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German Pages [392] Year 2012
Peter Pantuček
SOZ IALE DIAGNOSTIK Verfahren für die Praxis Sozialer Arbeit
3., aktualisierte Auflage
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage © 2005 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG., Wien Köln Weimar 3. Auflage © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Balto Print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Lithuania ISBN 978-3-205-78888-1
Der Mensch wird Person … bzw. Fall, indem in gewissen Weisen über ihn geredet wird und so ,Erwartungskollagen‘ angefertigt werden. Offizielle Varianten dieses Verfahrens sind Diagnosen, Fallbeschreibungen, Persönlichkeitsprofile, Krankheitsbilder, Kriminalitätskarrieren, Aktennotizen usw. Mit Hilfe dieser Techniken, die nichts weiter sind als ,Fetische der Realität’, macht man aus prinzipiell unvorhersagbaren, unerklärlichen Objekten diskrete Entitäten, die Voraussagen zu erlauben scheinen. Sozialarbeiter können auf derartige Fetische nicht verzichten, wohl aber darauf, sie zu fetischisieren! (Theodor Bardmann)
Inhalt
0. Vorbemerkungen zur dritten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Funktion und Fachlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.1 Die Frage nach dem Gegenstand der Sozialarbeit . . . . . . . . . . . . 23 2.2 Die Konstituierung „sozialer Probleme“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.3 Die Konstituierung des „Falls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.4 Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung . . . . . . . . . . . 34 3. Der „Fall“.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.1 Die Konstruktion des Problems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.2 Die Konstruktion des Klienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 3.3 Die Konstruktion des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Die Rolle der Diagnose im professionellen Handlungsprozess. . . . . . . 55 5. Muster und Komplexität.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Vom Modell zur Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Positionierung zum Alltag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 6.1 Assessment oder Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 6.2 Stigmatisierung und Diagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 6.3 Prozess und Expertentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 6.4 Geografie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 6.5 Zählen und Messen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
8
Inhalt
6.6 Erfahrung und Wissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
6.7 Kooperation und Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
6.8 Lüge und Wahrheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
6.9 Der Hypothesencharakter der Diagnose. . . . . . . . . . . . . . . .
102
6.10 Normen und Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
102
6.11 Passung : Diagnose der Hilfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
6.12 Dokumentation und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
6.13 Diagnose und Entscheidung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
7. Ausgewählte Diagnoseinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
7.0 Vorbemerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
Aufbau der Unterkapitel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
Gemeinsamkeiten der Verfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
Gegenstände Sozialer Diagnostik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
Diagnosetypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
Zum Umgang mit diagnostischen Verfahren . . . . . . . . . . . . .
129
7.1 Sichtdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Visuelle Ersteinschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
130
Hausbesuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Begehungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
7.2 Kurzdiagnosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
145
Vorläufige Diagnose auf Basis vorhandener Daten (VD) . . . . . .
145
Presented-Problem-Analyse (PPA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
7.3 Notationssysteme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155
Personalliste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
Crossings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
Zweitfamiliennotation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
Problembeschreibungsraster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
Ablaufdiagramm Interventionsgeschichte.. . . . . . . . . . . . . .
177
Interventionsplanung Zielraster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
181
7.4 Netzwerkdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
184
Netzwerkkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Ecomap.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
7.5 Biografische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
226
227
Biografischer Zeitbalken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
9
7.6 Lebenslagendiagnostik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
Inklusions-Chart (IC3).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
239
integrachart® . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
274
7.7 Klassifikationssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
ICD-10 Kapitel XXI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
282
Die Achsen IV und V des DSM-IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284
ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit,
Behinderung und Gesundheit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
Person-In-Environment-Classification-System (PIE). . . . . . . . . .
294
7.8 Kooperative und Black-Box-Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . .
310
Problemranking. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310
Skalierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312
4-Felder-Matrix des Motivational Interviewing. . . . . . . . . . . .
314
Family Group Decision Making/Social Group Conference . . . . . .
317
7.9 Risikoabschätzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
Interventionsassessment (IA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
321
7.10 Symptom- und Risikofaktorenlisten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
Vernachlässigung erkennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333
7.11 Typenbildungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
7.12 Voodoo-Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
8. Gutachtenerstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
9. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353
Glossar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
375
Abbildungsverzeichnis.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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0. Vorbemerkungen zur dritten Auflage
Von den in der ersten Auflage dieses Buches vorgestellten Verfahren der Sozialen Diagnostik fanden einige im Praxisfeld der Sozialen Arbeit eine interessierte Aufnahme und wurden in das Repertoire übernommen. Daraus resultierten erfreulicherweise auch zahlreiche Rückmeldungen zur Brauchbarkeit und zu Anwendungsproblemen. In dieser dritten Auflage wurden für die zentralen und „mächtigen“ Verfahren die Anregungen und Hinweise aufgenommen. Der vorliegende Band enthält einige Erweiterungen und Aktualisierungen. Insbesondere wurden die Kapitel über jene Verfahren ausgebaut und erneuert, bei denen es in den letzten Jahren tw. forschungsbasierte Veränderungen gegeben hat. Das Kapitel zur Netzwerkkarte erfuhr eine wesentliche Erweiterung. Es bezieht sich nun auf die Netzwerkkartenerstellung mit der am Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten entwickelten Software easyNWK. Erstmals werden ausführliche Anleitungen für die Führung des Netzwerkinterviews und die Auswertung vorgelegt. Das Kapitel zum Inklusions-Chart enthält nun die neueste Version dieses Instruments, das man in der vorliegenden Version als kompaktes Klassifikationssystem für die Soziale Arbeit bezeichnen kann. Das IC3 enthält forschungsbasierte Verbesserungen, die allerdings nicht mehr einen so großen Sprung darstellen, wie es jener vom IC1 zum IC2 war. Die Usability wurde durch die Bereitstellung eines umfassenden Apparats von Definitionen verbessert, ergänzt wurden Hinweise zur Handhabung. Die wesentliche qualitative Verbesserung dieser beiden Verfahren und der zugehörigen Manuals ist einem 2010 bis 2011 an der FH St. Pölten in Zusammenarbeit mit einigen Trägerorganisationen statthabenden Projekt („SODIA“) zu danken. Den beteiligten Organisationen und PraktikerInnen gilt ebenso der Dank wie den wissenschafltichen ProjektmitarbeiterInnen Tamara Aspöck, Birgit Kogelnig, Sandra Nussbaumer, Roland Stork und Andrea Windpassinger (für die
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Vorbemerkungen zur dritten Auflage
Netzwerkkarte), sowie Sabine Grünzweil, Marlene Paul, Verena Rameseder und Corinna Sattler (für das Inklusions-Chart). Sabine Sommer organisierte und lieferte Hinweise für beide Verfahren. Neu vorgestellt wird mit dem integrachart® ein auf dem Inklusions-Chart basierendes Instrument für die soziale Diagnostik im Feld der Arbeitsmarktintegration. Ein Dank geht an Manuela Hausegger und die Firma Prospect für die Entwicklung und Praxisimplementierung sowie für die Erlaubnis, das Verfahren in diesem Band kurz zu präsentieren. Eine Überarbeitung erfuhr auch das Kapitel zur biografischen Diagnostik mit dem Zeitbalken. Hierzu entwickelt das Arlt Institut an der FH St. Pölten eine Software, die die Erstellung vereinfacht und Anwendungsprobleme verhindern hilft. Damit liegt nun insgesamt eine verbesserte und noch stärker an den Bedürfnissen der Praxis orientierte Version des Bandes vor. Ich ersuche weiterhin um Rückmeldungen, um die Instrumente überarbeiten und ihre Treffsicherheit schärfen zu können. Für die kontinuierliche Unterstützung ist dem Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung an der Fachhochschule St. Pölten unter der Leitung von Monika Vyslouzil zu danken. Meine Frau Christina Eisenbacher, selbst Sozialarbeiterin, half durch ihr Interesse an der Materie und dadurch, dass sie Phasen meiner geringeren Beteiligung an familiären Aufgaben ermöglichte. Mein nun 4-jähriger Sohn Paul fand es zwar interessant, dass ich an einem Buch schreibe, wieso es aber eines über Soziale Diagnostik sein muss, erschloss sich ihm noch nicht ganz. Eines über Ritter, Piraten oder Steinzeitmenschen wäre ihm entschieden lieber gewesen.
1. Einleitung Am Beginn der Entwicklung der Sozialarbeit als Profession mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Fundierung stand die Bemühung, ihr – ganz nach dem erfolgreichen Muster der Medizin – ein diagnostisches Werkzeug in die Hand zu geben, das die Sozialarbeiterinnen als Expertinnen des Sozialen, als die Diagnostikerinnen der Hilfsbedürftigkeit für das Wohlfahrtswesen unentbehrlich machen sollten. Die zentrale Leistung der Charity Organization Societies war der weitgehende Verzicht auf das Verteilen von Almosen und die Konzentration auf eine individualisierte Einschätzung des Hilfebedarfs von verarmten Familien. Mit dieser Einschätzung waren auch prognostische Leistungen verbunden.
Am Anfang stand also das Versprechen einer Erhöhung der Effizienz und Ef-
fektivität sozialer Unterstützung durch die individualisierte Diagnostik. Hausbesuche und das Gespräch, die → Inszenierung der Beziehung, das ergab sich eher aus der Logik einer individualisierten sozialen Diagnostik der Hilfsbedürftigkeit. Um individualisierte Daten zu bekommen, mussten Strategien der Annäherung an den lebensweltlichen Zusammenhang der KlientInnen entwickelt werden. Die sogenannte Beziehungsarbeit ermöglichte erst die Einlösung des Anspruches der Expertendiagnose.
Wir sehen also, dass die von der Sozialarbeit als Profession entwickelte
Technologie der Annäherung an die KlientInnen und ihre → Lebenswelten in gewissem Sinne als Abfallprodukt der Bemühungen um eine professionalisierte diagnostische Kompetenz betrachtet werden kann. Den Pionierinnen der Sozialarbeit als Profession, Mary Richmond in den USA und Alice Salomon in Deutschland, ist es noch nicht gelungen, den eigentlichen Behandlungsprozess selbst schlüssig zu beschreiben. Aber ein Nebeneffekt einer Diagnostik, die auf Gespräch, auf Lebensweltannäherung setzte, war die Kultivierung einer Annäherungstechnik, die sich bald selbst als heilend und hilfreich erwies. Die Sozialarbeit entwickelte vor allem in den Konzepten des Casework ein Verständnis der
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Einleitung
eigenen Arbeit, das zwischen dem diagnostischen Prozess und der Intervention keinen deutlichen Unterschied mehr machte. Und das war durchaus logisch, entsprach den Erfahrungen : Die Klärung der Lebenslage im notwendig kooperativen Prozess mit den KlientInnen und deren sozialem Umfeld veränderte, richtig gemacht, bereits die Lebenslage, die Beziehungen im sozialen Umfeld und die Fähigkeiten der KlientInnen zur Nutzung der Ressourcen dieses Umfelds. Man kann das klassische Konzept des Casework als ein Konzept beschreiben, das sich als Einheit von Diagnose und Intervention versteht.
Auch wenn dieses Konzept zunehmend unter Beschuss gerät, als ineffektiv,
nicht zielorientiert und verwaschen etc. denunziert wird, muss man doch sehen, dass es ein Konzept der sinnvollen Reduktion von Aufwand war. Es reagierte vernünftig auf einige strukturelle Probleme, die sich bei einer wissenschaftlich und methodisch fundierten Sozialen Arbeit ergaben :
Da ist zuerst die Komplexität des zu untersuchenden Sachverhalts zu nennen.
Die Problemlagen sozialer Einbindung manifestieren sich konkret in Form von Problemen der Alltagsbewältigung, sind aber bedingt vom Zusammenspiel biologischer, psychischer und mehrerer sozialer Systeme, welch Letztere wiederum gegenständliche und kommunikative Ausformungen haben. Dadurch entsteht ein komplexes Gefüge, zu dem im Vergleich die Komplexität etwa des menschlichen Körpers, der ja das bevorzugte Untersuchungsobjekt der Medizin ist, als relativ gut überschaubar gelten kann.
Zum Zweiten ist die Grenze zwischen Funktionieren und Nicht-Funktionieren
keineswegs klar bestimmt und entzieht sich über weite Strecken einer objektiven Definition.
Zum Dritten sind die zu beschreibenden bzw. zu diagnostizierenden Sys-
teme dynamisch – und das auf die spezielle Art, wie wir sie sowohl in der Gesellschafts-Geschichte als auch in der Individualgeschichte kennen : Perioden des relativen Stillstands werden von Zeiten rasanter Entwicklung abgelöst, wobei oft erst im Rückblick erkennbar wird, dass und welche Voraussetzungen für den Wandel bereits in den Phasen der scheinbaren Stagnation herangereift sind und schließlich den Wandel ermöglicht haben. An diesem Wandel sind dann mitunter die verschiedensten Akteure beteiligt und der Wandel kommt nicht nur manchmal überraschend, sondern nimmt mitunter auch eine überraschende Richtung.
Im Vergleich zu Medizin und Psychotherapie agiert Sozialarbeit also in kom-
plexeren und schlechter planbaren Environments, ist bei ihrer Diagnostik und
Einleitung
Vorgehensplanung mit Problemen der Unübersichtlichkeit und der Unvorhersehbarkeit konfrontiert.
Dazu kommt, dass Sozialarbeit bei ihrer Informationsgewinnung über den
Fall zwar nicht ausschließlich, aber doch weitgehend auf Gespräche angewiesen ist und die Qualität der Informationen vom Gelingen der Gesprächsführung abhängt.
Natürlich stimmt das nicht ausschließlich. Eine Reihe von Daten über den
Fall extrahiert die Sozialarbeit aus Akten, Schriftstücken, Befundungen etc., also aus bereits vorliegenden oder beschaffbaren Beschreibungen von Aspekten der Lebenssituation der KlientInnen. Weitere Daten werden durch Beobachtung gewonnen. Aber das Herzstück war bisher doch das Gespräch, und ich nehme an, dass das noch längere Zeit so bleiben wird.
Gespräche sind langsam, vor allem wenn man durch sie einen komplexen
Sachverhalt erschließen will. Und das Gelingen der Informationsbeschaffung durch das Gespräch hängt von der Beziehungsgestaltung ab : Die KlientInnen müssen auf irgendeine Art davon überzeugt werden, dass es für sie sinnvoll ist, die Informationen preiszugeben.
Eine alte Technologie, die das bewerkstelligen kann, ist die Folter. Wie wir
wissen, ist selbst sie langsam und aufwändig, und die Qualität der durch sie gewonnenen Informationen ist nicht immer hoch. Auch unter der Folter sagen die so behandelten Personen oft das, was sie glauben, dass der Interviewer hören will, und nicht die sogenannte Wahrheit.
Also bietet sich eher die Strategie des „good guy“ an : die Zurschaustellung
von Verständnis und Vertrauenswürdigkeit. Die Informationsgewinnung wird dadurch zwar nicht wesentlich beschleunigt, dafür kann eine soziale Beziehung aufgebaut werden, die die weitere Kooperation der KlientInnen wahrscheinlicher macht und die Ausgangslage nicht von vornherein verschlechtert.
Das Problem der Komplexität wird dadurch allerdings noch nicht wirklich
gelöst. Wir erhalten ein subjektives Bild der Lebenssituation, und eines, das auch bei einem längeren Gesprächsprozess noch zahlreiche blinde Stellen aufweisen wird. Gleichzeitig aber können bereits nach kurzer Zeit durch den schon für die Informationsbeschaffung nötigen Beziehungsaufbau Voraussetzungen für die kooperative Bearbeitung von Alltagsproblemen der KlientInnen geschaffen werden. Was also liegt auch aus Gründen der Arbeitsökonomie näher, als ein ohnehin nicht absehbares Ende des Verfahrens der Informationsbeschaffung gar nicht erst abzuwarten, sondern gleichzeitig zum Prozess der Diagnose mit
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16
Einleitung
der aktiven Arbeit zur Problemlösung zu beginnen. Man gewinnt dadurch ein zusätzliches und durchaus mächtiges Instrument der Diagnose in die Hand gespielt, nämlich das Experiment. Beim Versuch der Änderung einer Situation, einer Bedingung, erwachsen aus der Beobachtung, wie was oder wer dabei kooperiert oder Widerstand leistet, wertvolle neue Informationen. Wir erkennen wesentliche Aspekte der Situation an der Widerständigkeit, die Veränderungsversuchen entgegengesetzt wird – oder auch nicht.
Ein so verstandener Prozess der Sozialarbeit ist eben nicht durch den aus
der Medizin bekannten Dreischritt Anamnese – Diagnose – Intervention gekennzeichnet, sondern die Anamnese ist schon Beratung, diagnostische Schritte sind bereits Interventionen und Interventionen treiben die Diagnose voran. Wir beobachten einen anspruchsvollen Prozess des Dialogs der PraktikerInnen mit den KlientInnen und deren Umfeld, der gesprächsförmig und eingreifend-organisierend ist. Interventionen werden dort angesetzt, wo sie jetzt möglich sind, mitunter auch mit nur vager Kenntnis des Gesamtzusammenhangs.
Diese Strategie ergibt sich durchaus logisch aus der berufsgeschichtlich ur-
sprünglichen Konzentration der Sozialarbeit auf die Diagnose. Und es ist eine arbeitsökonomisch sinnvolle Strategie. Das muss vor allem deswegen betont werden, weil die WortführerInnen der Verbetriebswirtschaftlichung der Sozialarbeit diese klassische Casework-Strategie als überholt und ineffizient brandmarken.
Psychotherapeutisierung als Komplexitätsflucht Ich habe diese Grundsituation jetzt ausführlich dargestellt, um zu zeigen, wie sich in der Sozialarbeit der Fokus von der Diagnose zum Prozess verschoben hat. Das ging so weit, dass der Begriff der Diagnose selbst aus dem sozialarbeiterischen Sprachgebrauch nahezu vollständig verschwunden ist. Das änderte aber nichts an den oben genannten Ausgangsbedingungen. Weder daran, dass sich die PraktikerInnen in ihren Interventionen an einer wie auch immer gearteten Lageeinschätzung orientieren mussten und müssen, nichts an den Problemen der Komplexität, der Dynamik und der Unbestimmbarkeit der Grenze zwischen Funktionieren und Nicht-Funktionieren. Diese Probleme mussten und müssen trotzdem bearbeitet, irgendwie gelöst werden. Nicht zu vergessen arbeiten SozialarbeiterInnen auch in Feldern, in denen auf Basis ihrer Situationseinschät-
Einleitung
zung mitunter weitreichende Entscheidungen getroffen werden, die in die Biografien von KlientInnen eingreifen und Chancen zuteilen oder verweigern. Als Beispiel mag dafür das Jugendamt gelten, aber eben nur als Beispiel, denn auch in anderen Arbeitsfeldern fungieren SozialarbeiterInnen als Gatekeeper für die Zuteilung von sozialen Chancen und Möglichkeiten. Ein vor allem am Prozess orientiertes berufliches Selbstverständnis konnte den PraktikerInnen keine ausreichende Hilfestellung geben, weder für die Gestaltung eines umweltbezogenen Interventionsprozesses noch für die fachliche Begründung klientenbezogener Entscheidungen. Dies begünstigte und begünstigt den Rückgriff auf diagnostische Modelle (und auf „diagnostische“ Verfahren unter Anführungszeichen), die dem Fach und dem Gegenstand wenig angemessen waren und sind.
Tatsächlich zeichnete und zeichnet sich eine klientenorientierte Sozialarbeit
dadurch aus, dass sie den schwierigen Prozess des Verstehens nicht durch frühzeitige persönlichkeits- oder störungsdiagnostische Festlegungen abkürzt und beendet. Wie ich in meiner Arbeit über das Krisenzentrum FIDUZ gezeigt habe, war der konsequente und aktive Verzicht der Fachkräfte auf eine prinzipiell bereitliegende, ja sich geradezu aufdrängende Störungsdiagnostik Voraussetzung für die erfolgreiche Fallbearbeitung. Erst dadurch, dass sie Kinder nicht als „hyperaktiv“, „verhaltensgestört“ usw. verstanden, sondern versuchten, den Sinn ihres Verhaltens aus dem situativen Kontext zu erschließen, eröffneten sich die entscheidenden Interventionsmöglichkeiten.
Oder anders gesagt : Erst dann, wenn die Probleme nicht primär in die Per-
sonen verortet werden, eröffnet sich das reiche Handlungsfeld der Sozialarbeit. Befunde über den körperlichen und psychischen Zustand der KlientInnen, die Medizin und Psychologie liefern, bezeichnen Rahmenbedingungen der Arbeit am Fall, so wie das juristische Expertisen über die rechtlichen Rahmenbedingungen tun.
Wenn ich nun den Verlust der diagnostischen Kompetenz der Sozialarbeit be-
klage, beklage ich nicht diese Verweigerung von Persönlichkeits- und Störungsdiagnostik. Im Gegenteil : In dem Maße, in dem Sozialarbeit sich ausschließlich auf den Prozess orientierte und eigene diagnostische Fähigkeiten nicht mehr als zentralen Teil beruflicher Kompetenz begriff, öffnete sie der medizinischen, psychiatrischen und psychologischen Diagnostik Tür und Tor, konnte diese nicht mehr durch eigene Leistungen ergänzen, relativieren, konterkarieren. In einem Gespräch mit den Ärzten eines multiprofessionellen Teams haben jene das so formuliert : Sozi-
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Einleitung
alarbeiterInnen scheinen immer nur die Position der KlientInnen zu verdoppeln. Sie werben um Verständnis für die KlientInnen und scheinen keine eigene Position zu haben. Oder sie können nicht nachvollziehbar begründen, wie sie zu ihren Einschätzungen, Empfehlungen und Entscheidungen kommen. Ihre Gutachten scheinen bestenfalls auf einem unkontrollierten Common Sense zu beruhen.
Keine Frage, dass in einer Praxislandschaft, die zunehmend von mehrprofessio-
neller Kooperation geprägt ist, eine solche Profession schlechte Karten hat – und zwar sowohl berufspolitisch als auch in fallbezogenen Entscheidungsprozessen.
Dieser traurige Zustand fachlicher Sprachlosigkeit wird nun von zumindest
zwei Seiten wirkungsvoll kritisiert.
1. Die Träger der Sozialen Arbeit, vor allem die Managementebenen, drängen
auf eine bessere Beschreibbarkeit und Steuerbarkeit der Sozialarbeit. Sie müssen zunehmend Leistungsbeschreibungen erstellen, um ihre Finanzierung zu sichern. Dabei ist ihnen eine Orientierung an von der Legislative und dem ministeriellen Beamtenapparat formulierten Zielen und Kennzahlen vorgegeben. Während die Medizin die Definitionsmacht darüber hat, was eine Krankheit ist und was nicht (wobei es in ihrem Interesse liegt, möglichst jede Normabweichung als Krankheit zu definieren), hat die Sozialarbeit nicht die Definitionsmacht darüber, was ein soziales → Problem ist. Die Definition eines sozialen Problems ist ein öffentlicher diskursiver Prozess, ein seinem Wesen und letztlich auch seiner Form nach politischer Prozess. Die Träger, denen eine stärkere Flexibilität bei der Erbringung von Dienstleistungen an die Politik abverlangt wird, verlangen diese Flexibilität und bessere Steuerbarkeit zunehmend auch von ihrem Personal. Über Produktbeschreibungen, ausgefeiltere Dokumentationssysteme und die genauere Definition von Abläufen soll die relative Offenheit der sozialarbeiterischen Beratungsund Betreuungsprozesse besser einer „verkaufbaren“ Darstellung, aber auch einer Steuerung durch Entscheidungen des Managements zugänglich gemacht werden. Definierte und überprüfbare Betreuungsziele, frühzeitige begründete Festlegungen auf einen gewünschten Verlauf des Prozesses und damit auch auf den zu erwartenden Mitteleinsatz sollen die überprüfbare Effizienz des Prozesses erhöhen. Damit wird der einseitigen Orientierung der Methodik auf ergebnisoffene und wenig vorhersagbare Prozesse der Kampf angesagt.
2. Ergänzend und alternativ dazu ist es ein aus nicht-professionellen Zusam-
menhängen importiertes Qualitätsverständnis, das ebenfalls auf beschreibbare immer gleiche Prozesse und vorweg definierte überprüfbare Zielsetzungen abhebt, das Sozialarbeit nicht mehr so weitermachen lässt, wie bisher.
Einleitung
Fatal ist diese Situation insofern, als der Sozialarbeit als Profession das Instru-
mentarium fehlt, um diesen Zumutungen auf der Basis eines eigenen, innerhalb der Profession als Standard erprobten und anerkannten Katalogs von Verfahren der Diagnose, der Prozessgestaltung, der Dokumentation und der Begutachtung zu begegnen. Die Administrationen und die Qualitätsmanager haben so die Möglichkeit, sich als jene darzustellen, die der Profession erst fachliche Standards beibringen. Und das ist nicht nur beschämend, sondern auch kontraproduktiv. Denn naturgemäß stehen bei deren strukturierenden Innovationen die Bedürfnisse der Administration im Vordergrund.
Ich widme mich in der vorliegenden Arbeit der Sozialen Diagnose, also den
diagnostischen Verfahren, die in sozialarbeiterischen Unterstützungsprozessen sinnvoll eingesetzt werden können, die den Prozess befördern, möglichst nicht stigmatisierend sind und die für den sozialarbeiterischen Handlungsraum relevante Sachverhalte erfassen. Welche das sein können, dazu werde ich noch ausführlich Stellung nehmen. Vorerst aber möchte ich beispielhaft auf einen Mangel hinweisen, der zeigt, wie hilflos die Sozialarbeit als Profession den administrativen Strukturierungen ausgesetzt ist :
Um präziser beschreiben zu können, welche diagnostischen Verfahren in
welchem Kontext sinnvoll angewendet werden können, hätte ich eine Terminologie gebraucht, die die verschiedenen Arbeitsformen der Einzelfallhilfe voneinander abgrenzt. Eine solche Terminologie gibt es nicht, ja es gibt nicht einmal einen Begriff, der jene ganz charakteristische Arbeitsform der Profession bezeichnet, die aus der Kombination von → Beratung mit netzwerkorientierten Interventionen in relevanten sozialen Umwelten besteht. Durch den Allerweltsbegriff der Betreuung ist diese Arbeitsform nur unzureichend charakterisiert, und Beratung ist offensichtlich nur ein Teil der Methode. In einer früheren Publikation habe ich hilflos und wahrscheinlich nicht ganz glücklich in diesem Zusammenhang den Begriff → Alltagsrekonstruktion geprägt und ihn von bloßer Beratung einerseits und → Alltagsbegleitung andererseits abgegrenzt. Natürlich wurde das von niemandem aufgegriffen. Das wäre zu verschmerzen, wenn sich eine andere Terminologie, die zumindest diese Unterscheidung erlaubt, durchgesetzt hätte. Davon kann aber keine Rede sein.
Für meine genannten Zwecke musste ich nun eine eigene Klassifizierung der
verschiedenen Interventionsformen der Einzelfallarbeit entwickeln, die wahrscheinlich eine ebenso unbeachtete insuläre Existenz fristen wird.
Fakt ist, dass die Profession als Profession sichtbar nicht funktioniert, weil
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Einleitung
es ihr nicht einmal gelingt, ihre eigenen grundlegenden Arbeitsformen differenziert mit Namen zu versehen – weshalb auch der methodische Diskurs sich eher an Modethemen abarbeitet und immer wieder seltsam zusammenhanglos erscheint.
Die Mittel, die den SozialarbeiterInnen zur fallbezogenen Entscheidungsfin-
dung zur Verfügung stehen, sind ebenso wenig bezeichnet und beschrieben, damit sind sie auch nicht diskutierbar. Bei aller Betonung der Notwendigkeit des offenen Dialogs mit den KlientInnen muss doch auch bedacht werden, dass ein Dialog ohne eigene Lageeinschätzung nicht geführt werden kann – und der Weg zur Entscheidungsfindung Nachvollziehbarkeit und eine gewisse Transparenz benötigt. Nur dann kann ein fachlicher Diskurs über gute und schlechte Entscheidungen geführt werden, nur dann besteht eine Chance, dass sozialarbeiterische Falleinschätzungen im interprofessionellen fallbezogenen Dialog bestehen können.
Ich bezeichne diese Verfahren, deren sich die Sozialarbeit bedienen kann, in
bewusster Anlehnung an die Pionierinnen der Sozialarbeitwissenschaft als Soziale Diagnose, weil m.E. damit jener Fokus bezeichnet wird, der sozialarbeiterische Diagnostik von medizinischer und psychologischer Diagnostik unterscheidet.
Angesichts der eingangs geschilderten Komplexität des Gegenstands ist es
eine Illusion anzunehmen, dass es ein Verfahren geben könnte, das zu „dem“ klassischen oder zentralen Verfahren der Sozialen Diagnose werden könnte. Alle Raster, alle Visualisierungen und Verfahren zur Ordnung von Daten können jeweils nur einen oder einige wenige Aspekte beleuchten. Die Entscheidung, wann welche Verfahren eingesetzt werden können und sollen, ist also wieder eine, die aus dem Prozess heraus zu treffen ist. Desgleichen werden Soziale Diagnosen den Prozess bzw. die daraufhin zu treffenden Interventionsentscheidungen nicht vollständig determinieren können.
Welche Anforderungen sind nun an eine neue Soziale Diagnose zu stellen ?
Ich nenne hier nur die zwei wichtigsten :
1. Ein Verfahren der Sozialen Diagnose muss einen Ausschnitt des Verhält-
nisses Mensch – soziales Umfeld erfassen und abbilden.
2. Es darf den Unterstützungsprozess selbst nicht behindern, sondern soll ihn
möglichst vorantreiben.
Diese beiden Voraussetzungen zu beachten heißt, Verfahren nicht nur nach
dem Erkenntnisgewinn für die ExpertInnen einzuschätzen, sondern auch da-
Einleitung
nach, welche Wirkungen ihre Anwendung bei den KlientInnen entfaltet und wie sie die Kommunikation zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn beeinflusst. Ich werde das bei den Beispielen andeutungsweise darstellen.
In der Sozialarbeit wurden in den letzten ca. 15 Jahren zunehmend Modelle
systematischer Erhebung und Bedürfniseinschätzung unter dem Titel „Assessment“ verwendet. Sie erheben den Anspruch, die Lebenslage der KlientInnen einigermaßen umfassend zu erfassen und auf Basis der Erhebung der Bedürfnisse eine Hilfeplanung zu ermöglichen. Das Assessment ist als erste Phase eines CaseManagement-Prozesses fixer Bestandteil dieses Arbeitskonzepts. Es kommt, wie Case Management generell, bei KlientInnen mit multiplen Problemlagen zum Einsatz.
Dieses Instrument ist sinnvoll, um eine bedürfnis- und lebenslagenangemes-
sene Konzertierung von Hilfen vornehmen zu können. Allerdings ist davor zu warnen, dass die Ansprüche an ein Assessment auch völlig überzogen werden können. In der i.d.R. nur relativ kurzen zur Verfügung stehenden Zeit am Beginn eines Unterstützungsprozesses ist es illusorisch, eine tatsächliche Gesamtbestandsaufnahme der Situation leisten zu können. Jedes Assessment ist notwendigerweise trotz seines und wegen seines umfassenden Anspruchs nur eine holzschnittartige Darstellung eines Geländes, das man nur vom Hörensagen kennt.
Diagnostische Verfahren haben m.E. zwei Funktionen zu erfüllen : In einem
ersten Schritt müssen sie durch ihre Konstruktion, durch die Logik und die Anforderungen des Verfahrens, zur Komplexitätsgewinnung beitragen, d.h., sie müssen der Erschließung nicht-naheliegender Informationen dienen. Sie leisten das i.d.R. dadurch, dass sie eine gewisse Systematik beinhalten, die quer zur Ablauflogik eines normalen Gesprächs oder der pragmatischen Alltagslogik liegt. In einem zweiten Schritt können dann aufgrund der so gewonnen strukturierten Datenlandschaft Entscheidungen getroffen werden – i.d.R. Entscheidungen über eine Interventionsstrategie.
Manchmal werden diese Entscheidungen Thematisierungsentscheidungen
sein – d.h., dass auf Basis der Diagnose entschieden wird, welche → Themen die SozialarbeiterInnen von sich aus in der Beratung fokussieren. Eine Funktion von Diagnosen kann man also als eine heuristische Funktion beschreiben : Die Diagnostik stellt eine Suchstrategie dar, die jenseits des Banalen und Offensichtlichen thematische Ansatzpunkte zu finden hilft. Oder andersrum : Die aufgrund der neutralen Struktur ihres Erhebungsduktus Banales erst wieder offensichtlich
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Einleitung
macht (so wie z.B. das in der Folge vorzustellende Inklusion-Chart in hoher Verdichtung einige wesentliche Elemente der Einbindung der KlientInnen in gesellschaftliche Funktionssysteme unabhängig vom präsentierten Problem erfasst).
In dieser Arbeit versuche ich mich mit den grundlegenden Fragen Sozialer
Diagnose auseinanderzusetzen – und werde trotzdem die Landschaft nicht völlig abschreiten können. Die meisten vorgestellten Diagnoseverfahren sind solche, die m.E. besonders geeignet sind, die Kultur der Diagnostik in der Sozialarbeit voranzubringen, wenn das eine oder andere vielleicht auch noch einer Weiterentwicklung bedarf. Die Zahl der Verfahren, mit denen ich mich hier nicht beschäftige, ist groß. Dazu gehören auch die hermeneutischen Verfahren, denen ich große Sympathie entgegenbringe und deren Brauchbarkeit ich hier nicht in Frage stellen will. Zu ihnen gibt es allerdings immerhin schon einige Literatur. Eine Auseinandersetzung mit ihnen vor dem Hintergrund meines in dieser Arbeit skizzierten Verständnisses von Sozialer Arbeit muss ich vorerst aufschieben, wie auch eine ausführlichere Beschäftigung mit der entscheidungsbegründenden Diagnostik in der Jugendhilfe.
