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German Pages 124 Year 1992
ROLF KRAM ER
Soziale Gerechtigkeit - Inhalt und Grenzen
Sozialwissenschaftliche Schriften Heft 18
Soziale Gerechtigkeit Inhalt und Grenzen
Von
Rolf Kramer
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kramer, Rolf: Soziale Gerechtigkeit : Inhalt und Grenzen / von Rolf Kramer. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Sozialwissenschaftliche Schriften; H. 18) ISBN 3-428-07343-6 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Gennany ISSN 0935-4808 ISBN 3-428-07343-6
Einleitung Die Vorstellung von Gerechtigkeit hat die Menschheit immer schon bewegt. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist in seiner konkreten Ausprägung eine modeme Gestalt. Eine Stufe auf dem Weg zur Ausgestaltung der sozialen Gerechtigkeit ist in Ulpians Wort vom suum cuique zu sehen. Soziale Gerechtigkeit wurde verstanden als Verhältnis, Ordnung oder auch als Recht, das "jedem das Seine" gibt. So hat es den mittelalterlichen Menschen bestimmt. Die enge und unmittelbare Verknüpfung zwischen dem Attribut sozial und dem Substantiv Gerechtigkeit ist erst sehr spät erfolgt. Das liegt daran, daß in einem strengen Sinne Gerechtigkeit immer schon als sozial verstanden wurde. Denn sie unterstellt von vornherein "eine Beziehung zwischen mehreren Subjekten" 1. In der Mitte des 19. Jahrhhunderts kam dann die engere Verknüpfung des Begriffs von der sozialen Gerechtigkeit auf. Die Italiener Luigi Taparelli, Lehrer des späteren Papstes Leo XIII., und auch Antonio Rosmini, Theologe und Philosoph, haben sich dieses Ausdrucks bedient. Rosmini will das soziale Recht als soziale Gerechtigkeit im Sinne eines Ordnungsprinzips verstanden wissen. Danach hat sich jede Gesellschaft - also nicht nur die bürgerliche Gesellschaft - zu richten. Taparelli ging es bei diesem Begriff um die Gerechtigkeit von Menschen gegenüber anderen Menschen. Er verstand unter ihr den gerechten Ausgleich zwischen den Menschen, "von denen jeder möglichst frei und ungehindert seinem personalen Ziel" nachstrebt 2 • Aber der einzelne soll dadurch nicht isoliert werden. Er wird vielmehr mit anderen zusammen in einer Gemeinschaftsordnung gesehen. Taparelli wollte so das individuelle Wohl neben dem Gemeinwohl berücksichtigen. Andererseits war man auch der Meinung, daß jede Gerechtigkeit gar nicht anders als sozial sein könnte 3. Daß die soziale Gerechtigkeit jedoch durch die Sozialpolitik vielfach inhaltlich bestimmt wird, hat dann erst eine spätere Zeit, insbesondere unser Jahrhundert, so gesehen. Für die Gegenwart stellt sich die soziale Gerechtigkeit als eine Ordnung dar, die durch das soziale und wirtschaftspolitische Handeln des Staates und der Gesellschaft erst zu schaffen ist. Bedingt durch viele Ordnungssysteme wird der Begriff der sozialen Gerechtigkeit allerdings ganz unterschiedlich gefüllt. 1 Giorgio Dei Vecchio, Die Gerechtigkeit, Basel 21950, S. 40, Anm. 15 (Abkürzung: Vecchio). 2 Arthur Fridolin Utz, Sozialethik, Heidelberg, Löwen 21964, S. 215. 3 Vgl. Vecchio, S. 40, Anm. 15.
Einleitung
6
Wer heute soziale Gerechtigkeit fordert, will oft gar nicht Gerechtigkeit, sondern vielmehr eine Umverteilung, eine bessere, eine gerechtere Verteilung der Güter. Darum werden Neuverteilung oder Zuteilung der Güter zu Inbegriffen der sozialen Gerechtigkeit. Provokativ klingt es, wenn gegenüber der sozialen Gerechtigkeit diese Unterscheidung gemacht wird: Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat das ist christliche Barmherzigkeit. Wer drei Röcke besitzt, gebe dem, der einen hat - das ist soziale Gerechtigkeit. Aber damit wird die ganze Not bei der Definition umschrieben 4 ! Vielfach hofft man, mit der Umverteilung der Güter die Armut im eigenen Volk und in der Welt bekämpfen zu können. Denn die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit soll helfen, das inländische und weltweite Wohlstandsgefälle abzubauen, die Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die Unterschiede zwischen arm und reich zu überwinden. Zugleich glaubt man, mit der Beifügung des "Sozialen" zur Gerechtigkeit, auch das Attribut "Sozial" in der Marktwirtschaft auszufüllen. Denn auch hier geht es um die Absicherung der Schwächeren und um eine Umverteilung zu Gunsten der sekundären Einkommensbezieher. Die soziale Gerechtigkeit steht immer in der Nähe von staatlicher Tätigkeit. Aber die Frage stellt sich, wie weit der Staat eingreifen darf oder muß, wenn es um die Erfüllung der sozialen Gerechtigkeit geht. Schließlich bleibt ständig die Gefahr, daß aus der Marktwirtschaft bei "zuviel" Staat eine Zentralverwaltungswirtschaft wird. Eine besondere Schwierigkeit stellt sich ein, wenn eine allgemeine Ausfüllung des Sozialen versucht wird. Im Laufe der Geschichte hat sich, wie zu zeigen sein wird, keine allgemeinverbindliche und langfristig gültige Gestalt des Sozialen ergeben. Immer wieder wird versucht, zwischen sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit einen engen Zusammenhang herzustellen. Vielfach soll mit der sozialen Gerechtigkeit auch nichts anderes erzielt werden als Gleichheit unter den Menschen in materieller und immaterieller Hinsicht. Diesem Traum ist vieles entgegenzuhalten. Schließlich gilt es, den Begriff der sozialen Gerechtigkeit von dem der Liebe abzugrenzen und die Beziehung beider näher zu klären. Denn soziale Gerechtigkeit kann nicht einfach mit dem, was Liebe will, gleichgesetzt werden, auch wenn es manches Mal so scheinen mag. Viele mehr oder weniger unterschiedlichen Interpretationen bieten sich bei der Erörterung der sozialen Gerechtigkeit an. Einige von ihnen sollen auf Grund 4
Vgl. Johannes Groß, in: FAZ-Magazin vom 28. März 1991.
Einleitung
7
der biblische Überlieferungen, der Erörterungen bei Aristoteles, Thomas von Aquin, in der katholischen Soziallehre und in den ökumenischen Verlautbarungen abgehandelt werden. Auch Ökonomen und Sozialwissenschaftler wie von Hayek, Rawls, Nozick und Buchanan sollen mit ihren einander stützenden oder widersprechenden Standpunkten bei der Definition der sozialen Gerechtigkeit zu Wort kommen. Allen Bemühungen ist eins gemeinsam: Wie kann die soziale Gerechtigkeit inhaltlich definiert werden, wenn es denn nicht bei einem einfachen Schlagwort bleiben soll? Zum Schluß möchte ich mich herzlich bedanken, zunächst bei dem Verlag, daß er auch dieses Mal wieder das Buch in seinen "Sozialwissenchaftlichen Schriften" aufgenommen hat, sodann bei dem langjährigen treuen Freund, Dipl.Ing. Horst Plath, daß er erneut bereit war, die Korrektur zu lesen.
Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit 2. Kapitel Der GerechtigkeitsbegrifT in der Bibel I. Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament ...................................
20
1. Definitionsprobleme .......................................................
20
2. Gerechtigkeit als Verhältnisbegriff .......................................
21
3. Die Gerechtigkeit unter den Menschen ...................................
23
4. Die Gerechtigkeit Gottes ..................................................
24
11. Der Gerechtigkeitsbegriff im Neuen Testament .............................
25
1. Definitorische Abgrenzungen .............................................
25
2. Die Gerechtigkeit Gottes bei Paulus ......................................
26
3. Die Gerechtigkeit in den nicht-paulinischen Briefen ....................
28
3. Kapitel Der GerechtigkeitsbegrifT bei Aristoteles I. Die gesetzliche Gerechtigkeit ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
11. Die iustitia commutativa und die iustitia distributiva .......................
31
III. Die Lehre von der oikonomia ................................................
34
IV. Anwendung ....................................................................
37
4. Kapitel Die soziale Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin I. Gemeinwohlgerechtigkeit und Einzelgerechtigkeit ..........................
40
Inhaltsverzeichnis
10 11. Die Einzelgerechtigkeit
41
1. Iustitia commutativa und distributiva bei Thomas .......................
41
2. Das Verhältnis von Gemeinwohl- und Partikulargerechtigkeit ..........
42
III. Die Aufnahme des Gerechtigkeitsgedankens in der katholischen Sozialethik
45
5. Kapitel
Die Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre I. Leo XIII. .......................................................................
46
11. Pius XI. ........................................................................
47
111. Pius XII. .......................................................................
50
IV. Johannes XXIII. ......................................................... ......
51
V. Paul VI. und das 2. Vatikanische Konzil ....................................
53
VI. Die Römische Bischofssynode von 1971 (De iustitia in mundo) ..........
55
VII. Johannes Paul 11. ..............................................................
56
VIII. Das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit im Hirtenbrief der amerikanischen Bischöfe ................................................................
59
6. Kapitel
Soziale Gerechtigkeit im ökumenischen Horizont 1. Die Denkschrift von 1973 ....................................................
61
11. Das Memorandum der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungsfragen (GKKE) anläßlich der UNCTAD IV 1976 ....................
63
III. Die Rede von der sozialen Gerechtigkeit in der Ökumene .................
64
IV. Zusammenfassung und Vergleich mit der katholischen Stellungnahme ...
66
7. Kapitel
Friedrich August von Hayeks Stellung zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit 1. Das Verhältnis von Ordnung und Organisation.............................
68
11. Die Katallaxie .................................................................
69
Inhaltsverzeichnis
II
III. Der Umgang mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit
72
IV. Konsequenzen.......... ............................................... . .......
73
8. Kapitel
Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls I. Fairneß und Gerechtigkeit ....................................................
76
II. Der "Urzustand" in der Rawls'schen Theorie...............................
77
1. Die Vernünftigkeit der Vertrags partner ...................................
78
2. Die Gleichheit der Menschen .............................................
78
3. Der "Schleier des Nichtwissens" .........................................
78
4. Das gegenseitige Desinteresse ............................................
79
5. Die Grundsätze haben Verbindlichkeitscharakter ........................
79
III. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit ...................................
79
IV. Universalistischer und individualistischer Ansatz ...........................
82
V. Die Verteilungsgerechtigkeit .................................................
84
VI. Konsequenzen.................................................................
84
9. Kapitel
Die Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei Robert Nozick I. Der Minimal- und Ultraminimalstaat ........................................
86
II. Die Anspruchstheorien ........................................................
87
III. Die Verteilungsgerechtigkeit .................................................
88
IV. Rawls' und Nozicks Gerechtigkeitsvorstellung -
91
Ein Vergleich..........
10. Kapitel
James Buchanans Verfassungsmodell I. Die Elemente des Verfassungsmodells .......................................
93
1. Der Konstitutionalismus ...................................................
93
2. Individualistische und demokratische Struktur ...........................
94
3. Der vertragstheoretische Ansatz ..........................................
95
12
Inhaltsverzeichnis H. Der Mensch in einer geordneten Anarchie und im Rechtsschutzstaat
95
IH. Der Leistungsstaat .............................................................
97
IV. Die Vertragstheorie ...........................................................
98
1. Der ursprüngliche Ansatz .................................................
98
2. Der Status quo des Gesellschaftsvertrages und seine Veränderungen ..
98
3. Buchanans Einstellung zur Ethik .........................................
99
V. Ein Vergleich zwischen Buchanan, Nozick und Rawls .....................
100
11. Kapitel
Soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft I. Die soziale Gerechtigkeit als Nonnbegriff ..................................
102
11. Die Marktwirtschaft ...........................................................
103
III. Staatliche Sozialpolitik ........................................................
104
IV. Das Verhältnis von Sozialer Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit.
106
12. Kapitel
Rückblick und Ausblick Literaturverzeichnis ............................................................
120
1. Kapitel
Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit Leistung und soziale Gerechtigkeit stehen in einem engen Zusammenhang. Die soziale Gerechtigkeit strebt einen Zustand von Gerechtigkeit an. Die Leistung und das mit ihr verknüpfte Prinzip will helfen, diesen Zustand zu erreichen. Denn ihr Ziel ist es, unterschiedliche Gerechtigkeitsentwicklungen auszugleichen. Allerdings wird der Leistungsbegriff in unterschiedlicher Weise benutzt 1. In unserem Zusammenhang soll unter Leistung ein zielgerichtetes und erfolgreiches Handeln verstanden werden. Um den Begriff des Erfolgreichen einer individuellen Bewertung zu entheben, wird eine Handlung als erfolgreich angesehen, wenn sie auch dem Maßstab eines Dritten entspricht. Mit dieser Bewertung ist sowohl das Produkt einer Leistung gemeint wie auch die Handlung selbst 2 • Nachdem der Begriff einer "Leistungsgesellschaft" in der Gegenwart alle Lebensbereiche einer Gesellschaft durchdrungen hat, scheint die Leistung als Prinzip "ob lediglich als ideale Norm oder auch in der Realität der sozialen Beziehungen, als regulierendes Prinzip sämtliche Teilkulturen der Industriegesellschaft erfaßt zu haben" 3. Durch das Leistungsprinzip sollen der freie Austausch von Leistung und Gegenleistung gewährleistet werden. Dadurch soll jeder das bekommen, was ihm zusteht. "Das Leistungsprinzip impliziert das Prinzip der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung. Jede Arbeit soll ihren Lohn erhalten"4. Aufgrund des Leistungswettbewerbs sollen die jeweils beste Leistung erzielt und damit die Ressourcen einer Gesellschaft optimal genutzt werden. "Das Leistungsprinzip impliziert damit das Produktivitäts- und Fortschrittsprinzip"5. Das Leistungsprinzip erteilt jedem den Platz in der Gesellschaft, den er aufgrund des Ausgleichs von Leistung und Gegenleistung verdient. "Das Leistungsprinzip erfüllt damit die wichtige Statuszuweisungsfunktion"6. "Das Leistungsprinzip, das jeden anreizt, im Konkurrenzkampf diejenigen Fähigkeiten optimal zu entwickeln, die seiner ,Persönlichkeit' und seinen ,Begabungen' adäquat sind, bewirkt die rationalste Zuordnung von Positionen und Personen, erfüllt die soge1 Günter Hartfiel, Das Leistungsprinzip, Opladen 1977, S. 7 ff. (Abkürzung: Hartfiel); Vgl. Rat der EKD (Hrsg.) Denkschrift: Leistung und Wettbewerb, Gütersloh 78, Z. 15 ff. 2 Hartfiel, S. 8 ff. 3 Hartfiel, S. 17. 4 Hartfiel, S. 18. 5 Ebda. 6 Ebda.
14
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
nannte Allokations/unktion "7. Aber das Leistungsprinzip steht bei seiner Zuordnung und Verteilung von Positionen, sozialem Status und Personen nicht allein. Es steht mit anderen Prinzipien in Konkurrenz. Man kann gar fragen, ob das Leistungsprinzip überhaupt in der industriellen Gesellschaft das vorherrschende Prinzip ist 8 • Denn es steht in starker Gegnerschaft zum Sozial-, Herkunfts- oder Geburts-, Alters- und Ideologieprinzip. a) Das Sozialprinzip Es ist entstanden aus den Defiziten, die das Leistungsprinzip hinterlassen hat. Gleichheit, Brüderlichkeit und sozialer Ausgleich sind durch das Leistungsprinzip defizitär geblieben. Das Prinzip einer Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung kann solche humanen Ordnungsprinzipien nicht einlösen. Das Sozialprinzip dagegen ist das, das leistungsunabhängig die Mittel für die existentiellen Bedürfnisse zuteilt 9. Das Sozialprinzip weist darauf hin, daß der einzelne sich nicht durch Eigenleistung vor sozialen Schicksalsschlägen schützen kann. Massenarbeitslosigkeit, Geldwertinstabilität oder Umweltkatastrophen können für ihn Schicksalsschläge bedeuten, die er nicht durch entsprechende Leistungen auffangen kann. Darum werden Kollektive und solidarische Sicherheit gefordert. "Die Konsequenz daraus sind leistungsunabhängige Soziallohnanteile" 10. b) Das Herkunfts- oder Geburtsprinzip Das Leistungsprinzip hat die Verteilung von gesellschaftlichen Positionen nach Maßgabe der familiären oder ständischen Herkunft heute weitestgehend besiegt. Es hat die Form der mittelalterlichen Standes- und vorindustriellen Gesellschaft abgelöst. Freilich lebt es auch noch weiter, wenn aufgrund von Hautfarbe, Rasse und Geschlecht Diskriminierungen vorgenommen werden. c) Das Altersprinzip Es ist dem Leistungsprinzip ebenfalls gewichen. Allerdings wird heute gegenüber dem Alter mit seinem Erfahrungsschatz und seiner Verläßlichkeit der Jugend mit ihrer höheren Aufnahmekapazität und ihrem schnelleren Reaktionsvermögen Vorrang eingeräumt. Dennoch gibt es auch in der industriellen Welt heute noch Bereiche, in denen aufgrund von Betriebszugehörigkeit, Dienst- und Lebensalter Gehaltssteigerungen und Beförderungen geradezu "ersessen" werden 11. Ebda. Hartfiel, S. 21. 9 Ebda. 10 Hartfiel, S. 22. 11 Hartfiel, S. 23. 7
8
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
15
d) Das Ideologieprinzip Dieses Prinzip begünstigt denjenigen, der sich der betreffenden "Ideologie" ein- oder unterordnet. Es wird meistens nicht nach echter Gesinnung gefragt, sondern nur nach einer äußeren Identifikationsbereitschaft und Solidarität, die dann zum Maßstab für die Zuteilung von Privilegien führt 12. Damit ist nichts gegen eine von Organisationen und Unternehmen geforderte Bereitschaft zur Übernahme von Zielen und Inhalten des Unternehmens gesagt. Das Ideologieprinzip ist dann ein verwerfliches Mittel, wenn Loyalität und Identifikationsbereitschaft als alleinige oder wesentliche Größe für die Zuordnung von Lohn, Privilegien benutzt wird. Aufgrund dieser Abgrenzungen ist es deutlich geworden, daß heute das Leistungsprinzip in der postindustriellen Gesellschaft zum haupsächlichsten Faktor bei der Einkommensverteilung geworden ist. Aber ob es sich als Zuteilungsprinzip als "gerecht" erweist, ist nicht von vornherein gegeben. Zwar soll das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung im Sinne einer Äquivalenz einander entsprechen; aber es wird ja nicht nur die Anstrengung im Unternehmen, sondern auch das Talent und die Fähigkeit belohnt. Angeborene Talente und Fähigkeitsunterschiede werden vom Leistungsprinzip nicht ausgeglichen oder gerecht und billig eingeebnet 13.
In einer Marktwirtschaft jedoch, in der jeder einzelne über seinen Anteil an der Einkommensverteilung aufgrund seiner Leistung selbst entscheiden kann, da es um eine Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung geht, werden die Einkommen der Leistung entsprechend verteilt. Wer im Produktionsprozeß dann nicht mithalten kann, wird von ihm auch nicht bedacht 14. Wie bereits ausgeführt, ist das Leistungsprinzip nur eines von verschiedenen Zuweisungsprinzipien. Es gibt schließlich auch begründete Einwendungen gegen das Leistungsprinzip. Einer der entscheidenden Punkte liegt darin, daß die Bewertung der Leistung nicht nach dessen Anstrengungen erfolgt, sondern danach, wie groß die Zahl der Anbieter ist, und wie stark die Nachfrager sind 15. Das Leistungsprinzip allein kann so nicht zu einer sozial ausgeglichenen und gerechten Gesellschaftsordnung führen. Außerdem wäre eine "perfekte Leistungsgesellschaft" eine "unmenschliche Gesellschaft" 16. Deshalb formuliert Günter Hartfield, der Herausgeber des Buches "Das Leistungsprinzip": "Wir befinden uns mit dem Leistungsprinzip offenbar zwischen der Szylla und der Charybdis gesellschaftlicher Ordnung. Machen wir es zum alles leitenden Prinzip, garantieren wir bei den schwachen und starken Mitgliedern der Gesellschaft psychische Verelendung 12
13 14 15
16
Ebda. Heinz Heckhausen, Leistung und Chancengleichheit, Göttingen 1974, S. 60. Der Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1975, Bonn, Ziff. 281, s. unten Kap. 11. Der Sachverständigenrat, Jahresgutachten 1975, Ziff. 282, s. unten Kap. 11. Hartfiel, S. 42.
16
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
und sozialmoralisch unverantwortliche Ungleichheiten, Privilegien und Notlagen. Schaffen wir das Prinzip ab, dann haben wir vorerst keine praktische Alternative" 17. Zwischen dem Leistungsprinzip mit den dadurch hervorgerufenen Ungleichheiten und einem sozialen Ausgleich, der Gerechtigkeit und Billigkeit schafft, muß in einer Gesellschaft langfristig ein harmonischer Ausgleich erzeugt werden. Dabei stellt sich selbstverständlich die Frage, was denn für den Menschen als recht und gerecht anzusehen ist. Arthur Rich will aus dem Zusammenspiel von sieben Kriterien 18 "normative Anhaltspunkte für das in der gesellschaftlichen Gerechtigkeit zu konkretisierende Menschengerechte" 19 ableiten. Für ihn gehören dazu: -
Geschöpflichkeit: das Grundkriterium des Menschlichen,
-
kritische Distanz: kein System kann Letztgültigkeit für sich verbuchen,
-
relative Rezeption: das Relative muß wirklich als Relatives gesehen und darf nicht als Letztgültiges verstanden werden, Relationalität: der Umgang mit den ethischen Werten und Tugenden muß als relativ angesehen werden,
-
Mitmenschlichkeit: des Menschen Menschlichkeit ist in seiner Geschöpflichkeit verankert; seine Humanität besteht in einem dialogischen Miteinander mit anderen Menschen,
-
Mitgeschöpflichkeit: der Mensch steht in einer Schicksalsgemeinschaft mit der übrigen Schöpfung,
-
Partizipation: dieses Kriterium bedeutet "Teilhaben können aller Beteiligten oder Betroffenen an dem durch diese Strukturen begründeten Mächten, Rechten, Befugnissen und Gütern"20.
Rich weist darauf hin, daß seine sieben Kriterien "weder einzeln noch in ihrem Gesamtzusammenhang schon einen operationablen Begriff von gesellschaftlicher Gerechtigkeit" ergeben 21. Sie zeigen nur auf, daß bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, damit man - jedenfalls von seiten des Glaubenden aus - von einer sozialen Gerechtigkeit sprechen kann. Eine gesellschaftliche Gerechtigkeit verteilt, was dem einzelnen zusteht oder worauf er einen Anspruch hat. Sie ist von der Liebe unterschieden, denn diese ist dadurch gekennzeichnet, daß sie nicht auf sich, sondern auf den anderen sieht 22 . In diesem Sinne tut sie anderes als Gerechtigkeit; denn sie gibt das, worauf der andere weder einen Anspruch noch ein Recht hat 23 . Die Liebe ist immer persönlich und will nicht sachbezogen 17
18 19 20 21 22
Hartfiel, S. 43. Artur Rieh, Wirtschaftsethik, Bd. 1, Gütersloh 1984, S. 173 ff. (Abkürzung: Rieh). Rieh, S. 172. Rieh, S. 197. Rich, S. 201. Rieh, S. 202.
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
17
sein. "Wir können zwar von der Gerechtigkeit eines Gesetzes oder einer Ordnung sprechen, nicht aber von der Liebe einer Ordnung, von einem gerechten, nie aber von einem liebevollen Gesetz"24. Die Liebe kann nicht an die Stelle der Gerechtigkeit treten und ihre Funktion übernehmen 25 . Zwischen beiden besteht ein qualitativer Unterschied. Im Personen-Verhältnis ist Liebe und nicht Gerechtigkeit das Höchste 26. Die Liebe fördert die zwischenmenschlichen Beziehungen, indem sie nicht das Ihre sucht, sondern dem anderen vom Eigenen gibt 27 . Gerechtigkeit und Liebe stehen nicht in einem Gegensatz zueinander. Man kann eher von einer Ergänzung beider sprechen. Aber einer einfachen Verknüpfung beider, wie sie etwa Emil Brunner vornimmt, muß, wie noch zu zeigen sein wird, ebenfalls widersprochen werden. Am ehesten bietet sich noch eine Korrelation an, die zum einen den Gegensatz bzw. die strikte Trennung beider meidet und zum anderen die jeweilige Eigenständigkeit berücksichtigt 28 . Ist von der sozialen Gerechtigkeit die Rede, wird vielfach das richtige ,,zuteilen" dessen, was einem zusteht, gemeint sein. "In diesem Sinne sprechen wir von einem gerechten Lehrer oder Kritiker, wenn er unparteiisch ist; von einem gerechten Steuergesetz, wenn es Lasten richtig verteilt; von einer gerechten Staatsordnung, wenn durch sie Pflichten und Rechte der Bürger untereinander und das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten richtig bestimmt sind. In diesem Sinne sprechen wir von gerechtem Lohn und gerechter Strafe, von gerechter und ungerechter Güterteilung, von gerechten Gesetzen, gerechter oder ungerechter sozialer Ordnung usw." 29. Diesen Begriff der Gerechtigkeit will Emil Brunner der Ethik der Ordnungen oder der Institutionen vorbehalten 30 . Aber es stellt sich die Frage, ob die gerechte Zuteilung, die das einzelne Individuum einem anderen gegenüber vornimmt, statt sie der Institutions- oder Ordnungsethik zuzuweisen, nicht gerade in die Personenethik gehört. Denn auch die Gerechtigkeit hat es mit der ganzen Person und nicht nur mit Teilen der einzelnen Glieder am sozialen Ganzen zu tun 31 . Brunner dagegen ist der Meinung, daß der Begriff der Gerechtigkeit die unpersönlichen Beziehungen eines "sozialen Ganzen" regelt 32 . Aber haben nicht die von Brunner selbst beigebrachten Beispiele gezeigt, daß es bei der Anwendung des Begriffs gerecht oder ungerecht um eine ganz 23 24 25 26
Emil Brunner, Gerechtigkeit, Zürich 1943, S. 20 (Abkürzung. Brunner). Brunner, S. 19. Rich, S. 202. Vgl. Brunner S. 19; etwas anders Tillich, Sein und Sinn, Ges. Werke, Bd. XI, Stuttgart 1969, S. 188. 27 Brunner, S. 20. 28 Vgl. Theodor Herr, Zur Frage nach dem Naturrecht im deutschen Protestantismus der Gegenwart, München, Paderbom, Wien 1972. 29 Brunner, S. 16. 30 Brunner, S. 24. 31 Gegen Brunner, S. 24. 32 Brunner, S. 24. 2 Kramer
18
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
persönliche Entscheidung geht? Brunner rechnete durchaus auch die Gerechtigkeit dem persönlichen Verhältnis zu. Nur wird für ihn die Liebe "persönlicher" als die Gerechtigkeit gedacht 33 • Dennoch gilt, daß die soziale Gerechtigkeit vor allem in die Ethik der Institutionen und der Ordnungen gehört. Der einzelne erhält von der Gesellschaft das ihm Zustehende, das ihm Eigene. Die Gestalt der sozialen Gerechtigkeit wird in der Deutung Ulpians besonders erkennbar. Er sprach davon, daß Iustitia est perpetua et constans voluntas ius suum cuique tribuendi (Die Gerechtigkeit ist der dauernde und feste Wille, jedem sein Recht zuzuerkennen)34. Diese Deutung ist von der katholischen Soziallehre aufgenommen worden. Sie wirkt bis heute nach. Bei dem suum cuique geht es aber nicht darum, daß alle dasselbe erhalten sollen, sondern vielmehr wird dem einzelnen das zuerkannt, was ihm eigen ist. In der sozialen Gerechtigkeit wird nicht nur das Verhältnis des einzelnen Menschen gegenüber dem Ganzen geregelt, sondern auch das Verhältnis von Gruppen und Völkern zum Ganzen der Welt. Immer stellt die soziale Gerechtigkeit einen Verhältnisbegriff dar, der sich nicht nach den von ihm selbst vorgegebenen, sondern vielmehr von außen herangetragenen Kriterien richtet. Denn es steht nicht von vornherein fest, was Inhalt der Gerechtigkeit ist. Insofern eignet der Gerechtigkeit auch keine Kontinuität. Vielmehr ist sie jeweils von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Generation zu Generation, von Zeit zu Zeit neu zu bestimmen. Sie ist als variabel anzusehen 35. "Wohl heißt ,jedem das Seine' nicht ,jedem das Gleiche'" und doch besteht zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit ein enger Zusammenhang 36. Bereits Aristoteles hat die enge Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Gleichheit gesehen, als er zwischen der' austeilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit unterschied. Bei der ausgleichenden Gerechtigkeit herrscht die arithmetische Proportion, jeder erhält seinen Teil, wenn er Gleiches bekommt. In der austeilenden Gerechtigkeit herrscht die geometrische Proportion. Wo also Gerechtigkeit zur Debatte steht, da ist auch die Frage der Gleichheit, entweder als ausgleichende oder als austeilende, mit zur Stelle. Insofern hat die Gerechtigkeit eine "unaufgebbare Affinität zur Idee der Gleichheit" 37. Aristoteles hat die arithmetische Gleichheit mit ihrer ausgleichenden Gerechtigkeit ins Privatrecht verwiesen; die proportionale Gleichheit dagegen betrifft das öffentliche Recht, "wo es sich um bürgerliche Personemechte" handelt 38 •
33 34
35
36 37 38
Bmnner, S. 19. Vgl. Bmnner, S. 20 und Vecchio, S. 60. Vgl. Rieh, S. 203. Bmnner, S. 29. Rieh, S. 203, vgl. Bmnner, S. 40. Bmnner, S. 33 f., vgl. Kap. 3.
1. Kap.: Die Verteilungsprinzipien und die soziale Gerechtigkeit
19
Nun zeigt es sich, daß die Menschen nicht nur gleich, sondern auch von einer Ungleichheit gekennzeichnet sind. Dazu schreibt Brunner etwa: "Gleich sind die Menschen durch die gleiche Bestimmung und Würde, gleich sind sie darin, daß ein jeder selbst Gott verantwortlich ist, gleich ist darum ihr Recht, als Person anerkannt zu werden" 39. Damit ist jedoch auch verbunden ihre "Ungleichheit der Art und Funktion"4o. In der Idee der Gerechtigkeit ist primär allerdings die Gleichheit und das gleiche Recht aller verankert; sekundär bleiben daneben die Unterschiede der Menschen selbstverständlich erhalten. Das, was allgemein von der Gerechtigkeit und ihrem Verhältnis zur Gleichheit zu sagen ist, gilt in besonderer Weise selbstverständlich auch von der sozialen Gerechtigkeit und ihrem Verhältnis zur Gleichheit. Indessen muß in diesem Zusammenhang gesehen werden, daß allein das Christentum "die Gleichheit wie die Ungleichheit der Menschen zur Geltung bringt und die Selbständigkeit des einzelnen zugleich mit seiner Unterordnung und ein soziales Ganzes im Gotteswillen verankert weiß"41. Soziale Gerechtigkeit steht schließlich mit der Freiheit in einem engen Zusammenhang. Nach biblischem Verständnis gehört der Mensch seinem Schöpfer und ist darum nicht frei. Er ist einerseits an diesen -gebunden, aber doch andererseits gleichzeitig frei für den Mitmenschen. In dieser Polarität von Bindung und Freiheit lebt der Christ. Insofern ist der Mensch frei nicht von etwas, sondern für den anderen. Nur mit diesem freien Menschen will Gott Gemeinschaft haben 42. Eine solche Freiheit ist etwas anderes, ja mehr als nur das Vorhandensein bestimmter Freiheiten, die man besitzt. Eine solche Freiheit liegt oberhalb der Gerechtigkeit 43 und damit oberhalb der Sphäre, da es um gerecht oder ungerecht geht. In der Freiheit des Glaubens wird nicht etwas zugeteilt. "Hier geht es vielmehr um die Person selbst, nicht um die Person-im-Gefüge"44. Freiheitsrechte indessen, die im Rahmen der sozialen Gerechtigkeit zu verwirklichen sind, sind nicht unmittelbar aus der Freiheit des Glaubens abzuleiten. Sie betreffen etwa die Verwendung des Eigentums, die Entlohnung für geleistete Arbeit und Dienste, die Freiheit der Berufswahl oder den Anspruch auf Ausgleich bei sozialer N0t.
39 40 41 42 43 44 2*
Brunner, Ebda. Brunner, Brunner, Ebda. Brunner,
S. 51. S. 54. S. 66. S. 67.
2. Kapitel
Der GerechtigkeitsbegritT in der Bibel I. Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament 1. Definitionsprobleme In der Forschung über den Gerechtigkeitsbegriff im Alten Testament stehen sich zwei Gruppen von Theologen gegenüber. Die einen, von E. Kautzsch angeführt, verstehen den Begriff der Gerechtigkeit (zdk und zdakah) als "Normgemäßheit" I. Die hebräischen Wörter bezeichnen danach "die einer objektiven Norm entsprechende Beschaffenheit" von Dingen, Reden, menschlichem Tun oder die durch eine bestimmte Norm geregelte Art und Weise des Verhaltens der Menschen wie auch Gottes "und schließlich (in späteren Texten) eine Eigenschaft oder vielmehr eine bestimmte Zuständigkeit des Menschen" 2. Gegen diese Definition der Gerechtigkeit im Alten Testament als Normgemäßheit hat sich die andere Gruppe gewandt, nach der Gerechtigkeit ein Verhältnisbegriff ist. Das Verhältnis wird verstanden zwischen einem realen Subjekt, das Recht hat oder Ansprüche setzt und einem Objekt, das diese erfüllt bzw. den Ansprüchen gerecht wird. Aus solchen Überlegungen ist dann die Deutung der Gerechtigkeit als "Gemeinschaftstreue" abgeleitet worden 3. Gleichsam eine Vermittlungsposition zwischen beiden Gruppen nimmt eine dritte ein, nach der der Begriff "gerecht" ursprünglich eine kosmische Ordnung bezeichnet, "die sich in Weisheit, Recht usw. konkretisiert und vom König im Rahmen des Irdischen gewährleistet wird"4. Danach wäre das Adjektiv "gerecht" in seiner Grundbedeutung als "recht, richtig, in Ordnung" zu definieren 5. Ob dieser Mittelweg einer Ordnungsgemäßheit tatsächlich für die beiden einander gegenübergestellten Definitionen als Komprorniß dienen kann, braucht hier nicht untersucht zu werden. Wichtig ist vielmehr, daß der Begriff der Gerechtigkeit auch in diesem Mittelweg als eine an einer Normgröße ausgerichtete Qualifikation von Menschen, ihren Handlungen, Zuständen und Dingen zu bezeichnen ist 6 • 1 Vgl. Hans Heinrich Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung, Tübingen 1968, S. 182 (Abkürzung: Schmid) 2 Schmid, S. 182 3 Schmid, S. 67. 4 Ebda. 5 Ebda. 6 Vgl. Schmid, S. 184.
I. Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament
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Andererseits ist aber der alttestamentliche Begriff der Gerechtigkeit nicht auf eine Normgemäßheit zu beschränken. Er umfaßt vielmehr das Verhältnis von Mensch zu Gott und der Menschen untereinander. Denn zdk hat auch zum Inhalt die Gemeinschaftstreue oder das gemeinschaftsgemäße Verhalten. Gerecht wird im A. T. sowohl durch eine Normgemäßheit wie durch die Gemeinschaftstreue wiedergegeben. Es soll hier nicht versucht werden, den Streit zu schlichten; wichtig ist allein, daß ein Großteil alttestamentlicher Stellen gerade die zweite Deutung von zdk, also seine Verhältnisbestimmung, im Auge hat. Diese steht dem Gedanken des modernen Begriffs der sozialen Gerechtigkeit näher als die Vorstellung einer objektiven Norm. 2. Gerechtigkeit als Verhältnisbegriff Gerhard von Rad ist einer der Vertreter, der Gerechtigkeit im zweiten Sinn als Verhältnisbegriff deutet. Nach ihm gibt es im A. T. keinen Begriff von so zentraler Bedeutung für alle Lebensbeziehungen des Menschen wie diesen 7. Gerechtigkeit gibt den Maßstab für das Verhältnis des Menschen zu Gott und natürlich auch der Menschen untereinander. Für von Rad wurde im alttestamentlichen Israel das Verhalten der Menschen "an dem jeweiligen Gemeinschaftsverhältnis selbst, in dem sich der Partner gerade zu bewähren hatte", gemessen 8 • Der alttestamentliche Begriff zdaka läßt als Verhältnisbegriff die Beziehungen des Menschen zu Jahwe, zwischen den Menschen untereinander und ihrer Umwelt als gerecht bestimmt sein. Es gibt zwar eine Fülle von Bezugsverhältnissen, in denen der Mensch steht, so gehört er zur Familie, zur politischen Gemeinschaft, seinem Stamm bzw. seinem Volk, er steht im Wirtschafts- und Kulturleben und kann sich in immer neue Verhältnisse einfügen. Aber über diesem allen steht das eine Gemeinschaftsverhältnis, das der Herr Jahwe zu seinem Volke Israel besitzt. Die dieses Verhältnis prägende Gerechtigkeit, die für Israel konstitutiv war, bestand in Jahwes Heilserweisungen 9. Es existiert ein verhältnismäßig einheitliches Bild seit ältester Zeit über Israels Vorstellung von Jahwes universeller Gerechtigkeitsgabe; sie ist immer Heilsgabe. Eine strafende zdaka ist deshalb nicht vorstellbar. Über allem steht das Gemeinschaftsverhältnis, das Gott Jahwe Israel angeboten hat, und das von Israel im Kultus gepflegt wurde. Wird von Israel Gottes Gerechtigkeit gepriesen, dann ist damit gemeint, daß Jahwe sich in seinem Tun zum Volke Israel bekennt. Gottes Gerechtigkeit wird in der Bundestreue Gottes zu seinem Volke offenbart. Für das Volk Israel erweist sich eine Aussage als gleichsam konstitutiv: "Jahwes Gerechtigkeit war keine Norm, sondern Taten, und zwar Heilserweisungen" 10. 7 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testamentes, München 1962, Bd. I, S. 382 (Abkürzung: Von Rad u. Bandzahl) 8 von Rad, Bd. I, S. 383 9 von Rad, Bd. I, S. 384 10 Ebda.
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2. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff in der Bibel
Aber auch der einzelne durfte sich dieser Gerechtigkeit Gottes erfreuen; und er tat das im Kult. Dort war die Gerechtigkeit Gottes ein Gegenstand des Lobes und der Verkündigung. "Ein besonderer Ort von Jahwes Gerechtigkeit zu reden, war in den Theophanieschilderungen gegeben, und das war ja auch naheliegend genug, denn wo sich Jahwe offenbar machte, da wurde eben auch seine Gerechtigkeit, d. h. seine Bundestreue offenbar" 11. Wie stark das Verhältnis zwischen den Menschen den Gerechtigkeitsbegriff bestimmte, erweist sich u. a. nach von Rad an dem Verhältnis Saul zu David. "Sagte Saul, daß David gerechter war als er, so meinte er, daß jener das zwischen beiden bestehende Gemeinschaftsverhältnis ernster genommen und ihm besser Rechnung getragen hat, als Saul das von sich sagen durfte" 12. Der Begriff der Gerechtigkeit umfaßte das ganze Leben Israels, sofern es als Gemeinschaftsbezug gelebt wurde. Das bedeutete auch, daß es weniger um eine reine "Korrektheit oder Legalität" und damit um die Ausfüllung des Gerechtigkeitsbegriffs im modemen Sinn ging, als vielmehr um ein "Aufeinanderangewiesensein" , das "den Erweis von Güte, von Treue und ... von hilfreichem Erbarmen dem Armen oder Leidenden gegenüber" erforderte 13. Von Rad betont, daß im älteren Schrifttum zwischen den Bestimmungen des Verhältnisses der Menschen untereinander und zwischen denen der Menschen mit ihrem Gott keine Trennungslinie gezogen werden konnte. Denn ,)ahwe trat mit drastischen Gerechtigkeitserweisungen für sein Volk ein, von ihm kamen aber auch die Lebensordnungen, die ein Gemeinschaftsleben der Menschen untereinander erst ermöglichten. Seine Gebote waren ja kein absolutes ,Gesetz', sondern eine heilsame ordnende Gabe" 14. Jahwes große Taten am Volke Israel werden als Gerechtigkeitserweisungen Jahwes verstanden. Seine Gebote und die Ordnung des Gemeinschaftslebens stellten einen Teil der Gerechtigkeit Jahwes dar. In der jüngeren Literatur des altestamentlichen Kanons ist zu beobachten, daß die Rede von der Gerechtigkeit des Menschen seinem Gott gegenüber häufiger ist als in der überlieferten älteren Literatur. Das ist daraus zu erklären, daß der einzelne nunmehr selbständiger als früher zu Worte kommt. Denn "in der älteren Zeit war der einzelne eingebunden in das Leben der Gemeinschaft; unverkennbar hat sich aber im Laufe der Zeit eine Verselbständigung des Individuums vollzogen" 15. Damit wurde er seiner selbst und seines Gottesverhältnisses stärker bewußt und sah sich genötigt, "sich in seiner persönlichen Existenz vor Gott zu rechtfertigen" 16. Von Rad meint, daß die Verselbständigung des einzelnen von der Gemeinschaft sehr weit gegangen sein muß, so daß nur noch "ein geschichtslo11
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von Rad, von Rad, Ebda. von Rad, von Rad, Ebda.
