche austreten will, wird von einem Pfarrer angegriffen; die richtige Antwort für den Berichtenden ist der massenhafte Kirchenaustritt); Braunschweiger Volksfreund 14.4.1876 Nr.89 S.l (Chemnitz: anlässlich des Drohbriefes eines Pfarrers an einen Strumpfwirker wegen unterlassener kirchlicher Eheschließung Aufforderung zum Kirchenaustritt); Neuer Social-Demokrat 23.4.1876 Nr.47 S.l (Burg bei Magdeburg: Austrittsforderung in einem Korrespondenzbericht wegen einer Predigt, die einen Kindstod auf die Zivilehe der Eltern zurückführte). Zustimmende Berichte zum Kirchenaustritt wegen der Kirchensteuer: Chemnitzer Freie Presse 9.6.1876 Nr. 131 S.l (Austrittsstimmung in hessischer Landbevölkerung wegen der hohen Kirchensteuern); Neuer Social-Demokrat 30.6.1876 Nr.74 S.2 (eine überparteiliche Volksversammmlung im hessischen Ober-Ramstadt beschließt wegen der Kirchensteuer den Massenaustritt aus der evangelischen Landeskirche); Vorwärts 17.5.1878 Nr.57 S.4 (ein Korrespondenzbericht aus Altona meldet ein Anschwellen der Austrittsbewegung in der Provinz aufgrund der Kirchensteuer; unter den Austretenden seien allerdings auch »Bürger und Bauern anderer politischer Glaubensbekenntnisse«). 117 Chemnitzer Freie Presse 17.4.1876 Nr.90 S.3 (Beschluss der Generalversammlung des sozialdemokratischen Arbeiter-Wahlvereins Gablenz (Sachsen), für den Massenaustritt zu agitieren, vom Korrespondenten zurückgeführt auf den Prozess gegen den Chemnitzer Parteiredakteur Saeveke); Berliner Freie Presse 16.8.1876 Nr. 189 S. 1 (vollzogener Kirchenaustritt eines Parteigenossen aufgrund dieses Prozesses); Vorwärts 26.4.1878 Nr.48 S.3 (Agitation des sozialdemokratischen Dissidenten Oskar Kiemich im Königreich Sachsen für den Kirchenaustritt unter Hinweis auf die zahlreichen § 166-Verfahren).

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zialdemokrat Julius Vahlteich 1875 mit seinem liberalen Vorredner einig in der Ablehnung eines geplanten Kirchenneubaus. Vahlteich nutzte die antikirchliche Stimmung der nicht parteigebundenen Versammlung für einen Aufruf zum Kirchenaustritt.118 Die erwähnten Kirchenaustrittsaufrufe blieben allerdings zumeist in der Verantwortung einzelner Parteigenossen - häufig Redakteure der Parteipresse oder lokaler Parteigliederungen. Auf dem SDAP-Parteitag von 1871 scheiterte ein Antrag sächsischer Delegierter, welche die Austrittsagitation zur Parteisache erklären lassen wollten. Der folgende Parteikongress 1872 in Mainz empfahl zwar allen Mitgliedern die individuelle Erklärung des Kirchenaustritts, doch hatte diese Empfehlung außer in Nürnberg, wo ein Masseneintritt in die Freireligiöse Gemeinde zu verzeichnen war, wohl kaum praktische Folgen. Auf dem Parteitag von 1874 wurden Anträge, welche die Verpflichtung zum Kirchenaustritt für Parteiangehörige forderten, hingegen zurückgewiesen, die Mainzer Empfehlung galt offensichtlich als hinfällig. Von breiter getragenen Kirchenaustrittskampagnen lässt sich wohl erstmals in den Jahren 1874-1877 sprechen, als es im Königreich Sachsen und anderenorts (z.B. in Braunschweig) zur Gründung von oft sozialdemokratisch dominierten Dissidentenvereinen kam. Anders als die Freireligiösen forderten diese Vereine ihre Mitglieder direkt zum Kirchenaustritt auf In ihrem Anliegen erhielten sie Unterstützung durch die Parteipresse, die ihren Lesern eingehend das komplizierte bürokratische Verfahren zum Kirchenaustritt nahebrachte.119 Die bekannteste Kirchenaustrittskampagne aber wurde im Jahre 1878 von Johann Most in Berlin initiiert.120 Most, zu dieser Zeit Reichstagsabgeordneter 118 Chemnitzer Freie Presse 18.9.1875 Nr.217 S.3 (Versammlung des »Städtischen Vereins« Chemnitz). Vgl. Kirchenaustrittsaufrufe auch in der nichtsozialdemokratischen Presse, z.B. in Demokratische Zeitung 11.10.1871 Nr.9 S.l. Auch die aus Verärgerung über die Kirchensteuern angeblich verbreitete Austrittsstimmung in der Bevölkerung, von der die Parteipresse berichtete, bezog sich keineswegs nur auf Sozialdemokraten. Schließlich war bei vielen Austrittsmeldungen in der Parteipresse (z.B. in Chemnitzer Freie Presse 18.7.1876 Nr.164 S.3; Vorwärts 30.1.1878Nr.12 S.4; ebd. 1.2.1878 Nr.13 S.4; Sozialdemokrat 4.8.1886 Nr.32 S.4) gar nicht klar, ob es überhaupt Sozialdemokraten waren, von denen hier berichtet wurde. - Die erwähnten Stuttgarter Vorträge Dulks vom Oktober 1876 erschienen im folgenden Jahr im Druck: Dulk, Kirche (Kirchenaustrittsaufruf ebd. S.85f.). 119 Vgl. Braunschweiger Volksfreund 16.6.1874 Nr.138 S.l (Leitartikel »Der Austritt aus der Kirche« über die Gründung eines Braunschweiger Dissidentenvereins durch den Sozialdemokraten Samuel Kokosky); Chemnitzer Freie Presse 14.12.1876 Nr.289 S.l (Dissidentenversammlung in Chemnitz; der Dresdener Parteiredner und prominente Dissident Oskar Kiemich ruft zum Austritt aus der Kirche und zum Eintritt in den »Dissidentenbund« auf); Hinweis auf Kiemichs Austrittsagitation vom Oktober 1876, bei der der Handelsdirektor Austrittsformulare verteilen ließ, auch in den Akten der Kreishauptmannschaft Dresden, zitiert in Stern, Kampf Bd. 1, S.525. 120 Diese Kampagne Mosts ist in der Literatur relativ breit dargestellt worden; ich beschränke mich im Folgenden auf einige für den Argumentationszusammenhang wesentliche Aspekte. Vgl. ausfuhrlich Kaiser, Sozialdemokratie, S.266-77; ebd., S.258 Anm.26 weitere Literaturhinweise. Sehr plastisch die Schilderung in Bernstein, Geschichte, S.349-53.

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und in der Hauptstadt als einer der erfolgreichsten, aber auch scharfzüngigsten Agitatoren tätig, hatte sich in der Vergangenheit verschiedentlich als radikal antikirchlicher Redner und Redakteur hervorgetan, einen für Parteimitglieder bindenden Kirchenaustritt jedoch ebenso vehement abgelehnt.121 Auch bei ihm bedurfte es eines konkreten Anlasses, um einen Meinungsumschwung herbeizuführen: die Gründung der »Christlich-sozialen Arbeiterpartei« durch den Hof- und Domprediger Adolf Stoecker, geplant als monarchistisch-konservative Alternative des »christlichen Sozialismus« gegenüber der Sozialdemokratie. In Stoeckers erster, der »Eiskeller-Versammlung« am 3. Januar 1878 verhinderte die von einem sozialdemokratiefreundlichen Publikum enthusiastisch aufgenommene kirchenkritische Rede Mosts die geplante christlich-soziale Parteigründung. Sowohl Stoecker als auch Most veranstalteten darauf in den folgenden Januarwochen eine Reihe von Versammlungen vor jeweils mehreren tausend Zuhörern. Most, der in seiner breiten Kirchen- und Religionskritik besonders die vermeintliche erkenntnistheoretische Unhaltbarkeit des Gottesbegriffes und das sozialpolitische Versagen der Kirche anprangerte, rief nun - erstmals in einer Versammlung am 22. Januar 1878 im großen Saal des »Berliner Handwerkervereins« - zum massenhaften Kirchenaustritt auf. Bei den vom Hof- und Domprediger Stoecker einberufenen Versammlungen mieteten Sozialdemokraten die Vorräume der Veranstaltungssäle an und warben mit Plakaten für den Austritt. Unter den Besuchern fanden die von den Parteigenossen verteilten Kirchenaustrittsformulare reißenden Absatz.122 Doch erst jenes Zusammentreffen am 5. Februar 1878, bei dem sich der sozialdemokratische Agitator Most und Theodor Wangemann (1818-1894), Direktor der Berliner Missionsgesellschaft und Gefolgsmann Stoeckers, gegenüberstanden, endete mit einer explizit zum Kirchenaustritt aufrufenden, vom Publikum mit überwältigender Mehrheit angenommenen Resolution, in der die Versammlung beschloss, dahin wirken zu wollen, »[...] 1) daß die vernunftmäßigen Lehren der Wissenschaft und des auf derselben basirenden Sozialismus sich mehr und mehr verbreiten, indem sie die unvernünftigen Wunderdogmen des Aberglaubens vollständig verdrängen; 2) daß alle diejenigen, die sich von dem Wunder- und Aberglauben befreit haben, aus der Kirche ausscheiden, um derselben auf diese Weise die unverdiente moralische und materielle Unterstützung zu nehmen und

121 Chemnitzer Freie Presse 6.8.1871 Extraausgabe: Aufsatz von Most »Die religiöse Bewegung in Deutschland und der Sozialismus«. Ablehnung einer Parteiagitation für den Kirchenaustritt, da dieser nur den Freireligiösen zugute komme. Auch auf dem SDAP-Partei tag 1871 hatte Most gegen die Austrittsagitation als Parteisache Stellung bezogen: s. Protokoll, 1872, S.l 16. 122 Kaiser, Sozialdemokratie, S.268-71. Auch die lokale Parteipresse außerhalb Berlins würdigte diese Ereignisse ausführlich und zunächst enthusiastisch; siehe z.B. den Bericht von der Versammlung am 22.1.1878 im Volksblattfiir das Herzogthum Altenburg 30.1.1878 Nr.9 S.3.

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3 ) d a ß die S c h u l e von i h r e m confessionellen Charakter befreit w e r d e , w e l c h e Bestreb u n g d u r c h d e n Massenaustritt a u s der Kirche sehr gefördert wird.« 1 2 3

Auch im Anschluss an diese Versammlung wurden Kirchenaustrittsformulare im Publikum verteilt, von denen offensichtlich eine große Zahl sofort gezeichnet wurde. Während in Berlin im ersten Halbjahr 1878 die Most-Kampagne noch weitere Kreise zog, versuchten andere Ortsgliederungen, an den Erfolg anzuknüpfen. Der prominenteste sich der Austrittskampagne anschließende Sozialdemokrat dürfte Wilhelm Hasselmann gewesen sein, der in seinem Barmen-Elberfelder Wahlkreis im Verbund mit Most als Gastredner für den Kirchenaustritt warb. In Berlin konnten in der Austrittskampagne erstmals auch mit der Partei sympathisierende Frauen in eigenen »Frauenversammlungen« massenhaft mobilisiert werden, was umso mehr als Erfolg erscheinen musste, als im sozialdemokratischen Religionsdiskurs Frauen allgemein als noch stark im »religiösen Aberglauben« verwurzelt angesehen wurden. 124 Die durch die Kampagne Johann Mosts losgelöste Austrittswelle kann als antireligiöse Praxis im sozialdemokratischen Milieu insofern bezeichnet werden, als auf eine als Bedrohung125 empfundene kirchliche Praxis - das Projekt einer »christlich-sozialen Partei« - mit dem radikalen Bruch zur Institution Kirche reagiert wurde, einem Bruch, der in der gesellschaftlich dominanten Kultur einen Tabubruch darstellte und durchaus mit negativen praktischen Konsequenzen behaftet sein konnte. Die Rhetorik dieser Kampagne ging über das Verständnis des Kirchenaustritts als Schritt persönlicher Wahrhaftigkeit hi123 Vorwärts 10.2.1878 Nr.17 S.2f. Ausführlicher Bericht von der Versammlung am 5.2.1878 in ebd. 15.2.1878 Nr.19 S.2f., Zur Kirchenaustrittswerbung bei den vorhergehenden Berliner Versammlungen die Berichte in Braunschweiger Volksfreund 25.1.1878 Nr.21 S.2f.; Chemnitzer Freie Presse 29.1.1878 Nr.24 S. lf.. Interessant zum Vergleich die Einschätzung Theodor Wangemanns, referiert in Wangemann, S.334-39. Theodor Wangemann, der auch in den Frauenversammlungen gegen Most antrat, glaubte durch seinen Appell an »[...] diejenigen Gefühle, die dem Weibe die edelsten sind« (ebd., S.337) - Religion, Ehe und Familie - , eine größere Anzahl von Frauen der Kirche zurückgewonnen zu haben. 124 Zu Barmen-Elberfeld: Braunschweiger Volksfreund 13.3.1878 Nr.61 S.l (Übernahme eines Artikels aus der katholischen »Germania«, die den Erfolg der antireligiösen Kampagne unter den protestantischen Arbeitern des Wuppertals nicht ohne Häme kommentierte). Weitere Kirchenaustrittsversammlungen 1878 z.B. in Schleswig-Holstein (Vorwärts 15.5.1878 Nr.56 S.3f.: Austrittsversammlung in Ost-Steinbeck; als ein Parteiredner aus Bebeis »Christentum und Sozialismus« zitiert, konfisziert der Kirchspielvogt diese Broschüre). Zur Mobilisierung von Frauen in Mosts Kampagne: Vorwärts 15.2.1878 Nr. 19 S.3 (Bericht von der Berliner Frauenversammlung am 6.2.1878, geleitet von Berta Hahn, der Mitbegründerin (1873) und ersten Vorsitzenden des 1877 verbotenen Berliner »Arbeiterfrauen- und Mädchenvereins« (Rotler, S.98). Auf der Versammlung sprachen der zum Kirchenaustritt aufrufende Most und Missinonsdirektor Wangemann, Braunschweiger Volksfreund 4.4.1878 Nr.80 S.l (Leitartikel »Zur Frauenfrage. Von einer Parteigenossin«: Der erstmalige Appell der Sozialdemokratie an die Berliner Arbeiterfrauen anlässlich der Kirchenaustrittsagitation könne nur ein Anfang im Kampf der Partei für die Gleichberechtigung der Frau sein). 125 Der Bedrohungsaspekt betont bei Kaiser, Sozialdemokratie, S.271-73.

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naus; in der Tat sollte mit dem massenhaften Kirchenaustritt ein definitives »Ende der Religion« näher herbeigeführt werden. So hatte in der »EiskellerVersammlung« vom 3. Januar 1878 Johann Most seine Angriffe mit dem Ruf zu den anwesenden Geistlichen beschlossen: »Macht Eure Rechnung mit Eurem Himmel, denn Eure Uhr ist abgelaufen« - ein Satz, den bezeichnenderweise die sozialdemokratische Presse in ihren Berichten nicht zitierte, dafür aber die konservative »Kreuzzeitung«, und der von Most später bestätigt wurde. 126 Die liberale Presse grenzte sich überwiegend von Mosts Radikalismen ab, was auf sozialdemokratischer Seite die ironische Distanzierung vom »national-liberalreichsfreundlichen« Religionsdiskurs erleichterte.127 Auf der anderen Seite sind Diskursüberschneidungen nicht zu übersehen: Von Teilen der freireligiösen Bewegung wurde die Kampagne Mosts begrüßt, und die in den Austrittsversammlungen gehaltenen Reden feierten den Sozialismus bisweilen auch als neue »wahre Religion«.128 Welchen Erfolg zeitigte die sozialdemokratische Kirchenaustrittskampagne des Jahres 1878? Gemessen an der Austrittsstatistik kann allenfalls von einem flüchtigen, temporären Effekt gesprochen werden, der keineswegs den Erwartungen entsprach, die durch die massenhaft verteilten Austrittsformulare geweckt worden waren. »Zwischen Anmeldung und Vollzug war den meisten offenbar die Lust wieder vergangen.«129 1877 betrug die sozialdemokratische Wählerschaft Berlins 39,2%, um 35.000 Stimmen. 1878 lag die Zahl der Kirchenaustritte in der Hauptstadt bei etwa 1000,1879 fiel diese Zahl wieder auf einige Dutzend zurück. Aber auch im Kampagnenjahr 1878 blieb die Abendmahlsteilnahme der Arbeitergemeinden im Südosten und Nordwesten Berlins völlig normal. 130

Das Scheitern der antireligiösen Option Von einem Erfolg Johann Mosts kann aber auch in anderer Hinsicht nicht die Rede sein. Die Berliner Kirchenaustrittskampagne wollte eine Massenbewe126 »Kreuzzeitung« vom 6.1.1878, zitiert nach ebd., S.269. Zur späteren Rechtfertigung Mosts für diesen Satz s. ebd., S.270. 127 Braunschweieer Votksfreund 25.1.1878 Nr.21 S.2. 128 Freireligiöses Votum für die Most-Kampagne: s. Wahrheit 12.2.1878 Nr.36S.t (im Vortrag von Carl Scholl vor der freireligiösen Gemeinde Schwabach). Vgl. dagegen die kontroverse Debatte über die sozialdemokratische Austrittsagitation im »Bund freireligiöser Gemeinden«, dokumentiert in Bundesblätter Juli 1878 H.56 S.5-11, 23. Sozialismus als »wahre Religion«: In der Versammlung vom 22.1.1878 erklärte ein Redner in der Publikumsdebatte: »Die wahre Religion, die Religion der Sozialisten, ist die Beförderung des Glücks aller Menschen in dem Glücke des Einzelnen; die wahre Religion ist die werkthätige Menschenliebe!« Volksblattfür das Herzogthum Altenburg 30.1.1878 Nr.9S.3. 129 Bernstein, Geschichte, S.353. 130 Zahlen nach Hölscher, Weltgericht, S.161f.

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gung in der Sozialdemokratie in Gang setzen. Most sprach auf den Versammlungen als Agitator der Sozialistischen Arbeiterpartei; ohne Zweifel verstand er die antireligiöse Propaganda als Aufgabe, welche die Partei auch in der radikalisierten Form einer massiven Austrittsagitation mittragen werde. Doch schon 1871 war der Versuch, eine solche Agitation zur Parteisache zu erklären, auf dem SDAP-Kongress gescheitert - nicht zuletzt dank der argumentativen Schützenhilfe von Most selbst. So konnte es nicht verwundern, daß auch 1878 der Mostschen Kampagne alsbald Distanzierungen aus der Partei folgten. 1881 betonte August Bebel im Reichstag, daß die sozialdemokratischen Parteitage einen Kirchenaustrittszwang für Mitglieder stets abgelehnt hätten. Weitergehende Ansichten würden allenfalls vereinzelt vertreten: »[...] es ist das unrichtig, wenn uns imputirt wird, daß wir die religiöse Ueberzeugung irgend eines Menschen und selbst unserer Parteigenossen irgend wie in ungehöriger Weise beeinflussen wollen.« Zu diesem Zeitpunkt befand sich Johann Most bereits außer Landes; sein Radikalismus - auch in der religiösen Frage - und seine Hinwendung zum Anarchismus hatten aus ihm in der sozialdemokratischen Partei eine Persona non grata gemacht. Mit der Verdrängung anarchistischer Ideen in der Sozialdemokratie der späten 1870er und der 1880er Jahre verlor auch die antireligiöse Option an Boden.131 Die Kirchenaustritte konnten im kulturellen Umfeld der 1870er und 1880er Jahre kaum zu einer Massenbewegung anschwellen. In der Sozialdemokratie war man sich auch dort, wo der Austritt individuell vollzogen wurde, des gesellschaftlichen Tabubruchs eines solchen Schrittes in einem noch immer christlichen Staat sehr wohl bewusst. Innerparteiliche Gegner der massiven Austrittspropaganda verwiesen auf die Unmöglichkeit des Kirchenaustritts für Staatsbeamte, beispielsweise für Schullehrer. Doch auch im Geschäfts lebe η konnte das offene Dissidententum gravierende Folgen nach sich ziehen, etwa über einen Boykott durch die christliche Mehrheitsgesellschaft. 1890 konstatierte das »Berliner Volksblatt«: »Wir haben wichtigere Dinge vor uns, als den Massen den Austritt aus der Kirche zu empfehlen, der aus hunderten von ökonomischen Gründen viel leichter empfohlen als ausgeführt werden kann.«132 131 Stenographische Beruhte, 1881 Bd.3, S.657 (Bebel-Zitat). Kirchenaustrittsagitation ist nicht Sache der Partei: ebenso in Wahrheit 12.2.1878 Nr.36 S.1 (Leitartikel »Für und gegen den Massenaustritt aus der Landeskirche«). Zu Mosts Parteiausschluss und seiner Hinwendung zum Anarchismus vgl. Lidtke, Party, S.1 17-24. Der Zusammenhang von anarchistischer Wende und antireligiösem Aktivismus in Mosts Entwicklung wird sowohl in der biographischen Literatur als auch in der Anarchismusforschung übersehen; vgl. Linse; Trautmann; Rocker, die alle der religiösen Frage kaum Bedeutung zumessen. 132 Berliner Volksbhtt 30.9.1890 Nr.227 S.3 (Wiedergabe eines Artikels vom Berliner Korrespondenten der »Wiener Arbeiter-Zeitung«, der gegen die Berliner Austrittskampagne des Jahres 1890 auftrat). Schullehrer: Hinweis in Vorwärts 27.1.1878 N r . l l S.4. Hinweis auf die Untergrabung der eigenen gesellschaftlichen Existenz durch den Kirchenaustritt in einem Korrespondenzbericht des Sozialdemokrat 17.8.1882 Nr.34 S.4.