2. Funktion und Fachlichkeit
Es ist kaum seriös möglich, sich mit methodischen Problemen der Sozialarbeit auseinanderzusetzen, ohne eine Erläuterung des eigenen Verständnisses der Funktion und Rolle der Sozialarbeit im gesellschaftlichen Gefüge und in Abgrenzung zu den benachbarten Professionen voranzustellen. In der Praxis versteht sich die Profession zwar selbst, sie hat sich im vergangenen Jahrhundert zahlreiche Handlungsfelder erobert und sich dort Arbeitsbereiche geschaffen. Das Bild, das Nachbarprofessionen von ihr haben, ist allerdings immer noch verwaschen – und auch die theoretische Selbstdefinition umstritten. Vor allem im deutschen Sprachraum hat die langjährige Dominanz der universitären Pädagogik (Sozialpädagogik) die Entwicklung eines eigenständigen theoretischen Selbstverständnisses der Profession behindert1.
Diesem Text über die Rolle der Diagnose im Arbeitsprozess der Sozialarbeit
müssen daher eine Reihe von Überlegungen zur Spezifik ebendieses Arbeitsprozesses und zu seiner Verknüpfung mit den Aufgaben anderer Professionen und gesellschaftlicher Funktionssysteme vorangestellt werden.
2.1 Die Frage nach dem Gegenstand der Sozialarbeit In den 1990er-Jahren wurde im Zusammenhang mit dem Desiderat des Aufbaus einer eigenständigen Sozialarbeitswissenschaft eine rege Diskussion über deren möglichen Gegenstand geführt.2 Für unsere Zwecke steht aber eine andere Frage
1 Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass Pädagogen wie C. Wolfgang Müller, Hans Thiersch, Bernd Dewe u.v.a. entscheidende theoretische Beiträge geleistet haben. 2 Zusammenfassend s. zum Beispiel Wendt 1994, Obrecht 1995, Merten 1995, Puhl 1996, Puhl u.a. 1997
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Funktion und Fachlichkeit
im Vordergrund, nämlich die nach dem „Gegenstand“ bzw. dem Aufmerksamkeitsfokus der Praxis der Sozialarbeit. Diese Frage ist aus zwei Gründen wichtig : 1. Die Zusammenarbeit in mehrprofessionellen Teams erfordert eine Differenzierung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ – d.h. zwischen den verschiedenen Gesichtspunkten, die die Professionen in den fallbezogenen Diskurs einbringen. Andernfalls stellt sich entweder eine harmonisierende Nivellierung nach unten her, oder aber wird eine informelle Hierarchie etabliert, die dem Wort von Professionen mit höherem Sozialprestige und besser inszenierter Selbstgewissheit deutlich größeres Gewicht beimisst. Der eigene fachliche Beitrag der Sozialarbeit bedarf also einer klaren Formulierung, sodass er auch nachvollziehbar zu den Beiträgen der anderen Professionen in Bezug gesetzt werden kann. 2. Die Dominanz medizinischer und psychologisierender Deutungen, die sich unter anderem in deren (vereinfachter und verballhornter) Übernahme in den Alltagsdiskurs zeigt, bedarf einer offensiven fachlichen Gegenstrategie, da die Sozialarbeit sonst ihre spezifische Qualität verliert und ihre Möglichkeiten systematisch unterschreitet. Meines Erachtens macht es wenig Sinn, die Identitätsprobleme der Sozialarbeit ihr schuldhaft anzulasten. Es muss einen guten Grund für sie geben, sonst wären sie wohl schon längst bereinigt. Ich vermute, dass dieser Grund in ihrer Eigenart liegt, d.h., dass die genaue Beschreibung und Untersuchung der Identitätsprobleme der Weg ist, die fachliche Identität der Profession zu finden.3
Es wurden bereits eine Reihe von Leitideen für die sozialarbeiterische Praxis
entwickelt, die einerseits das Spezifische dieser Praxis zu beschreiben versuchten, andererseits diese Leitidee der Praxis dann auch normativ vorgaben. Während z.B. Hans Thiersch Alltag (1986) und Lebensweltorientierung (1992) vorschlug, Silvia Staub-Bernasconi den sozialen Austausch (1986), Wolf Rainer Wendt eine sozialökologische Betrachtungsweise (1990) und schließlich Dirk Baecker wieder einmal Hilfe/Nichthilfe (1994), ist für die Funktionsbestimmung einer Profession diese Vielfalt durchaus kontraproduktiv. So, als wäre es in der Medizin strittig, ob diese sich um den Körper und sein Funktionieren zu kümmern habe. 3 Einen solchen Weg ging Bardmann (2001), der die „Eigenschaftslosigkeit“ der Sozialarbeit als Vorzug zuschrieb.
Die Frage nach dem Gegenstand der Sozialarbeit
Ich habe mich in früheren Texten (z.B. Pantucek 1996 und 1998a) für die Op-
tion „Alltag“ bzw. nichtfunktionierender Alltag entschieden. Das hatte seinen guten Grund : Eine Reihe von Spezifika der sozialarbeiterischen Berufstätigkeit lassen sich aus dieser Sichtweise sehr gut erklären und ich werde in der Folge auf diese Argumentationen noch mehrfach zurückgreifen. Ich bin allerdings zusehends skeptisch, ob eine so einfache und plakative „Gegenstandsbestimmung“ überhaupt möglich und sinnvoll ist.4 Sozialarbeit hat sich nicht in erster Linie als Forschungsbereich etabliert. Sie ist nicht entstanden, weil ein Gegenstand vorlag, der der Untersuchung bedurfte. Sozialarbeit entstand als praktische Antwort auf Probleme des Wohlfahrtswesens. Ihre wissenschaftliche Fundierung wurde erst in einem zweiten Schritt angegangen. Zuerst war die Arbeit, dann erst die Frage, was man da eigentlich tut – und so klar ist dieses Tun bis heute nicht, obwohl klar zu sein scheint, was man dafür alles wissen muss : Die Ähnlichkeit der Curricula der Sozialarbeitsstudiengänge weltweit spricht hier eine deutliche Sprache. Klar ist auch, dass sich Sozialarbeit in einem höchst interessanten intermediären Bereich angesiedelt hat, einem Bereich, der gleichermaßen Fragen des Rechts, der Ethik, der Psychologie, der Kognitionswissenschaften, der Psychotherapie, der Medizin, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Pädagogik, der Philosophie, der Ethnologie und Sozialanthropologie sowie der Ökonomie berührt und sie mit den praktischen Fragen des Alltagslebens verbindet. Zu einem Verständnis der Bedingungen und Möglichkeiten sozialarbeiterischer Interventionen, die auf die Beeinflussung sozialer Situationen zielen, sind weiters die Entscheidungslehre, die Spieltheorie und sogar die Militärtheorie von Interesse, die sich mit den Problemen des Entscheidens in komplexen, dynamischen und nicht-deterministischen Environments befassen.
Mitunter mag das zu unbescheidenen Versuchen der wissenschaftlich an So-
zialarbeit Interessierten führen, an „der“ interdisziplinären Theorie zu basteln. Die Ergebnisse wirken dann nicht besonders elegant und können es auch nicht sein. Sozialarbeiterische PraktikerInnen spielen sich aus gutem Grund nicht als ExpertInnen des guten Lebens auf – ganz im Gegensatz zu den Anbietern auf dem Esoterik- und Wellnessmarkt bzw. einem Teil der Anbieter auf dem Psy-
4 Reto Eugster (1996, o.P.) zitiert Abraham Flexner, der bereits 1915 beklagte, die Sozialarbeit verfüge nicht über einen eigenen Kompetenzbereich. Sie sei Vermittlungstätigkeit in dem Sinne, dass „Leute nach Untersuchung und Analyse ihres Problems an die richtige Stelle“ geführt würden (zitiert nach Wendt 1990a : 239).
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Funktion und Fachlichkeit
chomarkt.5 Die PraktikerInnen müssten sonst nämlich ihre größte professionelle Stärke aufgeben, ihre Offenheit für Lebensweisen und Sichtweisen, ihre Offenheit für von ihren KlientInnen und deren lebensweltlich Anderen eingebrachten Themen (solange diese Themen mit Alltagsbewältigung zu tun haben). Ähnlich geht es den Versuchen, der Sozialarbeitswissenschaft theoretisch einen Ort zuzuweisen, einen Gegenstand, der von der sozialarbeiterischen Praxis deutlich unterschieden ist, seien es auch „Soziale Probleme“.
Meines Erachtens bleiben auch für eine zu entwickelnde und auszubauende
Sozialarbeitswissenschaft die Merkmale der sozialarbeiterischen Praxis und ihrer Themenwahl eine gute Leitschnur : Es geht um die Bearbeitung einiger Widersprüche organisierter Hilfe in Gesellschaften einer modernen und sich zunehmend globalisierenden Welt. Diese Widersprüche seien hier beispielhaft aufgezählt : • Der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Standardisierung von Programmen zur Bearbeitung sozialer Probleme6 einerseits und der individuellen, lebensweltlichen und hochkomplexen Logik von Problemen der Lebensführung andererseits. • Die doppelte Verpflichtung von organisierter Hilfe gegenüber den AdressatInnen einerseits und der Gesellschaft (repräsentiert durch die GeldgeberInnen) andererseits. • Der Widerspruch zwischen Hilfe und sozialer Kontrolle. • Der Widerspruch zwischen der Eigendynamik und Eigenlogik des Unterstützungsprozesses und der Eigendynamik und Eigenlogik der Lebensführung der KlientInnen/AdressatInnen. • Der Widerspruch zwischen der Abhängigkeit, die durch Hilfe erzeugt wird, und dem Postulat der Förderung der Autonomie. • etc.
5 Zur Funktion dieser Märkte und ihrem Verhältnis zum Sozialwesen s. Pantucek 2003a : 5ff. 6 Ich erspare mir, den Terminus „soziale Probleme“ stets unter Anführungszeichen zu setzen. Meine sozialkonstruktivistische Sicht erläutere ich ohnehin im nächsten Unterkapitel. Hier mag der Hinweis genügen, dass ich eine essenzialistische Sicht, also den Glauben, so etwas wie soziale Probleme gebe es unabhängig von BeobachterInnen und es müssten nur die ExpertInnen kommen, um sie zu diagnostizieren, man könne sie also unter Absehung vom politischen Diskurs „objektiv“ feststellen und beschreiben, für gelinde gesagt naiv halte.
Die Frage nach dem Gegenstand der Sozialarbeit
Ich halte das Potenzial einer Sozialarbeitswissenschaft, die sich auf die Untersuchung und Bearbeitung dieser Widersprüche konzentriert, für groß. Die genannten Widersprüche sind m.E. nicht in Harmonie auflösbar, sondern sind die Grundbedingungen der Branche, der Sozialarbeit im Speziellen und organisierter Hilfe im Allgemeinen.
Ich will das kurz erläutern : Organisierte Hilfe ist nicht nur zu einem in Wohl-
fahrtsstaaten bedeutenden Sektor der Politik und zu einem ökonomischen Faktor geworden, sondern internationalisiert sich zusehends. Entwicklungszusammenarbeit, die Katastropheneinsätze der internationalen Hilfsorganisationen (Rotes Kreuz, Care International, Caritas usw. usf.), aber auch Einsätze zur Konfliktregelung und zum Wiederaufbau zerstörter staatlicher Strukturen stellen inzwischen einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor dar. Die hier genannten Organisationen und Programme stehen bei der Realisierung ihrer Aufgaben vor genau jenen Problemen und Widersprüchen, die oben als konstituierend für die Sozialarbeit beschrieben wurden. Eine Sozialarbeitswissenschaft als Wissenschaft von der organisierten Hilfe hätte hier ein weites Betätigungsfeld, müsste allerdings auch die Rezeption von empirischer und theoretischer Literatur wesentlich erweitern bzw. verlagern. Eine stärkere Annäherung an Politikwissenschaft und Sozialanthropologie wäre die Folge.
Die Sehnsucht nach einem zu untersuchenden „Substrat“ mag verständlich
sein, produktiv ist sie nicht, und durch das dafür nötige Ignorieren der Entwicklungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften der letzten Jahrzehnte (Strukturalismus, Konstruktivismus, Sozialkonstruktivismus, Postmoderne, moderne Systemtheorie) wirkt sie auch hoffnungslos antiquiert – ausgenommen vielleicht für jene, die ihre Rezeption sozialwissenschaftlicher Literatur auf das enge fachliche Feld beschränken.
Doch wenden wir uns nun wieder, wie angekündigt, der sozialarbeiterischen
Praxis zu, nicht der entstehenden Sozialarbeitswissenschaft. Diese Praxis ist auch in ihrem Selbstbild eine prekäre Praxis, eine, die sich ihrer selbst nie ganz sicher sein kann und die in den Beschreibungen dessen, was ist, also in den Beschreibungen ihrer Fälle und der Probleme, die zu lösen anstehen, von Unsicherheit geprägt und auf Fremddefinitionen systematisch angewiesen zu sein scheint. Man könnte sagen, dass SozialarbeiterInnen dadurch zu erkennen sind, dass sie nie genau wissen, was zu tun ist.
Das mag nun eine karikaturhafte Zuspitzung sein und stimmt so natürlich
nicht immer, aber es stimmt oft, und die Unsicherheit über den eigenen Gegen-
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Funktion und Fachlichkeit
stand und die eigene Vorgangsweise sind m.E. konstituierende Merkmale guter Sozialarbeit : Sie sind eine adäquate Reaktion auf die Widersprüchlichkeit der Auftragslage, auf die Komplexität der zu bearbeitenden Situationen und auf die intermediäre Position der Fachkräfte.
2.2 Die Konstituierung „sozialer Probleme“ In diesem Kapitel gehe ich der Frage nach, wie sich ein „Fall“ für die Sozialarbeit konstituiert. Es wird zu zeigen sein, dass das Werden eines „Falles“ voraussetzungsreich ist und zentrale Auswirkungen auf Gegenstand, Handlungsmöglichkeiten und die spezifische Ausformung von Fachlichkeit der Sozialarbeit hat und letztlich die Möglichkeiten, Grenzen und Formen der Diagnostik bestimmt.
Ich folge in der Darstellung des Problemkonstituierungsprozesses der sozial-
konstruktivistischen Sicht von Nikolaus Sidler (1999), vereinfache hier allerdings die Darstellung des Prozesses radikal. Mir ist es in erster Linie darum zu tun, die Verwobenheit der Sozialarbeit in politische Definitionsprozesse deutlich zu machen und in der Folge die Notwendigkeit einer relativen Selbstständigkeit der Sozialarbeit aus ihrer Stellung in diesem Prozess zu erklären. Rahmenbedingungen von Diagnostik sollen so sichtbar und ein allzu naives Verständnis diagnostischer Aufgaben vermieden werden.7
Die unten stehende Grafik 1 stellt den Prozess der Transformation individu-
eller Schwierigkeiten über die Sphäre des Politischen in „Soziale Probleme“ dar. Die Kategorie des „gestörten Alltags“ lässt dabei den Inhalt dieser „Störung“ aus gutem Grund weitgehend offen. Es kann sich sowohl um Probleme der eigenen Lebensbewältigung handeln als auch um das bloße „Gestörtsein“ durch den Anblick von anderen und ihrem Erscheinungsbild.
7 In der sozialarbeitswissenschaftlichen Diskussion wird von Obrecht (2002) auch eine essenzialistische Sicht sozialer Probleme vertreten, die auf einer (nach Eigendefinition) „elementaristisch-systemischen“ Sicht beruht. Ich halte diesen Ansatz für wenig produktiv, ja für ausgesprochen fragwürdig in seinen Konsequenzen. Ich werde auf ihn nur an wenigen Stellen und dann eher polemisch eingehen, ohne ihn allerdings einer gründlichen Betrachtung zu unterziehen.
Die Konstituierung „sozialer Probleme“
Grafik 1 : Konstituierung gesellschaftlicher Bearbeitung „sozialer Probleme“
Beispiel A : Die Lage von Roma/Romni wird von Angehörigen dieser Ethnie/ Gruppe als Resultat von Diskriminierung definiert und via Organisationen und Skandalisierungsstrategien in den öffentlichen Diskurs eingebracht. Beispiel B : BewohnerInnen einer Wohnanlage fühlen, sich durch Jugendliche, die sich im Hof treffen, durch den Lärm, den sie machen und durch herumliegende Bierflaschen gestört. Sie kontaktieren einen Bezirkspolitiker. Beispiel C : MitarbeiterInnen einer humanitären Organisation sorgen sich um die Lage „illegal“ in Österreich aufhältiger Personen, die diese Organisation auf der Suche nach Hilfe in großer Zahl kontaktieren und damit den „Normalbetrieb“ empfindlich stören. Sie kontaktieren Journalisten. Dieser erste Schritt erfordert i.d.R., das Problem nicht als individuelles, sondern als soziales zu beschreiben : Es muss eine relevante Zahl von Personen betreffen und es muss so formuliert werden, dass damit eine Handlungsaufforderung an die Gesellschaft (Politik) enthalten ist. Für Letzteres sind Verweise auf Werte und Normen der Gesellschaft sinnvoll.
Mit dem Einspeisen der ersten → Problemdefinition in den öffentlichen Dis-
kurs (oder direkt in die Sphäre der politischen Entscheidungen wie im Beispiel
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Funktion und Fachlichkeit
B) wird riskiert, dass sich auch andere gesellschaftliche Akteure zu Wort melden und mitunter grob differierende Sichten lancieren. Wie für die politische Sphäre charakteristisch, spielen hier Machtfragen eine herausragende Rolle.
Im Rahmen des politischen Entscheidungsprozesses kann ein einmal im öf-
fentlichen Diskurs als Thema etabliertes „soziales Problem“ mit Entscheidungen beantwortet werden. Es steht ein Spektrum möglicher Maßnahmen zur Verfügung, das von Repression über Änderungen im rein rechtlichen Rahmen bis zur Etablierung (Veränderung, Ausweitung) von Sozialprogrammen reicht.8 Beispiel A : Roma/Romni Variante 1 : Die Probleme werden der mangelnden Anpassungsbereitschaft der Roma/Romni zugeschrieben und sie werden nach Inspektionen durch das Gesundheitsamt aus ihren Siedlungen vertrieben.9 Variante 2 : Anerkennung der Roma/Romni als Minderheit und Aufnahme in den Minderheitenbeirat. Variante 3 : Förderprogramme im Schulbereich für Roma-Kinder. Beispiel B : Jugendliche Variante 1 : verstärkte Polizeikontrollen im Wohnblock. Variante 3 : Einsatz von StreetworkerInnen. Beispiel C : Illegale Variante 1 : Verschärfung der Abschiebungspraxis. Variante 2 : Legalisierung des Aufenthalts. Variante 3 : Bereitstellung eines Fonds zur Verfügung von Einrichtungen mit Betroffenenkontakt.
8 Möglich ist selbstverständlich auch der kurze Weg der klassischen bürgerlichen Wohltätigkeit : Ohne Umweg über staatliche/politische Entscheidungsinstanzen wird – ev. mithilfe einer eigens dafür gegründeten Organisation – ein wohltätiges Programm installiert. Zahlreiche NGOs oder „freie Träger“ des Sozialwesens sind so entstanden. Diese Unabhängigkeit relativiert sich allerdings dadurch, dass diese Organisationen für ihren Betrieb auch staatliche Gelder lukrieren, letztlich auf einem Markt agieren, der durch staatliche Entscheidungen und die Konjunktur von Themen auf dem Spendermarkt bestimmt ist. Auch ihre Problemkonstruktionen finden in einer sozialen/politischen (zivilgesellschaftlichen) Sphäre statt, nicht in einer fachlichen. 9 In einer tschechischen Stadt wurde eine Mauer zur Trennung der tschechischen von der Roma-Siedlung errichtet.
Die Konstituierung des „Falls“
Wie sich anhand unserer Beispiele zeigt, ist die Beantwortung eines nunmehr konstruierten „sozialen Problems“ mit dem Modus der Hilfe nicht unbedingt die für die Betroffenen günstigste Form. I.d.R. ist sie zwar der reinen Repression vorzuziehen, allerdings kann die Veränderung des rechtlichen Status durchaus grundlegendere Vorteile bieten. Vor allem bei Beispiel C wird das deutlich.
Die Varianten Repression/Recht/Hilfe sind in der sozialen Wirklichkeit kei-
neswegs klar voneinander abgegrenzt. Hilfsprogramme können repressive Elemente enthalten, Repression enthält mitunter Hilfeelemente und die Änderung der Rechtslage kann sowohl repressive wie unterstützende Intentionen verfolgen und Wirkungen entfalten. Viele politische Problembearbeitungsprogramme enthalten außerdem einen Mix von Repression, „neutralen“ Regelungen und Hilfe, beteilen Institutionen des Zwangsapparats, des Zivilrechts, der Verwaltung und des Sozialwesens mit Aufgaben.10
Die Möglichkeiten der Problembearbeitung werden durch die vorher im öf-
fentlichen Diskurs geformten Problemdefinitionen wesentlich vorbestimmt. Der Diskurs (und die Machtstruktur im Diskursforum) bestimmt, wo das Problem lokalisiert wird, und bestimmt die Reichweite der Problemdefinition, damit auch möglicher reaktiver Maßnahmen. Im Beispiel B entscheidet z.B. der Diskurs (die Machtstruktur), ob das Auftreten der Jugendlichen oder die Empfindlichkeit der Erwachsenen als Problem „behandelt“ zu werden hat.
2.3 Die Konstituierung des „Falls“ Durch die Institutionalisierung der Problembearbeitung sind wir wieder im Mikrobereich angelangt. Es muss der konkrete Fall bearbeitet werden, und wenn man Sidler folgt, geschieht das durch die Konstruktion von „Routinefällen“. Die entscheidende Rolle der ExpertInnen liege in der Diagnose, also in der Entscheidung, dass es sich um einen „Fall von …“11 handle. Die ExpertInnen schätzen also 10 Man denke etwa an die Problemkarriere des Themas „Gewalt gegen Frauen“ im Österreich der 90er-Jahre, die in ein Maßnahmenpaket mündete, das zivilrechtliche Regelungen wie das Wegweisungsrecht mit polizeilichen Aufgaben und der Einrichtung von sog. Interventionsstellen kombinierte. 11 Der Terminus „Fall von …“ bzw. „Fall für …“ und „Fall mit …“ wurde von Burkhard Müller (1993) eingeführt, um die verschiedenen Aspekte und Referenzen von Fallkonstruktionen (Kategorien, Organisation, KlientIn) zu verdeutlichen.
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Funktion und Fachlichkeit
einen konkreten Anlass, ein Anliegen, eine Person als „Fall für …“ ein bestimmtes Bearbeitungsprogramm ein. Dort könne es dann routinemäßig bearbeitet werden.
Die folgende Grafik veranschaulicht dieses Verständnis.
Schematische Darstellung des Verlaufs der Fall-Konstitution I. Aspekte der Fall-Konstitution
II. Beteiligte/Akteure der Fall-Konstitution
1. Problemanmeldung • Auslösende Situation – Formulierung eines persönlichen Problems • tentative Schaffung des Fall-Tatbestands • Eingrenzung des Problemfelds/Rahmung • Interpretation mittels bestimmter Skripte • tentative Problematisierung des Fall-Tatbestands mittels bestimmter Standards • Subsumption des Tatbestands unter einen bestimmten Problemtyp • Adressierung bestimmter typspezifischer Experten • Forderung bestimmter typspezifischer Reaktionen
1. Problemanmelder • Laien • Fremd-Experten • Experten
2. Problementscheidung 2. Problementscheider • Bindender Beschluß über das Vorliegen • Diagnose-Experten des Fall-Tatbestands • Eingrenzung des Problemfelds/Rahmung • Interpretation mittels bestimmter Skripte • Bindende Problematisierung des Fall-Tatbestands mittels bestimmter Standards • Verbindliche Subsumption des Tatbestands unter einen bestimmten Problemtyp – „Diagnose“ • Verbindlicher Beschluß zur Reaktion • Übernahme zur Eigenberarbeitung oder • Überweisung an weitere Experten • Festsetzung bestimmter typspezifischer Reaktionen Grafik 2 : entnommen Sidler (1999 : 192)
Die Konstituierung des „Falls“
Ich werde für die Rolle der Sozialarbeit diese Analyse allerdings in Frage stellen : M.E. besteht ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende Teil des professionsspezifischen Könnens ganz offensichtlich darin, mit Fällen zu arbeiten, die sich nicht routinisieren lassen. Dazu später mehr.
Sidlers Analyse bricht dort ab, wo es für die Sozialarbeit erst interessant wird,
nämlich bei der spezifischen Rolle, die diese Profession12 im Sozialwesen spielt, was denn nun genau ihr Arbeitsbereich und ihre zentralen Themen sind.
Meines Erachtens bleibt Sidler hier einem Teilaspekt der Fallkonstituierung
verhaftet. Die Feststellung, dass es sich um einen „Fall von Arbeitslosigkeit, Verschuldung etc.“ handle, ist zwar eine notwendige Operation des Unterstützungsprozesses, aber eher eine der banalen und keineswegs eine, die den Bearbeitungsprozess in der Folge determiniert. Diese Definition wird benötigt, um Anschluss an Hilfsprogramme zu finden und um sie für die KlientInnen zugänglich zu machen.
Eine der Eigenarten sozialarbeiterischer Unterstützungsprozesse ist die Ab-
senz von so etwas wie „Krankheit“, von einem abgrenzbaren und identifizierbaren „Gegner“, der bekämpft werden könnte, den man gut kennenlernen und gegen den man Strategien entwickeln könnte. Es ist nicht Aufgabe der Sozialen Arbeit, Gegner wie „Obdachlosigkeit“ zu bekämpfen, sondern das ist Aufgabe der Politik und von Sozialprogrammen.
Die professionelle Kernkompetenz von Sozialer Arbeit, also von Sozialarbeit
und Sozialpädagogik, ist die hoch individualisierte Behandlung des Falles bzw. jener Fälle, bei denen standardisierte Sozialprogramme eben nicht greifen. Die Bearbeitung jener Aspekte und Probleme, die nicht standardisierbar sind, und der Probleme, die erst durch die Standardisierung entstehen.
Dafür hat sie eine Technologie der Individualisierung entwickelt, eine Kon-
zentration auf den Prozess der Bearbeitung, auf die Beziehung, das Gespräch, auf den Anschluss an die subjektiven Einschätzungen und Gefühle der Klienten. Alles, was ihr helfen soll, diese Arbeit besser zu machen, muss, bezogen auf diesen Prozess, sinnvoll, muss an den Prozess anschlussfähig sein. Es darf den Prozess grob strukturieren, ihm aber nicht die Flexibilität nehmen, muss Umwege
12 Die Frage, ob Sozialarbeit eine Profession ist, ist durchaus umstritten. Meine eigene (eher pragmatische und weniger an Professionstheorien orientierte) Einschätzung wird in der Folge noch zu lesen sein. Exemplarisch für die Debatte mögen stehen Dewe 1996, Ferchhoff/Kurtz 1998, Merten 1994, Rauschenbach 1993.
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erlauben. Das Begehen dieser Umwege ist kein Zeichen des Misserfolgs, sondern des notwendigen und manchmal aufwändigen Suchens nach möglichen Wegen des Erfolgs.
Wir erleben heute die paradoxe Situation, dass manche der großen Arbeitgeber
Sozialer Arbeit den Traum der Standardisierung träumen und ihn durchzusetzen versuchen. Dieser Versuch ist geeignet, die Kernkompetenz der Sozialen Arbeit zu zerstören, die Individualisierung. Sie betrachten das, was die Soziale Arbeit an professionellem Wissen in den letzten hundert Jahren erarbeitet hat, als Irrweg.
Der sozialarbeiterische Fall wird konstruiert als individualiserter Fall, der sich
erst dann zu einer sozialarbeiterischen Behandlung eignet, wenn er sich eben nicht widerstandslos in eine Klassifizierung schmiegt. Es ist die Differenz, die konkrete Komplexität, die erst Ansatzmöglichkeiten für die methodische Kunst der Sozialarbeit bietet. Nicht ohne Grund hat schon Felix Biestek (1970) in seinem damals breit rezipierten Buch zur Methodik der helfenden Beziehung die Individualisierung als erstes Prinzip des Case Work benannt und ausführlich begründet.
2.4 Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung Ich werde nun versuchen, aufbauend auf das vorab skizzierte Szenario mein Verständnis der Rolle der Sozialarbeit zu elaborieren. Dies wird in der Folge als Rahmen für ein Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen professioneller sozialarbeiterischer Diagnostik zu dienen haben.
Es lohnt sich, für eine Analyse der Funktion der Profession im Sozialwesen
an die Anfänge beruflicher Sozialarbeit zurückzublicken. Mary Richmond, deren Buch „Social Diagnosis“ (1917) allgemein als erstes Werk gilt, das für den ganzen Beruf ein verbindliches Lehrwerk war (vgl. Wendt 1999), war Vertreterin der Charity Organisation Societies (COS)13. Das Angebot dieser Societies war letztlich, die Effektivität des Mitteleinsatzes in der Wohlfahrt zu vergrößern. Durch die Diagnose des Einzelfalls, die v.a. in Hausbesuchen und „freundlichen“ Gesprächen über Leben und Lebensführung bestand, sollte geklärt werden, der Einsatz welcher Hilfsmittel tatsächlich hilfreich sein könnte. Die Mitarbeiterinnen der COS waren nicht jene, die selbst Almosen verteilten. 13 Vgl. dazu Müller 1988, Pantucek 1998.
Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung
Das angebotene ExpertInnentum bestand also in der Herstellung einer „Pas-
sung“ zwischen Hilfsprogramm und Einzelnem. Das berufliche Wissen muss sich dementsprechend sowohl auf eine Kenntnis der Hilfsprogramme bzw. der gesellschaftlichen/staatlichen Rahmenbedingungen, als auch auf die Fähigkeit zum Erkennen des Besonderen des Einzelfalls erstrecken.14
Daraus leiten sich logisch einige Entwicklungslinien sozialarbeiterischer Pro-
fessionsentwicklung ab : Um die „Vermittlerrolle“ zwischen Staat/Programm und Einzelnem wahrnehmen zu können, bedarf es einer Technologie des Zugangs zur Lebenswirklichkeit der KlientInnen. Diese ist gesprächsförmig und muss die „Beziehung“ im Blick haben und einer bewussten Gestaltung zugänglich machen. Anders wären Informationen über die Fallspezifik nicht zu erhalten. Der Anspruch, eine „Passung“ zwischen Programm und wirklichem (Alltags-) Leben der AdressatInnen zu erreichen, kann nur eingelöst werden, wenn zumindest in der Erhebungsphase die Haltung der Professionellen eine „offene“ ist, also diese Passung nicht als gegeben angenommen wird. Ein gewisses Maß an Professionalisierung ist unerlässlich, um die zur Erfüllung der Aufgabe nötige relative Selbstständigkeit gegenüber dem institutionellen Auftraggeber, gegenüber Politik und Verwaltung bzw. den geldverteilenden Wohlfahrtsorganisationen zu erlangen. Die zentralen Medien dieser beruflichen Selbstständigkeit sind o berufliche Ausbildungsgänge, o eine eigene „Berufskultur“,
o berufliche kommunikative Zusammenhänge (Teams, Verbände, Zeitschriften, Konferenzen etc.).
14 Alexander Redlich, schreibend über psychologische Beratung, definiert diese als „Vermittlung zwischen dem System, das ein Problem hat, und möglichen Hilfesystemen“ (1997 : 152f.). Mir erscheint dies allerdings als späte Aneignung sozialarbeiterischer Aufgaben und Zielbestimmungen durch die Nachbarprofession, wenn man also so will : als Zeichen des Erfolgs eines genuin sozialarbeiterischen Konzepts. Hans Thiersch weist im selben Band darauf hin, dass vorgeblich neu entwickelte Konzepte auch des therapeutischen Bereichs „allgemeinen Regeln des helfenden Gesprächs und der Therapie entsprechen, wie sie durch die Jahrhunderte hindurch in immer neuen Formen konkretisiert und praktiziert wurden“ (1997 : 108).
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Gehen wir von dieser Basistätigkeit der Sozialarbeit aus, über Individualisierung mittels einer Technologie der Annäherung an die → Lebenswelten der KlientInnen „Passung“ und Wirksamkeit der Programme zu sichern, so fallen wie selbstverständlich einige „Nebenprodukte“ an : Das Gespräch, vorerst ein Mittel der Annäherung und Erhebung, erweist sich, gut eingesetzt, selbst als hilfreich. Die Unterstützung kann von der (offen gehaltenen und „einfühlsamen“) Erhebung gar nicht exakt abgegrenzt werden. Aus der Technologie der Annäherung und Erhebung wird eine der Hilfe durch Beziehung selbst.15 Zum Wissen über die Wohlfahrtsprogramme und eines über die Lebenswelten der Adressaten muss Stück für Stück auch ein allgemeines Wissen über die Bedingungen und Möglichkeiten der Wirksamkeit organisierter Hilfen treten. Als Teil sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebildung und praxisrelevanten Berufswissens erscheint also bald eine „Theorie der Hilfe“. Die Hinwendung zum Einzelfall16, einmal als Kern sozialarbeiterischer Professionalität erkannt, erfordert den entschiedenen Widerstand gegen durchgängige Standardisierung : Wenn nicht eine nennenswerte Zahl von Einzelfällen die Sinnhaftigkeit eines standardisierten Programms in Frage stellen würde, wäre die spezifische Leistung der Profession nicht erforderlich.17 Der Gang zu den KlientInnen (bei den Hausbesuchen der COS buchstäblich) bringt einen Perspektivenwechsel. Dieser Perspektivenwechsel wird – positiv wie negativ – zum Markenzeichen der Profession. Die gleichzeitige Verpflichtung gegenüber dem Programm/der Institution schafft eine Position
15 In der Professionsgeschichte wird das durch die Casework-Schulen repräsentiert. Exemplarisch für jenes Verständnis der Beziehungstechnologie Biestek 1970. 16 Zum „Fall“-Verständnis später noch mehr. Vorerst sei hier festgehalten, dass mit „Fall“ nicht eine Person gemeint ist, sondern ein möglicher „Anwendungsfall“ eines Problembearbeitungsprogramms, also eine soziale Situation. 17 Tatsächlich gibt es eine Reihe von Programmen der Prozessierung bzw. Lösung sozialer Probleme, die aufgrund ihrer Ausrichtung, ihres Zwecks, ihres Konzepts und ihrer Form eher den Charakter selbstverständlicher gesellschaftlicher Infrastruktur annehmen, z.B. das Kindergeld, gewisse Leistungen der Sozialversicherung etc. : Der Zugang zu den Leistungen ist eindeutig geregelt und sie können ohne Begründungszwang in Anspruch genommen werden wie andere öffentliche infrastrukturelle Leistungen, z.B. Straßen. Professionelle Sozialarbeit spielt für diese Programme nur eine marginale Rolle.
Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung
der Mehrdeutigkeit oder auch der mehrseitigen Verpflichtung, die in der Ideen-, Methoden- und Theoriegeschichte der Sozialarbeit immer wieder thematisiert wurde.18 Die Positionierung zwischen gesellschaftlichen Problemdefinitionen und Problembearbeitungsprogrammen einerseits und den Einzelfällen andererseits bringt eine GutachterInnenfunktion gegen „oben“, eine Orientierungs- und WegweiserInnenfunktion gegen „unten“. Diese Funktion kann auch als wechselseitige ÜbersetzerInnenfunktion beschrieben werden. Im Ergebnis steht dann als Anlassfall der Intervention der Sozialarbeit „die Belastung eines individuellen Klienten innerhalb eines konkreten soziokulturellen Lebenszusammenhangs mit einem Problem, das sich einerseits als existenziell erweist und das andererseits mit den verfügbaren (alltäglichen) Wissensbeständen eben dieses Klienten nicht (mehr) gelöst werden kann“ (Merten 2000 : 407 unter Hinweis auf Combe/Helsper 1996 : 21). Die autonome Lebenspraxis, durch das → Problem beeinträchtigt, soll durch die Intervention der Sozialarbeit (wieder)
hergestellt werden. Im Ergebnis wäre der Klient bzw. die Klientin also wieder mündiger → Bürger, mündige Bürgerin.
Sozialarbeit zeichnet sich durch ihre Kopplung mit dem gesellschaftlichen Sys-
tem der Reaktion auf „soziale Probleme“ ebenso aus wie dadurch, dass → „Beratung“ bloß eine ihrer Techniken ist.19 Sie unterscheidet sich damit von bloßer Beratung, für die gilt : „In gewisser Hinsicht wird die Kommunikation … entmaterialisiert, d.h. von den praktischen Handlungsmöglichkeiten abgetrennt, auf die bezogen psychosoziale Alltagskommunikation ihre Glaubwürdigkeit erhält. Die dadurch symbolisch(er) gewordene Kommunikation kann nur noch durch das, was in der Gesprächssituation selbst vor sich geht, Vertrauen herstellen. Der psychische Teil psychosozialer Kommunikation erhält dadurch größeres Gewicht. Die … Tendenz zur Psychologisierung, die psychosozialer Beratung inhärent ist, hat in dieser strukturellen Bedingung ihre Basis.“ (Großmaß 1997 : 129f.)
Es dürfte deutlich geworden sein, dass ich das Ziel der Wiederherstellung
autonomer Lebenspraxis, das ich an anderer Stelle etwas nüchterner als „Wie-
18 Z.B. als „doppeltes Mandat“ (vgl. Pantucek 1998 : 85f.) oder als „Schmuddeligkeit“ und „Eigenschaftslosigkeit“ (Bardmann 2001), positiv als „Multiperspektivität“ (Müller 1993). 19 Vgl. dazu z.B. meine Ausführungen zu den „3 Intensitäten“ der Individualhilfe (Pantucek 1998).
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Funktion und Fachlichkeit
derherstellung von Alltag“ bezeichnet habe (Pantucek 1998 : 110), für ein sekundäres, abgeleitetes halte, allerdings für eines, auf das Sozialarbeit nicht verzichten kann, soweit sie ihren Anspruch darauf, Profession zu sein, nicht gleichzeitig mit aufgeben will. Gibt sie ihn auf, kann sie ersetzt werden durch eine Kaste von „ExpertInnen“, deren vorrangige Fähigkeit in der Anwendung diagnostischer Manuale besteht. Voraussetzung dafür ist die Erstellung von Listen von „Risikofaktoren“, die nicht mehr genuin auf Einzelne, sondern auf Bevölkerungssegmente mit bestimmten Merkmalen abzielen. Für deren fallbezogene Anwendung ist die Anwesenheit des Klienten/der Klientin nicht mehr erforderlich, sondern sie besteht in der Auswertung von Dossiers, von anderweitig gesammelten Daten. Robert Castel beschreibt diese Entwicklung exemplarisch anhand des Gesundheitswesens : „Diese Verschiebung wirft das existierende Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Standpunkten des spezialisierten Experten und des Verwaltungsbeamten völlig um, die mit der Bestimmung und der Anwendung der neuen Gesundheitspolitik beauftragt werden. Die Spezialisten sehen sich nun in eine untergeordnete Rolle verwiesen, während es der Verwaltungspolitik gestattet wird, sich zu einer vollkommen autonomen Kraft zu entwickeln, völlig jenseits der Kontrolle durch den Tätigen vor Ort, der nun auf einen bloß Ausführenden reduziert wird.“ (2001 : 1)20
Folgt man Maja Heiners (2001 : 254) Unterscheidung zwischen einer ter-
minal ausgerichteten Selektions- und Klassifikationsdiagnostik einerseits und einer prozessual und dialogisch ausgerichteten Modifikationsdiagnostik andererseits, so erschöpfte sich die diagnostische Aufgabe einer professionell amputierten Sozialarbeit in einer ausgefeilten Selektion. Nach einer einmal erfolgten diagnostischen Einordnung des Falles wäre der weitere Weg vorbestimmt 21. In der Fallbearbeitung bliebe dann nur ein minimaler Spielraum, weil die wei-
20 Interessant ist, dass sich diese Entwicklung mit der Ideologie und den Technologien der sogenannten Prävention verbindet. Um „Opfer“ einer Intervention zu werden, muss man dann kein aktuelles Problem haben oder darstellen, es genügt, Merkmale aufzuweisen, die als „Risikofaktoren“ definiert werden können. Die Interventionen begründen sich somit nicht mehr in einem intersubjektiv verhandelbaren evidenten, beobachtbaren Problem, sondern ruhen auf Prognosen, eben „Risikos“. „Die modernen Ideologien der Prävention sind von einem bombastischen, technokratisch-rationalisierenden Traum der vollständigen Kontrolle des Zufälligen, verstanden als Einbruch des Unvorhersehbaren, überwölbt“ (Castel 2001 : 10). 21 Wir erkennen hier Sidlers (1999) vorhin erwähntes Modell der Fallkonstituierung wieder.
Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung
Grafik 3 : Problemdefinitionen und Positionierung
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Funktion und Fachlichkeit
tere Vorgehensweise durch das Programm vorgeschrieben wäre. SozialarbeiterInnen wären dann speziell geschulte erhebende und ausführende AgentInnen. Ihr Gestus der Annäherung an die KlientInnen und deren → Lebenswelt wäre nur mehr funktionelle Attitüde, um an Informationen zu kommen (daher i.d.R. auch zum Scheitern verurteilt), da das darin liegende Versprechen der dialogischen Offenheit in der Gestaltung des weiteren Prozesses nicht eingehalten werden könnte.
Entfernen wir uns von diesem düsteren Zukunftsbild und wenden wir uns
wieder einer Sozialarbeit zu, wie sie im 20. Jahrhundert ihre professionelle Identität begründet und entwickelt hat :
Wir betrachten nun als erste diagnostische Aufgabe der Sozialarbeit die
Sammlung der verschiedenen fallrelevanten Problembeschreibungen (→ Pro blemdefinitionen) – ein Thema, das ich in dieser Arbeit noch mehrfach aufgreifen werde.
Die Positionierung „an der Seite des Klienten/der Klientin“ ist für die Auf-
gaben, die SozialarbeiterInnen praktisch zu lösen haben, essenziell. Diese Positionierung muss aus pragmatischen Gründen in einer Alltagssprache erfolgen, da sonst der Anschluss an die Alltagspraxis der KlientInnen nicht gewährleistet werden kann.
In zweiter Linie ist es dann die Fähigkeit der Situationsbeschreibung in der
Sprache der Programme (die i.d.R. eine der politisch generierten Problembeschreibungen ist), die einerseits für die Ressourcenerschließung, andererseits für die Legitimierung der SozialarbeiterInnen als ExpertInnen gegenüber den sie finanzierenden gesellschaftlichen Instanzen benötigt wird. Diese Sprache hat mehr oder weniger große Anteile eines juristischen Codes.22
Wiederum alltagssprachlich, allerdings angereichert mit Vokabular, das die
Fachkräfte als Autoritäten ausweist, erfolgt die Fallbeschreibung gegenüber den Important Others.
22 Nur mehr ärgerlich ist es allerdings, wenn – wie zum Beispiel in Teilen der deutschen Literatur zur Jugendhilfe – juristische/gesetzliche Termini wie fachliche verwendet werden und auf eine (mögliche und nötige) Differenzierung bzw. Gegenüberstellung völlig verzichtet wird. Paragraphennummern ersetzen dann Begriffe, die in einem reflektierten fachlich-methodischen Zusammenhang stehen. Begründet wird dies damit, dass das Jugendhilfegesetz unter maßgeblicher Mitwirkung von sozialpädagogischen ExpertInnen entstanden sei und daher Fachbegriffe Eingang in das Gesetz gefunden hätten.
Die Rolle der Sozialarbeit : Herstellen von Passung
Grafik 4 : Sprachen und Anforderungen
Diese drei Anforderungen müssen fallbezogen erfüllt werden. Für keine dieser Aufgaben ist die Verwendung einer sozialarbeiterischen Fachsprache indiziert, die „nur“ für Zwecke der Reflexion benötigt wird.
Wir sehen also eine relativ marginale Bedeutung des sozialarbeiterischen
fachsprachlichen Codes für die Berufspraxis, was vermeintliche Defizite der Sozialarbeit im Vergleich zu anderen Professionen erklären könnte. Man könnte das auch so formulieren : Während etwa die ärztliche Kunst ihren Gegenstand erst selbst sprachlich erfassen und „bilden“ musste, ist das Alltagsleben immer schon ein von den Menschen beschriebenes und sprachlich gefasstes. Die vorfindlichen sprachlichen Formen und Begriffe sind gleichermaßen Bestandteile
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Funktion und Fachlichkeit
und Beschreibungen des Gegenstands sowie Instrumente der Änderung. Sozialarbeit geht damit in ein schon ausführlich beschriebenes Feld ; diesem die eigene Fachsprache hinzuzufügen oder zu applizieren wäre doppelt kontraproduktiv : einerseits unnötig verdoppelnd, andererseits durch die Einführung „fremder“ Begriffe kolonialisierend – der Aufgabe der (Wieder-) Herstellung von Autonomie der Akteure also zuwiderlaufend.
Die (fachliche) „Sprachlosigkeit“ der PraktikerInnen ist somit für die Fallar-
beit funktional, trotzdem für die Professionsentwicklung fatal, und zwar wegen der damit eingeschränkten Möglichkeit von Reflexion auf angemessenem professionellen Niveau.
Die Grafik 4 (S. 243) stellt diesen fallbezogenen „Tanz“ zwischen verschiede-
nen Sprachen und Passungsanforderungen der professionellen Deutungen dar.
In dem Maße, in dem Sozialarbeit sich aber fallbezogenen interdisziplinä-
ren Diskursen stellen muss, wird ihr Mangel an Gewandtheit in der eigenen Fachsprache und die bürokratische Überformtheit ihrer Dokumentationssysteme zu einem praktischen Problem : • Die Fachsprache und die fachlichen Standards markieren Zuständigkeit der Profession und Status. Ihr Fehlen verringert die Durchsetzungskraft gegenüber anderen am Fall arbeitenden Professionen. • Ohne Sicherheit in der eigenen Professionalität – und das heißt eben auch die Beherrschung von Vokabular und Regeln – ist die Versuchung groß, letztlich die Deutungsversuche der gewandteren Nachbarprofessionen zu übernehmen bzw. sich ihnen zu unterwerfen.23 Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass eine Sozialarbeit, die ihrem Wesen nach individualisierend und mediierend ist, die also individuelle Autonomie befördert und zu diesem Zweck Passung zwischen individuellen Problemlagen und gesellschaftlichen Problembearbeitungsprogrammen herzustellen sucht, das Unwahrscheinliche leisten muss : Sie muss, zwischen allen Stühlen sitzend, eine eigene Sprache und eine eigene Diagnostik entwickeln. Die Dia gnostik muss relational sein – und hat das Problem zu lösen, das Unanschauliche (Beziehungen, Teilhabe, Komplexität) anschaulich zu machen. 23 Das äußert sich z.B. in der mitunter grotesken Hochachtung der SozialarbeiterInnen vor PsychologInnen und deren Falleinschätzungen auf Basis von Tests.
3. Der „Fall“
Habe ich im zweiten Abschnitt sozialarbeitstheoretische Fragestellungen behandelt, so wende ich mich nun der praktischen Seite der Sozialarbeit zu. Es wird darum gehen, wie SozialarbeiterInnen in ihrer beruflichen Praxis die aus der objektiven Positionierung ihrer Profession, die ich oben skizziert habe, resultierenden Anforderungen und Widersprüche bearbeiten (können), wie sie ihre Fälle konstruieren (bzw. produktiv konstruieren können).
Die folgenden Überlegungen mögen manchen LeserInnen etwas mühsam
erscheinen. Ich versuche, an zentralen Begriffen der Sozialarbeitspraxis (Problem, Fall, Klient) zu arbeiten, und zwar mit einiger Genauigkeit. Das Ziel ist, eine Begriffsarbeit nachzuholen, die die Entwicklung einer vorläufigen Theorie der sozialen Diagnose ermöglicht. Diese Theorie soll vorerst in Ansehung der Sache selbst gebaut werden, nicht zu früh auf Theoriekonstrukte aus anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Zusammenhängen rekurrieren. Nach der Klärung, was im Zusammenhang praktischer Sozialarbeit sinnvoll eine Situation, ein Problem und ein Fall genannt werden kann, werden sich auch einige typische Strukturen sozialarbeiterischer Sichtweisen und Bearbeitungsprozesse diskutieren lassen.
3.1 Die Konstruktion des Problems Am Beginn der Fallkonstituierung steht zumindest eine → Problemdefinition, manchmal auch mehrere. Die Problemzentriertheit der Sozialarbeit wurde von manchen Kritikern selbst als Problem verortet, ihr eine Ressourcen- und/ oder Lösungsorientierung entgegengestellt. Der Problemfokus betone das Negative anstelle des Positiven und Zukunftweisenden. M.E. beruht diese Kritik auf einem kapitalen Missverständnis. Die Problemkonzentration in der Sozial-
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Der „Fall“
arbeit ist ein Mittel der nötigen Eingrenzung der Zuständigkeiten und der Fokussierung des Blicks. Sie ermöglicht erst, Sozialarbeit als respektvolle und die Autonomie der KlientInnen beachtende Profession zu etablieren. Sozialarbeit bearbeitet Lebensführung in einer gegebenen Gesellschaft,24 ohne aber selbst – es sei denn in sehr allgemeinen Formulierungen – so etwas wie ein eigenes Konzept des „guten“ Lebens, der „richtigen“ Lebensführung zu haben. Jede Form der Lebensführung ist für Sozialarbeit vorerst einmal grundsätzlich akzeptabel. Diese Toleranz ist Teil der Wertebasis der Profession.
So heißt es im „Code of Ethics“ der National Association of Social Workers
(USA) : 1.05 Cultural Competence and Social Diversity (a) Social workers should understand culture and its function in human behavior and society, recognizing the strengths that exist in all cultures. (b) Social workers should have a knowledge base of their clients’ cultures and be able to demonstrate competence in the provision of services that are sensitive to clients’ cultures and to differences among people and cultural groups. (c) Social workers should obtain education about and seek to understand the nature of social diversity and oppression with respect to race, ethnicity, national origin, color, sex, sexual orientation, age, marital status, political belief, religion, and mental or physical disability (National Association of Social Workers 1996). Aus dieser Grundsatzentscheidung resultieren dann allerdings eine Reihe von Werten, die die allgemeine Akzeptanz einschränken, wie aus dem folgenden Textbeispiel ersichtlich : Social workers treat each person in a caring and respectful fashion, mindful of individual differences and cultural and ethnic diversity. Social workers promote clients‘ socially responsible self-determination. Social workers seek to enhance
24 Ich führe hier wieder eine Gegenstands- oder zumindest Fokusdefinition der Sozialarbeit ein, nicht zum ersten Mal. „Lebensführung“ ersetzt hier „Alltag“. Beide Begriffe sind verwandt, wobei „Lebensführung“ zum einen mehr als nur bloßen Alltag umfasst, zum anderen das bewusste und tätige Element stärker betont.
Die Konstruktion des Problems
clients‘ capacity and opportunity to change and to address their own needs. Social workers are cognizant of their dual responsibility to clients and to the broader society. They seek to resolve conflicts between clients‘ interests and the broader society‘s interests in a socially responsible manner consistent with the values, ethical principles, and ethical standards of the profession. (ebd.) Die Förderung der Selbstbestimmung der KlientInnen wird durch das Adjektiv „socially responsible“ eingeschränkt bzw. wird ihr eine Richtung gegeben. Trotzdem wird hier wohl deutlich, dass die Profession kaum auf etwas so viel Pathos aufwendet wie auf eine Bekräftigung des Prinzips der Selbstbestimmung der KlientInnen und der Diversität möglicher Lebensentwürfe. Ein Eingriff kann also nur gerechtfertigt stattfinden, wenn Akteure des Feldes selbst eine Situation als problematisch markieren. Sozialarbeit erscheint mit keiner Heilsbotschaft. Ihr Einsatz ist nicht missionarisch, und daher auf die → Problemdefinition angewiesen, die von anderen erfolgt. Ihre Kompetenz besteht darin, Probleme zu bearbeiten, nicht darin, das Gute Leben zu lehren.
Die Geringschätzung des Problemfokus führt in der Konsequenz zu dras-
tischen Fehlbestimmungen, die alle darauf hinauslaufen, dass die Sozialarbeit selbst ein Programm zu entwickeln hat, was wünschenswertes Leben sei. Sie ist dann auf dem Weg zu einer allgemeinen sozialen Pädagogik, die nicht mehr zwischen „Fall“ und „Nicht-Fall“ unterscheiden könnte. Ihre Legitimation müsste sie aus sich selbst heraus beziehen, aus einer Theorie der guten Lebensführung.25
Theoretisch sollte eine Alternative zum Problem als Ausgangspunkt des
Falles schon erledigt sein, praktisch ist sie es leider noch nicht : das „Defizit“. So stigmatisierend und kontraproduktiv defizitorientierte Sichtweisen auch sein mögen, setzen sie sich praktisch aber doch immer wieder durch, und zwar aus dem guten Grund, dass die Aktivierung von Ressourcen praktisch wesentlich leichter möglich ist, wenn ein Mangel, ein Defizit konstatiert wird. Die Feststellung von „Erziehungsunfähigkeit“ der Eltern ermöglicht z.B. den Rückgriff auf beträchtliche Geldmittel für die Fremdunterbringung von Kindern. Gleichzeitig
25 Interessanterweise erbringt der Essenzialismus in der Problemtheorie von Obrecht (2002) und Staub-Bernasconi (1986 und 1994) ähnliche Resultate : Sozialarbeit versucht dann „objektiv“ festzustellen, was ein soziales Problem „ist“ – was zu skurrilen Kategorisierungsversuchen mit fragwürdigem Nutzen führt.
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Der „Fall“
eröffnet die Fiktion, „Defizite“ zu bearbeiten, einen einfachen Zugang zum ExpertInnenstatus. Er knüpft an das Modell der Medizin an, die ihre Interventionen durch festgestellte (oder drohende) Insuffizienzen legitimiert.
Während der Problemfokus an individuelle Problemdefinitionen anknüpft,
kann der Defizitfokus (und ein essenzialistisches Problemverständnis) sich selbst leichter mit Bezug auf Normen legitimieren.
Nach diesem Versuch der Ehrenrettung eines richtig verstandenen Problem-
fokus in der Sozialarbeit sei zugegeben, dass für eine gelingende sozialarbeiterische Intervention der Blick auf Lösungen und auf Ressourcen gerichtet werden muss. Entgegen einer allzu plakativen Gegenüberstellung von Problem- und Lösungsorientierung sei allerdings festgestellt, dass Lösungsorientierung, wie sie zum Beispiel von deShazer (1989, 1992) empfohlen wird, sich letztlich an einem Problemverständnis orientiert, wie ich es hier skizziere. „Gelöst“ kann nur ein Problem werden, und ein Problem wird von Menschen definiert. Anders bei „Defiziten“ : Sie setzen eine Norm voraus, ohne Norm kein Defizit, und eine Norm ist immer eine soziale/gesellschaftliche Norm. Man könnte sagen : Das Problem bei einer defizitorientierten Sichtweise ist die Festsetzung der Norm – und die nötige Pathologisierung des Bestehenden als Legitimation für die Intervention.
„Die Erkenntnis beginnt nicht mit Wahrnehmungen und schon gar nicht mit
Abstraktionen, sondern mit Problemen. Alle unsere Probleme sind abhängig von den Zwecken, die wir uns setzen.“ (Nemo 1993 : o.P.).
Die Problemdefinition ist notwendigerweise subjektiv (von einem sozialen
Ort aus formuliert). Sie enthält noch nicht notwendigerweise die Beschreibung des Problems, aber sie muss die Beschreibung einer Situation enthalten, die dann als problematisch markiert wird. Sehen wir uns das an einem Beispiel an : Der Leiter einer kleinen Abteilung erscheint bei der Betriebssozialarbeiterin und sagt : „In meiner Abteilung arbeitet Frau F., sie ist 27 Jahre alt. In letzter Zeit gibt es gehäuft kurze Krankenstände bei ihr, sie kommt auch öfter zu spät. Ihre Arbeitsleistung lässt zu wünschen übrig. Ich glaube, sie trinkt zu viel. Eigentlich sollte ich sie kündigen. Können Sie mit ihr reden ?“ Diese Beschreibung baut darauf, dass die Beraterin bereits das Vorhandensein einer solchen Situation ebenfalls als problematisch einschätzt und auf ein Bearbeitungsprogramm zurückgreifen kann. Die Beraterin soll das Problem zu ihrem
Die Konstruktion des Problems
machen, d.h. aus einer Situationsbeschreibung eine Problembeschreibung machen.
Wodurch unterscheidet sich eine Problembeschreibung von einer Situations-
beschreibung ? In erster Linie dadurch, dass die Schwierigkeiten als Handlungsschwierigkeiten verortet werden : Wer weiß jetzt nicht, was zu tun ist? Probleme sind Verständnisprobleme oder Handlungsprobleme (im Sinne der Unmöglichkeit einer routinierten Prozedierung der Situation). Während eine Situationsbeschreibung distanziert sein, aus einer BeobachterInnenposition erfolgen kann, hat ein Problem26 stets einen personellen Ort.
Genau darauf zielt eine zentrale sozialarbeiterische Beratungsstrategie : Sie
versucht die KlientInnen dorthin zu bringen, dass sie ein Problem als ihr Handlungsproblem formulieren. Erst wenn das geschehen ist, kann die eigentliche Problembearbeitung einsetzen.
Die erste Situationsbeschreibung mit dem Problemmarker macht einen Raum
auf, sie definiert den Umfang dessen, was aus der Sicht des Fallbringers als Situation zu gelten hat : Akteure werden genannt und gereiht (meist gibt es eine Ankerperson), Zeit und Konstellation werden genannt, eine Arena und ein oder mehrere zentrale Sachverhalte werden beschrieben. Im Beispiel : AkteurInnen : Die Mitarbeiterin (Ankerperson) ; der Abteilungsleiter selbst. Zeit : Jetzt und die letzten Monate. Arena : Betrieb und im Speziellen die Abteilung. Sachverhalte : Unzuverlässigkeit der Mitarbeiterin, der Verdacht. Nun ist all das noch kein bearbeitbares Problem, bietet noch keine hinreichende Begründung, um daraus einen „Fall“ zu machen. In die Beschreibung ging eine wesentliche Bestimmung noch nicht ein, nämlich dass der Abteilungsleiter mit dieser Geschichte zur Sozialarbeiterin gegangen ist. Ohne diesen Fakt wäre die 26 Ich spreche hier von einem Problemverständnis der Sozialarbeit, das nicht umstandslos auf Probleme in anderen Bereichen, zum Beispiel der Computerprogrammierung, übertragen werden kann. Dort können Probleme zum Beispiel „objektiv“ gegeben sein : Das Programm funktioniert nicht. Die Situation sträubt sich gegen ihre eigene Struktur und zeigt das an. Aber ein Programmierungsproblem dieser Art ist eben auch ein „gutartiges“ Problem. Probleme des Funktionierens des Alltagslebens brauchen allerdings jemanden, der „ein Problem hat“, ohne das ist es nicht von Alltagsleben unterscheidbar.
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Der „Fall“
Existenz einer Situation wie der geschilderten kein Grund für sozialarbeiterische Intervention : Sie ist zu gewöhnlich und sie bildet vorerst noch keinen personellen Ansatzpunkt für Interventionen. In der gängigen Sprache der Sozialarbeit könnte man sagen, es gebe vorerst keinen → Auftrag.
Natürlich lassen sich Probleme konstruieren, aus denen heraus sich Sozial-
arbeiterInnen selbst einen Auftrag formulieren könnten. Hier bieten sich kurzschlüssige Assoziationen an : Alkoholismus, drohender Arbeitsplatzverlust.
In der Vorabendserie „Eine himmlische Familie“ findet sich folgender Dialog
zwischen dem Pfarrer und dem (Alkoholiker-)Vater eines Mädchens, das bei der Pfarrersfamilie kurzfristig untergekommen ist : Vater : Ich möchte mein Mädchen wiederhaben! Pfarrer : So einfach ist das nicht, Sie haben offensichtlich ein Problem. Vater : Ich habe kein Problem, Sie haben ein Problem! Ein schöner Dialog! Wer hat nun wirklich ein Problem ? Folgen wir der Definition von Newell, Shaw und Simon (zit. bei Brauchlin/Heene 1995 : 20) : „A problem exists whenever a problem solver desires some outcome or state of affairs that he does not immediately know how to attain.“ In dieser Definition findet sich also die Bindung des Problems an einen Actor (den „problem solver“) und eine IST/SOLL-Differenz. Brauchlin und Heene (1995 : 74) weisen allerdings darauf hin, dass „die Problem-Entdeckung … nicht unbedingt ein konkretes nicht erreichtes ‚Soll‘ voraus(setzt)“. Eine Situation kann also als veränderungswürdig empfunden (kommunikativ : markiert) werden, ohne dass eine Alternativvorstellung greifbar wäre. Die Beschreibung des SOLL-Zustands beschränkt sich in diesem Fall auf die Feststellung, dass es so, wie es ist, nicht sein soll. Im Kapitel 7.2 werde ich bei der Darstellung der „Presented Problem Analyse“ (PPA) noch genauer auf diese Problemkonstruktion eingehen.
Zurück zu unserem Dialogbeispiel. Das Mädchen ist völlig verwahrlost von
der Familie des Pfarrers aufgefunden und vorerst aufgenommen worden. Es hatte keine Ahnung, wo sich aktuell sein Vater befindet. Der Wohnort der beiden war ein Wohnwagen, bei Nachschau versperrt. Der Vater, von der Polizei mit einer akuten Alkoholvergiftung aufgegriffen, fand sich schließlich in einem Krankenhaus. Versuchen wir vor diesem Hintergrund den Dialog zu analysieren :
Für den Vater gibt es vorerst tatsächlich kein Problem, zumindest kein
schwieriges : Er hat die Obsorge über sein Kind, es muss ihm nur gebracht wer-
Die Konstruktion des Klienten
den. Der Pfarrer hingegen rekurriert vorerst auf gesellschaftliche Normen : Der Vater ist Alkoholiker und Alkoholismus, Kindesvernachlässigung etc. sind gesellschaftlich definierte soziale Probleme, und die können dem Vater als Etiketten umgehängt werden. Insofern „hat der Vater ein Problem“, aber nicht seines. Er wird erst dann zum „problem solver“, wenn Institutionen oder Personen die gesellschaftlichen Normen durchzusetzen versuchen. Und dann wird er versuchen, seine Autonomie gegen diese Instanzen zu verteidigen.27
Die gesellschaftlichen Instanzen haben ihm ein Problem gemacht, das dann
mit ihm kooperativ bearbeitet werden kann. Es entsteht ein „Fall“.
3.2 Die Konstruktion des Klienten Der Terminus „Klient“ bzw. „Klientin“ hat in der Sozialarbeit eine lange Tradition. Immer wieder kritisiert, hat er bisher als universeller Begriff für das Gegenüber der SozialarbeiterInnen alle Versuche, ihn durch einen anderen Begriff zu ersetzen, glücklich überstanden. Erst in den letzten Jahren, mit dem Aufkommen von umfangreicher Literatur und von Ausbildungsgängen zum Sozialmanagement, scheint er als zentraler Terminus ins Gedränge zu kommen. „Kunde“ und „Nutzer“ (anschließend an das englische „User of Social Services“) werden in manchen Organisationen und teilweise in der Literatur als Alternative verwendet.
Ich will hier nicht den Diskurs zum Kundenbegriff aufgreifen, sondern wei-
terhin am Begriff „KlientIn“ festhalten und dies nur kurz begründen : • „Klient“ bezeichnet richtigerweise ein asymmetrisches Verhältnis zwischen dem Professionellen und seinem Gegenüber. Die Asymmetrie wird durch ein Berufsethos, eine Verpflichtung auf die Förderung der Autonomie der Klienten und auf ein Agieren in deren Interesse hinterfüttert. • In der bei weitem überwiegenden Zahl der Fälle sind KlientInnen eben nicht KundInnen, weil sie nicht für eine Dienstleistung bzw. eine Ware zahlen. Kli-
27 Hesser (2000) weist darauf hin, dass die Zumutung des Verlustes an Autonomie durch die Beschäftigung der Fürsorgeinstanzen mit dem Alltagsleben des Pflichtklienten deren subjektives Hauptproblem ist – also auch der beste Ansatzpunkt für deren Beteiligung am Problemlösungsprozess.
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Der „Fall“
entInnen haben daher eine wesentlich geringere Chance, über die Entscheidung, welchen Dienst sie in Anspruch nehmen, die Entwicklung der Branche zu beeinflussen. • Ich halte die Unterscheidung zwischen einer Fallbearbeitung durch die professionelle Sozialarbeit und der Erbringung einer Dienstleistung (z.B. Essen auf Rädern) für keineswegs vernachlässigbar. Die Fallbearbeitung unterliegt einer anderen Ablauflogik und die zugrunde liegende Beziehung muss anders gestaltet werden. Während Dienstleistungen für „Kunden“ erbracht werden, ist die unterstützende Bearbeitung einer Lebenssituation auf die Mitarbeit der KlientInnen angewiesen, die durch die SozialarbeiterInnen bestenfalls stimuliert werden kann. Der Klientenbegriff markiert für mich damit die Grenze zwischen Dienstleistung und methodischer Sozialarbeit. Wie Pincus und Minahan (1990) halte ich die Unterscheidung zwischen KlientInnen und potenziellen KlientInnen für sinnvoll. Unter KlientIn wären dann die Personen zu verstehen, mit denen es zu einem (möglicherweise bloß mündlichen, möglicherweise sogar unausgesprochenen, aber durch konkludentes Handeln für beide Seiten offensichtlichen) (Zusammen-)Arbeitsvertrag gekommen ist.
Wichtiger als die Frage der Terminologie ist allerdings für unser Thema die
Frage nach dem Verhältnis der Diagnose zum Klienten bzw. der Klientinnen. In meinem Verständnis von Sozialer Diagnose ist es nicht der Klient, der diagnostiziert wird, sondern seine Lebenssituation. Das hat weitreichende Auswirkungen auf die → Inszenierung der Diagnostik und auf ihre möglichen Inhalte :
Wenn die Lebenssituation der KlientInnen Gegenstand der Sozialen Dia-
gnose ist, dann sind die KlientInnen nicht Gegenstand, sondern Beteiligte am Prozess der Diagnose. Wenn weiters der Unterstützungsprozess als kooperativer Prozess verstanden wird, dessen entscheidende Leistungen oft durch den Klienten erbracht werden, gewinnt die Eigendiagnose der Klienten eine überragende Bedeutung. Eigene diagnostische Leistungen der Experten sind damit allerdings nicht ausgeschlossen, sondern ein notwendiges Instrumentarium, um den Dialog mit den Klienten zu fokussieren und um die Sozialarbeiter zu befähigen, eigenständige Beiträge zum Diskurs mit dem Klienten leisten zu können.
Die KlientInnen sind also die
→
„Ankerpersonen“ der Diagnose : Sie sind
Zentrum der zu untersuchenden Welt. Die zu untersuchende Welt besteht aller-
Die Konstruktion des Falles
dings auch aus ihrem Körper, ihrem Bewusstsein (sie berichten denn auch nicht nur über ihr Leben in der Welt, sondern über ein Leben „unter der Bedingung von“ ihrem körperlichen Zustand und ihres Bewusstseinszustands).