Bd. I, S. 384 Bd. I, S. 385 Bd. I, S. 386 Bd. I, S. 392
I. Gottes Gerechtigkeit im Alten Testament
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ses Gegenüber" von "Jahwe und seinem Gerechten" übriggeblieben ist 17. Gewahrt blieb gegenüber allen anderen Gemeinschaftsverhältnissen die Tatsache, daß der Gerechte (Zadik) die Gebote Gottes hält, ja sie nicht einmal als Last, sondern sogar ihre Erfüllung als Bekenntnis empfindet. Weil er die Gebote halten kann, ist der Beter bereit, das Prädikat eines Gerechten für sich in Anspruch zu nehmen. Damit war keine "anmaßende sittliche Selbstqualifikation" gemeint, sondern man war Zadik vor Jahwe oder man war es nicht. Ja, man war es ganz, "man war es nie approximativ oder inchohativisch" 18. Der Gerechte kann sich an der Willensoffenbarung Jahwes freuen; zumal, da er gleichzeitig in seinem Verhältnis zu Jahwe diese Offenbarung des göttlichen Willens bejaht. Sie ist gleichsam ein Bekenntnisakt des Menschen. In der Reflexion der jüngeren Propheten, etwa bei Hesekiel und Jeremia, stellte Gottes Gerechtigkeit einen zentralen Gegenstand ihrer theologischen Aussagen dar. Es ging um die Verwirklichung der Bundestreue Jahwes. Die Propheten meinten, diese Frage nicht mehr so beantworten zu können, wie man das zur Zeit des älteren Israels getan hatte. Inbesondere widmete man sich nunmehr der Frage des individuellen Heils und seiner Verwirklichung durch Jahwe. Indessen "niemand wird sich darüber wundem, daß die Antworten der Propheten auf dieses schwere Zeitproblem nicht nach einem Rezept erfolgen"19. Hesekiel z. B. sprach von der Unmittelbarkeit des einzelnen zu Gott; Jahwe ist dem einzelnen zugewandt; denn er will ihn am Leben erhalten"20. Mit diesen Gedanken hat Hesekiel das alte Kollektivdenken hinter sich gelassen. Ähnliches gilt von Jeremia, auch er ist radikal individuell eingestellt. Andererseits aber muß es darüber hinaus auch Kreise gegeben haben, "die, je länger je mehr, überhaupt daran zweifelten, ob das von Jahwe angebotene Bundesverhältnis von Israel, also vom menschlichen Partner, durchgehalten werden könne, denen also das, was wir Heilsgewißheit nennen, durch den Zweifel an der Möglichkeit der menschlichen Zdaka erschüttert wurde" 21. Jeremia antwortete darauf mit der Botschaft von dem neuen Bund und Hesekiel mit der von dem neuen Herzen.
3. Die Gerechtigkeit unter den Menschen Das Leben des Volkes Israel wird durch das Gemeinschaftsverhältnis und vor allem durch die Gemeinschaftstreue des einzelnen Mitgliedes bestimmt. In den jeweiligen Gemeinschaftsverhältnissen herrscht das Gesetz mit seinen Ausprägungen. Was Gerechtigkeit ist, regeln die unterschiedlichen Gesetzestexte. Das 17
18 19 20 21
Ebda. von Rad, Bd. I, S. 393 von Rad, Bd. 11, S. 278 Ebda. von Rad, Bd. 11, S. 279
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2. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff in der Bibel
Bundesbuch in Exodus (20,22 ff.) ist ein kennzeichnendes Beispiel dafür. Es legt die Rechtsfolgen fest und ordnet so das gesellschaftliche Leben. Rechtsbeugung wird verboten (Ex. 23, 6). Das Deutoronomium fordert, daß der, der im Recht ist, Recht bekommt; wer Unrecht hat, soll schuldig gesprochen werden (Dtn. 25, 1). Bei den Propheten wird die Gerechtigkeit weniger rechtlich als sittlich bestimmt. So prangern die Propheten des 8. Jahrhunderts "die Bestechlichkeit der Richter und die ungerechte Behandlung der kleinen Leute vor Gericht an 22 ." "Wehe ihnen", urteilt Jesaja über sie (Jes. 5, 23). Die zentrale Figur alttestamentlicher Gerechtigkeitsaussagen war der König, der oberste Hüter und Richter des Rechtes. Er war der Garant der Gemeinschaft. Von ihm erhoffte man sich Gerechtigkeit. Er sollte für Recht und Gerechtigkeit im Lande sorgen, so lautete es in den messianischen Weissagen (Jes. 9, 6; 11,4; 16,5). Er "wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil den Elenden im Lande sprechen" (Jes. 11, 4). Als Ertrag entsteht Frieden und Sicherheit (Jes. 32, 17). Nach Jesaja gilt: "wunderhafte Charismata befähigen den Gesalbten zur Durchsetzung des göttlichen Rechtswillens in seinem Reich"23.
4. Die Gerechtigkeit Gottes Gott wird auch als oberster Richter verstanden. Von ihm heißt es im Bundesbuch im Gegensatz zu den bestechlichen Richtern 24: "Den Unschuldigen und den, der im Recht ist, sollst du nicht töten; denn ich lasse den Schuldigen nicht Recht haben." In den Geschichtswerken des Alten Testamentes wird Gott zwar als Richter dargestellt, aber es geht nicht "in erster Linie um die Bestrafung der Schuldigen, sondern um die Rettung der Unschuldigen"25. Allerdings bedeutet das auch manchmal, "die Schuldigen zu schonen"26. Gnade und Verheißung gelten als die andere Seite des Richtens und der Gerechtigkeit Gottes. Sie bringen für Israel Rettung und Heil. "Denn alles, was er tut, das ist Recht. Treu ist Gott und kein Böses an ihm, Gerechtigkeit und Wahrhaftig ist er" (Dtn. 32, 4). Gottes Wohltaten sind Taten der Rettung, des Heiles für Israel.
22 Josef Scharbert, Art. Gerechtigkeitl (Altes Testament), in : Theologische Realenzyklopädie, Bd. V, Berlin, New York 1968, S. 406 (Abkürzung: TRE G. I) 23 von Rad, Bd. I, S. 387 24 TRE. G. I. S. 408 25 TRE. G. I. S. 409 26 Ebda.
Ir. Der Gerechtigkeitsbegriff im Neuen Testament
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11. Der Gerechtigkeitsbegriff im Neuen Testament 1. Definitorische Abgrenzungen Im Neuen Testament gibt es keine einheitliche Deutung der Gerechtigkeit (Dikaiosyne). Allerdings ist das neutestamentliche Reden vom Gerechtsein (dikaios) weitestgehend durch das Alte Testament bestimmt 27 • Dikaioi werden die Menschen genannt, die Gottes Willen tun. Das gilt von den Erzvätern und den Frommen des Alten Testament 28 • Wer dikaios (gerecht) ist, der ist im Sinne des Gesetzes gerecht und übt gleichsam die gesetzestreue Gerechtigkeit aus. In der Verkündigung Jesu werden jedoch alle, auch die Gerechten, zur Umkehr gerufen. Wo dann das Gesetz recht erfüllt und der göttliche Wille getan wird, da kann von den Jüngern und den Christen gesprochen werden, daß sie dikaioi (gerecht) sind. Denn der Täter des Gesetzes wird aufgrund des göttlichen Urteils für gerecht erklärt. Allerdings heißt es im Römerbrief: "Da ist keiner, der gerecht ist, auch nicht einer" (Rm. 3, 10). Die Begründung dafür liegt darin, daß der sündige Mensch das Gesetz nicht erfüllt. Aber er wird dadurch zum dikaios (Gerechten), daß er "die erfüllte dikaiosyne theou als dynamis theou und soteria (Gerechtigkeit Gottes als Kraft Gottes und Rettung) im Glauben" empflingt 29 • Dem A. T. entsprechend ist Gott der dikaios (Gerechte). Dieser stellt in Jesus Christus seine Gerechtigkeit dar und erweist sich als gerecht (dikaios), indem er den Glaubenden gerecht macht (Rm. 3, 26). Daß die Menschen, die Gottes Willen tun, vor ihm gerecht zu nennen sind, zeigt sich im außerpaulinischen Sprachgebrauch in der Rede von der dikaiosyne (Gerechtigkeit) vor Gott. Sie bezeichnet nämlich "das mit Gottes Willen übereinstimmende, ihm wohlgefällige, rechte Verhalten des Menschen, die Rechtschaffenheit des Lebens vor Gott, die Rechttat vor seinem Urteil"30. Im Matthäus Evangelium (3, 15) wird von der Erfüllung der ganzen Gerechtigkeit gesprochen, die sich nach Jesu Urteil in der Taufe vollzieht. Rechtschaffenheit stellt sich in dem Hunger und in dem Durst nach Gerechtigkeit dar (5, 6). Inhaltlich bedeutet das, den Willen des Vaters im Himmel tun (7,21), also nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes streben (6,33). Norm kann dann nur die goldene Regel sein : "Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten" (7, 12). Oder das Doppelgebot der Liebe: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (22, 39). 27 Gottlob Schrenk, Dike, in: Theologisches Wörterbuch, Bd. 11, Stuttgart 1935, S. 190 (Abkürzung: Schrenk) 28 Schrenk, S. 191 29 Schrenk, S. 193 30 Schrenk, S. 200
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2. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff in der Bibel
Ebenfalls im Lukas Evangelium wird die Gerechtigkeit vor Gott als die Erfüllung seines Willens verstanden. Diese kann auch von Personen geleistet werden, die nicht eigentlich Jünger sind (Lk. 1,6; 2,25; 23,50). Solches Handeln vor Gott besteht in einem Leben in Heiligkeit und Gerechtigkeit (Lk. 1, 75).
2. Die Gerechtigkeit Gottes bei Paulus Der Begriff der dikaiosyne (Gerechtigkeit) ist auch bei Paulus mehrdeutig. Er bezeichnet nicht nur im ethischen Sinn die "Rechtschaffenheit" des Menschen, sondern wird vor allem als forensicher Begriff gebraucht 31. Dikaiosyne (Gerechtigkeit) meint nicht nur "eine ethische Qualität, überhaupt nicht eine Qualität der Person, sondern eine Relation" 32. Darum gilt: Dikaiosyne (Gerechtigkeit) "hat die Person nicht für sich, sondern vor dem Forum, vor dem sie verantwortlich ist, im Urteil eines andern, das sie ihm zuspricht. Der Mensch hat ,Gerechtigkeit' oder ist ,gerecht', wenn er als solcher anerkannt wird, und das heißt, falls seine Anerkennung in Frage steht: wenn er ,gerechtfertigt', ,gerecht gesprochen' ist" 33. Es ist allerdings aus dem rein forensischen Begriff ein eschatologischer geworden, je mehr sich die Frömmigkeit im Judentum ihrerseits durch die Eschatologie bestimmen ließ. Der Fromme erwartet den rechtfertigenden Richterspruch Gottes vor dem eschatologischen Gericht 34. Die Grundlage des Verständnisses, was Paulus unter dem Wort der dikaiosyne theou (Gerechtigkeit Gottes) verstand, liegt in der von Gott geschenkten und dem Menschen zugesprochenen Gerechtigkeit. Die in Christus geschehene Erlösung erneuert den Bundesschluß des Alten Testaments. Sie ist der Erweis der Gerechtigkeit Gottes. Die göttliche Gerechtigkeit zeigt sich in der Vergebung der Sünden (Rm. 3, 24- 26). Den alten Lebensbedingungen mit der Gerechtigkeit aus dem Gesetz stellt Paulus die neue Form heilsökonomischen Handeins entgegen, die nicht mehr im Gesetz wurzelt. Denn die "alte" Gerechtigkeit ist relativ und fragwürdig (Rm. 10,3; Phil. 3,9). Der Apostel Paulus dagegen predigt eine neue Gestalt und Wahrheit der dikaiosyne theou (Gerechtigkeit Gottes). "Paulus gebraucht mit ,Gerechtigkeit' das heilige Wort des Judentums, richtet sich aber gerade damit gegen die Gesetzesauffassung des Judentums" 35. Für Paulus existieren statt dessen zwei Grundsätze, auf denen sein Gerechtigkeitsbegriff aufbaut: Zum einen geht er von Gott als dem Richter aus, der vom Menschen Gehorsam fordert und den er je nach dessen Tun belohnt oder bestraft. Zum anderen sieht er die Menschheit als eine von der Sünde versklavte, die vor Gott schuldig geworden ist. Gegenüber dem alttestamentlichen Vorstellungen, 31 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948, S. 268 ff. (Bultmann) 32 Bultmann, S. 268 33 Ebda. 34 Vgl. Bultmann, S. 269 35 Schrenk, S. 205
11. Der Gerechtigkeitsbegriff im Neuen Testament
27
daß der Mensch das Gesetz erfüllen könne, gründet die paulinische Überzeugung zwar noch in der Gesetzesauffassung, daß nur der Gerechte wahrhaft Gemeinschaft mit Gott haben könne. Aber diese basiert nicht auf der eigenen Leistung, sondern auf der souveränen und gnädigen Handlung Gottes 36 • Die Gerechtigkeit Gottes ist für Paulus eine Einheit von Gericht und Gnade. Zusammenfassend und weiterführend lassen sich in der paulinischen Formel der dikaiosyne tou theou (Gerechtigkeit Gottes) folgende Charakteristiken aufweisen: 37 1. Das Rechtfertigungsgeschehen ist ein universales Geschehen und bezieht sich dementsprechend nicht nur auf den einzelnen, sondern auf die ganze Menschheit (Rm. 1- 3).
2. Das Handeln Gottes in der dikaiosyne (Gerechtigkeit) ist nicht statisch zu beschreiben, sondern stellt eine dynamische Handlungsweise dar. 3. Die Gerechtigkeit Gottes ist nicht ein deklamatorischer Akt, sondern zeigt im Kreuzestod den neuen Heilsweg auf.
4. Allein Gott ist gerecht. In seiner Offenbarungstat zeigt sich Gott als richtender und gnädiger Gott. 5. Die Gerechtigkeit Gottes schließt die forensische Rechtssprechung ein. Wer die dikaiosyne Gottes besitzt, der ist gerecht. Sie wird dem Glaubenden zugesprochen und ist vor Gott seine neue Qualität. Die forensische Rechtsprechung des iniustus (Nicht-Gerechten) ist darum sowohl ein Herstellungswie auch ein Feststellungsurteil. 6. Die Rechtfertigung ist nicht ein aus dem Gesetz stammendes, sondern Gottes Urteil. Es ist ein Heil spendendes und den Menschen zum Ziel führendes Handeln, das radikale Rettung und nicht nur Vergebung schenkt. 7. Durch den Glauben erfährt der Mensch die Gerechtigkeit Gottes. Der Glaubende sieht allein in Gott den Heilsweg. 8. Gerechtigkeit und Rechtfertigung sind Hoffnungsgüter. "Die futurische Form ist der Ausdruck für die Gabe als eines nicht ruhenden Zustandes, sondern einer Bewegung zum Telos hin. Auch diese Gabe steht wie alles in Christus Geschenkte in der Spannung der Hoffnung" 38. Aber der Gerechtfertigte, durch das Kreuz Christi freigesprochen, lebt im Jetzt des Glaubens und sieht dem Endgericht getrost entgegen. Der Rechtfertigungsglaube umfaßt Gegenwart und Zukunft zugleich. 9. Gerechtfertigt- und in Christus-Sein bedingen einander. Sie können nicht voneinander gelöst werden. Die Rechtfertigung setzt den Menschen in die Gemeinschaft mit Christus ein. 36 37
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Ebda.
Schrenk, S. 206 ff. Schrenk, S. 211
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2. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff in der Bibel
10. Gottes rechtfertigendes Handeln ist teleologisch ausgerichtet. Der Rechtfertigungsprozeß ist darum nicht abgeschlossen, sondern ständig in Bewegung. Der gerechtfertigte Mensch wird in die neue Lebensmacht der Herrschaft Gottes hineingestellt 39 • 11. Die Gerechtigkeit Gottes beruht allein in der auf Christus gegründeten Gerechtigkeit; diese wird als Geschenk dem Menschen gewährt. Aus dieser neuen Lebensmitte des Menschen ist auch die Ethik abzuleiten. Als Gottes Gerechtigkeit ist sie Befreiung zur Liebe. 12. In den Deuteropaulinen wird davon gesprochen, daß der neue Mensch in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit geschaffen ist (Eph. 4, 24).
3. Die Gerechtigkeit in den nicht-paulinischen Briefen Jakobus spricht von der unbedingten notwendigen Verbindung von Glaube und Werk. Ein Glaube, der mit der Tat nicht ernst macht, ist ein toter Glaube. Das geforderte Werk ist die Tat der Liebe und des Gehorsams. Das ist paulinisch gesprochen die Frucht des Geistes. Es handelt sich dabei um einen Glauben, der als eine Frucht der Rechtfertigung das ethische Handeln bekennt. Die dikaiosyne (Gerechtigkeit) wird auch in den anderen nicht-paulinischen Briefen als Gott wohlfallige, als Rechtstat verstanden, so z. B. im 1. und 2. Petrusbrief, im Hebräerbrief und im Johannesevangelium. Allerdings gibt es eine unterschiedliche christologische Tendenz, die die Befreiung von den Sünden durch das Kreuz Christi als Voraussetzung für ein Leben, das sich nach der dikaiosyne (Gerechtigkeit) richtet, ansieht. Christus hat als der dikaios (Gerechte) die Gerechtigkeit gebracht. Er lebte in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen.
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Schrenk, S. 213
3. Kapitel
Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles I. Die gesetzliche Gerechtigkeit Der Mensch ist ein politisches Wesen (Zoon politikon). Darum lebt er nach Aristoteles wesensgemäß seiner Natur entsprechend in einer Gemeinschaft, die den Staat ausmacht. Für Aristoteles ist das Ganze früher als das Teil 1. Wer nicht in einer Gemeinschaft leben kann, ist kein Glied des Staates 2 • Die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung ist das Recht. Dieses entscheidet über das Gerechte 3. In der Nikomachischen Ethik wird der als gerecht bezeichnet, der die Gesetze beachtet, wer keinen übervorteilt; und es wird hinzugefügt, daß er auch ein "Freund der Gleichheit" sein muß4. Denn ungerecht ist nicht nur einer, der das Ungesetzliche tut, habsüchtig ist und sich auch als ein Freund der Ungleichheit erweist 5 • "Da bei uns der Gesetzesübertreter als ungerecht und der Beobachter des Gesetzes als gerecht galt, so ist offenbar alles Gesetzliche in einem bestimmten Sinne gerecht und Recht. Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht"6. Das Gesetzliche ist also für Aristoteles nicht in allen Fällen und automatisch gerecht bzw. Recht. Er stellt statt dessen heraus, was gerecht ist, "was in der staatlichen Gemeinschaft die Glückseligkeit und ihre Bestandteile hervorbringt und erhält"7. Sowohl in der "Politik" wie auch in der "Nikomachischen Ethik" ist die Gerechtkeit ein auf die ethische Handlungsweise hin zu charakterisierendes Verhalten. In der "Politik" wird Gerechtigkeit als der "Inbegriff aller Moralität" verstanden 8. In der "Nikomachischen Ethik" spricht Aristoteles von der Gerechtigkeit als von einer vollkommenen Tugend 9 und bezeichnet die "gesetzliche Aristoteles, Politik, I, 2; 1253 a 22 (Abkürzung: P). P. 1253 a 25 ff. 3 P. 1253a 35 ff. 4 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129a 30 ( Abkürzung: NE). Vgl. Kap. 1. 5 NE. 1129a 30 ff. 6 NE. 1129b 10 ff. 7 NE. 1129b 15 ff. 8 P. 1253 a 35 ff. 9 NE. 1129b 25 ff. 1
2
3. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles
30
Gerechtigkeit" (dikaion nomimon) 10 nicht als einen bloßen Teil der Tugend, sondern als die "ganze Tugend" 11. Sie ist gleichsam ihr Inbegriff l2 • Das Recht definiert er "als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung" 13. Die gesetzliche Gerechtigkeit jedoch - das dikaion nomimon, für Thomas von Aquin die iustitia legalis - besteht nicht nur in Gestalt des "Rechtsgesetzes", sondern auch in der des moralischen Gesetzes. Es stellt ein System von Gesetzen dar, "das die Erfüllung aller Pflichten und die Ausübung aller Tugenden, auch der auf die eigene Person bezogenen (wie die Müßigkeit, die Tapferkeit, die Sanftmut usw.) gleichermaßen vorschreibt" 14. Für Aristoteles existiert - wie bereits gesagt - das Ganze früher als das einzelne Teil. Der Staat ist darum auch der Natur nach früher als die Familie und früher als der einzelne Mensch 15. "Denn wenn sich der Einzelne in seiner Isolierung nicht selber genügt, so muß er sich zum Staat ebenso verhalten, wie andere Teile zu dem Ganzen, dem sie angehören" 16. Alle Menschen haben von Natur aus in sich den Trieb zur Gemeinschaft. "Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder ihrer, weil er sich selbst genug ist, gar nicht bedarf, ist kein Glied des Staates und demnach entweder ein Tier oder ein Gott"I7. Im Blick auf die Gerechtigkeit stellt die gesetzliche Gerechtigkeit einen Teil der ganzen oder allgemeinen Gerechtigkeit dar. Die Gerechtigkeit gilt insoweit als vollkommene Tugend, als sie nicht für sich selber ausgeübt wird, sondern "auf andere Bezug hat" 18. Man kann die Gerechtigkeit sowohl gegen den anderen Menschen (pros heteron) wie auch gegen sich selbst ausüben (kath. heauton) 19. Vollbringt der Inhaber der Tugend das erste, gilt sie als die vorzüglichste Tugend. Weil die Gerechtigkeit sich bei der Ausübung der Tugend durch den Amtsinhaber auf den anderen bezieht, ist sie unter den Tugenden ein fremdes Gut (Gut des anderen). "Denn sie tut, was anderen nützt, sei es dem Herrscher, sei es dem Partner" (koinonos) 20. Das bedeutet, daß das aristotelische Verständnis von Gerechtigkeit anders als bei Platon - k~in herrschaftliches, sondern ein partnerschaftliches Verhältnis darstellt. Wer "seine Tugend nicht sich selbst, sondern einem anderen zugute kommen läßt" 21, ist der Beste. Die Tugend ist Inhalt des Nomos. Darum gilt: Wer im Nomos handelt, 10 11
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NE. 1129a 34. NE. 1130a 5 ff. P. 1253 a 35 ff. Ebda. Giorgio deI Vecchio, S. 37, Anm. 15. P. 1253a 19 ff. P. 1253a 25 ff. P. 1253 a 27 ff. NE. 1129b 25 f. NE. 1129b 30 ff. NE. 1130a 1 ff. NE. 1130a 8 ff.
11. Die iustitia commutativa und die iustitia distributiva
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handelt in der Tugend. Die gesetzliche Gerechtigkeit ist nicht ein Teil der Tugend, sondern die ganze Tugend 22 . Wer nach dem Gesetz handelt, handelt gerecht. Nach Aristoteles gibt es mehrere Gerechtigkeiten: Die ganze oder allgemeine Gerechtigkeit 23 oder, wie Thomas sagt, die iustitia legalis und die iustitia particularis 24. In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die iustitia particularis, die partikulare Gerechtigkeit. Wie der Einzelne Teil des Ganzen ist, ist auch die partikulare Gerechtigkeit eine "Unterart" der ganzen Gerechtigkeit. Giorgio deI Vecchio weist allerdings darauf hin, daß der Begriff "Unterart" der partikularen Gerechtigkeit genau zu bestimmen ist. Denn die Typen der partikularen Gerechtigkeit sind "verschiedene Abhandlungen dieser Tugend". Aristoteles will diese Unterart in einem weiten Sinn gebraucht wissen 25. Zur partikularen Gerechtigkeit (kata meros) gehören vor allem die -
iustitia distributiva (to dianemetikon)26
-
iustitia commutativa (to diorthotikon 27 .
Von beiden Bereichen der partikularen Gerechtigkeit grenzt Aristoteles das Recht auf Wiedervergeltung (antipeponthos dikaion, iudicium contrapassum)28 ab. Das Recht selbst ist nicht in jedem Fall Wiedervergeltung. Bei der Herstellung des Ausgleichs müssen die Glieder des Ausgleichsverhältnisses proportional berücksichtigt werden. Die distributive Gerechtigkeit wird durch eine geometrische Verhältnismäßigkeit (analogia geometrike)29, die commutativa durch eine arithmetische Proportion (analogia arithmetike)3° geprägt. 11. Die iustitia commutativa und die iustitia distributiva Der Gerechtigkeitsbegriff hat für Aristoteles nicht nur eine politische, sondern auch eine ökonomische Dimension. Er spricht am Anfang seiner Nikomachischen Ethik davon, daß die Wirtschaftskunst (oikonomike) als Ziel den Reichtum im Augen hat 3!. Einige Stellen weiter verweist er aber darauf, daß der Gelderwerb 22 23 24 25 26 27 28 29 30
3!
Ebda. NE. 1l30a 32 ff. u. b 15. NE. 1l30a 32 u. b 15 ff. DeI Vecchio, S. 62, Anm. 2. NE. 1131 b 28. NE. 1131b25. NE. 1132b 21. NE. 1l31a l3. NE. 1l32a 1. NE. 1094a 10.
3. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles
32
(chrematistes) nicht das Ziel des Lebens sein könne 32, und diese Äußerung stimmt wieder mit dem überein, was in der "Politik" zu lesen ist. Auch hier ist nämlich der Reichtum nicht das gesuchte Gute 33. Die Schwierigkeiten, die sich bei der Interpretation des Reichtums in der Nikomachischen Ethik ergeben, bestehen also darin, daß Aristoteles einerseits als Ziel der Wirtschaftskunst (oikonomike) den Reichtum angibt 34 und andererseits das Ziel des auf Gelderwerb ausgerichteten Lebens nicht darin sieht, Reichtum zu schaffen, sondern diesen nur als Mittel zum Zweck anerkennt 35 • Außerdem wird ja, wie bereits gesagt, in der "Politik" von der oikonomike ausgeführt, daß die Sammlung von Reichtümern nicht die Aufgabe der Wirtschaftskunst sei 36. Dies ist zwar ein Widerspruch, aber er ist auflösbar. Denn für Aristoteles sind die für die Gemeinschaft in Haus und Staat nützlichen und notwendigen Güter der eigentliche und wahre Reichtum 37. Um diese Zielsetzung geht es an den erwähnten Stellen der Nikomachischen Ethik. Insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen Ethik und Politik. Die für die Gerechtigkeitslehre abzuleitende Bedeutung der Hauswirtschaftslehre besagt, daß es von der iustitia commutativa einen unmittelbaren Zugang zu dem natürlichen Erwerbshandel und von der iustitia distributiva einen geraden Weg zur nicht-natürlichen Erwerbskunst gibt 38 • Das gilt es, näher zu erläutern. Von der schon genannten allgemeinen Gerechtigkeit differenziert Aristoteles die beiden ebenfalls erwähnten Formen der "partikularen" (besonderen) Gerechtigkeiten 39. Zur partikularen Gerechtigkeit gehört zum einen die distributive (zuteilende oder austeilende) Gerechtigkeit. "Denn hier kann der eine ungleich viel und gleich viel erhalten wie der andere"4O. Die Grundlage für die zuteilende Gerechtigkeit liegt darin, daß weder die Sachen noch die Personen einander gleich sind. Sind sie aber einander nicht gleich, so dürfen sie auch nicht Gleiches erhalten 41 • Dementsprechend ist das Recht etwas Proportionales, in dem sich "das Ganze zum Ganzen wie das Glied zum Gliede" verhält 42. Diese Proportionalität ist als NE. 1096 a 5 ff. NE. 1096a 5 ff.; P. 1258 a 5 ff. 34 NE. 1094a 10. Aristoteles kann gar zum glücklichen Leben den Besitz äußerer Güter rechnen. Vgl. Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt 1987 (Abkürzung: Höffe) S. 286. 35 NE. 1094 a 9 ff. 36 P. 1257b 30. 37 P. 1256b 30. 38 Anders Eberhard Seifert, Verantwortung und Gerechtigkeit in: Loccumer Protokolle, Theologische Aspekte der Wirtschaftsethik, Bd. V. S. 161. 39 NE. 1130 a 30 ff. 40 NE. 1130 b 30 ff. 41 NE. 1131a 20 ff. 42 NE. 1131 b 10 ff. 32
33
11. Die iustitia commutativa und die iustitia distributiva
33
geometrische Proportion zu verstehen. Die "beiden in einer Gleichung miteinander zu vergleichenden Verhältnisse bestehen auf der einen Seite aus zwei Personen, auf der anderen aus zwei zuzuteilenden Dingen, insgesamt also aus vier Gliedern. Wie sich nämlich die Personen zueinander verhalten, so müssen sich auch die zuzuteilenden Dinge verhalten"43. Wird beispielsweise eine Geldverteilung aus öffentlichen Mitteln vorgenommen, so muß diese nach dem Verhältnis geschehen, das den Leistungen der Bürger entspricht 44 • Hierunter fallt also auch das gleiche Bürgerrecht für jeden und gleiche Rechte, die allen Gliedern der Gemeinschaft zustehen. Zum anderen gehört zur partikularen Gerechtigkeit die iustitia commutativa,die ausgleichende Gerechtigkeit. Es herrscht hier die arithmetische Proportion, und es werden nur zwei Glieder miteinander verglichen. Die beiden in Betracht kommenden Personen werden gleich behandelt, "lediglich die Dinge werden miteinander verglichen"45. Letzteres gilt vom ganzen Vertragsrecht. Die iustitia commutativa will also im Verhältnis von Recht und Unrecht alle Personen gleich behandeln. Bei der Würdigung des erlittenen Unrechts soll in gleicher Weise dem Täter Schaden zugefügt, wie dem Benachteiligten ein Ausgleich vermittelt werden, so daß jeweils einem zuwenig ein zuviel bzw. vice versa einem zuviel ein zuwenig gegenübersteht. Die iustitia commutativa wird von Aristoteles in zwei Teile geteilt. Er kennt den freiwilligen und den unfreiwilligen Verkehr: -
Im freiwilligen Verkehr herrscht das Vertragsrecht, bei dem der beiderseitige Wille als rechtmäßig gilt 46 .
-
Zur iustitia commutativa gehört auch der unfreiwillige Verkehr; Aristoteles rechnet dazu viele kriminelle Handlungen, wie z. B. Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Raub usw. Als Schaubild läßt sich die partikulare Gerechtigkeit folgendermaßen darstel-
len:
Partikulare Gerechtigkeit
I iustitia commutativa (ausgleichende Gerechtigkeit, Verkehrsgerechtigkeit)
iustitia distributativa (Aus- bzw. zuteilende Gerechtigkeit)
I freiwilliger Verkehr (Kauf, Verkauf, Darlehen)
unfreiwilliger Verkehr (Kriminelle Handlungen, Diebstahl, Ehebruch)
43 Peter Trude, Der Begriff der Gerechtigkeit in der aristotelischen Rechts- und Staatsphilosophie, Berlin 1955 (Abkürzung: Trude), S. 93. 44 NE. 1131 b 30. 45 Trude S. 98. Unterstreichung: R. K. 46 NE 1131a 1 ff. 3 Kramer
34
3. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles
Das Recht auf Wiedervergeltung stimmt weder mit der ausgleichenden noch mit der austeilenden Gerechtigkeit überein. Da Aristoteles sie besonders im privatrechtlichen Tauschverkehr verwirklicht sieht, hat Thomas von Aquin mit seiner Deutung, daß das Recht auf Wiedervergeltung vor allem zur iustitia communativa (also zur Verkehrs gerechtigkeit) gehört, nicht unrecht 47. In dem auf Gegenseitigkeit beruhenden Verkehr herrscht das Recht auf Wiedervergeltung nach Maßgabe der Proportionalität, nicht nach der einer arithmetischen Gleichheit 48 • Am Austauschverhältnis der Leistungen des Schusters mit denen des Baumeisters macht Aristoteles deutlich, daß hier eben nicht eine arithmetische Gleichheit, sondern nur eine geometrische Verhältnismäßigkeit denkbar ist. Denn die Produkte Schuhe und Haus haben einen unterschiedlichen Wert 49 • "Damit stellt sich die Aristotelische Wiedervergeltung dar als eine dem Prinzip der geometrischen Gleichheit unterliegende Gerechtigkeit, welche sich dadurch teilweise mit der (von Aristoteles nur auf das öffentliche Recht angewandten) austeilenden Gerechtigkeit deckt, dabei allerdings auch wiederum nur insoweit, als es sich um einen Rechtsgüteraustausch handelt"50. Über die beiden partikularen Gerechtigkeitsbegriffe resümiert Aristoteles: Dort, wo freie und gleichgestellte Menschen mit dem Ziel einer vollkommenen Selbstgenügsamkeit in einer Lebensgemeinschaft stehen, richtet sich das Recht teils nach den Regeln der distributiven Gerechtigkeit (Proportionalität), teils nach den Regeln der communativen Gerechtigkeit (entsprechend der Zahl)51.
III. Die Lehre von der oikonomia In seiner Haushaltslehre (oikonomia) beschäftigt sich Aristoteles mit der Lehre vom sittlichen Leben und mit der vom Wirtschaften in der Hausgemeinschaft (v gl. Graphik). Die Lehre von der Ökonomie als Lehre von der Hausverwaltung hat zum Inhalt die Gestaltung der Haushalte; schließlich besteht ja jeder Staat aus Haushaltungen. Die Wirtschaft ist von der Ordnung der Hauswirtschaft geprägt. Aristoteles sieht als kleinste Einheit der Haushalterschaft das Verhältnis Herr und Sklave, Mann und Frau, Vater und Kinder an und spricht von einem Herrenrecht (despotike), Ehe- (gamike) und Elternrecht (patrike)52. 47 Vgl. Dei Vecchio, S. 67, Anm. 9: NE. 1133b 1 und Thomas von Aquin, Summa Theologica, Recht und Gerechtigkeit Bd. 11-11, kommentiert von A. F. Utz Heidelberg, München, Graz, Wien, Salzburg 1953,11-11, 61, 4 S. 106. Vgl. auch Eberhard Welty, Herders Sozialkatechismus, Bd. I, Freiburg 1959, S. 255: "Wer die austeilende Gerechtigkeit verletzt, ist dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn er gleichzeitig die ausgleichende Gerechtigkeit verletzt.". 48 NE. 1132b 31 ff. 49 NE. 1133 a 7 ff. 50 Trude, S. 1004; Unterstreichung: R. K. 51 NE. 1134a 25 ff.
III. Die Lehre von der oikonomia
35
Die Hauswirtschaft hat zum Ziel, daß die Menschen sich mit dem Notwendigen versorgen können, um zu leben; besser, um gut zu leben (eu zen)53. Die Lehre von der Hauswirtschaft (oikonomike) bedient sich, um dieses Ziel zu erreichen, der Lehre vom Besitz (ktesis oder der Verwendung der häuslichen Habe) und der Lehre vom Erwerb (chrematistike). Die Erwerbskunst (chrematistike) macht nicht die ganze Hausverwaltung (oikonomia) aus 54 . Denn Aristoteles unterscheidet zwischen der Haushaltungslehre und der Erwerbslehre. Da der Staat aus Haushaltungen besteht, redet Aristoteles zuerst über die Hausverwaltung oder die Leitung der Familien. In der Hausverwaltung geht es um die Verwendung der häuslichen Habe, in der Erwerbslehre um das Herbeischaffen (Erwerbskunst, chrematistike)55 von Besitz und Vermögen. Aristoteles kann diese Gruppe der Güter und Vermögensteile, die durch die chrematistike erworben werden, als Reichtum bezeichnen. Denn für ihn ist dieser - wie ausgeführt - nichts anderes als eine Menge von Werkzeugen für die Haus- oder Staatsverwaltung" (plethos estin)56. Die spezielle Erwerbslehre (chrematistike) läßt sich ihrerseits wiederum in drei unterschiedliche Aspekte aufteilen: 1. Aufgrund der Differenzierung von natürlicher und nicht-natürlicher Erwerbskunst muß zunächst die natürliche Erwerbskunst (ktetike)57 betrachtet werden. Für Aristoteles besteht diese in der natürlichen Beschaffung der Güter für die Familie und den Staat, indem z. B. Nomaden, Bauern, Räuber, Fischer oder Jäger sich der natürlichen Güter bedienen 58 und die Nahrung aus der Natur durch die Früchte des Feldes und durch die Verwertung von Tieren und Tierprodukten gewinnen. Ein solcher natürlicher Umgang mit den Gütern konnte auch in Form eines Tausches vor sich gehen. Für Aristoteles ist dieser Tauschhandel mit allen Dingen möglich. Es hat zuerst mit dem, "was naturgemäß ist, angefangen, indem die Menschen von der einen Art von Produkten mehr, von der anderen weniger hatten, als sie brauchten" (metabletike) 59. In der ältesten Gemeinschaft, der Familie, bedurfte es eines solchen Tauschhandels nicht. Je größer jedoch die Familie wurde, umso mehr bestand die Notwendigkeit zum Tausch. Fand dieser statt, und war er nicht eine Art des Gelderwerbs, stellt er einen naturgemäßen Tausch dar (metabletike) und führte zu einem natürlichen Reichtum. Dieser naturgemäße Reichtum ist für Aristoteles ein Teil der Hauswirtschaftskunst.
52
NE. 1253b 1 ff.
53 P.1253b25. 54 P. 1253 b 1 ff. 55
56 57 58 59 3*
P. P. P. P. P.
1256a 1256b 1256b 1256b 1257b
1 ff. 35 ff.; vgl. oben unter H. 35 ff. 1 ff. 15 ff.
36
3. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristoteles
Der Reichtum aus Gelderwerb dagegen, über den noch zu berichten sein wird, ist durch die Kunst des Handels bedingt. Der naturgemäße Erwerb also ist nicht unbedingt an die Erwerbskunst gebunden. Denn es geht nicht um die Vergrößerung des Reichtums bzw. des Vermögens. Deshalb läßt sich auch nicht von der Notwendigkeit der Erwerbskunst (chrematistike) reden. Von Natur aus ist der Hauswirtschaft eine Schranke auferlegt 60; sie hat ja nicht die Aufgabe, Reichtümer zu sammeln. Ein solcher natürlicher Tauschhandel diente zur Ergänzung und Vervollständigung des natürlichen Selbstgenügens (autarkeia)61 und damit dem guten Leben, dem eu zen 62.
2. Die nicht-naturgemäße Erwerbskunst ist als Erwerbskunst (chrematistike kapelike) eine Weise des Gelderwerbs. Ihr ist das Handelsgeschäft und das Krämergewerbe zuzurechnen (kapelike)63. Diese nicht-natürliche Erwerbskunst ist ein Produkt aus "Erfahrung und Kunst"64. Ihre Prägung erfährt sie dort, wo sich die Kunst des Gelderwerbes in besonderer Weise entwickelt. Denn wo die Notwendigkeit des Tauschhandels und seiner Handhabung zur leichteren Abwicklung des Warenverkehrs Geld in Umlauf setzt, wird diese Form der Erwerbskunst forciert. Der auf den Handel beruhende Gelderwerb schafft Besitz und damit Vermögen 65. Dieser aus dem Handel abgeleitete Reichtum kennt kein Ende und also keine Begrenzung. Während die Hauswirtschaft (oikonomike chrematistike)66 nicht Reichtümer sammeln will und sich damit eine Schranke setzt, sieht es die nicht-naturgemäße Erwerbskunst (chrematistike kapelike) als ihre Aufgabe an, das Geld schrankenlos zu vermehren. Der Grund liegt darin, daß man mit dem Geld- und Handelsgewinn das Wohlleben anstrebt 67 . Das Ziel der naturgemäßen Erwerbskunst (ktetike) besteht darin, die Dinge des täglichen Bedarfs für die Gemeinschaft, für das Haus und den Staat, zu besorgen. Allein dann liegt auch der wahre Reichtum 68 . Die in der "Politik" dargestellte nicht-natürliche Erwerbslehre fußt auf dem Handel und dem Gelderwerb (kapelike chematistike). Beide, Handel und Gelderwerb, basieren auf dem Geld. Dieses trägt seinen Namen: nomisma, "weil er seinen Wert nicht von Natur hat, sondern durch den nomos, das Gesetz"69. Das Geld besitzt also seinen Wert nicht von Natur aus, sondern erhält es aus Menschenhand. Darum steht es dem Menschen auch frei, diesen Wert zu verändern und 60
61 62 63 64 65 66 67 68 69
P. 1258a 15 ff.; vgl. P. 1257b 30. P. 1257 a 30. P. 1257b 1 und P. 1258a 1. P. 1257b 1 ff. P. 1257 a 1 ff. P. 1257b 20. P. 1257b 30. P. 1258a 5 ff. P. 1256b 25 ff. NE. 1133a 30 f.