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Der Staatsapparat reagierte auf sozialdemokratische Kirchenaustrittspropaganda mit zunehmender Schärfe, obwohl er selbst durch Kulturkampf und Dissidentengesetze die Möglichkeit des Kirchenaustrittes geschaffen hatte. Gegen Most und andere Beteiligte an der Austrittskampagne des Frühjahrs 1878 wurden Strafverfahren angestrengt, die sich zunächst allerdings noch nicht auf den Austrittsaufruf selbst bezogen, sondern auf die angebliche »Beleidigung der Geistlichen der evangelischen Landeskirche« und die Beschimpfung der christlichen Kirche im Rahmen dieser Agitation.133 Doch wenig später fand die Justiz mit dem Delikt des »groben Unfugs« (§ 360 des Reichsstrafgesetzbuches) einen Straftatbestand, der geeignet schien, direkt gegen Kirchenaustrittsaufrufe in Versammlungen vorzugehen. Hiervon betroffen waren nicht nur Mosts Aufrufe und das Verteilen von Austrittsformularen, sondern z.B. auch die auf die Austrittsmöglichkeit nur allgemein hinweisenden, wissenschaftlich-religionskritischen Vorträge Albert Dulks in Leipzig 1878. Und im Prozess gegen einen sozialdemokratischen Redakteur wegen »Gotteslästerung« (§ 166) wurde die zeitgleiche Berliner Kirchenaustrittskampagne von der Staatsanwaltschaft als strafverschärfend geltend gemacht.134 Daß Mosts Austrittskampagne im Oktober 1878 schließlich Einfluss auf die parlamentarische Zustimmung zum Sozialistengesetz ausübte, darf mit Sicherheit angenommen werden. Schon 1874 war die Münchener Sozialdemokratie insbesondere wegen ihres »durchaus materialistisch(en) und atheistisch(en)« Programmes vorübergehend geschlossen worden. Im Februar 1878 rief die der preußischen Regierung nahestehende »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« explizit wegen der Mostschen Austrittskampagne zu einer Unterdrückung der Sozialdemokratie mit neuen Instrumenten auf: »Das entrüstete und erschreckte Publikum selbst dürfte wohl Veranlassung nehmen, durch Anträge an die Behörden, durch Petitionen, an Parlamente gerichtet, die Dringlichkeit einer legislatorischen Abhilfe nahe zu legen, wenn selbst eine scharfe Handhabung der bestehenden Gesetzgebung unwirksam bleibt.«135 Unter dem Sozialisten133 Chemnitzer Freie Presse 7.2.1878 Nr.32 S.l (Zitat); Vorwärts 20.2.1878 Nr.21 S.3; ebd. 27.3.1878?Nr.3 6 S.3; Berliner Freie Presse 2.5.1878 Beilage zu Nr.102 S.l f. (Leitartikel›› Zum KetzerProzeß wider Most. (Verteidigungsrede des Angeklagten)«). 134 Verfolgung der Kirchenaustrittsaufrufe und des Verteilens von Austrittsformularen als »grober Unfug«: Vorwärts 17.3.1878 Nr.32 S.3 (Verurteilung des Berliner Parteigenossen Carl Friedrich Greifenberg zu 15 Mark Strafe nach § 360 RStGB wegen Verteilung von Austrittsformularen nach einer Volksversammlung am 28.2.1878); Volkswille 10.5.1878 Nr.56 S.233. Kirchenaustrittskampagne als strafverschärfendes Argument in einem § 166-Prozeß: Vorwärts 8.3.1878 Nr.28 S.4 (angeklagt war der prominente Berliner Sozialdemokrat Paul Grottkau (18461898), der kurz darauf in die USA emigrierte, s. Liebknecht, Briefwechsel Bd.2, S. 153). Zum Verbot der Dulk-Vorträge in Leipzig: Vorwärts 17.4.1878 Nr.45 S.3f.; ebd. 8.5.1878 Nr.53 S.4. 135 »Norddeutsche Allgemeine Zeitung«, zitiert nach Chemnitzer Freie Presse 19.2.1878 Nr.42 S.2. Bericht von der Schließung der Münchener Sozialdemokratie: Zeitgeist 20.9.1874 Nr.212 S.2 (Zitat). Vgl. Pack, S.8, der vier Gründe für Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokratie nennt: 1. den Republikanismus als Gefahr für die Monarchie, 2. den Internationalismus, der sich mit

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gesetz wurden Verbote sozialdemokratischer Schriften von den zuständigen Behörden oft mit dem radikal-atheistischen Inhalt dieser Schriften begründet, und Zentrumsabgeordnete, die einer Verlängerung des Sozialistengesetzes zustimmten, verwiesen auf die vorgebliche Religionsfeindschaft der Arbeiterpartei. So erklärte der Abgeordnete des Zentrums Georg Freiherr von Hertling (1843-1919) in der Reichstagsdebatte vom 30. März 1886 nach dem Bericht der sozialdemokratischen »Bayerischen Volksstimme«: »Die Aufhebung des Sozialistengesetzes sei unmöglich angesichts der gestern von Bebel wiederum proklamirten revolutionären und atheistischen Bestrebungen. Das Volk müsse geschützt werden vor der Einwirkung gewissenloser Agitatoren, die ihm mit erborgten Fetzen halbwissenschaflicher Bildung die Religion nehmen. (Bebel ruft: Sie Verleumder! Ordnungsruf des Präsidenten).« 136

Das Motiv der sozialdemokratischen Religionsfeindschaft, des Atheismus und Religionshasses der Partei war Bestandteil der Religionsdiskurse aller konkurrierenden soziokulturellen Milieus. Autoren der kirchennahen Milieus von Konservatismus und Katholizismus, oft selbst Geistliche, verurteilten den angeblich radikal-atheistischen Kurs der Sozialdemokratie: Die Arbeiterpartei wolle, selbst wenn sie sich zuweilen hinter der Maske religiöser Toleranz verberge, letztlich doch die Religion gewaltsam abschaffen; sie erkläre sich damit zur Feindin jeder gottgewollten Ordnung. Mit ganzen Zitatensammlungen wurde dieses Bild der untrennbaren Verbindung von Sozialismus und Religionsfeindschaft untermauert. »Die ganze socialistische Bewegung ist, wo sie sich vollkommen ausgestaltet hat durchaus materialistisch und atheistisch. Sie ist es schon deßhalb, weil die positive Re ligion der stärkste Feind des Socialismus, das Bollwerk gegen alle Umsturzlehren ist Die Heilighaltung des Privateigenthums, der Gehorsam gegen die weltliche und geist liehe Obrigkeit werden von ihr mit aller Eindringlichkeit als göttliches Gebot gelehrt [...] Daher kann ein Arbeiter von positivem Glauben niemals Socialist sein. [...] Fürdei modernen Socialismus, wenn er sich consequent entwickelt hat, besteht der Begrif eines persönlichen Gottes nicht mehr, der socialistische Staat der Zukunft ist der einzi ge Gott.«137 Deutschlands Gegnern verbündet, 3. den junkerfeindlichen Plan zur Transformation der Sozialund Wirtschaftsordnung, und 4. den die Normen der christlichen Gesellschaft unterhöhlenden Atheismus. 136 Bayerische Volksstimme 2.4.1886 Nr.2 S.3; vgl. auch Pack, S.84. Zu den SozialistengesetzVerboten von sozialdemokratischen Druckschriften und Vereinen wegen einer Tendenz zum »krasseste(n) Atheismus« s. Stern, Kampf Bd. 1, S.44 (Verbot des »Vorwärts« 1878), 307 (Verbot der Berliner »Volks-Zeitung« 1889, hier auch das »Atheismus«-Zitat), 548 (Verbot »Volkskalender« von 1879); Stern, Kampf Bd.2, S.979 (Verbot der sozialdemokratischen Tarnorganisation »Fachverein für Tischler« 1889). 137 Jäger, S.429f. Vgl. Concordia 9.5.1872 Nr.19 S.145f. (gegen den »brutale(n) Atheismus und Materialismus« und die »erbitterte Feindschaft« gegen die Religion in der Sozialdemokratie); Held (sozialdemokratischer Atheismus durchgängiges Motiv, z.B. ebd., S. 170); Schuster, S. 169-96 (Kapi-

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Doch auch kirchlich Liberalere wie Rudolf Todt, ja, selbst Freireligiöse und linksliberal-demokratische Organe wie die »Frankfurter Zeitung« warnten die Sozialdemokraten vor der radikal antireligiösen Option. Allerdings verstand dieses Spektrum im Gegensatz zu den Konservativen und den Ultramontanen den Atheismus nicht als eine dem Sozialismus immanente Weltanschauung; die Einwände gegen die antireligiöse Option gaben sich gelegentlich eher als Ratschläge, die diesen Kurs als taktisch unklug kritisierten.138 Unterschiedslos aber bezeichneten die nichtsozialdemokratischen Religionsdiskurse den (mutmaßlichen) religionsfeindlichen Fanatismus des politisch-ideologischen Gegners als auf seine Weise selbst religiös.139 tel »Die Religion und die Social-Demokratie«, S.196 Schlussfolgerung: Der Sieg der Sozialdemokratie erfordere die »Verwüstung« des Christentums); Volksstaat 26.4.1876 Nr.48 S.4 (Korrespondenzbericht über eine Volksversammlung in Großenlinden bei Gießen; ein anwesender Pfarrer gibt dem sozialdemokratischen Redner in allen Punkten recht, beklagt aber, daß die Sozialdemokratie die Religion abschaffen wolle); Duisburger Freie Zeitung 1.8.1876 Nr.14 S.l (über Angriffe gegen die sozialdemokratische Religionsfeindschaft in der Duisburger katholischen Presse); Vorwärts 23.2.1877 Nr.23 S.3 (Zitat aus der halb regierungsoffiziellen preußischen »ProvinzialCorrespondenz« zur Religionsfeindschaft der Sozialdemokratie; viele Provinzzeitungen wie der »Westfälische Telegraph« nähmen diese Vorwürfe auf); ebd. 19.9.1877 Nr.110 S.3 (Bericht von einer Konferenz hessischer Geistlicher; in einer dort vorgetragenen Thesenreihe zum Sozialismus auch die These, daß für den Sozialismus das Christentum der größte Feind und daher zu vernichten sei); Helferich, S. 17-20 (u.a. ausführliches Zitat von Most's »Eiskeller«-Rede als Beweis, daß »[...] Socialismus und Atheismus unzertrennbar sind«, ebd., S.19); Pachtler, S.36 (»In Sachen der Religion erstrebt die Socialdemokratie den Atheismus; oder sagen wir lieber gleich Alles: denAntitheismus, d.h. den förmlichen Haß Gottes und göttlicher Dinge.«, belegt durch eine ausführliche Zitatensammlung); Westfälische Arbeiterzeitung 24.7.1889 Nr.58 S.3 (Zitat eines Artikels der katholischen »Tremonia«; dort Bericht über eine Volksversammlung, die die untrennbare Verbindung von Sozialdemokratie und Unglauben verdeutlicht habe); Wähler 4.6.1890 Nr.90 S.l (Zitat einer Thesenreihe Adolf Stoeckers, die die Sozialdemokratie als Feindin der »gesamte(n) christliche(n) Kultur« darstellte; vgl. auch die Angriffe auf den Atheismus der Sozialdemokratie in Stoeckers »Eiskcller«-Rcde vom 3.1.1878, komplett wiedergegeben in Stoecker, Christlich-sozial, S.3-6); Jösting (umfangreiche Zitatensammlung, um zu belegen, daß die Sozialdemokratie nicht ruhen werde, »[...], als bis alles, was Religion heiße, mit Stumpf und Stil ausgerottet sei [...].«, ebd., S.4); Oldenberg, S.73-77 (ebd., S.76 Differenzierung zwischen den »Marxisten«, die die Religion absterben lassen wollten, und den »atheistischen und freireligiösen Heißspornen«, die »zu den schwersten Heimsuchungen der Partei« gehörten und innerparteilich »nach Möglickeit geduckt« würden). 138 Todt, S.78-98 (S.90: »Der Atheismus ist nur ein Accidenz des Socialismus, [...].«, eine Konzession an den materialistischen Zeitgeist); v g l Kandel, S. 148-51 (Todt sah nicht nur den sozialdemokratischen Atheismus als »Accidenz«, sondern kritisierte auch die konservative und liberale antisozialistische Polemik, die die Religion für Parteizwecke instrumentalisiere). Vgl. Schäffe, S.42-47, 109. Freireligiöse Distanz: Bundesblätter Juli 1878 H.56 S.8-10, 23 (Berliner Kampagne 1878); Menschenthum Juni 1890 Nr.26 S.103 (Berliner Kampagne 1890). Kritik am »unklug(en)«, rohen Vorgehen des antireligiösen Kampfes in der Sozialdemokratie in einer Artikelserie der »Frankfurter Zeitung« vom Juni 1878, referiert in Geschichte, S.304. Vgl. auch den Einspruch von demokratisch-fortschrittlichen Blättern bei der »Reichskommission« gegen Verbote aufgrund des Sozialistengesetzes mit dem Hinweis, ihre Blätter achteten im Gegensatz zum sozialistischen Atheismus die religiösen Überzeugungen: Stern, Kampf Bd.1, S.155. 139 Siehe z.B. Schäffle, S.47; Munding, bes. S.88.

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Durch die massiven Angriffe, die sich nicht in Rededuellen und publizistischen Kontroversen erschöpften, sondern auch zur Rechtfertigung repressiver Maßnahmen herangezogen wurden, sah sich die sozialdemokratische Partei erheblich in die Defensive gedrängt. Ein Flugblatt »An die Wähler von LennepRemscheid-Mettmann« im Reichstagswahlkampf von 1890 meinte betonen zu müssen: »Mitbürger u n d Arbeiter aller Konfessionen! M a n sucht euch glauben zu machen, wir wollten die Religion auflieben und euch euren Glauben rauben. Es w ü r d e die höchste Inkonsequenz sein, w e n n w i r der Religion, die doch so fest beim Volke eingewurzelt ist und sein ganzes Gefühlsleben und seine Auffassung beeinflußt, die Duldung versagen wollen, die w i r für unsere, immerhin erst aufkeimenden Ideen wünschen.« 1 4 0

Die sozialdemokratischen Verteidigungsstrategien nach außen entwickelten sich parallel zu einer Frontstellung nach innen, die eine Marginalisierung der radikal antireligiösen Option bezweckte. Überschneidungen mit Motiven der konkurrierenden antisozialdemokratischen Religionsdiskurse stellten dabei selbst bei jenem Parteiflügel, der sich immer stärker einem »Marxismus« verpflichtet sah, durchaus keine Seltenheit dar. So erklärte Wilhelm Liebknecht auf dem Hallenser Parteitag von 1890 in der Erwiderung auf Parteikreise, die eine radikal antireligiöse Sprache pflegten und auf Kirchenaustrittskampagnen setzten, daß die »Antipfaffen« selbst sich offensichtlich nicht recht von der Religion lösen könnten. Diese Attacken konnten sich auf eine argumentative Linie berufen, die Marx und Engels bereits gegen den Bakunismus etabliert hatten.141 Ebenso aber deckte sich Liebknechts Angriff mit Vorwürfen des politischen Gegners gegen den im Grunde selbst religiösen Atheismus der Sozialdemokratie. Ebensowenig rein »marxistisch« fundiert war der Topos vom naturnotwendigen »Absterben« der Religion, das eine aktive und aggressive Abschaffung derselben überflüssig mache und eine gleichgültige Haltung der Sozialisten gegenüber der religiösen Frage ermögliche. 142 140 Zitiert nachJösting, S.20. 141 Einen entsprechenden »Volksstaat«-Artikel von Engels gegen den dogmatischen Atheismus der Blanquisten und Bakunisten vom 26.6.1874 zitierte 1884 der »Sozialdemokrat« in einer Replik auf Albert Dulk. Dulk hatte seinerseits gegenüber dem landläufigen Atheismus der Sozialdemokratie, der in der Gefahr schnell verleugnet werde, ein konsequentes Freidenkertum eingefordert: Sozialdemokrat 8.5.1884 Nr.19 S.2. Vgl. zur Atheismuskritik von Marx und Engels auch Frostin, S.159f.; Horvath, S.246f. 142 Absterbens- und Gleichgültigkeitsmotiv in »marxistischen«, aber auch in ganz »unmarxistischen« Varianten: Zeitgeist 30.10.1874 Nr.246 S. 1 (in Reaktion aufdie Schließung der Münchener Sozialdemokratie wegen ihrer atheistischen Agitation); Sozialdemokrat 28.1.1886 Nr.5 S.l (Leitartikel »Unser Programm und die Frage der Religion«: die Religion wird absterben, sobald die Menschen durch den Sozialismus »Herren ihres Schicksals« sind); Beniner Volksblatt 30.9.1890 Nr.227 S.3. Ablehnung des radikalen antikirchlichen Kampfes im Sinne des Massenaustritts aufgrund der gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit der Kirchen: Beniner Volksblatt 20.9.1890 Nr.219 S.2f. (Berliner Versammlung der gewerblichen Hilfsarbeiter, Thema: »Die Religion der Zukunft«).

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Das Motiv des selbst religiösen Atheismus teilten die »Marxisten« bzw. »Radikalen« (Vernon Lidtke) mit den »Moderaten«, d.h. den Pragmatikern der Reichstagsfraktion, und mit den »ethischen Sozialisten«.143 Ebenso sah man bei Radikalen und Moderaten lautstarke Religionsfeindschaft und aggressive Kirchenaustrittskampagnen als taktischen Fehler, der agitatorisch vom politischen Gegner ausgenutzt werden könne und zudem die noch religiösen Arbeiter verunsichere. Die ethischen Sozialisten zielten darüber hinaus insgesamt gegen einen »rohen« Materialismus, welcher der antireligiösen Propaganda häufig eigen sei, obwohl doch das materialistisch-atheistische Prinzip keineswegs im Mittelpunkt der sozialdemokratischen Bestrebungen stehe. Am pointiertesten äußerte diese Kritik der mit »K.« gezeichnete Artikel »Die Kirchen im Zukunftsstaat« in der »Zukunft« 1878: »Welchen Schaden die Partei sich damit thut, daß in ihrem N a m e n eine atheistische Agitation der wüsten Leidenschaft u n d des blinden Fanatismus betrieben wird, dafür liegen S y m p t o m e von allgemeinerer Bedeutung und Erkennbarkeit vor Augen. Was ist denn z.B. aus der mit so vielem Eclat in Scene gesetzten Agitation für ›Massenaustritt‹ aus der Kirche geworden? [...] ist es nicht einleuchtend, daß die materialistisch-atheistische Neben-Tendenz socialdemokratischer Praxis der Partei eine große Anzahl idealistisch-religiös gesonnener Gesinnungsgenossen entfremdet, ohne ihr auch nur einen einzigen materialistisch-atheistischen Gegner zuzuwenden?« ]44

Diese Attacken konnten durchaus auch »gemäßigte Atheisten« bzw. Materialisten wie August Bebel treffen.145 Allerdings war Bebel taktisch klug genug, um von seinem Verbalradikalismus in der religiösen Frage, der seine Schriften in den 1870er Jahren prägte, Abstand zu nehmen. Als er im Reichstag die Sozialdemokratie im Vorfeld der Sozialistengesetz-Verabschiedung gegen den Vorwurf des Atheismus als Parteidoktrin verteidigte, belegte er dies geschickt mit dem »K.«-Artikel aus der »Zukunft« von 1878, der mit der Kirchenaustrittskampagne Mosts und dem »primitiven« Materialismus abgerechnet hatte und 143 Siehe z.B. im ethisch-sozialistisch gefärbten Jahrbuch 1879, S.91 (der Materialismus sei auch eine Religion, »[...] wenn auch keine der besten [...]«). 144 K, S.549-59; Zitat ebd. S.552f.. Die »Entgegnung« auf diesen Artikel in derselben Zeitschrift - mit »M.« gezeichnet, womöglich von Most selbst verfasst - räumte zumindest ein, daß es sich bei der Kampagne um einen »politische(n)«, wenn auch nicht um einen »sittliche(n) Fehler« gehandelt haben könne: Zukunft, S.680-83, Zitat ebd., S.681. Vgl. auch Sozialdemokrat 28.11.1880 Nr.48 SA (Leitartikel »Sozialismus und Christenthum«); Vorbote November 1869 Nr.11 S.163f. (Replikjohann Philipp Beckers aufVorhaltungen von Lesern, er solle aus »Klugheits-Rücksichten« auf seine antireligiösen Attacken verzichten); K.yS.550;Jahrbuch 1879, S.91 (Berliner Kirchenaustrittskampagne als »taktischer Fehler«). 1 45 Vgl. die in einem Brief an Engels vom 7.4.1884 geäußerte Verärgerung Karl Kautskys über den ethischen Sozialisten (und Freidenker) Bruno Geiser, der »[...] in der ›neuen Welt‹ gegen die Unwissenschaftlichkeit des Atheismus losdonnert [...], und das Alles im beleidigendsten Ton vorgetragen, die Atheisten »vorlaute Schuljungen‹ genannt, der Atheismus der Stiefelputzer in den Vorhallen der Wissenschaft etc. Der ganze Artikel offenbar gegen Bebel gerichtet.«: Engels/Kautsky, S.107.