In der Fallbearbeitung sind die KlientInnen die zentrale Referenz : Sie sind
die Personen, die am Prozess zu beteiligen sind, die dessen Fortgang zu kontrollieren haben, deren Möglichkeit zur Beobachtung des Prozesses also auch bewusst hergestellt werden muss (zum Beispiel durch umfassende Information). Sie sind allerdings nicht „der Fall“.
Und noch etwas spricht m.E. für eine Unterscheidung zwischen KlientIn und
„Problembeteiligtem“ (Lüssi) : Die herausgehobene Stellung des Klienten/der Klientin im Prozess der Fallbearbeitung. Gegenüber den KlientInnen müssen die SozialarbeiterInnen ihre fallbezogenen Aktivitäten offenlegen und verantworten. Ein personaler Klient sichert die Möglichkeit einer Debatte über den Sinn der professionellen Vorgangsweisen und schützt vor einer selbstreferenziellen Immunisierung der SozialarbeiterInnen gegen Kritik.28
3.3 Die Konstruktion des Falles Sind einige Voraussetzungen gegeben – formuliertes Problem, Feststellung der „Zuständigkeit“ der Organisation, Vorhandensein zumindest von potenziellen KlientInnen –, so konstruiert die Sozialarbeit einen „Fall“.
Schattenhofer und Tiesmeier (2001 : 64) verweisen darauf, dass die Fallkon
struktion eine Leistung des Helfersystems ist : „Ein Fall wird erst dann ein Fall, wenn ein Helfersystem beginnt, ihn als solchen zu definieren. Zuvor sind es Menschen in schwierigen oder gar verzweifelten Lebenssituationen. Erst durch das Daraufschauen wird eine solche Lebenssituation zu einem Fall für ein äußeres System. Wie dieser Fall betrachtet, erlebt und verstanden wird, steht in enger Beziehung zu der Person desjenigen oder 28 Ich halte daher auch die manchmal anzutreffende Formulierung, „die Familie“ sei der Klient, für tendenziell gefährlich. „Die Familie“, vor allem eine krisengeschüttelte Familie, kann nicht mit einer Stimme sprechen und daher auch nicht ihre Sichtweise einbringen. Die Einzelpersonen in der Familie können das sehr wohl. Die Vorstellung von „der Familie“ als Klient eliminiert den steuernden Dialog zwischen Klient und Sozialarbeiter in der Fallbearbeitung und führt zu einer Diffusion der Verantwortung.
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Der „Fall“
derjenigen, die ihn betrachtet, in enger Beziehung zu dem System, in dem sie sich bewegt und das es ihr überhaupt ermöglicht bzw. sie dazu zwingt, diese Lebenssituation als Fall zu definieren.” Ich möchte noch einen Schritt weitergehen : Der Fall ist nicht nur die durch die Brille der HelferInnen betrachtete Lebenssituation der KlientInnen, sondern ist die Konstellation von Organisation, Fachkraft, Klient und lebensweltlichem Umfeld, die erst durch die Konstruktion des Falls entsteht. Die Organisation und die HelferInnen sind also Teil des Falls, in dessen Zentrum die Beziehung KlientIn – SozialarbeiterIn steht.
Grafik 5 : Der Fall
Regeln der Organisation, gesellschaftliche Aufträge, die Vorgangsweise des Sozialarbeiters, die Lebenssituation des Klienten, wichtige Personen in dessen Umfeld, seine Einbindung in ein soziales Milieu und in gesellschaftliche Funktionssysteme gestalten diese Konstellation, geben ihr ihr charakteristisches Gepräge. Strukturierend wirkten das Problem bzw. die Probleme, die Grundlage für die Kooperation von Sozialarbeiter und Klient sind.
Fallbezogene Diagnostik kann schon aus diesem Grund keine bloße Persön-
lichkeitsdiagnostik sein. Diese würde von vornherein einen Großteil des Arbeitsfelds der Sozialarbeit aus der Betrachtung ausschließen. Das methodische Instrumentarium der Fallbearbeitung zielt ja in der Sozialarbeit auf das ganze oben dargestellte Spektrum, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung.
Einige der von mir in Kapitel 7 vorgestellten diagnostischen Verfahren ha-
ben ausdrücklich zum Ziel, das spezifische Fallgefüge zu erfassen und in eine
Die Konstruktion des Falles
übersichtliche Darstellung zu bringen – denn angesichts der Breite des skizzierten Fallverständnisses ist einsichtig, dass eine der größten Schwierigkeiten der Fallbearbeitung jene ist, die Übersicht zu gewinnen und zu bewahren, Strategien zu entwickeln, die tatsächlich auf das Fallgefüge zielen und nicht nur Ausschnitte ohne den Blick auf die Gesamtkonstruktion bearbeiten.
Ich habe an anderem Ort (Pantucek 2003c) bereits darauf hingewiesen, dass
die Psychologisierung der Sozialarbeit eine Form der Komplexitätsverleugnung darstellt : „Sie ermöglicht die Flucht aus der Komplexität des Gegenstands der Sozialarbeit, ohne das Gelände völlig verlassen zu müssen. Die Konzentration auf das Psychische sichert den ExpertInnenstatus und rettet doch vor der Zumutung des Umgangs mit zu hoher Komplexität. … Für die Profession war diese Entwicklung existenzgefährdend. Wie schon Strotzka die Sozialarbeit als Psychotherapie für die Armen verstand, verstanden viele SozialarbeiterInnen ihren Beruf nun als verarmte Psychotherapie.“
Diese Entwicklung ist noch nicht ausgestanden. Psychologisierende Deu-
tungsmuster „sind im letzten Jahrhundert in hohem Maße in das Alltagsbewusstsein diffundiert. Sie liegen damit sozusagen auf der Straße, müssen nur aufgegriffen werden, und werden auch aufgegriffen. Diese Erklärungsmuster sind als Bestandteil alltäglicher Deutungsmuster natürlich trivialisiert. Sie sind anschlussfähig, weil sie auch bei den KommunikationspartnerInnen, mit denen SozialarbeiterInnen zu tun haben, bereits als Deutungsmuster vorliegen. Die Legitimation ihrer Situationsdeutungen beziehen die SozialarbeiterInnen als Fachkräfte dann nicht aus ihrer Fachlichkeit (was hieße : zumindest partiell auch aus der Unzugänglichkeit ihrer Erhebungsverfahren und Entscheidungsfindung für andere), sondern aus der bloßen Tatsache ihres intensiveren Kontaktes zum Klientel“ (ebd.).
Ein Verständnis des sozialarbeiterischen Falls als problemstrukturierte Kon-
stellation hat m.E. Chancen, diesem Sog der Psychologisierung zu entkommen. Ihre Anschlussfähigkeit zu neueren Konzepten der Sozialen Arbeit wie Case Management und Sozialraumorientierung ist gegeben, und die Realitätstauglichkeit bzw. Praxistauglichkeit erweist sich in dem Maße, in dem einem solchen Verständnis angepasste diagnostische Verfahren und Dokumentationssysteme in Verwendung kommen.
Ich will hier noch einmal festhalten, dass ich die Sozialarbeit mit diesem
Fallverständnis nicht neu erfinde, sondern nur eine implizit in der sozialarbeiterischen Praxis bereits vorhandene Struktur beschreibe, in ein Bild zu setzen
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Der „Fall“
versuche, das dieser ohnehin statthabenden Praxis wiederum einen Begriff von sich selbst, von ihrer Struktur und Logik zur Verfügung stellt.
4. Die Rolle der Diagnose im professionellen Handlungsprozess
Soziale Diagnosen sind notwendigerweise mit Überkomplexität konfrontiert. Ihre Leistung besteht zum einen in der Sichtbarmachung von Komplexität, von zahlreichen Bezügen, Systemen, Teilsystemen, in die Person und Problem verwoben sind. Zum anderen müssen sie allerdings die einmal erkannte Komplexität strukturieren, um den AkteurInnen geplantes Handeln zu ermöglichen. Während Ersteres noch eine relativ leicht zu lösende Aufgabe scheint, die zumindest theoretisch nicht allzugroße Probleme aufweist, erfordert die Strukturierung einen theoretischen Hintergrund, will sie nicht beliebig sein oder bleiben. Die Theorie (und sei es eine Alltagstheorie) leistet dabei die Selektion und Ordnung der Daten, ihre Interpretation und gegebenenfalls legt sie auch die Handlungsschritte nahe. Bei der Theorieerstellung und Theorieauswahl ergeben sich allerdings gravierende Schwierigkeiten : Die Vielzahl von Komplexitätsebenen und möglichen Systembeschreibungen lässt es unwahrscheinlich bis unmöglich erscheinen, dass ein Modell den Gesamtzusammenhang adäquat erfasst und berücksichtigt. Die Modelle der Ordnung, Strukturierung und Handlungsbegründung scheinen dadurch selbst beliebig zu werden und sind jeweils leicht kritisierbar, weil sie zwangsläufig weite Bereiche der vorher sichtbar gemachten Wirklichkeit ausblenden. Gleichzeitig „funktionieren“ die meisten von ihnen bis zu einem gewissen Grad, wenn auch naturgemäß nicht immer und vor allem nicht immer mit gewünschter Sicherheit.
Die an Alltagstheorien anknüpfenden Modelle und Handlungsvollzüge ha-
ben dabei gegenüber „abgehobenen“ Modellen und Theorien den Vorzug, dass sie den kommunikativen Anschluss an die Akteure des Felds erleichtern.
Sie ersparen eine aufwändige Übersetzungsarbeit. Da Sozialarbeit ihre pro-
fessionsspezifischen Arbeitsvollzüge aber gerade in der alltagsbezogenen Kommunikation mit den KlientInnen und deren sozialem Umfeld findet, liegt der Bezug zur Alltagslogik besonders nahe. Oder anders herum : Für die anstehenden
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Die Rolle der Diagnose im professionellen Handlungsprozess
Fragen/Probleme der KlientInnen liegen im „Diskursfeld“ Alltag bereits immer schon mehrere mögliche Interpretationen und „Begründungssätze“ vor, die in durchaus verschiedene oder gar entgegengesetzte Handlungsrichtungen weisen. Die KlientInnen verwenden davon nur einen Teil und es kann für sie schon hilfreich sein, ihnen weitere zugänglich zu machen, die bisher in ihrem sozialen Umfeld nicht ausgesprochen, nicht als „mögliche“ Handlungsbegründungen und Wirklichkeitsinterpretationen „am Markt erschienen“ sind. So gesehen, kann die konzertierte Beratung einer Person (und ev. einiger weiterer Personen in ihrem sozialen Umfeld) ganz einfach dadurch zu einer Besserung der Situation bzw. zu einer Vermehrung der Optionen der AkteurInnen führen, dass weitere gesellschaftlich zwar vorhandene, lokal aber bis dato nicht zugängliche Deutungsmuster eingespielt werden. Geschieht dies auch noch markiert mit persönlicher und/oder amtlicher Autorität, sodass sich die Akteure bei der Verwendung dieser für sie neuen Beschreibungen implizit oder explizit darauf berufen können, erleichtert das deren Einführung. In diesem Denkmodell der Intervention durch Sozialarbeit ist es also nicht unbedingt nötig, dass die neu eingeführten Deutungen „richtig“ oder theoretisch konsistent sind. Über die Verwendung durch die AkteurInnen im Feld entscheiden ohnehin diese – und die Alltagspraxis. Die Wirkung liegt zuallererst in der Erhöhung der Zahl der Deutungsoptionen und damit in der Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten der AkteurInnen.
Folgt man diesem Bild, so sind Deutungen zu bevorzugen, die möglichst um-
standslos in den Alltag übernommen werden können, die also keine Referenz auf eine separate „Sinnprovinz“ benötigen, um zu „funktionieren“. Sie können im Alltag aufgehen und so leicht auf Dauer zur Verfügung stehen, auch wenn der Zusammenhang, unter dem sie eingeführt wurden, schon wieder vergessen ist. Solche Deutungen haben kein dauerhaftes „Mascherl“, sie erscheinen, einmal verwendet, als quasi-natürlich und tragen nicht die Punze ihrer Herkunft.
Will man daraus erste Schlussfolgerungen für geeignete Diagnoseinstru-
mente ziehen, so liegen jedenfalls solche nahe, die Deutungen aus dem Bereich des Alltagswissens evozieren, die aber aufgrund ihrer Perspektive oder ihrer Strukturierung die bloße Verdopplung des ohnehin bereits Gesagten/Gedachten vermeiden. Solche Instrumente ordnen die Daten neu und bieten damit auch neue Blicke in einer bekannten Sprache. Ihre Ergebnisse können umstandslos in einen alltags- und nicht expertensprachlichen Aushandlungsprozess einfließen. Sie erfüllen nicht die Kriterien der Produktion von „Wahrheit“ im wissenschaftlichen Sinne.
Die Rolle der Diagnose im professionellen Handlungsprozess
Dadurch unterscheiden sie sich deutlich etwa von der diagnostischen Vor-
gangsweise der Testpsychologie, die primär darauf ausgerichtet ist, anhand des Tests die Individuen zu vorgegebenen Kategorien zuzuordnen bzw. sie mit ihren persönlichen Eigenschaften und Fähigkeiten auf einer Skala zu verorten.
Das Einspielen von Deutungsmustern kann aber nicht wahllos erfolgen. Es
benötigt eine Vorauswahl – und es steht ja in der Sozialarbeit häufig auch im Zusammenhang mit anderen, „handfesteren“ Interventionen, die in einem an die Psychotherapie angelehnten Bezugssystem noch schwieriger zu fassen und zu beschreiben wären : Alltagsstrukturierende Interventionen, materielle Hilfen, Aufbau neuer Kommunikationsmöglichkeiten, Schaffen von Zugängen zu bisher nicht genutzten Systemen.
Diese weiter gehenden Interventionen müssen einerseits von den professio-
nellen Akteuren fallbezogen selektiert und professionell begründet, andererseits den KlientInnen und ihrem Umfeld erklärt, als in ihrem Interesse gelegen „verkauft“ werden, damit diese die aufgebauten Möglichkeiten dann auch aktiv nutzen. Das Schlagwort der „Hilfe zur Selbsthilfe“ enthält diese beiden Aspekte im Ansatz.
Durch die Notwendigkeit der „Erdung“ aller Interventionen bei den Klien-
tInnen und in ihrem sozialen Umfeld liegt auch hier wieder deren Begründung in einer Sprache des Alltags nahe.
Der Alltag als Handlungsbereich und Aufmerksamkeitsfokus der Sozialarbeit
hat seine eigene Sprache und lebt durch und mit dieser Sprache, wird mit ihr verstanden und gemeistert. Die theoretische Durchdringung des Alltags ist eine „Fleißaufgabe“ der Verdopplung. Die Lektüre von Alfred Schütz („Strukturen der Lebenswelt“) ist zwar ein intellektuelles Vergnügen, aber es lassen sich daraus nicht unbedingt Strategien für eine bessere Alltagsbewältigung ableiten. Der Alltag schreibt sich selbst, ist Produkt individueller und gesellschaftlicher gewohnheitsmäßiger Praxis. Und er verleibt sich Entfremdungen und Durchbrechungen gierig ein. Irritationen können nicht lange Irritationen bleiben, was unbrauchbar erscheint, wird rasch ad acta gelegt. Die unerbittliche Logik der Relevanzstrukturen des Alltagslebens entzieht dauerhaft distanzierter Betrachtung die Basis und lässt ExpertInnensprache entweder rasch zur banalisierten Alltagssprache werden oder stößt sie wieder aus wie einen Fremdkörper. Der fokussierte Umgang mit dem Alltag banalisiert auch das Tun und Denken der ExpertInnen.
Diagnostische Verfahren, die den Praxistest in der Sozialarbeit bestehen sol-
len, müssen auf diese Eigenarten reagieren, müssen sie sozusagen leben lassen
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Die Rolle der Diagnose im professionellen Handlungsprozess
und sollten sie nicht durch ihre eigene Logik eliminieren – sonst wären sie tatsächlich so, wie es der antidiagnostische Diskurs in der Profession befürchtet : stigmatisierend, einschränkend, der Sozialarbeit wesensfremd.
Diagnoseverfahren müssten also aus mindestens zwei Phasen bestehen. In
der ersten Phase leitet das Verfahren die Datensammlung an und dient der Gewinnung von Komplexität, macht das Wissen über den Fall differenzierter, macht ihn kompliziert. In einer zweiten Phase müsste diese vorerst gewonnene Komplexität wieder reduziert, handhabbar gemacht werden, damit daran → Thematisierungsstrategien und andere Interventionsentscheidungen anschließen können. Diese These werde ich im nächsten Kapitel noch einmal aufgreifen.
5. Muster und Komplexität
Wir haben also gesehen, dass diagnostizierende Handlungen (Exploration/ Datensammlung und Deutung) den Beratungsprozess und die Ressourcenerschließung begleiten, oft ohne jemals in eine umfassende Diagnose zu münden. Was sind nun die gedanklichen Muster, die zu diesen laufenden Diagnosen herangezogen werden ?
Wiedererkennungswert haben Situationen, die gedanklich gespeicherten
„typischen“ Situationen ähnlich sind : die Situation eines misshandelten Kindes, die Verschuldungssituation, die Obdachlosigkeit etc.
SozialarbeiterInnen, vor allem erfahrene, haben zahlreiche solcher „typi-
schen“ Lebenssituationen gedanklich gespeichert, assoziieren sie zur aktuellen vom Klienten bzw. der Klientin geschilderten Situation. Sie kennen auch viele Varianten solcher Situationen und verfallen deshalb nicht dem Fehlschluss, man habe die Exploration bereits abgeschlossen, wenn die gedankliche Verbindung zu einem typischen Situationsmuster hergestellt wurde. Sie wissen über die Variationsbreite bescheid und über die Unterschiedlichkeiten des Erlebens, der von den Betroffenen konkret hergestellten Verknüpfungen und geistigen Bilder. Die Herstellung einer gedanklichen Verbindung zu einer „typischen“ Situation ist also nur ein Zwischenschritt zur Erstellung einer tatsächlich „passenden“ Dia gnose, die fallbezogenes Handeln ermöglicht.
Die groben, noch relativ undifferenzierten Zuordnungen zu „typischen“
Mustern sind auch noch nicht Kennzeichen oder Domäne sozialarbeiterischer Fachlichkeit. Sie sind oft in ihrem Auflösungsgrad nicht feiner als die in den institutionellen Bearbeitungsprogrammen formulierten Problembeschreibungen. Sie erfüllen also noch nicht die Kriterien der Alltagspassung und Fallangemessenheit.
Das Wissen über (differenziert) typische Situationen ist wichtiger Bestandteil
der beruflichen Kompetenz. Es ist aber nicht unabdingbarer Bestandteil, ohne
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Muster und Komplexität
den eine professionelle Vorgehensweise nicht praktizierbar wäre. In einer frühen Phase der Berufstätigkeit oder bei untypischen oder noch nicht bekannten Mustern kann es durch größere Offenheit kompensiert werden : Man „entdeckt“ die Logik der Situation durch die Beschreibungen der KlientInnen. Die fallbezogene Offenheit und Neugier erweist sich also als die grundlegendere berufliche Fähigkeit.29
Die Elemente eines solchen Wissens über Problemsituationen zeigt die fol-
gende Grafik :
Grafik 6 : Elemente von Fallmustern
Am Beispiel eines sehr groben Fallmusters expliziert : Für den Typus „Spieler in späterer Phase der Spielsucht“ findet sich unter „Situationen“ z.B. die zerbre29 Sozialarbeit ist tatsächlich ein GeneralistInnenberuf. Viele SozialarbeiterInnen wechseln im Laufe ihrer beruflichen Karriere mehrmals die „Branche“ und damit auch das Feld „typischer“ Situationen.
Muster und Komplexität
chende Ehe, die zahlreichen Schulden, die durch die Schulden verarmten sozialen Beziehungen. Unter „Abläufe“ finden wir typische Mikrostrukturen des Handelns, z.B. das Nichtöffnen von Briefen, habitualisiertes Lügen etc.,30 unter „Ablaufstrukturen“ die Dynamik von Spielen, Verschuldung, Hoffnung auf Lösung durch den großen Gewinn, weitere Verschuldung, Isolierung.
Die Kenntnis von typischen Situationen, Abläufen und Ablaufstrukturen er-
möglicht den Vergleich des Musters mit dem Fall und so die Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem. „Normalisierung“ als Beratungsstrategie („ja, so geht es einem in einer Situation wie dieser“). die Antizipation möglicher weiterer Entwicklungen. das Einspielen von bereits erprobten Lösungsmustern als Vorschlag/Anregung. „Verstehen“ als Modus, um Nähe aufrechterhalten und die Entscheidungsund Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen realistisch einschätzen zu können. kontextexplorierende Gesprächstechniken bei sehr engen/kargen Problembeschreibungen. das Erahnen von Problemkonstellationen, die von Fallbeteiligten noch nicht thematisiert wurden, durch das Wiedererkennen einzelner „Symptome“. Typische Konstellation und Ablaufstrukturen sind vorerst Modelle, die gemeinsame/ähnliche Merkmale hervorheben und Differenzen beiseitelassen. Anders wäre ihre Konstruktion gar nicht möglich. Als Modelle (Bilder, Metaphern) können sie Ablauflogiken verdeutlichen. Ob die modellierte Ablauflogik sich auch im Einzelfall findet, bedarf allerdings einer konkreten Überprüfung.
Die beschriebenen Konstellationen und Ablaufstrukturen bezeichnen i.d.R.
keine quasi-naturhaften Vorgänge, sondern beschreiben das Ineinanderwirken 30 Eine eindeutige Unterscheidung zwischen problemlösenden und problemgenerierenden Handlungen ist kaum möglich : Viele „objektiv“ problemgenerierende oder problemverschärfende Handlungen wie die hier genannten sind in der konkreten Handlungssituation für die Akteure problemlösende bzw. problemvermeidende : das Nichtlesen der Briefe bewahrt mich vor aktueller Verzweiflung über meine aussichtslose finanzielle Lage. Holzkamp wies bereits darauf hin, dass Menschen sich nie bewusst schaden können (1984).
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Muster und Komplexität
von Akteuren in einer gegebenen gesellschaftlichen Konstellation. Sie sind voraussetzungsvoll : Die Dynamik des Trennungsprozesses eines Ehepaares „lebt“ von zahlreichen Faktoren : von der rechtlichen Situation ; von den gängigen Hoffnungen und Erwartungen, die sich in der gegebenen Kultur mit der Ehe verbinden ; von den Vorstellungen über Geschlechterrollen ; von den Rollenbildern von Eltern und anderen Verwandten ; von den Möglichkeiten für beide Geschlechter, ihr Leben zu finanzieren usw. usf. – das „normale“ Muster kann also in verschiedenen Gesellschaften und/oder Gesellschaftsschichten und/oder Subkulturen durchaus unterschiedlich aussehen, aber auch innerhalb einer gesellschaftlichen Gruppe ist die Variationsbreite groß. Menschen können vom Gängigen abweichende Vorstellungen haben, die im Fall einer Trennungskrise zu anderen emotionalen Reaktionen und anderen Handlungsstrategien führen. Ihre ökonomische Lage kann eine andere Grundkonstellation schaffen, sie haben möglicherweise ihre Ehe nie als „Liebesehe“ definiert, andere Entwicklungen und Ereignisse in ihrem Leben machen die Trennungskrise ev. zu einem vergleichsweise wenig bedeutenden Ereignis.
Trotz dieser Einschränkungen der universalen Gültigkeit haben bestimmte
Problemkonstellationen mitunter für die in ihnen „gefangenen“ Personen eine nahezu materielle Realität. Sie fühlen sich selbst in ihren Handlungsmöglichkeiten radikal eingeschränkt, erleben einen Verlust an subjektiver Autonomie, sehen sich als „getrieben“ von der Situation (obwohl sie von anderen als „Täter“ identifiziert werden mögen). Eben deshalb sind sie dann bereit, Hilfe zu suchen oder anzunehmen.
Wenn wir solche Problemmuster mit der Konstruktion der „Krankheit“ in
der Medizin vergleichen, so sehen wir einerseits Ähnlichkeiten, andererseits aber auch gravierende Differenzen. Die Ähnlichkeit besteht in der Möglichkeit der Benennung des Musters, der Beschreibung einer Ablaufdynamik, von Symptomen und möglichen Komplikationen. Die Differenzen beruhen darauf, dass der Körper als Ort der Krankheit ein zwar ziemlich komplexes, jedoch vergleichsweise gut bekanntes System mit einer relativ geringen Variationsbreite ist und seine Grenzen eindeutiger scheinen, während die sozialen Systeme, die Probleme konstituieren, keine eindeutigen Grenzen haben, die Variationsbreite sehr groß ist, die Anschaulichkeit gering und die Akteure eigensinnig sind. Ist bei somatischen Zuständen eine Unterscheidung zwischen normal/funktional und abnormal/disfunktional naheliegend, ist diese Unterscheidung bei den „Problemen“ fragwürdig.
Muster und Komplexität
Während „Krankheiten“ i.d.R. als Unglück oder zumindest als unangenehm
empfunden werden, kann dies für die Problemmuster nicht nur nicht uneingeschränkt, sondern grundsätzlich nicht gelten. Wir haben über die politisch bestimmte (normative) Markierung bestimmter Sachverhalte als „Soziales Problem“ gesprochen. Bei vielen dieser daran geknüpften Muster wäre genauso denkbar, dass sie gesellschaftlich als normale Erscheinungsform menschlichen Lebens gelten (z.B. gilt das auch für unser Beispiel der Trennungskrise). Abweichend zur gesellschaftlichen Definition als Problem können auch einzelne oder alle Beteiligten an einer Situation diese als „normal“ einstufen : als ihnen zustehende oder zugedachte Lebensweise, als notwendige zu bewältigende Lebens- oder Entwicklungsaufgabe. Die Tatsache, dass sie an bestimmten Aspekten dieser Situation leiden mögen, ändert daran nichts : Wie jede und jeder weiß, besteht das Leben aus Freude und Leid.31 Der Anteil des Leids wird mitunter sogar dadurch vergrößert, dass „eine Situation wie diese“ von der Gesellschaft als „Soziales Problem“ eingestuft wird : Die Dynamik wird verändert, man wird der Kontrolle und Repression ausgesetzt etc. – die Diskussion über das „Rauschgiftproblem“ arbeitet sich an diesem scheinbaren Paradox ab.
Gerade am letztgenannten Beispiel zeigt sich, dass die Markierung als „So-
ziales Problem“ und das gesellschaftliche Bearbeitungsprogramm selbst als Voraussetzungen in die Ablaufmodelle eingehen. Die „typische“ „Drogenkarriere“ ist eben unter anderem von der Illegalisierung bestimmter Rausch- und Suchtmittel bestimmt und charakteristische Problemkonstellationen (z.B. die sogenannte Beschaffungs-Kriminalität und die Gefahr der durch Qualitätsschwankungen der Produkte unbeabsichtigt hervorgerufenen Überdosierung) wären unter anderen legistischen Bedingungen kaum zu beobachten.32
31 „Denn eine Gesundheit an sich gibt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definieren, sind kläglich missraten“, meint Nietzsche (o.J. : 117). Und weiter über die Gesundheit der Seele : „… welche freilich bei dem einen so aussehen könnte, wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem anderen. Zuletzt bliebe noch die große Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren könnten …“ Was Nietzsche hier über körperliche und seelische Gesundheit schreibt, sollte zumindest vorsichtig machen, wenn von „Krankheiten“ sozialer Beziehungen gesprochen wird. 32 Dafür aber möglicherweise andere durchaus gleichermaßen problematische Konstellationen. Es geht mir hier nicht um ein Plädoyer für die Legalisierung aller Rausch- und Suchtmittel, sondern nur um die Darstellung der Formung der Probleme durch ihre Bearbeitung.
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Muster und Komplexität
Ist bei Krankheiten der Ort ihres Erscheinens der Körper, so ist es bei den
Problemkonstellationen, mit denen Sozialarbeit zu tun hat, der Alltag, die Lebensführung.
Wir sehen also, dass das Problemmuster, das als Modell verwendet wird und
das in der Regel einen kategorisierenden Namen hat („Trennungskrise“ wäre eine sozialarbeiterische Benennung, das politisch definierte „Soziale Problem“ heißt „Scheidung“ bzw. allgemeiner : „hohe Scheidungsrate“) nur bedingt die Qualität einer Krankheitsdiagnose bietet : Während der „Krankheit“ Strategien der „Heilung“ zugeordnet sind, ist beim Problemmuster vorerst durchaus unklar, ob es um eine „Beseitigung“ dieses Musters gehen kann und/oder soll : Ob dies die Betroffenen wünschen, ob es ihnen überhaupt etwas nützen würde, ob die „Heilung“ mit vertretbarem Aufwand möglich ist und ob dadurch nicht noch größere Probleme für die Betroffenen oder andere entstehen würden. Soziale Probleme werden durch die Programme eher prozessiert als gelöst, und die Problembearbeitung kann durchaus dezentriert sein : Bewährungshilfe zielt nicht auf die Delinquenz als solche, sondern versucht die soziale Einbindung des Probanden zu verbessern ; akzeptierende Drogenarbeit nimmt die Drogenabhängigkeit inklusive einer Reihe von sozialen und lebensweltstrukturierenden Folgen als gegeben hin und zielt auf die Minimierung von Risken für Leben und Gesundheit unter diesen Rahmenbedingungen.
Was Problemmuster leisten können, wurde bereits oben beschrieben. Was
sie nicht leisten können, ist der Ersatz einer genauen fallbezogenen Diagnose. Die Feststellung, dass wesentliche Elemente eines bekannten Problemmusters im gegebenen Fall beobachtbar sind, gibt noch kaum einen Hinweis darauf, welche Probleme subjektiv zur Lösung anstehen und für welche Problemlösungsstrategien die beteiligten Personen bereit sind (was in einem notwendig kooperativen Prozess aber eine, wenn nicht die Kernfrage ist).
Ich werde auf diesen Kontext notwendiger Kooperation in der Folge noch
zurückkommen, vorerst aber soll noch einmal die Spezifik fallbezogener Probleme detaillierter betrachtet werden.
Ein kanadischer Kollege wies im Gespräch auf Ähnlichkeiten zwischen der
Sozialarbeit und Fächern wie der Architektur hin. Sozialarbeit sei eine „Design Science“. Insofern sei es mir nun erlaubt, auf das Thema Entwerfen aus dem Kontext der Architektur zurückzugreifen. Horst Rittel unterscheidet zwischen zahmen und bösartigen Problemen (engl. : tame vs. wicked problems), die Probleme des Entwerfens seien „wicked problems“, deren Charakteristika ich nun
Muster und Komplexität
in Verbindung bringe mit den Charakteristika von in der Beratung/Betreuung zu lösenden Problemen. Zusammen ergeben sie die :
Charakteristika von Fallproblemen 1. Probleme des Falles sind nicht eindeutig und endgültig formulierbar. 2. Die Lösungen sind nicht eindeutig und endgültig formulierbar. 3. Für die Probleme gibt es eine Vielzahl „richtiger“ Erklärungen (sie sind überdeterminiert). 4. An den Problemen sind mehrere AkteurInnen beteiligt. 5. Jede Akteurin und jeder Akteur beschreibt die Probleme anders und was für A ein Problem ist, kann für B die Lösung sein. 6. Die AkteurInnen sind eigensinnig und sie halten nicht still, bis der/die ExpertIn das Problem gelöst hat. 7. Jedes Fallproblem kann als Symptom eines anderen Problems aufgefasst werden. 8. Die Situation ist dynamisch. Sie ändert sich auch ohne das Zutun des/ der ExpertIn. 9. Die Zahl der Einflussfaktoren ist groß und nicht alle sind bekannt. 10. Wären alle Einflussfaktoren bekannt, wären die AkteurInnen einschließlich des/der ExpertIn handlungsunfähig, weil die Komplexität des Entscheidungsprozesses zu groß wäre. 11. Es gibt keine zwei gleichartigen Fallprobleme. 12. Fallprobleme besitzen keine vollständige Liste von Lösungen, ebensowenig lässt sich eine endliche Auflistung von Lösungsoperationen formulieren. 13. Die Arbeit an der Problembeschreibung ist eine Arbeit an der Problemlösung. 14. In die bösartigen (überkomplexen) Probleme sind zahme Probleme eingebettet, die relativ konventionell bearbeitet und gelöst werden können. 15. Es ist nicht sicher, dass bösartige Probleme gelöst werden müssen. 16. Probleme, auf deren Bearbeitung sich die AkteurInnen kommunikativ einigen, verlieren an Bösartigkeit.
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Muster und Komplexität
Zu diesen Charakteristika nun im Detail :
ad 1. Probleme des Falles sind nicht eindeutig und endgültig formulierbar. Der „Fall“ ist, wie ich in Kapitel 2.3 ausgeführt habe, ein Konstrukt ohne eindeutige Grenzen. Die Sozialarbeit dehnt den Fall durch ihren Blick auf die Kontexte aus. Jeder Fall besteht aus einem Set von Problemen, von denen manche für sich nicht interventionsrelevant wären, d.h. dass sie in die Fallkonstellation nur als Rahmenbedingungen eingehen. Sie werden nur deswegen mitbehandelt, weil sie mit zentraleren → Problemdefinitionen, mit dem → Auftrag/Mandat in Verbindung stehen. Zentriert wird der Fall über das im Dialog mit dem Klienten konstruierte Problem, und das ist wandelbar, kann je nach Entwicklung der Situation oder des Unterstützungsprozesses verändert oder durch ein anderes ersetzt werden.