IV. Anwendung
37
außer Kraft zu setzen 70 . Das Geld macht alle Dinge "kommensurabel" und stellt dadurch unter ihnen Gleichheit her. "Denn ohne Austausch wäre keine Gemeinschaft und ohne Gleichheit kein Austausch und ohne Kommensurabilität keine Gleichheit"7!. Das Geld betrachtet Aristoteles also als ein vom Gesetz, dem nomos, aufgestellten Wertmaßstab. 3. Über die Erwerbslehre der Hauswirtschaft (oikonomike), die als notwendig und löblich betrachtet wird, und die Erwerbskunst des Händlers (kapelike) hinaus, durch die der eine Mensch sich auf Kosten des anderen bereichert, nennt Aristoteles als dritte Gattung den Wucher (obolostatike)72. Dieser ist ihm deshalb verhaßt, weil er aus dem Gelde selbst Gewinn zieht und nicht aus den Handelsgütern. Für den Wucherer soll das Geld sich selbst vermehren. Das ist die Aufgabe des Zinses. Dieser trägt darum auch den Namen tokos (Junges, Kind). Das Geborene (tiktomenon) ist seinen Erzeugern sehr ähnlich. Der Zins, der aus dem Gelde stammt, ist darum seinerseits Geld 73.
IV. Anwendung Faßt man mit dem Blick auf die soziale Gerechtigkeit die gewonnenen Erkenntnisse zusammen, so läßt sich die soziale Gerechtigkeit sowohl als iustitia legalis wie auch in den Unterformen der iustitia particularis wiederfinden. Die legale Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit, die den Bürger mit vollkommener Tugend ausstattet, sofern er gemeinschafts bezogen denkt und handelt. Die Tugend der Gerechtigkeit macht nicht nur den Menschen vollkommen, sondern sie macht ihn zu einem vollkommenen Bürger. Auf Grund der legalen Gerechtigkeit ist der Bürger eines Staates ein Mitglied, das dem Ganzen verpflichtet ist. Insofern ist die legale Gerechtigkeit soziale Gerechtigkeit. Die "anderen" Gerechtigkeiten sind ebenso,für die Interpretation der sozialen Gerechtigkeit nutzbar zu machen. Denn die partikulare Gerechtigkeit, die iustitia commutativa und distributiva, hat ebenfalls einen Bezug zur sozialen Gerechtigkeit. Heute würde besonders die iustitia distributiva der sozialen Gerechtigkeit zugeordnet, da es hier um die Zuteilung von seiten der Gemeinschaft an das einzelne Mitglied der Gesellschaft geht. Denn der einzelne ist Teil des Ganzen. Aber im Prinzip ist sowohl die Verkehrs- wie auch die Verteilungs gerechtigkeit Teil der sozialen Gerechtigkeit. Die Zuordnung der Gerechtigkeiten zur sozialen Gerechtigkeit läßt sich auch aus der Ökonomia ableiten. In der Hausgemeinschaft und in der Hauswirtschaftslehre als der natürlichen Erwerbskunst geht es um einen sozialen Ausgleich im 70 NE. 1133a 3 ff. 7l
NE. 1133 b 15 ff.
72 P. 1256b 1 ff. 73 P. 1258b 55 ..
38
3. Kap.: Der Gerechtigkeitsbegriff bei Aristote1es
Gerechtigkeitsdenken. Die natürliche Erwerbskunst, also der naturgemäße Tausch, die metabletike der chrematistike ktetike, dient der Selbstgenügsamkeit (autarkeia) und damit letztlich auch der sozialen Gerechtigkeit. Denn die iustitia commutativa, die die Gerechtigkeit im Tauschhandel, also in der Verkehrswirtschaft, beschreibt, ist ein Teil der sozialen Gerechtigkeit. Im Vergleich zur natürliche Erwerbskunst dient die nicht-natürliche Erwerbskunst, die chrematistike kapelike, der eigenen Bereicherung. Darum ist die natürliche Erwerbskunst zu loben, während die nicht-natürliche und für Aristoteles auch nicht-notwendige Erwerbskunst zu tadeln ist. Denn sie dient ebenso wie die Handlungsweise des Wucherers, nur der Bereicherung.
IV. Anwendung Politik
39 Institutionelle Ordnung, Organisationsfonnen und Realisierung des eu zen, des guten Lebens OIKONOMIA: Die Lehre vom sittlichen Leben und vom Wirtschaften in den Hausgemeinschaften = Hausverwaltung als Leitung der Familie, die als kleinste Einheit angesehen wird; dargestellt in den Verhältnissen: Herr - Sklave Mann-Frau Vater - Kinder (Herren-, Ehe-, Elternrecht)
OIKONOMIKE- Hauswirtschaftslehre
KTESIS - Lehre vom Besitz, von der Verwendung der häuslichen Habe (OIKONOMIKE)
CHREMATISTIKE - Erwerbslehre = Herbeischaffen von Besitz und Vermögen (Reichtum gilt als die Menge von Werkzeug für die Haus- und Staatsverwaltung)
KTETIKE Natürliche Erwerbskunst
KAPELIKE Nicht-natürliche Erwerbskunst
TOKOS - Zins OBOLOSTATIKE Wucher
Auch Oikonomia genannt Dient der Beschaffung von Gütern für die Familie und den Staat = Natürlicher Tausch von Gütern (Früchten) der Natur Als METABLETIKE = Krämergewerbe bei natürlichem Tausch bekannt = Notwendige Erwerbskunst Sie hat Grenzen
Dient dem Gelderwerb und dem Krämer- und Händlergewerbe
Wucherer zieht Geld aus dem Gewinn, ist wider das Naturrecht und darum verhaßt.
Dient der Selbstgenügsamkeit (AUTARKElA) Sie ist ohne Tadel
= Nicht-notwendige Erwerbskunst Sie kennt keine Grenzen.
Dient der Bereicherung Erfährt gerechten Tadel
4. Kapitel
Die soziale Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin I. Gemeinwohlgerechtigkeit und Einzelgerechtigkeit Nach Thomas von Aquin ist es Sache des Gesetzes, die Ordnung zum Gemeinwohl herzustellen. Das Objekt dieser Gerechtigkeit wird also durch das Gesetz bestimmt '. Darum wird diese Art Gerechtigkeit Gesetzesgerechtigkeit genannt: "Das Gesetz betrifft eigentlich in erster Linie und hauptsächlich die Hinordnung auf das Gemeingut"2. Die Ordnung auf das Gemeinwohl ist nicht nur Sache des Gesetzes, sondern auch der Gerechtigkeit. Sie gilt immer in Bezug auf den Mitmenschen; denn sie ordnet das Verhältnis des Menschen in seiner Beziehung zum anderen 3 • Und dies kann in einer doppelten Weise geschehen: so nämlich, "daß man den anderen als einen Einzelnen nimmt" oder so, "daß man ihn als in der Gemeinschaft stehend nimmt" 4. Darum kann, wenn es um die Gerechtigkeit des einzelnen geht, von der Einzelgerechtigkeit gesprochen werden. Dreht es sich dagegen um die Zuordnung des einzelnen zum Ganzen, dann haben wir es mit der Gemeinwohlgerechtigkeit zu tun. Da der Mensch in der Gemeinschaft von Menschen lebt, ist er auch dem Ganzen gegenüber verpflichtet. "Der Teil . . . ist nach allem, was er ist, des Ganzen; deshalb kann auch jegliches Gut des Teiles auf das Ganze hingeordnet werden"5. Das Gut jeder Tugend, "sei es jene, die den Menschen zu sich selbst ordnet, sei es jene, die seine Beziehung ordnet zu irgendwe1cher anderen Einzelperson" kann "in Beziehung gesetzt werden zum Gemeinwohl". Darauf zielt die Gerechtigkeit 6 • Die Gerechtigkeit, die das Gemeinwohl zum Ziel hat, nennt man Gemeinwohlgerechtigkeit. Thomas gibt ihr aber auch den Namen "allgemeine Gerechtigkeit", denn der ganze sittliche Mensch steht unter ihrem Einfluß 7. Diese , Thomas von Aquin, Summa Theologica, Bd. 13, Gesetz, kommentiert von A.-F. Utz, Heidelberg, München, Graz, Wien, Salzburg 1953 (Abkürzung Thomas, Bandzahl; bei einem Kommentar: Thomas-Utz) Bd. I-II 90a 3; Bd. 13, S. 12. 2 Ebda. 3 Thomas von Aquin, Summa Theolociga, Bd. 18, Recht und Gerechtigkeit (Thomas, Bandzahl; bei einem Kommentar: Thomas-Utz, Bd. II-II, Bd. 18) Bd. II-II 58; 5, Bd. 18, S.32. 4 Thomas, II-II, 58,5; Bd. 18, WS. 33. 5 Ebda. 6 Thomas ,lI-lI, 58,5 Bd. 18, S. 33. 7 Thomas, II-II , 58,6; Bd. 18, S. 38; vgl. Thomas-Utz, Bd. 18, S. 458 und 460.
II. Die Einzelgerechtigkeit
41
Namensgleichheit ist darin begründet, daß durch sie "der Mensch in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das die Akte aller Tugenden auf das Gemeinwohl ausrichtet", steht 8. Die Gesetzesgerechtigkeit ist dabei die höhere Tugend. Sie ist eine dem Wesen nach von allen anderen verschiedene Tugend und leitet alle auf das eine Ziel des Gemeinwohls hin 9 • Da die Gesetzesgerechtigkeit das Gemeinwohl zu ihrem eigenen Gegenstand hat, ist sie vor allem" ,haupt' -sächlich und gleichsam führend" im Fürsten vorhanden (Et sic est in principe principaliter, et quasi architectonice) und gleichsam in zweiter Linie dienend in die Untergebenen gesetzt (in subditis autem secundario et quasi administrative) 10. Thomas sah also die Gemeinwohlgerechtigkeit zuerst primär im Fürsten und dann sekundär im Untergebenen verwirklicht. Mit Recht weist Utz darauf hin, daß in einer modemen Demokratie dagegen jeder einzelne in gleicher Weise im Staat die Verantwortung für das Gemeinwohl trägt ll . Es wäre indessen verfehlt, gegen die Lehre im Aufbau der Gemeinschaft von oben her, also vom Ganzen zum einzelnen hin, Thomas' sonst unzweideutige personalistische Gesellschaftslehre auszuspielen. Nach A. F. Utz besteht zwischen beiden Anschauungen kein Widerspruch 12. Thomas' personales Denken und die Ausrichtung auf die Gemeinwohlgerechtigkeit stellen sich nämlich nicht als zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen dar. Die Einzelgerechtigkeit ist nicht die Gerechtigkeit, die ein einzelner besitzt, sondern seine Gerechtigkeit gegenüber einem anderen und auch die "des Ganzen zu den Teilen" 13. Aus diesem Grunde unterscheidet er von der Gemeinwohlgerechtigkeit die Einzelgerechtigkeit mit ihren beiden Arten der ausgleichenden Gerechtigkeit, die das Verhältnis zweier einzelner Menschen bestimmt, und der austeilenden Gerechtigkeit, die vom Gemeinwohl zum einzelnen Menschen hin denkt.
11. Die Einzelgerechtigkeit
1. lustitia commutativa und distributiva bei Thomas Aristoteles hat nach Thomas unter dem Kennzeichen der Kardinaltugend der Gerechtigkeit die beiden Einzelgerechtigkeiten, die ausgleichende und die austeilende Gerechtigkeit verstanden. Die ausgleichende Gerechtigkeit, die iustitia commutativa, betrifft das Rechtsgeschäft zweier Individuen. Der eine hat das dem anderen zu erstatten, was jener von ihm erhalten bzw. genommen hat 14. Thomas, II-II, 58,5; Bd. 18, S. 33. Thomas, II-II, 58,6; Bd. 18, S. 38. 10 Thomas, II-II, 58,6; Bd. 18, S. 38. 11 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 461. 12 Thomas-Utz; Bd. 18, S. 458. 13 Thomas, 11-11, 61, 1, n. 5; Bd. 18 S. 92. 14 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 469.
8 9
4. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin
42
Die austeilende Gerechtigkeit, die iustitia distributiva, teilt vom Gemeinwohl an die einzelnen Glieder aus. Aber sie hat "nicht einfach ein einziges Individuum im Auge", sondern war immer auch auf den Rückbezug zum Ganzen hin angelegt 15. Sie beruht darauf, daß "etwas Vielen gegeben wird"16. Hinter ihr steht die Ordnung, die das Ganze zu den Teilen im Blick hat, indem sie "die Gemeinschaftsgüter nach einem bestimmten Verhältnis zuteilt" I? Durch die austeilende Gerechtigkeit wird dem Individuum zugeteilt, "sofern das, was dem Ganzen gehört, auch dem Teil geschuldet ist. Das ist natürlich um so größer, je größer der Vorrang des Teiles im Ganzen ist" 18. Während bei der ausgleichenden Gerechtigkeit ein geradezu mathematisch genauer Ausgleich herrscht, läßt sich das Maß der austeilenden Gerechtigkeit nur im Vergleich zum Ganzen festlegen. Denn die Güter des Gemeinwohls werden entsprechend dem Verdienst am Gemeinwohl verteilt 19. Heute werden dagegen aufgrund der iustitia distributiva die Güter des Gemeinwohls nach der Unterstützungsbedürftigkeit und dem jeweiligen Anspruch des einzelnen verteilt. Nach Thomas - und heute ist es nicht anders müssen, wenn dem einen mehr gegeben wird, als ihm zusteht, die Ansprüche und Rechte der anderen geschmälert werden. Insofern bedarf "das Rechtsverhältnis zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft" immer auch einer Rückorientierung zur Umwelt und damit zu den anderen Glieder der Gemeinschaft 20 . Die Beziehung zwischen dem einzelnen in der ausgleichenden (commutativen) Gerechtigkeit vollzieht sich dementsprechend harmonischer als in dem Verhältnis zwischen Einzelmenschen und Gemeinwohl in der iustitia distributiva. In der ausgleichenden Gerechtigkeit kommt ein "voller Ausgleich" zwischen den Partnern zustande. Aus diesem Grunde wird die iustitia commutativa auch "Verkehrsgerechtigkeit" genannt 21.
2. Das Verhältnis von Gemeinwohl und Partikulargerechtigkeit Die Gesetzesgerechtigkeit hat zum Ziel das Gemeinwohl. Die Einzelgerechtigkeit ist "ausgerichtet auf eine Privatperson, die sich zur Gemeinschaft verhält wie der Teil zum Ganzen"22. Das bedeutet zum einen die Ordnung vom Teil zum Teil, also von der einen Privatperson zur anderen. Diese Beziehung regelt, wie gesagt, die ausgleichende Gerechtigkeit. 15 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 565. 16 Thomas, 11-11, 61, 1, ll. 5; Bd. 18, S. 92. I?
18 19 20 21 22
Thomas, 11-11, 61, 1, n. 5; Bd. 18, S. 93. Thomas, lI-lI, 61, 2, ll. 3; Bd. 18, S. 95. Thomas-Utz, Bd. 18, S. 469. Ebda. Ebda. Thomas, lI-lI, 61, 1 n. 5; Bd. 18 S. 92.
1I. Die Einzelgerechtigkeit
43
Zum anderen wird damit das Verhältnis vom Ganzen zum einzelnen geregelt. Diese Ordnung wird für Thomas durch die austeilende Gerechtigkeit bestimmt. Sie regelt die ordungsgerechte (verhältnisbestimmte) Zuteilung (secundum proportionalitatem) der Güter des Gemeinwohls auf den einzelnen Menschen 23. Tendenziell bewegt sich Thomas beim Begriff der austeilenden Gerechtigkeit in die Richtung auf eine modern verstandene Gemeinwohlgerechtigkeit, wie A. F. Utz ausgeführt hat 24. Er meint, daß heute Gemeinwohlgerechtigkeit und austeilende Gerechtigkeit "nur verschiedene Funktionen ein und derselben Gerechtigkeit sind"25. Allerdings existiert für Thomas noch nicht, wie in der Gegenwart, eine Identität zwischen Gemeinwohlgerechtigkeit und austeilender Gerechtigkeit 26 . Für Thomas ist mit Aristoteles zwar der einzelne Mensch Teil des Ganzen. Aber es ist nicht Aufgabe der Gemeinwohlgerechtigkeit, vom Ganzen her sich des einzelnen anzunehmen. Das ist die Aufgabe der austeilenden Gerechtigkeit als einer Einzel- oder Partikular-Gerechtigkeit, auch wenn es in ihr nur um das Gemeinwohl gehen kann; denn der einzelne "besitzt" seine "Eigenrechte im Gemeinwohl" 27. Unabhängig davon, ob die Gemeinwohlgerechtigkeit oder die Partikulargerechtigkeit tätig wird, es geht um das Verhältnis des Gemeinwohls zum einzelnen. Aber die austeilende Gerechtigkeit hat nicht speziell ein einzelnes Individuum im Auge, sondern bedenkt immer die Beziehung zum Ganzen mit. Denn "in der austeilenden Gerechtigkeit wird einer Privatperson etwas zugeteilt, sofern das, was dem Ganzen gehört, auch dem Teil geschuldet ist"28. Der Anteil des Gemeinwohls, den jemand bekommt, wird abhängig von dem Vorrang, den er in der Gemeinschaft einnimmt, gesehen 29 . F. A. Utz fügt hinzu, daß obendrein auch seine "Unterstützungsbedürftigkeit" wohl bedacht werden müsse 30 . "Das Rechtsverhältnis zwischen Einzelmensch und Gemeinschaft bedarf also immer der Rückorientierung an der Umwelt, den andern Gliedern der Gemeinschaft"3!. Nach Josef Pieper stellt sich das Verhältnis von legaler, commutativer und distributiver Gerechtigkeit folgendermaßen dar 32 :
23 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 461; vgl. Thomas, lI-lI, 61,1; Bd. 18, S. 93. 24 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 461. 25 Ebda. 26 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 565. 27 Ebda. 27 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 565. 28 Thomas, lI-lI, 61, 2 n. 3; Bd. 18, S. 95. 29 Ebda. 30 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 469. 3! Ebda. 32 Josef Pieper, Das Viergespann, Klugheit - Gerechtigkeit - Tapferkeit - Maß, München 1964, S. 96 ff. u. S. 284.
4. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei Thomas von Aquin
44
C Das Soziale Ganze (z. B. Volk)
iustitia legalis iustitia distributiva Die legale Gerechtigkeit Die zuteilende Gerechtigkeit A "",,-------------3» B iustitia commutativa Die Tausch- oder Verkehrsgerechtigkeit
Den Aspekt, daß von dem einzelnen zum Ganzen hin, das Verhältnis bestimmt werden könnte, hat Thomas, wie A. F. Utz betont, nicht bedacht 33. Denn "das aristotelische Vorbild von der Gemeinwohlgerechtigkeit ließ diese Schlußfolgerungen nicht ZU"34. Das Verhältnis vom fürstlichen Handeln zum Auftreten des Untertans hat sicher diese Richtung ebenfalls mitbestimmt. Der Fürst war Verkörperung des Gemeinwohls, aber das allein dürfte nicht der Grund für die Einstellung von Thomas gewesen sein. Diese liegt tiefer. Nach Utz hat Thomas die Gemeinwohlgerechtigkeit nicht im Sinne der austeilenden Gerechtigkeit als Ordnungsprinzip der vielen einzelnen Individuen angesehen, weil er von einer Sicht der Gesellschaft ausgegangen ist, die zutiefst in der natura humana begründet ist. Diese hat "als absolute Norm jedem menschlichen Handeln, auch der Gesellschaft ihr Maß eingeprägt. Wenn also Thomas zu dem Individualprinzip gelangt, dann eben nur, weil vom Gemeinwohl, eben dem allgemeinen Gut der menschlichen Natur her, dies verlangt ist, nicht aber, weil der einzelne von vornherein als individueller, vorstaatlicher Rechtsträger betrachtet würde" 35. Thomas denkt also gar nicht an den individuellen Menschen, "sondern an den Menschen als solchen, an die persona und natura humana im allgemeinen, in welcher der individuelle Mensch nur potentiell ausgesprochen ist"36. Die Gegenwart kann das Gemeinwohl sich nur im Sinne einer "ausgeglichenen Proportion und Koordination aller vorstellen", wie Utz ausführt 37 , so daß eine Differenzierung nach unterschiedlichen Gerechtigkeiten nicht mehr gegeben ist. Heute besteht das Gemeinwohl "nur noch in der Ordnung der vom Gesetz den vielen einzelnen aufgetragenen Lasten und Pflichten" 38. Der darin zum Ausdruck kommende Individualismus war für Thomas nicht gegeben. Sein Verständnis 33 34 35 36 37 37 38
Thomas-Utz, Thomas-Utz, Ebda. Thomas-Utz, Thomas-Utz, Thomas-Utz, Ebda.
Bd. 18, S. 565. Bd. 18, S. 566. Bd. 18, S. 492. Bd. 18, S. 461. Bd. 18, S. 462.
III. Die Aufnahme des Gerechtigkeitsgedankens
45
von Gemeinwohlgerechtigkeit bedeutete immer "ein integrales Ja zur Gemeinschaft"39. Das Gemeinwohl rangierte für ihn vor dem Einzelwohl. "Das Gemeinwohl ist das Ziel der einzelnen zu einer Gemeinschaft gehörenden Personen, wie das Gut des Ganzen Ziel eines jeden der einzelnen Teile ist" 40.
III. Die Aufnahme des Gerechtigkeitsgedankens in der katholischen Sozialethik In der katholischen Sozialethik ist die soziale Gerechtigkeit ganz unterschiedlich in das von Thomas entwickelte Schema eingearbeitet worden 41 • A. F. Utz hat vier Gruppen unterschieden: 1. Die soziale Gerechtigkeit wird als identisch mit der Legalgerechtigkeit angesehen (z. B. Ermecke); 2. Die soziale Gerechtigkeit umfaßt die Besonderheiten der legalen und der distributiven Gerechtigkeit (z. B. Pesch, Welty); 3. Die soziale Gerechtigkeit vereinigt die Besonderheiten der distributiven und der commutativen Gerechtigkeit (Taparelli); 4. Die soziale Gerechtigkeit steht außerhalb des Schemas von der legalen, der commutativen und der distributiven Gerechtigkeit (z. B. Messner, Nell Breuning, Gundlach).
Auch die Päpste der letzten 100 Jahre haben sich nach Meinung einer Vielzahl der katholischen Sozialwissenschaftler der Interpretation der 4. Gruppe verschrieben. Darum besteht eine starke Aufnahmebereitschaft für diese Gestalt der Interpretation. Die soziale Gerechtigkeit wird weder mit einem der drei Begriffe von Gerechtigkeit, die in den anderen Gruppen angewandt wird, gleichgesetzt, noch kann sie nach Messner auf die Aktivitäten des Staates beschränkt werden. Sie wendet sich an die ganze Gesellschaft, also nicht nur an den Staat. Darin hat man die Gedanken Luigi Taparellis weitergeführt. In seiner Interpretation von sozialer Gerechtigkeit sollen alle am Verteilungsprozeß Beteiligten gleichzeitig angesprochen werden. Denn hier soll gemäß dem Subsidiaritätsprinzip die Gesellschaft von unten nach oben aufgebaut werden 42 •
39 Thomas-Utz, Bd. 18, S. 462.
Thomas, lI-lI, 58, 9 n. 3; Bd. 18, S.47. Arthur-Fridolin Utz, Sozialethik, Heidelberg, Löwen, 21964 (Abkürzung: Sozialethik), S. 220 ff. 42 Utz, Sozialethik, S. 224. 40 41
5. Kapitel
Die Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre I. Leo XIII.
Leo XIII. fordert in seiner Enzyklika Rerum Novarum die Arbeiter auf, so zu arbeiten, daß sie entsprechend ihrem frei und gerecht geschlossenen Vertrag dem Arbeitgeber keinen Schaden an Person und Sache zufügen I. Von den Arbeitgebern wird erwartet, daß sie ihre Arbeitnehmer entsprechend ihrer persönlichen Würde achten und ehren und nicht von ihnen ungerechtfertigte Arbeit und Leistung fordern 2. Dazu gehört eine geregelte Arbeitszeit und eine Unterbrechung der Arbeitsleistung am Tage, damit der Arbeitnehmer nicht über seine Kräfte hinaus beansprucht werden kann 3. Dazu gehört jedoch auch, daß zwischen gerechtem Besitz und gerechtem Gebrauch des Besitzes unterschieden wird. Die Kirche als die" Vertreterin und Wahrerin der Religion" hat die Grundprinzipien der Gerechtigkeit aufzustellen und für die Versöhnung zwischen Reichen und Armen Sorge zu tragen 4. Das Privateigentum ist ein Naturrecht und wird nur recht gebraucht, wenn es als ein allen gemeinsames Gut betrachtet und behandelt wird. Diesen Grundsatz hat die Kirche von Thomas von Aquin übernommen. Der Reiche muß von seinem Reichtum abgeben. Besitzlosigkeit ist keine Schande. Denn Christus der Herr ist um des Menschen willen arm geworden, obwohl er reich war 5 • Dementsprechend sind die Besitzlosen "vom naturrechtlichen Standpunkt" aus gesehen "nicht minder Bürger als die Besitzenden"6. Es ist Aufgabe des Staates, daß dieser Grundsatz eingehalten wird 7 • Denn der Staat muß "jedem das Seine" gewähren, wenn er die Forderung der Gerechtigkeit nicht verletzen will. In diesem Sinne hatte sich schon, wie Leo XIII. bemerkt, Thomas von Aquin geäußert: "Wie der Teil und das Ganze gewissermaßen Rerum Novarum (Abkürzung R. N.) n. (numerus) 16. Ebda. 3 R. N. n. 33. 4 R. N. n. 16. 5 R. N. n. 20. Der Papst nennt 3 Gründe für das Naturrecht am Eigentum: 1. Die Vernunft, 2. Die Freiheit des Menschen, 3. Die Pflicht zur Arbeit; vgl. Thomas-Utz, Bd. 18, S. 493; zu Thomas lI-lI, 66, 1/2. 6 R. N. n. 27. 7 Ebda. 1
2
11. Pius XI.
47
dasselbe sind, so gehört das, was dem Ganzen gehört, auch gewissennaßen dem Teile an"8. Um allen Staatsbürgern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, hat der Staat die Aufgabe, mit der iustitia distributiva ernst zu machen. Staat und Arbeitgeber werden aufgefordert, die Lohnfrage so zu regeln, daß die Arbeitnehmer einen Lohn erhalten, durch den sie die eigene Existenz sichern, mit Frau und Kindern leben und schließlich einen "Sparpfennig zurücklegen" können. "Der Staat muß dieses Recht in seiner Gesetzgebung begünstigen und nach Kräften dahin wirken, daß möglichst viele aus den Staatsangehörigen eine eigene Habe zu erwerben trachten"9. Die Unternehmer dürfen keinen Zwang zum Niedriglohn ausüben. Der Arbeitnehmer wird sich seinerseits nur aus reiner Not unterordnen. "Die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch" 10.
11. Pius XI. Pius XI. hat 1931 in Quadragesimo Anno bekanntlich diese Gedanken übernommen und fortgeführt. Er will das soziale Refonnprogramm der Kirche, das sein Vorgänger Leo XIII. verkündet hat, verwirklichen und die Gesellschaft in "sozialer Gerechtigkeit und sozialer Liebe" erneuern 11. Zunächst geht es Pius darum, die Lohngerechtigkeit, die Leo XIII. angesprochen hat, genauer auszulegen bzw. weiterzuführen 12. Es ist ein Gebot der Gemeinwohlgerechtigkeit, daß der Arbeiter einen ausreichenden Lohn für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie erhält 13. Sollte das im Augenblick noch nicht möglich sein, wird um der Gemeinwohlgerechtigkeit willen dieser Zustand angestrebt werden müssen. Aber es darf bei der Neugestaltung des Lohnes nicht zu übertriebenen Forderungen kommen, "die zum Zusammenbruch des Unternehmens mit allen sich daraus ergebenen bösen Folgen für die Belegschaft selbst führen" könnten. 14 • Da die Lohnhöhe von besonderem Gewicht für die Anzahl der Beschäftigten ist, verbietet es die Gemeinwohlgerechtigkeit, die Löhne um des eigenen Vorteils willen "über den zulässigen Spielraum hinaus hinabzudrücken oder hinaufzutreiben" 15. Hier muß das richtige Verhältnis gefunden werden. Zur Gemeinwohlgerechtigkeit gehört natürlich auch, daß die Verteilung der Erdengüter ausgewogen stattfindet und dem Gemeinwohl entspricht 16. Unter diesem Gesichtspunkt muß über die Verteilung der Güter auf der Erde und über 8 Ebda. Vgl. Kap. 4. 9
10 11 12 13
14 15
16
R. N. n. 35. R. N. n. 34.
Quadragesimo Anno (Abkürzung Q. A.) n. 126; vgl. 88. Q. A. n. 63.
Q.A.n. 7l.
Q. A. n. 72. Q. A. n. 74. Q. A. n. 58.
48
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
eine entsprechende Lohngerechtigkeit hinaus auch die Struktur der Gesellschaft bedacht werden. Die Frage der Gerechtigkeit betrifft nicht nur den Einzelmenschen, sondern auch die Gesellschaftsordnung. Aus diesem Grunde bedarf es nicht nur in der Wirtschaft - "auch des tätigen Eingreifens der staatlichen Gewalt, um in der rechten Weise die Wohlstandssteigerung zu fördern, so daß mit ihr zugleich ein sozialer Fortschritt verbunden ist und sie so allen Bürgern zustatten kommt", schreibt später dann 10hannes XXIII. in Mater et Magistra über die Fortführung der Gedanken seit Leo XIII. 17. Dabei gilt es, den Platz des Staates bei der Reform der Gesellschaft richtig einzuordnen. Er darf nicht an die Stelle individueller und gemeinschaftlicher Tätigkeiten treten. Er darf auch nicht alle gesellschaftlichen Verpflichtungen auf sich laden. Er muß seinerseits viel mehr Eigenständigkeit im wirtschaftlichen Prozeß behalten. Dieses staatliche Eingreifen, "das fördert, anregt, regelt, Lücken schließt und Vollständigkeit gewährleistet" 18, wird durch das "Subsidiaritätsprinzip", wie es Pius XI. formuliert hat 19, begründet: "Fest und unverrückbar bleibt jener oberste Grundsatz der Sozialphilosophie, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, daß, was die kleineren und untergeordneteren Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die gerechte Ordnung. ledwede Gesellschaftstätigkeit ist ja in ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen" 20. Mit diesem Prinzip soll geregelt werden: -
Was der einzelne aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften tun kann, darf ihm nicht entzogen und der Gesellschaft zugewiesen werden. Die gesellschaftliche Tätigkeit ist ihrem Wesen nach nur als subsidiär anzusehen;
-
das größere Gemeinwesen hat sich gegenüber dem kleineren zurückzuhalten; ebenso soll der Stärkere es dem Schwächeren ermöglichen und es ihm sogar leicht machen, seine Rechte wahrzunehmen;
-
der Staat hat die Aufgabe, seine Verpflichtungen gegenüber dem einzelnen und schwächeren Glied durch schnelles und evtl. vorzeitiges Eingreifen durchzusetzen;
-
die Hilfe ist nur subsidiär zu geben;
17
18
19 20
Mater et Magistra (Abkürzung M. M.) n. 52. M. M. n. 53. Q. A. n. 79. Q. A. n. 79; vgl. M. M. n. 53.
II. Pius Xl.
49
staatliches Eingreifen soll zwar den Wohlstand fördern, Fortschritt und Gerechtigkeit erzielen, aber der Privatinitiative des einzelnen gehört der Vorrang 21 . Der Staat soll Fragen von untergeordneter Bedeutung nach dem Subsidiaritätsprinzip den kleineren Gemeinwesen überlassen. Er erhält dadurch freiere Hand, größere Aufgaben, die für das gesamte Gemeinwesen wichtig sind, in Angriff zu nehmen. Je mehr die Aufgaben auf die unteren Ebenen verteilt werden können, umso mehr kann sich der Staat auch den größeren gesellschaftlichen Problemen widmen 22. Staat und Gesellschaft sollen insgesamt von der Gerechtigkeit "durchwaltet" sein 23 . In diesem Zusammenhang spricht Pius XI. von der sozialen Gerechtigkeit. Ihre Zielsetzung ist das Gemeinwohl. Wirtschaftliche, staatliche und gesellschaftliche Einrichtungen müssen von der Rechts- und Gesellschaftsordnung durchdrungen sein. Die Aufgabe der sozialen Gerechtigkeit ist es, in diesen Ordnungen den "Streitstoff sozialer Konflikte und Möglichkeiten aus der Welt zu schaffen"24. Das kann sie leisten. Auf die Herzen der Menschen einzuwirken, das aber kann sie nicht - das ist allein der Liebe möglich. Darum fordert Pius XI. als Ergänzung der sozialen Gerechtigkeit die soziale Liebe. Diese ist kein Ersatz für die geschuldete, jedoch nicht gewährte Gerechtigkeit. "Aber selbst wenn der Mensch alles erhielte, was er nach der Gerechtigkeit zu erhalten hat, bliebe immer noch ein weites Feld für die Liebe: Die Gerechtigkeit, so treu sie auch immer geübt werde, kann nur den Streitstoff sozialer Konflikte aus der Welt schaffen; die Herzen innerlich zu verbinden, vermag sie nicht" 25. Die soziale Liebe bildet die Grundlage für die Sicherung des sozialen Friedens und der Zusammenarbeit unter den Menschen. Insofern stellt sie eine "sittliche Tugend" dar, "die darauf ausgeht, die ideale gesellschaftliche Ordnung zu verwirklichen, die das Gemeinwohl dort anstrebt, wo alle Koordination der verschiedenen Ansprüche und Leistungen einfach unzureichend bleibt"26. Soziale Gerechtigkeit und soziale Liebe bilden die Teile des sozialen Programms, durch die die Gesellschaft erneuert werden soll, wie es dieser Papst auf der Grundlage der Aussagen von Leo XIII. sagen kann. Pius XI. gebraucht allein achtmal in Quadragesimo Anno den Begriff der sozialen Gerechtigkeit. Damit hebt er in besonderer Weise den Begriff der Gerechtigkeit durch das Attribut des Sozialen hervor und präzisiert ihn. Dieser Papst hat sich also zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit bekannt und ist darum in der Lage, nebeneinander von der Gerechtigkeit, der Gemeinwohlgerechtigkeit 27 21 22 23 24 25 26 27
Rolf Kramer, Sozialer Konflikt und christliche Ethik, Berlin 1988, S. 79. Q. A. n. 80. Q. A. n. 88. Q. A. n. 137. Ebda. Thomas-Utz, Bd. 18, S. 571. Q. A. n. 57 f.; 71; 110.
4 KrameT
50
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
und von der sozialen Gerechtigkeit 28 zu sprechen. Insbesondere die beiden zuletzt genannten Begriffe werden eng miteinander verknüpft. Beide geben die Grundlage der Verteilung ab. Darum heißt es auch: "Jedem soll also sein Anteil zukommen; im Ergebnis muß die Verteilung der Erdengüter... wieder mit den Forderungen des Gemeinwohls bzw. der Gemeinwohlgerechtigkeit in Übereinstimmung gebracht werden"29. Von den gesellschaftlichen Gruppen der Unternehmer wird verlangt: "Die Gemeinwohlgerechtigkeit verbietet daher, ohne Rücksicht auf das Gemeinwohl nur dem eigenen Vorteil gemäß die Löhne über den zulässigen Spielraum hinaus hinabzudrücken oder hinaufzutreiben"30. Danach stellt die soziale Gerechtigkeit für Pius XI. ein naturrechtliches Prinzip der Gesellschaftsordnung dar, "in welcher jeder seine ihm zugehörende Freiheit besitzt und auch seine Verpflichtungen gegenüber dem Ganzen zu erfüllen hat"31. Der Papst verstand dieses naturrechtliche vorstaatliche Prinzip im Sinn von Thomas als Legalgerechtigkeit. Legale und soziale Gerechtigkeit können von Pius XI. synonym gebraucht werden 32.
111. Pius XII. Pius XII. hat zur sozialen Gerechtigkeit keine umfassende Stellung bezogen. Aber hier und da hat er sich zu dieser Frage geäußert. In seinem Pontifikat gab er relativ früh - anläßlich seines 25. Bischofsjubiläums 1943 - eine Definition der von ihm vertretenen Auffassung von sozialer Gerechtigkeit. Er warnte die versammelte Arbeiterschaft vor einer sozialen Revolution, die Ungerechtigkeit und Auflehnung gegen den Staat bedeutet. Darum ergriff er Partei für eine "wahrhaft nationale Gemeinschaft" und forderte, daß diese die soziale Gerechtigkeit mit einschließt 33. Die Gerechtigkeit selbst definierte er als eine "gerechte und billige Beteiligung aller an den Gütern des Landes" 34. Die Entwicklung der Gemeinschaft kann sich nicht durch Umsturz, sondern nur in Eintracht vollziehen. So wird Heil und Gerechtigkeit und damit die Erfüllung von berechtigten Wünschen und Bedürfnissen geschenkP5. Die hier und auch anderen Ortes angesprochene Frage der Güterverteilung wird von Pius XII. immer wieder aufgegriffen. Aus vielfältigen Anlässen beschäftigt er sich damit, die gerechte Güterverteilung als einen wichtigen Faktor im sozialen und wirtschaftlichen Prozeß zu fordern und verweist dabei auch auf Q. A., wo Pius XI. ausgeführt hat, daß die Güter 28 29 30 31 32 33
Q. A. n. 88; 126; 137. Q. A. n. 58. Q. A. n. 74. Utz, Sozialethik, S. 220. Ebda. Arthur Utz - J. F. Groner, Soziale Summe Pius XII, Freiburg, Schweiz Bd. 1-3 1954 ff. (Abkürzung Utz-Groner) n. 685. 34 Utz-Groner, n. 585. 35 Utz-Groner, n. 686.
IV. Johannes XXIII.
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so reichlich bemessen sein sollen, "daß sie nicht bloß zur lebensnotwendigen und sonstigen ehrbaren Bedarfsbefriedigung ausreichen, sondern den Menschen die Entfaltung eines veredelten Kulturlebens ermöglichen, das in rechtem Maß genossen, dem tugendlichen Leben nicht nur nicht abträglich, sondern im Gegenteil förderlich ist" 36. Die Sozialgerechtigkeit und damit insbesondere die gerechte Güterverteilung kann als ein Zeichen dafür gelten, ob das wahre Ziel der Volkswirtschaft "erreicht" ist 37. Keinesfalls darf man einen bestehenden Zustand schon von sich aus als gerecht ansehen. Denn das Überlieferte ist etwas anderes als das Gerechte 38 , und die konkrete Sozialgerechtigkeit muß in Abhängigkeit von Zeit, Ort und Kultur gesehen werden 39 . Pius XII. ist der Meinung, daß für die soziale Gerechtigkeit und damit auch die weitere Vervollkommnung der sozialen Strukturen das Christentum "der einzig wahre und sichere Hort" ist 40. Darum gilt für den Christen, daß·es "nirgends echte Gerechtigkeit" gibt, "wo nicht zuerst der Hauch der Liebe geweht und sie vorbereitet hätte". Insofern kommt zur Gerechtigkeit die Liebe hinzu bzw. geht ihr voraus.
IV. Johannes XXIII. Johannes XXIII. geht in seiner großen Sozialenzyklika Mater et Magistra aus dem Jahr 1961 von Rerum Novarum aus und führt die dort Gestalt gewordene Lehre über die persönliche Initiative und den staatlichen Eingriff in die Wirtschaft weiter. Er übernimmt ferner das Subsidiaritätsprinzip aus Quadragesimo Anno und die in dieser Enzyklika geäußerte Anschauung von der sozialen Gerechtigkeit. Darum verlangt er vom Staat sowohl die Förderung der privaten Initiative wie auch die Führung in der Wirtschaftspolitik. 41 . Außerdem weist Johannes XXIII. darauf hin, daß die Ausdrucksweise "Forderungen der Gerechtigkeit" und das Wort "Gerechtigkeit" zwar von vielen Menschen gebraucht wird. Aber man ist sich nicht darüber einig ist, was damit gemeint ist. "Sehr oft versteht man darunter Entgegengesetztes"42. Man wendet sogar Gewalt an, um bei den Auseinandersetzungen über die Gerechtigkeit seine eigenen Rechte und Interessen zu wahren. Johannes XXIII. beruft sich in Pacem in Terris auf das Naturrecht, wenn er von dem Grundrecht der menschlichen Person und der Ordnungen unter den Menschen spricht 43 . Im Blick auf die Menschenrechte besitzt der Mensch ein Recht auf 36 37 38 39
Q. A. n. 75 ; Utz-Groner 3390. Utz-Groner, n. 3390. Vgl. Utz-Groner, n. 2456. Utz-Groner, n. 2656. 40 Utz-Groner, n. 4466. 41 M. M. n. 54. 42 M. M. n. 206.