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damit Ansichten vertrat, die Bebel zufolge »verschiedene, mehr oder weniger große Kreise« in der Partei teilten. 146 In Verteidigung gegenüber dem Vorwurf des Religionshasses und der geplanten Religionsausrottung, aber auch und gerade im Blick auf die noch kirchlich-religiös gebundenen Arbeiter als einer Gruppe, die in der Parteipublizistik selten mit eigener Stimme auftrat, aber doch häufig als taktisch einzukalkulierender Faktor angesprochen wurde, betonten sowohl Radikale als auch Gemäßigte in der Sozialdemokratie die Programmformel »Religion als Privatsache«. »Wir Sozialisten sind nun, wie wir zum öftern erklärt haben, nicht eine religiöse, sondern eine politisch-öconomische Partei. Und weil dies der Fall ist, kann es auch nicht ausbleiben, daß in unserer Partei sich bezüglich des Glaubenspunktes die verschiedensten Elemente befinden. Niemals aber ist Jemand von uns auch nur gefragt worden, ob er Katholik, Protestant, Jude u.s.w. ist, noch weniger aber ist es Jemandem verwehrt worden, seine Ansicht in unseren Blättern darüber auszusprechen, am allerwenigsten aber hat die Partei als solche versucht, ihre Anhänger der Religionslosigkeit in die Arme zu treiben, oder wohl gar das Prädicat Sozialdemokrat^ von der Erklärung der Religionslosigkeit abhängig gemacht. Und wenn deshalb in sozialistischen Zeitungen oftmals Artikel sich befinden, in welchen ein Einzelner sich auf einen religionslosen Standpunkt stellt, so sind dies nur Ansichten der Einzelnen, und als solche zu behandeln und zu beurtheilen. Wir erklären einfach die Religion zur Privatsache des Einzelnen.«147 Mit der Interpretation der »Privatsache«-Formel als Bekenntnis religiöser Toleranz und mit der Marginalisierung atheistisch-anarchistischen Gedankenguts taktischen Erwägungen, aber auch der Einsicht in die religiöse Pluralität des 146 Stenographische Berichte, 1878, S.48 (Rede Bebeis vom 16.9.1878). Zum taktisch begründeten »Shift in the 1880's from Militant Atheism to Moderation«, den Bebel gemeinsam mit der Partei vollzogen habe, s. auch Lidtke, Bebel, S.250-58 (Zitat S.255). 147 Duisburger Freie Zeitung 1.8.1876 Nr.14 S.l (aus dem Leitartikel »Nochmals Sozialdemokratie und Sozialismus«; gegen den ultramontanen Vorwurf der beabsichtigten Religionsbeseitigung). Betonung von »Religion als Privatsache« gegen einen innerparteilichen antireligiösen Radikalismus und gegen den Vorwurf der Religionsfeindschaft: Volksstaat 13.2.1876 Nr.18 S.l (Hinweis Wilhelm Hasselmanns im Reichstag aufdie »Religion als Privatsache«-Formel angesichts der Angriffe auf den sozialdemokratischen Atheismus; zwei Jahre später unterstützte Hasselmann allerdings Mosts Austrittskampagne); Wahrheit 12.2.1878 Nr.36 S.l; Chemnitzer Freie Presse 22.2.1878 Nr.45 S.l (Leitartikel »Die Religion ist Privatsache«; der Verfasser wehrt sich gegen innerparteiliche Vorwürfe, denen zufolge die Kirchen au strittskampagne gegen den »Religion als Privatsache«-Grundsatz verstoße); K, S.549, 558f; Jahrbuch 1879, S.92 (gegen den antireligiösen »intoleranten und fanatischen Materialismus«, der gegen den Programmgrundsatz verstoße); Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2 (bei der Landagitation sei die Verbreitung der »Religion als Privatsache«-Formel und nicht atheistischer Radikalismus vonnöten); Sozialdemokrat 28.1.1886 Nr.5 S. 1 (Leitartikel »Unser Programm und die Frage der Religion«: Nur dem »bürgerlich gesinnten Atheisten« reiche die Erklärung der Religion zur Privatsache nicht aus, da er nichts vom Verschwinden der Religion nach dem Umsturz der ökonomischen Verhältnisse wisse); ebd. 9.11.1889 Nr.45 S.l (das Dogma, daß jeder Sozialdemokrat Atheist sein müsse, bringe die Partei »auf das Niveau einer antikirchlichen Sekte«); Berliner Volksblatt 30.9.1890 Nr.227 S.3.

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parteinahen Milieus und der neu zu gewinnenden Wählerschichten geschuldet - w a r der radikalen antireligiösen Option in der Sozialdemokratie vor 1890 die Spitze gebrochen. Doch Jochen-Christoph Kaisers Fazit »In der Partei gab es über den Religionsparagraphen hinaus keinen Konsens in religiösen Fragen, obwohl die überwiegend gleichgültige Einstellung der Mitgliedschaft nicht verkannt werden soll Eine solche, letztlich desinteressierte Grundhaltung plötzlich in ein aktives Eintreten für Kirchenaustritt oder einen neuen ›Kulturkampf‹ zu verwandeln, gelang den Radikalen nicht, weil ihr religionskritisches Konzept noch nicht von der marxistischen Theorie her legitimiert wurde und deshalb einen festen Platz im Rahmen der politischen Zielvorstellungen der Partei nicht rechtfertigen konnte.«148 - kann kaum zugestimmt werden. Die Rezeption »marxistischer Theorie« bruchstückhaft eher im Sinne einzelner Argumentationsmuster denn als geschlossenes Theoriegebäude, zudem keinewegs immer trennscharf abzugrenzen gegenüber nichtmarxistischen, »bürgerlichen« Argumentationsmustern löste kaum die religiöse Frage für die Arbeiterpartei. Und doch harrte diese Frage weiterhin einer Antwort, wie der intensive Religionsdiskurs der Sozialdemokratie belegt. »Letztlich desinteressiert« an einer solchen Antwort war eher eine Minderheit als eine Mehrheit der Parteigenossen und -Sympathisanten.

2.3 Sozialismus als Anwort a u f die religiöse Frage

2.3.1 Sozialismus als Religion

Diefrühsozialistische Tradition Das soziokulturelle Milieu der frühen deutschen Sozialdemokratie beantwortete die religiöse Frage keineswegs mehrheitlich radikal religionsfeindlich. Ebenso stellten vollständig neutrale oder desinteressierte Haltungen zur religiösen Frage eine eindeutig minoritäre Position dar. Ein Zugehörigkeitsgefuhl zum parteinahen Milieu, ja, selbst ein idealtypisch ausgebildetes Klassenbewusstsein einerseits und Religiosität im weiteren Sinne andererseits schlossen sich für gewichtige Anteile dieses Milieus nicht aus, so unterschiedlich die Diskursvarianten in diesem Spektrum auch waren. Neben einer zumindest in 148 Kaiser, Sozialdemokratie, S.277. Ebenso fuhrt es in die Irre, die Religionsfcindschaft der 1870er Jahre auf Marx »Lehre« zurückzuführen, wie dies Eder, S.37 unternimmt. Zum Missfolg des militanten Atheismus treffender (taktische Rücksichtnahme der Führungsschicht) Lidtke, Bcbel, S.255.

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der Frühzeit bis 1890 nicht selten noch fortbestehenden traditionellen Kirchlichkeit - eine oft unterschätzte, weil im sozialdemokratischen Diskurs zumeist nur indirekt repräsentierte Loyalität - verstanden sich auch viele freireligiöse und zumindest einige freidenkerische Sozialdemokraten noch als religiöse Menschen. Diskursanalytisch weisen diese Mentalitäten und Denkweisen wie die mit ihnen verbundenen kulturellen Praktiken Überschneidungen mit einem weiteren Modell auf, welches dennoch ein Eigenrecht beanspruchen kann und u.a. durch die deutlichen Parallelen zur frühsozialistischen Tradition zu charakterisieren ist. Den Frühsozialismus insbesondere französischer und deutscher Provenienz kennzeichnete die Begründung von Postulaten und Visionen sozialer Gerechtigkeit durch eine christlich-religiöse Semantik, eine Begründungsschema, das weder im kirchlichen Traditionalismus noch bei den von der Religionskritik des Rationalismus herkommenden Freireligiösen und Freidenkern in gleicher Weise im Mittelpunkt stand. Französischer und deutscher Frühsozialismus waren zwar auch durch die religionskritische Schule gegangen, wurzelten jedoch ebenso in jenen heterodoxen Bewegungen der Christentumsgeschichte, die sich wie die Täuferbewegung des 16. Jahrhunderts die Verwirklichung des »wahren«, ursprünglichen Christentums durch die Errichtung des den Gegensatz von Armut und Reichtum aufhebenden »Gottesreiches auf Erden« auf die Fahnen geschrieben hatten.149 Doch erst »die Zeit zwischen 1789 und 1848 [...] sah die Geburt, das Wachstum und die Selbstbehauptung eines Phänomens, das als ideelle Strömung, Denkweise, Ideologie, Zukunftsentwurf und politisches Programm den Namen Sozialismus angenommen hat.« Der hier angesprochene Frühsozialismus blieb nicht theoretisch: Seine Gesellschaftskritik und seine alternativen Gesellschaftsentwürfe bestimmten die kulturelle Praxis in »Bünden« und Vereinen sowie bei sozialen Protesten. Die frühsozialistischen Gemeinschaften bildeten eine eigene Kultur von Gedichten und Liedern, eine eigene Sprache und spezifische Symbole aus.150 Diese Bewegung verband sich in Frankreich insbesondere mit den Namen Frangois Babeuf (1760-1797), Claude-Henri de Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837), Etienne Cabet (1788-1856), Louis-Auguste Blanqui (1805-1881), Pierre Joseph Proudhon (1809-1865) und Louis Blanc (1811-1882), in England mit William Godwin 149 Hinweis auf die frühsozialistischen Vorläufer im heterodoxen Christentum auch bei Hölscher, Weltgericht, S.163f; vgl. insgesamt zum religiösen Frühsozialismus und seinem Einfluss auf die frühe deutsche Sozialdemokratie ebd., S. 163-68. Auch der deutsche Frühsozialist Wilhelm Weitling bezog sich auf das Münsteraner Täuferreich von 1534/35; er pflegte sogar Kontakte zu noch bestehenden waldensisch-wiedertäuferischen Sekten: s. Hundt, Diebstahlstheorie, S.169. Dem marxistisch orientierten Historiker gilt gerade dieser Kontakt als ein Beleg für Weitlings »Verranntheit« (ebd.). 150 Bravo, S.507 (Zitat) und 533f (frühsozialistische »Praxis«); in diesem Forschungsbericht auch zahlreiche weiterfuhrende Literaturhinweise.

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(1756-1836) und Robert Owen (1771-1858), in Deutschland mit Moses Hess (1812-1875), Karl Schapper (1812-1870) und vor allem Wilhelm Weitling (1808-1871). Die bei diesen Autoren im Mittelpunkt stehende »ideologische Erfassung und Durchdringung einer neuen industriellen Wirklichkeit«151 ließ am Rande auch Raum für antiklerikale und scharf religionskritische Positionen (besonders deutlich bei Proudhon). Andererseits aber griffen französische und deutsche Frühsozialisten in ihren gesellschaftlichen Zukunftsmodellen oft auf biblisch-christliche Vorstellungen zurück. Das kommunistische Ideal des frühen französischen Sozialismus - hier sind neben der saint-simonistischen Schule auch Pierre Buchez (1796-1865) und Constantin Pecqueur (18011887) zu erwähnen - verwies auf die urchristliche Gütergemeinschaft, wie sie in der neutestamentlichen Apostelgeschichte aufleuchtete.152 Die zentralen Begriffe, Gerechtigkeitspostulat und Brüderlichkeitspathos, fußten explizit auf den Grundbegriffen biblisch-christlicher Ethik. Gesellschaftstheorie und Utopie erschienen bei Saint-Simon und Fourier als religiöses Lehrsystem. Durch die Verbindung von christlicher und republikanischer Brüderlichkeitsidee, wie sie in den 1840er Jahren u.a. die Assoziationsideen von Étienne Cabets »Reise nach Ikarien« und Louis Blancs »Organisation der Arbeit« prägten, ließen sich Handwerker und Bauern für einen demokratischen Sozialismus gewinnen.153 Die urchristliche Gütergemeinschaft galt auch vielen jener deutschen Handwerksgesellen und Flüchtlinge, die sich in den 1830er und 1840er Jahren als radikaldemokratische Opposition in den »Auslandsvereinen« von London, Paris und der Schweiz, im »Bund der Geächteten« und im »Bund der Gerechten« zusammenfanden, als das Gesellschaftsmodell, das ihren politisch-sozialen Erwartungen am meisten entsprach. Egalitäre Forderungen wurden gleichermaßen schöpfungstheologisch wie naturrechtlich begründet. »Die christliche Religion war für sie, auch wenn sie ihnen in ihrem spezifischen Sinn nichts mehr bedeutete, die Erlebnisgrundlage und der Bewusstseinshorizont, innerhalb dessen sie überhaupt nur oder wenigstens am ehesten die demokratische Doktrin rezipieren konnten.«154 Vom französischen Frühsozialismus war diese frühe deutsche Arbeiterbewegung stark über die »Worte eines Gläubigen« (deutsche Ausgabe 1834) von Félicité de Lammenais (1782-1854) beeinflusst, die sich in ihrem Anspruch der Gesellschaftsumgestaltung durch eine Art 151 Ebd.,S.507. 152 Vgl. hierzu auch Leutzsch, S.78f. 153 Zur religiösen Prägung des französischen Frühsozialismus vgl. Bieter (zum christlichen Sozialismus von Philippe Buchez und seiner Schule); Reitz, S.31—41; Bravo, S.547; Weber, Sozialismus, S.105-33. 154 Schieder, Anfänge, S.221 (für das Jahrzehnt 1830-1840 nach wie vor die gründlichste U n tersuchung im Blick auf die Berücksichtigung der religiösen Problematik). Vgl. zusammenfassend zum Verhältnis von deutschem Frühsozialismus und religiöser Frage Bravo, S.572-80.

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Theokratie wenig von den Schriften der Saint-Simonisten unterschieden.155 Daß der Sozialismus, der den demokratischen Radikalismus der deutschen Handwerker, Arbeiter und Intellektuellen ablöste, sich als religiöser Sozialismus konstituierte, ist dann jedoch entscheidend auf den Schneidergesellen Wilhelm Weitling, das Haupt der Bewegung zu Beginn der 1840er Jahre, zurückzuführen. Seine sozialistische, am Ideal der Gütergemeinschaft orientierte Gesellschaftsutopie begründete Weitling in der Schrift »Die Menschheit, wie sie ist und wie sie sein sollte« (1838/39), aber auch noch in seinem »Evangelium eines armen Sünders« (1843) überwiegend christlich-religiös. Das letztgenannte Werk bot in den Hauptteilen eine Auslegungsreihe von Bibelversen und endete mit dem Bekenntnis zum biblischen Evangelium »der Freiheit, Gleichheit und Gemeinschaft, des Wissens, der Hoffnung und der Liebe«.156 Kritik am staatstragenden, repressiven Kirchentum der Gegenwart und die Vision einer gerechten Gesellschaft aus dem Geist der neu interpretierten christlichen Religion schlossen sich bei den Frühsozialisten nicht aus, sondern bedingten sogar einander. Weitling und seine Schule wurden allerdings in den Organisationen der sich im Ausland formierenden deutschen Arbeiterbewegung unter dem Einfluss von Marx und Engels ab 1844 zunehmend verdrängt. Im »Bund der Kommunisten« von 1847 spielte ein religiös begründeter Sozialismus keine Rolle mehr; und das »Kommunistische Manifest« rechnete 1848 mit dem »Ikarien« der frühsozialistischen Utopien als den »Duodez-Ausgaben des neuen Jerusalem« ab.157 Über die Beurteilung der religiösen Prägung frühsozialistischer Entwürfe besteht ein deutlicher Forschungsdissens; das gilt insbesondere für die Bewertung Wilhelm Weitlings. Die marxistisch orientierte Geschichtswissenschaft, aber keineswegs nur sie, geht von einem vorwiegend instrumentellen Charakter der christlichen bzw. allgemein-religiösen Rhetorik im Frühsozialismus aus. Entweder wird hier auf Marx' Konzept der »religiösen Maske« zurückgegriffen, derer sich die frühsozialistischen Autoren bewusst bedienten, um »weltanschaulich zurückgebliebene« Handwerker und Arbeiter zu gewinnen, oder die Verwendung einer religiösen Diktion wird dem begrenzten Ausdrucksreservoir eines noch immer christlich-religiös dominierten kulturellen Diskursfeldes 155 Vgl. die späte Würdigung Lammenais' in Berliner Votks-Tribüne 3.3.1888 Beiblatt zu Nr.9 S.lf.. 156 Weitling, S.140. Zur Analyse der religiösen Problematik bei Weitling ausführlich Barnikol (u.a. mit der problematischen These eines »Messias-Wahns« Weitlings, ebd., S.129-34); Schieder, Anfänge, S.263-80 (ebd. S.280-300 wird darüber hinaus auf den religiösen Sozialismus der Weitling-Schüler eingegangen); Moritz (mit Übersicht zur Forschung S. 105-69). 157 Marx/Engeh, S.22. Für die sich abzeichnende Abkehr vom religiösen Sozialismus schon im »Bund der Gerechten« fuhrt Grandjone, S.91-96 folgende Gründe an: »1. die Entwurzelung durch die Emigration; 2. den alten Antiklerikalismus; 3. die Kritik an Weitlings System und Messianismus und 4. als ausschlaggebend den ungeheuren Einfluß Feuerbachs ab 1842 [...].« (ebd., S.92). Vgl. Reitz, S.100-11; Horváth, S.231-38.

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zugeschrieben: Den Frühsozialisten stand in ihrer Zeit eben nur die christlichreligiöse Begrifflichkeit zur Verfügung.158 Diesen Bewertungen liegen jedoch Vorannaihmen zugrunde, die entweder die Möglichkeit eines religös begründeten Sozialismus prinzipiell ausschließen möchten - »Der Rückgriff auf die religiöse Formförderteinen unkritischen Gefühlskommunismus, der die wissenschaftliche Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse als nebensächlich erachtet.«159 - und/oder auf einem Säkularisierungsbegriff aufliegen, der Religion und Moderne (zu der auch Sozialismus und Arbeiterbewegung zählen) als sich ausschließend versteht. Unter der Forschungsperspektive »Religion in der Moderne«, die auch die Möglichkeit einer »Modernisierung von Religion« in Betracht zieht, scheint es jedoch sinnvoller, dem religiösen »Eigen-Sinn«160 frühsozialistischer Theoriebildung und kultureller Praxis stärkeres Gewicht beizumessen. Ob die Gesellschaftsutopien der Frühsozialisten eher als eine das traditionelle Christentum erneuernde oder als Bestandteile einer völlig neuen Religiosität bewertet werden, dürfte allerdings stark vom theologischen Standort des Betrachters abhängen.161 Die Frage nach der Rezeption der frühsozialistischen Tradition von Cabet bis Weitling in der organisierten deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1863 und 1890 lässt sich ebenso schwer beantworten wie die Frage nach der Marx-Rezeption in der frühen Sozialdemokratie, und die vorliegende Studie versteht sich auch nicht als Rezeptionsgeschichte im engeren Sinn. In jedem Fall wäre es aber übereilt, aus der Verdrängung Weitlings und der Weitlingianer aus dem Diskussionszusammenhang des »Bundes der Kommunisten« auf einen radikalen Traditionsbruch im Jahre 1848 zu schließen.162 Tatsächlich gab es zwar kei158 »Zweifellos ist ein wesentlicher Grund für den Rückgriff auf das Urchristentum und die Bibel die Unreife seiner [Weitlings] Klasse.«: So urteilt z.B. Seidel-Höppner, Theoretiker, S.133 über Weitling. Einen instrumenteilen Charakter der religiösen Prägung des deutschen Handwerkerkommunismus und Frühsozialismus betont aber auch die auf die religiöse Problematik intensiv eingehende Studie von Schieder, Anfange, vgl. hierzu bereits das o.g. Zitat. Schieder geht zudem von einer Entwicklung Weitlings aus, dem es 1841 noch um eine »Kommunisierung des Christentums« (ebd., S.279) gegangen sei, der aber nach einer Glaubenskrise 1843 im »Evangelium eines armen Sünders« religiöse Sprache und religiöses Gefühl nur noch »als propagandistisches Mittel« (ebd., S.278) eingesetzt habe, ohne selbst noch daran zu glauben, daß er das wahre Evangelium verkünde. 159 So Waltraud Seidel-Höppner in ihrem Nachwort zu einer Weitling-Neuausgabe von 1967, zitiert in Hundt, Geschichte, S.159. Auch für Hundt ist daher Weitlings »Evangelium des armen Sünders« »Ausdruckeines fatalen Irrwegs« (ebd.). Vgl. Dagegen Seidel-Höppners wesentlich differenzierteres und anerkennenderes Urteil über Weitlings »Evangelium« von 1989: Seidel-Höppner, Leben, S.51f.. 160 Vgl. Lüdtke, Synchrony, S.63f., 66. 161 Zu einem differenzierten Urteil kommt Moritz, S.304: »Weitlings Umgang mit der christlichen Botschaft ist weder primär naiv (gläubig), noch primär raffiniert (taktisch): Die Überzeugung vom engen Zusammenhang von Jesu Lehre und Weitlings Kommunismus einerseits und, andererseits das propagandistische Interesse daran, diesen Zusammenhang her- und herauszustellen, sind gleichrangige und zusammengehörige Motive für seinen Religionsbezug.« 162 Zu dieser Annahme Ramm, S.VIII. Auch noch Bravo, S.510 u.ö. wertet den Frühsozialismus als prämarxistischen Sozialismus, dem allenfalls eine Vorläuferfunktion zukomme.