Die thematische Eingrenzung des Falles ist nur als eine vorläufige zu ver-
stehen. Sie ist notwendig, um Überschaubarkeit und Handlungsfähigkeit zu erzeugen, sie definiert aber keine dauerhaften Grenzen des Falles.
ad 2. Die Lösungen sind nicht eindeutig und endgültig formulierbar. Da die Lösung der Probleme von mehreren komplexen dynamischen Systemen abhängig ist, die teils nur lose miteinander verkoppelt sind und nach verschiedenen Logiken funktionieren (psychische Systeme der KlientInnen und anderer fallbeteiligter Personen ; verschiedene soziale Systeme) kann jeder Lösungsschritt unerwartete Wirkungen auslösen oder können sich die Systeme aufgrund anderer Ereignisse verändert haben. Hinter jeder möglichen Lösung steht also ein Fragezeichen, die Brauchbarkeit von Lösungen muss im Prozess laufend überprüft werden.
ad 3. Für die Probleme gibt es eine Vielzahl „richtiger“ Erklärungen (sie sind überdeterminiert). Damit die aktuelle Situation eintreten konnte, mussten eine Unzahl von Ereignissen so ablaufen, wie sie abgelaufen sind. Einer aktuellen Lebenssituation, also einem Problem und dessen Kontext, kann nicht nur eine (in der Vergangenheit liegende) Ursache zugeordnet werden. Gleichzeitig formen das Problem die Situation und die Situation das Problem. Es lassen sich also immer mehrere Gründe für das Bestehen des Problems finden, wie sich auch viele Gründe für die kon-
Muster und Komplexität
krete Form des Problems beschreiben lassen. Gleichzeitig gibt es daher mehrere Ansätze für die Lösung, aber keinen für eine „sichere“ Lösung.
ad 4. An den Problemen sind mehrere Akteure beteiligt. Dieser Punkt bedarf nun wohl kaum mehr einer Erläuterung. Da Sozialarbeit immer auf die Person in der Situation abzielt, sind Probleme, die sie bearbeitet, immer solche, an denen mehrere Akteure „basteln“. Gerade dadurch entsteht ja die spezifische Komplexität sozialarbeiterischer Fälle.
ad 5. Jede Akteurin und jeder Akteur beschreibt die Probleme anders und was für A ein Problem ist, kann für B die Lösung sein. Da die Akteure Bestandteil der zu bearbeitenden Situation sind, ist es unumgänglich, dass sie die Situation und vor allem das Problem verschieden beschreiben : Sie haben zwangsläufig stark divergierende Perspektiven. Erst wenn man sich weit genug außerhalb des beobachteten Objekts befindet, können sich die „inneren“ Perspektiven stark annähern. Praktisch heißt das, dass, solange Beschreibungen durch zwei oder mehrere wichtige Beteiligte sich noch gleichen, die Exploration erst am Anfang steht.
Das widerspricht einem Alltagsverständnis, das die Gleichheit der Beschrei-
bungen eher für ein Zeichen halten würde, dass die Situation „richtig“ erfasst wäre. Ich sage : Wir haben sie offensichtlich noch überhaupt nicht erfasst.
Praktisch wird dann aber an kompatiblen Problembeschreibungen gearbei-
tet (s. Punkt 16). Wir erkennen auch hier das Muster von Entfaltung der Komplexität durch Erkennen der divergierenden Problemdefinitionen und anschließender Reduktion der Komplexität durch die Arbeit an der Zusammenführung.
ad 6. Die AkteurInnen sind eigensinnig und sie halten nicht still, bis der/ die ExpertIn das Problem gelöst hat. Wenn wir etwas abstrakt von der „Dynamik“ der Situation sprechen, verschwindet die Basis dieser Dynamik aus dem Blick. Personen können während eines Betreuungsprozesses ihr Leben nicht suspendieren. Sie leben auch nicht nur „in ihrem Problem“, sondern müssen noch viele andere, mit dem Problem nur schwach oder wenig verbundene Lebens- und Alltagsaufgaben erledigen. Gleichzeitig sind sie mit Lösungsversuchen beschäftigt, die nicht mit den SozialarbeiterInnen akkordiert sind. Sie konsultieren lebensweltlich Andere, sich selbst, andere BeraterInnen. Und sie handeln ganz einfach, weil sie das im Alltag
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Muster und Komplexität
tun müssen. Dadurch ändern sie selbst laufend den Kontext der Problemlösung oder verschieben das Problem. Die Unvorhersehbarkeit dieser Kontextänderungen und Verschiebungen wird dadurch gesteigert, dass Kontext und Problem von den Aktionen mehrerer Akteure bestimmt werden.
Angesichts dieser offensichtlichen allgemeinen Bedingung der Problembe-
arbeitung scheint es erklärungsbedürftig, warum manche Probleme und deren Kontext sich so wenig verändern, sich als weitgehend resistent gegen situationale Dynamik erweisen. Hierfür sind mehrere Erklärungen möglich : • das Problem und die für das Problem bestimmenden Strukturelemente der Situation sind dominant. Die Lebenssituation und die soziale Situation werden von diesem Thema bestimmt und es hat sich eine Routine gebildet, die das Alltagsleben funktionieren lässt. Die Klage über das Problem kann Teil dieser Routine sein. • Die das Problem wesentlich konstituierenden Kontextbedingungen können außerhalb des Einflussbereichs der Akteure liegen. • Manche AutorInnen, vor allem aus dem Bereich der Familientherapie, sprechen von „Skripts“, d.h. von unbewussten Lebens- und Handlungsprogrammen, die zur Wiederholung von biografisch bestimmten problemgenerierenden Modellen der Lebens- und Beziehungsgestaltung führen.33 Alle diese Erklärungen deuten darauf hin, dass die Prognose für die Lösung der formulierten Probleme eher schlechter wird, wenn die Akteure stillzuhalten scheinen und die Situation sich nicht als dynamisch darstellt. Wir sind damit bei einem neuerlichen scheinbaren Paradox angelangt : Was die Lösung schwierig zu machen scheint, ist, was erst eine Lösung ermöglicht.
ad 7. Jedes Fallproblem kann als Symptom eines anderen Problems aufgefasst werden. Auch hier widerspiegelt sich die Kontingenz der → Problemdefinitionen. Eine 18-jährige Gymnasiastin konsumiert seit Jahren illegale Suchtmittel und konsultiert nun, da ihr Maturaabschluss gefährdet scheint, eine Beratungseinrichtung. 33 Ich verfolge diesen letzten Argumentationsstrang nicht weiter, da er mir für den Zweck der Sozialarbeit zu psychologisierend scheint.
Muster und Komplexität
Dabei kommt auch das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter zur Sprache. StudentInnen, die eine ausführliche Falldarstellung zu analysieren hatten, äußerten die Vermutung, das Verhältnis zur Mutter sei das „eigentliche“ Problem. In dieser Fallvignette sind auf den ersten Blick drei mögliche Problemdefinitionen erkennbar : Drogenkonsum, Lernprobleme, Mutterbeziehung. Die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Psychologisierung alltäglicher Weltdeutung führt dazu, dass spontan Drogenkonsum und Lernprobleme als Symptome der Probleme in der Beziehung zur Mutter eingeschätzt werden. Ebenso gut könnte man allerdings die Lernprobleme und das gestörte Verhältnis zur Mutter als Symptom der Suchtproblematik auffassen. Weiters kann man alle drei Probleme als Symptome eines vierten, bisher noch nicht genannten Problems (z.B. einer Entwicklungsstörung infolge frühkindlicher Traumata) betrachten. Die Vorstellung, man könnte – etwa anhand der „richtigen“ wissenschaftlichen Theorie – entscheiden, was denn nun das „eigentliche“ Problem sei, führt in einen Teufelskreis, denn was ist denn nun die „richtige“, passende Theorie ? Die Kontingenz wird damit nur verschoben, aber nicht beseitigt.
Weiters bleibt die Frage offen, was ich denn nun gewonnen hätte, wenn ich
das „eigentliche“ Problem kenne. Für die Diagnose heißt die Austauschbarkeit von Problem und Symptom jedenfalls, dass es zwar möglich und nötig ist, ein Problem (bzw. mehrere Probleme) zu benennen,34 um den Fall überhaupt bearbeiten zu können, dass die so benannten Probleme aber nicht essenzialistisch missverstanden werden dürfen, so als wäre eine naturgegebene Hierarchie der Probleme vorhanden, die man nur auffinden müsste.
ad 8. Die Situation ist dynamisch. Sie ändert sich auch ohne das Zutun des/der ExpertIn. ad 9. Die Zahl der Einflussfaktoren ist groß und nicht alle sind bekannt. „Wicked problems“ sind eben deswegen Probleme, weil sie sind wie sie sind : nicht genau abgegrenzt, abhängig vom Verhalten mehrerer Menschen und Institutionen. Nicht für alle diese Personen und Institutionen genießt das Problem die gleiche Priorität. Dadurch fließen in die Entscheidungskalküle Überlegungen ein, die sachfremd sind. 34 Zum Beispiel beschränkt sich das PIE-Klassifikationssystem auf 3 Probleme : Mehr seien überhaupt nicht sinnvoll zu bearbeiten.
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Muster und Komplexität
Der drohende Schulausschluss von Markus S., den die Sozialarbeiterin zu verhindern versucht, hängt nicht nur vom Engagement seiner Mutter und deren Bereitschaft, mit der Schulleitung zu kooperieren, sondern auch von Markus und seinem Verhalten selbst ab. Weiters vom Willen des Klassenlehrers, von seinem harten Kurs abzuweichen. Aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle : Die Schulleitung war schon unter Druck gekommen, weil sie in arbeitsrechtlichen Fragen einen harten Kurs fuhr. Sie sucht nun einen Weg, um Bereitschaft zeigen zu können, die LehrerInnen auch zu entlasten. Der Fall von Markus S. gibt ihr dazu Gelegenheit. Daher will sie „ein Exempel statuieren“. Weder Sozialarbeiterin noch Markus, noch seine Mutter wissen davon. Sie wissen auch nicht, dass sich nun eine Änderung ergeben hat : Die Schulverwaltung will die Schulleitung zur Aufnahme eines Schülers zwingen, der aufgrund schwerer disziplinärer Verfehlungen aus einer anderen Schule ausgeschlossen worden war. Markus ist nun hinter den Kulissen zu einem Tauschobjekt geworden. Die Schule behält ihn, erspart sich dadurch die Aufnahme des anderen Schülers. Die Situation ändert sich also auch durch Entwicklungen, die mit dem Fall selbst vorerst nichts zu tun haben. Und da auch Einflussfaktoren wirksam sind, die auf ganz anderen Ebenen liegen, ist die Zahl der Einflussfaktoren groß und nicht überblickbar. Es kann nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden, welche Einflussfaktoren in Zukunft in dem Fall eine Rolle spielen werden.
ad 10. Wären alle Einflussfaktoren bekannt, wären die AkteurInnen einschließlich des/der ExpertIn handlungsunfähig, weil die Komplexität des Entscheidungsprozesses zu groß wäre. In Handlungskalküle kann nur eine begrenzte Zahl von Einflussfaktoren einbezogen werden, sonst dauert die Erwägung, was das Handeln für Folgen haben könnte, zu lang. Man kann das mit der Rechentiefe bei Schachprogrammen vergleichen. Bei Computerprogrammen, die die Überlegungen eines Schachspielers nachbilden, wächst die Komplexität und damit die nötige Rechenzeit und Rechenkapazität mit der Zahl der vorauszuberechnenden Züge exponentiell. Ähnliches gilt für die Berechnung von Modellen, die viele verschiedene Variablen berücksichtigen müssen. Da beim Handeln immer auch ein Zeitfaktor zu berücksichtigen ist (das heißt : Ich kann das Handeln nicht ohne Wirkung beliebig aufschieben), gibt es eine natürliche Grenze für die Zahl der Einflussfaktoren, die mitbedacht werden können. Zu detailreiches
Muster und Komplexität
Wissen kann also handlungsunfähig machen, wenn man nicht von den Details auch abzusehen lernt.
Spätestens hier müssen Anforderungen an diagnostische Verfahren in der
Sozialarbeit formuliert werden, die geeignet sein sollen, Probleme der beschriebenen Art zu erfassen und ihre Bearbeitung zu ermöglichen. Die Verfahren müssen einerseits der Informationsgewinnung dienen (also Komplexität erzeugen), andererseits diese Informationen wieder eindämmen und bündeln, um auf deren Basis Entscheidungen treffen zu können. Sie müssen also auch komplexitätsreduzierend wirken.35
Grafik 7 : Ablaufschema Diagnose
Die Grafik stellt den Prozess der Diagnose dar. In einem ersten Schritt leisten diagnostische Verfahren einen Beitrag zur Komplexitätsgewinnung : Das Verfahren verlangt die Sammlung und Generierung von Daten, in den meisten Fällen von Daten, die ohne Anwendung des diagnostischen Verfahrens nicht gesammelt/produziert worden wären. In einem zweiten Schritt werden die Daten auf eine spezifische Weise angeordnet, wie sie für das Verfahren charakteristisch ist (s. zum Beispiel die Netzwerkkarte oder den biografischen Zeitbalken). Die 35 Es ist die Crux der meisten anamnestischen Verfahren, dass sie zwar eine umfassende Da tenerhebung lenken, allerdings keine Struktur für deren Gewichtung legen. Sie verfehlen damit den zweiten Teil der Aufgabe.
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Muster und Komplexität
Datenanordnung generiert noch einmal zusätzliche Informationen, dient daher auch noch der Komplexitätsgewinnung. Gleichzeitig strukturiert diese Datenintegration allerdings bereits die Interpretationsmöglichkeiten vor, ist also auch ein Schritt zur Reduktion der Komplexität. Schließlich wird durch die Interpretation und Gewichtung der Daten eine weitere Komplexitätsreduktion erreicht, die Interventionsentscheidungen vorbereitet.
Diagnostische Verfahren bearbeiten also durch ihren Aufbau die Paradoxie
bösartiger Probleme : Sie leiten einen Schritt in Richtung Handlungsunfähigkeit (Erhebung von Details) mittels ihrer Struktur in einen Schritt zur informierten Handlungsfähigkeit über.
ad 11. Es gibt keine zwei gleichartigen Fallprobleme. Auf den ersten Blick mag diese Aussage banal wirken : Menschen sind verschieden, Fälle sind verschieden. Sie lautet aber noch eingeschränkter, es gebe auch keine zwei gleichartigen Fallprobleme. In dieser Radikalität scheint die Aussage falsch zu sein. Die Gleichartigkeit etwa der Lage von Haftentlassenen ohne Wohnung und Arbeit scheint ins Auge zu springen, und auch die Interventionen scheinen verhältnismäßig stereotyp zu sein. Sie sind das bei genauer Betrachtung aber nur vorerst und nur auf der Ebene einer recht oberflächlichen Betrachtung. Die Probleme sind so lange gleichartig, solange bewusst keine oder nur ganz wenige Kontextinformationen eingeholt werden. Die Gleichartigkeit ist also einer guten Verteidigungsstrategie gegen differenzierende Informationen geschuldet.
Diese Verteidigungsstrategie kann rational sein : Wenn etwa die Haftentlas-
senenhilfe mit einer riesigen Zahl von KlientInnen konfrontiert ist, die aufgrund ihrer rechtlichen Situation (ImmigrantInnen ohne Aufenthalts- oder gar Arbeitserlaubnis) keinerlei Zugang zu Hilfen haben. Sich auf diese Personen und ihre Lage einzulassen wäre aufgrund der personellen Kapazitäten gar nicht möglich. Die Lösung ist eine, die die SozialarbeiterInnen „rettet“ : Die Fälle werden routinemäßig behandelt, genauere Informationen über die Spezifität des Falles werden nicht nur nicht abgefragt, sondern auch abgewehrt, wenn die KlientInnen sie aktiv anbieten. Sozialarbeit findet hier fast nicht statt, und das geht auch nicht anders. Erst durch die aktive Routinisierung können die Fallprobleme als gleich erscheinen.
Die Probleme unterscheiden sich also zumindest durch ihren Kontext, d.h.
auch durch die anderen Probleme, die an ihrer statt noch formulierbar wären.
Muster und Komplexität
Nachdem ich die Aussage verteidigt habe, muss ich ihre Geltung doch ein-
schränken : Die Probleme enthalten typisierbare Teilaspekte. Wäre das nicht so, könnte man die Problembearbeitung nicht professionalisieren und nicht lehren, ja man könnte kaum über sie verallgemeinernd kommunizieren. Wenn von der Gleichartigkeit von Fällen und Problemen die Rede ist, ist immer von vergleichbaren Aspekten der Fallprobleme die Rede.
ad 12. Fallprobleme besitzen keine vollständige Liste von Lösungen, ebensowenig lässt sich eine endliche Auflistung von Lösungsoperationen formulieren. Im Punkt zwei haben wir schon davon gesprochen, dass Fallprobleme nicht eindeutig und endgültig formulierbar sind. Der Punkt 12 fokussiert auf eine verwandte Besonderheit (auch dieser Punkt stammt ursprünglich aus der Architektur-Liste). Lösungen und Lösungsoperationen können aus der Fallkonstellation heraus entwickelt werden. Sie sind immer wieder unspezifisch, d.h. dass sie nicht aus dem Problem, sondern aus den vorhandenen Ressourcen und aus dem Verhältnis der Problembeschreibungen zueinander abgeleitet werden können. Daher ist eine genaue Begrenzung der anwendbaren Lösungsoperationen auch nicht möglich und würde den Handlungsspielraum der SozialarbeiterInnen ungebührlich einschränken.
Für die Diagnostik bedeutet das, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwi-
schen Diagnose und Intervention nicht hergestellt werden kann. Die Diagnose kann bestimmte Lösungsstrategien nahe legen, deren konkrete Ausgestaltung aber nicht determinieren.
ad 13. Die Arbeit an der Problembeschreibung ist eine Arbeit an der Problemlösung. Nun ist es an der Zeit für eine Reihe von guten Nachrichten. Die Lösungsoperationen beginnen bei Fallproblemen nicht erst nach der Diagnose, sondern bereits mit der ersten Minute des Kontakts zwischen KlientIn und Sozialarbeiterin. Die fachlich durchgeführte Exploration ist, und dafür gibt es eine Reihe von Belegen, selbst schon eine nicht selten erfolgreiche Intervention.36 36 Zum Beispiel mussten HörerInnen einer meiner Vorlesungen Interviews mit Personen durchführen, die in ihrer Lebensgeschichte zumindest einmal Kontakt mit SozialarbeiterInnen gehabt hatten. Die häufigste Antwort auf die Frage, wie und ob ihnen geholfen
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Muster und Komplexität
Die auf die Exploration folgende Konstruktion, also das Gespräch darüber,
was denn nun das Problem sei und wie andere inklusive der Beraterin die Lage sehen, vergrößert diese Wirkung noch : Es werden neue Sichtweisen eingebracht und es findet eine Ordnung der Lageeinschätzung statt. Noch bevor der erste als Intervention markierte Schritt getan ist, wurden bereit einige, manchmal sogar hinreichende Schritte in Richtung Lösung getan.
ad 14. In die bösartigen (überkomplexen) Probleme sind zahme Probleme eingebettet, die relativ konventionell bearbeitet und gelöst werden können. Sozialarbeit ist Arbeit am Alltag, und der Alltag besteht immer wieder auch aus berechenbaren Abläufen und Routineaufgaben. Ein Teil der Probleme, die von den KlientInnen an SozialarbeiterInnen herangetragen werden, sind von diesen relativ einfach zu lösen. Es sind jene Probleme, die durch Mangel an Information, und ein Teil jener Probleme, die durch Mangel an Status und sozialem Kapital bedingt sind. Information kann problemlos weitergegeben werden, SozialarbeiterInnen können ihren eigenen Status (bzw. jenen ihrer Organisation) den KlientInnen „borgen“ und dadurch Hürden beseitigen, die sonst unüberwindlich gewesen wären. Solche Probleme sind zahme Probleme. Auf sie treffen die Feststellungen in dieser Liste nicht zu. Die Lösung solcher Probleme ist leicht planbar und ihre Erledigung ist eindeutig feststellbar.
Die in die bösartigen Probleme eingebetteten zahmen Probleme bilden
Inseln der Überschaubarkeit. Solche Inseln sind auch gefährlich : Es ist verführerisch, sich ganz auf sie zurückzuziehen. Die Phase der Komplexitätsgewinnung in diagnostischen Verfahren erschwert solche Komplettrückzüge.
ad 15. Es ist nicht sicher, dass bösartige Probleme gelöst werden müssen. Die Serie der „guten Nachrichten“ hält an : „Bösartige“ Probleme sind oft Probleme, mit denen Menschen gelernt haben zu leben. Ihre Markierung als Problem kann aufrecht bleiben, kann Teil einer Strategie sein, um sich mit dem
wurde, war, dass ihnen durch Zuhören geholfen wurde. Die Möglichkeit, die eigene Lage ohne frühzeitige Unterbrechungen durch Ratschläge in einer von Respekt geprägten Atmosphäre darzulegen, führt bereits zur Strukturierung eigener Positionen und hat damit eine „heilende“ und Handlungsfähigkeit aufbauende Wirkung.
Vom Modell zur Realität
Fortbestand des Problems abzufinden. Dies gilt vor allem für Probleme, deren Lösungen schrecklicher wären als das Problem selbst.
Ich rekurriere hier neuerlich darauf, dass die Definition von Problemen stets
eine subjektive Bewertung darstellt. Die Differenz von IST und wünschenswertem SOLL ist Bestandteil jeden menschlichen Lebens, und sie ist vielfach unauflösbar. Die Veränderung der Bewertung einer Situation, z.B. als „Rahmenbedingung“ und nicht als „Problem“, kann neue Perspektiven ergeben, manchmal überhaupt erst Perspektiven eröffnen. Dialektisches Denken, ein Denken in „Widersprüchen“, hat in der Sozialarbeit als Denken in „Ambivalenzen“ gute Tradition. Dabei werden als Problem markierte Situationen in ihrem Doppelcharakter wahrgenommen : als unangenehm, behindernd ebenso wie als entwicklungsermöglichend.
ad 16. Probleme, auf deren Bearbeitung sich die AkteurInnen kommunikativ einigen, verlieren an Bösartigkeit. Die beste Nachricht steht am Ende : Der Verständigungsprozess zwischen mehreren problembeteiligten Personen darüber, was als Problem gesehen und einer Bearbeitung zugeführt werden soll, verändert den Problemcharakter der Situation. Die Annäherung der Beschreibungen ermöglicht Verständigung über die Situation, gemeinsame Einschätzungen über Fortschritte und Hindernisse. Ohne dass dadurch Interessendifferenzen aufgehoben wären, ist doch eine kommunikative Bearbeitung möglich. Die Chancen einer positiven Beeinflussung der Situation steigen beträchtlich. Die Einigung auf eine (oder einige wenige) → Problemdefinition(en) muss i.d.R. mit einer zumindest partiellen Anerkennung der Sichtweisen/Ziele anderer problembeteiligter Personen einhergehen. Die Handlungssteuerung wird dadurch eher unter Einbeziehung der anderen im System vorhandenen Relevanzstrukturen erfolgen. Dieser engere Rückbezug der Aktionen der Einzelnen auf die Bedürfnisse der anderen kann unkontrollierte Dynamiken besser abpuffern.
Wir erkennen damit in der basalen sozialarbeiterischen Operation der Er-
kundung der im Feld vorhandenen Problembeschreibungen durch relevante AkteurInnen einen Schritt zur „Zähmung“ bösartiger Probleme.
Vom Modell zur Realität Die Generierung einer Problembeschreibung (Diagnose) ist für die Fallbearbeitung aus Sicht der lebensweltlichen Akteure nicht in jedem Fall notwendig
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Muster und Komplexität
und vor allem für die Bearbeitung nicht hinreichend, aber sie beruhigt. Die Beruhigung kann das Problem einer Lösung näher bringen, kann es aber auch konservieren oder sogar verschärfen. Benennung hat magische Komponenten, die das Handeln verschiedener Akteure orientiert.
Diagnosen, die abseits des → KSI erstellt werden, also Diagnosen vom Typ
C37,
sind nicht unmittelbar handlungsanleitend. Sie generieren Bilder (Modelle),
die den SozialarbeiterInnen als Landkarten für die Entscheidung über mögliche nächste Schritte dienen. Sie erfordern eine doppelte Transformation : Transformierung der „Wirklichkeit“ in ein Modell – und in einem zweiten Schritt die Transformierung der Lösungsschritte im Modell in Lösungsschritte in der Realität. Modelle sind Instrumente, um Lösungsmöglichkeiten auffinden zu können. Aber Modelle bilden immer nur Ausschnitte der realen Komplexität ab. Für jede Realsituation sind mehrere, durchaus unterschiedliche Modelle denkbar. In unterschiedlichen Modellen können auch unterschiedliche Lösungsschritte gefunden werden. Die zweite Transformierung – also die „Rückübersetzung“ des im Modell gefundenen Lösungswegs in die Realität – ist die kritische Phase dieses Prozesses. „Richtige“ Modelle können zu „falschen“ Schritten führen, „falsche“ Modelle zu „richtigen“ Schritten. Nützliche Modelle müssen eine Gleichförmigkeit zu bestimmten wesentlichen Aspekten der Fallkonstellation aufweisen, wobei die Richtigkeit der Benennungen nicht so wichtig ist wie die Richtigkeit der Verbindungen zwischen den Elementen. Die Modelle sind analoge Abbildungen, nicht digitale. Bestimmte im Supervisionskontext verwendete Verfahren erfüllen diese Anforderungen (z.B. die Modellierung eines Fallkontextes mit Figuren – Aufstellungen ; die Vergegenständlichung von eigentlich immateriellen „Sachen“ wie in der Gestalttherapie). Sie können als diagnostische Verfahren gelten und sind nützlich, soweit das Modell nicht mit der Wirklichkeit verwechselt wird.
Gerhard Portele (1989 : 170 f.) verweist auf Ähnlichkeiten zu dem, was Bert
Brecht mit „Verfremdung“ bezeichnet hat : „Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen lässt“ (Brecht 1957 : 150, zitiert nach Portele 1989 : 171). Portele ergänzt, dass eine solche Abbildung den Gegenstand eben nicht selbstverständlich oder natürlich erscheinen lasse (ebd.).
Solche Verfahren sind im konventionellen Sinne nicht wissenschaftlich. Folgt
man Karl E. Weicks (1995 : 59ff.) Definition von „aphoristischer Forschung“, kön37 Zu den verschiedenen Typisierungen komme ich im Kapitel 7.0.
Positionierung zum Alltag
nen sie aber sehr wohl dem Bereich wissenschaftlicher Methoden zugerechnet werden. M.E. wäre für eine anwendungsbezogene Wissenschaft dann allerdings auch eine systematische Reflexion und Forschung über die Reichweite der Analogien zwischen Metaphern/Bildern und den Wirklichkeiten der Fallkonstellationen erforderlich : eine kritische Betrachtung der Metaphern von außerhalb des metaphorischen Horizonts. Untersucht müsste dann nicht die „Richtigkeit“ der Begriffe und Kategorisierungen, sondern die der formalen und funktionalen Analogien werden. Kein leichtes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass Wissenschaft traditionellerweise in ihrem Zentrum die Arbeit an Begriffen hat.
Wenn wir nun die Aufmerksamkeit auf die Unübersichtlichkeit und die Me-
taphorik gerichtet haben, so gilt es nun, auch dem „Handfesten“ in der Sozialarbeit zu seinem Recht zu verhelfen, das in der sozialarbeitswissenschaftlichen Literatur eine nur marginale Rolle spielt. Die (voraussehbare) Schwierigkeit wird sein, das oben beschriebene Komplexe theoretisch mit dieser alltagspraktischen Seite sozialarbeiterischer Intervention (und Interventionsplanung) zu vermitteln. Besonders herausfordernd wird es sein, die oben geforderte Reflektiertheit der Diagnostik mit der alltagspraktischen und in Alltagsbegriffen operierenden Diagnostik täglicher Lebensführung zu verbinden, ohne eben erst erhobene Ansprüche wieder zurückzunehmen.
Positionierung zum Alltag Alltagspraxis ist nicht nur eine Praxis von Kommunikation, von Beziehungen, sondern auch eine Praxis der Selbstorganisation, des Selbst-Managements in einer gesellschaftlichen und gesellschaftlich geformten gegenständlichen Welt. Die alltägliche Lebensführung stellt Anforderungen an die Orientierung, erfordert Fertigkeiten und Gewohnheiten, Tätigkeiten und Unterlassungen, um problemlos zu „funktionieren“, d.h., um den Anschluss an die Quellen der Subsistenz aufrechtzuerhalten. Man muss mit Geld umgehen können, sich leidlich sauber halten, wissen, wie man zu Geld kommt, wie man einkauft, wie man kocht etc., und je geringer die Ressourcen sind, umso anspruchsvoller kann sich die gesellschaftliche Anforderungslandschaft gestalten.
Eine bestimmte Hilfe bei der Bewältigung der Orientierungs- sowie der
„Jagd- und Sammelaufgaben“38 bieten die lebensweltlichen sozialen Netze, in 38 Es handelt sich hier um Aufgaben, die zum alltäglichen Überleben, zur Versorgung mit
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Muster und Komplexität
die Menschen eingebunden sind. Familien und Subkulturen (oder zumindest Gruppen, Cliquen, Gesellungen) bilden einen eigenen Anforderungsrahmen mit möglicherweise „niedrigerem“ oder zumindest anderem Anspruchsniveau, innerhalb dessen Ressourcen des täglichen Überlebens zugänglich sind oder die nötigen Fertigkeiten zur Ressourcenbeschaffung eingeübt werden können.39
SozialarbeiterInnen sind nicht nur (aber immer wieder auch) TherapeutIn-
nen. Bei der Lektüre der systemischen Literatur hat man oft den Eindruck, dass unter der Hand dem Therapeuten bzw. der Sozialarbeiterin eine Position weit außerhalb zugewiesen wird. Aber SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind gleichzeitig auch Mitakteure im System des Alltags. Ihnen wird sowohl von den KlientInnen (und ihrem Umfeld) als auch von ihrer Institution (dem Staat) eine Rolle als Normentransporteur zugeschrieben, d.h., sie können auch sagen, was IST bzw. was „gut“ IST (d.h. im kommunikativen Zusammenhang der Gesellschaft als gut gilt). Sie agieren praktisch, also als Akteure des Alltags. Sie sind im System, sind RepräsentantInnen des Systems und werden als solche beobachtet. Der therapeutische Gestus der Losgelöstheit vom System ist ihnen stimmig nicht möglich, weil sie nicht verhindern können, als VertreterInnen des Systems (der „Gesellschaft“, des „Staates“) beobachtet zu werden.
So ist auch ihr Zuhören ein anderes wie das Zuhören eines lebensweltlichen
Mit-Menschen : Es hört die Gesellschaft zu. Und ihr Agieren ist ein gleichzeitig lebensweltliches (lebensweltlich wirksames), wie auch ein Agieren als RepräsentantIn einer gesellschaftlichen Institution (mit den Insignien der Macht oder zumindest der Normenkonformität).
Einen Standort „ganz außen“ zu beziehen, die Einnahme einer Position der
Abstinenz, ist SozialarbeiterInnen vielleicht subjektiv möglich, aber diese Sicht
Nahrung, Unterkunft etc. bewältigt werden müssen. Diese Aufgaben sind in einer modernen, hoch arbeitsteiligen Gesellschaft einerseits wesentlich anders geartet, als in einer naturhaften Umwelt, weisen andererseits trotzdem ähnliche Strukturen auf. Die gesellschaftlich geformte soziale und gegenständliche Umwelt wird als quasi-naturhaft wahrgenommen und „abgeerntet“. Je prekärer die Existenz ist, umso ähnlicher wird die Arbeit zur Subsistenzsicherung dem „Jagen und Sammeln“. Man denke etwa an die Existenzbedingungen von Straßenkindern oder von Wohnungslosen außerhalb der Heime. 39 Diese Alltagsfertigkeiten können vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft durchaus deviant sein, wie etwa der Diebstahl oder der Handel mit illegalen Drogen, mit denen sich manche nicht-legal oder halb-legal in Europa aufhältige Menschen über Wasser zu halten vermögen.
Positionierung zum Alltag
beruht stets auf einer Selbsttäuschung (die Mehrzahl der BeobachterInnen würde den Standort der SozialarbeiterInnen wohl anders beschreiben).
Als lebensweltliche Akteure, als VertreterInnen einer staatlich finanzierten
Organisation, übernehmen sie Pflichten (des Handelns) und einen Rahmen, der ihren Äußerungen wie ihren Handlungen eine Bedeutung verleiht. Von diesem Rahmen kann man vielleicht absehen, aber man kann ihn nicht abwerfen.
Expliziert an einem Beispiel : Peter Flosdorf (1997 : 35) berichtet von einem
Erzieher, der einem Jugendlichen, der sich das Leben nehmen will, dabei zusieht, wie er die vor ihm liegende Tablettenpackung langsam nacheinander entleert und den Inhalt schluckt. „Zuschauen, Anhören, Mitfühlen und Interpretieren, aber kein klärendes Handeln, psychologische und sozial-ökologische Reflexion, aber keine pädagogisch-handelnde Intervention“ (ebd.). Es scheint einsichtig, dass der Erzieher dem Jugendlichen die Tabletten wegnehmen müsste. Das wäre weniger pädagogisch-handelnd, wie dies Flosdorf meint, sondern einfach menschlich, genauer gesagt : mit-menschlich (vgl. Ertl 1996, Pantucek 1997). Der Erzieher hat in dieser Situation als → Mitmensch versagt und er hat als Profi versagt. Letzteres doppelt : Zum einen, weil sein Professionalismus seine Verpflichtung, als Mitmensch zu handeln, nicht suspendiert. Zum anderen, weil er offensichtlich einem fatalen Missverständnis über seine Rolle aufgesessen ist. Als Erzieher bzw. Sozialpädagoge ist er eben nicht in erster Linie Interpret. Er agiert eben nicht in einem abgegrenzten therapeutischen Setting, sorgfältig geschieden von „normalen“ alltäglichen Lebenssituationen. Er agiert direkt in der Lebenswelt des Jugendlichen, muss dort auch als Akteur selbst Verantwortung übernehmen. Das wird von ihm erwartet, und wenn er nicht bereit ist, diese Verantwortung zu übernehmen, macht er sich des Betrugs an seinen KlientInnen schuldig. Seine Anwesenheit ist eine Botschaft : Ich bin DA, ich bin in deinem Alltag, in deinem Leben. Unsere Beziehung ist eine, die der Logik von Alltagsbeziehungen nicht enthoben werden kann. SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen sind eben nicht ausschließlich „stellvertretende DeuterInnen“ (Haupert 1994).