43 Pacem in Terris (Abkürzung: P. T.) n. 8 f. 4*
52
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
-
Leben, auf die Unversehrtheit des Leibes, auf Nahrung, Wohnung, ärztliche Versorgung etc. 44 ,
-
Ehre und guten Ruf 45 ,
-
Meinungs- und Inforrnationsfreiheit 45 .,
-
Berufsausübung und berufsspezifische Ausbildung 46 , Chancengleichheit entsprechend den Begabungen und Kenntnissen 47,
-
Gewissensfreiheit und Religionsausübung, privat und öffentlich 48 ,
-
Freie Wahl des ehelichen und nicht-ehelichen Lebensstandes 49 ,
-
Arbeit, humane Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzgestaltung 50,
-
Eigentum an Produktionsmitteln 51 , das Gemeinwohl verlangt manches Mal eine Enteignung des Grundbesitzes, wenn das Eigentum dem Gemeinwohl hemmend entgegensteht 52; das Recht auf Nutzung der Erdengüter geht dem des Eigentums vor 53,
-
Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit 54; diese Vereinigungen fördern den einzelnen und schützen seine Eigenverantwortlichkeit 55 ,
-
Freie Wahl des Wohnsitzes 56,
-
Politische Rechte, z. B. aktive Teilnahme am öffentlichen Leben; denn der Mensch ist Träger, Grundlage und Ziel des sozialen Lebens 57 ,
-
Gesetzlichen Schutz der Persönlichkeitsrechte 58 •
Freilich sind diese Rechte in der Person mit ebenso vielen Pflichten verbunden. Rechte und Pflichten haben ihre "unzerstörbare Kraft" vom Naturgesetz 59 • Sie
P.T.n. 1l. P. T. n. 12. 45. Ebda. 46 P. T. n. 12 u. 13. 47 P. T. n. 13. 48 P. T. n. 14. 49 P. T. n. 15. 50 P. T. n. 18f. 51 P. T. n. 20 f. 52 Populorum Progressio (Abkürzung: P. P.) n. 24. 53 P. P. n. 24. 54 P. T. n. 23. 55 P. T. n. 24. 56 P. T. n. 25. 57 P. T. n. 26. 58 P. T. n. 27. 59 P. T. n. 28.
44
45
V. Paul VI. und das 2. Vatikanische Konzil
53
bedingen sich wechselseitig 60. In der menschlichen Gemeinschaft besteht ein wechselseitiges Verhältnis von Rechten und Pflichten der einzelnen Personen 6O •• Nur dann kommt es zu einer geordneten Zusammenarbeit und zu einem gemeinsamen Verantwortungsbewußtsein im Zusammenleben der Menschen, wenn diese von Gerechtigkeit und Liebe geleitet werden 61 . Das gilt von den Menschen untereinander aber ebenso wie von der Beziehung der Staaten zueinander. Auch hier müssen beiderseitige Rechte anerkannt und wechselseitige Pflichten erfüllt werden 62 . Fehlt in den Staaten die Gerechtigkeit, dann sind sie nach einem Worte Augustins nichts anderes als große Räuberbanden 63. Alle menschlichen Einrichtungen - also auch die des Staates - können nur verbessert werden, wenn man "von innen her und behutsam vorangeht" 64. Darum formuliert der Papst auch Worte aus der Pfingstansprache Pius XII. von 1943: ,,Nicht im Umsturz, sondern in der Entwicklung in Eintracht liegt Heil und Gerechtigkeit"65.
V. Paul VI. und das 2. Vatikanische Konzil Die Zuordnung von Frieden und Gerechtigkeit wird mit Nachdruck in der Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils "Gaudium et Spes" vorgenommen. Nicht nur für die Ausgestaltung eines menschenwürdigen politischen Lebens wird die Pflege der Gerechtigkeit gefordert 66 , das Konzil möchte alle Christen aufrufen, mit allen Menschen zusammenzuarbeiten, "um untereinander in Gerechtigkeit und Liebe den Frieden zu festigen"67. Frieden wird nach dem Propheten Jesaja als Werk der Gerechtigkeit bezeichnet 68 . Vom Frieden kann auch gesagt werden, daß er die Frucht der Liebe ist, "die über das hinausgeht, was die Gerechtigkeit zu leisten vermag" 6? Zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit hat Paul VI. anläßlich der 75 Jahrfeier von "Rerum Novarum" weitere Überlegungen angestellt. Die soziale Gerechtigkeit ist für ihn eine "dynamische Gerechtigkeit", die auf dem Boden des Naturrechts die Entfaltung des menschlichen Zusammenlebens entwickelt und fördert. Sie steht neben der "statischen Gerechtigkeit, die durch das positive Recht sanktioniert ist und die eine bestimmte Ordnung schützt"70. Diese Dynamik verdeutlicht P. T. n. 29. P. T. n. 30. 61 P. T. n. 35; 45. 62 P. T. n. 91. 63 P. T. n. 92. 64 P. T. n. 162. 65 P. T. n. 162; vgl. Utz-Groner, n. 686. 60
60.
Gaudium et Spes (Abkürzung:GeS) n. 73. 67 GeS n. 77. 68 GeS n. 78. 69 Ebda. 70 75 Jahrfeier von R. N. n. 3. 66
54
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
der Papst in seiner Enzyklika Populorum Progressio, in der es ihm und die Entwicklung und Förderung der Entwicklungsländer auf allen Gebieten und um die "Schaffung einer menschlicheren Welt für alle" geht 71 , Für Paul VI. sind Wirtschaftsbeziehungen, wie sie im Augenblick zwischen den mächtigen und den schwachen Völkern herrschen, ungesund. Er ruft die Menschen auf, diese Entwicklung abzustellen 72 • Er bezieht sich auf seinen Vorgänger Leo XIII., um auf das Recht und die soziale Ausgewogenheit der Handelsbeziehungen hinzuweisen: Das Einverständnis der Partner genüge nicht, um die Gerechtigkeit eines Vertrages zu garantieren, wenn eine ungleiche Situation herrscht. Was für den gerechten Lohn eines einzelnen Arbeiters gelte, sei analog auf die internationalen Verträge anzuwenden. "Eine Verkehrswirtschaft .kann nicht mehr allein auf die Gesetze des freien und ungezügelten Wettbewerbs gegründet sein, der nur zu oft zu einer Wirtschaftsdiktatur führt. Der freie Austausch von Gütern ist nur dann recht und billig, wenn er mit den Forderungen der sozialen Gerechtigkeit übereinstimmt"73. Insofern muß die Marktwirtschaft auch sozial abgesichert werden. Es wird ein enger Zusammenhang zwischen den Begriffen Entwicklung, Gerechtigkeit und Frieden gesehen. Für den Papst kann heute niemand mehr bezweifeln, "daß Entwicklung gleichbedeutend ist mit Frieden"74. Diese Überlegungen werden in seiner Ansprache an die Internationale Arbeitsorganisation aus dem Jahre 1969 zugespitzt. Er kann dort in voller Übereinstimmung mit der Verfassung dieser Organisation das Ziel formulieren: "Ein ,allgemeiner dauerhafter Friede auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit'" soll angestrebt werden 75 • Damit würde auch erfüllt werden, was bereits Thomas von Aquin forderte, daß das Soziale über das Ökonomische siegen muß 76. Nur durch die ordnende Hand des Sozialen wird auch das Ökonomische mehr und besser der Gerechtigkeit entsprechen. Dann ist auch "ein allgemeiner dauerhafter Friede auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit" möglich 77. Das bedeutet für die Internationale Arbeitsorganisation die Verpflichtung, die Entwicklung der schwachen Völker zu fördern, indem sie "die Voraussetzungen nicht nur theoretischer, sondern auch praktischer Natur für ein wirkliches internationales Arbeitsrecht auf Völkerebenen" schafft 78. Anläßlich des 80. Gedächtnisses der Enzyklika Rerum Novarum setzt sich Paul VI. dafür ein, daß die Kirche in den Wirren und Unsicherheiten dieser Zeit erneut die Fragen aufgreift, die in der Enzyklika Rerum Novarum angeprangert 71 P. P. n. 44. 72
Ebda.
75
Intern. Arbeitsorganisation n. 8 ; 14; 16.
73 P. P. n. 59. 74 P. P. n. 87.
76 Intern. Arbeitsorganisation n. 16. 77 78
Intern. Arbeitsorganisation n. 8; vgl. 16. Intern. Arbeitsorganisation n. 22.
VI. Die Römische Bischofssynode von 1971 (De iustitia in mundo)
55
worden sind. Da außerdem neue Fragen ins öffentliche Bewußtsein gerückt sind, muß die Kirche auch den Inhalt der sozialen Gerechtigkeit aktuell ausfüllen. Sie verkündet die Botschaft der Befreiung und wendet sich damit auch gegen Hunger, Krankheiten, Analphabetismus, Armut und gegen Ungerechtigkeit in den internationalen Beziehungen des Handels und des wirtschaftlichen Austausches der Völker. Dies steht "im Einklang mit der Evangelisation"79. Paul VI. sieht zwischen der Evangelisierung und der Förderung der Menschen eine enge Verbindung. Denn für ihn besteht eine Beziehung zwischen dem "Schöpfungsplan" und dem "Erlösungsplan" . Beide sind nicht voneinander zu trennen. Der Erlösungsplan umfaßt auch die Bekämpfung des Unrechts und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit 80.
VI. Die Römische Bischofssynode von 1971 (De iustitia in mundo) Ausführlich hat sich die Römische Bischofssynode 1971 über das Problem der "Gerechtigkeit in der Welt" Gedanken gemacht und dazu Stellung bezogen. Es geht um das ganze Spektrum: von Gottes erlösender Gerechtigkeit in Christus 81 bis zu einer weltweit zu schaffenden Gerechtigkeit, die keinesfalls im katholischen Raum oder in der ökumenischen Zusammenarbeit ihr Ende findet, sondern nach mehr Gerechtigkeit in allen Bereichen strebt und darum auch die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen sucht. Grundlage der Gerechtigkeitsidee der Synode ist das Alte Testament, in dem sich Gott als Befreier der Menschen und als ein Anwalt der Armen erweist. Gott fordert von den Menschen Glauben und die Ausübung von Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen. Christus hat diese beiden Seiten in seinem Leben und in seiner Lehre verkörpert. Sie sind auch ausdrückbar als: Hingabe an Gott und Befreiung der Menschen von Unterdrückung 82. Die christliche Botschaft kennt darum diese Verhältnisbestimmung des Menschen: den vertikalen Aspekt der Hingabe an den Schöpfer und das horizontale Verhalten gegenüber den Mitmenschen 83 • Gottes Liebe findet unter den Menschen im Verhältnis zum Nächsten - in Gerechtigkeit und Liebe - ihre Entsprechung. Darum sind Nächstenliebe und Gerechtigkeit im christlichen Glauben untrennbar verbunden. Mit dem Auftrag an die Kirche, diese Liebe weiterzugeben und die Frohe Botschaft zu verkünden, hat sie das Recht und die Pflicht, "für Gerechtigkeit im sozialen, nationalen 79 So spricht es der Papst aus anläßlich seines apostolischen Schreibens an den Episkopat, den Klerus und alle Gläubigen der katholischen Kirche "Evangelii Nuntiandi" n.30. 80
81 82
83
Evangelii Nuntiandi n. 31. De iustitia in mundo (Abkürzung: in mundo) n. 31 ff. in mundo n. 32. in mundo n. 35.
56
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
und internationalen Bereich einzutreten und rechtswidrige Zustände zu rügen" 84. Sie ist selbstverständlich für die Durchsetzung der Gerechtigkeit nicht allein verantwortlich. Aber indem sie Liebe und Gerechtigkeit miteinander verbindet, führt sie ihren Auftrag aus 85 . Sie verfügt nicht über fertige Lösungen, weder im sozialen oder ökonomischen noch im politischen Bereich 86. Die Christen als Glieder der Kirche sind zugleich Angehörige des Gemeinwesens und haben dementsprechend die Pflicht - wie andere Bürger auch - sich für ihr Gemeinwohl einzusetzen und personale Würde und Gerechtigkeit zu erkämpfen. Die Christen, an die sich die Römische Bischofssynode wendet, stehen in diesem Zusammenhang in Übereinstimmung mit dem 2. Vatikanischen Konzil in der Gemeinschaft mit allen, die sich in der ökumenischen Zusammenarbeit zur Förderung der Gerechtigkeit in der Welt bekennen 87. Darüber hinaus meinen die Bischöfe, daß eine Zusammenarbeit auch mit denen existieren sollte, "die zwar den Schöpfer der Welt nicht anerkennen, nichtsdestoweniger aber in Achtung vor den menschlichen Grundwerten aufrichtig und auf sittlich bedenkenfreien Wegen nach (mehr) Gerechtigkeit suchen"88. Darüber hinaus wit=d im Blick auf die soziale Gerechtigkeit und den ökonomischen Fortschritt gedankt, daß eine enge internationale Zusammenarbeit auf allen Ebenen - angefangen bei den Ortsgemeinden - stattfindet 89 . Nur so ist es möglich, daß mehr internationale Gerechtigkeit erreicht wird. Schließlich hängt angesichts der internationalen Machtsysteme "die Verwirklichung der Gerechtigkeit immer mehr von der Entschlossenheit derer ab, die bereit sind, sich dafür einzusetzen"90. Das Maß an Ungerechtigkeit in der Welt ist so groß, daß mehr Gerechtigkeit, und das heißt mehr soziale Gerechtigkeit, verwirklicht werden muß. "Der spezifisch christliche Beitrag zur Gerechtigkeit besteht in dem Alltag des gläubigen Christen, der vom Evangelium her wie ein Sauerteig in Familie, Schule, Arbeit ins gesellschaftliche und bürgerliche Leben hineinwirkt"91.
VII. Johannes PanI 11. Johannes Paul 11. hat in seiner ersten Enzyklika von 1980 Dives in Misericordia das Verhältnis von Gerechtigkeit und Liebe bestimmt. Er macht unter Bezugnahme auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn deutlich, daß die Liebe zum Erbarmen wird, "wenn es gilt, die - genaue und oft zu enge - Norm der Gerechtigkeit 84 85 86 87 88 89
in munda n. 37. Ebda. Vgl. die unterschiedlichen Textinterpretationen von n. 38. in munda n. 62 f. in munda n. 63. in munda n. 64. 90 in munda n. 13. 91 in munda n. 50.
VII. Johannes Pau1 II.
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zu überschreiten"92. Die Einstellung zum Erbarmen beruht auf einem Vorurteil. Es handelt sich um eine äußere Bewertung der Ungleichheit zwischen einem Schenkenden und einem Empfangenden. Daraus wird dann gern der Schluß gezogen, daß das Erbarmen den Empfanger demütigt und seine Würde verletzt 93 . Aber Christi Lehre von der Bergpredigt oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn weisen darauf hin, daß die Wirklichkeit eine andere ist. "Das echte Erbarmen ist sozusagen die tiefste Quelle der Gerechtigkeit"94. Entsprechend der dem Menschen eigenen personalen Würde ist das christliche Erbarmen "die vollkommenste Inkarnation der ,Gleichheit' unter den Menschen und daher auch die vollkommenste Inkarnation der Gerechtigkeit, insofern auch diese in ihrem Bereich das gleiche Ergebnis anstrebt"95. Die Gerechtigkeit bewirkt Gleichheit, allerdings beschränkt auf den Bereich der Sachgüter 96 . Liebe und Erbarmen dagegen bringen die Menschen dazu, "einander in dem Wert zu begegnen, den der Mensch selbst in der ihm eigenen Würde darstellt"97. Die letzte und endgültige Offenbarung der Liebe Gottes in Christus hat auch den Grund für die Gerechtigkeit gelegt. Das göttliche Erbarmen ist die eigentliche Quelle der Gerechtigkeit 98 . Insofern basiert die Gerechtigkeit in der Liebe, geht von ihr aus und strebt zu ihr hin 99 . Man kann von einer Einbettung der Gerechtigkeit in der Liebe sprechen; aber eine genaue Zuordnung beider wird nicht gegeben. Die Fülle der Gerechtigkeit, wie sie im Leiden und Sterben Christi zum Ausdruck kommt, entspringt aus der Liebe des Vaters und des Sohnes, sie stellt die absolute Gerechtigkeit dar. Durch sie wird die Sünde des Menschen aufgehoben. Aufgrund der Tatsache, daß im Laufe der Geschichte im Namen der Gerechtigkeit vielfältig Unrecht getan worden ist, der Nächste getötet oder seiner Freiheit beraubt wurde, muß der Mensch sich belehren lassen, "daß die Gerechtigkeit allein nicht genügt, ja, zur Verneinung und Vernichtung ihrer Selbst führen kann", wenn nicht gerade der Liebe die Möglichkeit geboten wird, gegenzusteuern. Johannes Paul 11. verweist auf die geschichtliche Erfahrung, daß häufig summum ius - summa iniuria (höchstes Recht - höchstes Unrecht) darstellt 100. Diese überlieferte Aussage zeigt auf, daß die Gerechtigkeit und die durch sie gestaltene Ordnung durch mehr als durch die Gerechtigkeit, also durch Liebe, getragen werden muß 101. Dives D. M. D. M. D. M. Ebda. 97 Ebda. 98 D. M. 92
93 94 95 96
in misericordia (Abkürzung: D. M.) n. 5, 5. n. 6, 3. n. 14,4. n. 14, 5.
n. 14,4. 99D.M.n.7,3. 100 101
D. M. n. 12, 3. Ebda.
58
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
Johannes Paul 11. hat 1987 anläßlich des 20jährigen Geburtstages der Enzyklika Populorum Progressio in seiner Enzyklika Sollicitudo Rei Socialis "die soziale Sorge der Kirche" beschrieben. Nach ihm wird in der Entwicklungsenzyklika Populorum Progressio die Entwicklung der Völker als neue weltweite "Soziale Frage" gesehen 102. Entwicklung ist zugleich der neue Name für Frieden 103. Der Grund für die weltweite Dimension der sozialen Frage der Kirche liegt darin, daß die Forderung nach Gerechtigkeit nur auf dieser Ebene erfüllt werden kann 104. Zur wahren Entwicklung gehört für den Papst außer der Bekämpfung der Unterentwicklung der Einsatz für den Frieden in der ganzen Welt. Dieser ist unteilbar. "Er gehört entweder allen oder niemandem; ein Friede, der immer mehr die strenge Beachtung der Gerechtigkeit und folglich die gerechte Verteilung der Früchte wahrer Entwicklung fordert" 105. Johannes Paul 11. setzt sich zwar dafür ein, daß Solidarität der Weg zum Frieden und zur Entwicklung darstellt, aber er respektiert durchaus den Wahlspruch Pius XII.: Opus iustitiae pax, der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit. Heute jedoch, meint er, könnte "mit derselben Genauigkeit und der gleichen Kraft biblischer Inspiration" gesagt werden: "Opus solidaritatis pax - Friede, die Frucht der Solidarität" 106. Zum 100. Geburtstag von Rerum Novarum hat Johannes Paul 11. in seiner Enzyklika Centesimus Annus 1991 die Gedanken Leo XIII. weiterentwickelt. Für den Papst hat sich nach dem zweiten Weltkrieges ein ernstes Bemühen gezeigt, das zum "Aufbau einer demokratischen Gesellschaft" führte, "die sich von sozialer Gerechtigkeit leiten läßt und dem Kommunismus sein revolutionäres Potential entzieht" 107. Diese Tendenz wird "durch die Methoden der freien Marktwirtschaft" unterstützt. Dazu gehört auch, daß der Warencharakter der Arbeit überwunden wird, so daß sie in Würde und Freiheit ausgeübt werden kann 108. Es fällt zwar nicht der Ausdruck "Soziale Marktwirtschaft". Aber ihre Definition kann hinter den Ausführungen des Papstes erkannt werden. Denn als Rahmenbedingungen dieser Wirtschaftsordnung werden ausdrücklich genannt: Freiheitliche Gesellschaftsordnung, Schutz des Eigentums, Erhaltung der Marktmechanismen bei gleichzeitiger öffentlicher Kontrolle, gute Arbeitsmöglichkeiten mit Wahrung der Freiheit zur Gründung von Gewerkschaften, soziale und berufliche Sicherheit und damit auch Schutz vor Arbeitslosigkeit. Selbst drei der vier Zielpunkte des im Jahre 1967 in der Bundesrepublik Deutschland erlassenen Stabilitätsgesetzes werden genannt: Stabile Währung, Arbeitsmarktpolitik, gesundes
102 103 104 105
106 107
108
Sollicitudo Rei Socialis ( Abkürzung: S. R. S.) n. 8 ff. S. R. S. n. 10. S. R. S. n. 10, 2. S. R. S. n. 26, 6. S. R. S. n. 39, 8. Centesimus Annus (Abkürzung: C. A.) n. 19,2. Ebda.
VIII. Das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit der amerikanischen Bischöfe
59
Wirtschaftswachstum 109; nur das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wird vom Papst nicht erwähnt. Sogar die "Funktion des Gewinnes" als "Indikator für den guten Zustand" eines Unternehmens wird als be.rechtigt anerkannt llO. Wenn ein Unternehmen Gewinn erzielt, bedeutet das, daß die Produktionsfaktoren von ihm sachgemäß eingesetzt und grundlegende Bedürfnisse der Menschen durch das Unternehmen "gebührend" erfüllt wurden 111. Zur Begriffsbestimmung der sozialen Gerechtigkeit gehört wie in den früheren Verlautbarungen des Papstes auch das Prinzip der Güterverteilung. Die Dinge dieser Welt sollen allen Menschen zur Verfügung stehen; entsprechend dieser Überlegungen sollen auch die Auslandsverschuldungen der Entwicklungsländer durch die Industrieländer geregelt werden 112.
VIII. Das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit im Hirtenbrief der amerikanischen Bischöfe Die Konferenz der katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten von Amerika hat unter dem Titel "Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle: Die katholische Soziallehre und die amerikanische Wirtschaft" Ende des Jahres 1986 einen viel beachteten Hirtenbrief herausgegeben, der - wie die Überschrift bereits aussagt - die Beziehung der katholischen Soziallehre zur amerikanischen Wirtschaft wiedergeben soll 113. Die Bischöfe wollen außer den beiden bisher bekannten Dimensionen der Gerechtigkeit noch eine dritte, nämlich die soziale Grundgerechtigkeit, unterschieden wissen. Sie kennen als sogenannte "Grundgerechtigkeiten" an: Die Tauschgerechtigkeit, die iustitia commutativa, die austeilende Gerechtigkeit, die iustitia distributiva, und als dritte die soziale Gerechtigkeit, die iustitia socialis 114. In der Tauschgerechtigkeit werden "Redlichkeit und Anständigkeit bei allen Vereinbarungen und Geschäften zwischen einzelnen oder sozialen Gruppen" gefordert 115. Entsprechend der aristotelischen Grundposition und der katholischen Soziallehre wird bei der austeilenden Gerechtigkeit verlangt, "daß die Zuordnung von Einkommen, Vermögen und Macht in der Gesellschaft nach ihren Auswirkungen auf Personen, deren materielle Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden", Berücksichtigung finden 116. Die dritte Dimension der Gerechtig109 110 111
112 113
114 115 116
Ebda. A. n. 35, 3. C. A. n. 35, 3. C. A. n. 35, 5. Rolf Kramer, Umgang mit der Armut, Berlin 1990, S. 59. Hirtenbrief der amerikanischen Bischöfe (Abkürzung: Hirtenbrief) n. 68. Hirtenbrief n. 69. Hirtenbrief n. 70.
c.
60
5. Kap.: Soziale Gerechtigkeit in der katholischen Soziallehre
keit wird von den Bischöfen auf Grund ihrer Aufteilung als soziale Gerechtigkeit bezeichnet. Sie nimmt die Stelle der alten Gesetzes- oder Legalgerechtigkeit bei Thomas ein, wird jedoch als Ausdruck bestimmter Organisationsformen für soziale, wirtschaftliche und politische Institutionen verstanden 117. Ihr werden zwei Aspekte zugeschrieben: die Pflicht der Menschen zu einer "aktiven und produktiven Teilnahme am Gesellschaftsleben" und die Verpflichtung der Gesellschaft, dem einzelnen "diese Teilnahme zu ermöglichen" 118. Da sie die Verpflichtung aller betont, "die in der Lage sind, Güter, Dienstleistungen und andere immaterielle Werte zu schaffen, die für die Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft notwendig sind", wird sie von den Verfassern auch als "contributive" Gerechtigkeit bezeichnet 119. Zur sozialen Gerechtigkeit gehört die Einrichtung von wirtschaftlichen und sozialen Institutionen, damit die Menschen entsprechend ihrer Freiheit und der Würde ihrer Arbeit zur Gesellschaft beitragen können 120. "Die Grundgerechtigkeit fordert ein Mindestmaß an Teilnahme für alle Menschen am Leben der menschlichen Gemeinschaft" 121. Diese Pflichten werden von den Bischöfen nicht nur für die USA, sondern auch für die Länder jenseits der eigenen Grenzen erhoben. Oft werden Arme, Behinderte und Arbeitslose von solchen Menschen ausgegrenzt, die nicht unter diese Kategorien fallen. Ganze Nationen werden auf diese Weise daran gehindert, am internationalen Wirtschaftsleben teilzunehmen 122. Man spricht bei solchem Ausschluß menschlicher Gruppen von "sozialer Sünde" 123. Die katholische Soziallehre muß es als ihre besondere Aufgabe und als grundlegende Forderung der Gerechtigkeit ansehen, einen solchen Ausschluß von Menschen zu überwinden bzw. zu unterbinden. Denn die soziale Gerechtigkeit fordert die Organisation von Institutionen, die allen Menschen die Möglichkeit garantieren, "aktiv am wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben der Gesellschaft teilzunehmen" 124. Für die katholischen Bischöfe gehören darum Gerechtigkeit und Teilnahme (Partizipation) zusammen.
117 118 119 120 121 122 123 124
Hirtenbrief n. Ebda. Ebda. Hirtenbrief n. Hirtenbrief n. Ebda. Ebda. Hirtenbrief n.
71.
72. 77. 78.
6. Kapitel
Soziale Gerechtigkeit im ökumenischen Horizont I. Die Denkschrift von 1973 1973 hat der Rat der EKD eine Denkschrift mit dem Titel herausgegeben: "Der Entwicklungsdienst der Kirche - Ein Beitrag für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt". Bei der Darlegung der theologischen Grundposition, aus der heraus der Entwicklungsdienst der christlichen Kirchen zu leisten ist, läßt man sich bestimmen von dem Zeugnis der Kirche an den dreieinigen Gott. Zwar weiß man, daß dieser Glaube die westliche Welt "und von ihr ausgehend die Menschheit in mancher Beziehung geprägt und zur Herausstellung der Leitbilder von sozialer Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde beigetragen" hat I. Aber man weiß auch, daß das Eintreten für den Frieden, für eine gerechte Ordnung und für die Menschenrechte nicht immer von der Kirche wahrgenommen worden ist. Vielmehr konnten auch außerkirchliche, säkulare und antikirchliche Bewegungen diese Sache besser vertreten. Die Verantwortung der Kirche für die Entwicklung, läßt nach Meinung der Denkschrift die Schöpfung, Versöhnung und die Neuschöpfung in einem neuen Licht erscheinen. Denn a) der Glaube anerkennt, daß die Welt - als die eine Welt trotz unterschiedlicher und gegensätzlicher Gesellschaftssysteme bekannt - Gottes Schöpfung ist. Gott will eine "in Freiheit und Gerechtigkeit gestaltete Erde". Dazu beruft er den Menschen als seinen Mitarbeiter 2 • b) Gottes Versöhnung in Jesus Christus hat die göttliche Liebe allen Menschen offenbar gemacht. Er hat ihnen Vergebung und einen neuen Anfang geschenkt. Er selbst hat sich in Freiheit und Hingabe dem Nächsten zugewandt. Darum sind auch die Christen aufgerufen, dieses durch ihr eigenes Tun der Welt zu bezeugen. c) Die neue Schöpfung ist sichtbar geworden im Kreuz und in der Auferstehung Jesu. Gott hat den Menschen das Angebot erneuert, in einer befreiten Welt zu leben. "Der Glaube an die vergebende Liebe Gottes gibt den Christen die Kraft, geduldig und zuversichtlich das zu tun, was um Gerechtigkeit und Frieden willen für die Menschen zu tun g~boten ist"3. Das bedeutet für den 1
2 3
n.67. n.69. n. 71.
62
6. Kap.: Soziale Gerechtigkeit im ökumenischen Horizont
Entwicklungsdienst der Christen, daß sie zu einem ,,Anwalt für Gerechtigkeit in der Welt" werden 4 • In der sozialen Gerechtigkeit stellen die Probleme der Besitzverhältnisse, der Herrschaftsstrukturen, des Ausgleichs zwischen armen und reichen Menschen und auch zwischen den Völkern Aufgaben dar, denen sich die Christen nicht verschließen dürfen. Das muß dazu führen, daß das Zusammenleben unter den Menschen und Völkern sozial gerechter und in einer menschenwürdigeren Form stattfindet. Die EKD versteht sich auf dem Gebiete der Entwicklungshilfe und natürlich in ihrem Welt- und Sendungsauftrag als Mitglied der ökumenischen Bewegung. Sie geht davon aus, daß sie mit ihren beiden Themenschwerpunkten "Gerechtigkeit und Frieden" eine inhaltliche Füllung der "verantwortlichen Weltgesellschaft" vornimmt, wie sie in der Kirchenkonferenz von Amsterdam 1948 formuliert worden ist. Gerechtigkeit und Frieden bestimmen nicht nur die nationale Gesellschaft, sondern sie sind auch maßgeblich für das Verhältnis der reichen Industrie- zu den Entwicklungsländern. Dies wurde zuerst von der Weltkonferenz in Genf 1966, sodann in der Weltkirchenkonferenz in Uppsala 1968 diskutiert und hat von dort aus die ökumenischen Vollversammlungen systematisch mitbestimmt: so N airobi 1975 und Vancouver 1983. Die Denkschrift ruft die verhandelte Thematik über Gerechtigkeit und Frieden in einer interdependenten Welt ins Gedächtnis 5 • In dem Einsatz für Gerechtigkeit sieht man einen "wirkungsvollen Beitrag zum Frieden"6. Das Streben nach Gerechtigkeit und dauerhaften Frieden wird miteinander verknüpft. Dazu gehört selbstverständlich auch die Forderung eines sozialen Ausgleichs zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern. "Die ökumenische Diskussion hat gezeigt, daß das Eintreten für soziale Gerechtigkeit im Weltrnaßstab in christlicher Verantwortung gründet" und nach neuen Formen gesellschaftlicher Diakonie verlangt 7 • Dazu gehören auch Barmherzigkeit und Gerechtigkeit gegenüber dem einzelnen und in der Gesellschaft sowohl die Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit als auch "die Fürsorge für deren Opfer"8. Ausdrücklich verweist die Denkschrift darauf, daß die großen Konfessionen sich in der Entwicklungsproblematik einig wissen. Der vom ökumenischen Rat der Kirchen und von der päpstlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden gebildete Ausschuß für Gesellschaft, Entwicklung und Frieden hat in Beirut 1968 gesagt: ",Liebe zu den Menschen zeigt sich in Gerechtigkeit: In Gerechtigkeit gegenüber unseren Mitmenschen, in gerechten politischen und wirtschaftlichen Strukturen und in der gerechten Aufteilung unserer Talente, Mittel und Reichtümer'''9. 4
5 6
7 8
n.72. n. 12 ff. n. 14. n. 16. Ebda.
II. Das Memorandum (GKKE) anläßlich der UNCTAD IV 1976
63
11. Das Memorandum der Gemeinsamen Konferenz der Kirchen für Entwicklungsfragen (GKKE) anläßlich der UNCTAD IV 1976 Das Memorandum "Soziale Gerechtigkeit und internationale Wirtschaftsordnung", das von den beiden Kirchen im Jahre 1976 anläßlich der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung erstellt wurde, ließ sich von folgenden Gesichtspunkten leiten: -
Da die Güter der Erde allen Menschen gehören, müssen sie in Verantwortung gegenüber den Nächsten genutzt werden.
-
Die Kirchen und die einzelnen Christen müssen sich für eine "angemessene Beteiligung" der Menschen einsetzen, die ihre Interessen auf Grund ihrer Machtlosigkeit nicht wahrnehmen können.
-
Die Entwicklungsproblematik stellt "die soziale Frage unseres Jahrhunderts" dar.
-
Entwicklungsländer und Industrieländer sind aufeinander angewiesen; denn Gerechtigkeit und Frieden kommen nicht von selbst.
-
Die Güter gehören allen Menschen, darum haben auch alle die soziale Verantwortung für sie zu tragen.
-
Verantwortung für den Frieden und die soziale Gerechtigkeit basiert auf dem Glauben an Gott den Schöpfer, auf das Bekenntnis zu Jesus Christus, der die Menschen erlöst und die Solidarität gegenüber den Benachteiligten begründet, und auf den Glauben an die Erneuerung durch den Heiligen Geist.
Es sind das dieselben Gedanken, die bereits in der Denkschrift der EKD von 1973 geäußert worden sind. Für die Kirchen stellt sich die gleichberechtigte Partnerschaft zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern als Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit dar. Deshalb muß es die Aufgabe der Kirchen sein, nach einer solchen internationalen sozialen Gerechtigkeit zu streben. Dazu gehört, das ist die Meinung der beiden Kirchen, auch eine internationale wirtschaftliche Neuordnung. Diese soll erreichen, daß Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten unter den Völkern ausgeglichen werden 10. Endgültiges Ziel müßte der Aufbau einer sozial gerechteren Gesellschaftsordnung unter den Völkern sein. Um diese neue internationale Wirtschaftsordnung zu erreichen, die man als eine marktwirtschaftlich orientierte interpretiert, werden drei Prinzipien als konstitutiv angesehen: Die Leistungs-, Start- und Verteilungs gerechtigkeit 11. Der Leistungsgerechtigkeit liegt zugrunde, daß die Tauschpartner aus den Wirtschaftsbeziehungen keinen ungleichen Nutzen ziehen. 9
n. 17.
Memorandum der Gemeinsamen Konferenz für Entwicklungsfragen anläßlich der UNCTAD IV 1976 (Abkürzung: UNCTAD) n. 11 f. 11 UNCTAD n. 18. 10
64
6. Kap.: Soziale Gerechtigkeit im ökumenischen Horizont
Bisher erlangen die Industrieländer aus den Tauschbeziehungen mit den Entwicklungsländern eindeutig den größeren Vorteil. Die Leistungsgerechtigkeit fordert Preise und Tauschbeziehungen, die die Wettbewerbsfähigkeit der wirtschaftlich Schwächeren verbessern. Dazu gehört, daß die Startbedingungen der Tauschpartner als vergleichbar und gerecht angesehen werden können. Bei der Verteilungsgerechtigkeit handelt es sich um eine in der Start- und Leistungsgerechtigkeit angesprochene Form einer Umverteilung der Einkommen und der Machtpositionen. Die Kirchen sind der Meinung, daß die Industrieländer die Marktwirtschaft nur dann glaubwürdig vertreten können, wenn sie bereit sind, auch diese Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit ganz konsequent anzuwenden 12.
III. Die Rede von der sozialen Gerechtigkeit in der Ökumene Auf der 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam 1948 wurde der Ausdruck der "Verantwortlichen Gesellschaft" geprägt. Er wurde damals gesagt: "Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich für Gerechtigkeit und öffentliche Ordnung verantwortlich wissen und in der jene, die politische Autorität oder wirtschaftliche Macht besitzen, Gott und den Menschen, deren Wohlfahrt davon abhängt, für ihre Ausübung verantwortlich sind ... Für eine Gesellschaft, die unter modemen Lebensbedingungen verantwortlich bleiben soll, ist es erforderlich, daß die Menschen die Freiheit haben, ihre Regierung zu kontrollieren, zu kritisieren und zu wechseln, daß die Macht durch Gesetz und Tradition verantwortlich gemacht und soweit wie möglich auf die ganze Gemeinschaft verteilt wird. Es ist erforderlich, daß wirtschaftliche Gerechtigkeit und die Bereitstellung gleicher Entfaltungsmöglichkeiten für alle Mitglieder der Gesellschaft gesichert werden" 13. Diese Einsicht in eine Gesellschaft von Menschen, die Verantwortung tragen, wurde im Laufe der Jahre erweitert zu einer verantwortlichen Weltgesellschaft. Speziell in der 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen im Jahre 1968 in Uppsala gab man der Verantwortung den speziellen Inhalt im Blick auf Gerechtigkeit und Frieden in internationaler Weite. Man forderte eine gerechtere Gesellschaft; denn Gottes Wort bezeugt den Menschen Christus als den, der für die Armen und Unterdrückten eintritt und sich für sie hingegeben hat. Darum treten die Christen auch für eine weltweite wirtschaftliche Gerechtigkeit ein. Das bedeutet zunächst: "Die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in allen menschlichen Beziehungen setzt voraus, daß die Menschenwürde anerkannt und geschützt und volle Gleichheit von Menschen aller Rassen und Nationen sowie die Achtung der Anhänger aller Religionen und Ideologien zum Gemeingut UNCTAD n. 19. Der ökumenische Rat der Kirchen (Hrsg.), Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, Stuttgart, Berlin 1966 (Abkürzung: Weltgemeinschaft) S. 19 f. 12 13
III. Die Rede von der sozialen Gerechtigkeit in der Ökumene
65
der Völkergemeinschaft werden" 14. Der Weg hin zu Frieden und Gerechtigkeit bedeutet auch, wie angedeutet, eine weltweite wirtschaftliche Gerechtigkeit, die in die gesamte Weltordnung eingeht. Die Kirchen würden durch ihr Eintreten für eine internationale Gerechtigkeit mithelfen, diesen Weg zu beschreiten. Dadurch kann ein neuer Lebensstil geschaffen werde zu Gunsten einer gerechteren und einfühlsameren Gesellschaft 15. Befreiung und Einigung, das waren die Stichworte der 5. Vollversammlung des ÖRK 1975 in Nairobi. Befreiung von der Ungerechtigkeit und Einigung in der Gerechtigkeit, das macht eine lebensfähige Gesellschaft aus, in der der einzelne und die weltweite Gesellschaft leben kann. Man setzte sich für die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit ein, wußte aber auch, daß dadurch nicht alle menschlichen Probleme im sozialen und wirtschaftlichen Bereich gelöst werden können 16. Aber die Kirchen müssen für alle Fragen von Gerechtigkeit in Freiheit und Gemeinschaft offen sein. In Nairobi wurden zum ersten Mal die drei Inhalte sichtbar, die in Zukunft die "verantwortliche Gesellschaft" ausfüllen werden. Im Rahmen eines Förderungskatalogs, der von den unterschiedlichen Sektionen erstellt wurde, verlangt man, daß alle Menschen die Möglichkeit haben müssen, an ihrer Befreiung mitzuarbeiten, damit sie wahrhaft frei sein können. Diese Form von Partizipation gilt für die Erziehung ebenso wie für die Menschenrechte oder die Entwicklungsprogramme. Die soziale Gerechtigkeit wurde eingefordert für den technischen Bereich, den wirtschaftlichen und auch für den biologischen Teil der Gesellschaft. Außerdem war von einer überlebensfähigen Gesellschaft die Rede. "Der Akzent liegt heute auf der überlebensfähigen Gesellschaft, in der der einzelne die Gewißheit haben kann, daß die Qualität des Lebens aufrecht erhalten oder verbessert wird" 17. Das muß zur Folge haben, daß die Entwicklungsländer zum einen ihre Produktionen zur Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse ausdehnen, zum anderen, daß die industrialisierten Länder unter Berücksichtigung der Entwicklung in den Entwicklungsländern ihre Produktionen beeinflussen. Gerecht und überlebensfähig zugleich bedeutet Befreiung von Abhängigkeit bei gleichzeitiger Gestaltungsmöglichkeit der eigenen Entwicklungschancen 18. Aus diesen Begriffen ist dann in Vancouver die "gerechte, partizipatorische und überlebensfähige Gesellschaft" als inhaltliche Gestaltung der verantwortlichen Gesellschaft entstanden.