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ne geraden, wohl aber verschlungene frühsozialistische Traditionsbildungen in und nach der gescheiterten Revolution. So war z.B. ein radikaler Flügel der freireligiösen Reformer von 1848 frühsozialistisch gestimmt: Der »lichtfreundliche« Bremer Pfarrer Rudolf Dulon (1807-1870) verkündete den »Socialismus« als »[...] das Evangelium, welches den Reichen wie den Armen, den Hohen wie den Niederen das Heil verkündet.« Auch Christian Gottfried Nees von Esenbeck (1776-1858), Präsident des Berliner Kongresses der »Arbeiter-Verbrüderung« als erster organisierter deutscher Arbeiterbewegung und zugleich Haupt des Breslauer Deutschkatholizismus, wusste sich dem »Ideal des Reiches Gottes auf Erden« verpflichtet.163 Dieser »freireligiöse Frühsozialismus« hinterließ Spuren in der frühen Arbeiterbewegung: 1868 etwa nahm der zu diesem Zeitpunkt noch freireligiös gestimmte sozialdemokratische Arzt Carl Boruttau Kontakt zu dem in die USA emigrierten Wilhelm Weitling auf, um eine Gesamtausgabe von dessen Schriften zu initiieren.164 Bis zur Vereinigung von Lassallescher und Bebel-Liebknechtscher Arbeiterpartei im Jahre 1875 dokumentierte zudem vornehmlich die ADAV-Presse frühsozialistische Texte, darunter eine Abrechnung Louis Blancs mit Martin Luther und ein »Sendschreiben« aus der saint-simonistischen Schule von 1830, welches den Vorwurf sexueller Libertinage in den saint-simonistischen Gemeinden zurückwies.165 Aufnahme fanden aber auch »Die neue Sittenverbesserung durch die Gütergemeinschaft« und »Die Reise nach Ikarien« vonÉtienneCabet sowie das »Socialistische Bekenntniß in Fragen und Antworten« von Moses Hess, frühsozialistische Traktate, welche die neue sozialistische Lehre auch religiös zu begründen suchten.166 Allerdings gab es bereits vor 1875 in der sozialdemokratischen Publizistik auch eindeutige Distanzierungen von einem solchen »religiösen Sozialismus«. So meinte die Redaktion der »Social-politischen Blätter« 1874 in den Abdruck 163 Zitat aus Dulons Schrift »Der Tag ist angebrochen!« (1852), nach Ustorf, S.127. Dulon konnte seine revolutionär-sozialistische Theologie in Bremen noch bis zu seiner Amtssuspendierung 1852 weitertreiben. Zur Beeinflussung Dulons durch den französischen Frühsozialismus ebd., S.52. Zitat aus Nees von Esenbecks Schrift »Die Wahrheit des positiven Christenthums im Christkatholizismus« (1848): Höpfner, S.61. In Anlehnung an das Konzept der »religiöse(n) Verhüllung« (ebd., S.57) bzw. der »religiösen Maske« urteilt Höpfner allerdings, Nees sei nicht »religiöser Sozialist«, sondern »früher Kommunist« gewesen: ebd., S.99. Auch Nees war offensichtlich vom französischen Frühsozialismus beeinflusst: vgl. ebd., S.57, 98. Zur Kontextualisierung von Dulon und Nees s. auch Prüfer, Vormärz. 164 Hierzu Prüfer, Boruttau, S.334 165 Social-Demokrat 12.1.1868 Nr.6 S.2f. (»Ein Dokument der St.Simonisten«); Neuer SocialDemokrat 9.-19.8.187 4 Nr.91-95 S.3f. (Louis Blanc über Martin Luther). Vgl. auch Grote, Religion. S.210-12. 166 Neuer Social-Demokrat 7.3.1873 Nr.28 S.2 (aus Cabets »Neuer Sittenverbesserung«); SocialPolitische Blätter 10.10.1874 Nr.10 S.263-66 und 26.12.1874 Nr.12 S.351-56 (aus Cabets »Reise nach Ikarien«); Hamburg-Altonaer Volksblatt 14.10.1875 Nr.6 S.3 (Zitat aus dem »Socialistischen Bekenntniß« von Hess, Abschnitt »VI. Von der Religion«).

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der »Reise nach Ikarien« eine kritische Aufklärung über »Cabets philosophische Ansichten« einschalten zu müssen, die sich vom Festhalten des Franzosen an einer Religion abgrenzte.167 1875 attackierte eine längere Fourier-Darstellung von Bernhard Becker denselben als »Religionsstifter« und »Mystiker«, und Johann Most erschien ein Jahr später der religiöse Sozialismus Saint-Simons »jetzt, wo die alten [...] Religionssysteme mehr und mehr im Absterben begriffen sind [...]«, nurmehr als eine »Absurdität«.168 Mit einem anonymen Aufsatz in der »Zukunft« als Sprachrohr eines ethischen Sozialismus wurde der Tonfall 1877/78 gemäßigter. Der religiöse Überbau der Frühsozialisten trat in den folgenden Darstellungen zurück. Im Aufsatz der »Zukunft« ebenso wie in der sozialdemokratischen Weitling-Biographie Emil Kalers (1887) und in der Beschreibung von Leben und Werk Charles Fouriers durch August Bebel (1888) wurden die frühen Sozialisten wohlwollend gewürdigt. Daß Weitling einem »unbestimmten(n), trockene(n) Deismus«169 verpflichtet gewesen sei bzw. sich vom Gottglauben »nicht ganz losgemacht«170 habe, galt eher am Rande als erwähnenswert. Für Bebel war Fourier »[...] der letzte der Utopisten, dessen System sich auf die religiösen Lehren der herrschenden Kirche zu stützen versuchte, sie wenigstens als Anhängsel benutzte.«171 Diese Abgesänge auf den Frühsozialismus als religiösen Sozialismus könnten auf einen Traditionsbruch gegenüber dem als »überwunden« empfundenen Standpunkt schließen lassen. Die religiösen Systeme der Saint-Simonisten und die Bibelexegesen Wilhelm Weitlings boten der modernen Arbeiterbewegung tatsächlich wenig Anknüpfungspunkte. In einer indirekten Traditionsfortschreibung aber ging das »religiöse Erbe« der Frühsozialisten keineswegs vollständig verloren. Ebenso wie die marxistische Religionskritik speiste sich auch der religiöse Frühsozialismus auf der Ebene von Motiven in den Diskurs der frühen deutschen Sozialdemokratie ein.

167 Social-Politische Blätter 10.10.1874 Nr.10 S.269f. 168 Becker, Fourier, S.60,65; Most, Lösung, S.14. Zudem brachte »Der arme Conrad. Illustrirter Kalender für das arbeitende Volk« im selben Jahr auch Auszüge aus Reden und Schriften des englischen Früh Sozialisten Robert Owen, in denen dieser gegen das Versagen von 1800 Jahren Christentum polemisierte: Armer Conrad 1876, S.47. 169 Kaier, S.88. Vgl. ebd., S.89: »[...] freilich ist der Gesammtversuch, das Christenthum mit dem Kommunismus zu identifiziren, ein verfehlter.«, da das Urchristentum nur einen Kommunismus der Konsumtion, nicht der Produktion kenne. Zum Stellenwert der Religion bei Weitling bemerkte auch Kaier schon, daß man bei dem Frühsozialisten kaum wisse, »[...], was bei ihm aufrichtige Ueberzeugung, was nur auf agitatorische Zwecke und Spekulation auf religiöse Gemüter zurückzuführen ist.« (ebd., S-87). 170 N.N., S.594. 171 Bebel Fourier. S.236.

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Sozialbmus ah »wahres Christentum« Wie bereits dargestellt, war die »Erinnerung an die Gütergemeinschaft«, wie sie annahmeweise in den ersten christlichen Gemeinschaften bestanden hatte, in der frühen deutschen Sozialdemokratie tief verwurzelt.172 Diese Erinnerung verdankte sich primär wohl nicht der Kenntnis frühsozialistischer Schriften. Die urchristliche »Liebesgemeinschaft«, die nicht arm noch reich kannte, zählte vielmehr zum allgemeinen biblischen Lehrstoff, der besonders durch den schulischen Religionsunterricht zum Bildungsgut aller gesellschaftlichen Schichten gehörte. Die explizite Deutung der urchristlichen Liebesgemeinschaft als erste Realisierung des kommunistischen Ideals in der Geschichte und damit der ersten Christen als »leuchtende Vorbilder«173 der modernen Arbeiterbewegung hingegen bewegte sich schon eher in der Denktradition des frühen französischen und deutschen Sozialismus. Trotz oder gerade wegen der innerparteilichen Versuche einer »Gegendeutung« des Urchristentums, wie sie von der Parteilinken, am profiliertesten von Karl Kautsky unternommen wurde, entsteht der Eindruck, daß in weiten Teilen des sozialdemokratischen Milieus mit Hartnäckigkeit auch noch in den 1880er Jahren an der Vorstellung von einer »protosozialdemokratischen« Gütergemeinschaft der ersten Christen festgehalten wurde. Recht vergeblich erschien so Kautskys Abgrenzung vom urchristlichen Bettelkommunismus, der mit dem modernen Kommunismus der Produktionsmittelvergesellschaftung nicht zu vergleichen sei. Ebenso verhallte der kirchliche Einspruch gegen die Inanspruchnahme der Bibel für die kommunistische Utopie. Es blieb auch nicht beim Postulat der welthistorischen Parallele von erstem Christentum und moderner Arbeiterbewegung, ein Postulat, welches durch den Traditionsbeweis die kollektive Identität des Milieus stärken konnte.174 Viele Sozialdemokraten erhoben darüber hinaus den Anspruch, die Gütergemeinschaft als vermeintliches Kernstück, als »hauptsächlichste(n) Inhalt«175 christlicher Lehre erstmals in der Geschichte wahrhaftig zu realisieren, woran die Kirchen selbst aufgrund ihrer herrschaftspolitischen Verstrickungen bisher gescheitert seien. Kann dieser Verwirklichungsanspruch bereits als »religiös« qualifiziert werden? Diese Frage gewinnt noch klarere Konturen, wenn der 172 »Erinnerung an die Gütergemeinschaft«: s. den Titel von Leutzsch. 173 Neuer Social-Demokrat 20.9.1874 Nr. 109 S. 1. 174 »Und wie einst trotz Verfolgung, Kerker und Tod die weltbeglückenden Ideen des ursprünglichen Christenthums über die Erde sich siegreich verbreiteten, so sei es heute die Sozialdemokratie, die unter dem Wahlspruche: ›Gleiches Recht für alles die leidende Menschheit nicht nur Deutschlands, sondern aller Nationen zum Kampfe für der Menschheit heilige Rechte zusammen schaaren und zum Siege fuhren werde.« Volksstaat 25.6.1875 Nr.71 S.4 (aus der Zusammenfassung der Rede Julius Mottelers bei einem Arbeiterfest in Zwickau 1875). Sehr ähnlich Albert Dulk in einer Rede zur Feier der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien: ebd. 13.10.1875 Nr.l 18 S.3. 175 Neuer Social-Demokrat 7.5.1873 Nr.53 S.2.

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Diskurstopos vom »Sozialismus als verwirklichtem Christentum« in den Blick genommen wird, der im soziokulturellen Milieu der frühen Sozialdemokratie weit verbreitet war. »Wir folgerechten Sozialdemokraten sind in der T h a t heutzutage die einzigen echten C h r i s t e n , w e l c h e noch übrig sind. W e n n w i r u n s nicht so n e n n e n , so ist es nur, w e i l w i r klarer u n d zeitgemäßer d e n k e n , als J e s u s konnte, da die Welt in zweitausend J a h r e n viel N e u e s gelernt hat.« 176

Auch die häufige Erhebung der »Nächstenliebe« zum Schlüsselbegriff sittlichen Wollens in der Sozialdemokratie kann kaum nur als unbewusste oder unvermeidliche Fortschreibung überlieferter kultureller Praxis angesehen werden; der Begriff erscheint vielmehr bewusst in Kenntnis der unweigerlichen christlichen Konnotierung gewählt worden zu sein. So hieß es in Karl Weisers »Sozialdemokratischem Bundeslied«: »Die rothe Republik, die rothe, Das Ideal der S y m p a t h i e , Die n u r d e m einzigen Gebote Der Nächstenliebe beugt das Knie, Der Nächstenliebe beugt das Knie!« 1

Die Träger der dominanten gesellschaftlichen Kultur der Gegenwart sollten hingegen als Heuchler, einem gegenüber dem ursprünglichen Evangelium der Freiheit und Brüderlichkeit verfälschten Christentum verpflichtet, entlarvt werden. Der Monopolanspruch auf das authentische, »wahre Christentum« ermöglichte nicht nur prinzipiell eine klare, die Entwicklung einer kollektiven Identität fördernde Abgrenzung gegenüber den konkurrierenden Milieus. Das 176 Volksstaat-Erzähler 12.12.1875 Nr.48 S.4. Der Topos vom »Sozialismus als verwirklichtes Christentum« ebenso deutlich in Volksstaat 19.9.1873 Nr.87 S.3 (Korrespondenzbericht von einem Agitationsvortrag August Otto-Walsters, der erklärte» »[...] der Sozialismus enthalte in sich das wahre Christenthum.«); Duisburger Freie Zeitung 21.12.1876 Nr.75 S.l (Leitartikel »Gehe hin und hungere!«, der in einer Auslegung des biblischen Gleichnisses vom barmherzigen Samariter gipfelte: »[...] dann wollen wir der Samariter des Gleichnisses sein. Besser: die Priester und Leviten verdammen uns als ›unheilig‹, als daß wir den Kernpunkt der Lehre Jesus vergessen und aufhören, brüderliche Gemeinschaft an Stelle der Ausbeutung zu fördern [...].«); Wähler 5.4.1890 Nr.43 S.l (Attacke gegen einen vogtländischen evangelischen Pastor und seine antisozialistischen Reden: Der Pfarrer greife »[...] die stärkste Partei Deutschlands an, gerade die Partei, welche die vom Christentum gepredigte Gleichheit und Brüderschaft der Menschen zu verwirklichen bemüht ist [...]«); Beniner Volksblatt 29.5.1890 (Gegenüberstellung hier der Pastorenschaft mit ihren Bemühungen um kirchliche Resüuration und dort jener »Schwachen und Unterdrückten« in den Arbeitervereinigungen, die doch »[,..] sich selbst unbewußt täglich, ja stündlich thun, was Jesus in der Bergpredigt verlangt 177 Sizialdetnokratisches Liederbuch, S.5. »Nächstenliebe« als (christlich konnotiertes) höchstes Ideal auch in Neuer Social-Demokrat 24.12.1871 Nr.76 S.3; Volksstaat 6.8.1875 Nr.89 S.lf. (Festrede Albert Dulks in Stuttgart zum ersten Stiftungsfest der SAP); Crimmitschauer Bürger- und Bauerfreund 26.11.1876 Beilage zu Nr.275 S.l; Neue Welt 2/1886, S.45 (Gedicht »Es werde Licht!« von Hans Arnold).

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»wahre Christentum« - deutlich in Parallele zum Begriffdes »wahren Sozialismus«178 - wurde auch direkt in der tagespolitischen Auseinandersetzung gegenüber dem Anspruch des christlich-sozialen Konservatismus verteidigt, der seinerseits versicherte, er allein bringe ein solches wahres Christentum zur Geltung. Denn auf einen sozialreformerischen, ja, »social-revolutionäre(n) Geist des Christenthums« beriefen sich nicht nur viele Sozialdemokraten, sondern ebenso und ganz wesentlich auch Sozialkatholizismus und Sozialprotestantismus.179 Auf den sozialdemokratischen Anspruch, das Christentum zu verwirklichen, reagierte die kirchlich-konservative Agitation allerdings heftig, indem sie auf den vermeintlich atheistischen und religionsfeindlichen Charakter der Bewegung hinwies. Am 2. Januar 1876 veranstaltete die Erfurter Sozialdemokratie eine Volksversammlung zum Thema »Die wahren Bestrebungen des Jesus von Nazareth und die Träger des jetzigen Christenthums«. Der Redner, Parteigenosse Klute, »kritisirte« in seinem Vortrag zwar die »Gottesidee«, betonte aber auch, daß »nur« der Sozialismus den »Anspruch von Jesus« heute »zur Geltung [...] bringen« könne. Daraufhin stand ein Diakon Scheibe auf und entgegnete, Jesus habe nicht an irdische, sondern an himmlische Gleichheit gedacht, und die Arbeiter sollten zu Gott beten und fleißig sparen.180 Doch auch bei der 178 »Wahrer Sozialismus« diente Marx und Engels seit den 1840er Jahren als Spottname fiir jenen ethisch-philosophischen Sozialismus, wie er etwa durch Moses Hess vertreten wurde. Gelegentlich wurde der Begriff aber auch als Selbstbezeichnung von der angesprochenen Gruppe benutzt. Er hielt sich über die 1848er Revolution hinaus, wurde aber zunehmend auch von Vertretern eines konservativen »christlichen Sozialismus« wie Johann Hinrich Wichern reklamiert. Vgl. zum »wahren« bzw. »philosophischen Sozialismus« am Beispiel von Moses Hess Silberner, S.227-35. 179 Zitat: Social-Politische Blätter 1.1.1873 Nr.1 S.5. Vgl. Volksstaat 6.10.1876 Nr.3 S.3 (der »vorsichtige(n), aber immerhin doch revolutionäre(n) Christenhciland«). Sozialdemokraten als Verteidiger des »wahren Christentums«: Social-Demokrat 3.2.1869 Nr. 15 S.4 (Zuschrift eines schlesischen Arbeiters »Ueber wahres Christenthum«); Neuer Social-Demokrat 14.7.1872 Nr.80 S.l; Volksstaat 18.1.1873 Nr.6 S.2 (in einer Volksversammlung zu den indirekten Steuern kam der referierende Sozialdemokrat Julius Scheil auch auf die religiöse Frage zu sprechen; polemisierte gegen die Kirchen und »[...] vertröstete auf das Christenthum der Zukunft, das echte Christenthum, daß [sie] erst anfangen müsse.«). Gegen den konservativen bzw. katholischen christlichsozialen Anspruch auf das »wahre Christentum«: Neuer Social-Demokrat 10.9.1871 Nr.31 S.2; ebd. 24.12.1871 Nr.76 S.3f. (Zuschrift eines Essener Arbeiters »An die christlich-socialen Brüder!«). Kirchlich-konservativer Standpunkt: Reinwald. Kirchlicher Anspruch auf das wahre Christentum erwähnt auch in Berliner Volks-Tribiine 12.8.1888 Beiblatt zu Nr.19 S.2. Auf ein wahres Christentum beriefen sich selbst die liberalen Kulturkämpfer in Abgrenzung zum (katholisch-)dogmatischen Kirchentum, s. den Hinweis Bebeis in Guyot/Lacroix, S.87. 180 Volksstaat 23.2.1876 Nr.22 S.4. Vgl. zu antisozialistischen Vorwürfen in Martensen, S.41f; Vorwärts 16.2.1877 Nr.20 S.3 (Hinweis auf entsprechende Attacken der »Kreuzzeitung«). Den umfangreichen publizistischen Disput zwischen einem sozialdemokratischen Korrespondenten (»F.R.«) und dem Pfarrer Hager von der evangelischen Mittelpartei (»Friedberger Konferenz«) dokumentierte der »Vorwärts« 1877/78. Hager attackierte den umstürzlerischcn und religionsfeindlichen Sozialismus, »F.R.« erwiderte: »[...] viele Sozialisten sind der Meinung, daß der Sozialismus gerade den ›Geist‹ des Christenthums erst recht verwirkliche [...]«. Vorwärts 19.9.1877 Nr.110 S.3 (Zitat); die Kontroverse von dieser Ausgabe an bis ebd. 13.3.1878 Nr.30 S.4.