Hier versagen diagnostische Instrumente und Interpretationsmuster, die an
gesellschaftlich durchschnittlichen oder mehrheitlich geltenden Normen orientiert sind, vollends. Der gesellschaftliche Ort, von dem aus die KlientInnen ihr Leben gestalten müssen, liegt zu oft außerhalb des Bereichs, in dem diese Mehrheitsnormen gültig sind und ihre Einhaltung nützlich ist. Auf diesen Umstand konzentriert die „lebensweltorientierte“ Schule der Sozialarbeit (vgl. Thiersch
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Muster und Komplexität
1992 und 1993, Grunwald u.a. 1996)40 ihre Aufmerksamkeit. Konsequenterweise geraten dadurch auch ethnographische Methoden als Mittel einer fallbezogenen Lebensweltanalyse in den Blickpunkt (vgl. Schütze 1994).
So nötig die Betonung der Bedeutung lebensweltlicher Zusammenhänge, der
Bedeutung des sozialen Ortes auch ist, von dem aus die KlientInnen ihr Leben in dieser Gesellschaft zu organisieren versuchen, so fragwürdig ist es aber auch, diesen Ort als ihren „eigentlichen“ und als völlig getrennt vom gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang zu sehen. Die Subkulturen und prekären Welten sind vielfältig mit der Gesellschaft verbunden, viele der an den Kommunikationen der Subkulturen teilnehmenden Menschen haben gleichermaßen Erfahrungen mit dem, was als „Normalität“ gilt und was ihnen (zu ihrer gegenwärtigen) als alternative Lebensform zumindest auch vor Augen ist. Ihr Verhältnis zu diesen „Normalitäten“ mag konflikthaft sein, kann aber doch nicht leichtfertig aufgegeben werden bzw. würde ein Abreißen der Verbindungen als schmerzhafter Riss in der Biografie erlebt.41
Die Verbindungen zu einem „normalen“ oder „besseren“ Leben sind oft
individuelle, werden von Individuen gegen die Dynamik der Subkultur, in der sie sich auch aufhalten, gepflegt. Sie sind für die sozialarbeiterische Diagnose und für den Unterstützungsprozess so wichtig, wie die dominant scheinenden lebensweltlichen Bezüge und Normen.
40 In diese Kategorie gehört auch das „Radical Casework, das stärker auf die Kategorien Ethnizität und Klassenzugehörigkeit fokussiert“ ist (Fook 1993). 41 Ich denke hier z.B. an schwierige Kinder, die aus der Schule ausgeschlossen werden ; an Jugendliche, die den Kontakt zu ihren Eltern verlieren ; an Wohnungslose, die sich noch bemühen, auf ordentliche Kleidung zu achten usw. usf.
6. Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
Wir haben nun bereits einige Charakteristika der Fälle und der Problemstellungen der Sozialarbeit beschrieben. Im nun folgenden Kapitel werden noch einmal einzelne Fragestellungen und Widersprüche behandelt, deren Berücksichtigung m.E. zu einem konstruktiven Verständnis der Rolle Sozialer Diagnose im Unterstützungsprozess erforderlich sind.
Vorerst seien auf Basis der bisherigen Ausführungen noch einmal einige
Kennzeichen der Sozialen Diagnose festgehalten : Soziale Diagnostik erhebt den → Problemkontext „verhandelt“ die → Problemdefinition mit den Beteiligten versucht Ressourcen aufzuspüren sucht nach Bearbeitungs- und Lösungsmöglichkeiten macht „Wirkungen“ und „Nebenwirkungen“ von Aktionen und Interventionen verhandelbar veranschaulicht problemrelevante Zusammenhänge ermöglicht Entscheidungen zur Problembearbeitung für die KlientInnen und zur Interventionsplanung für die SozialarbeiterInnen. Und : Es gibt keine relative Selbstständigkeit der Diagnose vom Unterstützungsprozess, d.h., dass die Diagnose selbst bereits Intervention ist, Wirkung zeigt.
Dass Soziale Diagnostik in einem fragwürdigen Rahmen gesellschaftlicher
Entwicklungen stehen kann, dass sie zur Aussonderung missbraucht werden kann, hat Keupp ausgeführt. Er stellt Diagnostik in den Kontext von Versuchen der stärkeren Strukturierung und Planung sozialarbeiterischer Betreuungsprozesse :
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
Jetzt geht es um eine neue „Gatekeeper“-Rolle. Eine Mauer zwischen produktivem Kern und der „misfit“-Mehrheit muss hochgezogen und sorgsam bewacht werden. Es müssen verschiedene Normalitätsstandards auf den beiden Seiten der Grenzmauer geschaffen und aufrechterhalten werden. Es sind vor allem zwei Aufgaben, die psychosoziale Fachleute zu übernehmen haben, die eine Mischung von absoluter Härte und Konsequenz in der Selektionsfunktion und eine hohe Animations- und Integrationsfähigkeit jenseits der hochgezogenen Grenzen zum Kern erfordern : (1) Psychosoziale Fachleute sollen eine differenzierte, computergestützte Diagnostik entwickeln, um die Gruppe der „misfits“ frühzeitig erkennen und aussondern zu können. Das ist keine einfache Aufgabe, es werden immer wieder prekäre Situationen entstehen, die eine hohe professionelle Verantwortlichkeit erfordern. Wenn etwa bei der Diagnostik beim Zugang zur Kernelite „eine von der Norm abweichende Leistung geboten (wird), dann ist man bemüht, unfähige oder erfolglose Leute zu entfernen, selbst gegen den Widerstand von Gewerkschaften oder die Einflussnahme staatlicher Beamter. Dazu kommt es in aller Regel in Krisenmomenten oder im Verlauf von Gesundheitsuntersuchungen, die eine Suspendierung medizinisch gerechtfertigt erscheinen lassen“ (S. 88). (2) Eine zweite Aufgabe folgt aus dieser Selektion : Der großflächige Umbau von Motivlagen. „Da die hochqualifizierte Kerngruppe der technologischen Gesellschaft an dem Prinzip der Arbeit orientiert ist, während die Massen notwendigerweise am Prinzip der Freizeit orientiert sind, müssen wir neue Schulprogramme und Bildungspläne schaffen, um die Gesellschaft auf diese Rollenumverteilung vorzubereiten“ (S. 92). Die bei uns so abwertend gemeinte Idee vom „kollektiven Freizeitpark“ kann man hier assoziieren. (Keupp 1998 : o.P., immer Ruesch zitierend) Wenn es denn diese Entwicklung zur Identifizierung der Nicht-Elite, zu Risikopopulationen gibt (wie übrigens auch Castel behauptet), so gerät Diagnostik überall, nicht nur in der Sozialen Arbeit, in Verdacht, an der Selektion aktiv mitzuwirken. Eine Lösung, die das verhindern könnte, habe auch ich nicht anzubieten. Ich kann nur darauf hinweisen, dass manche Verfahren eher für eine Selektionsdiagnostik geeignet sind, andere weniger. Und darauf, dass für Selektion nicht unbedingt ExpertInnen nötig sind, sondern sie durchaus bürokratisch erfolgen kann. Vorerst kann ich nur vorschlagen, diesem Widerspruch bzw. dieser Gefahr
Assessment oder Diagnose
nicht dadurch vermeintlich aus dem Weg zu gehen, dass man die fachlichen Prozesse der Situationseinschätzung dem Diskurs und damit der Überprüfbarkeit entzieht.
6.1 Assessment oder Diagnose Während der „Assessment“-Begriff42 in der letzten Periode der Entwicklung der Sozialarbeit unzweifelhaft Karriere gemacht hat, wurde kaum mehr von Diagnose gesprochen. Unter Assessment wird dabei in der Regel eine umfassende Bestandsaufnahme der Lebenssituation der KlientInnen verstanden, aus der dann das Design des Unterstützungsangebots abgeleitet werden könne.
Francis J. Turner (2002 : 127) hält „Assessment“ für einen allzu verwasche-
nen Begriff, der verschleiert, dass Sozialarbeitspraxis stets Beurteilungen enthält, ohne sie nicht auskommen kann. M.E. fokussiert Assessment auch zu sehr auf eine umfassende Datenerhebung, zu wenig auf strukturiertes Urteilen. Ein Assessment zu machen ist fast nur bei jenen oben dem Case Management zugeordneten Falltypen sinnvoll. Eine Vielzahl von KlientInnen der Sozialarbeit sucht bloß Auskunft, wird nur kurz betreut, konsultiert SozialarbeiterInnen nur zur Bewältigung eines relativ abgegrenzten Problems. Diese Fälle wurden zum Schaden der Profession zuletzt kaum noch in der methodischen Literatur beachtet und der Sinn einer Lageeinschätzung scheint manchmal nur mehr im Finden einer „zuständigen“ Spezialeinrichtung zu liegen, die dann ihr Standardprogramm am Fall abspult, wie das Enno Schmitz u.a. (1989 : 142) beschrieben haben.
Diagnose kann ausgreifend sein und versuchen, zentrale Aspekte einer Le-
benssituation umfassend einzuschätzen, häufiger aber bezieht sie sich auf einen besonderen Aspekt, der zu beurteilen und aus dem Konsequenzen für die weitere Gestaltung des Prozesses zu ziehen sind. Turner (2002 : 126) : „To decide in a fifteen-minute phone call that a client only needs and wants information about the hours of service of a particular setting requires as much diagnostic
42 Besondere Bedeutung bekam das Assessment im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Case-Management-Ansatzes als Konzept für die Bearbeitung von Fällen mit vielfältigen Bedürfnissen. Dieser wurde zuerst dargestellt bei Wendt (1991), neuerdings zahlreiche Publikationen, z.B. Neuffer (2002), Kleve u.a. (2003), vanRiet und Wouters (2002).
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
knowledge and skill as it does to judge in a very few minutes that in fact this is a highly suicidal adolescent who needs the full gamut of our community’s response mechanisms to save his life.“
Und weiter : „Unfortunately, when diagnosis became identified with a search
for pathology in a psychiatric oriented perspective, it lost its true meaning, which led to its rejection“ (ebd.).
Hier verweist Turner auf ein weiteres Missverständnis, das Diagnosen grund-
sätzlich als pathologisierend versteht, nicht als Versuch der systematischen und kenntnisreichen Beurteilung einer Situation und des sozialarbeiterischen Handlungsbedarfs.
Ich schließe mich dieser Einschätzung an, sehe den Begriff der Diagnose als
gleichzeitig breiter und präziser als den des Assessments und finde es für an der Zeit, dass das vorhandene „tacit knowledge“ sozialarbeiterischer Diagnostik systematisch gesichtet, aufgezeichnet und damit der Diskussion und Überprüfung zugänglich gemacht wird. Für die gewünschte weitere Professionalisierung der Sozialarbeit ist das ebenso unerlässlich, wie für die Entwicklung einer an der Unterstützung und Verbesserung der Praxis orientierten Sozialarbeitswissenschaft.
6.2 Stigmatisierung und Diagnose Eines der Argumente, die am häufigsten gegen die Entwicklung einer Diagnostik in der Sozialen Arbeit vorgebracht werden, befürchtet die Stigmatisierung der KlientInnen durch etikettierende Persönlichkeitsdiagnosen.
Um die Unangemessenheit dieses Arguments erfassen zu können, muss man
sich vor Augen halten, wie weit verbreitet stigmatisierende Etikettierungen in der Praxis der Sozialarbeit sind und wie häufig sie dazu dienen, KlientInnen von Hilfeleistungen auszuschließen. Der weit verbreitete Mangel an beschreibbaren und nachvollziehbaren Verfahren, mit denen SozialarbeiterInnen zu ihren Einschätzungen und Entscheidungen kommen, trägt mit Schuld an der prekären Situation der Sozialarbeit als Profession.
Mangels nachvollziehbarer Diagnoseverfahren greifen SozialarbeiterInnen
in ihrer Praxis notwendigerweise auf Ressourcen zurück, die für eine Profession unangemessen sind. Letztlich sind es Alltagstheorien oder die durch die Praxis der Organisation gewohnten Etikettierungen, die eine trügerische Sicherheit in
Stigmatisierung und Diagnose
der Begründung von fallbezogenen Entscheidungen geben (s. dazu auch Abschnitt 6.13).
Zu solchen stigmatisierenden Kategorisierungen gehören Prädikate wie „un-
motiviert“, „Kooperationsverweigerung“, „uneinsichtig“ usw.
Diagnoseverfahren wie die hier vorgeschlagenen können zwar nicht ganz
freigesprochen werden von der Gefahr einer fortdauernd wirksamen Stigmatisierung der KlientInnen, stellen m.E. aber doch gegenüber einer wie oben dargestellten Praxis einen bedeutenden Fortschritt dar. Die Wege zur Gewinnung von Einschätzungen werden offengelegt und damit auch ein Diskurs über die Angemessenheit von Interpretationen des Datenmaterials ermöglicht.
Meines Erachtens ist der Anspruch an die Fachkräfte, stigmatisierungsfrei in
einer offenen Aushandlung zu einer adäquaten Einschätzung der Situation zu kommen und auf dieser Basis des Verstehens eine Hilfeplanung zu moderieren, kaum einlösbar. Diagnoseverfahren wie die hier vorgestellten können eine Krücke sein, um auf einem höheren Niveau als dem des „common sense“, dessen Berechtigung allerdings unbestritten bleiben soll, zu Grundlagen für eine Entscheidungsfindung zu kommen. Ohne die Hilfe strukturierter Verfahren setzt sich nämlich (und auch hier sei ein Verweis auf den Abschnitt 6.13 gestattet) ein organisationskonformistisch pervertierter Alltagsverstand durch, der das ohnehin vorhandene Machtgefälle zwischen SozialarbeiterInnen und KlientInnen verschärft.
Die Kritik an einer bewussten und kontrollierbaren Diagnostik in der Sozial-
arbeit muss sich also ihrerseits selbst die Replik gefallen lassen, dass sie relevante Berufsvollzüge mit weitreichenden Auswirkungen auf die Biografien von KlientInnen einer systematischen wissenschaftlichen (oder zumindest : kontrolliert professionellen) Fundierung zu entziehen versucht und so die Fachkräfte der Dominanz der Logik der Institutionen ungeschützt aussetzt.
Voraussetzung dafür, dass Soziale Diagnose den Prozess der Stigmatisierung
unter Kontrolle halten kann, sind allerdings die Konzentration auf die Diagnose von Problemkonstellationen und Situationen und die Gewährleistung des dialogischen Charakters von Entscheidungsprozessen über die Hilfen. Dass diese Bedingungen bei einem Verzicht auf kontrollierte Diagnoseverfahren keineswegs gewährleistet sind, zeigt u.a. die Kritik von Finkel (2002).
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
6.3 Prozess und Expertentum Ein weiterer möglicher Einwand gegen eine kontrollierte Diagnostik in der Sozialarbeit bezieht sich auf die befürchtete Missachtung des Prozesses gegenüber einer scheinbaren Objektivierung der zu bearbeitenden sozialen Sachverhalte. Dieser Einwand ist schwerwiegend, denn tatsächlich kann die Bedeutung des Prozesses – oder, in anderen Worten, der Beziehungsdynamik zwischen HelferIn und KlientIn – kaum hoch genug geschätzt werden.
Die besondere Beachtung, die der Prozess der Beratung bzw. Unterstützung
selbst gegenüber den externen Faktoren genießt, hat sowohl ideengeschichtliche als auch empirische Gründe. Ideengeschichtlich ist es vor allem die große Zeit des „Case Work“, die das Augenmerk, informiert durch die Erkenntnisse der Psychoanalyse und der humanistischen Psychologie, auf die „helfende Beziehung“ (Biestek) gelenkt hat. Das Expertentum der BeraterInnen zeigte sich demnach stärker in einer in der Beratungsbeziehung realisierten „Haltung“ gegenüber den KlientInnen und ihren Anliegen als in objektiviertem Wissen über die Situationen, Defizite und Hilfemöglichkeiten. Das Vertrauen in die Heilkraft des Prozesses selbst wurde durch die einflussreiche Methode der Gesprächstherapie nach Rogers (1983) noch gesteigert. Die Gesprächstherapie sollte die Selbstheilungskräfte der KlientInnen wecken und nutzen. Die Client-Centered Therapy wurde mit dem Pathos der besonderen Menschenfreundlichkeit propagiert. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich das 1965 von Weizenbaum entwickelte Computerprogramm „Eliza“43 anzusehen, ein Spiel, bei dem der Rechner die Rolle eines Psychotherapeuten übernimmt. Der Spieler tippt seine Sorgen und Nöte ein, und Eliza schickt Antworten auf den Bildschirm – scheinbar sinnvolle Antworten. Wenn der Spieler zum Beispiel eingibt : „Ich bin die ganze Zeit so depressiv“, dann antwortet das Programm : „Es tut mir leid zu hören, dass du depressiv bist.“ Elizas Sätze werden mit ganz einfachen Rechenregeln generiert : Das Programm pickt sich zum Beispiel Stichworte aus dem Text des Benutzers und formt daraus neue Sätze. Man scheint also mit einem fiktiven Therapeuten zu kommunizieren – und dieser Therapeut praktiziert so etwas wie Gesprächstherapie nach Rogers. Wie ein konsequent nondirektiver Therapeut verweist das Programm den Spieler („Klienten“) immer wieder auf sich selbst zurück. Was Weizenbaum, der über den Erfolg des 43 Eine deutschsprachige Version von Eliza ist auf der Website http ://bs.cyty.com/stjakobi/ archiv/games/rat.htm zu finden.
Prozess und Expertentum
Programms selbst eher entsetzt war, nicht verstand, war, dass viele einem Dialog mit Eliza tatsächlich einen therapeutischen Wert zugestanden.
In unserem Zusammenhang ist daran interessant, dass die Betonung des
Prozesses in der Beratung nicht notwendigerweise heißen muss, dass weniger technologisch oder mechanistisch vorgegangen werden muss. Im Gegenteil konzentriert sich das Expertenwissen auf die Gestaltung dieses Prozesses, der Interaktion zwischen Beraterin und Klientin selbst, während die Wirklichkeit außerhalb des Gesprächs von der Beraterin nicht mehr selbst beurteilt oder interpretiert wird und in ihr auch nicht mehr interveniert wird.
Das Expertentum der SozialarbeiterInnen ist nach dem klientenzentrierten
Paradigma ein Expertentum der Beziehungsgestaltung. Es bleibt Expertentum und als solches ein Ausdruck von Machtverhältnissen. Die Gestaltung des Prozesses erfordert eine Technologie, die den KlientInnen nicht zugänglich ist, die sie aufgrund ihrer Rolle auch nicht nutzen könnten, wäre sie ihnen bekannt.44 Was Eliza zeigt, ist, dass Expertenmacht sich auch durch eine (ziemlich einfache) Gesprächstechnik herstellen lässt und keines Wissens über die Realität außerhalb des Gesprächssettings bedarf. Wie Weizenbaum entsetzt festgestellt hat, ist es die (wie er meinte : Computer-)Gläubigkeit der Menschen, die dem Programm die vermeintlich psychotherapeutische Autorität gibt. Diese Gläubigkeit ist allerdings auch Voraussetzung vieler Beratungsprozesse : Die KlientInnen sind bereit, die für sie vorgesehene Rolle zu akzeptieren. Tun sie das nicht, wird ihnen die mangelnde Kooperation negativ angerechnet und verringert ihre Chancen auf Zugang zu Ressourcen erheblich.
Die Dominanz des Prozesses gegenüber einer eindeutigeren Experteninsze-
nierung sichert also keineswegs mehr „Menschlichkeit“ oder eine dialogischrationale Form der Unterstützungsarbeit. Im Gegenteil, der Verzicht der Fachkräfte auf eine Stellungnahme „zur Sache“ den KlientInnen kann sogar die gleichberechtigte Teilnahme an einem Dialog erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Gerade die Techniken der sogenannten nondirektiven Gesprächsführung können als wirksame Mittel der Dialogverweigerung durch die BeraterInnen betrachtet werden.
44 Ich will hier allerdings nicht den Eindruck erwecken, als nutzten nicht auch KlientInnen Techniken der Gesprächsführung und der Beeinflussung von BeraterInnen. Natürlich tun sie das, allerdings tun sie es mit Techniken, die auf einer anderen Rollendefinition aufbauen müssen.
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
Mit dieser Argumentation sollen nun nicht die avancierten Gesprächstech-
niken verdammt werden, die eine durchaus nützliche Moderation und Steuerung des inneren Dialogs der KlientInnen zum Ziel haben. Einige der hier vorgestellten Diagnoseverfahren tun schließlich nichts anderes. Ich will nur einer Darstellung entgegentreten, die kontrollierte Lageeinschätzungen durch die SozialarbeiterInnen als autoritär und expertokratisch punziert, während einer prozessorientierten Nicht-Stellungnahme der ExpertInnen das moralische Gütesiegel der sogenannten Klientenorientierung taxfrei zuerkannt wird.
Ich verwende hier aber noch ein anderes Verständnis des Prozesses : Ich be-
zeichne damit die einem Unterstützungsprozess eigene Zeit- und Ablauflogik, die ohne Schaden nicht ignoriert, nicht willkürlich verkürzt oder in einem expertokratischen Missverständnis bürokratisch normiert werden kann. Diese Ablauflogik ergibt sich aus der Komplexität der Problemsituation, dem möglicherweise nötigen Aufbau von Voraussetzungen für die Kooperation (Vertrauen, Thematisierungschancen), der Verfügbarkeit angemessener Hilfen und der Eigendynamik der Fallkonstellation bzw. des Feldes.45
Diagnostische Verfahren wie die hier vorgestellten beeinflussen den Pro-
zess : Sie strukturieren zumindest Teile der Aktionen der SozialarbeiterInnen vor. Und sie schaffen durch die Produktion von Papier, durch die Notwendigkeit der Datenerhebung und Datenordnung im Prozess ein gemeinsames Drittes, über das sich KlientIn und SozialarbeiterIn austauschen können. Dadurch kann sich in bestimmten Abschnitten des Unterstützungsprozesses der Modus der Kommunikation deutlich ändern. Der Prozess wird dadurch nicht suspendiert, sondern erhält neue Formen und Abschnitte.
6.4 Geografie und Geschichte Wir sind durch den Erfolg psychologisierender Sichtweisen, vor allem einer sehr vereinfachten Form der klassischen Psychoanalyse, die sich in banalisierter Form 45 Es sind dzt. bei vielen Organisationen Tendenzen erkennbar, den Ablauf von Unterstützungsprozessen zu normieren. Es wird dabei so getan, als könnte sich die Falldynamik nach den Vorgaben der Organisation richten. Dies ist zwar manchmal, keineswegs aber immer der Fall. Die Eigensinnigkeit der lebensweltlichen Konstellationen bringt immer wieder gebieterisch Beschleunigung oder Verlangsamung und Richtungsänderungen in den Prozess ein. Prozessplanung, soll sie gegenstandsangemessen sein, muss die nötige Flexibilität gewährleisten und der Eigendynamik des Falles Raum geben.
Geografie und Geschichte
tief ins Alltagsbewusstsein eingegraben haben, mit einer scheinbaren Selbstverständlichkeit des Blicks in die (persönliche) Lebensgeschichte konfrontiert. Keine „Lösung“ aktueller Lebensprobleme ohne Suche nach den „Ursachen“, und diese „Ursachen“ werden in der Biografie der KlientInnen vermutet. Die Crux dieser weit verbreiteten Anschauung ist, dass sie zwar in gewissem Sinne stimmt, aber gerade für sozialarbeiterische Diagnose und Praxis systematisch kontraproduktiv ist. Die PraktikerInnen müssen die Ursachensuche verlernen, um wirksam werden zu können. Doch bleiben wir zuerst beim Wahrheitsgehalt der Geschichtsverliebtheit.
Die „Geschichte“ ist insofern natürlich an der Konstituierung der jetzigen
(problematischen) Situation beteiligt, als jede Situation notwendig eine gewordene ist. Sie fiel nicht vom Himmel, sondern wurde herbeigeführt. Sie hatte eine Vor-Geschichte, eine Kette von Handlungen und Bedingungen, die ermöglichten, dass sie nun ist, wie sie ist. Wären einige Glieder der Kette anders zusammengesetzt gewesen, wäre die Situation jetzt wahrscheinlich eine andere. Die Vergangenheit gab es also zweifellos und sie hatte „Wirkung“.
Die Vergangenheit ist uns aber grundsätzlich nicht zugänglich. Sie ist nicht
veränderbar, nicht auszubessern. Die Vergangenheit ist nicht. Man könnte sagen, die Situation ist, wie sie ist, weil die Vergangenheit war, wie sie war. Jede Möglichkeit der Veränderung liegt in der Gegenwart oder in der Zukunft. Die Vergangenheit ist uns mehr entzogen, als es die Zukunft ist – bei ihr können wir uns wenigstens der Illusion hingeben, sie beeinflussen zu können.
Wenn die Vergangenheit uns grundsätzlich nicht zugänglich ist, so ist sie uns
doch seltsam präsent. Ihre scheinbare Repräsentation in der Gegenwart ist die Geschichte, sind also die Erzählungen über die Vergangenheit. Das Produkt der Vergangenheit ist die Geografie der Gegenwart. Die „Geschichte“ als das, was wir als unsere Erinnerungen konstruieren und wie wir diesen (oft nur vermeintlichen) Erinnerungen einen „Sinn“ geben, ist ein Modus der Gegenwart. Oder ausführlicher : „Das, was gewesen ist, ist nicht, und es existiert als Imago nur dadurch, dass man es jetzt erzählt. Das Vergangene als Geschichte ist daher immer ein Modus der Gegenwart, es gibt keine vergangene Geschichte, Geschichte ist immer ein gegenwärtiges Phänomen“ (Burger 2001 :4).
Oder, poetisch und radikalst, Fernando Pessoa (unter dem Pseudonym Al-
berto Caeiro) :
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
Erinnern ist ein Verrat an der Natur, Denn die Natur von gestern ist nicht Natur. Was gestern war, ist heute nichts, und erinnern heißt nicht-sehen. (aus dem Band Poesias – Poesie) Die Vorstellung, man könne die Vergangenheit revidieren, wird zwar niemand laut vertreten, dafür aber jene, wir könnten das Funktionieren einer gegenwärtigen Situation nur verstehen, wenn wir ihre verborgenen Ursprünge in der Vergangenheit aufdeckten. Das ist gemeinhin das, was unter „Tiefe“ verstanden wird.
Dazu einige Anmerkungen.
Die erste und mir wichtigste Anmerkung berührt das Verständnis von Interventionsprozessen in der Sozialarbeit : Verstehen ist ein äußerst nützlicher Modus, aber verstehen bedeutet nicht verändern. Ich kann Prozesse verstehen, ohne sie verändern zu können. Und ich kann Prozesse verändern, ohne sie zu verstehen. Der zweite Teil dieser Aussage mag für manche Leserinnen und Leser schwieriger nachzuvollziehen sein als der erste. Eine Andeutung davon, was das heißen kann, finden Sie im Kapitel 7.8. zur Black-Box-Diagnostik. Ungezielte Veränderung ist in unserem Zusammenhang ja weniger interessant, und dass auch durch unwissendes Eingreifen großer Schaden – also Veränderung – angerichtet werden kann, gehört ohnehin zu den Gemeinplätzen. Gezielte Veränderung ohne Verstehen ist jedoch auch möglich. Sie kann z.B. durch die Gestaltung von Prozessen erreicht werden : Es werden Rahmen gelegt für die Bearbeitung einer Situation – und wir wissen, dass diese Rahmen geeignet sind, rationale und informierte Entscheidungen von Akteuren anzuregen. Wenn es uns gelingt, solche Rahmen zu generieren, tragen wir zu Veränderung bei, ohne die Fragen, um die es dabei geht, überhaupt verstehen zu müssen. Umgekehrt kann das Verstehen der Gewordenheit einer Situation sie geradezu schicksalhaft unveränderlich erscheinen lassen. Die zweite Anmerkung : Nicht die Genese einer Situation ist im Vordergrund des Interesses, sondern deren Veränderbarkeit. Die Ansätze zur Veränderbarkeit müssen aber unweigerlich in der Gegenwart liegen, sonst ist mit ihnen nichts anzufangen. Interessant sind also (neben anderen Aspekten des → Problemkontextes) die Ablagerungen des Vergangenen in der Gegen-
Geografie und Geschichte
Grafik 8 : Aufmerksamkeitsfokus der Sozialarbeit
wart – und diese sind absolut gegenwärtig und stehen mit der wirklichen Vergangenheit mitunter nur in einem losen Zusammenhang. Erzählungen über die Vergangenheit haben legitimatorischen Charakter. Erinnerungen sind Konstrukte und wie wir wissen, werden manche Erinnerungen durch Erzählungen erst generiert. Erinnerungen sind Elemente der Gegenwart; nach ihnen zu graben kann die Produktion einer neuen, eben erst erfundenen Geschichte zur Folge haben. Eine dritte Anmerkung : Die dramatischsten Auswirkungen auf die Lebensund Entwicklungschancen haben Ereignisse, an die ein bewusstes Erinnern nicht möglich ist, nämlich die Lebensbedingungen in den ersten ein bis zwei Lebensjahren. Die Auswirkungen von Frühtraumatisierung können beobach-
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
tend festgestellt, sie können aber nicht durch „Durcharbeiten“ beseitigt werden. Und schließlich : Der so stark im Alltagsbewusstsein verankerte psychologisierende Blick auf die Vergangenheit verstellt den Blick auf die Komplexität der Gegenwart. Ich erlebe sowohl bei Studentinnen und Studenten wie auch (allerdings abgeschwächt) bei Praktikerinnen und Praktikern der Sozialarbeit immer wieder, wie sie zwar sehr rasch mit ursachenbezogenen Theorien bei der Hand sind, es ihnen allerdings äußerst schwerfällt, eine aktuelle Situation in ihrer Verzweigtheit zu erheben und zu erkennen. Ich hoffe, dass diese Schrift geeignet ist, dem Mangel ein wenig abzuhelfen.
6.5 Zählen und Messen Bestimmte medizinische und psychologische Testverfahren gewinnen an Überzeugungskraft, weil ihr Ergebnis in Zahlen ausgedrückt wird, weil es dadurch signalisiert, dass es auf einer objektiven Basis erstellt wurde. Das Ideal zeigt das Ergebnis als eine vom Untersuchenden unabhängige Größe : Jede andere Fachkraft, die das Verfahren beherrscht, wäre zum gleichen Ergebnis gekommen. Für die Interpretation des Ergebnisses gilt das zwar nur bedingt, aber die objektive Strahlkraft der Messung (oder dessen, was wie eine Messung aussieht) beleuchtet auch die Interpretation und weitere Schlussfolgerungen.
Tatsächlich haben Zählen und Messen in einem diagnostischen Prozess un-
bestreitbare Vorteile. Im Großen und Ganzen sind Zählen und Messen objektivierende Tätigkeiten : Sie sind streng formal, über die Zahlenreihe kann und muss kein ideologisierter Schulenstreit ausgetragen werden. Zählen und Messen bietet objektives Material. Angesichts der Überraschung über die Ergebnisse von Zählungen, wo vorher nur mit Eindrücken und Schätzungen gearbeitet wurde, ist verständlich, dass der Ruf nach Objektivierungen auch bei den Einschätzungen sozialer Situationen hörbar ist. Zählen und Messen ist zumindest geeignet, Willkür, Selbstbetrug, Täuschung und Selbsttäuschung zu verringern.
Ich will hier nicht auf die hinreichend diskutierten Probleme eingehen, die
quantitativen Verfahren trotzdem anhaften. Die Genauigkeit und Objektivität wird in der Praxis durch eine Reihe von Faktoren ja wieder eingeschränkt.46 46 Für die Psychotherapie hat das Sponsel (1999) anschaulich ausbuchstabiert.
Zählen und Messen
Soziale Diagnosen könnten jedenfalls einen Objektivierungsschub gebrauchen, wenn, ja wenn man denn wüsste, was man messen könnte.
Sozialarbeit geht, wie in den Vorkapiteln dargestellt, notwendigerweise mit
einer großen Offenheit an ihre Fälle heran. Es ist nicht von vornherein ausgemacht, worum es gehen wird. Soweit ähnelt die Vorgangsweise noch dem medizinischen diagnostischen Prozess, in dem der Hausarzt vorerst den Symptombeschreibungen des Patienten lauscht. Der weitere Weg des Arztes ist allerdings der einer Fokussierung. Er versucht, auf Basis der Symptome etwas ihm grundsätzlich Bekanntes zu entdecken : die Krankheit. Die ersten Hypothesen mögen noch vage sein, aber mithilfe seiner diagnostischen Verfahren (der weiteren und dann schon gezielten Befragung des Patienten, der Untersuchung des Körpers) engt er den Verdacht ein. Der Arzt hat einen Gegner gefunden, wenn er die Krankheit anhand von Indizien eindeutig identifiziert zu haben glaubt. Die Gegner sind bekannt, sie sind beschrieben, man kennt ihre Erscheinungsformen und die Verfahren, sie zu entdecken und nachzuweisen. Der Einsatz von Messinstrumenten ist möglich, um Indizien zu sammeln.