14 Der Ökumenische Rat der Kirchen, Hrsg. Müller-Römheld, Bericht aus Uppsala 1968 (Abkürzung: Uppsala) S. 66 n. 17. 15 Uppsala S. 70 n. 31 ff. 16 Der Ökumenische Rat der Kirchen, Hrsg H. Krüger u. W. Müller-Römheld, Bericht aus Nairobi, Frankfurt 21976 (Abkürzung: Nairobi) S. 249. 17 Nairobi S. 106. 18 Ebda.
5 Kramer
66
6. Kap.: Soziale Gerechtigkeit im ökumenischen Horizont
Im ökonomischen Bereich verweist die Gerechtigkeit auf ein "gerechtes System für Produktion und Verteilung". Sie erstrebt dieses für die gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft. Die Gerechtigkeit will auch die Partizipation aller Menschen an den Entscheidungen über das, "was, wie, für wen und durch wen zu produzieren ist" 19. Mit dem Begriff der Überlebensfahigkeit schließlich soll die Notwendigkeit ausgedrückt werden, daß der Mensch seine Abhängigkeit von der Erde stärker denn je zu berücksichtigen hat. Bei allen drei Begriffen geht es "um die Forderung der Menschheit nach wirtschaftlichen und politischen Systemen, in denen Gerechtigkeit, Partizipation und Frieden für alle Menschen der heutigen und kommenden Generation gesichert sind"20. In Nairobi war dem Zentralausschuß dieser Schwerpunkt aufgegeben worden. Die 6. Vollversammlung bekannte sich in Vancouver 1983 ausdrücklich dann zu dieser Thematik. Denn der christliche Glaube an den dreieinigen Gott hat das Ziel einer gerechten, partizipatorischen und überlebensfahigen Gesellschaft. Die Menschen streben nach der Verwirklichung dieser drei Prinzipien. Sie suchen die Befreiung, sie verlangen nach der Partizipation an der Entscheidungsgewalt und sie wollen in einer Welt leben, die heute und morgen eine Überlebenschance besitzt 21 .
IV. Zusammenfassung und Vergleich mit der katholischen Stellungnahme Die in den katholischen und evangelischen Verlautbarungen geforderte Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit bleibt normativ. Mit ihr werden pauschale Ziele nach einer besseren und menschlicheren Gesellschaft angestrebt, die von einzelnen Gliedern und den Gesellschaften zu verfolgen sind. Die in den Enzykliken und in den Vollversammlungen des Ökumenischen Rates erhobenen Forderungen nach Ausgestaltung der sozialen Gerechtigkeit bleiben oft im Unbestimmten stecken. Was im einzelnen als sozial gerecht anzusehen ist, in welcher Größenordnung dieses angestrebt werden soll, wird von den jeweiligen Ausgangspositionen der Menschen her unterschiedlich beantwortet. Insofern besteht prinzipiell zwischen den Forderungen der katholischen Soziallehre und den Äußerungen der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen kein allzu großer Unterschied. Man strebt nach einem Mehr an Gerechtigkeit, Menschenwürde und Menschenrechten. Erst wenn es um Einzelheiten geht, wenn also im Detail festgelegt werden soll, was zur Ausfüllung der sozialen Gerechtigkeit gehört, werden die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kirchen, ja sogar in diesen selbst, offenkundig. Die soziale Gerechtigkeit zeigt sich dabei als ein Verhältnis19 epd Dokumentation 1982, ÖRK-Zentralausschuß (2), Nr. 36-37, S. 65. 20 Ebda. 21 Der Ökumenische Rat der Kirchen, Bericht aus Vancouver 1983, Hrsg. W. Müller-
Römheld, Frankfurt 1983, S. 112 f.
IV. Zusammenfassung und Vergleich mit der katholischen Stellungnahme
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begriff, der unterschiedlich zu bewerten ist. Ihr Inhalt ist in einem industrialisierten Land anders zu beurteilen als in einem Entwicklungsland. Was in dem einem Land als Recht oder Pflicht angesehen wird, muß nicht in gleicher Weise in einer anderen Region als gleich richtig betrachtet werden. Zur Füllung der sozialen Gerechtigkeit gehört für jeden Menschen die Freiheit, sein Leben so zu gestalten, wie er es nach eigenen Wünschen, Interessen und Zielvorstellungen gern möchte. Darum ist ihm die freie Wahl der Ausbildung und des Berufes zuzubilligen. Mit welcher Quantität und Qualität von Leistung sich der einzelne Arbeitnehmer am Produktionsprozeß beteiligen will, um seinen Anteil am Sozialprodukt zu sichern, ist seine eigene Entscheidung und sein Recht. Damit übernimmt er freilich auch die Pflicht, für sich und seine Familie die existentielle Sicherheit und das notwendige soziale Auskommen zu erwirtschaften. Er kann dieses nicht auf die Allgemeinheit abwälzen. Grundsätzlich gehört zur inhaltlichen Füllung der sozialen Gerechtigkeit auch die Freiheit über die Verwendung des Einkommens. Aber andere als solche pauschalen Aussagen über die soziale Gerechtigkeit können im ökumenischen Rahmen nicht gemacht werden. Jede Form von Quantifizierung bringt die Gefahr mit sich, daß undifferenziert geurteilt wird. Soziale Gerechtigkeit will verändern, neu gestalten und Entwicklungen fördern, die bisher zu kurz gekommen sind. Das erweist sich z. B. ganz besonders in der Entwicklungshilfe. Die Ablehnung einer statischen Struktur der sozialen Gerechtigkeit hat Paul VI. bekundet, als er sich für das dynamische Verständnis der sozialen Gerechtigkeit eingesetzt hat. Die drei Prinzipien einer gerechten, partizipatorisehen und überlebensfähigen Gesellschaft, die für die Ökumene seit Nairobi 1975 den Spielraum der sozialen Gerechtigkeit ausfüllen sollen, zeigen eine solche Dynamik auf. Paul VI. hat in Pacem et Terris eine konkrete und allgemeine Beschreibung der sozialen Gerechtigkeit gegeben. Der Ökumenische Rat der Kirchen dagegen hat seine Ausführungen im wesentlichen auf die Hilfe gegenüber den Entwicklungsländern beschränkt. Trotzdem bleibt, daß in beiden sozialen Konzeptionen kein rein statisches Verständnis im Blick ist. Aber von einer generellen Übereinstimmung ist man weit entfernt. Hinzukommt, daß die Frage, inwieweit die soziale Gerechtigkeit mit einer der drei seit Aristoteles überlieferten Arten der Gerechtigkeit in Übereinstimmung zu bringen ist, in der Ökumene überhaupt nicht thematisiert wurde. Es ist bei der auch von der katholischen Soziallehre akzeptablen Übernahme der Leistungs-, Start- und Verteilungsgerechtigkeit, die in Übereinstimmung mit den drei gesellschaftlichen Dimensionen der gerechten, partizipatorischen und überlebensfahigen Gesellschaft stehen, geblieben.
5*
7. Kapitel
Friedrich August von Hayeks Stellung zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit I. Das Verhältnis von Ordnung und Organisation
Von Hayek grenzt seine Ordnungsvorstellung von der Max Webers ab. Für Weber stellt Ordnung eine Anordnung dar. "Wie die meisten Positivisten und Sozialisten denkt er anthropomorph und kennt Ordnung nur als taxis, nicht als kosmos" 1. Die Ordnung wird bei Weber nach von Hayek nicht als spontane Ordnung verstanden, sondern als ein System von Regeln, die es zu befolgen gilt. Von dieser Deutung ist es nicht mehr weit, die Ordnung nur als ein System von Normen anzusehen und "Organisation und Ordnung als identisch zu betrachten" 1 a. So sieht man heute die Rechts- oder Wirtschaftsordnung an. Von Hayek löst sich von der Ordnungs vorstellung Webers, ja er wehrt sich gerade gegen diesen Ordnungsbegriff, den er aus dem altgriechischen TaxisBegriff abgeleitet sieht. Für ihn stellt Ordnung ein Tatsachenbegriff dar wie jeder Wissenschaftsbegriff. Er ist kein Norm- oder Wertbegriff2. Von Hayeks Ordnungsvorstellung ist dagegen durch Spontaneität gekennzeichnet. In der Weber'schen Darlegung gibt es dafür keinen Platz. Von Hayek setzt den Begriff der Spontaneität mit dem des Kosmos gleich und stellt ihn dem Reden von Organisation und ihrer Taxis gegenüber. Die Ordnung ist nach Hayeks Deutung in ihrer spontanen oder kosmischen Gestalt nicht bewußt von Menschen gemacht. Diese Ordnung ist auch auf einen Zweck ausgerichtet. "Während ein Kosmos oder eine spontane Ordnung also keinen Zweck hat, setzt jede Taxis (Anordnung, Organisation) ein bestimmtes Ziel voraus, und die Menschen, die eine solche Organisation bilden, müssen denselben Zwecken dienen"3. Die Definition des kosmischen Ordnungsbegriffs setzt darum voraus, daß "Beziehungen zwischen wiederkehrenden Elementen" bestehen 4 • Außerdem müssen zwei Elemente Berücksichtigung finden: 1 Friedrich August von Hayek, Freiburger Studien, Tübingen 1969 (Abkürzung: Studien) S. 165. 1a Ebda. 2 Ebda. 3 Hayek, Studien, S. 169. 4 Hayek, Studien, S. 164.
II. Die Katallaxie
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1. Die Ordnung stellt einen "Gradbegriff' dar; denn sie kann in unterschiedlichem Maße verwirklicht werden. 2. Die Ordnung kann unabhängig von bestimmten Zwecken gesehen werden 5 •
Die spontane Ordnung ist von abstrakter Art. Denn niemand kennt sie ganz. Jedem ist es erlaubt, diese Ordnung für sich und seine Zwecke zu nutzen 6 • Sie wird nicht durch eine bewußte Anordnung hergestellt werden. Eine Ordnung als Kosmos ist ein sich "selbstregulierendes" oder "selbstorganisierendes" System, das auch als ein "endogenes", also von innen heraus wachsendes System beschrieben werden kann 7 • Die Ordnung als Taxis dagegen, wie Weber sie versteht, wird durch eine "außerhalb der Ordnung stehende Wirkungskraft bestimmt und ist in demselben Sinne exogen oder auferlegt"8. In der spontanen Ordnung muß jeder einzelne Mensch den ihm eigenen Platz finden und sein Terrain abstecken. Die Organisation dagegen setzt voraus, daß dem einzelnen mittels Befehl seine Aufgaben, Ziele, Funktionen oder Rollen zugewiesen werden. Die Regeln der Organisation sind nie universal oder zweckunabhängig, sondern ergänzen immer jene Befehle, "durch welche die Rollen verteilt bzw. die Aufgaben oder Ziele vorgeschrieben werden"8a. Dementsprechend ist nur in einer Organisation die Zielsetzung einer sozialen bzw. distributiven Gerechtigkeit sinnvoll. "In einer spontanen Ordnung kann niemand die Ergebnisse verteilen"9. Gerechtigkeit ist hier nur möglich in der Gestalt eines gerechten Verhaltens. 11. Die Katallaxie Die Ordnung mit ihren Dimensionen der Spontaneität und der Organisation erfahrt ihre Anwendung in der Wirtschaft. Sie wird zum einen als "bewußte Anordnung oder Organisation von Ressourcen im Dienste einer einheitlichen Zielhierarchie wie in einem Haushalt, einer Unternehmung oder irgendeiner anderen Organisation einschließlich der Regierung" verstanden 10. Zum anderen wird mit dem Begriff Wirtschaft "das Gefüge vieler ineinandergreifender Wirtschaften dieser Art, die wir eine gesellschaftliche Volks- oder Weltwirtschaft, oft auch einfach ,Wirtschaft' nennen", bezeichnet 11. Dieses Gefüge, das allein der Markt hervorbringt, stellt keine Organisation dar, sondern ist eine spontane Ordnung oder ein Kosmos "und des/;J.alb grundSätzlich verschieden von jeder Anordnung und Organisation" 12. Hayek, Studien, S. 166. Ebda. 7 Hayek, Studien, S. 209. 8 Ebda. 8a Hayek, Studien, S. 212 f. 9 Hayek, Studien, S. 215. IO Hayek, Studien, S. 224. II Hayek, Studien, S. 224 f.
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7. Kap.: F. A. von Hayeks Stellung zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit
Um dem Mißverständnis zu entgehen, das mit dem doppelten Gebrauch des Wortes Ordnung als Organisation und als Kosmos mit seiner Spontaneität angezeigt ist, führt von Hayek den Begriff der Katallaxie in der Wirtschaft ein. Katallaxie ist von dem altgriechischen Verbum katallattein abgeleitet, das zum einen ,tauschen' oder ,Handel treiben' und zum anderen ,in die Gemeinschaft aufnehmen' oder ,vom Feind zum Freund' werden, bedeutet I3 • Die Katallaxie - in Analogie zur Katallaktik, dem Wort für Wirtschaftswissenschaft, entwickelt - soll ein Ersatz für den Begriff der Marktordnung sein. Der Gebrauch dieses Wortes soll darauf hinweisen, daß in der Marktordnung keine Zielhierarchie herrschen soll und kann. Nach von Hayek laufen die sozialistischen Forderungen darauf hinaus, die Katallaxie, also die "zweckunabhängige, spontane Ordnung in eine zweckgerichtete Organisation" und damit in eine "echte Wirtschaft" umzuwandeln 14. Die moralische Verhaltensweise der Katallaxie mit der Intention, den Feind zum Freunde machen, verlangt, daß nach den Regeln eines Spieles im Wettbewerb ehrlich miteinander umgegangen werden muß. Alle müssen sich "von den abstrakten Signalen der Preise leiten lassen". Im Geschäftsverkehr darf ,,niemand weder aus Sympathie noch aus Gesichtspunkten des Verdienstes oder der Bedürfnisse" bevorzugt werden 15. In einer solchen neuen liberalen Moral, "die die ,offene' oder ,große Gesellschaft'" verlangt, hat eine soziale Gerechtigkeit keinen Platz. Denn in dieser Gesellschaft müssen "die gleichen Verhaltensregeln auf die Beziehung eines einzelnen zu allen Mitgliedern der Gesellschaft angewendet werden"16. Die Marktwirtschaft setzt eine offene Gesellschaft voraus. Sie liefert "das geordnete Gefühl, das der Markt hervorbringt"; darum ist sie auch keine Organisation, sondern eine spontane Ordnung 17. Dagegen ist der Sozialismus mit seiner Zielsetzung, die soziale bzw. distributive Gerechtigkeit zu verwirklichen, darauf aus, "den Kosmos einer spontanen Marktordnung in eine Anordnung oder Taxis zu verwandeln" bzw. die "Katallaxie in eine echte Wirtschaft"18. Er entspricht damit einer, wie Hayek es nennt, "Teleokratie", also einer Anordnungs- bzw. Organisationsform, die auf bestimmte Ziele oder Teloi gerichtet ist. Die spontane Ordnung des Kosmos dagegen entspricht der "Nomokratie", "da sie gänzlich auf allgemeinen Regeln oder Nomoi beruht"19. 12 Hayek, Studien, S. 225. I3 Ebda. 14 Hayek, Studien, S. 112. 15 Friedrich August von Hayek, Demokratie, Gerechtigkeit, Sozialismus, Tübingen 1969 (Abkürzung: Demokratie), S. 35. 16 Ebda. 17 Hayek, Studien, S. 225. 18 Ebda. 19 Hayek, Studien, S. 224.
II. Die Katallaxie
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Daraus ist zu erkennen, daß der, der heute für die Durchsetzung der sozialen Gerechtigkeit in der Marktwirtschaft plädiert, ihre spontane Marktordnung in eine Anordnung oder Taxis verwandeln muß. Die Katallaxie aber strebt nicht nach einer sozialen Gerechtigkeit, wenn sie auch nicht ausschließt, daß der Staat "außerhalb des Marktes bestimmte, ihm übertragene Mittel einsetzt, um die Menschen zu unterstützen, die aus dem einen oder anderen Grunde auf dem Markt kein Mindesteinkommen erzielen können"20. Dabei darf die spontane Ordnung nicht so manipuliert werden, daß die am Markt verdienten Einkommen irgendeinem Ideal einer distributiven Gerechtigkeit angepaßt werden. Solche Versuche können nur bedeuten, "daß die Gesamtproduktion, an der alle teilhaben", geschmälert wird 21 . Friedrich von Hayek beruft sich auf Bernard Mandeville, David Hume, Adam Ferguson und Adam Smith, die ihm "sowohl in der biologischen wie in der sozialen Theorie den Weg bereiteten für das Verstehen jener Interaktion zwischen der Regelmäßigkeit des Verhaltens der Elemente und der Regelmäßigkeit der daraus hervorgehenden Struktur" 22. Er spricht von ihnen als von den "Entdeckern der Zwillingsidee von Evolution und spontaner Ordnung"23. Die zweckunabhängige und spontane Marktordnung ermöglicht, das Mehr an Wissen zur Produktionserhöhung zu nutzen, das die Teilnehmer am Markt aufgrund des dort herrschenden Wettbewerbs besitzen. Diesen Wettbewerb bezeichnet von Hayek als "Entdeckungsverfahren"24. Das Marktgeschehen läßt Ergebnisse von manchmal über die ganze Welt verstreuten Vorgängen sichtbar werden, die die Entscheidung des Menschen beeinflussen, ohne daß er im einzelnen von ihnen weiß. Er handelt am Markt so, als ob er die über die ganze Welt verstreuten Vorgänge kennt 25 . Gerade weil der Mensch diese Vorgänge nicht begriffen hat, wird er über das hinaus geführt, was er sich selbst hätte ausdenken können 26 . Dennoch ist der Marktprozeß ein Spiel, in dem der einzelne dann am meisten für sich herausholt, wenn er - innerhalb überlieferter Regeln - seine eigenen Interessen verfolgt. Diese müssen zwar nicht unbedingt "eigensüchtig" sein, aber doch die eigenen Interessen und Ziele verwirklichen wollen 27. Mit dem Begriff "Sozial-Darwinismus" wird üblicherweise die natürliche Auslese der Tüchtigsten im freien Wettbewerb ausgedrückt. Von Hayek lehnt diesen Begriff ab. Denn er möchte nicht von einer "genetischen Evolution angeborener Eigenschaften", sondern nur von einer kulturellen Evolution durch Lernen ausge20 21 22 23 24 25 26 27
Hayek, Hayek, Hayek, Ebda. Hayek, Hayek, Hayek, Hayek,
Studien, S. 226. Studien, S. 227. Studien, S. 156. Studien, S. 167; vgl. S. 249 ff. Studien, S. 168. Demokratie, S. 38. Demokratie, S. 35.
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7. Kap.: F. A. von Hayeks Stellung zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit
hen 28. In der Entwicklung der Zivilisation in Richtung auf eine offene Gesellschaft hat sich schließlich nicht das durchgesetzt, was die Menschen sich als das Erfolgreichste ausgedacht haben, sondern es hat sich das weiterentwickelt, "was sich als das Erfolgsreichste herausgestellt hat"29.
III. Der Umgang mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit 1976 betonte von Hayek, daß er sich mehr als 10 Jahre lang intensiv mit dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit auseinandergesetzt habe. Er meint, "daß für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn" habe 30. Es ist eine "nichtssagende Fonnel", die ausschließlich dazu benutzt wird, sogenannte "Sonderansprüche" zu rechtfertigen 31. Aus einer Vorlesung aus dem Jahre 1964 in Tokio ist gar zu ersehen, daß für ihn das Attribut ,sozial' ebenso wie der Begriff ,Planung' nur ein Modewort der Zeit ist. Das Wort ,sozial' ist "nicht nur selbst inhaltsleer und dazu geeignet, ihm jeden beliebigen Inhalt geben zu können, sondern es entblößt auch alle Begriffe, mit denen es verbunden wird (wie im. Deutschen soziale Marktwirtschaft oder sozialer Rechtsstaat), irgendeines bestimmten Inhalts" 32. In dem Aufsatz "Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung" hat er 1967 im Ordo-Jahrbuch die Meinung vertreten, daß die soziale Gerechtigkeit nichts anderes als die distributive Gerechtigkeit darstellt, und die lehnt er ab, da in ihrem Namen die liberale Rechtsordnung zerstört wird. Sie ist mit den Grundsätzen einer "spontanen Freiheitsordnung" unvereinbar 33 • Das unterstreicht er auch in dem Buch "Die Verfassung der Freiheit", in dem er immerhin noch die "distributive Gerechtigkeit" mit einer "Entlohnung nach Verdienst" gleichsetzen kann 34. Dieser Gerechtigkeits28 29 30 31 32
Hayek, Demokratie, S. 38. Ebda. Hayek, Demokratie, S. 23. Ebda. Hayek, Studien, S. 76. 33 Hayek, Studien, S. 186. 34 F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971 (Abkürzung: Verfassung), Anm. 11. Von Hayek will zwischen Zielen, Verdienst und Wert unterschieden wissen. Die Ziele regeln das Handeln des Menschen in bestimmten Augenblicken. Der Ausdruck Wert ist weitgehend kulturell geprägt und regelt das Handeln des Menschen, auch wenn er sich dessen gar nicht bewußt ist. Der Wert bezieht sich nicht auf "bestimmte . Sachen, Personen oder Vorfälle, sondern auf Eigenschaften, die viele verschiedene Sachen, Personen oder Vorfälle zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten haben können" (Hayek, Studien, S. 222). Für ihn besteht der Wert in der "Wichtigkeit eines bestimmten konkreten Zieles" (Hayek, Studien, S. 222). Aber auch angeborene und erworbene Fähigkeiten eines Menschen haben für die Mitmenschen einen Wert. Er sieht darin die iustitia commutativa verwirklicht. Die iustitia distributiva entspricht dem Verdienst. "Entlohnung nach Verdienst muß in der Praxis bedeuten Entlohnung nach feststell barem Verdienst, Verdienst, über das andere
IV. Konsequenzen
73
oder Entlohnungsgedanke erfordert eine Verteilung der Mittel durch eine Zentralbehörde. Denn den Menschen muß gesagt werden, was sie zu tun haben und welchen Zielen sie dienen sollen. Sofern das Ziel die distributive Gerechtigkeit ist, muß die Planungsbehörde die Entscheidungen der einzelnen entsprechend ihren Zielen und Kenntnissen lenken und leiten 35. In einer spontanen Marktordnung aber sind solche Planungs- und Gerechtigkeitsüberlegungen durch Zentralorgane nicht denkbar. Zwar haben sich nach von Hayek die Wortgebilde "gerechter Preis", "gerechter Lohn" und auch "gerechte Einkommensverteilung" über die Jahrhunderte hinweg durchgehalten. Was aber hat in einer liberalen Wirtschaftsordnung als gerecht zu gelten? Das konnte bisher nicht beantwortet werden. Nur die Scholastiker hatten am Ende ihres Nachdenkens über einen gerechten Preis oder Lohn den Preis oder den Lohn als gerecht definiert, "der sich ohne Privilegien, Gewalt oder Betrug auf einen Markt bilden würde"36. Die Anwendung des Begriffs der distributiven oder sozialen Gerechtigkeit ist nach von Hayek nur in einer Organisation sinnvoll, in der von den Mitgliedern diese Zielsetzung selbst festgelegt und durchgesetzt wird. In der von ihm favorisierten Katallaxie mit ihrer spontanen Ordnung haben solche Ziele oder Anordnungen bzw. Befehle keinen Platz 3? Die soziale Gerechtigkeit kann darum nur in einer "zweckgerichteten Organisation" nicht aber in einer "zweckunabhängigen spontanen Ordnung" erreicht werden 38. IV. Konsequenzen 1. Für von Hayek ist Gerechtigkeit nicht auf einen Zustand zu beziehen, sondern nur auf menschliche Handlungen. Die Katallaxie bringt keine bestimmten Resultate oder Zielsetzungen zur Gerechtigkeit hervor. Da diese Resultate von niemandem "geplant oder beabsichtigt werden, ist es sinnlos, die Art und Weise, in der der Markt die Güter dieser Welt auf bestimmte Personen verteilt, gerecht oder ungerecht zu nennen" 39. Das aber will gerade die soziale Gerechtigkeit, die damit die liberale Rechtsordnung letztlich zerstört.
Menschen urteilen und übereinstimmen können, nicht Verdienst nach dem Urteil einer höheren Gewalt" (Hayek, Verfassung, S. 116). Aber dennoch ist es für Hayek nicht wünschenswert, und er sieht es auch als undurchführbar an, daß die materielle Entlohnung allgemein dem entspricht, "was die Menschen als Verdienst ansehen" (Hayek, Verfassung, S. 114). 35 Hayek, Verfassung, S. 298. 36 Hayek, Studien, S. 118. 3? Ebda. 38 Ebda. 39 Hayek, Studien, S. 114.
7. Kap.: F. A. von Hayeks Stellung zum Begriff der sozialen Gerechtigkeit
74
2. In einer Marktwirtschaft gibt es keine soziale Gerechtigkeit. "Wo niemand etwas austeilt", kommt es auch nicht zu einer austeilenden Gerechtigkeit 40. Zwar können sich in einer Marktwirtschaft einzelne gerecht verhalten, aber es gibt kein Verhalten, durch das man eine gerechte Verteilung der Güter und Dienstleistungen herbeiführen kann. Denn das Ergebnis ist von den am Wirtschaftsprozeß Beteiligten weder vorauszusehen noch bewußt als gerecht anzustreben. 3. Sollte sich eine Gesellschaft für die Marktwirtschaft entscheiden und sich der Katallaxie bedienen wollen, dann darf sie "hinterher nicht mehr fragen, ob die Resultate, die sich im einzelnen für bestimmte Personen ergeben, gerecht oder ungerecht sind"41. Um eine gerechte Verteilung sicherzustellen, müssen alle Bestrebungen darauf gerichtet sein, "die spontane Ordnung des Marktes in eine Organisation umzuwandeln, mit anderen Worten in eine totale Ordnung"42. Diese würde freilich mit der Zeit die liberalen Grundlagen zerstören, auf denen die spontane Ordnung ruht. 4. Da für von Hayek der Begriff soziale bzw. distributive Gerechtigkeit völlig inhaltsleer ist, gibt es keine Regeln oder Kriterien, nach denen man entscheiden könnte, wieviel Gerechtigkeit dem einzelnen Individuum zusteht, damit es einem objektiven Maßstab standhält 43 . "Dann müßte jeder einzelne, anstatt seine Kenntnisse für seine persönlichen Zwecke einzusetzen, seine Pflicht erfüllen, die jemand anderer ihm auferlegt, und seine Entlohnung würde davon abhängen, wie gut er nach Ansicht der anderen seine Pflicht erfüllt"44. Eine solche Entlohnungsmethode ist einer geschlossenen Organisation, z. B. einer Armee, angemessen. Sie ist jedoch nicht zu vereinbaren mit den Kräften einer spontanen Ordnung 45 . Darum werden alle Bestrebungen, eine "gerechte Verteilung" durchzuführen, darauf gerichtet sein, die spontane Ordnung des Marktes in eine Organisation umzuwandeln. 5. Wenn im Namen der sozialen Gerechtigkeit Staatseingriffe gefordert werden, geht es meistens darum, daß Privilegien und Positionen bestimmter Gruppen und Personen geschützt werden sollen. Oft wird im Namen der sozialen Gerechtigkeit dann ein "moralischer Anspruch gegenüber der Regierung erhoben", damit sie das austeilt, "was sie unter Anwendung von Zwang jenen wegnehmen kann, die im Spiel der Katallaxie erfolgreicher waren als wir" 46. Von der ,sozialen Gerechtigkeit' bleibt oft 40
41 42 43 44 45
Hayek, Demokratie, S. 24. Hayek, Studien, S. 118 f. Hayek, Studien, S. 119. Ebda.; Vgl. Hayek, Demokratie, S. 23. Hayek, Studien, S. 119. Hayek, Studien, S. 119 f.
IV. Konsequenzen
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nicht viel mehr übrig als die Forderung nach Schutz bestehender Positionen und nach Verleihung neuer Privilegien, so z. B. wenn im Namen sozialer Gerechtigkeit den Bauern ,Parität' mit den Industriearbeitern zugesichert wird" 47. 6. Für diejenigen jedoch, die durch das wirtschaftliche Geschehen am Markt unter das Existenzminimum fallen, soll ein Minimum an Sicherheit geschaffen werden. Von Hayek hat zwar keine prinzipielle Abneigung gegen die Sozialpolitik gehegt. Er kämpft auch nicht gegen eine soziale Absicherung. Aber er wendet sich gegen eine Umverteilung und damit gegen eine Sozialpolitik, die auf soziale Gerechtigkeit zielt 48. Ein Streben nach Gerechtigkeit kann nicht bedeuten, daß die Marktergebnisse korrigiert werden; es gilt statt dessen hinzunehmen, was der Markt für jeden, der sich fair verhält, offenhält. "Gerechtigkeit gibt es nur im individuellen Verhalten, jedoch keine Sonderform ,soziale Gerechtigkeit'" 49. 7. Auch eine Regierung oder deren Verwaltung steht unter denselben Regeln wie das Individuum. Sie hat mit den ihr übertragenen Mitteln so umzugehen, daß die "spontan geordneten Anstrengungen der Gesellschaft nicht gestört werden" 50. Das schließt für von Hayek auch ein, daß z. B. eine allgemeine Steuerprogression abzulehnen ist. Denn die Steuer zu einer Umverteilung der Güter zu benutzen, bedeutet einen Eingriff in das spontane Marktgeschehen. Diese setzt eine übergeordnete Instanz voraus, die über den Gerechtigkeitsbegriff und seinen Maßstab "Bescheid" weiß51.
Hayek, Demokratie, S. 36. Hayek, Studien, S. 120 f. 48 Vgl. Reinhard Zintl, Individualistische Theorie und die Ordnung der Gesellschaft, Berlin 1983, S. 166, Anm. 39; (Abkürzung: Zintl). Vgl. Hayek, Verfassung, S. 361 ff. 49 Hayek, Studien, S. 123. 50 Ebda. 51 V gl. Zintl, S. 207, Anm. 18. 46 47
8. Kapitel
Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls I. Fairness und Gerechtigkeit I Für eine Theorie des Gesellschaftsvertrages sucht Rawls nach Prinzipien, die als Grundlage des Zusammenlebens vernünftiger, freier und gleicher Menschen dienen können. Der ihn leitende Gedanke ist der, daß er die Gerechtigkeit, die er als sozial interpretiert, zur Grundstruktur der Gesellschaft macht. Er bestimmt die Gerechtigkeit, deren Grundsätze er hinter einem Schleier von Nichtwissen festgelegt sieht, als Fairness (29). Diese stellt für ihn die einzig brauchbare Alternative zur Tradition des Utilitarismus dar. "Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institution" (19). Sollte sie verletzt werden, müssen Gesetze und Institutionen geändert werden, auch wenn sie noch so gut funktionieren und wohlabgestimmt sind (19). Weder der einzelne noch die Gesellschaft verträgt Unrecht und Ungerechtigkeit. Die Gerechtigkeit wiederum läßt es nicht zu, daß der Verlust der Freiheit einzelner zu Gunsten eines Wohles einer größeren Zahl kompensiert wird. Gerechtigkeit bedeutet ein Gedankensystem, in dem die sozialen Institutionen Gerechtigkeit, Freiheit und gleiche Bürgerrechte für alle die Grundpfeiler darstellen. Hierbei gibt es keinen Komprorniß. Die Verwirklichung der Gerechtigkeitsvorstellung ist gerichtet auf eine Gesellschaft, in der jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt, und in der die gesellschaftlichen Institutionen diesen Grundsätzen verpflichtet sind. Als Ziele der sozialen Gerechtigkeit, die ein Teil einer Theorie der politischen Ökonomie ist, stellt Rawls besonders zwei heraus: 1. Die unterschiedlichen Freiheiten sollen für alle da und für die am wenigsten Begünstigten von möglichst großem Nutzen sein (233). 2. Es geht um die gerechte Verteilung der gesellschaftlichen Güter. Der sozial am schlechtesten Gestellte soll die größtmögliche Förderung erhalten. Diesen Aufgaben dienen die von Rawls aufgestellten Gerechtigkeitsgrundsätze mit ihren sogenannten Vorrangregeln (336 f.). An Rawls' Zielsetzung wird deutlich, daß er sich mit zwei unterschiedlichen Perspektiven, die unmittelbar miteinander in Verbindung stehen und die auch zusammengehören, auseinandersetzt. I Die Zahlen im Text geben die Seiten der deutschen Ausgabe von John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1979, an.
II. Der "Urzustand" in der Rawls'schen Theorie
77
Er befaßt sich nämlich sowohl mit den Grundsätzen in den Institutionen der Gesellschaft als auch mit individuellen Grundsätzen. Die Gerechtigkeit als Fairness weist auf diesen doppelten Sachverhalt hin. Denn zum einen wird damit gesagt, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation der Gesellschaft mit gerechten Institutionen bestehen. Zum anderen gilt das Gebot der Fairness als einer der Grundsätze, die für je einen einzelnen verpflichtend sind. Das Verhältnis vom Einzelmenschen zur Institution erfährt hier allerdings eine Deutung zu Gunsten der Institution. Denn vom Individuum wird verlangt, sich den Regeln einer Institution entsprechend zu verhalten. Dabei müssen zwei Bedingungen erfüllt werden: 1. Die Institution muß gerecht oder fair sein. Das heißt, sie muß den - noch zu behandelnden - zwei Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen. 2. Die Vorteile der beiden Grundsätze müssenfreiwillig angenommen und dürfen nicht erzwungen übernommen werden (133). Da sich alle Verpflichtungen aus dem Fairnessgrundsatz ergeben, ist der Mensch nicht an ungerechte Institutionen gebunden (134).
11. Der "Urzustand" in der Rawls'schen Theorie Gerechtigkeit als Fairness "drückt den Gedanken aus, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt werden" (29). Einen solchen Ausgangszustand mit der Gewährleistung, "daß die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind", nennt Rawls "Urzustand" (28 ff., 34 ff.). Das ist ein fiktiver Zustand, in dem die Gesamtheit der Bedingungen zusammengefaßt sind, "die man bei angemessener Überlegung für unser Verhalten gegeneinander als vernünftig anzuerkennen bereit ist" (637). Der Urzustand ist also kein wirklich geschichtlicher Zustand, sondern wird als theoretische Situation verstanden, "die so beschaffen ist, daß sie zu einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt" (29). Es geht Rawls jedoch um Konkretisierung und Definition des Urzustandes. Die Partner mit ihren Vorstellungen, Ansichten, Interessen sind ganz verschieden. Deshalb existieren unterschiedliche Konkretisierungen. Da man sich viele Möglichkeiten vorstellen kann, muß es auch unterschiedliche Vertragstheorien geben. Zu jeder Gerechtigkeitsvorstellung gehört eine Konkretisierung des Urzustandes. Gerechtigkeit als Fairness ist also nur eine der Vertragstheorien (143). Sie stellt als Beschreibung des Urzustandes mit seinen Gerechtigkeitsprinzipien die bestmögliche Form dar. Rawls meint, daß sie der utilitaristischen Idee und ihrem Denken überlegen ist.
78
8. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls
Zum Urzustand gehören bestimmte Eigenschaften:
1. Die Vernünftigkeit der Vertragspartner (166) Die Theorie der Gerechtigkeit ist ein Teil der Theorie rationaler Entscheidung (33). Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness ist ein Beispiel für das, was Rawls Gesellschaftsvertragstheorie nennt (33). Diese setzt die Kenntnis ganz bestimmter Bedingungen voraus. Eine von ihnen ist die Verteilung der Güter nach Gerechtigkeitsgrundsätzen; diese müssen für alle beteiligten Vertragspartner annehmbar sein (33). Der von Rawls benutzte Begriff der Vernünftigkeit stellt eine Übernahme aus der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie dar. Danach hat der vernunftgeleitete Mensch ein widerspruchsfreies System von Präferenzen aller ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Er erstellt eine Rangordnung, die seinen Zwecken und Plänen dient. Indessen geht Rawls über diesen allgemeinen Begriff hinaus. Denn er spricht den von der Vernunft geleiteten Menschen von bestimmten psychologischen Verhaltensweisen frei. Er kennt nämlich keinen Neid, keine Scham oder Erniedrigung (167). Seine Gerechtigkeitstheorie will gerade diese "antisozialen Einstellungen" ausschließen (168).
2. Die Gleichheit der Menschen In der Vernünftigkeit des Menschen zeigt sich, daß die Menschen im Urzustand gleich sind. Die Menschen haben bei der Wahl ihrer Grundsätze die gleichen Rechte. Jeder kann seine Vorschläge machen und Grunde für sie vorbringen (36). Gleichheit kennzeichnet die Menschen als moralische Subjekte (36;548). Sie weisen sich dadurch aus, daß sie zum einen eine ganz bestimmte Vorstellung ihres Wohles und zum anderen einen klaren Gerechtigkeitssinn besitzen. Aufgrund dessen wenden sie die Gerechtigkeitsgrundsätze an und handeln nach ihnen (548). "Zusammen mit dem Schleier des Nichtwissens definieren diese Bedingungen die Grundsätze der Gerechtigkeit als diejenigen, auf die sich vernünftige Menschen, die ihre Interessen verfolgen, als Gleiche einigen würden, wenn von keinem bekannt ist, daß er durch natürliche oder gesellschaftliche Umstände bevorzugt oder benachteiligt ist" (37). Auf diese Weise können die Menschen vollkommen gerecht sein.
3. Der "Schleier des Nichtwissens" Rawls nimmt an, daß niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seinen Status, seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz oder seine Körperkraft kennt. Der einzelne weiß nichts von seinen eigenen Vorstellungen vom Guten, von den Einzelheiten seines Lebensplanes oder seiner Intelligenz. Auch die Parteien kennen die Verhältnisse ihrer wirtschaftlichen oder politischen Lage in der Gesellschaft nicht. Sie befinden sich ebenso hinter einem "Schleier des Nichtwissens". Dieser Schleier liegt über allen Menschen.
III. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit
79
Niemand wird durch Zufälligkeit oder gesellschaftliche Umstände bevorzugt oder benachteiligt. Vielmehr werden die Grundsätze der Gerechtigkeit hinter dem "Schleier des Nichtwissens" im Urzustand festgelegt. "Da sich alle in der gleichen Lage befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung" (29). Der Gedanke des Urzustandes hat zum Ziel, zu einem fairen Verfahren zu führen, aufgrund dessen "eine Übereinkunft über Grundsätze zu gerechteren Grundsätzen führen kann" (159).
4. Das gegenseitige Desinteresse Die Menschen im Urzustand sind nicht nur vernünftig, sondern haben auch keine "aufeinander gerichtete Interessen" (30)2. Die Menschen im Urzustand versuchen also nicht, "einander Gutes oder Schlechtes anzutun; sie sind nicht von Liebe oder Haß bewegt" (168). Sie würden, handelte es sich um ein Spiel, bei Einhaltung der aufgestellten Grundsätze danach streben, möglichst viele Punkte zu erreichen, ohne direkt oder indirekt ihren Mitspieler zu schädigen. Sie sind wechselseitig desinteressiert und außerdem auch nicht bereit, die eigenen Interessen gegenüber anderen aufzuopfern (152).
5. Die Grundsätze haben Verbindlichkeitscharakter (169)3 Die Menschen im Urzustand können davon ausgehen, daß jeder die einmal beschlossenen Grundsätze versteht, nach ihnen handelt, sie anerkennt und einhält (169). Sie lassen sich auch nicht auf Abmachungen ein, von denen sie wissen, daß sie nicht eingehalten werden können.
111. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit Rawls ist nicht an einem allgemeinen Gerechtigkeitsbegriff interessiert. Ihm geht es vielmehr um die soziale Gerechtigkeit. Diese stellt die Grundstruktur der Gesellschaft dar. Darunter versteht er genauer: "Die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen" (23). Die Theorie der Gerechtigkeit hat sich zum Ziel gesetzt, "Grundsätze für die Zuweisung von Rechten und Pflichten und die richtige Verteilung gesellschaftlicher Güter" zu erstellen (26 f.). 2 Vgl. Peter Koller, Theorien des Sozialkontraktes als Rechtfertigungsmodelle politischer Institutionen, in: Theorie der Normen, Festgabe für Ota Weinberger, Berlin 1984 (Abkürzung: Koller) S. 270. 3 Ebda.