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Parteilinken, den »Radikalen« (Vernon Lidtke), wurde energisch jede Form von Gleichung zwischen Sozialismus und Christentum zurückgewiesen. Einen ersten Höhepunkt erlebte diese Polemik in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre, als August Bebel seine Übersetzung und seine Kommentierung von Guyots/ Lacroixs »Wahrer Gestalt des Christentums« lancierte. Die französischen Verfasser hatten selbst schon die Vorstellung eines vorbildhaften »wahren Christentums« attackiert. Bebel verschärfte diese Tendenz, indem er seine Übersetzung der christentumskritischen Schrift (1876 unter dem genannten, vom französischen Original abweichenden, bezeichnenden Titel erschienen) sowie seine ergänzenden »Glossen« (1878) ausdrücklich als Antwort auf den konservativen »christlichen Sozialismus« von Stoecker, aber wohl auch auf die Kräfte in der Arbeiterpartei, die an eine Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus glaubten, verstanden wissen wollte.181 Wilhelm Liebknecht folgte ihm in dieser Abgrenzung: »Jedes Gleichnis hinkt, und das zwischen Sozialismus und Christenthum ist neuerdings so abgehetzt worden, daß es recht sehr hinkt. Das Christenthum war, gleich dem Sozialismus jetzt, ein Protest gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit, war das gährende Lebenselement in Mitten einer verfaulenden Welt. Damit hört aber auch die Aehnlichkeit auf; und wenn man Jesus von Nazareth‹ (von dem wir beiläufig nicht einmal wissen, ob er gelebt hat, blos wissen, daß Alles, was von ihm erzählt wird, falsch sein muß) - wenn man Jesus von Nazareth‹ zum Sozialisten stempeln, den Sozialismus für das ›wahre‹ Christenthum ausgeben will, so zeigt das entweder von großer Unwissenheit, oder es ist eine gemeine Spekulation auf den »Unverstand der Massen‹.« 182

Bebel, Liebknecht und andere dachten bei ihrer Kritik wohl nicht in erster Linie an den nichtfreidenkerischen intellektuellen ethischen Sozialismus z.B. der Zeitschrift »Zukunft«, der zwar aufgrund gemeinsamer sozialethischer Grundpositionen von Sozialdemokratie und Christentum eine Zusammenarbeit in der Zukunft nicht ausschloss, aber das wohl weniger aufgrund eigener religiöser Überzeugungen tat. Der Anspruch auf eine Realisierung des »wahren Christentums« durch die Sozialdemokratie wurde gerade von Parteimitglie181 Bebel, Glossen, S.3. Noch 1886 wies der »Sozialdemokrat« auf einen Restposten der »Wahren Gestalt des Christentums« hin, deren Anschaffung gerade aufgrund der »[...] vielen falschen Auffassungen, welche selbst bei einem großen Theil unserer Genossen über das Christenthum bestehen [...]«, empfohlen wurde: Sozialdemokrat 19.11.1886 Nr.47 S.4. Die Unvereinbarkeit von Christentum und Sozialismus gegenüber gegenläufigen innerparteilichen Tendenzen z.B. auch betont in L.,P., S. 80-83 (in Erwiderung auf den berühmten»K.«-Artikel das Diktum: Ein Christ kann nicht Sozialdemokrat sein). Sogar in sozialdemokratischen Volksversammlungen lieferten sich Parteigenossen heftige Wortgefechte über die Frage, ob der Sozialismus in positiver Tradition zum Christentum stehe: s. den Bericht über eine Stuttgarter Versammlung zu »Sozialismus und Christenthum« in Volksstaat 16.12.1874 Nr.146 S.4. 182 Liebknecht, Trutz, S.48. Die Broschüre wurde seit ihrem ersten Erscheinen 1871 immer wieder aufgelegt und erfreute sich einer großen Verbreitung. Die zitierte Passage ist den »Noten« entnommen, ist also dem Redemanuskript in der Druckfassung hinzugefugt.

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dem, -Wählern und -Sympathisanten an der Basis vehement vertreten; er ging zudem über die Feststellung von Parallelen und Geistesverwandtschaften hinaus. Allerdings ist auch hier die Frage nicht leicht zu beantworten, ob dem Verwirklichungsanspruch - insbesondere bei lokalen Parteiagitatoren - eher taktische Überlegungen zugrundelagen, oder ob dieser Anspruch von religiösen Glaubenshaltungen getragen war. Bei einer Vielzahl von Äußerungen an der Basis kann wohl von letzterem ausgegangen werden. So hatte die Übersetzung und Verbreitung der Schrift »Josua Davidsohn« von E. Lynn Linton, einer moderne Version desjesusstoffes, durch Natalie Liebknecht (1835-1909), der Frau Wilhelm Liebknechts, zwar zunächst den taktischen Zweck, noch im christlichen Glauben Verwurzelte für die sozialistische Sache zu gewinnen: »[...] der beste Roman, welchen wir für diejenigen Bevölkerungskreise haben - und sie sind sehr ausgedehnt - , in denen die christliche Weltanschauung noch nicht erloschen ist.« Die von Linton behauptete Identität von Christentum und Sozialismus wies Wilhelm Liebknecht in seinem Vorwort ausdrücklich ab.183 Doch verweist »Josua Davidsohn« auch darauf, daß es diese christlichen Kreise in der Partei und ihrem Umfeld noch gab, die sich gerade oder überhaupt nur durch eine Synthese von undogmatischem Christentum und Sozialismus für die Partei gewinnen ließen. So erinnerte sich auch der Arbeiter Wilhelm Reimes in seiner Autobiographie daran, daß ihn das »tiefreligiöse Büchlein« Ende der 1880er Jahre in seiner (damals noch gehegten) Überzeugung von der Vereinbarkeit von sozialdemokratischem Bekenntnis und christlichem Glauben bestärkte.184 Dieser Eindruck deckt sich mit zwei Bemerkungen zur Landagitation in der sozialdemokratischen Presse aus dem Jahr 1885: Ein Einsender erklärte den Hinweis auf Jesus und den biblischen Urkommunismus für unerlässlich bei der Parteiagitation auf dem Lande, ein anderer warnte davor, daß dieses taktische Zugeständnis einem christlich begründeten Sozialismus zu starkes Gewicht in der Partei verschaffen könnte.185 Schon bei den französischen Frühsozialisten und bei Wilhelm Weitling kam der Person Jesu als Lehrer und Vermittler der Ideen von Brüderlichkeit und sozialer Gerechtigkeit eine Schlüsselfunktion zu.186 Der frühsozialistische Jesus war inspiriert von wahrhaft göttlichen Ideen, nicht aber Gottessohn der überkommenen kirchlichen Dogmatik. Als einfacher Zimmermann aus Nazareth fühlte er sich den Armen besonders verbunden; Reichtum war ihm ein Hindernis auf dem Weg zur Brüderlichkeit aller Menschen in seiner Religion der Menschenliebe, weshalb er mit seinem Freundes- und Anhängerkreis in 183 Linton, S.IIIf(Zitat), S.VI. 1876 hatte bereits die »Neue Welt« den »Josua Davidsohn« als Fortsetzungsroman veröffentlicht. 184 Wilhelm Reimes, zitiert nach Emmerich, Lebensläufe, S.284. 185 Sozialdemokrat 8.10.1885 Nr.41 S.2: ebd. 26.11.1885 Nr.48 S.lf.. 186 VgL Grote, Religion, S.150; Rolfes, S.59-70; Reitz, S.42 u.ö..

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Gütergemeinschaft lebte, bis er von den um ihre Pfründe bangenden Priestern und Schriftgelehrten - als Vorläufer des christlichen Klerus stilisiert - ans Kreuz geliefert wurde. Ein solches nicht dogmenorientiertes, nazarenisch-irenisches und soziales Jesusbild spielte nicht nur im Frühsozialismus, sondern auch in der wissenschaftlichen und populären Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts umd damit in der bürgerlichen Öffentlichkeit eine zunehmende Rolle, und zwar bis hinein in liberal-kirchliche und kirchendistanzierte Kreise.187 Weniger das fundamentalkritische, die Historizität der Person Jesu anzweifelnde Werik von David Friedrich Strauss, als Ernest Renans populärwissenschaftlich-poetische Lebensstudie prägten in der zweiten Jahrhunderthälfte das Jesusbüd jenes Bürgertums, das sich von den Leitvorstellungen der kirchlichen Orthodoxie bereits getrennt hatte. Die frühsozialistische ebenso wie die stark verwandte frühe sozialdemokratische Vorstellung von Jesus orientierten sich an diesem Bild188, spitzten es jedoch in einer Weise zu, die ihm eine neue Schärfe verlieh. Aus dem friedliebenden Prediger der Brüderlichkeit wurde ein (wenn auch gewaltloser) Sozialrevolutionär. In den deutschen Arbeiterparteien geriet Jesus gar zum »[...] größten und edelsten Socialisten, welchen die Geschichte kennt [...], Proletarier im vollsten Sinne des Wortes [„.].«189 Die Jesusviten dagegen, die der parteinahe Literat Friedrich Mook und der prominente Stuttgarter Sozialdemokrat Albert Dulk verfassten und die quellenkritische Anfragen an die Evangelien populärwissenschaftlich, zum Teil auch polemisch aufgriffen, konnten dieser überwältigenden »Jesustradition der Arbeiterbewegung« kaum ihre religionskritischen Akzente vermitteln.190 187 Zur Leben-Jesu-Forschung immer noch einschlägig Schweitzer, zum 19. Jahrhundert ebd., S. 106-388. In seinen Jugenderinnerungen berichtet Eduard Bernstein, daß selbst in seinem refoimjüdischen Elternhaus Jesus als edler Mensch geehrt und die Bergpredigt geschätzt worden sei: Bernstein, Von 1850, S.87. 188 Besonders die frühen poetischen Formen blieben nicht frei von nazarenischer Süßlichkeit: »Und Jesu offnes Auge war so frei wie sein Gebot, und Jesus trug ein wallend Haar, und seine Wang' war roth. Beim dattelreichen Palmenbaum da lehrt' er sein Gebet, und träumte seiner Liebe Traum am See Genezareth.« Proletarier 1.5.1870 Nr.40 S.L Ähnlich nazarenisch auch die breit angelegte Novelle »Der Sohn der Maria«, die der lassalleanische »Social-Demokrat« im selben Jahr brachte: Social-Demokrat 25.9.1870 Nr.l 12 S.2f. - 28.10.1870 Nr.126 S.2 (im selben Organ 1873 nochmals abgedruckt). 189 Proletarier 7.11.1869 Nr.15S.116. Vgl. Neuer Social-Demokrat 18.8.1871 Nr.21 S.l;Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 7.11.1872 Nr.261 S. 1 (Jesus im »socialistischen Geist«, aber von einem explizit nichtchristlichen Standpunkt aus); Braunschweiger Leuchtkugeln 10.5.1874 Nr.10 S.2 (Jesus als eigentumskritischer Agitator, verfolgt wie die heutigen Sozialdemokraten). Nicht nur aus frühsozialistischen, sondern auch aus freireligiösen und demokratischen Quellen schöpfte dieses Jesusbild, so z.B. aus der vormärzlichen Jesus-Studie des Freireligiösen Georg Lommel, die bis 1890 im sozialdemokratischen Buchvertrieb präsent blieb (zu diesem Werk Grote, Religion, S. 15557. In Rolfes, S.71-77 wird Lommel zu einseitig für die Sozialdemokratie reklamiert). Ausführlich zum sozialdemokratischen Jesusbild 1863-1875 Grote, Religion, S.151-67; Rotfes, S.71-90. 190 Mook, Leben, Teil 1 und 2. Vgl. Grote, Religion, S.157f. Dulk, Irrgang, 1. und 2. T e i l ; Dulks »Leben Jesu« wurde in der Parteipresse empfohlen, u.a. durch eine enthusiastische Rezension von Robert Schweichel in Neue Welt 24/1885, S.579-81. Sein kritisch-modernes Jesusbild

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Das Jesusbild im sozialdemokratischen Diskurs stand zwischen taktischem Kalkül, dem Bemühen, die eigenen gesellschaftspolitischen Bestrebungen durch einen Traditionsnachweis zu legitimieren, dem Bedürfnis nach identitätsstiftenden Vorbildern - »Folgen wir, oh Arbeiter, diesem Beispiele [Jesu] und kämpfen wir mit gleichem Mannesmuthe für unsere geistigen Güter, wie es die Interessen der Menschheit fordern.«191 -, einer im engeren Sinne religiös motivierten Selbstverortung in der Kontinuität Jesu von Nazareth192 und einer säkularisierten, aber nicht weniger emphatischen Idee von »Nachfolge« in der Tradition des kommunistischen »Moralpredigers«Jesus von Nazareth:»[...] die Anzeichen mehren sich täglich, daß die Armen und Enterbten selbst, in richtiger Auffassung der Lehren des Nazareners, auf Erden schon das Reich der Menschenliebe, der Gleichheit und der Gerechtigkeit aufbauen werden.«193 Ebenso wie bei der Inbesitznahme des »wahren Christentums« und der »urchristlichen Gütergemeinschaft« durch die Sozialdemokratie verwahrte sich die kirchliche Apologetik auch gegen die Beanspruchung Jesu für das sozialistische Ideal, zumal diese in der Regel den Vorwurf des Verrats des kirchlichen Christentums an seinem Stifter einschloss und die Sozialdemokraten als bessere Christen erscheinen ließ: »Staat, Kirche und Gesellschaft müssen sich unter dem ›Kreuze Christi‹ die Hand reichen, um den Socialismus zu besiegen - diese Phrase ist deshalb so albern, weil dieses Trifolium vollständig von Jesus und seinen Lehren abgefallen ist und nichts mehr fürchtet, als die wahre Jesusreligion, die dem Socialismus den größten Vorschub leistet.«194 Eine sozialdemokratische Berufung auf Jesus erklärte die kirchliche antisozialistische

stand zunächst nicht unbedingt im Widerspruch zu Vorstellungen einer sozialdemokratischen Verwirklichung christlicher Ideale. Entsprechend erklärte der Stuttgarter Parteiführer in einer Rede in Karlsruhe 1876, »[...] daß die Humanität und Liebe, die das Christenthum predige, nur im Sozialismus wirkliche Gestalt und Form annehmen werde.«: Volksstaat 30.1.1876 Nr.12 S.4. Anerkennende Worte für Dulks »Leben Jesu« auch in der modernen Forschung: s. Schweitzer, Geschichte, S.372. »Jesustradition der Arbeiterbewegung«: s. Titel von Rolfes. 191 Proletarier 7.11.1869 Nr.l5 S.116. 192 Als Aufruf zur von einer noch selbstverständlichen Christlichkeit getragenen Jesus-Nachfolge kann z.B. eine Passage im Flugblatt des Braunschweiger ADAV zu den Wahlen im Norddeutschen Bund 1867 verstanden werden: »Ihr Männer, die Ihr Euch Christen nennt nach jenem großen Manne, der mit göttlicher Kraft vor allem Volke redete von der Gleichberechtigung aller Menschen, Ihr werdet ein offenes Ohr haben auch für die Leiden Eurer bedrängten Brüder. Gerechtigkeitför alte!« Abgedruckt in Eckert, Flugschriften, S.314f, Zitat S.315. 193 Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 12.3.1878 Nr.60 S.2. Ähnlich Dresdner Volksbote 15.11.1871 Nr.191 S.l (Leitartikel »Die alte Geschichte«). 194 Neuer Social-Demokrat 14.11.1873 Nr.132 S.2 (antijüdisch akzentuiert). Vgl. (ohne antijüdische Tendenz) ebd. 13.10.1871 Nr.45 S.2; Crimmitschauer Bürger- und Bauemfreund 12.3.1878 Nr.60 S.1f (Leitartikel »An die Adresse der ›Christlich-SoziaIen‹.«). Die »Freie Zeitung« des LADAV stand hingegen mit der Erwartung, der katholische Klerus werde erkennen, daß man gemeinsam auf dem »Boden der wahren christlichen Moral« stehe, 1871 schon recht einsam da: Freie Zeituno 27.9.1871 Nr.255 S.l.

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Polemik ihrerseits für »erbärmlich«, »albern und kindisch«. 195 Daß Jesus der erste Sozialdemokrat gewesen sei, hatte 1874 aber auch der sozialdemokratische Vordenker Josef Dietzgen in seiner vierten »Kanzelrede« energisch bestritten: »Da heißt es, Christus war der erste Sozialist. [...] Ob Christenthum und Sozialismus auch noch so viel Gemeinschaftliches haben, so verdient doch der, der Christus zum Sozialisten macht, den Titel eines gemeinschädlichen Confusionsrathes. [...] Neuerdings ist das Christenthum Religion der Knechtsseligkeit genannt worden. Das, in der That ist seine treffende Bezeichnung.« 196

Bereits ein Jahr zuvor hatte der Bebel-Liebknechtsche »Volksstaat« einen Artikel Wilhelm Hasselmanns im lassalleanischen »Neuen Social-Demokrat«, der die Auferstehung von Jesu Lehre im Sozialismus feierte, mit Spott überzogen: Der demütige Jesus, dessen historische Existenz nebenbei sehr zweifelhaft sei, habe nichts mit dem »wilde(n) revolutionäre(n) Trotz des Proletariats«197 gemein. Doch bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes wies die »Jesustradition« (Rolfes) nicht wenigen Sozialdemokraten die Bahn in eine sozialistische Zukunft, Sozialdemokraten, für die der Sozialismus den Kernbestand »echt christlichen Strebens« nicht nur bewahrte, sondern sogar erstmals in der Menschheitsgeschichte verwirklichte. Die Frage aber, ob sich diese Parteigänger der Arbeiterbewegung noch auf dem Boden der christlichen Religion befanden, ob sie einem »areligiösen Christentum« huldigten - theologisch betrachtet nicht unbedingt ein Paradox - oder lediglich ihren »individuellen Säkularisierungsprozess« noch nicht abgeschlossen hatten, bleibt zu beantworten.

Der Lassalle-Kult Einige Hinweise wie die erwähnte Reaktion des Eisenacher »Volksstaats« auf Hasselnianns Artikel im »Neuen Social-Demokrat« legen es nahe, die identitätswirksame Mentalität eines christlich begründeten Sozialismus vor 1875 eher im Umfeld des ADAV als in jenem der SDAP beheimatet zu sehen. Dieser 195 Säuster, S.175f.. Der Prediger Schuster bezog sich in erster Linie auf den unten erwähnten Artikel »Tod und Auferstehung« des »Neuen Social-Demokrat«, der im übrigen eine Gotteslästerungiklage nach sich gezogen habe. Vgl. auch Schlecht, S.20f.. 196 Detzgen, Vierte Kanzelrede, in: Sozialdemokrat 1.4.1874 Nr.38 S.l. Entsprechend Bebel in Guyat/LacOvc, S.87; Liebknecht, Trutz, S.48. Vgl. antijesuanisch Votbote November 1869 Nr. 11 S.163f (Johann Philipp Becker in der Replik auf christliche Sozialdemokraten: Jesus, der dem Kaiser gehen wollte, was dem Kaiser gebührt, sei der Vater des »Jesuitismus«); Glauchauer Nachrichten 14.5.1878 Nr.111 S.l (Jesus als Meister der »hohlen Phrase«); Sozialdemokrat 14.1.1884 Nr.4S.3 (Jesus wai nicht Proletarier, sondern ein fauler Feind der Arbeit). 197 Vuksstaat 19.4.1873 Nr.32 S.2, eine Replik auf Neuer Social-Demokrat 11.4.1873 Nr.43 S.l (Leitartikel »Tod und Auferstehung«).