Der Körper ist materielle Realität. Ein Großteil der messenden Verfahren
kann Teilaspekte dieser materiellen Realität untersuchen und in Zahlenreihen oder andere Zeichen (zum Beispiel Farben auf einem Teststreifen) übersetzen, ohne das weitere Funktionieren dieses komplexen Systems Körper dadurch nennenswert zu verändern. Die Veränderung bleibt dann der Therapie vorbehalten. Die Ergebnisse können mit dem „Normalen“ verglichen werden – und das „Normale“ ist hier verhältnismäßig unproblematisch zu definieren : Es ist die statistische Normalität einwandfrei funktionierender menschlicher Körper – unter Berücksichtigung einiger Parameter wie Geschlecht und Alter. Tastbar und beobachtbar ist vieles, messbar ist noch mehr : Von Puls und Blutdruck über Herzund Hirnströme, der Zusammensetzung des Blutes und anderer Körpersäfte bis zu der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit von Reaktionen. Man kann dem Körper kleine Teile entnehmen und von ExpertInnen untersuchen lassen, die den Menschen gar nicht kennen, dessen Blut, Gewebeteile, Röntgenbilder sie analysieren. Die meisten der Messungen sagen schon ohne Kontextinformationen etwas Bedeutendes aus. (Für die Wahl der Therapie gewinnt dieser Kontext allerdings wieder an Gewicht.) Wir sehen : Die Objektivierung findet auch in der Arbeitsteilung ihren Ausdruck. In einer Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine (die Maschine ist so etwas wie die Materialisierung von Objektivität) und in einer Arbeitsteilung zwischen Menschen, ExpertInnen. Jemand setzt die Puzzleteile
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dann wieder zusammen, entscheidet über die Therapie. Bis dahin sind eine Fülle von Daten angesammelt worden.
Die Vorgangsweise in der Sozialarbeit wirkt demgegenüber vorsintflutlich.
Die rasante Entwicklung der Wissenschaft und der Technologie scheint an ihr vorübergegangen zu sein. Von der Medizin trennen sie nicht nur Welten, was Macht und Prestige betrifft, sondern auch der tiefe Graben zwischen den Naturwissenschaften und den „Humanities“. Schlimmer : Nicht einmal bei den Letzteren kann sie reüssieren. Doch hier soll nicht geklagt werden : Ich will nur den Kontext verdeutlichen, in dem über die Unwissenschaftlichkeit der Sozialarbeit, ihrer Einschätzungen und Strategien geklagt und geurteilt wird.
Es mag natürlich polemisch scheinen, hier auf die Medizin zu rekurrieren. Es
gibt schließlich Wissenschaften, die der Sozialarbeit wesentlich näher sind und die seit Langem und teils durchaus erfolgreich Methoden des Zählens und Messens anwenden, man denke an die Psychologie oder die Soziologie. Die Medizin steht hier für ein Paradigma. Sozusagen für die Reinform eines naturwissenschaftlich orientierten helfenden Berufs. Insofern eignet sie sich m.E. auch am besten, um Unterschiede zu verdeutlichen.
Ich gestehe, ich weigere mich, den Mangel an objektivierenden Verfahren
in der Sozialarbeit und ihrer Diagnostik bloß aus der Defizitperspektive zu begreifen. Wenn eine Profession47, die erfolgreich48 ist, in den hundert Jahren ihres Bestehens noch keine nennenswerten Messverfahren zur Objektivierung ihrer Diagnostik entwickelt hat, dann kann das nicht an der Dummheit der Akteure liegen, sondern es muss objektiv wirkende Faktoren geben, die das wesentlich erschweren. Eine allgemein eher ablehnende Stimmung unter den Praktike47 Um es noch einmal zu verdeutlichen : Ich bezeichne Sozialarbeit in diesem Zusammenhang als Profession, weil sie ein Beruf mit international vergleichbaren tertiären Ausbildungsgängen, mit einem forschenden und theoretisierenden Diskurszusammenhang ist, der sich nicht auf die Produktion von Lehrbüchern beschränkt, und weil sie ein Verständnis von ihrer Aufgabe im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang entwickelt hat, von dem aus sie in gesellschaftliche Diskurse eingreift. Ich bin mir bewusst, dass ihr einige Merkmale einer klassischen Profession fehlen. In unserem Zusammenhang halte ich das aber für unerheblich. 48 Diesen Erfolg messe ich an ihrer nun 100-jährigen Entwicklung auf eigener Basis, an deren langsamem, bisher aber kontinuierlichem Aufstieg im System postsekundärer Bildungsprogramme, an der alle vermeintlichen Sozialabbauphasen der Staaten überdauernden, ständig wachsenden Bedeutung sozialer Berufstätigkeit im Allgemeinen und professioneller Sozialarbeit im Besonderen.
Zählen und Messen
rInnen hätte aufstiegsorientierte Kolleginnen und Kollegen sicher nicht daran gehindert, dem Staat und den Wohlfahrtsorganisationen das zu geben, was sie sich nicht erst seit „Neuer Steuerung“ und „New Public Management“ wünschen, nämlich eine objektivierte Diagnostik, die Treffgenauigkeit und Wirksamkeit von Sozialprogrammen wesentlich erhöht und den beträchtlichen Einsatz von Mitteln für die personenbezogenen Dienstleistungen einer Rationalisierung zugänglich macht. Der Rest der Profession hätte dann wohl oder übel – wenn auch murrend – nachziehen müssen.
Interessanterweise ist aber das Gegenteil der Fall (oder zumindest bisher der
Fall gewesen) : Trotz der ausgedehnten Klagen über Unwissenschaftlichkeit und mangelhafte Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und Interventionen der Sozialarbeit wird sie weiterhin bei der Verwirklichung von Sozialprogrammen aller Art herangezogen. Und – nur um nicht den Eindruck zu erwecken, dass dies ein völlig singuläres Phänomen sei – andere Berufe mit ähnlichen Problemen haben vergleichbare oder sogar noch beeindruckendere Karrieren hinter sich. Man denke z.B. an die Psychotherapie, die sich ja auch nicht gerade durch besondere Naturwissenschaftlichkeit auszeichnet.
Betrachten wir nun etwas nüchterner die Möglichkeiten des Zählens und Mes-
sens, also objektivierender Erhebungsmethoden im Rahmen Sozialer Diagnostik.
Im Vergleich mit dem oben beschriebenen Vorgehen des Hausarztes fällt
natürlich sofort auf, dass SozialarbeiterInnen eine analoge Vorgehensweise aus verschiedenen Gründen verschlossen ist oder sie nicht weiterbringen würde : 1. Es fehlt ihnen die identifizierbare Krankheit als eigentlicher Kernpunkt der Intervention. Insofern fehlt auch weitgehend die Möglichkeit, nach Spuren dieses Krankheitsäquivalents zu suchen. 2. Es fehlt das Substrat. 3. Es fehlt der verbindliche und eindeutig beschreibbare Normalitätsstandard. 4. Nahezu jedes denkbare diagnostische Verfahren der Sozialarbeit ist invasiv. ad 1 : Krankheiten haben eine „Identität“, sie geben der Suche eine Richtung. Ohne diese Quasi-Wesenheiten im Hintergrund ist nicht klar, wonach zu suchen ist. Bestimmte Probleme werden von Sozialarbeit „aufgedeckt“ oder festgestellt (Vernachlässigung von Kindern, sexueller Missbrauch etc.), dafür sind Verfahren beschreibbar, die kriminalistischer Arbeit ähneln. In der Sozialarbeit stellt die „Aufdeckungsarbeit“ aber nur ein Randphänomen dar.
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
ad 2 : Was ohne materielle Substanz ist, kann kaum gemessen werden. Ich lade alle KritikerInnen gerne ein, mir mitzuteilen, was denn in der Sozialarbeit zur besseren Einzeldiagnose gemessen werden sollte. Zählungen – auch solche, die etwas über Schwierigkeiten und Erfolge von Interventionen aussagen – sind möglich, aber es sind zumeist Statistiken, die etwas über ein ganzes Sample von Fällen aussagen. Z.B. wie viele Klienten haben am Beginn, wie viele am Ende einer Betreuung eine sozialversicherungspflichtige Arbeit ; wie viele KlientInnen der Bewährungshilfe sind wieder delinquent geworden und wie viele nicht – und ähnliche Statistiken. All diese Ergebnisse sagen aber über das Bedingungsgefüge des Einzelfalls nichts aus. ad 3 : Selbst wenn man messen könnte, wären die Normalitätsstandards, an denen zu messen wäre, unklar. Eine Sozialarbeit, die sich vom Selbstverständnis autoritärer Fürsorge verabschiedet hat, kann nicht mehr ausschließlich die Anpassung der Klientinnen an vorgegebene Normalitätsstandards anstreben und dann als Erfolg verkaufen. Die Pluralität von Lebenslagen und möglichen Lebensweisen, von „Individualitätsformen“ (Sève), von Vorstellungen „guten Lebens“ ist in der heutigen Gesellschaft Realität. Selbst riskante Lebensweisen (z.B. dauerhafter Konsum illegaler Drogen) werden von der Sozialarbeit als Formen von Normalität behandelt (in unserem Beispiel : durch akzeptierende Sozialarbeit). ad 4 : Der helfende (therapeutische49) Prozess in der Sozialarbeit beginnt mit der Kontaktaufnahme. Da das KlientIn-SozialarbeiterIn-Interaktionssystem (KSI) 49 Ich teile nicht die verbreiteten Berührungsängste zum Therapiebegriff. Sozialarbeit enthält m.E. jedenfalls therapeutische Elemente. Primär ist sie soziotherapeutisch, also an der Reparatur sozialer Beziehungen interessiert, und hat sehr gute Instrumente für diese Arbeit in ihrem methodischen Arsenal. In der Einzelfallarbeit sind psychotherapeutische Elemente enthalten. Versuche der Monopolisierung des Therapiebegriffs durch ärztliche oder ausgewählte psychotherapeutische Berufsgruppen erscheinen mir als inhaltlich lächerlich. Andere als berufsständische Argumente lassen sich m.E. dafür kaum anführen. Das einzige m.E. griffige Argument gegen die Verwendung des Therapie-Begriffs im Zusammenhang mit Sozialarbeit ist die naheliegende Assoziation zum „Heilen“, die wiederum das Bedeutungsfeld von Krankheit und „kranken“ Personen eröffnet, auf das Sozialarbeit nicht reduziert werden kann. Oder, wie ein amerikanischer Kollege es formulierte : Er als Sozialarbeiter würde sich nicht als Therapeut bezeichnen. Schließlich bezeichne sich ein Tischler auch nicht als Hämmerer, weil er mit einem Hammer umgehen könne.
Erfahrung und Wissenschaftlichkeit
oder die „helfende Beziehung“ kein Beiwerk oder bloßer Rahmen, sondern zentrales Arbeitsinstrument ist, kann eine klare Unterscheidung zwischen diagnostischen und therapeutischen Verfahren nicht getroffen werden. Jedes Diagnoseverfahren, an dem KlientInnen notwendigerweise beteiligt werden müssen, wirkt wie eine und als Intervention. Trotzdem können in diagnostischen Verfahren Skalierungen verwendet werden. Skalierungen sind Einschätzungen, keine Messungen. Sie sind subjektiv und diskutierbar. Sie machen Sozialarbeit nicht zu einer exakten Wissenschaft. Skalierungen sind Mittel der Komplexitätsreduktion, als solche können sie hilfreich sein, wenn sie als Vereinfachungen wahrgenommen werden, wenn das Wissen über ihre beschränkte Gültigkeit nicht verdrängt wird. Sparsam eingesetzt, tragen sie zu einer Strukturierung des Prozesses und der Eigendiagnosen der KlientInnen bei – Beispiele werde ich im Kapitel über Black-Box-Diagnostik vorstellen.
6.6 Erfahrung und Wissenschaftlichkeit Nicht zuletzt aufgrund der im akademischen Betrieb gerade in Österreich über lange Zeit völlig randständigen Positionierung der Sozialarbeit, aber auch der Sozialpädagogik, scheint in der Profession die Kluft zwischen der Praxis und der Wissenschaftsproduktion besonders tief ausgeprägt zu sein. Im Gegensatz zu Großbritannien und den USA – wie Sylvia Staub-Bernasconi lt. Muehlum (o.J.) hervorhebt – ist Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeitsforschung verhältnismäßig wenig entwickelt. Eine engere Verbindung der Praxis mit wissenschaftlichen Bemühungen der Evaluation, der Sammlung und kritischen Bewertung der Erfahrungen muss vorangetrieben werden.
Diagnostische Verfahren können die engere Verbindung von Professionswis-
sen, Wissenschaft der Sozialen Arbeit und Praxis der Sozialarbeit befördern. Die Verfahren haben Theoriebezüge, sie sind mehr oder weniger stark an theoretische Modelle angedockt bzw. beziehen sich auf akkumulierte Praxiserfahrung. In der Praxis repräsentieren sie durch ihre Strukturiertheit und dadurch, dass sie auf allgemeine, prinzipiell wissenschaftlich untersuchbare Zusammenhänge verweisen, das Wissen der Profession und der Disziplin. Angemessene Verfahren ermöglichen den PraktikerInnen allerdings auch, ihre eigene Erfahrung (oder
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
das Erfahrungswissen des Teams) in die Interpretation einzubringen. Sie determinieren fallbezogene Entscheidungen also nicht völlig, sondern ermöglichen die kritische Würdigung der Ergebnisse.
Die breitere Anwendung von kontrollierten diagnostischen Verfahren würde
die Vergleichbarkeit von Fällen verschiedener Institutionen und verschiedener Handlungsfelder verbessern. Unterschreiten die Verfahren nicht systematisch das Komplexitätsniveau sozialarbeiterischer Praxis, sind sie geradezu Voraussetzung für eine gegenstandsadäquate Verwissenschaftlichung, die nicht gegen das, sondern mit dem Erfahrungswissen der PraktikerInnen arbeitet.
6.7 Kooperation und Konfrontation Kooperation und Konfrontation sind zwei Seiten der Kommunikation von SozialarbeiterInnen mit KlientInnen. Die Technik der Konfrontation ist im Beratungs- und Unterstützungsprozess unverzichtbar, erst sie ermöglicht die → Thematisierung von mitunter unangenehmen Aspekten der Lebenswirklichkeit der KlientInnen, macht sie bearbeitbar. Die Einbettung der → Konfrontation in ein insgesamt unterstützendes Beziehungsarrangement fängt die kurzfristig möglichen negativen Effekte auf und schafft Räume für produktive Auseinandersetzungen.
Das Wechselspiel von Konfrontation und Harmonie, die verschiedenen Formen
der Kooperation, sind insofern interessant, als sie erst die Bedingung der Möglichkeit schaffen, mit (kooperativ) diagnostischen Verfahren neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Eine bloße affirmative Bestätigung der vom Klienten vorgetragenen Sicht der Dinge (allerdings : auch das eine taktische Variante, die unter bestimmten Voraussetzungen hilfreich sein kann) versäumt Chancen.
Die kooperativ-diagnostischen Verfahren ebenso wie die nicht-kooperativen
Verfahren bereiten den Boden für sinnvolle Konfrontation, für die Thematisierung von Wirklichkeiten – und für die Arbeit an Möglichkeiten der Transformation.
6.8 Lüge und Wahrheit In schärferem Maße als andere beratende Professionen ist Sozialarbeit mit der praktischen Frage des Wahrheitsgehalts der Erzählungen der KlientInnen konfrontiert. Da sozialarbeiterische Interventionen meistens auch in das Feld rei-
Lüge und Wahrheit
chen, sich also nicht auf das relativ geschlossene Setting des → KSI und damit nicht nur auf → Beratung beschränken, stehen Informationen und Einschätzungen immer auch auf dem Prüfstand der Realität oder anderer Sichten ebenfalls problembeteiligter Personen. Leichtgläubige SozialarbeiterInnen laufen Gefahr, sich im Feld zu blamieren, von VertreterInnen anderer Institutionen oder von Important Others als naiv abgestempelt zu werden.
Diese Gefahr wird aus zwei Quellen genährt : Dem schon erwähnten „Elch-
test“ der Feldintervention50 und der methodischen Notwendigkeit, an die Eigendiagnosen der KlientInnen anzuschließen, was eine allzu offene, habituelle und zur Schau gestellte Skepsis gegenüber Angaben der KlientInnen verbietet. Einen Teil des Problems habe ich schon im vorigen Abschnitt abgehandelt. Hier sollen jene Schwierigkeiten zur Sprache kommen, die sich daraus für die Validität von Diagnosen ergeben.
Diagnosen sollten sich zwar weitgehend auf nachprüfbare Fakten beziehen,
aber wesentliche Datenbestände sind den beurteilenden SozialarbeiterInnen trotzdem nur aus den Angaben und Erzählungen der KlientInnen und anderer fallbeteiligter Personen bekannt. Es ergibt sich also bei vielen Verfahren das Problem, dass ihre Ergebnisse nur insofern „richtig“ sind, als die Informationen, auf denen sie aufbauen, tatsächlich stimmen. Nun gibt es für Personen, die mit SozialarbeiterInnen über einen Fall kommunizieren (vor allem für KlientInnen und deren Important Others) eine Fülle von guten Gründen, Informationen nur gefärbt und/oder selektiv weiterzugeben. Die Gefahr, Diagnosen nur „auf Sand zu bauen“, ist also groß.
So wenig es gegen diese Gefahr einen absoluten Schutz gibt, so fatal wäre
es, basale Vorsichtsmaßnahmen außer Acht zu lassen. Diese Maßnahmen sind : 1. überprüfbare Fakten möglichst überprüfen, 2. Kenntlichmachen der Unsicherheit, 3. Berücksichtigung anderer Sichten. ad 1. : Überprüfen überprüfbarer Fakten Die Überprüfung z.B. der Angaben über das Einkommen durch Einsicht in einen Lohnzettel und ähnliche Maßnahmen der Verifizierung der Angaben der Klien50 … also der Möglichkeit der SozialarbeiterInnen, Teile der Lebenswirklichkeit der KlientInnen aus eigener Anschauung kennen zu lernen.
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tInnen erhöhen die Präzision und Sicherheit der Situationsdiagnosen beträchtlich – nicht, weil die KlientInnen gewohnheitsmäßig lügen würden. Aber gerade problemrelevante Fakten sind besonders von Verdrängung, Beschönigung etc. betroffen und werden daher von den KlientInnen nicht oder nur unpräzise, manchmal auch direkt falsch im Gespräch preisgegeben. Eine sich mit ihrem behördlichen Auftrag oder mit der Institution voll identifizierende Sozialarbeit hat damit wenig Probleme und prüft Anspruchsvoraussetzungen relativ penibel. Damit generiert sie allerdings auch ein autoritäres Verhältnis zu den KlientInnen, die in die Rolle von BittstellerInnen gedrängt werden.
„Verstehende“ oder „parteiliche“ Ansätze der Sozialarbeit allerdings stehen
vor dem Problem, dass sie diesen forsch-autoritären Charakter der Faktenüberprüfung scheuen und als respektlos ablehnen oder sich zumindest nur ungern darauf einlassen. Sie verzichten dann ganz auf die Einholung divergenter Problemsichten51. Damit lösen (genauer : umgehen) sie m.E. allerdings ein Problem der SozialarbeiterInnen auf Kosten der KlientInnen – nämlich das Problem, kooperativ und empathisch zu sein, ohne die Problem- und Weltsicht der KlientInnen zu übernehmen.
Beide beschriebenen Varianten sind Formen der Realitätsverweigerung. Die
Überprüfung von Fakten dient nicht nur der Schaffung einer soliden Wissensbasis für die Interventionen, sondern auch der Bearbeitung beschönigender (und letztlich selbstbetrügerischer) Situationsdeutungen durch die KlientInnen. Ihre Einbettung in eine sorgfältige Arbeit an der Beziehung ist allerdings selbstverständlich und notwendig, um den Unterstützungsprozess nicht in ein peinliches Prüfungsverfahren ausarten zu lassen. ad 2. : Unter „Kenntlichmachen der Unsicherheit“ verstehe ich die Bereitschaft der SozialarbeiterInnen, mit Unsicherheiten zu leben und zu arbeiten ; sich einzu51 Besonders deutlich zeigt sich das z.B. bei einer „parteilich“ orientierten feministischen Sozialarbeit, die prozessuale Notwendigkeiten verabsolutiert : Im Wissen, dass misshandelte Frauen im gesellschaftlichen Umfeld oft mit Unglauben konfrontiert sind, zweifeln sie (was taktisch klug ist), deren Sicht der Dinge in der Beratung vorerst nicht an. Damit aber gleichzeitig die eigene kritische Distanz aufzugeben, zeugt m.E. nicht von Professionalität, im Gegenteil : Durch eine kritiklose Identifikation mit dem Opfer erhöht man subjektiv die eigene moralische Unantastbarkeit und erspart sich, sich mit der – stets schmerzhaften – Ambivalenz der Realität zu konfrontieren.
Lüge und Wahrheit
gestehen, dass man auf unsicherer Datenbasis agiert ; und bei Diagnosen und Gutachten die Ungesichertheit von Daten und Einschätzungen kenntlich zu machen. Die Fähigkeit, zu agieren, obwohl die Datenbasis dürftig ist, gehört zu den wichtigsten Fertigkeiten in der Kunst der Sozialarbeit. Sie kann sich nur entwickeln, wenn man bereit ist, sich Widersprüche und Nichtwissen einzugestehen. Das Interventionsrepertoire ermöglicht auch unter diesen Umständen sinnvolles Handeln. ad 3. : Die Einbeziehung anderer Sichten gehört zum beraterischen Grundinventar der Sozialarbeit, insofern muss ich es hier nicht näher ausführen (s. dazu auch die Problembeschreibungsraster im Kapitel 7.3). Nur so viel : Diese Einbeziehung kann entweder im Interview mit dem Klienten erfolgen (in diesem Fall hat er natürlich die Möglichkeit, auch hierbei sich selbst und/oder die Sozialarbeiterin zu beschummeln) oder durch Direktnachfrage bei den relevanten Anderen (in diesem Fall steigt die Macht der SozialarbeiterInnen durch ihre Kontakte im lebensweltlichen Netzwerk). Vor allem im zweiten Fall ist die Fähigkeit der SozialarbeiterInnen gefragt, Widersprüche, divergente Sichtweisen auszuhalten und trotzdem handlungsfähig zu bleiben. Beide Varianten erbringen Material für konfrontative Beratungstechniken. Die meisten diagnostischen Verfahren, die ich in dieser Arbeit vorstelle, rechnen mit diesen Ungewissheiten, den verschiedenen Perspektiven, und ermöglichen deren Berücksichtigung in der Fallarbeit.
Stanislav Lem (in seinem Roman „Lokaltermin“) schrieb über die Vorgangs-
weise der Studienabteilung des irdischen Außenamtes gegenüber bewohnten Planeten : „Hier gilt die Trennung der Materialien in offizielle und zuverlässige, also öffentliche und geheime. Der politische Kurs hat sich schließlich danach auszurichten, wie es dort zugeht, während man die diplomatischen Schritte danach lenkt, was die Leute dort von sich behaupten.“ Ein äußerst hilfreicher Hinweis. Während der Dialog mit den KlientInnen an deren Selbst- und Weltbild anknüpfen muss, ist ein Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse dafür erforderlich, sich in der Fallbearbeitungsstrategie nicht auf Irrwege zu begeben. Was thematisiert wird, wie Konfrontation und Kooperation gewichtet und positioniert werden, dafür sollten die SozialarbeiterInnen
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ein eigenes Bild der Lage entwickeln. Dazu dienen diagnostische Verfahren auch : zur Entwicklung einer eigenen Position, die Subjekt-Subjekt-Beziehungen ermöglicht.
6.9 Der Hypothesencharakter der Diagnose Soweit an Diagnoseverfahren die Hoffnung geknüpft wird, mit ihrer Hilfe zu einer „gültigen“ Einschätzung der Situation zu kommen, muss diese Hoffnung enttäuscht werden. Soziale Diagnosen halten nicht „Eigenschaften“ fest, die als weitgehend stabil betrachtet werden könnten, sondern sie beschäftigen sich mit Situationen. Situationen können zwar stabile Anteile haben, die über lange Zeit unverändert bleiben, aber sie enthalten auch dynamische Elemente. Aufgrund einer Momentaufnahme lässt sich mitunter nur schwer voraussagen, welche Elemente der Situation stabil bleiben werden und welche einer Veränderung unterworfen sind.
Diagnosen sind Hypothesen, die im Laufe der Fallbearbeitung überprüft
werden. Sie haben ein Datum, zu dem sie erstellt werden, und sie generieren begründete Vermutungen über den Zustand zum Zeitpunkt ihrer Erstellung. Der Rückgriff auf Soziale Diagnosen, die vor Wochen/Monaten/Jahren erstellt wurden, ist stets ein Rückgriff auf die Historie. Sie eignen sich also nicht zur dauerhaften Etikettierung eines Falles.
Die Überprüfung der Hypothesen erfolgt einerseits diskursiv, andererseits
praktisch. Diskursiv, indem sie in das → KSI eingespielt werden und dort dem Dialog mit den KlientInnen standhalten müssen. Praktisch, indem auf ihrer Basis Interventionsentscheidungen getroffen werden, die selbst wieder Wirkungen zeigen und neue Informationen generieren.
6.10 Normen und Normalität Soziale Arbeit agiert im Spannungsfeld zwischen „Care“, also einem Ethos des Sorgens, und dem aufklärerischen und der Sozialarbeit eingeschriebenen Ideal von der Autonomie der Lebensführung. Wann nachgehend „Fürsorge“ zu leisten sei, ist eine im weiteren Sinne politische Entscheidung : Die Gesellschaft entscheidet (mithilfe der dafür zuständigen Funktionssysteme), welche Lebens-
Normen und Normalität
führung noch in der persönlichen Entscheidungsfreiheit liegt und auf welche nachgehend reagiert wird. Für die Reaktion steht ein breites Spektrum von möglichen Interventionen zur Verfügung (s. dazu auch die Ausführungen zur Konstituierung Sozialer Probleme im Kapitel 2.2), von denen „Hilfe“ nur eine ist.
Hier sei noch eine weitere Bedingung genannt : Die Intervention von Staat
und/oder Zivilgesellschaft hängt im Einzelfall auch von der Sichtbarkeit und individuellen Zuordenbarkeit der Normverletzungen ab. Was nicht gesehen wird, darauf kann nicht reagiert werden. Es sind die Organisationen der Gesellschaft selbst, die darüber entscheiden, was sie sehen können und wollen und was ihnen verborgen bleibt. Strategien der Nicht-Wahrnehmung von Hilfsbedürftigkeit gehören daher zu den praktikablen Methoden, um Sozialausgaben in einem überschaubaren Rahmen zu halten. Die Hochschwelligkeit von Einrichtungen ist eine solche Strategie, um zu verhindern, dass Menschen gesellschaftliche Hilfsprogramme in Anspruch nehmen. Abschreckende → Inszenierungen, zum Beispiel schlechte Zugänglichkeit, dürftige Information und entwürdigende Behandlung von NachfragerInnen, können verhindern, dass zu viele Sozialhilfeanträge gestellt werden. Ohne Antrag aber kein Vorgang, kein Akt, keine Entscheidung der Institution und keine Berücksichtigung in der Statistik. Da Organisationen nur wahrnehmen, was sie in eigene Prozesse übersetzen können (Aktenförmigkeit), ist damit die Nicht-Wahrnehmung einer Normabweichung gelungen, die im Prinzip ein Eingreifen auch nach den Regeln der Organisation erfordern würde.
Die subjektiven Maßstäbe der SozialarbeiterInnen als Personen oder die
Normen der Profession als Subsystem können von diesen politischen Normen systematisch oder im Einzelfall abweichen. Dadurch ist es auch möglich, dass sich Konflikte zwischen den Angehörigen der Profession und politischen Instanzen ergeben, mitunter auch Konflikte zwischen Organisationen und politischen Instanzen. So können zum Beispiel Organisationen Lebenslagen wahrnehmen (und als Fall bearbeiten wollen), während politische Instanzen Wahrnehmung und Finanzierung verweigern. Exemplarisch : Die Auseinandersetzung zwischen der Caritas Österreich und dem Innenministerium über die Situation der AsylwerberInnen.
Andererseits steht es in der Autonomie der BürgerInnen, sich selbst als un-
terstützungsbedürftig einzuschätzen und sich aktiv an Einrichtungen des Sozialwesens zu wenden.
Auch die BürgerInnen, nicht nur normenkontrollierende Instanzen, beziehen
sich auf Vorstellungen von Normalität. Die in den Köpfen der Individuen vorhan-
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
denen Normen und Normalitätsmaßstäbe bilden die Referenz für die Bewertung des eigenen Lebens und die Basis für Vorstellungen eines SOLLs – sie fließen also schon in die Problemdefinitionen ein, mit denen sie SozialarbeiterInnen konfrontieren. Diese Normalitätsvorstellungen können sehr unterschiedliche Funktionen/Wirkungen haben : • die Selbststigmatisierung (etwa durch das Gefühl des eigenen Versagens bei der Beantragung von Sozialhilfe), • die energische Forderung nach gesellschaftlicher Hilfe – mitunter gegen die Einschätzung der Institutionen, • Kontrastfolie zur eigenen Existenz/Lebensführung, die emotional mit Sehnsucht gekoppelt ist. Abweichungen von Normalitätsvorstellungen sind allerdings selbst „normal“. Und die Tatsache, dass ein Individuum eigenen oder fremden Normalitätsvorstellungen nicht entspricht, ist noch kein hinreichender Grund für die Intervention von Sozialarbeit.
Da ist der Hinweis von Turner (2002), dass ein Klassifikationssystem wie DSM
wohl erst dann für die Sozialarbeit brauchbar wäre, wenn sich alle Menschen darin in der einen oder anderen Kategorie fänden : Sozialarbeit hat es in der bei weitem überwiegenden Zahl ihrer Fälle mit „normalen“ Personen zu tun und oft auch mit Personen, die in „normalen“ Lebenssituationen stehen. Es geht also nicht um Pathologien und es geht in der Diagnostik nicht um die Unterscheidung zwischen normal und nicht normal. Schon eher geht es um die Unterscheidung zwischen „allgemein“ und „besonders“ (individuell) – und um eine differenzierte fallbezogene Darstellung der speziellen Variante von „Normalität“, die Anschlussstellen für Entwicklung bietet. Und es geht um die Generierung von anschlussfähigen Problemdefinitionen.
Die folgende Abbildung zeigt ein Poster, das versucht, ein nach Ansicht der
AutorInnen realistisches Bild vom Themenfeld und Einsatzbereich der Sozialarbeit zu vermitteln. Die AutorInnen haben als Zusammenfassung den Begriff „Life’s challenges“ gefunden :
Normen und Normalität
Grafik 9 : Poster „You’ll Need a Social Worker“ Teil 1
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Grafik 10 : Poster „You’ll Need a Social Worker“ Teil 252
Mag diese Aufzählung auch nicht komplett sein, so zeigt sie doch, dass die Anlässe mannigfaltig sind und dass sie mit dem Begriff „Normabweichung“ nicht zu fassen sind.53
52 Quelle : http ://mywebpages.comcast.net/dbsocialwork/d-bposter.htm am 6. 4. 2004. 53 Bemerkenswert ist auch, dass diese Aufzählung sich an der Gegenwart orientiert (s. dazu das Kapitel 6.4).
Passung : Diagnose der Hilfen
Soziale Diagnosen zielen also nicht auf das Erfassen von Abweichung. Ein
produktiver diagnostischer Blick der Sozialarbeit sucht sowohl die schwierigen als auch die „normalen“ Anteile – auch in Konstellationen, die auf den ersten Blick als deviant erscheinen mögen.
In den sizilianischen Kriminalromanen von Camilleri finden sich einsame Hel-
den, z.B. ein Sammler seiner eigenen Abfälle (auch Körperausscheidungen), die er sorgsam auf seinem Gut aufbewahrt. Camilleri lässt diese mehr als skurrile Figur sein, wie sie ist. Er pathologisiert sie nicht, er beschreibt sie und dieses Leben erscheint als ein mögliches, auf seltsame Art funktionierendes. Sozialarbeit hat das Potenzial, ähnlich an seltsame Lebensweisen heranzugehen (und tut dies auch immer wieder). Die Normabweichung allein ist kein Grund für ein Eingreifen.
6.11 Passung : Diagnose der Hilfen Wenn die Sozialarbeit keine Krankheiten oder Krankheitsäquivalente, sondern nur typische Konstellationen kennt, wenn Individualisierung und Herstellung von Passung ihre Aufgaben sind, dann können Entscheidungsbegründungen ohne eine systematische Berücksichtigung der möglichen/wahrscheinlichen Wirkungen und Nebenwirkungen von Interventionen und Hilfen nicht auskommen. Da außerdem personenbezogene Hilfen im Sozialwesen nur begrenzt standardisierbar sind, ist für hinreichend informierte Entscheidungen auch die Kenntnis des genauen Performanceprofils der lokal zur Verfügung stehenden Ressourcen erforderlich. Für Interventionsentscheidungen müssen mögliche Ressourcen, auch und vor allem institutionelle, nicht nur aufgespürt, sondern auch differenziert eingeschätzt werden.