80
8. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls
Das erste Gerechtigkeitsprinzip, das die Gerechtigkeitsvorstellung ausdeutet, lautet: "Jedennann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist" (336). Dieses Prinzip gleicher Grundfreiheiten geht davon aus, daß die Menschen im Urzustand sich auf eine Liste von Freiheiten einigen, die von allen anerkannt wird. Als wichtigste unter ihnen bezeichnet Rawls die politische, die Rede- und Versammlungsfreiheit, die persönliche Gewissens- und Gedankenfreiheit und das Recht auf Eigentum oder Schutz vor Willkür. Alle diese Freiheiten sollten nach diesem ersten Grundsatz für jeden Menschen gleich sein. Der zweite Grundsatz lautet: "Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendennaßen beschaffen sein: (a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und (b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen" (336). Im zweiten Grundsatz kann (a) als Differenzprinzip und (b) als Prinzip der fairen Chancengleichheit bezeichnet werden. Nach Rawls' eigener Deutung (82) bezieht sich dieser 2. Grundsatz besonders auf die Verteilung von Einkommen und Vennögen. Diese muß nicht gleichmäßig verlaufen, aber sie sollte "zu jedennanns Vorteil" dienen. "Der zweite Grundsatz kommt dadurch zum Tragen, daß die Positionen offengehalten werden und dann unter dieser Einschränkung die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten zu jedennanns Nutzen gestaltet werden" (82). Der Inhalt des zweiten Grundprinzips muß mit dem ersten in Einklang stehen. Aber Rawls will noch mehr. Beide müssen darüber hinaus in einer "lexikalischen Ordnung" stehen (82). Das bedeutet: Der erste Grundsatz muß erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann (62). Verletzungen der Grundfreiheiten aus dem ersten Grundsatz können nicht durch gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile aus dem zweiten Grundprinzip gerechtfertigt oder ausgeglichen werden (82). Rawls hat diese Reihenfolge der Grundsätze mit ihrem Vorrang der Grundfreiheiten in einer "Ersten Vorrangsregel" kenntlich gemacht und begrenzt: "Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäß können Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken; (b) eine geringere als gleiche Freiheit muß für die davon Betroffenen annehmbar sein" (336 f.). Die Grundstruktur der Gesellschaft muß mit den Unterschieden von Reichtum und Macht in der Weise fertig werden, daß sie der lexikalischen Ordnung entsprechend vorgeht und "die von dem vorgeordneten Grundsatz geforderten gleichen
III. Die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit
81
Freiheiten unangetastet" läßt (62). Im zweiten Grundsatz wird verlangt, daß von den denkbaren Ungleichheiten in der Grundstruktur jeder seine Vorteile haben muß (85). Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu regeln, daß sie den am stärksten Benachteiligten die bestmöglichen Aussichten bringt und allen eine faire Chancengleichheit öffnet (104). In dieser geforderten fairen Chancengleichheit soll die Gesellschaft sich um diejenigen kümmern, die in ungünstigen Positionen und mit wenigen natürlichen Gaben ausgestattet sind (121). Zufällig vorhandene Unterschiede sollen zwar möglichst ausgeglichen werden, aber etwaige natürlich vorhandene Unterschiede sollen nicht übersehen oder gar beseitigt werden. Vielmehr soll die Grundstruktur so gestaltet werden, daß auch die natürlichen Unterschiede oder zufälligen unterschiedlichen gesellschaftlichen Startchancen auch "den am wenigsten Begünstigten zugute kommen" (123). Rawls spricht darum in diesem Zusammenhang vom Unterschiedsprinzip, dem Rechnung zu tragen ist (123). Um zu einem Ausgleich zu kommen, der dem Gerechtigkeitsbegriff entspricht, muß dem am wenigsten Begünstigten in fairer Weise eine Chancengleichheit vermittelt und ein Selbstwertgefühl verschafft werden. Aus dieser Ableitung heraus ist die zweite Vorrangsregel, der Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard, zu verstehen. "Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen: (a) Eine Chancen-Ungleichheit muß die Chancen der Benachteiligten verbessern; (b) eine besonders hohe Sparrate muß insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildem" (337). Weil es der Gerechtigkeitsfairness um eine gerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen geht, müssen die Grundstrukturen der Institutionen so gestaltet werden, daß nicht nur gerechte Verfahren ermöglicht, sondern die von den Menschen gemeinsam erzeugte Menge von Gütern gerecht verteilt werden. Die Verteilung richtet sich nicht nach den Interessen und Bedürfnissen der einzelnen Menschen, sondern nach den Institutionen. Unter diesen versteht Rawls ein "öffentliches Regelsystem, das Ämter und Positionen bestimmt mit ihren Rechten und Pflichten, Machtbefugnissen und Schutzzonen u. ä." (74). Die gerechte Verteilung bedarf eines fairen bzw. reinen Verfahrens. Um bei der Verteilung eine solche "reine Verfahrensgerechtigkeit" zu erreichen, muß man ein gerechtes System von Institutionen schaffen und unparteiisch anwenden. "Nur vor dem Hintergrund einer gerechten Grundstruktur, wozu eine gerechte Verfassung und gerechte wirtschaftliche und soziale Institutionen gehören, kann es das nötige gerechte Verfahren geben" (108). Das System ist so zu gestalten, daß die angestrebte Verteilung sich unter allen Umständen als gerecht erweist.
6 KrameT
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8. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls
IV. Universalistischer und individualistischer Ansatz In seinem Buch "Der Verlust der Tugend" hat Alasdaire MacIntyre eine beispielhafte Konkretisierung der Gerechtigkeitstypen vorgetragen. Er hat nämlich zwei idealtypische Figuren A und B geschaffen. Der Typus B verkörpert die Position von John Rawls': "B, der vielleicht Freiberufler, Sozialarbeiter oder jemand mit ererbten Vermögen ist, ist beeindruckt von den natürlichen Ungleichheiten der Verteilung von Wohlstand, Einkommen und Chancen. Noch beeindrukkender ist er womöglich von der Unmöglichkeit, für die Armen und Benachteiligten sehr viel an ihrer Lage zu ändern, als Folge eben dieser Ungleichheiten in der Verteilung der Macht. Er hält diese beiden Arten der Ungleichheit für ungerecht und meint, daß sie ständig weitere Ungerechtigkeiten nach sich ziehen. Allgemeiner glaubt er, daß jede Ungleichheit dringend der Rechtfertigung bedarf und daß die einzig mögliche Rechtfertigung der Ungleichheit darin besteht, die Lage der Armen und Benachteiligten zu verbessern - zum Beispiel durch die Förderung des Wirtschaftswachstums. Er kommt zu dem Schluß, daß die Gerechtigkeit unter den gegenwärtigen Umständen umverteilende Steuern erfordert, die Wohlfahrt und Sozialdienste finanzieren. Er beabsichtigt die Politiker zu wählen, die umverteilende Steuern und seine Vorstellung von Gerechtigkeit verteidigen werden"4. Diese Typisierung stellt den Versuch dar, aus der fiktiven Urzustandslehre Rawls' eine konkrete Gestalt für die soziale Gerechtigkeit abzuleiten. Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie die soziale Gerechtigkeit zum Maßstab macht. Wo durch Steuern oder Enteignung Eingriffe in den Erwerb und den rechtlichen Anspruch vorgenommen werden, kann die Tolerierung solcher Eingriffe nur als Preis verstanden werden, "der für die Gerechtigkeit gezahlt werden muß" (327) 5. Rawls' Zielvorstellung ist auf die Gruppe von Menschen gerichtet, die soziale Gerechtigkeit für Einkommen, Wohlstand und Vermögen am nötigsten brauchen, weil sie am bedürftigsten sind und sozial bzw. ökonomisch am schlechtesten dastehen. Es ist nicht von Bedeutung, wie es zu der Notlage dieser Gruppe gekommen ist. Gerechtigkeit wird in der Gegenwart in Form einer sozialen Umverteilung, ohne daß die Vergangenheit berücksichtigt wird, gefordert 6. Der einzelne kann auf Grund des Unterschiedsprinzips entsprechend seiner Begabung und dem "überlegenen Charakter" (125) insoweit Vorteile erwirken, als das Prinzip des Unterschiedes nicht verletzt wird. Der von der Natur Begünstigte soll sich nur insoweit seiner Gaben erfreuen können, wie er damit auch die Lage der von der Natur Benachteiligten verbessert (122). "Das Unterschiedsprinzip bedeutet faktisch, daß man die Verteilung der natürlichen Gaben in gewisser Hinsicht als Gemeinschaftssache betrachtet und in jedem Falle die größeren sozialen wirtschaftlichen Vorteile aufteilt, die durch die Komplementaritäten 4 Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt und New Y ork 1987 (Abkürzung: MacIntyre) S. 326. 5 MacIntyre, S. 327. 6 MacIntyre, S. 331.
IV. Universalistischer und individualistischer Ansatz
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dieser Verteilung ermöglicht werden" (122). Die Vorteile aus den Begabungen einzelner müssen darum allen Mitgliedern der Gesellschaft zl!r Verfügung stehen. Aber kann man wirklich davon sprechen, daß die von der Natur gewährten Begabungen als ein gemeinsames Eigentum (Gemeinschafts sache) gelten können?? Außerdem ist nicht einzusehen, warum die von der Natur oder vom Schöpfer gegebenen unterschiedlichen Begabungen der Gemeinschaft und nicht dem einzelnen gehören sollen 8 • Zwar räumt Rawls ein, daß Gerechtigkeit mit Verdienst verbunden werden kann, aber in einem gerechten System wird ohnehin das gewährt, "worauf die Menschen einen Anspruch haben; es erfüllt ihre berechtigten Erwartungen, die sich auf die gesellschaftlichen Institutionen gründen" (345). Die Theorie der Gerechtigkeit erkennt darum nicht an, daß die Güter des Lebens unserem Verdienst gemäß verteilt werden. Sie lehnt diese Vorstellung ab. Denn ein solcher Grundsatz würde im Urzustand mit seiner aufgestellten und anerkannten Regel über die Gerechtigkeit nicht beschlossen werden. Die Theorie der Gerechtigkeit als Fairness stellt eine Theorie des Gesellschaftsvertrages dar. "Es handelt sich ... um eine Gesellschaft, in der (1) jeder die gleichen Gerechtigkeitsgrundsätze anerkennt und weiß, daß das auch die anderen tun, und (2) die grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen bekanntermaßen diesen Grundsätzen genügen" (21). Die Gesellschaft ist ein "Unternehmen", das zum gegenseitigen Vorteil zusammenarbeitet. Aber diese Gemeinschaft ist durch Interessenkonflikte und Interessenharmonie gekennzeichnet. Zum einen will man durch Interessenharmonie in der gesellschaftlichen Zusammenarbeit allen Menschen ein besseres Leben ermöglichen, zum anderen entstehen Interessenkonflikte auf Grund der Frage, wie das Ergebnis dieser Zusammenarbeit verteilt werden kann. Denn jeder strebt nach einem möglichst großen Anteil am Kuchen (149). Diese Ableitung aus der individuellen Gerechtigkeitsvorstellung läßt die universalistische Deutung der Rawls'schen Theorie als einseitig erscheinen 9 • Peter Koller glaubt, daß die Rawls'sche Theorie vom Urzustand wegen seiner "transsubjektiven und universellen Perspektive" es rechtfertigt, Rawls' Vertragskonzeption als universalistisch und nicht als individualistisch zu bezeichnen, wie es bei Rawls' Vorgängern, bei Hobbes oder Locke hätte getan werden müssen 10. Es ist nicht zu verkennen, daß im Urzustand eine universalistische Vertragskonzeption zu sehen ist. Aber die Entwicklung des Gerechtigkeitsgedankens und der individualistischen Vorstellung des Verdienstgedankens erlauben es, Rawls nicht allein der einen, der universalistischen oder der anderen, der individualistischen Seite, zuzurechnen. ? Vgl. Roland Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, Diss. St. Gallen, Nr.961, 1986 (Abkürzung: Kley), S. 424. 8 Vgl. Kley, S. 428. 9 Gegen Peter Koller. 10 Koller, S. 272 ff. 6*
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8. Kap.: Die soziale Gerechtigkeit bei John Rawls
V. Die Verteilungsgerechtigkeit Rawls gibt als Hauptproblem der Verteilungsgerechtigkeit "die Wahl eines Gesellschaftssystems" an (308). Dieses hat für eine gerechte Verteilung der Güter zu sorgen. In welchem Umfang die Umverteilung vorgenommen werden soll, wird von Rawls nicht näher beschrieben. Denn nach ihm sind Steuern und sonstige Maßnahmen der Verteilung auf dem Boden des Unterschiedsprinzips so zu gestalten, daß etwaige Vermögens- und Einkommensdifferenzen eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Wo aber diese zu suchen ist, ist für Rawls nicht eine Aufgabe der Theorie, sondern Sache des politischen Urteils (312). Er formuliert sogar: "Zu diesen Fragen hat die Gerechtigkeitstheorie nichts Näheres zu sagen. Ihr Ziel ist die Aufteilung von Grundsätzen für die Rahmeninstitutionen" (312). Aber weder direkte noch prozentuale Umverteilungsgrößen können von Rawls herangezogen werden. Auch vererbte Güter oder Anlagen, lebenslang gemachte soziale Erfahrungen oder veranlagte bzw. erworbene Charaktereinstellungen, helfen dabei nicht. Wenn Rawls davon ausgeht, daß im Prinzip die am schlechtesten gestellten Menschen unter Zuhilfenahme des Unterschiedsprinzips am besten wegkommen sollen, so bleibt also offen, inwieweit es verbindliche Maßstäbe zur Ermittlung der sozio-ökonomischen Situation dieser Menschengruppe gibt 11. Um die Gerechtigkeitsvorstellungen in konkrete Politik umzusetzen, verweist Rawls auf zu schaffende regierungsamtliche Umverteilungsabteilungen (310). Während die Märkte die freie Berufswahl und den optimalen Einsatz der Mittel bzw. ihre Verteilung auf die Haushalte vornehmen, sollen die Regierungsabteilungen dafür sorgen, daß ein bestimmtes Wohlfahrtsniveau gewährleistet wird. Denn für Rawls werden die Bedürfnisse der Menschen ebensowenig durch den Markt befriedigt, wie ein allgemeiner Lebensstandard durch den Markt allein geschaffen werden kann (311). Die "Verteilungsabteilungen" haben für eine Verteilungsgerechtigkeit (mittels Besteuerung und Änderung des Besitzrechtes) zu sorgen. Dazu rechnet Rawls auch die Einführung einer proportionalen Verbrauchssteuer, die progressiven Steuersätzen vorzuziehen ist (312 ff.).
VI. Konsequenzen Trotz vieler philosophischer und theologischer Auseinandersetzungen mit Rawls' Theorie sind ihre Auswirkungen auf die praktische Gestalt der Politik, Philosophie, Theologie und Ethik recht gering. Allein die modeme Vertragstheorie hat Rawls' Analyse der Gerechtigkeit zur Kenntnis genommen und sich im Blick auf die soziale Komponente mit ihr auseinandergesetzt.
11 Hennann Koch, Soziale Gerechtigkeit nach dem Unterschiedsprinzip, Diss. Mannheim 1982, S. 81 ff.
VI. Konsequenzen
85
Maßgeblich ist für Rawls ein vertragstheoretischer Ansatz, bei dem die Gesellschaft vor dem einzelnen steht. Grundgedanke ist der Gesellschaftsvertrag wie er von John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant her bekannt ist: "Der Vertrag gilt nicht länger als eine Übereinkunft innerhalb einer vorgegebenen Ordnung; er dient der Legitimation eines Rechts- und Staatswesens" 12. Rawls hat die Vertragstheorie "verallgemeinert und auf eine höhere Abstraktionsebene" gehoben (27). Leitgedanke ist die Grundstruktur freier und vernünftiger Menschen, die ihre Zusammenarbeit selbst bestimmen. Die daraus entwickelten Grundsätze nennt er eine "Theorie der Gerechtigkeit als Fairness " (28). Mit den Überlegungen zu der daraus entwickelten sozialen Gerechtigkeit erweist sich Rawls als Gegenpol zur liberalen Auffassung der Verteilungstheorie, wie sie etwa - wie dargelegt - von Friedrich August von Hayek dargeboten wird. Während Rawls bereit ist, redistributive Maßnahmen des Staates zu unterstützen, lehnt von Hayek diese strikt ab. Für den letzteren kann es in der Marktwirtschaft keine distributive Gerechtigkeit geben; er akzeptiert aber die distributive Maßnahme des Staates, die denen ein "anständiges Minimum" zukommen läßt, die sich dieses aus dem Marktgeschehen heraus selbst nicht verschaffen können 13. Eine progressive Einkommenssteuer lehnen Rawls wie von Hayek ab. Von Hayek meint, es bestünde die Gefahr, daß eine durch die Steuerprogression herbeigeführte Gerechtigkeit erst dort ihre Grenzen erreicht, wo alle Einkommen über einen bestimmten Betrag hinaus konfisziert werden. Außerdem stellt die Progression kein Prinzip dar, das aussagen kann, wie bedrückend die Steuerlast ist, die auf den unterschiedlichen Personen liegt 14. Rawls ist jedoch bereit, die Steuerprogression unter bestimmten Voraussetzungen hinzunehmen, etwa -
um Vermögens- und Machtkonzentration zu verhindern,
-
der Gerechtigkeit im ersten Gerechtigkeitsprinzip eine faire Chancengleichheit zu sichern (313).
Rawls setzt sich mit Nicholas Kaldor für eine proportionale Verbrauchssteuer als bestes Steuersystem ein.
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Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt 1989 (Abkürzung: Höffe), S. 442. Hayek, Demokratie, S. 32; vgl. Kap. 7. Hayek, Verfassung, S. 387 ff.
9. Kapitel
Die Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei Robert Nozick 1 I. Der Minimal- und UItraminimalstaat Robert Nozick hat sich in seinem Buch "Anarchie - Staat - Utopia" mit seinem vertragstheoretischen, aber auf die Rechte des einzelnen ausgerichteten, Ansatz zugleich kritisch zum Werk Rawls' geäußert 2 • Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der Rechtfertigung des Staates (20 f.). Die Beschreibung des Naturzustandes von John Locke übernehmend stellt er den Naturzustand des Menschen, in dem es den Staat noch nicht gab, als den "besten anarchischen Zustand" dar, in dem "die Menschen im allgemeinen die moralischen Einschränkungen einhalten und im allgemeinen so handeln, wie sie sollen" (20). In Lockes Naturzustand befinden sich die Menschen in einem vollkommenen Zustand der Freiheit"; sie können nach eigenem Gutdünken aktiv sein und über ihre Besitztümer verfügen (25). Aber niemand darf einen anderen an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Eigentum schädigen, so fordert es das Naturrecht. John Locke und ihm folgend R. Nozick setzen sich für die Rechte des Individuums ein. Sollten ihre Rechte übertreten oder angegriffen werden, dürfen sich die Menschen verteidigen. Bei "Unzuträglichkeiten des Naturzustandes" ist für Nozick, wie bereits für Locke, der Staat mit seiner Gewalt als "rechte Abhilfe" da (25). Mit ihr kann er Unzuträglichkeiten abmildern oder vermeiden. Nozick unterscheidet zwischen einem Minimal- und Ultraminimalstaat. Die Aufteilung sieht er so: Der klassische Liberalismus kennt den Nachtwächterstaat. Dieser versteht sich als Schutz der Bürger gegen Gewalt, Diebstahl, Betrug. Er will helfen, die Verträge durchzusetzen, jedoch zwingt er seine Bürger gleichzeitig' "für den Schutz anderer zu bezahlen" (38). In diesem Handeln des Staates steckt für ihn ebenso wie in der Zahlung von Entschädigung eine Umverteilung (39). In solchen Handlungen stellt sich nach Nozick der Staat als Minimalstaat dar. Ein Staat jedoch, der zwischen einem Nachtwächterstaat und einem System von rein privat abzuschließenden Schutzvereinigungen der Bürger steht, nennt er Ultraminimalstaat. "Dieser hat das Monopol auf alle Gewaltanwendungen außer bei Notwehr und schließt damit Vergeltung und Eintreibung von Entschädi1 Die Ziffern im Text beziehen sich auf Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopie, München o. J. 2 Die amerikanische Ausgabe erschien 1974 in New York.
II. Die Anspruchstheorien
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gungen durch Privatpersonen (oder -organisationen) aus; doch er bietet Schutzund Durchsetzungsleistungen nur denjenigen, die sie von ihm kaufen" (38). Wer keinen Schutzvertrag mit dem Staate schließt, erhält auch keinen Schutz. Der Staat allein hat das Schutzmonopol. Der Ultraminimalstaat kommt durch die "unsichtbare Hand" zustande. Nozick übernimmt diesen Ausdruck von Adam Smith. Er hat sich in seiner Staatstheorie des Ultraminimalstaates am Vorbild des Ökonomischen orientiert 3 und verweist darauf, daß nach Smith zwar jeder einzelne nur seinen eigenen Nutzen im Sinne hat, aber er wird gleichsam durch eine unsichtbare Hand dahin geführt, "einem Ziel zu dienen, das nicht in seiner Absicht liegt" (32). Dieser Staat gilt nach Otfried Höffe "als unkoordiniertes Resultat von Einzelhandlungen rationaler Individuen und die entsprechende Legitimationstheorie, eine Erklärung mittels unsichtbarer Hand, als eine nichtintentionale, nämlich auf ausdrückliche Vereinbarungen verzichtende Legitimation" 4. Das Gewaltmonopol des Ultraminimalstaates kommt durch die unsichtbare Hand so zustande, daß der einzelne dieses Ziel zwar nicht beabsichtigt, es aber durch sein eigenes Handeln verwirklicht. Es geht ihm um den Schutz und die Nichtverletzung des Rechtes. Der Staat selbst beansprucht das Recht, jeden zu bestrafen, der das von ihm aufgestellte Monopol verletzt (36). Die Wahrnehmung des Monopols im Ultraminimalstaat ist moralisch berechtigt und verletzt nicht die Rechte anderer (38, 111). Auch der Umverteilungsakt im Minimalstaat zum Schutz der Bürger ist schließlich berechtigt. Die gleiche Berechtigung gilt auch für den Wechsel vom Ultraminimal- zum Minimalstaat (38, 111). Der Übergang vom Ultraminimal- zum Minimalstaat vollzieht sich auf moralischer Grundlage: "Die vorherrschende Schutzvereinigung mit ihrem Monopolcharakter ist moralisch verpflichtet, die Nachteile auszugleichen, die sie denjenigen auferlegt, denen sie Selbsthilfe gegenüber ihren Mitgliedern bietet" (115). Der Minimalstaat entspricht dann gleichsam einem Ultraminimalstaat in Verbindung mit einem aus dem Steueraufkommen finanzierten Gutscheinsystem (mit eindeutigem Umverteilungseffekt)" (39). Diese moralischen Gründe überführen den Ultraminimalstaat in einen Minimalstaat; auf sie stützen sich die Menschen, wenn sie sich für einen Minimalstaat einsetzen. Aber gleichzeitig spielt der Gedanke eine Rolle, daß sie zu Schadenersatz gegenüber den Geschädigten verpflichtet sind, die in demselben geographischen Bezirk leben und denen bestimmte Handlungsverbote (z. B. das der Selbstverteidigung) auferlegt sind.
11. Die Anspruchstheorien Der Minimalstaat ist der "weitestgehende Staat, der sich rechtfertigen läßt" (143). Denn "jeder weitergehende Staat verletzt die Rechte der Menschen" (143). 3 4
Höffe, S. 443. Höffe, S. 453.
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9. Kap.: Die Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei R. Nozick
Für Nozick besteht das Ziel des Minimalstaates darin, "den Staat gegenüber den Anarchisten zu rechtfertigen und dabei gleichzeitig allgemeine Grenzen legitimer Staatstätigkeit zu bestimmen" (138)5. Es sind vor allem Individualrechte, die der staatlichen Gewalt- und Machtanwendung Einhalt gebieten. Dazu gehört z. B. das individuelle Eigentumsrecht. Die Gerechtigkeit der Eigentumsverteilung ist nach Nozick durch drei Elemente geprägt. Diese kennzeichnen seine daraus entwickelte "Anspruchstheorie": 1. Der Grundsatz der Erstaneignung als "ursprünglichen Erwerb von Besitz" und damit die "Aneignung herrenloser Gegenstände" (144). Dazu gehört der Grundsatz der "gerechten Aneignung", die das Recht anderer Personen nicht verletzen darf. 2. Die "Übertragung von Besitztümern". Diese geschieht durch freiwilligen Tausch, Schenkung und auch durch Betrug (144). 3. Die Korrekturen an den aus dem ersten und zweiten Prinzip erfolgten Besitzverhältnissen. Sie sollen die Ungerechtigkeiten, die aus den Anwendungen der beiden Prinzipien entstanden sind, ausgleichen. Nozick weist darauf hin, daß zwar die Besitzverteilung, sofern sie auf einwandfreie Weise zustande gekommen ist, einen weitergehenden Staat nicht erforderlich macht; wenn aber "diese Grundsätze verletzt werden, kommt der Grundsatz der Korrektur ins Spiel" (212). Dieser könnte dann für eine begrenzte Zeit einen weitergehenden Staat zulassen. Die Anspruchstheorie stellt sich zusammengefaßt so dar: "Der Besitz eines Menschen ist gerecht, wenn dieser auf ihn im Sinne der Grundsätze der gerechten Aneignung und Übertragung oder der Berichtigung von Ungerechtigkeiten (im Sinne der ersten beiden Grundsätze) einen Anspruch hat. Ist der Besitz jedes einzelnen gerecht, so ist die Gesamtmenge (die Verteilung) der Besitztümer gerecht" (146). IH. Die Verteilungsgerechtigkeit Die staatliche Distribution ist für Nozick eine Verletzung individueller Rechte. Sie wird von dem Steuerzahler geleistet, indem er "bereit" ist, auf einen Teil seiner Freizeit (1) zu verzichten. Sie kommt dann durch Redistribution dem zugute, der nicht bereit ist zu arbeiten (159 f.). Insofern stellt eine staatliche Redistribution für die, die die Mittel erbringen, eine ungerechte Handlung dar. Die Begünstigten jedoch werden auf diese Weise zu "Teileigentümern des Betroffenen", also dessen, der "Zwangsarbeit" leisten muß. Dadurch führen die Grundsätze "von der klassisch-liberalen Vorstellung des Eigentums des Menschen an 5 Michael Fritsch, Ökonomische Ansätze zur Legitimation kollektiven Handeins, Berlin 1983, S. 138.
III. Die Verteilungs gerechtigkeit
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sich selbst weg zu einer Vorstellung von (Teil-)Eigentumsrechten an anderen Menschen" (162). Die Verteilungs gerechtigkeit in der Gesellschaft ist für Nozick durch unterschiedliche Grundsätze geprägt. Er unterscheidet zwischen historischen und strukturellen Grundsätzen. Für ihn gilt es vor allem, die Verteilung als ein historisches Ereignis zu sehen. Denn die Verteilung hat sich bereits ereignet, ist bereits zustande gekommen. Sie ist damit vergangenheitsbezogen 6. Die Anspruchsgrundsätze der Gerechtigkeit bei den Besitztümern sind also historischer und nicht struktureller Art (149). Darin liegt auch die Begründung Nozicks, wenn er sich ausdrücklich gegen strukturelle und für historische Verteilungsgrundsätze entscheidet. Indessen, wenn es um die Frage geht, wie die Güter verteilt sind, kommt die Gerechtigkeit auch nach dem strukturellen Grundsatz ins Spiel. Dann wird danach gefragt, "wer was besitzt" (146). Eine Verteilung ist dann strukturell, wenn sie einer "natürlichen Dimension oder gewichteten Summe oder Kombination einer geringen Zahl natürlicher Dimensionen" entspricht (149). Eine strukturelle Verteilung stellt entweder eine Verteilung nach moralischem Verdienst oder nach gesellschaftlicher Nützlichkeit dar. Der moralische Aspekt zeigt sich darin, daß niemand "einen größeren Anteil als ein anderer haben" soll, "dessen moralischer Verdienst größer ist" (148). Allerdings kann Nozick die Verteilung nach moralischem Verdienst nicht nur als strukturellen Grundsatz, sondern auch als einen historischen-strukturellen bezeichnen (148 f.). Eine Verteilung nach der Intelligenz ist ein struktureller Grundsatz, "der Informationen heranzieht, die nicht in der Beschreibung von Güterverteilungen enthalten sind" (149). Er ist deshalb unhistorisch, da sich die Ansprüche nicht vergangenheitsorientiert ableiten lassen. Indessen, die Verteilungsgerechtigkeit auf Grund struktureller Prinzipien bedeutet eine Vernachlässigung der Geber bzw. der Übertragenden. Sie ist empfangsorientiert (158). Alle strukturellen Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit machen eine Umverteilung notwendig (159). Aus der Sicht einer Anspruchstheorie dagegen, wie sie Nozick versteht, ist die Umverteilung problematisch. Das ist auch der Grund, warum sich Nozick mit seiner Anspruchstheorie gegen die unhistorische Gerechtigkeitstheorie Rawls' wendet (149, 185). Die Rawls'sche Theorie stellt sich für ihn als eine ungeschichtliche strukturelle Verteilungstheorie dar. Sie ist allein auf das ,,Endergebnis" ausgerichtet. Denn in Rawls' Theorie der Gerechtigkeit stehen die Menschen des Urzustandes unter dem Schleier des Nichtwissens. Sie wissen nämlich nichts über sich selbst und ihre Lebenshistorie. 6 Michael Fritsch, S. 147, glaubt, in diesem Grundsatz die aristotelische iustitia commutativa und in den noch zu behandelnden "Endergebnis-Grundsätzen" die iustitia distributiva wiederzuerkennen. Vgl. Rudolf Stranzinger, Gerechtigkeit, Beiträge zur allgemeinen Rechts- und Staatslehre, Bd. 8, Frankfurt, New York, Paris 1988 (Abkürzung: Stranzinger) S. 155 ff.
90
9. Kap.: Die Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei R. Nozick
Aber sie lassen sich leiten von Grundsätzen, die die Verteilung der Gerechtigkeit im Endzustand im Auge haben (187). Dieser Ansatz setzt voraus, "daß keine historisch-anspruchsorientierte Gerechtigkeitsverteilung richtig ist" (188). Nach Nozick fällt bei Rawls das Sozialprodukt gleichsam "wie Manna vom Himmel" (184). In der Welt jedoch geschieht das nicht. Die Verteilung der Güter ist für Nozick bereits historisch-anspruchsorientiert geschehen. Die Rawls'sche Theorie sieht er als unhistorisch an. Die Menschen können nämlich im Urzustand hinter dem Schein des Nichtwissens keine Entscheidung der Verteilung treffen (185). "Denn wenn Menschen hinter einem Schleier des Nichtwissens zusammenkommen, um darüber zu entscheiden, wer was bekommen soll, wobei sie nichts über etwaige besondere Ansprüche der Menschen wissen, dann werden sie das zu Verteilende als Manna behandeln, das vom Himmel fällt" (185). Letztlich ist überhaupt zu fragen, ob die Leute das Recht haben, "über die Verteilung von allem und jedem zu entscheiden" (185)? Nozick hat in seinen Ausführungen zur Gerechtigkeit auf die drei Unterschiede des historischen, strukturellen und ergebnisorientierten Vorhandenseins der Gerechtigkeit hingewiesen. Die ergebnisorientierten oder Endzustandsprinzipien der Gerechtigkeit sind strukturelle Grundsätze. Sie zeigen sich in einer Zeitquerschnittsbetrachtung (148) der distributiven Gerechtigkeit. Nozick selbst tritt für einen historischen und nicht-strukturellen Anspruch und eine entsprechende Übertragung von Gütern ein. Allerdings gibt es keine allgemeinen Kriterien für die Besitzverteilung. Darum auch ist für ihn die Aufteilung der Verteilungsprinzipien nicht ganz eindeutig 7. Das Schema für die Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit 8 nach Nozick sieht so aus: Grundsätze
strukturelle
nicht -strukturelle
historisch
Verteilung nach moralischem Verdienst oder nach der Nützlichkeit für die Gesellschaft oder nach den Bedürfnissen mit gleichen Gewichten für unterschiedliche Dimensionen. Hierher gehört auch die kommutative Gerechtigkeit des Aristoteles.
Die von Nozick vertretenen Prinzipien der Aneignung und Übertragung von Gütern (Anspruchsgrundsatz).
nicht-historisch
Verteilung nach Intelligenz ist ein Grundsatz, der Informationen heranzieht, die nicht in der Beschreibung von Güterverteilung enthalten sind. Ergebnis- oder Endzustandsgrundsätze, z. B. Rawls' Theorie der Verteilung. Im allgemeinen wird man die
7
8
Vgl. Nozick, S. 148 ff.; 184 f. Vgl. Kley, S. 109 ff. Vgl. Stranzinger, S. 155.
IV. Rawls' und Nozicks Gerechtigkeitsvorstellung - Ein Vergleich
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soziale Gerechtigkeit dazu rechnen. Sie stellt eine Querschnittsbetrachtung dar. Man kann sie als distributive Gerechtigkeit bezeichnen. Nozicks Kritik an Rawls läuft darauf hinaus, daß die von ihm vertretene Anspruchstheorie mit Rawls' Theorie der Gerechtigkeit unvereinbar ist.
IV. Rawls' und Nozicks Gerechtigkeitsvorstellung -
Ein Vergleich
Während bei Rawls vertragstheoretischem Ansatz die soziale Struktur vorherrscht, steht bei Nozicks gleichfalls vertragstheoretischer Grundlegung das Individuum über der Gesellschaft 9• Während Rawls verteilungsorientiert denkt, lehnt Nozick die staatliche Redistributation ab. Nozicks Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit sind vergangenheitsorientiert. Sie basieren auf der Berechtigung einer Erstaneignung und lassen die Frage laut werden, ob überhaupt eine Möglichkeit besteht, jemals eine solche Erstaneignung als ungerecht zu kennzeichnen. Kann damit nicht jeder ungerechtfertigte Besitz eines fremden Eigentums in der Gegenwart sanktioniert werden? 10 Diese Betonung der Historizität weist gleichzeitig auf die mangelhafte Bewertung des Verdienstgedankens in Nozicks Denken hin. Die Kluft zwischen Nozick und Rawls zeigt sich in der von MacIntyre vorgetragenen Typologie, deren Person, Typus B, bereits bei Rawls dargestellt worden ist. Die Beschreibung der anderen Person, des Typus A, der Nozicks Theorie widerspiegelt, lautet: "A, der vielleicht ein Geschäft besitzt, aber auch Polizeibeamter oder Bauarbeiter sein kann, hat mit einiger Mühe genug von seinem Verdienst gespart, um sich ein Häuschen zu kaufen, seine Kinder aufs lokale College zu schicken, seinen Eltern eine medizinische Spezialbehandlung zu bezahlen. Alle diese Projekte werden plötzlich durch steigende Steuern bedroht. Er betrachtet diese Bedrohung seiner Projekte als ungerecht; er behauptet, ein Recht auf das zu haben, was er verdient hat, und daß niemand ein Recht hat, ihm wegzunehmen, was er sich ehrlich erworben und worauf er einen berechtigten Anspruch hat. Er beabsichtigt, die Politiker zu wählen, die sein Eigentum, seine Projekte und seine Vorstellung von Gerechtigkeit verteidigen werden" 11. A ist also der Meinung, daß der Umverteilung durch die Prinzipien des gerechten Erwerbs und des rechtlichen Anspruchs Grenzen gesetzt werden müssen. Er wehrt sich deshalb auch gegen eine fiskalische Redistribution zu Gunsten anderer, die sich einer Belastung durch Arbeit nicht unterziehen wollen. Für ihn kommt dementsprechend auch keine Umverteilung als Zwangsabgabe infrage. Vgl. Stranzinger, S. 122 f. Vgl. MacIntyre S. 335. 11 MacIntyre, S. 326.
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9. Kap.: Die Anspruchstheorie der Gerechtigkeit bei R. Nozick
Wenn der Typus B im Namen der Armen und der Benachteiligten die Ungleichheit und Armut als ungerechtfertigt und damit als unverdient bezeichnet, dann überschreitet bei Rawls diese Fragestellung die Gerechtigkeitstheorie. Denn der Verdienst ist ebensowenig wie die Gerechtigkeit zurechenbar. Überhaupt, was bestimmt den Verdienst und die Gerechtigkeit? Haben denn die Menschen die ihnen gegebenen Chancen genützt? Nozick will die staatliche Tätigkeit mit ihren öffentlichen Leistungen minimalisieren und alles weitestgehende der Privatinitiative überlassen. Für ihn sollen die unterschiedlichsten Funktionen staatlicher Aktivitäten durch den Markt und nicht durch eine staatliche Instanz geregelt werden. Das Streben nach Gemeinwohl hat in seiner Theorie keinen Platz l2 • Aber dieser Staatsbegriff bleibt realitätsfremd. Rawls argumentiert im Blick auf eine "gerechte" oder "wohlgeordnete", also auf eine durch die gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellungen gesteuerte Gesellschaft. Sie jedoch bleibt trotz aller definitorischen Versuche mehr oder weniger unscharf und konturenlos 13 • Nozicks Anspruchstheorie kennt keine Gleichheit des Besitzes. Sie kennt auch keine Chancengleichheit der Menschen an. Statt dessen leitet Nozick selbst den Anspruch des einzelnen aus dessen Vergangenheit und der Leistung her, die er erbracht hat.
12 Vgl. Günter Maluschke, Philosophische Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Freiburg, München 1982 (Abkürzung: Maluschke) S. 214. 13 Vgl. Rawls, S. 21; vgl. Maluschke S. 180.
10. Kapitel
James Buchanans Verfassungsmodell I. Die Elemente des Verfassungsmodells 1
Buchanan bekennt sich zu einer natürlichen Verteilung der Güter. Sie ist nicht durch Vereinbarungen zustande gekommen, sondern hat sich durch psychische Gewaltanwendung, durch Diebstahl oder anderes ganz "natürlich" ergeben. Verhandlungen und Vereinbarungen finden statt, um diese Verteilung der Güter zu sichern, wenn der Nutzen zusätzlicher Sicherungs- oder auch Eroberungskosten gleich den Grenzkosten ist (34). Will man die eigenen Interessen wahren und sich doch gleichzeitig auf bestimmte Vereinbarungen mit dem Partner einlassen, ist der Erhalt der gegenwärtigen Güterverteilung möglich. Dazu bedarf es dann der Einhaltung vertraglicher Übereinkünfte. Es müssen Rechte bestimmt, Verhaltensspielräume fixiert und Verteilungen abgegrenzt werden. Erst durch einen solchen konstitutiven Vertrag treten Besserungen gegenüber der "natürlichen" Verteilung der Güter auf. Allerdings müssen diese Rechte wechselseitig angenommen werden. Das kann vorteilhaft für den einzelnen wie für die Gesellschaft sein, sofern die Verträge nicht verletzt werden. Für diesen Zustand eines konstitutionellen Vertrages übernimmt der Staat die Schutzfunktion der Vereinbarungen. Das sind die Grundvoraussetzungen für Buchanans Verfassungsmodell. Er kennzeichnet sie durch drei Elemente, durch: 1. den Konstitutionalismus, 2. die individualistische und demokratische Struktur, 3. den vertragstheoretischen Ansatz (l ff.; 76 ff.).
1. Der Konstitutionalismus Mit dem Begriff des Konstitutionalismus umschreibt Buchanan die menschliche Interaktion, "wo die Individualrechte zum ersten Mal definiert und die eigentlichen zwischenmenschlichen Verhaltensregeln aufgestellt werden" (76). Für ihn stellt sich dieser Zustand dar als die Ersetzung der Anarchie durch die Gesellschaft (76). Es geht dabei nicht nur um Verhaltensregeln und um Rechte einzelner Personen, sondern um die von Gruppen und des ganzen Staates 2 • 1 Die Ziffern im Text beziehen sich auf: James Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, Tübingen 1984.
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10. Kap.: James Buchanans Verfassungsmodell
Zum Staat gehören Funktionen, die Buchanan über Nozicks Ultraminimalstaatsvorstellungen hinausgehen läßt. Der Rechtsschutzstaat Buchanans entspricht eher dem Minimalstaat Nozicks. Er sichert die Einhaltung der Rechte und regelt Tauschbeziehungen der Partner. Die Theorie staatlichen HandeIns als Rechtsschutzstaat sieht in diesem "die Institution zur Rechtsdurchsetzung" (97). Er hat die Garantie zu liefern, daß die Verträge zwischen den Personen eingehalten werden. Das ist die Situation des konstitutionellen Stadiums im Gesellschaftsvertrag. Hinzu kommt für Buchanan in einem postkonstitutionellen Vertrag der Leistungsstaat. Er ist die Instanz, die die Herstellung und Verteilung von Kollektivgütern ermöglicht, die von privater Seite aus nicht oder nicht in genügender Menge hergestellt werden (VIII;98).