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auch in der Literatur erhobene Befund198 scheint durch den Personenkult um den Gründer des ADAV Ferdinand Lassalle, der in der Forschung stark berücksichtigt wurde199, bestätigt zu werden. »Wie kein anderer Führer der Arbeiterbewegung genoss Lassalle noch weit über seinen Tod hinaus uns heute irrational anmutende Verehrung im proletarischen Fußvolk, und in vielen Arbeiterhaushalten hing noch zu Beginn dieses Jahrhunderts sein Bild, einem christlichen Haussegen gleich, über dem Esstisch.«200 Lassalle, selbst jüdischer Herkunft, hatte allerdings jeder traditionellen Religiosität abgeschworen; er fühlte sich eher dem aufklärerischen religionskritischen Erbe verbunden.201 Der Versuch, sein Selbstverständnis ideologiekritisch als das eines religiös-apokalytischen Welterlösers zu lesen, muss ebenso problematisch bleiben wie die entsprechenden mit Marx unternommenen Bemühungen.202 Doch ist in der Forschung immer wieder auf drei Äußerungen Lassalles verwiesen worden, mit denen das Haupt der ersten deutschen Arbeiterpartei religiösen Assoziationen rund um seine Person Vorschub geleistet habe bzw. selbst einer religiösen Deutung der Arbeiterbewegung gefolgt sei. 1. Bereits vor der Gründung des ADAV hatte Lassalle die Arbeiter als »Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll«203, bezeichnet, ein Diktum, das (bisweilen leicht abgewandelt) enorme Verbreitung fand und im ADAV von einigen als »wesentliche(r) Theil des religiösen Vermächtnisses Lassalle's«204 verstanden wurde. 2. Bei seiner letzten Rede Mai 1864 in Ronsdorf im Bergischen Land hatte der Arbeiterführer seine Anhänger mit Worten zum Schwur aufgefordert, die (wenn auch mit Mühe) als Selbstidentifizierung mit dem Christusschicksal gedeutet werden konnten.205 3. Seiner Lebensgefährtin Sophie Gräfin von Hatzfeldt beschrieb Lassalle wenig später seine Ein198 Sehr deutlich z.B. in Grote, Religion. 199 Auf die wichtigsten Arbeiten wurde bereits in der Einleitung zu dieser Arbeit hingewiesen: Korff, Bemerkungen; Herzig, Lassalle-Kult;ders., Lassalle-Feiern. Weiterhin Grote, Religion, S.8-25; Diehl, S.525-63 (Lassalle-Lieder und -Gedichte); Korff, Fahnen, bes. S.121f; Meurer, S.161f.; Bonneil·, Schneider, Feste, S.99-119 (zu den Lassallcfeiern in Hannover);den., Messias; Körner, Lied, S.250-58; Welskopp, Banner, S.365-69 (unter Betonung des taktischen Aspekts und Bestreitung eines religiösen Charakters der Feiern). Da mehrere dieser Arbeiten umfangreich Quellenmaterial dokumentieren, wird in den Ausführungen der vorliegenden Arbeit auf eine breite Quellendokumentation verzichtet. 200 Schneider, Messias, S.50. 201 Siehe hierzu die Bemerkungen in Steinbüchel, S.280-87. 202 Vgl, das in Colherg entfaltete Deutungsschema. 203 Lassalle, Reden, S.200. 204 Sociat-Detnokrat 12.5.1867 Nr.57 S.4 (»Socialistische Betrachtungen«, eingesandt von Wilhelm Grimm). 205 »Möge, wenn ich beseitigt werde, irgendein Rächer und Nachfolger aus meinen Gebeinen auferstehen! Möge mit meiner Person diese gewaltige und nationale Kulturbewegung nicht zugrundegehen, sondern die Feuersbrunst, die ich entzündet, weiter und weiter fressen, solange ein Einziger von Euch noch atmet! Das versprecht mir und zum Zeichen dessen hebt Eure Rechte empor!« Lassaüe, Reden, S.880.

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drücke aus Ronsdorf wie folgt: »Ich hatte beständig den Eindruck, so müsse es bei der Stiftung neuer Religionen ausgesehen haben!«206 Anders als diese Äußerungen aber, die keineswegs religiösen Überzeugungen entspringen mussten, gründete die Verehrung, die dem Initiator des ADAV schon zu Lebzeiten entgegenbracht wurde, zumindest bei einem Teil seiner Anhänger eindeutig in der christlichen Tradition. So feierten die sich als bibeltreu bezeichnenden Strumpfwirker im böhmischen Asch Lassalle in einem Huldigungsschreiben als »allerchristlichsten Cosmopolitismo«.207 Nach Lassalles Duelltod 1864 blühte der Kult um seine Personauf,um erst nach 1875 mit der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien und der Verfolgungszeit des Sozialistengesetzes abzuebben. Den heftigsten Niederschlag fand er in den Feiern zu Lassalles Geburts- und Todestag. Literarisch entfaltete sich die Verehrung insbesondere in einer Fülle von Gedichten, die auch auf den vorgenannten Feiern vorgetragen werden konnten. Die Deutung des Kultes in der Forschungsliteratur setzt durchaus unterschiedliche Akzente. In jedem Fall waren die Lassalle-Feiern Bestandteil einer »neue(n) proletarische (n) Festkultur«208, deren Aufgabe vor allen Dingen in der Bildung und kontinuierlichen Bestätigung einer spezifischen Gruppenkohärenz und kollektiven Identität bestand. Einerseits definierte sich diese Identität durch die Abgrenzung einer »alternative culture« (Lidtke) als proletarische Alternative und Machtdemonstration gegenüber den »feindlichen«, gesellschaftlich dominanten Kulturen. Andererseits erwies sich gerade die sozialdemokratische Kulturbewegung auch als »Brückenkopf der Bürgerlichkeit im Unterschichtenbereich«.209 Die Verehrung Ferdinand Lassalles ist in diesem Zusammenhang mit einem »bürgerlichen Heroenkult« verglichen worden, wie ihn die bürgerlich-liberale Nationalbewegung z.B. mit Friedrich Schiller zu dessen 100. Geburtstag 1859 betrieben hatte.210 Wie die Nationalbewegung die Schiller-Feiern, nutzten auch die sozialdemokratischen Arbeiterparteien ihre Lassalle-Feiern zur Propagierung programmatischer und tagespolitscher Forderungen.211 Doch unverkennbar kam die Verehrung des ADAV-Gründers auch umfassenderen sozialpsychologischen Bedürfnissen nach Symbolen, nach »emotionale(r) Kohärenz« und nach charismatischer Führerschaft (Max Weber) entgegen.212 Diese Bedürfnisse befriedigte der Personenkult um Lass206 Ders., Briefe, S.355. Verbreitet wurde die Redewendung u.a. vom sozialdemokratischen »Nordstern«: s. Becker, Geschichte, S.229. 207 Zitiert in ebd.. S.85. 208 Herzte. Lassalle-Feiern. S.324. 209 Kocka, Arbeiterbewegung, S.491. 210 Vel. Herzig. Lassalle-Kult. S.123f.: ders.. Lassalle-Feiern. S.324. 211 Vgl. Schneider, Messias, S.51 (Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht als Thema der Feiern). 212 Korff, Fahnen, S.121 (»emotionale Kohärenz«); Bonnell, S.56 (Bezugnahme auf Max Weber).

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alle in ähnlicher Weise wie der katholische Heiligenkult bzw. der religöse Kult im allgemeinen (Verehrungsformen, Rituale). Als Spezifikum des Lassalle-Kultes gegenüber Heiligenverehrung bzw. religiösem Kult wird jedoch die Tendenz zu Immanenz und Aktivität statt religiöser Transzendenz und Kontemplativität bezeichnet: Die Lassallefeiern riefen zur Befreiung des Menschen im Diesseits durch den Kampf der Betroffenen selbst auf213 Ein kultischer Charakter kann den Ritualen der Lassallefeiern mit ihren »Prozessionen«, ihren immer gleichen, festgelegten Abläufen, ihrer »Liturgie« mit gemeinsamen Gesängen214 und Bekenntnissen sowie ihren Symbolen (z.B. Fahnen) zugeschrieben werden. Dieser Kult hatte nicht nur taktischen Charakter als Alternative und »Gegenwelt« zu den traditionellen, teilweise während der Epoche der religiösen Erneuerung neubestimmten kirchlichen Kulten sowie zu den »neureligiösen« nationalen Kulten - die Lassalle-Totenfeiern am 31. August waren in gewisser Weise »Gegenfeiern« zu den am 1./2. September folgenden Sedansfesten.215 Die Verehrung des ADAV-Stifters ordnet sich auch in den Kontext der Modernisierung und Redefinition von Religion im 19.Jahrhundert ein.216 Nicht nur die äußeren Formen, sondern ebenso Sprache und Inhalte des Lassalle-Kultes weisen unverkennbar religiöse, oft auch christliche Affinitäten auf So wurde Ferdinand Lassalle nicht nur mit Jesus von Nazareth verglichen, sondern weitergehend als neuer Christus, als »Messias des neunzehnten Jahrhunderts« gefeiert. Diese Symbiose führen die vorliegenden Analysen des Kultes allerdings eher auf eine unreflektierte Fortschreibung überlieferter kultureller Praxis als auf einen bewussten »religiösen Akt« zurück.217 Der Lassalle-Kult der frühen deutschen Arbeiterbewegung ist in der Forschung, oft in Anlehnung an die zeitgenössische innerparteiliche Diskussion, zumeist kritisch bewertet worden. Er erscheint als notwendiges Zugeständnis an die »Unreife der Massen«, »the relative lack of maturity of the German working dass movement in the 1860s«, wobei verbleibende religiöse Bindungen unausgesprochen mit einem Mangel an ideologischer Reife identifiziert 213 Zum Vergleich von Lassallekult und (katholischem) Heiligenkult Korff, Bemerkungen, S.224f, 228-30; Herzig Lassalle-Kult, S.119f. 214 Gerade auf Lassalle-Feiern wurden gerne Bearbeitungen alter Kirchenlieder gesungen, so etwa das dem berühmten Luther-Choral angelehnte »Eine feste Burg ist unser Bund«; siehe z.B. den Bericht von der Leipziger LADAV-Feier zu Lassalles Todestag in Freie Zeitung 18.9.1869 Nr.89.90 S.370. 215 Korff, Bemerkungen, S.226f; Herzig, Lassalle-Kult, S.128; Bonneil S.57; Schneider, Feste, S. 101, 103. Eine Randstellung nahm die »Freie Zeitung« des LADAV ein, die Lassalle als Vater des deutschen Sieges von 1870 und damit als Stifter einer »nationalen Religion« feierte: Freie Zeitung 3.9.1870 Nr.157 S.l (Leitartikel »Am 31. August 1870«). 216 So auch Körner, Lied, S.256. 217 Vgl. Herzig, Lassalle-Kult, S.122f. (differenziert in dieser Frage); Bonneil, S.56 (Bewertung des Lassalle-Kults als unbewusste Fortschreibung christlicher Formensprache unter Hinweis auf den hohen Stellenwert religiöser Erziehung in der zeitgenössischen Volksschule).

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werden.218 Das Verschwinden des religiösen Lassalleanismus nach 1875 bezeichne das Ende der Durchgangsphase vom Symbol zum Argument, von einem »naiven Realitäts- und Gesellschaftsverständnis, das noch ganz auf übermächtige Patrone und Identifikationsfiguren angewiesen ist [...]«, zu einem »[...] reflektierten Gesellschaftsverständnis, das in ökonomischen Strukturen die Triebkräfte gesellschaftlicher Entwicklung sieht.«219 Schärfer formuliert gilt die Praxis der Lassalle-Verehrung als »Verirrung sondergleichen«, als schädliches Sektierertum, das auf der Ebene der Symbole die reale Parteidiktatur durch die Präsidenten des ADAV und des LADAV fortgeschrieben habe.220 Allein Arno Herzig hat positiv auf einen »emanzipatorische(n) Charakter« des Lassalle-Kults hingewiesen, der schon von den zeitgenössischen Kultkritikern wie August Bebel verkannt worden sei: »Es gelang bei den Lassalle-Feiern durch die Agitationsreden, Lieder und Rituale eine Synthese von diskursivverbaler und sinnlich-symbolischer Vermittlung zu bilden. Die Metaphern um Lassalle und sein Werk - so schwülstig und überzogen sie sein mochten - führten letztlich den Arbeiter zur Erkenntnis seiner Situation und zeigten ihm den Weg, wie er sich aus dieser Situation befreien konnte.«221 Allerdings weist Herzigs Deutung des Lassalle-Kults als »säkularisierter Kult eines politischen Heiligen«222 insofern eine Schwäche auf, als sie den Eindruck erweckt, die Kult-Teilhaber seien schon alle »durch die Säkularisierung hindurchgegangen«. Der Blick in die Quellen - vor allem Veranstaltungsberichte und Gedichte in Parteipresse und Lyrikanthologien - offenbart jedoch ein weitaus komplizierteres Ineinander von säkularisiertem Kult223, »bürgerlicher« antikisierender Heroenverehrung224 und christlich bzw. religiös begründetem Sozialismus. Die immer wieder bemühte Parallelisierung von Jesus und Lassalle etwa überschritt oft die Ebene des Vergleiches zweier »großer Männer« und 218 Zitat: Bottnelt, S.56. Vgl. Korff, Fahnen, S.122 (der Lassalle-Kult als »[...] eine noch rohe Form des politischen Denkens, die als Scharnier zwischen Volkskultur und Arbeiterbewegung funktioniert.«). 219 So Korff, Bemerkungen, S.225. 220 Zitat: Formulierung von Herzig, Lassalle-Kult, S.115, der sich von diesem Deutungsschema abgrenzt. Vgl. beispielhaft die kritischen Bemerkungen bei Grote, Religion, S.25 (der Lassallekult »[...] trug immer einen rückständigen, provinziellen und kleinstbürgerlichen Charakter [...]«; die Sozialdemokratie habe hier erstmals die Erfahrung gemacht, »[...] daß ein Personenkult nie der rechte Weg ist, um die Arbeiter zu sammeln und in die soziale und politische Aktion zu fuhren.«). 221 Herzig, Lassalle-Feiern, S.326; vgl. ders., Lassalle-Kult, S.128f.. 222 Ders., Lassalle-Kult (Zitat aus dem Titel des Aufsatzes). Von einem »politischen Heiligenkult« spncht schon Korff, Bemerkungen (s. ebenfalls Titel des Aufsatzes). 223 Siehe z.B. den Leitartikel »Zum 31. August« (Lassalles Todestag) in Neuer Social-Demokrat 30.8.1874 Nr.100 S.l, der Jesu und Lassalles Bestrebungen gleichsetzt, aber ausdrücklich in Abgrenzung von allem »Uebernatürlichem«. 224 Vgl. das auf Lassalle bezogene Aufgreifen des Prometheus-Mythos in Heinrich Rollers »Prolog« zum 2. ADAV-Stiftungsfest in Berlin: Social-Demokrat 24.5.1865 Nr.64 S.3.

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schwankte dann zwischen der christlichen Tradition, Heiligenviten - und Lassalle erschien hier als moderner Heiliger - den Stempel der »conformitas« mit Jesus Christus aufzuprägen und entsprechend parallele Lebens- und Leidensstationen (Verkündigung-Leiden-Tod-Auferstehungim Geiste) zu konstruieren225 , und einem neuen, substanziell religiösen Glauben an den verstorbenen Führer des ADAV und seine Bewegung.226 Das wohl krasseste Beispiel der religiösen Lassalle-Jesus-Parallelisierung stellt ein oft zitiertes, vom LADAVPräsidenten Carl Freundschuh verfasstes »Lassalleanisches Glaubensbekenntnis« aus dem Umkreis des Chemnitzer LADAVdar: »Ich glaube an Ferdinand Lassalle, den Messias des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s , an eine sozialpolitische Wiedergeburt m e i n e s im Elend schmachtenden Volkes, an die u n u m s t ö ß l i c h e n D o g m e n des Arbeiterstandes, gelehrt d u r c h Ferdinand Lassalle, der geboren aus verachtetem N a m e n , gelebt i m H e r z e n des Volkes, gelitten durch Bourgeoisie u n d Reaktion, gestorben d u r c h meuchlerische H a n d , auferstanden in der Brust treuer J ü n g e r , aufgefahren in d e m Geist des Arbeitervolkes, von dannen er k o m m e n w i r d , zu richten alle Feinde seiner Lehre.« 227 225 Diese Interpretation auch bei Herzig, Lassalle-Kult, S.l 17. Vgl. besonders eindeutig Freie Zeitung 29.8.1868 Nr.27,28 S.114; Neuer Social-Demokrat 19.8.1874 Nr.95 S.3 (Aufruf des ADAVPräsidenten Wilhelm Hasenclever zur Abhaltung von Lassalle-Totenfeiern). Verbindung der Parallelisierungvon Lassalle und Jesus (als »erstem Sozialdemokraten«) mit dem Motiv des Sozialismus als verwirklichtem Christentum: Freie Zeitung 18.4.1868 Nr.17 S.3; Social-Demokrat 15.2.1871 Nr.19 S.4 (eingesandtes Gedicht); Social-Politische Blätter 30.11.1873 Nr.11.12 S.265f (Aufruf an die Arbeiter zu Weihnachten. »[...] Jesus von Nazareth und Lassalle sei unsere Losung in unserem heiligen Kampfe - der Sieg ist unausbleiblich.«). 226 Die Diskursvariante »Sozialismus als Religion« weist sicherlich Überschneidungen zu anderen Diskursoptionen auf. Dies wird auf personeller Ebene durch die Kult-Beiträge des freireligiösen Sozialdemokraten Ludwig Würkert und Wilhelm Hasselmanns, der später in Mosts Lager der radikalen Religionsfeindschaft wechselte, deutlich. Vgl. u.a. Würkerts Gedicht »Arbeitertreue« {Social-Demokrat 6.7.1865 Nr,83 S.2); Hasselmanns Artikel »Tod und Auferstehung« (Neuer SocialDemokrat 11.4.1873 Nr.43 S . l ) . Wegen der Gleichsetzung von Christentum und Sozialismus in Hasselmanns Artikel leitete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Gotteslästerung ein, das jedoch mit einem Freispruch endete. Der »Neue Social-Demokrat« kommentierte: »Aber die Stunde schlägt bald, wo unter dem Feldgeschrei: Jesus und Lassalle!‹ Eure Schanzen gestürmt [...].« Neuer Social-Demokrat 12.11.1873 Nr.131 S.l. 227 Zitiert nach Grote, Religion, S. 17, der es Ernst Heilmanns »Geschichte der Arbeiterbewegung in Chemnitz« (o.J.) entnahm; dort die Quellenherkunft und -datierung nicht völlig geklärt. Vgl. das Lied »Lassalle's Todesfeier« auf die Melodie »Ich hab' mich ergeben«, das zu Lassalle mit denselben Worten »betete« wie die christliche Tradition zu Jesus: Neuer Social-Demokrat 3\.8.1873 Nr. 100 S.3. Dieselbe Tendenz weiterhin im Bericht von der Chemnitzer LADAV-Feier zu Lass-

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Auch d:ie lassallekritische Schrift Bernhard Beckers von 1868 deutet daraufhin, daß diese Parallelisierungen keineswegs als bloße Metaphorik abzutun sind: »Viele glauben nicht nur, daß Lassalle für sie gestorben sei, sondern es gab sogar und gibt wohl noch manche Arbeiter am Rhein, welche es sich nicht ausreden lassen, daß Lassalle, weit entfernt, tot zu sein, sich nur auf einige Zeit zurückgezogen habe, um in neuer Glorie wiederzukommen und dann, nach Art des Mensclhensohnes am Jüngsten Tage, die Lebendigen und die Toten zu richten.«228 Der Kult fand besondere Verbreitung in Regionen, die als stark religiös geprägt gelten können: katholisch im Rheinland und in Schlesien, protestantisch z.B. im Bergischen Land. So wies der ADAV 1864 im bergischen, pietistisch gestimmten Ronsdorf 523 Mitglieder auf; dem Verein gehörte fast das gesamte Dorf an, das damit zu diesem Zeitpunkt immerhin ein Neuntel der Gesamtmitgliedschaft des ADAV stellte.229 Die hohe Beteiligung von Frauen am Kult in seinen literarischen Wirkungen und im Rahmen der Lassalle-Ehrungen, deren Liturgien »Jungfrauen« zum Fahnen- und Kränzetragen einbezogen, muss vor dem Hintergrund der »Feminisierung« von Religion im 19. Jahrhundert gelesen werden.230 Das Jahr 1875 markiert deutlich einen Wendepunkt für die Lassalle-Rezeption, die ihren Kultcharakter weitgehend verlor. Die Vereinigung des ADAV mit der SDAR die einem gemäßigten Lassalleanismus Vorschub leistete, und die zwischen 1875 und 1878 besonders starken Christentums- und religionskritischen Akzente in der Parteiagitation trugen ebenso zu dieser Entwicklung bei wie das Sozialistengesetz, das einer öffentlichen Lassalle-Festkultur im Wege stand. Schließlich zeigte wohl auch die innerparteiliche Kritik Wirkung, die von Beginn an den Personenkult um Lassalle begleitet hatte. Der bald in Ungnade fallende ADAV-Präsident Bernhard Becker bezeichnete schon 1865 den Lassalle-Kult als bloßes »Bindemittel« für die junge Partei; Carl Wilhelm Tölcke, Nachfolger Beckers im Präsidentenamt, sprach ebenfalls von einem »Bindemittel« zur Gewinnung der Massen, die noch im Geiste eines »Götzendienstes)« (gemeint war die christliche Religion) erzogen worden seien. 1868 alles Geburtstag 1868 mit der Festansprache von Julius Röthing, der an der Spitze der Hatzfeldschen Richtung in Leipzig stand: Freie Zeitung 18.4.1868 Nr.16 S.3. Röthing war auch der Herausgeber eines Liederbuches, in dem der religiöse Lassalleanismus gepflegt wurde: Röthing, S.52-56 u.ö.. 228 Becker, Enthüllungen, S.124. 229 Meurer, S.163L Vgl. zur regionalen Verbreitung des Lassallekultes auch Grote, Religion, S.25; Kotff, Bemerkungen, S.224. 230 Vgl. Becker, Arbeiter-Agitator, S.60f. (religiös affizierte Gedichte von Agnes Schlingmann aus Berlin und Henriette K. aus Hamburg); Freie Zeitung 18.4.1868 Nr. 17 S.3 (bei der Chemnitzer LADAV-Feier zu Lassalles Geburtstag unter den 1000 Teilnehmern 300 Frauen); ebd. 19.10.1870 Nr. 168 S.648 (zentrale Rolle von »Frauen und Jungfrauen« bei der Fahnenweihe des ADAVTeuchern).