2. Individualistische und demokratische Struktur Buchanan bezeichnet seinen Ansatz im "ontologisch-methologischen Sinn" als "streng individualistisch" (1). Die Theorie des Individualismus will im Prinzip verwirklichen, daß jeder Mensch nicht nur sich, sondern auch die Existenz des Mitmenschen und dessen Wertvorstellungen anerkennt. Er geht von der Gleichwertigkeit der Personen aus (2;15). Jedes Individuum ist gleichviel wert. Wenn Buchanan gleichzeitig von einem demokratischen Ansatz spricht, dann hat er damit nur eine andere Definition des Individualismus im Sinn. Denn ,jeder Mensch zählt nur als ein einzelner" (3). Die Gleichwertigkeit der Individuen muß in Übereinstimmung gebracht werden mit der Tatsache, daß es zwischen den Menschen Unterschiede gibt. Der Mensch lebt nicht in einer Gesellschaft von gleichen Individuen. Vor einem Austausch zwischen unterschiedlichen Personen müssen die einzelnen Rechte der jeweils anderen Partei respektiert werden. Es muß als Grundlage des HandeIns oder Tauschens "eine wechselseitige und gleiche Anerkennung" der den einzelnen zustehenden Rechte gewährleistet sein (16). Damit gesellt sich zur Gleichwertigkeit eine Gleichbehandlung von Ungleichen. "Mißverständnisse entstehen oft nur dadurch, wenn Gleichheit vor dem Recht zugleich als ein Attribut faktischer Gleichheit verstanden wird. Mit anderen Worten, man geht oft von den falschen Vorstellungen aus, daß Rechtsgleichheit auch die Herstellung faktischer Gleichheit impliziere oder, daß faktische Gleichheit ein Maßstab für sozialen Fortschritt sei" (16). Für Buchanan dagegen unterscheiden sich die Individuen in wichtigen Punkten der körperlichen, geistigen, seelischen Anlagen, der künstlerischen Fertigkeiten, des Urteilsvermögens, der Präferenzen, des sozialen Verhaltens und des Umgangs mit den Ressourcen voneinander (15, 80). "Wir leben in einer Gesellschaft von Individuen, nicht in einer Gesellschaft von Gleichen" (15). 2 Dorothee Bund, Die ökonomische Theorie der Verfassung, Baden-Baden 1984 (Abkürzung: Bund), S. 13.
H. Der Mensch in einer geordneten Anarchie und im Rechtsschutzstaat
95
3. Der vertragstheoretische Ansatz Zwar weisen die von Buchanan benützten unterschiedlichen Begriffe auf dieselbe Bedeutung hin, so wenn er von sich als von einem methodologischen Individualisten, einem Konstitutionalisten, einem Demokraten oder Vertragstheoretiker spricht (10). Aber der vertragstheoretischen Aussage kommt eine besondere Bedeutung zu. Durch die Vertragstheorie, wie durch das Konsenskalkül seiner früheren Schriften, will er "die in der Wirklichkeit beobachteten Institutionen und Verhaltensweisen als ,Vision einer Ordnung'" verstehen (9). Bereits in der Konsensanalyse leitete Buchanan "das Entstehen existierender und möglicher Institutionen aus vertraglichen Vereinbarungen zwischen den teilnehmenden, rational handelnden Individuen" ab (10). Durch den vertragstheoretischen Ansatz werden die Institutionen und Verhaltensweisen in dem institutionellen Rahmen auf das Fehlen von Vertrags vereinbarungen oder auf das Versagen einer wirkungsvollen Durchsetzung zurückgeführt (10). Sowohl das Modell des Konsenskalküls wie auch der vertragstheoretische Ansatz gehen, wie Buchanan selbst anführt (9;248 f.), auf Rawls' Theorie zurück. Denn dieser hat nach ihm eine individualistische Konzeption der Gerechtigkeit entwickelt. Außerdem weiß sich Buchanan mit Rawls einig, wenn er unter Zuhilfenahme des Begriffs "Schleier des Nichtwissens" von der Gleichwertigkeit der Person spricht. Während der "Schleier des Nichtwissens" bei Rawls signalisiert, daß sich alle Individuen in der gleichen Lage befinden und aus dieser Unwissenheit heraus handeln, hebt Buchanan die Gleichwertigkeit bei unterschiedlicher Verschiedenheit der Personen hervor, die genötigt werden, in der gleichen Lage in vertragliche Neuverhandlungen einzutreten. Der Schleier des Nichtwissens zeigt dem einzelnen die Unsicherheit seiner Position auf. Indessen, es ist zu fragen, ob die Annahme einer solchen allgemeinen Unwissenheit nicht "indirekt eine Gleichheit der Individuen impliziert", so daß sein Modell letztlich widersprüchlich wird?3. Denn Buchanan will ja gerade nicht von einer Gleichheit der Individuen sprechen. 11. Der Mensch in einer geordneten Anarchie und im Rechtsschutzstaat Anarchie versteht Buchanan als "freie Beziehungen unter freien Menschen" (256). Für den einzelnen gelten in einer solchen herrschaftsfreien Welt nur die Schranken, die von den Partnern als wechselseitige Verhaltensnormen respektiert und toleriert werden (3). ,,Niemand übt Zwangsgewalt über einen anderen aus, und keine unpersönliche Bürokratie militärischer oder ziviler Natur setzt irgendwelche äußeren Schranken" (3). In dieser geordneten Anarchie hat der Staat keinen Platz, in solcher Utopie stirbt er tatsächlich ab. 3 Bund, S. 73.
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10. Kap.: James Buchanans Verfassungsmodell
Die geordnete Anarchie ist zu verstehen als eine auf "wechselseitige Achtung aufbauende Gesellschaft, die ohne staatliches Ordnungs system auskommt" (IX). Dabei gilt, "solange sich die Menschen stillschweigend an Regeln halten, ist (jedoch) eine Verrechtlichung nicht erforderlich. Tun sie dies aber nicht, so werden Formalisierung, Durchführungsbestimmungen und zwangsweise Durchsetzung notwendig" (6 f.). Eine Anarchie bleibt nur so lange erträglich, wie sie eine "akzeptable Ordnung" herstellen kann (7). Als Ordnungsform versagt sie dort, wo es keine "natürlichen" oder gegenseitig annehmbare Grenzen der Interessenssphäre gibt (11). Um die Ordnung der Anarchie funktionsfähig zu erhalten, müssen entweder die Menschen untereinander ihre Grenzen anerkennen, oder eine übergeordnete Autorität legt diese fest und überwacht sie. Buchanan versteht unter Anarchie nicht einen Zustand, in dem keine Regeln herrschen, und jeder sich gegen jeden wenden kann. Er benutzt vielmehr den Begriff Anarchie im Sinne der von Hayek geprägten spontanen Ordnung. Denn er spricht von der Anarchie als von einer Ordnungsform, die durch formalisierte und nicht-formalisierte Regeln strukturiert ist 4 • Die Anarchie als Ordnungsprinzip kann für weite Bereiche menschlichen Verhaltens gelten, auch für die Festlegung des Eigentums. Dieses gründet in einer Abgrenzung von Positionen des Mein und Dein (12). Denn die ursprünglichen Eigentumsrechte entstehen dadurch, daß sich die Parteien einigen, eine bestimmte Aufteilung zu akzeptieren (35). Man handelt bestimmte Vertragsbestimmungen aus, auf Grund derer sich eine natürliche Verteilung der Güter ergibt. Diese stellt, wie oben bereits gesagt, einen gleichgewichtigen Zustand dar, bei dem jeder sich im Blick auf die Sicherung seiner Anteile so verhält, "daß der Nutzen zusätzlicher Schutzaufwendungen (bzw. Besitzstandsänderungen) gleich den jeweiligen Grenzkosten ist" (34). Die Gesellschaft löst die Anarchie ab, wenn das Konzept des konstitionellen Vertrages entwickelt wird. Dazu gehört, daß dem Staat zwangsweise die Aufgabe übertragen wird, das Recht durchzusetzen (97). Er wird zu einer Institution des Schiedsrichters, dessen Rolle allein darin besteht, zu gewährleisten, "daß die Vertragsbedingungen eingehalten werden" (97), nachdem sich die Partner im ,,konstitutionellen Stadium des Gesellschaftsvertrages auf die wechselseitigen Rechte" geeinigt haben (97). Der Staat ist in diesem Stadium so etwas wie eine "Durchsetzungsinstanz oder -institution". Dabei steht er außerhalb der Vertragsparteien und ist dafür verantwortlich, daß die zwischen den Parteien vereinbarten Rechte und Forderungen eingehalten werden. Buchanan will diesen Staat nicht als "eine Art gemeinschaftlicher Verkörperung abstrakter Ideale" begreifen (97). Vielmehr gilt ihm der Staat als eine Instanz, die das Recht schützt und dabei gleichzeitig Neutralität unter den Vertragsparteien bewahrt.
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Vgl. Bund, S. 18, Anm. 91.
III. Der Leistungsstaat
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III. Der Leistungsstaat Der konstitutionelle Vertrag, der die Individualrechte definiert und aufteilt, bildet die Grundlage für den von Buchanan sogenannten postkonstitutionellen Vertrag. Dieser "regelt nach der Zuordnung und wechselseitigen Anerkennung der Rechte den Tausch privater und öffentlicher Güter zwischen Personen" (50). Aber dabei bleibt es nicht. Denn im Zusammenhang mit der Aneignung von öffentlichen Gütern, den Kollektivgütern, gibt es die Trittbrettfahrer, also das sogenannte "free-rider-problem" (53). Damit hat es folgende Bewandtnis: Beim Tausch privater Güter kalkulieren die einzelnen Vertragspartner ein, daß das Verhalten des Partners wesentlich vom eigenen Verhalten abhängt. Der Vorteil der Güter fallt allen unmittelbar Beteiligten zu. Beim Kauf öffentlicher Güter ist man dagegen bestrebt, eine Trittbrettfahrerposition einzunehmen und in den Genuß eines gemeinsamen Gutes oder einer Dienstleistung zu gelangen, ohne sich voll an der Aufteilung der Kosten zu beteiligen (54). Dieses Verhalten gegenüber den öffentlichen Gütern wird jedoch nur von kleinen Gruppen und einzelnen Personen als Strategie entwickelt. Die Vielzahl der Menschen geht bei der Warenpräferenz für die öffentlichen Güter nicht in solcher "strategischen" Weise vor. Sie betrachtet vielmehr das Verhalten ihrer Mitmenschen als Teil ihrer Umwelt (54), in der der einzelne keinen Einfluß auf die anderen Gruppenmitglieder ausübt. Er maximiert vielmehr seinen Nutzen, "indem er jeden eigenen Beitrag zur Beschaffung und Finanzierung des gemeinsam genutzten Gutes unterläßt" (54). Damit sich trotzdem genügend öffentliche Güter ergeben, bedarf es einer starken Institution. Es entwickelt sich darum der Leistungsstaat aus dem Rechtsschutzstaat. In ihm bestimmen die Mitglieder der Gesellschaft, welche öffentlichen Güter und in welchen Mengen sie zu beschaffen sind. Sie legen die Finanzierung fest und auch die Nutzenempfanger. Das kollektive Handeln im Leistungsstaat läßt sich am besten als einen "komplexen Tauschprozeß auffassen, an dem alle Mitglieder des Gemeinwesens teilhaben" (98; vgl. VIII). Im Leistungsstaat geht dieser Prozeß im Rahmen der Legislative als "Entscheidungs- und Wahlprozeß vor sich, der folgerichtig "Gesetzgebung" genannt wird (98). Im Rechtsschutzstaat dagegen existiert eine Wahl im engeren Sinne nicht. Nach Buchanan sind die staatlichen Aktivitäten für den Leistungsstaat genau zu umreißen. Denn es besteht die Gefahr, daß ein Staat, der die kollektiven Güter für alle bereitstellt, bestimmte Glieder der Gesellschaft ausbeutet. Die Verbesserung der Situation der Mehrheit kann mit der Verschlechterung der Situation anderer, speziell der Minderheit, einhergehen. Die Chance für Politik und Bürokraten, die Aktivitäten über den gewünschten und notwendigen Spielraum hinaus auszudehnen, ist groß. Ihr Umfang wächst bedrohlich. Der Leviathan nimmt an Stärke zu. Das ist die Situation der westlichen Staaten heute. Die Vertragssituation muß hier neu durchdacht werden. Eine qualitative Festlegung der staatlichen Handlungsweise, insbesondere der quantitativen Ausgaben, ist notwendig. 7 Kramer
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10. Kap.: Jarnes Buchanans Verfassungsmodell
IV. Die Vertragstheorie 1. Der ursprüngliche Ansatz Die ursprüngliche oder "natürliche" Verteilung ergibt sich aus dem Kräfteverhältnis der miteinander lebenden Menschen. Sie ist nicht aus einem Vertrag her abzuleiten. Eine später entstehende vertraglich vereinbarte Gesellschaftsordnung beruht für Buchanan in der ethischen Verpflichtung, sich den vereinbarten Bedingungen zu unterstellen und die vertraglichen Bindungen einzuhalten. Die Menschen sind gleichsam "ehrenwörtlich gebunden" (107). Das gilt auch dann, wenn sie selbst nicht unmittelbar an dem Vertragsabschluß beteiligt sind. Sollte die überlieferte moralische Verpflichtung nicht mehr von der neuen Generation übernommen werden, stellt sich die Frage, warum sich trotzdem immer wieder Menschen freiwillig den geltenden Regeln und Institutionen unterwerfen. Buchanan antwortet darauf, daß zum einen Zwang und Strafen die Zustimmung erzwingen können, zum anderen gibt es einen freiwilligen Gehorsam gegenüber den Vertragsbedingungen. Jede Entscheidung der Menschen ist davon abhängig, wie sie ihre augenblickliche Lage im Vergleich zu der Situation sehen, die durch neue noch auszuhandelnde Verträge gestaltet sein wird. Mit Hilfe dieses Maßstabes glaubt Buchanan, die "Bewertung gesellschaftlicher Regeln, der Rechtsordnung und der Eigentumsrechte" vornehmen zu können (108). Aber eine ökonomische Begründung des freiwilligen Gehorsams gegenüber den Vertragsgrundsätzen und eine ethische Akzeptanz bzw. Ablehnung der überlieferten Regeln und Institutionen sind zweierlei. Dem Ausmaß des freiwilligen Gehorsams setzen gerade die ethischen Vorstellungen deutliche Grenzen 5. Bei solcher Bewertung der sozialen Verhaltensweisen hängt alles von der Präferenz der Mitglieder der Gesellschaft ab. Einen externen Maßstab, der ein allgemeines, ethisches oder gar Klasseninteresse zum Inhalt hat, will Buchanan nicht zur Grundlage machen 6• Darum kann er zwar die Idee einer sozialen Gerechtigkeit und auch die des "sozialen Bewußtseins" als prägendes Element in der Bevölkerung akzeptieren, aber er will seine Analyse darauf nicht stützen (115). Für ihn gilt ausschließlich die vertragstheoretische Position als Alternative gegenüber einem ethischen Ansatz. Sie ist die individualistische Konzeption mit einem Konsens zwischen den Vertragspartnern auf dem Boden einer geordneten Anarchie.
2. Der Status quo des Gesellschaftsvertrages und seine Veränderungen Die Gesamtheit der Regeln und Institutionen machen zu einem beliebigen Zeitpunkt den konstitutionellen Status quo aus (111). Zu diesem gehören die Vgl. Bund, S. 23. Viktor Vanberg, Liberaler Evolutionismus oder Vertragstheoretischer Konstituionalismus, Tübingen 1981, S. 28 f. 5 6
IV. Die Vertrags theorie
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Verteilung oder Zuordnung der privaten Eigentumsansprüche und ihre Regeln für einen Austausch zwischen Personen und Gruppen. Dazu ist auch "das Recht auf Mitgliedschaft im politischen Gemeinwesen" zu rechnen (111). Man darf den Status quo nicht als starr ansehen. Die individuellen Ansprüche nämlich können sich wandeln. Der verfassungsmäßige Status quo dient den Menschen zur Grundlage ihrer Erwartungshaltungen über Ereignisse, die für ihr rationales Planen notwendig sind (111). Der einzelne weiß nicht - in der Phase der konstitutionellen Verhandlungen - welche zukünftigen Abmachungen für ihn vorteilhaft sein werden. Er steht so, wie es bereits Rawls formulierte, hinter einem Schleier des Nichtwissens. Deshalb gibt es für alle beteiligten Menschen bei einer etwaigen Änderung des konstitutionellen Status quo nicht einen Zustand, der als gesicherter Endzustand betrachtet werden kann 7. Vielmehr ist die Stellung aller Beteiligten unsicher 8 • Es kommt dann zu einer Veränderung des Status quo, wenn alle Beteiligten der Meinung sind, daß eine solche Befürwortung der verfassungsmäßigen Änderung im allgemeinen Interesse liegt und keine Bevorzugung anderer zur Folge hat.
3. Buchanans Einstellung zur Ethik Mit dem Begriff Gerechtigkeit wird nach Buchanan dann gearbeitet, wenn für die Personen ohnehin aus rationalen ökonomischen Gründen die Diskussion und Neuzuweisung der Rechte unter den Partnern zur Debatte steht bzw. in Wandlung begriffen ist. Dabei sind sich die "Befürworter eines strukturellen Wandels" nicht unbedingt "der rationalen oder nutzenmaximierenden Motivation" bewußt (115). Oft gerade operieren die Nachkommen reicher Familien mit dem Begriff Gerechtigkeit, um letztlich auf eine "konstitutionelle Neuordnung" zuzugehen, da sie so am leichtesten einige Positionen für sich retten können. Insgesamt läßt sich Buchanans Einstellung zur Ethik dadurch kennzeichnen, daß er einerseits die Anarchie der Verfassungs struktur gegenüberstellt, andererseits beide mit einer dritten Struktur vergleicht, in der die Personen sich an der Sitte oder Tradition ausrichten, aber nur eine ganz geringe oder gar keine Bindung an rational ausgewählten Normen besitzen (168). Er meint, daß diese dritte Ordnungsstruktur äußerst "ineffizient" ist. Ihr Zwangs charakter ist gegenüber einer formalisierten Rechtsordnung und Rechtsstruktur erheblich stärker. "In einem solchen System besteht zwar Ordnung im Sinne von Vorsehbarkeit, diese Ordnung muß aber zur ,Wirklichkeit' der Regel oder Gebräuche, die befolgt werden, in keiner Beziehung stehen" (168). Darum stehen einander gegenüber die Formen einer "geordneten" Anarchie und der aus einem formalen und kodifizierten Rechtssystem abgeleiteten Gesellschaftsvertrag. Immer wenn Konflikte auftreten, und die Anarchie in ihrer reinen Form versagt, ist die Lösung entweder 7
8
7*
Vgl. Bund, S. 45. Ebda.
100
10. Kap.: James Buchanans Verfassungsmodell
in Gestalt dieser formalen Rechtsbeziehungen als Gesellschaftsvertrag oder in ethisch-moralischen Geboten zu suchen. Ohne Konflikte zwischen den einzelnen Personen braucht es keinen Gesellschaftsvertrag zu geben. Denn es besteht kein Bedarf nach einem Gesetz - und nach Ethik. "Jeder Moralkodex wäre funktionslos" (167). In der konfliktfreien Situation ist die Anarchie, wie Buchanan sie versteht, das Ideal. Denn sie stellt die individualisierte Ordnung dar. Tritt jedoch ein Konflikt auf, versagt die Anarchie. Es stellt sich dann die Frage, ob die Ordnung sich durch das formale Rechtssystem in Gestalt des Gesellschaftsvertrages oder "aus einem allgemein anerkannten Grundstock" ethisch-moralischer Gebote" ergibt (164). Das formale Rechtssystem und die ethisch-moralische Absicherung stellen alternative Mittel zur Sicherung der Ordnung dar. "In dem Maße, wie den Menschen ethische Überzeugungen gemeinsam sind und diese das Verhalten des einzelnen beeinflussen, verringert sich der Bedarf nach gesetzlich auferlegten Normen und ihrer mehr formalen Restriktivität. Dasselbe gilt auch umgekehrt" (167). Für Buchanan zeigt sich die Überlegenheit der ethischen Normen dort, wo es sich um die Sicherung einer erträglichen Ordnung und um die Frage der Voraussagbarkeit des Konfliktpotentials handelt. V. Ein Vergleich zwischen Buchanan, Nozick und Rawls Die Vertragstheorie fragt nach freiwilligen Vereinbarungen oder sucht die Gründe, warum die einmal getroffenen Vereinbarungen nicht mehr als legitim von den Partnern angesehen werden können. Die drei Vertragstheorien von Rawls, Nozick und Buchanan behandeln die Probleme auf unterschiedliche Weise 9 • Zwar wird mit der "einstimmigen Billigung" der Beteiligten gearbeitet, aber der Konsens wird unterschiedlich gesehen 10: -
Rawls geht von hypothetischen Bedingungen der gesellschaftlichen Grundstruktur aus;
-
Nozick argumentiert von der Zustimmung der Partner im Verlaufe der Entwicklung (evolutorischer Konsens);
-
Buchanan kommt von der tatsächlichen Einschätzung im Status quo her.
Buchanan geht mit Berufung auf Hobbes von einem denkbar ungünstigen Urzustand des Menschen aus. Außerdem ist für ihn entscheidend, daß er ausschließlich als Grundlage die "aktuellen Präferenzen" der Menschen im konstitutionellen Status quo anerkannt sehen will. Während er auf einen realen Konsens bei den Mitgliedern abstellt, geht Rawls von einem idealen Konsens aus, der 9 Michael Fritsch, Ökonomische Ansätze zur Legitimation kollektiven Handeins, Berlin 1983, S. 137. 10 Ebda.
V. Ein Vergleich zwischen Buchanan, Nozick und Rawls
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sich unter bestimmten hypothetischen Bedingungen ergibt. Nozick wiederum legt eine Entwicklung zugrunde, in deren prozessualem Fortschreiten von den Mitgliedern Zustimmung im Rahmen eines evolutorischen Konsenses zu einem Minimalstaat erbracht wird. Während Nozick eng umgrenzte Funktionen seinem Minimalstaat zuerkennt, die durch den Schutz gegen Gewalt, Diebstahl oder Betrug geprägt sind und die Durchsetzung von Verträgen im Auge haben, minimalisiert er die Möglichkeit einer distributiven Gerechtigkeit als Aufgabe des Staates. Das Einschreiten im Falle einer ungerechtfertigten Aneignung von Eigentum liegt in Nozicks Anspruchs theorie begründet. Buchanan differenziert zwischen dem Rechtsschutzstaat und dem Leistungsstaat, in dem sich die Mitglieder einig werden müssen, welche öffentlichen Güter sie in welchen Mengen herstellen wollen. Buchanans Ansatz erlaubt es, die Frage der Umverteilung von Einkommen und Vermögen in der Weise geregelt zu sehen, daß er den "relativ ,Armen'" einen Anspruch zubilligt, der gegenüber den "relativ ,Reichen'" auf einer ethischen Begründung beruht. "Sie können indirekt ihre Ansprüche daraus herleiten, daß sie sich auf ihre Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen mit einem bestimmten Verfassungsvertrag berufen" (104 f.). Andererseits können die Reichen mit Recht erwarten, "daß ihre ,privaten Rechte' anerkannt und respektiert und Verletzungen dieser Rechte geahndet werden. Diese Erwartungen ergeben sich als Teil der umfassenderen vertraglichen Vereinbarung, die sie schon im vorhinein verpflichtet, höhere Kostenanteile an den kollektiv konsumierten Gütern und Dienstleistungen zu tragen" (105). Im Gegensatz zu Nozick sieht Buchanan es als verpflichtend an, über die Herstellung und Verteilung der öffentlichen Güter im Leistungsstaat durch die Mitglieder der Gesellschaft eine Entscheidung treffen zu lassen, aber die Grenzen staatlicher Aktivitäten sind klar zu fixieren. Der Schutz der Eigentumsrechte und die Aufgaben des Rechtsschutzstaates haben grundlegende und wohlstandsfördernde Bedeutung. Das Gleiche gilt vom Gütertausch auf dem Markt. Anders als Nozick und Buchanan hat lohn Rawls seine Bereitschaft erkennen lassen, zur Gestaltung der Gerechtigkeit als Fairness eine Umverteilung von Gütern für zulässig zu erklären, die im besonderen Maße den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft den größtmöglichen Vorteil bringen soll. Dazu gehört, daß gleiches Recht und gleiche Grundfreiheiten vorhanden sind, so daß eine faire Chancengleichheit allen Gliedern geboten wird. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist für Rawls, daß sich die Menschen frei und gleich ohne Kenntnis ihrer zukünftigen gesellschaftlichen Stellung in einem hypothetischen Urzustand gegenüberstehen und ihre Vertrags situation regeln.
11. Kapitel
Soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft I. Die soziale Gerechtigkeit als NormbegritT Die soziale Gerechtigkeit hat mit Verteilung und Zuteilung zu tun. Ihr Inhalt ist unbestimmt und wird außerdem unterschiedlich interpretiert. Eine pauschale Beschreibung ist leichter als eine Detailbestimmung und Konkretisierung. Soziale Gerechtigkeit ist ein Verhältnisbegriff. Der Maßstab, nach dem sie zu messen ist, ist regional, kulturell, ökonomisch und gesellschaftlich verschieden. Er muß sich nach unterschiedlichem Entwicklungsstand und auch nach der jeweiligen Kaufkraft richten. Die soziale Gerechtigkeit in Westeuropa oder in den USA ist eine andere als in einem Entwicklungsland, in Asien oder Afrika. Bei allen Gerechtigkeitsprinzipien bleibt offen, nach welchen Maßstäben oder Kriterien die Verteilung und Zuordnung konkret vorgenommen werden soll. Im Allgemeinen und Abstrakten zeigen sich gewisse Überschneidungen. Das gilt z. B. bei der ökumenischen Unterscheidung einer Start-, Leistungs- und Bedarfsgerechtigkeit. Die Startgerechtigkeit will gleiche Startchancen vergeben; unter der Leistungsgerechtigkeit wird eine Gerechtigkeit verstanden, die auf Grund erbrachter Leistung Güter oder Ansprüche zuteilt; die Bedarfsgerechtigkeit nimmt eine Verteilung nach vorhandenen und erwünschten Bedürfnissen der Wirtschaftssubjekte vor. Nun kann zwar zum einen der Bedarf nachträglich durch Transfedeistungen des Staates ausgeglichen und zum anderen von vornherein angestrebt werden, daß ein annähernd gleicher Bedarf an lebenswichtigen Gütern erzielt wird. Aber welches ist der richtige Maßstab, und wer setzt ihn fest? Durch die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit soll das soziale Leben gestaltet werden. Mit ihr selbst will man einen Ausgleich der materiellen und immateriellen Interessen erzielen. Dadurch möchte der Mensch sein vom Schöpfer aufgegebenes Menschsein verwirklichen und ein menschenwürdiges Dasein führen können. Dazu gehören im sozialen Bereich das Recht auf freie Berufswahl, auf einen Arbeitsplatz und auf eine angemessene Entlohnung beruflicher Tätigkeit. Ebenso zählt dazu die freie Entscheidung über die Verwendung der erzielten Einkommen. Den unschuldig in Not Geratenen muß Hilfe angeboten werden. Notfalls ist ihm eine staatliche Versorgung zuzuerkennen, die ihm das Existenzminimum als Mindestmaß sichert.
II. Die Marktwirtschaft
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Es stellt sich die Frage, wie die soziale Gerechtigkeit das erbringen kann? Soll sie als eine Größe verstanden werden, die im nachhinein Disproportionalitäten ausgleicht? Oder soll sie eher als Normvorgabe am Anfang des Wirtschaftsprozesses stehen und so den Ablauf wirtschaftlicher Entwicklung mitbestimmen? Aber die Frage bleibt: Wer kann allgemein und verbindlich definieren, was konkret und im einzelnen Fall Inhalt der sozialen Gerechtigkeit ist? Als Antwort kann nur gelten, daß die soziale Gerechtigkeit zunächst Unausgeglichenheiten, die sich auf Grund der Marktentwicklung ergeben haben, korrigieren will. Sie hat darüber hinaus die Funktion, vom Staat zu verlangen, entstandene Ungleichgewichte und schwerwiegende Disproportionalitäten mit Hilfe eines staatlichen Eingreifens abzuschwächen oder ganz auszugleichen. Diese Aufgaben sind Umverteilungsmaßnahmen, die der Staat auf Grund steuerlicher Einnahmen als Transferzahlungen an die sozial Schwächeren austeilt. Die iustitia distributiva will auf der Basis eines geordneten Wirtschaftssystems eine nachträgliche Verbesserung zu Gunsten der Leistungsschwachen oder der nicht mehr Leistungsfähigen erreichen. Zum anderen besteht die Zielsetzung der sozialen Gerechtigkeit auch darin, starke Unausgeglichenheiten in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen. Schließlich geht es generell um eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Chancen- und evtl. auch Leistungsgerechtigkeit, sichere Arbeitsplätze, leistungsgerechte Bezahlung und eine soziale Sicherung gewährleisten soll.
11. Die Marktwirtschaft Die Marktwirtschaft in ihrer "reinen" Form schafft noch keinen sozialen Ausgleich. Sie sichert dem Individuum zu, daß es zwischen Angebotsalternativen bei Gütern und Dienstleistungen, Arbeitsplätzen oder Immobilien wählen kann. Auch die Entscheidung, ob Selbständigkeit oder Abhängigkeit zu wählen ist, liegt in der Eigenverantwortung des Wirtschaftssubjektes. Seine kaufkräftige Nachfrage-Entscheidung steuert das Angebot auf dem Markt und damit natürlich die Güterproduktion. Mit dem durch die Nachfrage geregelten Angebot wird gleichzeitig der Preis der Güter und Dienstleistungen ermittelt. Der Markt erfüllt das Ziel, den Bedarf der Bevölkerung zu stillen, wo die Produkte auf kaufkräftige Nachfrage stoßen. Dann nämlich wird am Bedarf nicht vorbei produziert. So kommt es zu einer sozial gerechtfertigten Versorgung der Bevölkerung. Insofern stellt sich der Markt als ein soziales Geschehen dar. Auf ihm kann die mit Kaufkraft ausgestattete Nachfrage befriedigt werden. Eine solche Steuerung durch den Markt gibt jedem Individuum die Möglichkeit, mit den ihm eigenen Begabun·gen, Wünschen, Vorstellungen und Bedürfnissen im Konkurrenzsystem anzutreten. Die Wettbewerbswirtschaft, die auf der Freiheit des Marktes gründet, erfüllt auch die sozialen Aufgaben einer modemen Gesellschaft besser als jede andere
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11. Kap.: Soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft
Wirtschaftsordnung. Aber sie muß in einem bewußt gestalteten marktwirtschaftlichen Rahmen stehen, der die Freiheit des Marktes mit dem sozialen Ausgleich verbindet. Das geschieht am besten in der Sozialen Marktwirtschaft. "Der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft kann so als eine ordnungspolitische Idee definiert werden, deren Ziel es ist, auf der Basis der Wettbewerbswirtschaft die freie Initiative mit einem gerade durch die marktwirtschaftliche Leistung gesicherten sozialen Fortschritt zu verbinden" I. Auf dem Boden dieser Gesamtordnung, so meinten die Väter der Sozialen Marktwirtschaft, könnte "ein vielgestaltiges und vollständiges System sozialen Schutzes errichtet werden" 2. Dabei spielt der Preis, der die zahllosen Einzelpläne der Konsumenten aufeinander abstimmt, eine zentrale Ordnung. Die Orientierung am Verbrauch bildet "bereits eine soziale Leistung der Marktwirtschaft" 3. Es ist notwendig, daß in dieser Funktion der Marktwirtschaft der Staat mit seiner Wirtschaftspolitik die soziale Ausgestaltung der Wirtschaftsordnung vornehmen muß, indem er die Rahmenbedingungen setzt, die den Wettbewerb schützen und dem einzelnen die Möglichkeit geben, auf dem Markt im Konkurrenzsystem tätig zu werden. Insofern erfüllt die W ettbewerbsordnung eine soziale Aufgabe und entspricht der Zielsetzung der sozialen Gerechtigkeit. Müller-Arrnack hat bei der Konzeptionierung der Sozialen Marktwirtschaft von vornherein nicht nur teleologisch gedacht, als er die Soziale Marktwirtschaft inhaltlich ausgestaltete. Vielmehr sah er in der Sozialpolitik eine notwendige Ergänzungsaufgabe für die staatliche Umverteilung des marktwirtschaftlichen Einkommenspotentials. Diese gestaltet sich als Korrektur von Disproportionalitäten durch Fürsorgernaßnahmen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungsbauzuschüsse, Einkommensverteilungen und Subventionen etc. 4 • Da der Wettbewerb das Kernstück der Marktwirtschaft darstellt, ist es notwendig, daß diese Wettbewerbsordnung erhalten bleibt. Von selbst stellt sie sich nicht ein. Darum bedarf es einer staatlichen institutionellen Sicherung, die den Schwächeren vor Ausbeutung und Unterdrückung schützt. Zu den Rahmenbedingungen einer Wettbewerbswirtschaft gehört dementsprechend die Sicherstellung des Wettbewerbs als einer sozialen Größe. Der Markt muß als Zentrum wirtschaftlichen Handeins und gleichzeitig als politische Zielvorstellung erhalten bleiben.
III. Staatliche Sozialpolitik Der Markt allein bringt noch keine soziale Ordnung hervor. Diese kann nur erreicht werden durch die Schaffung einer gesamtwirtschaftlichen Ordnung, die 1 Alfred Müller-Arrnack, Wirtschaftsordnung, Bem und Stuttgart 1976 (Abkürzung: Wirtschaftsordnung), S. 245. 2 Ebda. 3 Ebda. 4 Wirtschaftsordnung, S. 246.
III. Staatliche Sozialpolitik
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durch das Streben nach sozialem Ausgleich geprägt ist. Eine richtige, d. h. eine gute Wirtschaftspolitik bringt mehr Gerechtigkeit als die beste Sozialpolitik. Nach Walter Eucken ist das Schaffen von Ersparnissen eine ökonomisch bessere Grundlage als das Leisten von caritativen Hilfen und Subsidien. Dazu gehört Vernunft und weniger Gefühl oder soziales Engagement. Dennoch ist staatliche Sozialpolitik notwendig. Sie will die Schwächeren unterstützen, den Arbeitnehmer etwa, der auf Grund von Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Alter kein oder nur ein geringes Leistungseinkommen erzielt. Im System der Sozialen Marktwirtschaft mit ihren sozialen Sicherungen bieten sich drei Möglichkeiten an: Das Versicherungs-, das Versorgungs- oder das Fürsorgeprinzip. Heute gilt in Deutschland für die Alters-, Kranken- und Arbeitslosenvorsorge das Versicherungsprinzip, bei dem eine entsprechende Vorbereitung durch den Betroffenen selbst zu leisten ist. Freilich müßte mehr den je geprüft werden, ob nicht in der Altersvorsorge bei der Beitragszahlung an die Sozialversicherung die Familie - entsprechen ihrer Kinderzahl - entlastet werden muß. "In einer Gesellschaft, in der die Gruppe der Ledigen und die kinderlos Verheirateten stark zugenommen hat, (seil. wie z. B. in der alten Bundesrepublik), kann bei der Sorge um die soziale Sicherung in der Zukunft ein Ausgleichsmoment gerade in der sozialen Neugestaltung der Sozialbeiträge liegen"5. Das würde bedeuten, daß in Deutschland die Solidarhaftung aller Glieder der Gesellschaft sich ändern müßte. Mit Recht fragt darum Anton Rauscher, worin denn die Wechselseitigkeit der Verpflichtung und Haftung der Menschen füreinander besteht, "wenn man die Beitragsleistung berücksichtigt, die der Ledige in gleicher Höhe zu zahlen hat wie der Familienvater, obwohl nur der letztere durch die Aufzucht von Kindern dafür sorgt, daß auch in Zukunft das Rentensystem überhaupt funktionsfähig bleibt" 6. Das Versorgungsprinzip ist angebracht, wenn im Versorgungsfall, etwa bei der Unterstützung von kinderreichen Familien, die Allgemeinheit, also der Staat, durch Subventionen oder durch Steuervergünstigungen oder andere hilfreiche Maßnahmen die Versorgung sicherstellt. Das Fürsorgeprinzip gilt bei nachgewiesener Bedürftigkeit im Einzelfall. Umverteilungsmaßnahmen sind von denen zu erbringen, die dazu in der Lage sind. Bei Umverteilungen, die nicht - wie im totalitären System üblich - in Form von Zwangsmaßnahmen stattfinden, wird auf Einkommensteile Verzicht geleistet - z. B. in Form von Versicherungsbeiträgen oder Steuern. Geht es hierbei um Bedarfsgerechtigkeit und soziale Sicherheit, dann sind diese nicht durch "weniger 5 Anton Rauscher, Die Familie als Träger intertemporaler Ausgleichsprozesse in: Dynamische Theorie der Sozialpolitik, Hrsg. Philipp Herder-Dornreich, Berlin 1981, S.106. 6 Rauscher, S. 105.
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11. Kap.: Soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft
Marktwirtschaft" zu gewinnen, sondern nur durch die Erhöhung "ihrer Leistungsfahigkeit"; außerdem meint man, beide, Bedarfsgerechtigkeit und soziale Sicherheit, "durch eine weitergehende Umverteilung zu Lasten verfügbarer Einkommen jener Bevölkerungsgruppen, die die materielle Grundlage für jede auf Umverteilung beruhende Sozialpolitik" schaffen, zu erzielen 7. Im letzteren Fall stellt sich jedoch die Frage, ob nicht durch solche Umverteilungsmaßnahmen die Leistungsbereitschaft der besser Verdienenden erheblich eingeschränkt wird. Die Scbmerzgrenze allerdings steht nicht von vornherein fest. Voraussetzung einer Umverteilung muß selbstverständlich sein, daß überhaupt ein Sozialprodukt in einer Höhe zur Verfügung steht, aus dem heraus eine Umverteilung stattfinden kann. Was nicht als Gesamtleistung erbracht worden ist, kann auch nicht verteilt werden.
IV. Das Verhältnis von Sozialer Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit Über den Markt allein kann also weder eine soziale Gerechtigkeit noch eine soziale Sicherheit erzielt werden. Aber auch durch die Soziale Marktwirtschaft kann nicht die soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden. Denn es gibt nicht die eine soziale Gerechtigkeit. Es kann immer nur nach mehr sozialer Gerechtigkeit gestrebt werden. Insofern ist sie allein nur in unterschiedlichen Stufen denkbar. Ihre Ausprägung ist von verschiedenen Faktoren, dem wirtschaftlichen Entwicklungsgrad eines Volkes, der herrschenden Ordnungspolitik und der ökonomischen und sozialen Zielvorstellungen abhängig. Immerhin erkennt die Soziale Marktwirtschaft es auch als ihre Aufgabe an, für dieses Mehr an sozialer Gerechtigkeit zu sorgen. Dazu hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Jahresgutachten von 1975, in dem er auch zur Verteilungsgerechtigkeit Stellung bezogen hat, erklärt, daß in den vorangegangenen 25 Jahren eine Fülle von Beiträgen zur Erzielung der sozialen Gerechtigkeit geleistet worden waren. Unter anderem werden genannt: "Lastenausgleich, Wiedergutmachung, Rentenreform, Arbeitslosenversicherung, Kündigungsschutz, betriebliche Pensionszusagen, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Wohngeld"8. Kommt es zu Leistungen des Staates, so sind diese Zuwendungen solche Gelder, die die Staatskassen durchlaufen. Die öffentliche Hand beschafft sie sich zur Veränderung der ersten Einkommensverteilung. "Dieses Verteilungssystem benutzt den Staat dabei gleichsam nur als eine ,Clearingstelle' "9. Mit wachsen7 Vgl. Wemer Zohlnhöfer, Markt oder soziale Gerechtigkeit, in: Kirche und Gesellschaft, Hrsg. Katholisch-Sozialwissenschaftliche Zentral stelle, Nr. 166, Köln 1990, S. 12. 8 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1975 (Abkürzung: Jahresgutachten), Z. 280. 9 Wolfgang Schmitz, Was macht den Markt sozial? In: Gesellschaft und Politik, Wien 1981, H. 4, S. 47.