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war der Lassalle-Kult für Bernhard Becker nur noch notwendiger »Parteikitt«.231 Liebknechts »Demokratisches Wochenblatt« griff im selben Jahr die »Art von religiöser Schwärmerei« an, die im ADAV seit langem vorherrsche: »Von diesem Moment an war der Verein für die allgemeine Bewegung verdorben.«232 ; und Johann Philipp Becker assistierte im »Vorboten« mit der gewohnten polemischen Schärfe: »Ein Sozialismus mit der Hauskokarde eines neuen Abgottes, der Wachskerze eines frischen Heiligen ist eine Karikatur auf den Sozialismus.« 233 Konsequent bestätigte August Bebel in einem Brief an Friedrich Engels 1873: »Der Lassallekultus muß ausgerottet werden, f...].«234 Die Entwicklung ab 1875 sollte dieses Unterfangen erleichtern.

Der religiöse Lassalleanismus lebte nach 1875 vornehmlich in der antisozialistischen Polemik und in den Randzonen der vereinigten Arbeiterpartei fort.235 Das Ende des Sozialistengesetzes erlaubte zwar wieder das öffentliche Gedenken an den Begründer des ADAV, und der Todestag Lassalles wurde in der sozialistischen Arbeiterbewegung stets gebührend begangen; doch war diese »proletarische Festkultur« weit entfernt vom religiösen Lassalleanismus der 1860er und frühen 1870er Jahre. Die christliche bzw. religiöse Begründung des Sozialismus indes lebte in den 1880er Jahren unter der Oberfläche fort. Allerdings gewann schon in den 1870er Jahren eine andere Diskursfigur an Einfluss, die über die Mentalität des Sozialismus als »verwirklichtes Christentum« hinausging.

231 Becker, Arbeiter-Agitator, S.5; Social-Demokrat 10.9.1865 Nr.140 S.3 (Bericht Tölckes); Becker. Enthüllungen, S.123f.. 232 Demokratisches Wochenblatt 26.9.1868 Nr.39 S.310. 233 Vorbote Mai 1869 Nr.5 S.67. 234 Bebel, Briefwechsel Marx, S.14 (Brief verfasst vor dem 19.5.1873). 235 Antisozialistische Agitation: Schuster, S.21f., 175f., 230-32; Helferich, S.15f; Munding, S.29 (»Nach seinem Tode haben sie [die Sozialdemokraten] ihn [Lassalle] mit Christus verglichen. Das ist aber eine sehr merkwürdige und unglückliche Zusammenstellung. Welche Kontraste! Christus predigte den Armen sein Evangelium und verhieß ihnen das Himmelreich. Lassalle proklamierte das Evangelium der ›Enterbten‹ und versprach jedem alle Freuden dieser Welt. [...] Christus stirbt am Kreuze, ein Märtyrer seines Evangeliums, Lassalle fällt im Duell als Opfer eines Liebeshandels mit einer - Salondame, die ein paar Tage zuvor ›hoffnungslos, aber gelassen‹ von Lassalle wieder zu ihrem walachischen Bojaren zurückgekehrt war, dessen Kugel auch die Brust Lassalles durchbohrte.«). Die katholischen »Historisch-Politischen Blätter« hatten schon 1865 den »Messianismus der Lassalleaner« untersucht, ihn damals allerdings mit deutlicher Sympathie gegen den angeblich religionslosen Liberalismus Hermanm Schulze-Delitzschs ausgespielt: Historisch-politische Blätter 56/ 1865, S.546-61 (Zitat S.546). Randständiges Überleben des religiösen Lassalleanismus in der Schrift von Wichers von Gogh; ebd. S.16f. Lassalle als Messias der neuen sozialistischen Religion.

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Sozialismus ab überbotenes Christentum Schon die Artikel und Reden der sozialdemokratischen Selbstreflexion und Agitation, die von der »Verwirklichung« des christlichen Ideals durch die Arbeiterbewegung sprachen, wiesen häufig auf einen »Überschuss« des Sozialismus gegenüber dem Christentum hin. So galt Lassalle als moderner Messias, das sozialdemokratische Programm als die zeitgemäße Antwort auf Probleme, die sich den vorbildlichen ersten Christen nicht gestellt hätten und welche die korrumpierte Kirche der Gegenwart erst recht nicht lösen könne. Das Gerechtigkeitsideal, das die Sozialdemokratie an das »wahre« Christentum binde, habe die Kirche in den 2000 Jahren ihrer Geschichte nicht verwirklichen können; dazu sei erst der moderne Sozialismus in der Lage.236 Hier kam ein Motiv der »Überbietung« ins Spiel: Die alten sittlichen Forderungen des Christentums könnten erstmals eingelöst werden, da sie nicht mehr in ein wolkiges Jenseits vertagt, sondern als konkrete Forderungen zur Veränderung der politischen und ökonomischen Verhältnisse aufgefasst würden. Der Sozialismus siege, weil er die »Erlösung« nach dem Prinzip der Autonomie den Betroffenen selbst zumute, statt sie nach dem Prinzip der Heteronomie an andere, transzendente Instanzen zu delegieren. 1877 wurde das erste Heft des ersten Jahrgangs der ethisch-sozialistischen Zeitschrift »Neue Gesellschaft« bezeichnenderweise durch einen Aufsatz von Albert Dulk eröffnet, der sich darin u.a. intensiv mit dem Verhältnis von Christentum und Sozialismus auseinandersetzte, um zu dem Schluss zu kommen: »Die Völker, die vom Socialismus ergriffen werden, nehmen nun das Gesetz [des Menschenrechts und der Nächstenliebe], das im Christianismus noch himmlische Hallucination war, organisch in Haupt und Glieder auf, wie das Kind das Gesetz (das Gleichgewicht) des Leibes in jedes seiner Glieder aufnimmt, wann es gehen lernt.«237 Durchgeführt wurde der Überbietungsgedanke häufig an der Diskussion um das rechte Verständnis dessen, was Kommunismus sei. Über die Sachkritik am biblischen »Teilungskommunismus« hinaus erschien auch die Enttheologisierung der »communistischen Weltidee« als sozialdemokratischer qualitativer Überschuss gegenüber der christlichen Fassung derselben Idee. »Das Christenthum war der Humanismus oder Communismus, aber der Communismus in Fiebertraume der theologischen Phantasie [...]. [...] geklärt, frei von dem Makel theologischen Wahnes, in ureigener Gestalt, erhebt sich aufs Neue die commu236 Düsen Gedanken legte auch Friedrich Bosse dem Helden seines Agitationsstückes »Die Arbeiterveeine haben doch eine Zukunft!« (1888) in den Mund: »Wir wollen alles aufbieten, daß die Bruderliebe keine Sage mehr bleibt! Wir wollen, was das Christentum 2000 Jahre vergeblich angestrebt hat, zur Wahrheit werden lassen! Das Reich des Friedens, es muß entstehen!« Bosse, Arbeiterve-eine, S.122. 237 Dtlk, Strömung, S.10. Vgl. Votksstaat 6.8.1875 Nr.89 S.2; Vorwärts 26.4.1878 Nr48 S.3 (»Autonome« versus »Heteronomie«).

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nistische Weltidee, die Weltidee der Liebe, um unaufhaltsam alle Herzen und alle Geister sich zu erobern - in einer Form, die keinen Rückfall kennt.«238

Das Überbietungsmotiv konnte in zwei verschiedene Diskursvarianten auslaufen: zum einen die Vorstellung des Sozialismus selbst als Religion, zum anderen ein Modell, das Sozialismus anstelle von Religion im Sinne einer substanziellen Differenz setzte.

Sozialismus als Religion Von ihren Gegnern in Politik, Kirche und Gesellschaft wurde der sozialistischen Bewegung schon in der zeitgenössischen Polemik nicht nur ihre vermeintliche Religionsfeindschaft, sondern zugleich auch oft eine angebliche Selbsterhebung des Sozialismus zur Religion vorgeworfen. 239 Sofern hier eine Interpretation von sozialistischer Lehre und Praxis vorgenommen wurde, die keinen Anhalt im Selbstverständnis der Beteiligten hatte, sei diese Kritik zunächst außer acht gelassen. Doch griffdie antisozialistische Polemik in ihren Attacken oft Motive des sozialdemokratischen Diskurses selbst auf Diese keineswegs so seltenen Selbstbeschreibungen des Sozialismus als Religion seien im Folgenden näher betrachtet.240 Die Bezeichnung des Sozialismus als Religion bzw die Rede von einer sozialistischen Religion 241 bei sozialdemokratischen Rednern und Publizisten war in der Regel durch die Auseinandersetzung mit der positiv bestehenden Religion veranlasst. Die etablierten christlichen Kirchen sahen sich zwischen 18631890 einerseits gesamtgesellschaftlich in die Defensive gedrängt, behaupteten andererseits aber manche Machtposition, gewannen gar Macht zurück oder rangen um neue Autonomie. Wenn im Kulturkampf die bedrängte katholische Kirche die Notwendigkeit von Religion als sittlicher Grundlage gesellschaftlichen Handelns postulierte, um die Attacken gegen ihre Freiheiten abzuwehren, mussten Sozialdemokraten, die dieses Postulat grundsätzlich akzeptierten, j e doch die daraus abgeleiteten Ansprüche der christlichen Kirchen ablehnten, auf alternative religiöse Instanzen verweisen. Die meist unausgesprochene Akzep238 Freiheit 28.3.1880 Nr.9S.2. Vgl. Wahrheit 4.10.1878 Nr.232S.l (Leitartikel »Die Bibel und das Grundeigenthum«); Clements. 239 Vgl. beispielsweise Fröbel, S.20; Vorwärts, 7.4.1878 Nr.41 S.3 (Bericht von einer Düsseldorfer Versammlung der »Staatssozialisten« mit Vortrag des Reisepredigers Richard Schusters »Über die Religion der Sozialdemokratie«); Pachtler, bes. S.53f. Anm.2; Arndt, 240 Vgl. hierzu auch das Kapitel »Die Sozialdemokratie als neue Religion« in Horvath, S.327-33 (fast ausschließlich zu Dietzgen). 241 Entsprechende Formulierungen blieben nicht auf den deutschen Raum beschränkt; siehe z.B. den Titel einer Schrift des auch in der »Neuen Zeit« publizierenden englischen Sozialisten: Box, religion.

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tanz des Postulats einer gesellschaftlichen Notwendigkeit von »Religion im weiteren Sinne« brachte auch dezidiert antiklerikale Kräfte in den Arbeiterparteien bisweilen dazu, den Sozialismus als Religion zu definieren. Und die Abgrenzung zu jenen gesellschaftlichen Kräften, die wie die Freireligiösen zwar eine religiöse Reform jenseits der traditionellen Kirchen anstrebten, ein politisches Bekenntnis zum Sozialismus aber vermeiden wollten oder die Sozialdemokratie sogar bekämpften, führte ebenso vereinzelt zu einer derartigen Selbstbeschreibung.242 Nicht nur die Krise, sondern auch die Beharrungskraft der positiv bestehenden christlichen Religion konnte Parteigenossen zu entsprechenden Bekenntnissen drängen: Angesichts der Macht des kirchlich-politischen Gegners und der persistenten Überzeugungskraft seiner religiösen Selbstlegitimation schien manchen nur die Proklamation der »neue(n) Weltreligion des Sozialismus« einen Ausweg zu bieten.243 Über diese kirchenpolitische Diskussion hinaus begründete der sozialdemokratische Freidenker Albert Dulk das Verständnis des Sozialismus als Religion nach 1878 auch allgemeinpolitisch: In einer Situation der steten Bedrohung, wie sie unter dem Sozialistengesetz herrsche, bleibe der Partei gar nichts anderes übrig, als sich selbst zur Religion zu proklamieren: Verfolgung schafft Märtyrer, und Märtyrer schaffen Glauben.244 Die Bezeichnung des Sozialismus als Religion schien sich in konkreten Debatten und Situationen also als taktische Notwendigkeit zu erweisen. Doch ging die Diskursfigur über das taktische Kalkül und die bloße Metaphorik auch hinaus, wie ein Blick auf die zeitgenössische Religionsdebatte verdeutlicht. Der 242 Vgl. Protocoll, 1872, S.13 (aus einem Votum Anton Memmingers auf dem Parteitag der SDAP 1871: »Am nächsten stehen uns die freireligiösen Gemeinden, insofern diese dem Atheismus huldigen. Leider sind unter ihren Mitgliedern gar Manche, die in politischer und socialer Beziehung gerade das Gegentheil von dem vertreten, was sie in religiöser Beziehung als ihr Princip anerkennen. Darum ist für mich die einzig wahre Religion die Religion der Humanität, die Religion der Social-Demokratie!«); Duisburger Freie Zeitung 8.8.1876 Nr.17 S.3 (im KulturkampfVerteidigung der »Religion der Sozialdemokratie« gegen den ultramontanen Vorwurf der Religionslosigkeit). 243 Vgl. Neuer Social-Demokrat 10.3,1872 Nr.30 S.l (Leitartikel »Die Macht des Katholicismus«); Syzialdemokrat 28.11.1880 Nr.48 S.l (Leitartikel »Sozialismus und Christenthum«; darin Verkündgung der »neue(n) Weltreligion des Sozialismus« gegen das in der Arbeiterpartei verbreitete »plunpe(s) Angreifen der einmal in unserem Volksleben festverwurzelten religiösen Vorstellungen«) 244 Die entsprechende Einschätzung Dulks erwähnt in Bios, Denkwürdigkeiten, S.73. Daß auch Frodenker bzw. Atheisten wie Albert Dulk, Carl Boruttau, Johann Philipp Becker oder Oskar Klemich mitunter den Sozialismus zur Religion erklären konnten, bestätigt noch einmal die U n möglichkeit exakter personeller Zuordnungen der innerparteilichen Diskursvarianten zur Beantwortung der religiösen Frage. Vgl. Boruttau, Religion, S.54 (der »Socialismus« ist die »Religion der Zukunft‹); Braunschweiger Volksfreund 16.3.1875 Nr.63 S.2 (Ouik), Becker, Psalmen, S.235; Vorwärts 22.6.1877 Nr.72 S.4 (Kiemich). Ähnlich wie Dulk zur Einschätzung der Folgen einer Verfolgungssituatiox für die sozialistische Bewegung: Liebknecht, Trutz, S.9f: Der Sozialismus habe als »Religion« dit Stärke, Verfolgungen zu widerstehen.

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Religionsbegriff hatte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine Dehnung erfahren, die sich keineswegs in einer schon seit Martin Luther geläufigen Begriffserweiterung mit religionskritischem Potenzial erschöpfte. 245 Die Infragestellung traditioneller Theologie und Kirchlichkeit seit der Aufklärung mündete seltener in der völligen Ablehnung von Religion als in dem Bemühen um eine »religiöse Reform« jenseits der Tradition.246 Schon vor der Mitte des Jahrhunderts waren Programme für eine »Religion der Zukunft« entworfen worden, die den christlichen Deutungsrahmen zum Teil beibehielten, zum Teil bereits überschritten.247 Inwieweit entsprechende Zukunftsprogramme und Visionen noch als Religion zu kennzeichnen sind, wird kaum eindeutig zu beantworten sein; den zeitgenössischen Akteuren ein religiöses Selbstverständnis absprechen zu wollen, erscheint hingegen unzulässig. So angefochten inner- und außerparteilich die Definition des Sozialismus als Religion auch war: In der zeitgenössischen Religionsdebatte hatte dieses Verständnis durchaus seinen Platz. Der Religionsbegriffim sozialdemokratischen Konzept einer sozialistischen Religion der Zukunft stimmte in den Kernpunkten mit dem entsprechenden »bürgerlichen« Diskurs überein. Religion sollte sich fortan nicht mehr aus ihrem Transzendenz-, sondern ihrem »Menschenbezug« begründen; sie hatte den Anspruch aufWissenschaftlichkeit zu erheben, ja, sollte selbst Wissenschaft sein. Die Religion der Zukunft war praktisch orientiert, sie vermittelte ethische Grundsätze und ließ sich auch als »höchste Sittlichkeit« beschreiben. Mit den überlieferten Religionen - an vorderster Stelle dem Christentum -verband sie manches moralische Prinzip, während fehlende Gottesvorstellung und fehlender Transzendenzbezug die Zukunftsreligion von den positiven Religionen unterschied, so daß sich das Verhältnis der ersteren zu den letzteren teils als Gegensatz, teils als Synthese, teils als beabsichtigte Überbietung darstellte.248 Die Religion der Zukunft erhob als »Metareligion« 245 »Worauf Du nun (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott«. Mit dieser Definition in seinem »Großen Katechismus« von 1529 erweiterte Luther in kritischer Absicht den Gottes- und damit den Religionsbegriff: Gott und Abgott fordern gleichermaßen religiöse Verehrung ein; auch die Anbetung des »Mammon« u.ä. kann Religion sein. Luther, S.20. 246 An dieser Debatte beteiligten sich durchaus auch Theologen, die innerhalb der etablierten Kirchen verblieben, wie etwa der evangelische Professor für systematische Theologie Richard Rothe mit seiner Prognose der zukünftigen Auflösung der Kirchen. Auf Rothe wurde selbst in sozialdemokratischen Versammlungen hingewiesen (vgl. z.B. Berliner Volksblatt 20.9.1890 Beilage zu Nr.219 S.2f.). 247 So Anonym, Religion; vgl. später antiaufklärerisch-nationalistisch Lagarde. Die Sozialdemokratie knüpfte gelegentlich explizit an diese Debatte an, z.B. 1890 in einer Berliner Versammlung gewerblicher Hilfsarbeiter zum Thema: »Die Religion der Zukunft«: Berliner Volksblatt 20.9.1890 Beilage zu Nr.219S.2f. 248 In sozialdemokratischer Fassung Neuer Social-Demokrat 10.3.1872 Nr.30 S.l; Braunschweiger Volksfreund 16.3.1875 Nr.6 S.2 (Vortrag Dulks in Stuttgart: Der Sozialismus sei »[...] als eine neue Religion zu betrachten, die aber den Begriff der Uebersinnlichkeit und des Fortlebens über den Sternen in der Hölle oder im Himmel, überhaupt den blinden, kindlichen Glauben ausschlie-

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einen globalen, zeit- und ortsungebundenen Anspruch. Die vielleicht randständig, aber doch immer wieder einmal in der Partei verkündete »Religion der Sozialdemokratie« 249 kann auch als Zuspitzung der zeitgenössischen Religionsutopien aus dem Geist der rationalistischen Moderne gelesen werden. Von den »bürgerlichen« Zukunftsreligionen unterschied sie sich durch ihre soziale Emphase. Zum religiös-politischen Freiheitsbegriff trat nun zentral der soziale Gerechtigkeitsbegriffhinzu. So konnte die »Duisburger Freie Zeitung« in einer Pressekontroverse mit der katholischen »Duisburger Volkszeitung« 1876 deren Anfrage »›[...] Thatsächlich werden viele Anhänger des Sozialismus der Religionslosigkeit in die Arme getrieben. Ist das wahr?‹« wie folgt beantworten: Z u n ä c h s t m ü ß t e uns die Volkszeitung erklären, w a s sie unter ›Religionslosigkeit‹ verstanden haben will; sie w i r d d o c h j e d e n f a l l s von der ›Religion der S o z i a l d e m o k r a t gehört haben. U n d diese ist die R e l i g i o n aller Religionen, d e n n sie ist die Religion der M e n s c h e n l i e b e . Sie ist j e n e U r - R e l i g i o n , w e l c h e von d e n meisten unserer heutigen Religiösen durch das häßlichste alles h ä ß l i c h e n , d u r c h den Egoismus ersetzt w o r d e n ist.« 250

Die der radikaleren Richtung der aufklärerischen Religionskritik verpflichtete Führungselite der sozialdemokratischen Partei tat sich eher schwer mit dem Konzept einer sozialistischen Religion, ja, griff entsprechende Vorstellungen bisweilen rigoros an. Wenn sich aber doch beispielsweise Wilhelm Liebknecht (wohl widerwillig) solchen Auffassungen näherte - »Könnte das Wort Religion nicht mißdeutet werden, so würde ich sagen: Der Sozialismus ist Religion und Wissenschaft zugleich.«251 - , musste das als Konzession an ein Bedürfnis verstanden werden, das im Parteimilieu offensichtlich anzutreffen war: bei Parteimitgliedern und -Sympathisanten, die der traditionellen Kirchlichkeit entfremße«); Chemnitzer Freie Presse 15.8.1875 Nr. 188 S. 1 (deutlich betont der Überbietungscharakter der Sozialdemokratie als Religion gegenüber dem Christentum); Berliner Votksblatt 20.9.1890 Beilage zu Nr.219 S.2f. (die sozialdemokratische »Religion der Zukunft« als »freie, für sich selbst bestehende Sittlichkeit«). 249 Am bekanntesten wurde die Wendung durch die unter dem Titel »Die Religion der Sozialdemokratie« erscheinenden »Kanzelreden« von Joseph Dietzgen, die zwischen 1870 und 1875 im »Volksstaat« sowie 1877 im Separatdruck (Dietzgen, Kanzelreden) veröffentlicht wurden. Allerdings verwendete Dietzgen diese Formel mehrdeutiger als die meisten seiner Parteigenossen; zudem distanzierte er sich von der dritten »Kanzelrede« an mehr und mehr vom Religionsbegriff (um ihn in späteren Veröffentlichungen der 1880er Jahre wieder aufzunehmen). Einschlägig hauptsächlich die erste »Kanzelrede«, die mit den Worten beginnt: »Geliebte Mitbürger! Die Tendenzen der Sozial-Demokratie enthalten den Stoff zu einer neuen Religion, welche nicht wie alle bisherigen mit dem Gemüthe oder Herzen, sondern zugleich auch mit dem Kopf, dem Organ der Wissenschaft, erfaßt sein will.«: Volksstaat 13.8.1870 Nr.65 S.3. Zu Dietzgens »sozialdemokratischer Religion« auch Horvath, bes. S.328f. - Typische Akzentuierung der Redewendung z.B. bei Franz (im Vorwort: Zweck der Lyriksammlung sei auch die Verkündigung der »Religion der sozialistischen Demokratie«). 250 Duisburger Freie Zeitung 8.8.1876 Nr. 17 S.3. 251 Liebknecht, Trutz, S.10.