IV. Verhältnis von Sozialer Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit
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dem Wohlstand schwindet die Forderung nach Umverteilung nicht. Denn auch bei größeren Einkommen bleibt sie auf Grund der Forderung nach sozialer Sicherheit erhalten. Eine soziale Absicherung ist nur durch eine Umverteilung möglich. Der Sozialstaat will materielle Not lindern und soziale Gerechtigkeit schaffen. Aber er kann dieses nicht allein durch finanzielle Subventionen erreichen. Er braucht auch immaterielle Hilfen und Zuwendungen der Menschen. Die Sozialhilfe bei der Behebung der sozialen Not der Alten und Kranken, der Gefahrdeten und Ausgegrenzten, der Flüchtlinge und Zugewanderten kommt zwar ohne finanzielle Unterstützung nicht aus, aber es sind auch menschlichen Wärme und Geborgenheit gefragt. Sowohl die Diskrepanz zwischen dem Leistungs- und Bedürfnisprinzip wie auch die unterschiedliche Bewertung der Leistung wird von dem Rat der Weisen 1975 als Kritik an dem Umverteilungsprinzip gesehen. Denn er sagt: "Der Markt verteilt die Einkommen nicht nach Bedürfnissen, sondern nach der Leistung im Produktionsprozeß. Wer keine Leistung erbringt, geht leer aus, und auch sonst ist nicht gewährleistet, daß eine leistungs gerechte Entlohnung zugleich bedürfnisgerecht ist. Zur Milderung dieser Diskrepanz hat die Sozialpolitik, um es zu wiederholen, viel geleistet. Dem Bezieher eines zwar auskömmlichen, aber geringen Einkommens mag dennoch ein Gefühl des Ungenügens verbleiben, wenn er sieht, daß andere ihre Bedürfnisse aufwendiger befriedigen können" 10. Aber immerhin ist zu berücksichtigen, daß ca. 50% der Bevölkerung, Kinder, Kranke, Behinderte, Alte und Arbeitslose, keine primären Einkommen erzielen, also nur über eine zweite Einkommensverteilung an dem sozialen Ausgleich teilhaben können. Im übrigen jedoch führt kein Weg daran vorbei, daß die primäre Einkommensverteilung durch eine Leistungsentlohnung am Arbeitsplatz und nicht etwa aufgrund sozialer Hilfen der Familien stattfindet. Die Diskrepanz zwischen einer leistungsgerechten Entlohnung und denjeweiligen Bedürfnissen kann auch die Sozialpolitik nicht völlig aus der Welt schaffen. "Denn was sie dem gibt, der eine Leistung nicht erbringen kann, sei es vorübergehend oder auf Dauer, muß sie dem nehmen, der für seine Leistung auch den Lohn haben will. Gerade das Versprechen einer höheren Entlohnung aber ist es, das in der Marktwirtschaft zu größerer Leistung anspornt, so das Wachstum, auch das qualitative, fördert und die Knappheit der Güter für alle verringert" 11. Die andere Schwierigkeit liegt in der Bewertung der Leistung. Sie ist ebenfalls eine ständige Kritik an der marktwirtschaftlichen Ordnung. "Die Verheißung einer fairen Einkommensverteilung, die der marktwirtschaftlichen Idee nach darin liegt, daß jeder mit seiner Leistung selbst über seinen Anteil entscheiden kann, wird von der marktwirtschaftlichen Praxis nicht immer eingelöst. Denn der Markt 10
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Jahresgutachten, Z. 281.
Ebda.
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11. Kap.: Soziale Gerechtigkeit und Marktwirtschaft
bewertet die Leistung des einzelnen nicht nach der Anstrengung, die sie erfordert, sondern danach, wieviele sie anbieten und wie stark sie nachgefragt wird. Es erzielt also der ein besonders hohes Einkommen, der eine Leistung anbietet, die gemessen an der Nachfrage besonders knapp ist" 12. Dennoch läßt sich sagen, wie aus der 40jährigen Praxis der Sozialen Marktwirtschaft in der alten Bundesrepublik zu ersehen ist, daß sie erstaunliche Erfolge erzielt und zu einer enormen Steigerung des privaten Wohlstandes geführt hat. Auf diese Weise hat sie erheblich zu einer Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit auf der Basis ihrer Sozial-, Wirtschafts- und Finanzpolitik beigetragen. Dabei ging es ihr nicht nur um eine Verringerung von Ungerechtigkeit, sondern gerade auch um das Mehr an Gerechtigkeit. Da die Soziale Marktwirtschaft dem einzelnen Wirtschaftssubjekt am weitestgehenden Raum gibt, kommt sie dem Ziel nach diesem Mehr an Gerechtigkeit am nächsten. Sie ist es, die durch mehr Toleranz, Humanisierung und Menschlichkeit den Rahmen für soziales Handeln erweitert. Insofern ist es berechtigt, davon zu sprechen, daß die Soziale Marktwirtschaft auf einer Grundauffassung beruht, in deren Mittelpunkt der Mensch mit seinen individuellen und sozialen Pflichten und Rechten steht. Immer allerdings schwebt er bei der Durchsetzung der sozialen Gestaltung der Wirtschaft und beim Streben nach sozialer Gerechtigkeit in der Gefahr des Scheiterns. Sowohl die Sozialgestalt der Wirtschaft wie auch die soziale Gerechtigkeit stellt sich nicht als ein Endzustand dar. Sie sind also nie abgeschlossen. Der Mensch steht vielmehr zu allen Zeiten vor einer neuen Festlegung und Beschreibung der Zielsetzung.
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Jahresgutachten, Z. 282
12. Kapitel
Rückblick und Ausblick Soziale Gerechtigkeit ist ein erst spät in den Sprachgebrauch eingeführter Begriff. Auch wenn Vorstufen bereits durch Ulpian im suum cuique enthalten sind, ist die Zuordnung von sozial zum Begriff Gerechtigkeit erst im 19. Jahrhundert entstanden. Aber der mit dem Attribut sozial gemeinte Inhalt ist in dem Substantiv Gerechtigkeit bereits mit eingeschlossen. Denn Gerechtigkeit - und natürlich erst recht die soziale Gerechtigkeit - ist ein Verhältnisbegriff. Darum eignet der sozialen Gerechtigkeit Verhältnismäßigkeit. Dieses läßt sich auch an einem großen Teil der Stellen des Alten und des Neuen Testamentes nachweisen. Danach wird von einer Vielzahl der Alttestamentler der Begriff der Gerechtigkeit als Gemeinschaftstreue verstanden. Jahwe ist seinem Volk treu. Das ist Jahwes Gerechtigkeit. Wird von des Menschen Gerechtigkeit gesprochen, dann ist gemeint, daß der Mensch den Worten, Anordnungen und Geboten des Herrn folgt. Aber es ist auch von Treue die Rede, wenn der Herrscher dem Untergebenen gegenüber Gerechtigkeit walten läßt. Soll im menschlichen Miteinander Gerechtigkeit herrschen, wird vom einzelnen verlangt, daß er sich seinen Mitmenschen gegenüber gesetzestreu verhält. Er steht auch hier unter dem Anspruch des göttlichen Gesetzes. Im Neuen Testament ist die Rede von der Gerechtigkeit ebenfalls vielschichtig. Im Mittelpunkt steht wieder die Deutung der Gerechtigkeit als Verhältnismäßigkeit und ihre Forderung nach Gemeinschaftstreue. Den Willen des göttlichen Vaters tun, das heißt in den Evangelien Gerechtigkeit üben. Im paulinischen Schrifttum wird der Ausdruck von der Gerechtigkeit vor allem forensisch gebraucht. Der Mensch wird im Verhältnis zu seinem Gott gesehen. Die für dieses Verhältnis notwendige Gerechtigkeit ist nicht zu erwerben, sondern sie kann nur aus Gnaden zuerkannt werden. Vor dem eschatologischen Urteilsspruch wird Recht gesprochen. Dem einzelnen Menschen wird Rechtfertigung zuteil. Aber diese geschieht nicht, weil er die Gesetze Gottes erfüllt hat, sondern weil er sich auf Christi Erfüllung berufen darf. Der Mensch, dessen Handeln durch Gesetzübertretung geprägt ist, wird freigesprochen. Es geht um die Gerechtigkeit des Sünders. Sie hat vor Gott in Christus Bestand. Diese Gerechtigkeit ist gültig, weil sie die von Gott den Menschen zugesprochene Gerechtigkeit ist. In ihr gründet das neue Verhältnis des Menschen zu seinem Gott. Dieses stellt eine Treuegemeinschaft dar. Seine Basis ist das stellvertretende Leiden und Sterben des Menschensohnes.
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12. Kap.: Rückblick und Ausblick
Daß in den außerpaulinischen Schriften als ein zusätzlicher Charakter der Gerechtigkeit die Verknüpfung der dem Menschen geschenkten Gnade mit seinen Handlungen Berücksichtigung findet, ist nicht außergewöhnlich, sondern weist nur darauf hin, daß die Gerechtigkeit in ihrer Struktur eine Bestimmung seines Gottesverhältnisses darstellt. Auch hier steht die Gemeinschaft zwischen Gott und dem Menschen im Mittelpunkt, es geht nicht um die Einhaltung einer Norm. Für Aristoteles ist die Gerechtigkeit eine Tugend, aber sie will nicht einfach nur den vollkommenen Menschen kennzeichnen, sondern den vollkommenen Bürger in seiner Gesellschaft. Wer nach dem Gesetz handelt, der handelt für Aristoteles gerecht. Trotzdem läßt sich die Gerechtigkeit nicht allein als Norm bestimmen. Der aristotelische Gerechtigkeitbegriff ist vielmehr als Verhältnis des Gemeinwohls zum Einzelwohl zu kennzeichnen. Dabei hat die legale Gerechtigkeit die Wechselbeziehung des Einzelnen zum Ganzen im Auge. Sie läßt vor allem den Bürger eines Staates gegenüber dem Ganzen verpflichtet sein. Die partikularen Gerechtigkeiten bestimmen das Verhältnis des sozialen Ganzen, des Staates bzw. der Gesellschaft, gegenüber dem einzelnen. Allerdings ist auch hier, gerade wenn man auf die iustitia distributiva schaut, eine Wechselbeziehung zwischen dem einzelnen und dem Ganzen gegeben. Die ausgleichende Gerechtigkeit, die iustitia commutativa, bestimmt das Verhältnis der Partner zueinander. Die speziell in der Ökonomie angewandten partikularen Gerechtigkeiten haben einen sozialen Bezug, zumal da sie verhältnis bestimmt sind. Denn die natürliche Erwerbskunst ebenso wie die nicht-naturgemäße weisen sich als solche aus. Die iustitia commutativa will nämlich im Verhältnis von Recht und Unrecht alle Personen gleich behandeln. Die iustitia distributiva wird im Rahmen ihrer nicht naturgemäßen Erwerbskunst die Grundlagen für das Wohlleben des einzelnen setzen. Da sie ihrerseits der Gemeinschaft gegenüber verpflichtet ist, hat auch sie nach Aristoteles einen sozialen Charakter. Aufgrund der heute gegebenen Verhältnisse stellt sich die iustitia distributiva als eine Verteilungsgerechtigkeit stärker in der Richtung von oben nach unten dar. Es wird dem einzelnen im Verhältnis seiner Bedürfnisse oder seines Anspruches zugeteilt, was ihm nach Recht oder Bedarf zusteht bzw. zukommen soll. Es wird von seiten der Gemeinschaft aus, wenn es sich um ökonomische Verteilungsprobleme handelt, eine Verteilung der Güter vorgenommen. Da Aristoteles von der Verantwortung des einzelnen gegenüber dem Gemeinwesen ausgeht, ist die nicht-naturgemäße Erwerbskunst, die allein auf Wohlstand und Reichtum des einzelnen ausgerichtet ist, verwerflicher als die ausgleichende Gerechtigkeit, die iustitia commutativa. Nach Thomas ordnet die Gerechtigkeit den Menschen in einer doppelten Weise. Zum einen nimmt sie den Menschen als Einzelperson, zum anderen sieht sie ihn in einem Gemeinschaftsgefüge. In beiden Arten herrscht unter bestimmten Bedingungen Gerechtigkeit. Der ganze Mensch steht entsprechend dem aristotelischen Ansatz für Thomas unter der allgemeinen Gerechtigkeit; denn die "Akte aller
12. Kap.: Rückblick und Ausblick
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Tugenden" gehören zur Gerechtigkeit I, sofern sie dem Menschen die Zielrichtung auf das Gemeinwohl geben. Darum wird diese Art Gerechtigkeit in Übereinstimmung mit dem Gesetz Gesetzes- oder Gemeinwohlgerechtigkeit genannt. Das Gemeinwohl gilt es, dabei höher zu messen als das Wohl der einzelnen Personen. Auch in der Darstellung der Einzelgerechtigkeit ist für Thomas Aristoteles maßgeblich. Denn er übernimmt auch hier dessen Aussagen über die iustitia commutativa und distributiva. In der ausgleichenden Gerechtigkeit, der iustitia commutativa, wird von Thomas der Ausgleich der Rechtsgeschäfte der einzelnen Personen als genauer und leichter bestimmbar angesehen als der Maßstab bei der austeilenden Gerechtigkeit, der die Gemeinwohlgüter nur im Vergleich mit den anderen Personen festlegt. Thomas nimmt als wichtigsten Vergleich dabei das Verdienst des einzelnen am Gemeinwohl an. Heute jedoch müßte als Maßstab die Bedürftigkeit hinzugefügt werden. Die austeilende Gerechtigkeit ist nicht auf ein einzelnes Individuum gerichtet, sondern bezieht immer das Gemeinwohl mit ein. Einen Aufbau des sozialen Ganzen vom Individuum her erfolgt bei Thomas nicht. Das Einzelne ist für Thomas - wie bei Aristoteles - immer schon auf das Ganze bezogen. Gerechtigkeit in einem sozialen Ganzen herrscht, wenn die Beziehung der Menschen untereinander, das Gemeinwesen im Verhältnis zu den einzelnen Menschen und die Beziehung des einzelnen zum sozialen Ganzen ordentlich geregelt sind 2. Diesen drei Beziehungen entsprechen die genannten aristotelischen Gerechtigkeiten: iustitia commutativa, distributiva und legalis. Für Thomas sind diese drei Gerechtigkeiten nicht voneinander zu trennen. Der einzelne ist, wie gesagt, immer zugleich auf das Ganze hin orientiert; er ist Teil des Ganzen. Es gibt außerdem ein Wirken des Ganzen, das nicht dem Wirken des einzelnen entspricht, und es gibt ein Handeln des einzelnen, das als nicht identisch mit dem Wirken des Ganzen bezeichnet werden muß. Es hat sich gezeigt, daß in den drei Gerechtigkeiten, in der Gemeinwohl-, der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit und in ihrer Zuordnung zueinander der Begriff der sozialen Gerechtigkeit unterzubringen ist. Unterschiedlich jedoch wird der Begriff der sozialen Gerechtigkeit mit der einen oder der anderen oder mit allen drei Arten von Gerechtigkeiten identifiziert. Weitgehend hat sich heute im Katholizismus jedoch die Meinung durchgesetzt, daß unter sozialer Gerechtigkeit eine Denkfigur zu sehen ist, die außerhalb dieses Dreier-Schemas steht. Denn die soziale Gerechtigkeit kann nicht auf die Beziehung des einzelnen zum Gemeinwesen (Staat) oder auf das Verhältnis des sozialen Ganzen zum einzelnen beschränkt werden. Insofern erstrecken sich auch die drei Gerechtigkeiten auf einen viel weiteren Bereich als nur auf das Verhältnis des Individuums zu staatlichen Aktivitäten. Es geht um die Hinordnung der Person zur ganzen sozialen Gemeinschaft. I 2
Thomas von Aquin, II-II, 58, 5; Bd. 18, S. 33. Vgl. Josef Pieper. Das Viergespann, S. 106.
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12. Kap.: Rückblick und Ausblick
In der katholischen Soziallehre gilt die Verteilung von Pflichten und Rechten an die einzelnen Glieder der Gemeinschaft und die Zuordnung des einzelnen zum Ganzen als soziale Gerechtigkeit. Die drei Arten der Gerechtigkeit gehen in diesen Begriff ein. Seit Leo XIII. wurden den einzelnen Unternehmern und Arbeitnehmern wie auch dem Staat die Aufgabe zuerkannt, die Arbeitsverträge zu regeln und für Lohngerechtigkeit (iustitia commutativa) zu sorgen. Dem Staat obliegt dabei die Einhaltung der Abmachungen. Er hat sich allerdings auch der iustitia distributiva anzunehmen. Pius XI. hat sich nicht nur der Lohngerechtigkeit zugewandt und sie weitergeführt; bei ihm ist darüber hinaus das Subsidiaritätsprinzip zum Aufbauprinzip der Gesellschaft erklärt worden. Das einzelne Individuum soll so lange Herr seiner Tätigkeiten sein, wie es selbst seinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten kann. Dasselbe gilt auch von der kleineren Gemeinschaft gegenüber dem größeren Gemeinwesen. Die Gestaltung des Gemeinwesens beginnt bei der einzelnen Person, die aber immer in Bezug auf das ganze Gemeinwesen gesehen werden muß. Der einzelne und der Staat stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang zur Gestaltung des gesamten Gemeinwesens. Pius XI. kann darum von der Prägung des Staates und der Gesellschaft durch die Gerechtigkeit sprechen. Aber Gerechtigkeit schafft nicht alles. Hinzu kommen muß die Liebe. Sie ist eine Ergänzung der Gerechtigkeit. Die Liebe erst sichert den sozialen Frieden. Beide, soziale Liebe und Gerechtigkeit, bilden die Grundlage für die Erneuerung der Gesellschaft. Die Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit wird seit Pius XI. so gut wie von allen Päpsten betont. Denn nicht allein die Gerechtigkeit wird als Basis der Vervollkommnung der gesellschaftlichen Entwicklung angesehen. Dazu gehört auch Liebe. Die Verbindung von Liebe und Gerechtigkeit beim einzelnen und in der Entwicklung des Staates haben z. B. ganz besonders Johannes XXIII. oder Johannes Paul 11. wie auch die römische Bischofssynode in ihren sozialethischen Forderungen aufgegriffen. Eine Gerechtigkeit ohne Liebe genügt der katholischen Soziallehre nicht. Die Liebe muß sogar der Gerechtigkeit entgegensteuern. Man könnte darum wohl am ehesten von einem korrelativen Verhältnis beider sprechen, denn beide sind aufeinander bezogen. Für Pius XII. ist die rechte Güterverteilung ein Ausdruck der sozialen Gerechtigkeit. Sie ist für das gesamte menschliche Leben von Bedeutung. Johannes XXIII. kann einerseits zum einen auf die Unbestimmtheit der Gerechtigkeit hinweisen; er zeigt die Beliebigkeit des Inhaltes auf. Er kann andererseits allerdings auch gerade im Blick auf das Naturrecht auf die klaren Rechte der menschlichen Person aufmerksam machen. Die Zuordnung von Gerechtigkeit, Frieden und Entwicklung wird in der Zeit Pauls VI. betont. Gezielte Entwicklung, dauerhafter Frieden, das sind Ausdrücke der Gerechtigkeit. Friede und Entwicklung sind ihr Werk. Das läßt sich mindestens für den Frieden aus der Pastoralkonstitution des 11. Vatikanischen Konzils herauslesen. Paul VI. entfaltet die soziale Gerechtigkeit als einen wesentlichen
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Ausdruck des Naturrechtes. Seine Intention zielt darauf, daß das Soziale in der Gerechtigkeit über das Ökumenische hinausgeht. Das bedeutet auch, daß die Kirche ihrerseits mithelfen muß, die soziale Gerechtigkeit inhaltlich auszufüllen. In ihrer evangelischen Botschaft von der Befreiung des Menschen steckt bereits ein Stück sozialen Engagements. Denn sie wendet sich gegen jede Art Unrecht. Johannes Paul 11. hat in seinem Jubiläumsschreiben zum 100. Jahrestag von Rerum Novarum der sozialen Gerechtigkeit eine inhaltliche Perspektive gegeben, die, aus den Verhältnissen der alten Bundesrepublik her gedeutet, sich gut mit den Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft vertrüge. Denn der von ihm geforderte Aufbau einer freien und demokratischen Gesellschaft soll insbesondere von der sozialen Gerechtigkeit geleitet werden. In dieser Jubiläumsschrift zu Rerum Novarum schwingen alle drei Bedeutungen der aristotelischen Gerechtigkeitsvorstellung mit. In der Verlautbarung der amerikanischen Bischöfe von 1986 erfährt die soziale Gerechtigkeit dadurch eine besondere Bedeutung, daß sie der erweiterten legalen Gerechtigkeit gleichgesetzt wird. Sieht man aber die Äußerungen der Päpste durch, haben die katholischen Soziallehrer mit ihrer Deutung von der sozialen Gerechtigkeit recht, die diese nicht mit einer der überlieferten drei Arten der Gerechtigkeit gleichsetzen. Die soziale Gerechtigkeit ist in dieser Hinsicht etwas anderes als die iustitia legalis, commutativa und distributiva. Die soziale Gerechtigkeit wird in der Ökumene meistens im Zusammenhang mit den Menschenrechten, der Menschenwürde und der Befreiung der Menschen von Unterdrückung und Ausbeutung gesehen. Letztlich glaubt sie, so den in Amsterdam geprägten Begriff der verantwortlichen Gesellschaft auszufüllen. Christen müssen Anwalt der Schwachen und der Gerechtigkeit in der Welt sein. Ziel ist dabei, eine sozial gerechtere Welt zu schaffen. Diese Forderung richtet sich seit Genf 1966 - und vor allem seit Uppsala 1968 - an die Industrienationen, die es mehr oder weniger in der Hand haben, eine weltweite wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erzielen. Es geht dabei vor allem um die Güterverteilung in der Welt. Das wird stets von der EKD und auch in den gemeinsamen Konferenzen zwischen den katholischen und den evangelischen Gliederungen anläßlich der Welthandelsorganisationen betont. Denn die Güter der Welt gehören allen. Friede und Gerechtigkeit sind nur erreichbar, wenn die Güterverteilung in der Welt gerechter wird. In jüngster Zeit - spätestens seit Nairobi 75 - wird in der Ökumene darum eine gerechtere, partizipatorische und überlebensfähige Gesellschaft gefordert. Gefragt ist die iustitia distributiva und die Vertragsgerechtigkeit. Aber auch die legale Gerechtigkeit, die allen Menschen unterschiedlicher Religionen und Rassen eine Zuordnung zum Weltganzen zu erbringen hat, ist Teil dieser sozialen Gerechtigkeit in der Ökumene. V. Hayek geht von einer Ordnungsvorstellung aus, die er als zweckunabhängig und spontan interpretiert. Sie ist ein Kosmos, eine spontane Ordnung. Sie reguliert 8 Kramer
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und organisiert sich selbst. V. Hayek wehrt sich gegen einen Ordnungsbegriff, auf Grund dessen der einzelne seine Aufgaben und Rolle durch eine Organisation zugewiesen bekommt. Hier würde zweckgebundene Zielorientierung herrschen. Diese Ordnung ist eine Taxis, wie er sie nennt. In einer spontanen Ordnung kann niemand Ergebnisse verteilen. Gerechtigkeit gibt es darum nicht auf Grund von Resultaten, sondern nur auf Grund von Verhalten. Eine spontane Ordnung verwirklicht sich etwa in der Marktordnung. Sie kann wiedergegeben werden durch den Ausdruck der Katallaxie, in der nicht nur das Wort vom Tausch, sondern auch die Möglichkeit der Versöhnung steckt, die in der Lage ist, aus einem Feind einen Freund zu machen. Die Marktwirtschaft ist unter Berücksichtigung des Wettbewerbs durch eine spontane Ordnung geprägt. In ihr wird keine soziale Gerechtigkeit angestrebt, sondern es werden eigene Interessen verfolgt. Darum ist für v. Hayek eine exogen zu schaffende distributive Gerechtigkeit auch keine Form des Ausgleichs in der Marktwirtschaft. Diese ist ausschließlich Kennzeichnung des Sozialismus. Denn eine solche Gerechtigkeit setzt eine Zentralbehörde voraus, die weiß, was Gerechtigkeit ist. In einer Katallaxie aber ist das nicht möglich. Denn das Ergebnis ist nicht vorherzusehen. Freilich muß zum Schutz der Schwachen oder Schwächsten in der Gesellschaft auch in der Marktwirtschaft durch den Staat ein sozialpolitisches Auskommen geschaffen werden, wenn dazu die Notwendigkeit besteht. Damit soll jedoch nicht die soziale Gerechtigkeit erreicht werden. Rawls' Theorie der Gerechtigkeit stellt eine Theorie des Gesellschaftsvertrages dar, in der jeder Teilnehmer gleiche Chancen hat, weil er gleiche Grundsätze anerkennt. Rawls ist nicht an einem allgemeinen Gerechtigkeitsprinzip interessiert, es geht ihm vielmehr um eine Gerechtigkeit als Fairneß. Sie weist auf einen doppelten Sachverhalt hin. Denn es geht um eine Fairneß, die zur Grundlage eine faire Ausgangsposition der Gesellschaft darstellt, und um das Gebot der Fairneß als ein Gebot für den einzelnen. Mit dieser Theorie, die er als soziale Gerechtigkeit interpretiert, will Rawls die Zuwendung von Rechten und Pflichten und eine rechte Verteilung gesellschaftlicher Güter erreichen. Jeder soll gleiche Rechte an den Freiheiten besitzen, die die Rede-, Versammlungs-, Gewissens-, Gedankenfreiheit, das Recht auf Eigentum, den Schutz vor Willkür etc. umfassen. Die evangelische und katholische Sozialethik können sich ebenso wie viele demokratisch-parlamentarische Systeme damit einverstanden erklären. In der Rawls'schen Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß übernimmt die Theorie der Gleichheit dieselbe Rolle wie der Naturzustand in der überlieferten Theorie des Gesellschaftsvertrages. In dieser Gesellschaft sind für Rawls die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen Ausgangssituation festgelegt. Dazu gehört, daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, ebensowenig seinen Status oder die Verteilung der natürlichen Gaben. Die Grundsätze der Gerechtigkeit stecken also hinter einem Schleier des Nichtwissens. Dieser Urzustand ist allerdings fiktiv. Er ist geprägt VOn der Vernünftigkeit der Vertragspartner, von der
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Gleichheit der Menschen, aber auch - wie gesagt - vom Schleier des Nichtwissens, der über allen Menschen liegt, und auch vom gegenseitigen Desinteresse, das die Menschen im Urzustand besitzen. Die Grundsätze haben Verbindlichkeitscharakter. Sie erweisen sich als eine faire Übereinkunft aller Beteiligten. Diese ist wiederum der Ausgangspunkt der Gleichheit. Die Gerechtigkeit als Fairneß bezieht sich nicht nur auf Einzelpersonen, sie umfaßt auch Institutionen. In seinen beiden Gerechtigkeitsgrundsätzen drückt sich diese individuelle ind institutionelle Denkstruktur aus. Im ersten heißt es, daß jeder einzelne das gleiche Recht auf ein System von gleichen Grundfreiheiten erhalten muß. Im zweiten Grundsatz wird davon gesprochen, daß die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten so geschaffen sein müssen, daß sie den am wenigsten Begünstigten Vorteile bringen und allen die gleichen Startchancen eröffnen. Beide Grundsätze sollen in einer lexikalischen Ordnung aufeinander folgen, und das heißt, der erste Grundsatz muß erfüllt sein, ehe man sich dem zweiten zuwenden kann. Es geht dabei um die rechte Verteilung von Einkommen und Vermögen und die Wahrnehmung der Chancen im öffentlichen Bereich. Rawls will eine Chancengleichheit und eine Einkommensverteilung für die gesellschaftlich Schwachen schaffen. Für alle soll eine gleiche und faire Chance bestehen; bei einer etwaigen Ungleichheit muß sich die Gesellschaft um die kümmern, die sich in einer ungünstigen Position befinden. Es handelt sich bei Rawls um einen Gesellschaftsvertrag, bei dem jeder die gleichen Grundsätze anerkennt und weiß, daß auch die Gesellschaft ihrerseits mit ihren Institutionen diesen Anforderungen genügt. Darum stecken in Rawls' Theorie sowohl individualistische wie auch universelle Züge der Vertragstheorie. Das Hauptproblem seiner Theorie der Gerechtigkeit liegt bei der Verteilung von Vermögen und Einkommen. Er will ein System von gerechten Institutionen geschaffen sehen, die diese Art der sozialen Gerechtigkeit praktizieren können. Die Güter des Lebens dürfen dabei nicht nach Verdienst verteilt werden. Aber in welcher Höhe dann die Vermögen und Einkommen im einzelnen zu verteilen sind, ist nicht Sache der Theorie, sondern der Politik. Für Rawls steht im Vordergrund der sozialen Gerechtigkeit darum die iustitia distributiva, die er durch eine proportionale Verbrauchs steuer glaubt, fördern zu können. Die Begründung der Ursache von Ungleichheitem war unwichtig. Die Schuldfrage für diese Entwicklung interessierte ihn ebenfalls nicht. Darum ist Rawls' Gerechtigkeitsbegriff auch nicht geschichtsorientiert. Für Nozick dagegen seinem scharfen Kritiker - sind geschichtliche und individuelle Rechte bedeutsam. Es sind Anspruchsrechte, die aus der Vergangenheit her resultieren. Dabei gilt der Grundsatz der Erstaneignung. Die Verteilung der Güter ist deshalb aus der Geschichte und nicht aus der Struktur her zu verstehen. Strukturelle Verteilung würde eine Umverteilung nötig machen, geschichtliche nicht. Während Rawls das Endergebnis, das als Resultat entstanden ist, sieht, ist für Nozick die Verteilung aufgrund des geschichtlichen Prozesses zustande gekommen. Der einzelne 8*
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hat jetzt entsprechend seiner Leistung Anspruch auf Gerechtigkeit. Die iustitia distributiva ist deshalb problematisch, weil sie zu Lasten der Leistenden umverteilt. Die Gerechtigkeit hängt für ihn allein vom Schema ab, nach dem umverteilt wird. Nozicks Anspruchstheorie ist darum mit Rawls' iustitia distributiva nicht zu vereinbaren. Nozick erkennt als zu rechtfertigenden Staat den Minimalstaat an. Jeder weiterführende Staat würde die Rechte der Menschen verletzen. In dem Nachtwächterstaat genießt der Bürger Schutz gegen Gewalt. Außerdem wird ihm die Einhaltung von Verträgen zugesichert. In dem von diesem Minimalstaat abgegrenzten Ultraminimalstaat enthält nur der den Schutz, der die Dienstleistungen vom Staat kauft. Der Übergang vom Ultraminimalstaat zum Minimalstaat geschieht letztlich durch die Umverteilung der Mittel für die allgemeine Schutzgewährung. Nur diese Art der Umverteilung wird von Nozick akzeptiert, nicht die geschichtslose oder nur strukturelle Verteilungsgerechtigkeit. Nozicks Begriff der sozialen Gerechtigkeit umfaßt darum die begrenzte legale Gerechtigkeit eines Minimalstaats, die iustitia commutativa und eine eingeschränkte iustitia distributiva. Buchanan geht von einer natürlichen Verteilung der Güter aus. Diese durch Gewalt oder natürliche Entwicklung vollzogene Verteilung kann nur durch Vereinbarung mit den Partnern gewahrt werden. Das sind konstitutionelle Übereinkünfte. Werden solche von den Parteien wahrgenommen, ist es Aufgabe des Staates, die Einhaltung zu übernehmen und damit den Rechtsschutz zu gewährleisten. Erst durch diese vereinbarte Verteilung der Güter tritt für den einzelnen wie auch für die Mehrheit in der Gesellschaft eine Besserung in der natürlichen Verteilung auf. Ein solcher Konstitutionalismus setzt einen individualistischen Ansatz voraus, aufgrund dessen es mit dem gleichwertigen Partner zu einer vertraglichen Übereinkunft kommt, und in dem der Staat zunächst nur die Aufgabe des Rechtsschutzes wahrnimmt. In einer herrschaftsfreien Beziehung können Menschen in Anarchie leben in einer geordneten Anarchie, die Buchanan als freie Beziehung unter freien Menschen versteht. Aber diese kann nur so lange am Leben bleiben, wie sie eine akzeptable Ordnung gewährleistet. Sie ist abzulösen, wenn es gilt, konstitutionelle Verträge zu schließen, Rechtsvereinbarungen zu schützen und die Ordnung aufrecht zu erhalten. Das ist dann Aufgabe des Rechtsschutzstaates. Später wird in einem postkonstitutionellen Vertrag aus einem solchen Rechtsschutzstaat der Leistungsstaat. Ihm ist die Herstellung und Verteilung der kollektiven Güter vorbehalten, die sonst nicht oder nicht in einem ausreichenden Maße zur Verfügung gestellt würden. Seine Mitglieder haben zu entscheiden, welche Güter und welche Mengen hergestellt und wie sie verteilt werden sollen. Auch gegenüber den Trittbrettfahrern, die auf Kosten anderer und zum eigenen Nutzen sich an
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der Verteilung der kollektiven Güter beteiligen wollen, ohne die Lasten mitzutragen, hat der aus dem Rechtsschutzstaat entwickelte Leistungsstaat tätig zu werden. Allerdings sind gegenüber dem Leistungsstaat enge Grenzen zu ziehen. Denn es dürfen nicht Minderheiten zum Wohle der Mehrheit ausgebeutet werden. Die Gefahr, daß Glieder im Staat die Macht an sich reißen, die staatliche Gewalt gegenüber anderen verstärken und damit Individualinteressen verletzen, ist sehr groß. Gefährlich entwickelt sich heute der Leviathan gerade in den westeuropäischen Staaten. Darum sind die staatlichen Aktivitäten in ihren Grenzen eng und präzise zu bestimmen. Buchanan kann zwar die soziale Gerechtigkeit als prägendes Element akzeptieren, obwohl gerade der Begriff der Gerechtigkeit mißbraucht wird. Aber die gesellschaftliche Analyse darf sich nicht auf solchen externen Größen gründen. Er sieht einen anderen Handlungsbedarf für die Ethik. Denn für ihn gilt die vertragstheoretische Situation mit einem Konsens der Parteien. Allerdings gibt es keinen starren status quo für diesen Zustand. Ethische Entscheidung ist allein dort gefragt, wo es Konflikte gibt und wo es um die Sicherung einer Ordnung geht. In einer Gesellschaft ohne Konflikte bedarf es keines Gesetzes und keiner Ethik. Ethik bei den einzelnen Mitgliedern verringert das Bedürfnis der Gesellschaft nach gesetzlichen Normen. Buchanans Ansatz erlaubt es, daß die Rechte des einzelnen anerkannt und ihre Verletzung geahndet werden. Andererseits läßt diese Zusicherung erwarten, daß die so reich Beschenkten einen höheren Kostenanteil an den kollektiven Gütern tragen. Da auch die Armen zum sei ben Gemeinwesen mit einem bestimmten Verfassungsvertrag gehören, steht ihnen ein Anspruch an den Gütern zu. Die soziale Gerechtigkeit ertreckt sich also - wie bei Nozick - auf die iustitia legalis, commutativa und in einem begrenzten Maße auch auf die distributiva. Die soziale Gerechtigkeit ist ein Norm- und Verhältnisbegriff. Sie ist nur schwer inhaltlich zu beschreiben. Denn sie ist regional, wirtschaftlich und sozial unterschiedlich geprägt. In den Industrieländern und in solchen mit großem wirtschaftlichen Potential muß sie anders bestimmt werden als in Entwicklungsländern und in Regionen mit wirtschaftlichen und sozialen Konflikten. In allen Ländern möchte die Ökumene, daß zwischen verschiedenen Gerechtigkeiten unterschieden wird. Es sollen nach Möglichkeit die Disproportionalitäten in wirtschaftlichen und sozialen Gebieten von Anfang an verhindert werden. Aber zugleich sollen auch die schon vorhandenen Ungleichgewichte bekämpft und nachträglich ausgebessert werden. Die Frage bleibt, wie überhaupt eine Startgerechtigkeit erzielt werden kann? Wer gibt den Maßstab an und wer schafft unter welchen Bedingungen den Ausgleich in der Anlage der Individuen, ihrer Intelligenz, ihrer sozialen Herkunft etc. Soll die Umverteilung bei dem einen über Abgaben an den Staat und bei dem anderen über Gewährung von Subsidien
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erfolgen? Wäre überhaupt Gerechtigkeit zu erzielen, wenn dem Leistenden genommen und dem Nichtleistenden, weil er es nicht will oder auch nicht dazu in der Lage ist, gegeben wird? Soll diese soziale Gerechtigkeit wirklich noch als Gerechtigkeit und nicht einfach als "Nivellierung" bezeichnet werden? Die Marktwirtschaft sichert dem einzelnen Wirtschafts subjekt wirtschaftliche Entscheidungsfreiheit und damit die Eigenverantwortung zu. Seine kaufkräftige Nachfrage regelt das Angebot der Güter oder bringt ihm die soziale Leistung. Immerhin stellt sich der Markt mit seinem Tauschcharakter und seiner Wettbewerbsorientierung auch als soziales Geschehen dar. Die iustitia commutativa findet besser als sonstwo hier ihre Erfüllung. Aber die Marktwirtschaft in ihrer idealtypischen Gestalt erbringt keinen sozialen Ausgleich. Aus zwei Gründen ist deshalb die Marktwirtschaft im Laufe der Zeit besonders in Verruf gekommen. Denn sie hat die Einkommen weder nach den Bedürfnissen, sondern nach den Leistungen verteilt. Noch hat sie eine gerechte Verteilung der Leistungen im Produktionsprozeß vorgenommen. Schließlich verteilt der Markt nicht nach den Anstrengungen des einzelnen bei seinen Leistungen, sondern nach der Macht bzw. der Anzahl der Anbieter und Nachfrager. Die Soziale Marktwirtschaft ist als ordnungspolitische Idee zu verstehen, deren Ziel es ist, die freie Initiative im Wettbewerb mit einem durch wirtschaftliche Leistung erzielten Fortschritt zu verbinden. Sie versucht, sich dem sozialen Ausgleich in Gestalt der sozialen Gerechtigkeit anzunähern. Um diesen zu erreichen, genügt der Wettbewerb am Markt allein nicht. Es bedarf einer daraufhin ausgerichteten Wirtschaftspolitik. Eine gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik. Denn die wirtschaftliche Potenz zu stärken, ist sozial gerechter als caritative subsidiäre Tätigkeit. Auf dieser Basis hat die Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik zur Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit erstaunliche Erfolge erzielt. Durch sie ist es zu einer Erhöhung des privaten Wohlstandes gekommen. Dazu hat die sekundäre Einkommensverteilung das Ihre geleistet. In der ersten Einkommensverteilung werden die Leistungen der Allgemeinheit von dem Leistungsfähigen erbracht. In der zweiten Einkommensverteilung werden die Ergebnisse dann über den Staat als ClearingsteIle weiter verteilt. Diese Verteilung muß als ein wesentlicher Bestandteil der iustitia distributiva angesehen werden. Eine soziale Gerechtigkeit ist allein und endgültig nicht durch die Soziale Marktwirtschaft zu vollenden. Beide sind abhängig von den von außen an sie herangetragenen Normen, so durch den wirtschaftlichen Entwicklungsgrad, die Ordnungspolitik, Zielvorstellungen und andere gesetzte Daten. Beide, Soziale Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit, sind kein Endzustand, sondern nur als Ziel ins Auge zu fassen. Der Mensch versucht, sie zu erreichen, er wird aber immer wieder sein Scheitern feststellen müssen. Es hat sich gezeigt, daß die soziale Gerechtigkeit als Verhältnisbestimmung des einzelnen zum Gemeinwesen als iustitia legalis und commutativa oder auch
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zusätzlich als iustitia distributiva verstanden werden kann. Sie kann also alle drei aristotelischen Fonnen der Gerechtigkeit umfassen. Ferner muß die soziale Gerechtigkeit jenseits dieser Arten als eine Fonn verstanden werden, die nicht nur den Staat mit seinen Aktivitäten, sondern auch die ganze Gesellschaft berücksichtigt. Der sozialen Gerechtigkeit geht es dabei ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips um den Schutz des einzelnen und der kleineren Einheit. Sie bestimmt, daß im Konfliktfall zwischen dem Individuum und dem Gemeinwohl nicht gleich zu Gunsten des Gemeinwohls entschieden wird, sondern daß dem Individuum sein Recht zuerkannt wird. Soziale Gerechtigkeit besitzt keinen eigenen Maßstab. Sie ist abhängig von den von außen festgelegten Nonnen. Insofern bleibt sie immer eine Verhältnisgröße, die durch zeitliche, regionale und wertabhängige Änderungen variierbar ist. Darum scheitern auch alle Versuche, die soziale Gerechtigkeit einzugrenzen oder inhaltlich zu füllen. Da man glaubt, daß Gleichheit die beste Grundlage für eine Verteilung ist, wird versucht, die soziale Gerechtigkeit auf dieser Basis herbeizuführen. Aber kann Gleichheit wirklich zur Basis für die Umverteilung werden? Letztlich verschiebt sich dann die Frage und lautet etwa: Wie ist eine soziale Gleichheit zu erzielen? Wie sehen Personen aus, über die das Urteil der Gleichheit auszusprechen ist? Ferner ist zu fragen, wie kann soziale Gerechtigkeit mit ihren Umverteilungsaspekten überhaupt jedem Bedürfnis des einzelnen "gerecht" werden? Nach welchen Maßstab - nach dem des einzelnen oder dem des Ganzen? - richtet sich die soziale Gerechtigkeit? Bedarf es nicht außer der Gerechtigkeit noch der Liebe? Denn trotz aller Ansprüche und Leistungen bleiben für den einzelnen Menschen Defizite übrig. Diese sind auf Grund nicht durchsetzbarer Gleichheit und einer nicht erreichbaren Gerechtigkeit nicht zu beseitigen. Erst die Liebe, die außerhalb jeder Nonn handelt, kann sie überbrücken. Allein die Liebe gibt, worauf der andere keinen Anspruch hat. Die Gerechtigkeit regelt nur das, was dem Menschen von Rechts wegen zukommt, worauf er eben ein Recht hat. Die Ergänzung der Gerechtigkeit durch die Liebe gilt ganz allgemein, sondern speziell auch im Blick auf die soziale Gerechtigkeit.
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