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det waren, an Religion als elementarer Kategorie der Daseinsbewältigung jedoch festhielten, bei Genossen, die sich manchen ethischen Postulaten der christlichen Religion weiterhin verpflichtet fühlten, diese Grundsätze aber nicht mehr durch die Kirchen, sondern vielmehr durch die Arbeiterparteien vertreten sahen, bei Sozialdemokraten, denen die sozialistische »Idee« so viel zur Vergewisserung der eigenen Identität beitrug, daß sie ihnen zur »Religion« wurde. In den Arbeiterautobiographien, die sich auf die 1870er und 1880er Jahre als Phase der politischen Sozialisation beziehen, begegnet auch dieses religiöse Verständnis des Sozialismus. »Aus [...] Stimmungsniederungen erhob mich immer wieder der Glaube an den Sozialismus. Ich hörte Bebel, den alten Liebknecht und andere begeisterte Propheten der weltlichen Arbeiterreligion [...]. Es ging mir, es ging uns allen zu langsam. Aber wir sahen doch Weg und Ziel, fühlten Erhebung und Trost. Die rein politische oder wirtschaftliche Wertung der Arbeiterbewegung reicht nicht aus, um ihre Bedeutung zu erklären.«252

2.3.2 Sozialismus statt Religion Chiistliche Feste in sozialdemokratischer Deutung Die sozialistische Arbeiterbewegung hatte eine eigene Festkultur entwickelt, die zur »Selbstdeutung bzw. Selbstvergewisserung und Gemeinschaftsbildung«253 im Parteimilieu maßgeblich beitrug. »[...] festivals brought together in one concentrated event many, if not all, of the ingredients of the social cultural world of the socialist labor movement. They contributed to the substance and especially to the image of the Social Democratic labor movement as a solid phalanx of enthusiastic followers with a well-integrated set of political principles and cultural values.«254 Die Feste im Parteimilieu wiesen Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede auf. So waren die Lassalle-Feiern der Frühzeit Teil einer Deutungskultur, die dem Sozialismus die Verwirklichung (christlich-)religiöser Ideale zusprach. Explizite Deutungsmuster (Lass252 Aus dem Typoskript »Rückblick« (1920) des Arbeiterschriftstellers Ernst Preczang. Die Ausführungen beziehen sich auf die späten 1880er Jahre. Zitiert nach Emmerich, Lebensläufe, S.288f.. 253 Schneider, Feste, S.33. 254 Lidtke, Culture, S.101; zur sozialdemokratischen Festkultur insgesamt ebd., S.75-101; Welskopp, Banner, S.339-78. Lidtke betont im Rahmen seines Modells einer »alternative culture« die qualitative Differenz dieser Festkultur gegenüber der traditionellen religiösen und der modernen bürgerlichen Festkultur. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommen auch die Regionalstudie von Abrams, bes. S.53-56, und Welskopp, Banner, S.345 (sozialdemokratische Feste als »Demonstration einer selbstbewussten Gegenkultur«). Die Differenz wird auch deutlich im Vergleich zu der Festkultur in anderen Vereinen, in denen Arbeiter organisiert waren, z.B. konfessionellen oder nationalen Vereinen; s. hierzu den knappen Überblick in Ritter/Tenfelde, S.832-35.

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alle als »Messias«) belegen den religiösen Charakter dieses Personenkultes, weniger hingegen Elemente der Formensprache wie der stark ritualisierte Ablauf der Feiern, d.h. der Wechsel von Chorgesang (bisweilen auf Melodien kirchlicher Gesangbücher), Ansprachen, »Kulthandlungen« (z.B. die Umkränzung einer Büste), Massengesang und Massen-«Bekenntnissen«.255 Derartige Liturgien bestimmten ebenso die Feste der säkularen bürgerlichen Vereinskultur, die zwar aus der religiösen Feierkultur hervorgegangen war, in einer vergleichbaren Formensprache aber gesellschaftlich-politisch völlig andere Inhalte transportierte.256 Eindeutig in dieser bürgerlichen Tradition standen die sozialdemokratischen »Stiftungsfeste«, die des Gründungstages der Arbeiterpartei(en) und ihrer lokalen Gliederungen gedachten und in der Frühzeit wohl im Zentrum der sozialistischen Festkultur standen. Festlich begangen wurde in der Sozialdemokratie ebenso der 18. März, der an die Freiheitstradition der Revolution von 1848/49 anzuknüpfen suchte. Zur zentralen Feier aber entwickelte sich ab 1890 der 1. Mai als »› der Arbeit höchster, einz'ger Feiertag‹«, der »[...] die sozialistische Zukunftserwartung symbolisieren« sollte.257 Ob der sozialistische Mai als »Religionsersatz« bezeichnet werden muss, bleibt umstritten: Den unverkennbaren religiösen Anleihen auf der Ebene der Bild- und Symbolsprache sowie dem starken utopischen Gehalt stehen die mit den Maidemonstrationen verbundenen »säkulären« Intentionen auf der Ebene der gesellschaftlich-politischen Programmatik gegenüber.258 Kirchenvertretern waren die frühen Maifeiern ein Dorn im Auge; ein (ersatz-)religiöser Charakter dieser Feste stand jedoch nicht unbedingt im Mittelpunkt der kirchlichen Kritik.259 255 Rituale müssen keineswegs immer auf religiöse Wurzeln zurückgeführt werden. So hat Hermann Lübbe die Bezeichnung von Stalinismus und Nationalsozialismus als »politische Religionen« u.a. deshalb kritisiert, da die Rituale, aus denen man den religiösen Charakter dieser Ideologien u.a ableite, »ersichtlich nicht originär und exklusiv religiös« seien, sondern zu einem »anthropologisch universellen Bestand« gehörten: Maier, Totalitarismus, S.167. Vgl. zum - nicht zwangsläufigen - Konnex von Religion und Ritual Lidtke, Culture, S.76; Zuesse. 256 Vgl. zur Säkularisierung religiöser Festsymbolik in der Neuzeit, hier am Beispiel des Festzuges Tmfelde, Adventus (ebd., S.78-82 auch zu den Maiumzügen der Sozialdemokratie). Für das Schillertest von 1859 als zentraler Veranstaltung zur Selbstdarstellung des neuen nationalen Liberalismus hat Rainer Noltenius darauf verwiesen, wie die bildungsbürgerlichen Protagonisten »in säkularisierender Verwendung [...] ständig Metaphern aus dem kirchlichen Bereich« verwendeten: Noltenits; Zitat ebd., S.249. Vorbildfunktion der bürgerlichen und der religiösen Feste für die Arbeitelfeste betont auch in Schneider, Feste, S.37. 257 Urch, S.352. 258 Korff, Volkskultur, S. 199-202, weist die Interpretation der Maifeier als »Religionsersatz« zurück, da diese Deutung den Blick auf den zentralen politischen Intentionsgehalt der Maifeiern verstelle; vgl. dagegen Lerch, S.369f„ Bemerkenswerterweise konzedierte die sozialdemokratische Mai-Fertzeitung des Jahres 1902 selbst »Das religiöse Moment der Maifeier« - so der Titel und die Tendenz eines Artikels der Festzeitung, wiederabgedruckt in Achten, Lichte, S. 113. 259 Hierzu in der Spiegelung der sozialdemokratischen Gegenagitation um 1900 Achten, einig, S.131-53.

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Im Folgenden gilt die Aufmerksamkeit jedoch nicht den sozialistischen Maifeiern, die nicht mehr in den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit fallen, sondern den christlichen Festen als wesentlichem Bestandteil einer die sozialdemokratiefeindlichen Lager übergreifenden dominanten Kultur.260 Über die diesbezügliche kulturellePraxisim sozialdemokratischen Milieu können nur wenige Aussagen getroffen werden. Eine bescheidene Weihnachtsfeier versuchten sicherlich die meisten Eltern aus unterbürgerlichen Schichten ihren Kindern zu ermöglichen. Gerne veranstalteten aber auch die Arbeiterparteien Versammlungen an den hohen christlichen Feiertagen oder in ihrer zeitlichen Nähe. Die Parteipresse berichtete jedoch kaum von diesen Zusammenkünften, so daß unklar ist, inwieweit hier auf die Anlässe der kirchlichen Feste eingegangen wurde.261 Eine reiche Überlieferung besteht hingegen in einer Fülle von Betrachtungen und Gedichten, welche die Parteipresse anlässlich von Weihnachten, Karfreitag, Ostern und Pfingsten abdruckte.262 Die auf dieser Ebene deutlichen Um- und Gegeninterpretationen weisen in ihrer zeitlichen Entwicklung allerdings weniger auf ein Diskursmodell »Sozialismus als Religion« als auf eine schrittweise Säkularisierung religiöser Konzepte, wie zu zeigen sein wird. »An der Grenze jedes scheidenden Jahres steht Weihnacht. Ehe das alte Jahr untergeht, soll uns Christus aufgehen, gestern, heute und derselbe in Ewigkeit. Sein Geburtstagsfest pflanzt den grünen Lebensbaum in das sterbende Jahr und leuchtet mit Millionen Lichtern hinein in die Zukunft. Fürchtet euch nicht, siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Diese Gottesbotschaft wird noch immer gepredigt und wird noch immer zur That. Eine größere Freude kennt die Erde nicht, als die Weihnachtsfreude, die Alt und Jung, Arm und Reich ergreift, und die besonders auf deutscher Erde in Liebe und Erbarmen ein ganzes Volk beherrscht.« 263

Von einer »kanonischen« Ausdeutung der christlichen Hochfeste konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr die Rede sein. Zu sehr hatten sich Volksfrömmigkeit und bürgerliche Frömmigkeit nicht nur das Weihnachtsfest, sondern auch das Oster- und Pfingstfest unterworfen und ihren Deutungsansprüchen angepasst. Oft eingekleidet in eine sentimental-poeti260 Zu Weihnachten aus sozialgeschichtlicher Perspektive Weber-Kellermann. 261 Vgl. Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 29.12.1875 Nr.302 S.2f. (»Prolog, gesprochen beim Weihnachts-Vergnügen des Volksvereins zu Crimmitschau«); Müttchow, Arbeiterautobiographie, S.158f. (aus Versammlungsberichten in der Autobiographie der Arbeiterin Adelheid Popp). Vgl. ebd., S. 157-60 das Kapitel über »Proletarierweihnachten« mit Verweisen auf eine Reihe von Arbeitertheaterstücken (überwiegend aus der Zeit nach 1890) zum Thema Weihnachten. Einladungen zu Parteiversammlungen an den christlichen Festtagen häufig in der sozialdemokratischen Tagespresse. 262 Ausführliche Dokumentation für die Zeit bis 1875 in Grote, Religion, S. 139-50. Zu Ostern und Weihnachten in der Deutungskultur der Sozialdemokratie Hannovers nach 1890 Schneider\, Feste, S.214-22. 263 Aus einer Predigt »Am heiligen Christtage«, in Stoecker, Wandelt, S.29.

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sche Rhetorik, ermöglichten diese Anlässe nicht nur die Verkündigung christlichen Lehrstoffes - an Weihnachten und Ostern insbesondere die Gottessohnschaft und das Erlösungswerk Jesu Christi - , sondern auch und mehr noch die Vermittlung eines Ideals sozialer Befriedung (wie in der zitierten Predigt Adolf Stoeckers von 1878) und eines Ideals des Einklanges von Mensch und Natur oft ein Thema österlicher und pfingstlicher Meditationen. Eine streng kirchlich orientierte katholische Polemik beklagte 1883: »Wie vielen tausend Protestanten und aufgeklärten Katholiken ist Ostern nichts anderes als das Jubelfest der aus dem Winterschlaf auferstehenden Natur, und Weihnachten die Zeit, wo ›der Geist der Liebe‹ mit Geschenken die Runde macht [...]«. Das fehlende Verständnis sozialistischer Dichter für den christlichen Festkreis sei daher nicht verwunderlich.264 »Wir streiten mit Niemandem über die Bedeutung des Tages [Weihnachten]. Jeder mag sie sich zurecht legen, wie er will [...].« Soviel Freiheit ließen die sozialdemokratischen Betrachtungen zu den christlichen Festen nur selten zu.265 Die anlässlich der kirchlichen Hochfeste in der Parteipresse veröffentlichten Leitartikel und Gedichte können den verschiedenen Deutungsmodellen des sozialdemokratischen Religionsdiskurses zugeordnet werden. Dogmatischer Traditionalismus und ungebrochene Festfreude wie beim Hof- und Domprediger Adolf Stoecker begegneten dem sozialdemokratischen Leser gelegentlich in sentimentalen Versen aus der Feder gesellschaftlich anerkannter Literaten oder dichtender Parteigenossen.266 Auch Freireligiöses fand hin und wieder Aufnahme, etwa in naturreligiös bewegten Pfingstpoemen. Dagegen dienten die christlichen Feste radikal kirchenfeindlichen Kräften nur selten als Anlass für ihre Agitation, die dann etwa diese Feste zu einer guten Gelegenheit für den endgültigen Bruch mit der Kirche erklärte.267 Wesentlich öfter nahmen 264 Schlecht, S21f.. 265 Die hier zitierte Ausnahme: Beniner Volksblatt 25.12.1885 Nr.302 S.2 (Artikel »Weihnachten«). 266 Siehe exemplarisch den süßlichen »Weihnachtsgruß« von Julius Lohmeyer (1834-1903), kurz nach Inkrafttreten des Sozialistengesetzes abgedruckt im Crimmitschauer Bürger- und Bauernfreund 25.12.1878 Nr.300 S.l. 267 Ebd. 5.4.1874 Nr.78 S. 1 (»Ostern«, ein Gedicht im Natur- und Befreiungspathos des Freireligiösen Ludwig Würkert); Braunschweiger Volksfreund 16.4.1876 Nr.90 S.l (im »Ostern«-Leitartikel die Aufforderung, »offen und ganz mit jedem Kirchenthum« zu brechen); Chemnitzer Freie Presse 4.6.1876 Nr. 128 S. 1 (»Das Pfingstfest.«: Es »[... ] ladet den Freidenker in die heiligen Tempelhallen der Natur« ein); ebd. 1.4.1877 Nr.77 S.l (»Ostern«: antiklerikal und ohne jeden Bezug auf einen vorbildlichen Jesus); Westfälische Freie Presse 20.4.1878 (naturmystisches Gedicht »Ostermorgen im Walde« aus dem freireligiösen bzw. freidenkerischen Organ »Kiemichs Blätter«); Sozialdemokrat 18.12,1884 Nr.51 S.l (»Die Religion der Armen. Zum Weihnachtsfest«: radikale Christentumskritik); Berliner Volksblatt 24.5.1885 Beilage zu Nr.119 S.l (»Zum Pfingstfeste«, aus den freireligiösen »Freien Glocken«; Betonung von Pfingsten als Tag der Ruhe und Muße); ebd. 1.4.1888 Nr.78 S.lf. (»Ostern!«, freigeistiger Natur- und Fortschrittsglauben); Sozialdemokrat 23.12.1888 Nr.52 S.l (»Krieg auf Erden. Eine Weihnachtsbetrachtung«: polemisch antireligiös).

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die sozialdemokratischen Festbetrachtungen und -gedichte jedoch den Gedanken einer Verwirklichung der christlichen »Idee« (jenseits aller christologischen und trinitarischen Dogmatik) durch den Sozialismus der Gegenwart auf! Der lassalleanische »Neue Social-Demokrat« hob 1872 in seiner Karfreitagsbetrachtung hervor: »Den Todestag des großen Nazareners dürfen wi r Socialisten auch für uns als einen G e denktag bezeichnen. [...] die Anzeichen sind vorhanden, daß die A r m e n selbst in rühtiger Auffassung der Lehren des großen Nazareners auf Erden schon das Reich der M e n s c h e n liebe, der Gerechtigkeit und Gleichheit aufbauen w e r d e n . Die heutigen Pharisäer u n d Schriftgelehrten hetzen n u n auch fortwährend gegen die Vertreter dieser richtigen Auffassung j e n e r großen Lehre, doch ist es j e t z t bald schwer einen b e s t o c h e n e n u n d besoffenen Pöbel· z u m M i t b r ü l l e n zu erhalten - das arbeitende, arme Volk fängt an, zum Bewußtsein seiner selbst zu gelangen - und so mögen die Schriftgelehrten und Reichen nur getrost w e i t e r hetzen. E r w ä r m e n u n d begeistern w o l l e n w i r u n s aber an d e r Heldengestalt eines großen M a n n e s , der schon in j e n e r dunklen Zeit für eine welterlösende Idee in den Kreuzestod ging.« 268 Eine wachsende Distanz zum christlichen Modell signalisierte hingegen die Diskursfigur der Überbietung des überkommenen Christentums durch den Sozialismus oder die Deutung des Sozialismus als Religion in den Festartikeln.269 Wenn aber die Weihnachtsbetrachtung des »Crimmitschauer Bürgerund Bauernfreundes« 1874 das Bekenntnis zur Sozialdemokratie als Erfah268 NeuerSocial-Demokrat29.3.1872 Nr.38S.1. Vgl. auch Dresdner Volksbote 12.4.1871 Nr.7 S.l (»Ostern«); Neuer Social-Demokrat 31.3.1872 Nr.39 S.4 (»Osterlied«, ein Gedicht von Wilhelm Hasenclevcr);ebd. 19.5.1872 Nr.58 S.2 (»Pfingsten«); Fürther Demokratisches Wochenblatt 12.4.1873 Nr. 15 S.2f. (»Charfreitag«); Nürnberg-Fürther Social-Demokrat 24.12.1874 Nr. 103 S. 1 (im Zentrum eines Gedichtes »Weihnachten« Jesus als erster Sozialist); Sozialdemokratische Lieder, S.68-70 (»Pflngstlied« von Hermann Greulich); Nürnberg-Fürther Social-Demokrat 31.3.1877 Nr.42 S.l (»Ostern«). Der Eisenacher »Volksstaat« griff vor 1875 die christlich-sozialistische Tendenz in den Festbetrachtungen der Lassalleaner mitunter scharf an, so im Volksstaat 19.4.1873 Nr.32 S.2. Unter dem Sozialistengesetz waren es dagegen staatliche Behörden, die die christliche Begründung des Sozialismus inkriminierten. So bestätigte die »Reichs-Commission« 1879 das Verbot der Zeitung »Berlin«, einer nur kurz bestehenden sozialdemokratischen Presseunternehmung, und begründete dies mit dem Versuch eines weihnachtlichen Leitartikels,»[...] das Proletarierelend im allgemeinen in grellsten Farben zu schildern und durch die Verdächtigung, als ob der Reichtum des Kapitalisten mit dem Gebote christlicher Nächstenliebe nicht vereinbar sei, in rein materialistischer Auffassung der christlichen Erlösungslehre die Ungleichheit des Besitzes irdischer Güter als ungerecht darzustellen und auf diese Weise den von der Sozialdemokratie systematisch geschürten Klassenhaß indirekt sogar vom religiösen Standpunkt aus zu rechtfertigen [...].« Stern, Kampf Bd.1, S.97. 269 Siehe z.B. Nümberg-Fürther Social-Demokrat 24.12.1874 Nr.103 S.l (Artikel »Weihnachten«: »Wie einst von armen Fischern, geht heute ein neues Evangelium in die Welt, getragen ebenfalls wieder von den Enterbten, den Unterdrückten; aber nicht mehr auf >Götter