Hier liegen auch die Grenzen der Vergleichbarkeit von Sozialen Diagno-
sen, die in verschiedenen Settings und Umwelten mit dem gleichen Verfahren erstellt wurden : Die Identität der Verfahren garantiert noch keine umstandslos vergleichbaren Ergebnisse, vor allem können Interventionsentscheidungen je nach lokaler Ressourcenlage sehr unterschiedlich ausfallen. Interventionsentscheidungen im Fall hängen nicht nur von der Einschätzung der Fallkonstellation bzw. der Lebenssituation der KlientInnen ab, sondern auch von der Qualität der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Ganz besonders gilt das für → Lebensfeldsubstitute wie eine Tagesstruktur oder ein stationäres Angebot. Bei ihnen ist zu
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bedenken, dass sie eine reale lebensweltliche Struktur ersetzen und möglicherweise verdrängen, dass die Entscheidung für ein mittelfristiges stationäres Angebot selbst einen groben Eingriff in den Lebenslauf darstellt und sein Nutzen daher gegen die möglichen schädlichen Nebenwirkungen abgewogen werden muss. Die Qualität der Angebote wird daher wesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen und Empfehlungen der SozialarbeiterInnen haben müssen. In der vorliegenden Arbeit habe ich mich noch nicht systematisch mit diesen Problemen beschäftigt, für die Weiterentwicklung der Sozialen Diagnose wird aber eine Systematisierung der Einschätzung der Ressourcenqualität und deren Einbeziehung in die Entscheidungsbegründungen eine wichtige Rolle spielen müssen.
Vorerst stehen im Wesentlichen zwei Wege zur Verfügung, um die Passung
von Hilfen einzuschätzen : • Die Erfahrung der SozialarbeiterInnen und der Organisationen mit Hilfen. Diese Erfahrung resultiert aus der bisherigen Arbeit mit Fällen und der Zusammenarbeit mit den Anbietern. Sie sollte im Fachteam gesammelt werden, um zu einem detaillierten und empirisch informierten gemeinsamen Bild über die Stärken und Schwächen der lokalen und regionalen Ressourcen zu kommen. Das Anlegen einer Ressourcendatei, bei der auch die bisherigen Erfahrungen vermerkt werden, kann hier eine Hilfe sein. • Statistische Verfahren sind gut brauchbar, um objektivierte Informationen über die verwendeten und verwendbaren institutionellen Ressourcen zu bekommen und zu systematisieren : Kommen KlientInnen, die zu Stelle A verwiesen werden, dort i.d.R. überhaupt an ? Wie wird ihnen tatsächlich dort geholfen ? In wie viel Prozent der Fälle wird das Problem, das Überweisungsgrund war, dort gelöst ? Erfolgen ggf. Rücküberweisungen ? Die von mir in dieser Arbeit vorgestellten Diagnoseverfahren beschäftigen sich nicht mit Fragen der Passung zwischen Problem/KlientIn und Institutionen der Hilfe. Sie bauen darauf, dass die Fachkräfte selbst aus einer differenzierten Kenntnis der Stärken und Schwächen vorhandener Ressourcen heraus einschätzen können, welche Hilfen der Problemlage angemessen sind. Als Forderung kann aber formuliert werden : Eine entscheidungsbegründende Diagnostik wird letztlich ohne Verfahren zur Einschätzung des Potenzials möglicher Hilfen nicht auskommen : Die Entwicklung von Verfahren zur Diagnose der Hilfen wäre ein wünschenswerter Schritt.
Dokumentation und Ziele
6.12 Dokumentation und Ziele Die letzten Jahre haben mit der zunehmenden Computerisierung auch der Social-Profit-Organisationen den Boom von Dokumentationssystemen gebracht. Wahrscheinlich wird heute in der Sozialarbeit deutlich mehr und genauer dokumentiert, als vor zehn Jahren. Die Formalisierung der Falldokumentationen weit über den behördlichen Bereich der Sozialarbeit hinaus zwingt die Fachkräfte, ihre Aktivitäten in Worte zu fassen. Die Dokumentationssysteme müssen aber mehrere Anforderungen unter einen Hut bringen : Sie sollen Arbeitsnachweise erbringen, fallbezogene Daten erfassen und leicht zugänglich machen, die Überlegungen und Strategien der Fachkräfte strukturieren, Daten für die statistische Auswertung zur Verfügung stellen. Die unklare Abgrenzung sozialarbeiterischer Fachlichkeit stellt für die Qualität der Dokumentationen ein ernsthaftes Problem dar : Dem vorwiegend von Bedürfnissen der Organisation dominierten Dokumentationssystem haben die Fachkräfte i.d.R. keine eigene fachliche Form der Aufzeichnung entgegenzusetzen, so bleibt die Dokumentation meist die einzige Form schriftlicher Beschäftigung mit dem Fall. Diagnoseinstrumente, die stets auch einer schriftlichen Form bedürfen, werden dann nicht in ihrer fachlichen Eigenständigkeit wahrgenommen oder als bloße Verdopplung oder unangenehme Ausweitung der Dokumentationsverpflichtungen gesehen.
In diesem Zusammenhang müssen auch die Vorstellungen über sozialarbei-
terische Fachlichkeit erwähnt werden, die im Zuge des (Sozial-)ManagementBooms ventiliert wurden und die aufgrund der Machtposition des einschlägig gebildeten Personals in der stillen Ideologie der Dokumentationssysteme quasi materielle Gewalt gewonnen haben. Dazu gehören : • das Denken in „Produkten“, • die Anbetung von „Zielen“. Mich interessiert vor allem der zweite Punkt. Kategorische Aussagen, wonach sozialarbeiterische Fachlichkeit ohne die Formulierung von → Zielen nicht möglich sei, sind häufig zu hören, und nicht nur von der Leitungsebene mancher Trägerorganisationen. Zuletzt hat zum Beispiel Reinhold Popp in einem Beitrag in der Zeitschrift „Sozialarbeit in Österreich“ (Nr. 2/2003) diese Behauptung aufgestellt. Gleichzeitig kenne ich die Schwierigkeiten vieler KollegInnen,
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einigermaßen aussagekräftige → Ziele für die Unterstützungsarbeit zu formulieren.54
Was die Managementebene mit Zielen meint, ist in aller Regel die statische
Zielplanung, die im Rahmen einer → Zielvereinbarung mit den KlientInnen über einen mittleren oder längeren Zeitraum (drei Monate und mehr) festlegt, worum es im Interventionsprozess gehen soll. Die dahinter liegende Vorstellung ist, dass sich durch Zielformulierung und Zielvereinbarung Interventionsprozesse überschaubar und abrechenbar gestalten könnten. Wird das Ziel nicht erreicht, kann gefragt werden, warum das so gewesen sei. Wird es erreicht, kann die Arbeit als erfolgreich abgehakt werden. Die Verwaltungsebenen hatten schon immer Schwierigkeiten damit, dass Unterstützungsprozesse schlecht planbar sind : Phasen der Stagnation lösen sich mit überraschenden Intensiv- und Krisenphasen ab, manche Prozesse dümpeln jahrelang ohne erkennbaren Fortschritt vor sich hin. Manche Prozesse brechen nach vorerst ermutigenden Fortschritten plötzlich in sich zusammen.
Kurt Possehl (2002) unterscheidet zwischen flexibler und statischer Zielpla-
nung. Die statische Zielplanung habe ich oben beschrieben : Sie geht von der mittelfristigen Planbarkeit der Unterstützungsprozesse aus. Nach einer ersten Assessmentphase sollten die Bedürfnisse der KlientInnen gültig definiert werden können und für Monate die Leitschnur des Unterstützungshandelns wie auch der eigenen Bemühungen der KlientInnen zur Besserung ihrer Lebenssituation sein.
Diese Vorstellung ist gelinde gesagt naiv. Sie ignoriert einige wesentliche
Faktoren : • Zum Ersten ist die Situation dynamisch, d.h. sie ändert sich mitunter sprunghaft. So tauchen sowohl neue Möglichkeiten wie auch neue Unmöglichkeiten auf, die sinnvollerweise eine Modifizierung der Problemdefinitionen und der Problembearbeitungsstrategie zur Folge haben. 54 Es fällt mir nicht schwer, mich auch selbst zu outen : Ich musste in den 80er-Jahren als Front-Line-Social-Worker mit einem Dokumentationssystem arbeiten, das die Formulierung von Zielen forderte. Ich gebe gerne zu, dass ich diese Rubrik immer erst im Nachhinein ausgefüllt habe, also rückblickend formulierte, was ich in den letzten sechs Monaten angestrebt hatte. Ich glaube, dass ich ein ziemlich guter Sozialarbeiter war und dass es gute Gründe (andere als Denkfaulheit) für das Problem mit den Zielen gibt. Die gleichen Gründe, die das Zielfindungsproblem vielen so unangenehm macht.
Dokumentation und Ziele
• Zum Zweiten ist die Eigendynamik der „Beziehung“ bzw. des → KSI zu beachten : IdeologInnen der statischen Zielplanung gehen umstandslos von der stillschweigenden Voraussetzung aus, dass KlientInnen von Beginn an vorbehaltlos kooperieren. Wenn sie aber ein Mindestmaß an sozialer Kompetenz haben, dann beginnen sie eine Beziehung vorsichtig und legen nicht von Beginn an alle Karten auf den Tisch. Es kann einige Zeit dauern, bis wesentliche Informationen an die SozialarbeiterInnen weitergegeben werden. D.h. dass bei einer funktionierenden Beratungsbeziehung nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität der Informationen über die Lebenssituation der KlientInnen erst nach längerer Zusammenarbeit groß genug ist, um eine tatsächlich relativ umfassende Einschätzung abgeben zu können. Dazu kommt noch, dass ein erfolgreicher Beratungsprozess mitunter zentrale Aspekte der Möglichkeiten, eine Lebenssituation zum Guten zu wenden, erst langsam bewusst macht. D.h. dass die KlientInnen gar nicht aus beziehungstaktischen Gründen wesentliche Informationen zurückhalten, sondern allein deswegen, weil diese ihnen selbst noch nicht in ausreichendem Maße bewusst sind. Der Beratungs- und Interventionsprozess als kooperativer Forschungsprozess benötigt seine Zeit. • Possehl verweist auf ein weiteres Spezifikum, nämlich auf die „‚chaotische‘ innere Lebenssituation von KlientInnen, wenn diese sozialisationsbedingt, meist auf der Basis frühkindlicher Bedürfnisversagungen (deutlich seltener : auf der Basis exzessiver Bedürfnisbefriedigungen) Bedürfnisspannungen generell oder sektoriell kaum aushalten und durch sofortige Bedürfnisbefriedigung abzubauen versuchen (vgl. z.B. Schuldner-, Budgetberatung, Arbeit mit Drogenabhängigen oder mit Straftätern) ; deren Handlungssteuerung ist generell oder sektoriell vor allem bedürfnis- und eben gerade nicht zielorientiert ; deshalb bringen sie reichlich ungünstige Voraussetzungen für das mittelschichtorientierte Zielvereinbarungskonzept mit“ (2002 : o.P.). Die Kombination aus diesen Faktoren macht die statische Zielplanung zu einem fragwürdigen Unternehmen. Dass die Verwaltungsebenen sie trotzdem für den Kern von dem halten, was sie unter Professionalisierung verstehen, hat gute Gründe : „Es besteht die Gefahr, dass Zielvereinbarungen zum ‚Sieb‘ werden, durch das alle die KlientInnen fallen, deren Lebenssituation die Voraussetzungen für statische Zielplanung gerade nicht aufweist. Aber auch für diesen Fall haben Zielvereinbarungen ihren Nutzen : Das Scheitern des Inter-
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ventionsprozesses lässt sich, gut dokumentiert, den KlientInnen anlasten ; denn schließlich sind sie es meist, die die Zielvereinbarungen nicht einhalten (vgl. die analoge Funktion sog. ‚Widerstände‘ für den psychotherapeutischen Prozes!)“ (Possehl 2002 : o.P.).
Das Verständnis für die Funktion von → Zielen im Unterstützungsprozess, für
die Funktion von Planung, ist ein zentraler Faktor für den gedeihlichen Einsatz diagnostischer Verfahren und einen sinnvollen Umgang mit deren Outcomes. Die von mir dargestellten Verfahren sollen nicht so (miss-)verstanden werden, als wären ihre Ergebnisse geeignet, die Interventionsprozesse mittel- und längerfristig voll zu determinieren. Sie sind als Landkarten zu verstehen, die eine flexible Zielplanung ermöglichen, die den Blick gleichzeitig auf die Ganzheit der Lebenssituation wie auch auf die relevanten Details behält.
Ich folge hier weiterhin Possehl, um dies zu erläutern. Er beschreibt vier Vari-
anten flexibler Zielplanung, von denen die vierte, das „Muddling through“ oder Durchwursteln, eigentlich alle Planungselemente vermissen lässt. Diese auch als „Reparaturdienstverhalten“ (Dörner 1991) beschriebene Strategie stürzt sich auf jeden gerade aktuell thematisierten Missstand und versucht ihn zu beseitigen. Was hier interessiert, sind die anderen drei Strategien, die auf Überblick und (Selbst-)Steuerung trotz Flexibilität nicht verzichten. Dazu jetzt noch einmal ausführlicher : „Variante 1 : im Übergangsbereich von statischer zu flexibler Zielplanung : Fortlaufende prozessbegleitende Zielüberprüfungen und Zielanpassungen. Zielüberprüfungen durch die Fragen, ob die richtigen Ziele gewählt und ob die Ziele richtig definiert wurden. Zielanpassungen durch Reduzierung, Erweiterung oder Wechsel von Zielen, durch Einschieben von Zwischenzielen oder Änderung der Reihenfolge von Zielen. Solche Zielanpassungen können sehr arbeitsaufwendig sein ! Variante 2 : Zunächst Formulierung nur eines oder mehrerer relativ vager Globalziele. Zwischenziele parallel zur Ausführung aufgrund der während der Ausführung gewonnenen Erfahrungen. Variante 3 : Formulierung eines Zieles nur für den nächsten Handlungsschritt. Wiederholtes Neuentscheiden über weitere Ziele in Abhängigkeit von den jeweils erreichten Zwischenergebnissen. Neuentscheidung über weitere Ziele so weit möglich nach dem Effizienz-Divergenz-Prinzip“ (Resch/Oesterreich 1987, hier zit. n. Dörner 1991, 80), d.h., so dass möglichst viele verschiedene Hand-
Dokumentation und Ziele
lungsmöglichkeiten mit jeweils hoher Erfolgswahrscheinlichkeit offenbleiben.“ (Possehl 2002 : o.P.). Alle drei Varianten (wie auch das „Durchwursteln“) sind in sozialarbeiterischen Interventionssettings aus gutem Grund vielgeübte Formen des Umgangs mit Zielen. Die Behauptung der „VerwaltungsprofessionalisiererInnen“, dass nur schriftlich explizit gemachte und längerfristig gültige Ziele Ziele seien, übersieht diesen pragmatischen Zielfindungs- und Zielanpassungsprozess, der durch durchgehende Verschriftlichung gebremst werden würde. Die besondere Qualität mündlicher Kommunikation, die auch in ihrer Schnelligkeit, Mehrdeutigkeit und Flexibilität liegt, ermöglicht diffizile Bearbeitungsstrategien, deren umfassende Verschriftlichung nur ausnahmsweise (zum Beispiel zu Forschungszwecken), jedenfalls aber nicht durch die beratenden Fachkräfte selbst möglich ist.
Die Stärken der Verschriftlichung im Prozess der Intervention liegen auf an-
deren Gebieten. Zum einen sind jene Daten über die Situation natürlich schriftlich festzuhalten, die schwer im Gedächtnis zu behalten sind, bei denen es auf Genauigkeit ankommt, die invariant oder relativ invariant sind oder die standardisiert als wesentliche Informationen festgehalten werden sollen. Dazu gehören mit Sicherheit die → Grunddaten des Falles. Zum anderen bietet die Verschriftlichung die Möglichkeiten der → Inszenierung : Der Betonung von bestimmten Aspekten, der Erhöhung des „Commitments“ (also der kommunikativen Erhöhung der Verbindlichkeit durch das mehr oder weniger „feierliche“ Arrangement der Unterschriftsleistung, durch Vereinbarungsprotokolle und/oder Verträge).
Eine häufige Form des Umgangs mit Zielen besteht darin, so etwas wie glo-
bale Ziele oder → „Themen“ zu formulieren, die eine mittel- und längerfristige Orientierung in der Fallbearbeitung geben, ohne jedoch die einzelnen Schritte bereits zu determinieren. Die Entscheidungen über die kurzfristigen Aktivitäten sind dann sehr stark an den momentanen Bereitschaften der KlientInnen oder an der aktuellen Situation orientiert.
Einige der von mir vorgestellten diagnostischen Verfahren sind nun dazu
geeignet, bei der Formulierung von Zielen in der Fallbearbeitung behilflich zu sein. Dabei zeigt sich, dass eine Unterscheidung zwischen den Zielen der SozialarbeiterInnen und den mit den KlientInnen vereinbarten Zielen unumgänglich ist. Während die Ziele der SozialarbeiterInnen nur deren Handeln steuern, sind die vereinbarten Ziele Bezugspunkte im → KSI, d.h., dass auf sie kommunikativ immer wieder Bezug genommen wird. Der Anspruch, dass sowohl KlientIn als auch Sozi-
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
alarbeiterIn sich durch diese kommunikativ vereinbarten Ziele in ihrem Vorgehen bestimmen lassen, schafft eine Situation, in der die KlientInnen sich zu rechtfertigen haben, wenn sie vom einmal vereinbarten Plan abweichen. Für die Kommunikation im → KSI kann dies zu einem Problem werden, weil dadurch bei Schwierigkeiten/Friktionen die KlientInnen unter Druck kommen. Sie könnten versucht sein, ihr Handeln bzw. Nichthandeln zu verschweigen oder zu verschleiern, ein einmal erreichtes Niveau der Kooperation also wieder zu unterschreiten.
Im Gegensatz zu den sozialarbeiterischen Zielen bedürfen also die vereinbar-
ten Ziele und Strategien einer besonderen Einbettung in Begleitmaßnahmen, die Negativeffekte der → Zielvereinbarung zu begrenzen geeignet sind. Solche Begleitmaßnahmen sind z.B. : • Ausführliche → Thematisierung der Schwierigkeiten der Zielerreichung und der Wahrscheinlichkeit von zumindest temporären Misserfolgen. • Nähe der Zielformulierungen zur Eigendiagnose der KlientInnen. • Einbettung der Zielvereinbarung in → Inszenierungen des → Respekts. • Vereinbarung von Kontrollterminen, bei denen die Vereinbarung überprüft wird und Veränderungen möglich sind. Christoph Menke nimmt Bezug auf Foucaults Begriff der „ästhetischen Existenz“, kritisiert die Vorstellung, dass gelingendes Leben mit der Verwirklichung eines „Lebensplans“ identisch sei : „Der entscheidende Gesichtspunkt für diesen ethisch motivierten Bezug auf die ästhetische Tätigkeit der Kunst ist, dass sich ihr Gelingen nicht als das Erreichen und daher ihr Vollzug nicht als die Verwirklichung eines gesetzten Ziels verstehen lässt. Das Gelingen ästhetischer Tätigkeiten verlangt die Überschreitung jedes vorweg gesetzten Ziels : Sie gelingen gerade, wenn sie zu etwas anderem führen, als was an ihrem Anfang festgelegt wurde. Deshalb sind alle ästhetischen Tätigkeiten zugleich Übungen. Während sich im Bereich der Disziplin klar zwischen Übung und Tätigkeit unterscheiden lässt – die Tätigkeit ist die Ausübung der in der Übung erworbenen Fähigkeiten –, bleibt im Bereich des Ästhetischen jede Tätigkeit Übung und wird jede Übung Tätigkeit. Sich zu üben heißt, ein anderer zu werden” (Menke 2003 : 298). Menke scheint sich auf ein intellektuelles Lebenskonzept zu beziehen, viel zu hoch angelegt für die meisten Menschen. Ich neige allerdings zu der Auffas-
Dokumentation und Ziele
sung, dass hier nicht ein ethisch-ästhetischer Entwurf für ein hoch abstrakt reflektiertes Leben beschrieben wird, sondern die Realität der meisten Leben, die gewöhnlichen Handlungsbedingungen in der Lebensgestaltung : Man kann sich zwar selbst steuern (in gewissen Grenzen), aber man kann die Dynamik der Situation, in der man agiert, nicht steuern. Jene hält immer Überraschungen bereit und verhält sich nur ausnahmsweise so, wie man es sich erwartet hat (was dann eine Gefühls-Kombination aus Verwunderung, Genugtuung und Irritation hervorruft). Ich habe das bei der Darstellung der Unterscheidung zwischen „gutartigen“ und „bösartigen“ Problemen bereits ausführlicher diskutiert.
Um nicht nur das Negative der Komplexität und Dynamik von Lebenssitua-
tionen zu betonen, sei angemerkt, dass die Dynamik nicht nur Pläne durchkreuzt und Ziele hinfällig macht, sondern dass sie auch Chancen eröffnet, an die vorhin nicht zu denken war. Es öffnen sich „windows of opportunity“ für eine gewisse Zeit, die zu übersehen bei einer statischen Zielplanung wahrscheinlich ist.
In diese Richtung weist auch die Argumentation von Seel (2002 : 77). Sein
Thema ist eigentlich das Glück, und er kritisiert die Kant’sche Vorstellung, Glück sei gleichbedeutend mit der Erfüllung der Wünsche und mit dem Erreichen der Ziele, die man sich selbst gesetzt hat. Er behauptet – und wie ich meine nicht ganz zu Unrecht –, dass Glück vielmehr die Erfüllung von Wünschen ist, von denen man erst bei der Erfüllung erkennt, dass man sie gehabt hat. Er verweist auf die überraschende Komponente des Lebens, auf die Unmöglichkeit des umfassenden Planens, und darauf, dass diese Unmöglichkeit erst ein erfülltes Leben ermöglicht.
Ähnlich sieht das Larmore (2002 : 41ff.), und ähnlich sehe ich das auch, vor
allem im Hinblick auf die KlientInnen Sozialer Arbeit. Viele von ihnen sind entweder mit dem völligen Scheitern des Lebensplans konfrontiert, den sie vielleicht einmal gehabt haben, oder sie beweisen, dass es ihnen nicht möglich ist, auf eine solche Art planvoll und diszipliniert zu handeln, dass ein Lebensplan verwirklichbar wäre.
Der Einsatz von → Zielen in der Sozialarbeit ist nur mit dem Wissen über
diese grundsätzlichen Schwierigkeiten und sogar Nachteile der Planung und Zielorientierung sinnvoll.
Nun können wir durchaus allgemein Ziele sozialarbeiterischer Intervention
beschreiben. Auf der allgemeinsten Ebene versuchen das ja die Sozialarbeitstheorien. Das Ziel sei „Lösung sozialer Probleme“ (Obrecht), „stellvertretende Inklusion“ (Kleve), „Wiederherstellung von Alltag“ (Pantucek) etc.
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Wenn wir allerdings vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigen (Karl Marx),
werden Komplexität und Unsicherheit größer. Bei der Operationalisierung der abstrakt formulierten Ziele quält man sich damit ab, dass sie in einem Beziehungsgeflecht stattzufinden hat, auf der Basis grundsätzlich unvollständiger Kenntnisse über das Bedingungsgefüge der konkreten dynamischen Wirklichkeit.
Allgemeinst ist das Ziel relativ leicht formuliert : Wiederherstellung von All-
tag oder Wiederherstellung der Inklusion der KlientInnen. Praktisch werden aber einfache operative Ziele wirksam. Burkhard Müller (1995 : 706) empfiehlt die „oberflächliche“ Analyse, Netzwerkhermeneutik statt Tiefenhermeneutik. Aus einer solchen Oberflächenanalyse, wie sie auch die von mir vorgestellten Diagnoseverfahren getreu der Empfehlung Müllers leisten, resultieren „oberflächliche“ Ziele, keine Lebenspläne.
Zu unterscheiden ist zwischen Zielen als Orientierungsideen und operativen
Zielen.
Ziele als Orientierungsideen sind „leere Signifikanten“ im Sinne von Ernesto
Laclau (1994 ; S. auch Brodocz 2000 : o.P.) : Sie bezeichnen nicht eine Realität, sondern eine Differenz. Sie gewinnen ihre Bedeutung nicht durch den Bezug auf etwas Reales (oder etwas, was so real werden könnte), sondern durch die Ablehnung eines anderen Begriffes. Leere Signifikanten ermöglichen Diskurs und ermöglichen die Endlosigkeit des Diskurses, erfüllen damit eine wichtige Funktion.
Operative Ziele sind eine organisierende Chiffre für gutartige Teilprobleme,
die in die „wicked problems“ eingebettet sind. Sie sind kurzfristig und relativ leicht zu erreichen (das Erstellen einer Liste aller Schulden ; das Besorgen von Dokumenten ; Vorbereitung und Durchführung einer Aussprache mit dem Vater, mit dem der Klient zerstritten ist ; …). Solche operativen Ziele spielen in der Sozialarbeit eine große Rolle – und sie sind in eine Strategie eingebettet, die für alle Fälle gilt : Erhöhung der Zahl der Optionen (wie es Heinz von Foerster nennen würde), Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten (wie es Klaus Holzkamp genannt hätte). Zum Zeitpunkt der Intervention kann durchaus unklar sein, wohin diese Wege führen werden.
Alternativ zu „Zielen“ sind im Beratungsteil sozialarbeiterischer Fallbearbei-
tung noch „Wünsche“ und „Themen“ als organisierende Chiffren für das Vorantasten in unübersichtlichem sozialem Gelände geeignet.
Soziale Diagnosen sagen : So ist das. Oder : Da muss etwas geschehen. Sie er-
leichtern die Konfrontation mit einer gegebenen Wirklichkeit. Dadurch ermögli-
Diagnose und Entscheidung
chen sie die Weiterarbeit, zum Beispiel die kooperative Formulierung von operativen → Zielen oder die Etablierung eines neuen → Themas in der Beratung. Sie können und sollen den Prozess weiterbringen, nicht präjudizieren.
6.13 Diagnose und Entscheidung Diagnosen sind entscheidungsvorbereitend, sie liefern wesentliche Grundlagen für fallbezogene Entscheidungen. Solche fallen in der Sozialarbeit viel öfter an, als man meinen könnte, wenn man die Sozialarbeit nur aus der vorwiegend beratungsfixierten methodischen Literatur kennen würde.55 SozialarbeiterInnen treffen Entscheidungen über Hilfeformen, über die Gewährung oder Nicht-Gewährung von Hilfe, über Eingriffe in das Leben und die biografischen Chancen der KlientInnen. Sie machen das am Jugendamt mit Entscheidungen über Fremdunterbringungen, über Auflagen für die KlientInnen ; sie entscheiden in Wohngemeinschaften über Aufnahme und Ausschluss von Kindern und Jugendlichen und wiederum über Strafmaßnahmen und Auflagen ; sie entscheiden über die Beantragung oder Nicht-Beantragung von materiellen Hilfen, über die Weiterführung der Unterstützung oder ihre Beendigung und den Weiterverweis der KlientInnen an andere Einrichtungen.
In Entscheidungskalküle fließen nicht nur fachliche, sondern auch instituti-
onsbezogene Überlegungen mit ein. Die Grafik auf S. 120 stellt den Kontext des Entscheidungsprozesses dar :
Die Grafik (und meine weitere Argumentation) folgt im Wesentlichen der
Darstellung von Kopfsguter (1998) über Entscheidungsprozesse im Kontext von Organisationen, jedoch ergänze ich seine Sichtweise durch die Einführung der Ebene der Profession.
Kopfsguter (1998 : 106f.) spricht davon, dass für das Entscheidungskalkül
wesentlich ist, wie die Entscheidung legitimiert werden kann. Dies ist vor allem im Fall eines möglichen Misserfolgs bedeutend : Die Fachkräfte („SachbearbeiterInnen“) sind mit konformen Entscheidungen, also solchen, die der Tradition der Organisation entsprechen, auf der sicheren Seite. Auch im Falle eines Misserfolgs werden sie nicht zur Verantwortung gezogen. Hingegen werden nonkonforme 55 Das hat sich ein wenig geändert, seit Konzepte wie das Case Management stärker rezipiert werden.
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Grafik 11 : Entscheidungssetting
Entscheidungen, die sich also an anderen Kriterien als an den Traditionen der Organisation orientieren, zu einem Vabanquespiel für die EntscheiderInnen. Im Falle fehlenden Erfolgs wird ihnen der Misserfolg zugerechnet und sie können innerhalb ihrer Organisation gehörig unter Druck geraten. So entsteht eine Tendenz zum konformen Entscheiden, und das heißt immer : zu einer Ausrichtung der Entscheidung eher auf die Regeln der Organisation als auf die Logik des Falles. Man könnte zugespitzt formulieren : Das bedeutendste Problem, das EntscheiderInnen stets zu lösen haben, ist die Sicherung ihrer eigenen Position in der Organisation, nicht das Problem des Falles.
Diagnostische Verfahren haben das Potenzial, das Kräfteverhältnis ein we-
nig zu verschieben. Sie sind Instrumente, die organisationsübergreifend ange-
Diagnose und Entscheidung
wendet werden, sind also neutral gegenüber den Entscheidungstraditionen der Organisation. Im günstigen Fall repräsentieren diagnostische Verfahren die Profession bzw. die Disziplin, bringen deren Logik vorerst einmal unabhängig von der Organisation in den Entscheidungsprozess ein. Diagnostische Verfahren sind also ein Instrument, um die Entscheidungen der Fachkräfte von Organisationskonventionen unabhängiger zu machen.
Voraussetzung dafür, dass eine sozialarbeiterische Diagnostik diese Funktion
einer Stärkung professioneller gegenüber organisationsbezogener Entscheidungskalküle erfüllt, ist allerdings die relative Unabhängigkeit der SozialarbeiterInnen bei der Entscheidung über den Einsatz diagnostischer Verfahren. Wie bereits im vorigen Teilkapitel angesprochen, ist die Verschmelzung von notwendig bürokratischer Dokumentation und Diagnoseverfahren kontraproduktiv und läuft Gefahr, die Diagnosen dem Organisationskalkül unterzuordnen.
In einem Skriptum zur Familiensozialarbeit (Pantucek 1996a : 87f.) habe ich
versucht, Hinweise für sozialarbeiterisches Entscheiden zu geben – nach Durchsicht halte ich sie immer noch für gültig und hilfreich, können sie eine Ergänzung zur Handhabung von Diagnoseinstrumenten sein : * Allgemein kann gesagt werden, dass Situationen, die Entscheidungszumutungen enthalten, nicht entflohen werden kann, indem man keine Entscheidung trifft – auch die Nichtentscheidung ist eine Entscheidung mit Folgen. Die Nichtentscheidung ist die Entscheidung, derzeit nichts zu tun. Man ist auch für die Nichtentscheidung verantwortlich. * Zukünftige Entwicklungen von Personen und sozialen Situationen sind nicht mit Sicherheit vorauszusagen. Es können also keine völlig „sicheren“ Entscheidungen mit Gewissheit über die Prognose getroffen werden. Es geht immer um die Abschätzung von Risken. Oder anders gesagt : Auch nach einer richtigen Entscheidung kann ein Fall „schiefgehen“. Oder noch einmal anders : Keine Entscheidung, auch nicht die Nicht-Entscheidung, ist risikolos. * Die Frage nach den Ursachen der derzeitigen (problematischen) Situation hat mit der anstehenden Entscheidung relativ wenig zu tun, wichtiger ist die Frage nach der derzeitigen Dynamik und den Zukunftsperspektiven. * Ein Übermaß an Detailinformationen hilft in der Regel nicht weiter, sondern kann den Überblick sogar erschweren. Die Grundkonstellation sollte erfasst werden, nicht alle ihre Verzweigungen.
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Grundsätzliche Probleme Sozialer Diagnose
* Sympathie und Abneigung, die eigene Emotionalisierung des Entscheiders, ist ein Faktor, der Entscheidungen oft wesentlich beeinflusst. Selbstbeobachtung und Supervision müssen diese Einflüsse unter Kontrolle halten. * Akzeptiere keine Entweder-oder-Situationen, sondern suche auch andere Varianten, Zwischenlösungen, Ergänzungen. (Z.B. wenn Obsorge im Streitfall der Mutter zugesprochen werden soll, gleichzeitig ein großzügiges Besuchsrecht vereinbaren und mit Beteiligten absichern, dass das auch realisiert und überprüft wird.) * Eine allgemeine Regel : Entscheide stets so, dass die Zahl der Optionen vergrößert wird, nicht verkleinert. * Eine weitere allgemeine Regel : Entscheide stets so, dass du deine Entscheidung gegenüber jedem einzelnen Beteiligten begründen und vertreten kannst. Tu das auch. Verstecke deine Entscheidungen nicht hinter Aktendeckeln. * Ein allgemeines Frage- bzw. Entscheidungsvorbereitungs-Schema könnte so aussehen : 1. Welche Entscheidung ist zu treffen ? 2. Warum ist jetzt diese Entscheidung zu treffen ? 3. Wer will eine Entscheidung ? 4. Welche Optionen werden mir von wem aufgedrängt ? Wer will welche Entscheidung ? 5. Was ist der Kern dessen, was für das Kind erreicht werden soll ? 6. Welche verschiedenen Wege gibt es, das zu erreichen ? 7. Wenn ich Entscheidung A treffe, was sind ihre Chancen, was ihre Risken ? 8. Wenn ich Entscheidung B (C, D …) treffe, was sind ihre Chancen, was ihre Risken ? 9. Wie kann ich Variante A verändern, um die Chancen zu vergrößern und die Risken zu verkleinern ? 10. Wie kann ich Variante B (C, D …) verändern, um die Chancen zu vergrößern und die Risken zu verkleinern ? 11. Für welche Variante könnte die Zustimmung des Kindes und der anderen Betroffenen erreicht werden ? Mit welchen können sie zumindest leben ?
7. Ausgewählte Diagnoseinstrumente In der Folge stelle ich eine Serie von Diagnoseverfahren, die für die Sozialarbeit geeignet sind, vor. Ich konzentriere mich dabei auf Verfahren, die die soziale „Geografie“ von Fällen vermessen. Weitgehend unberücksichtigt bleiben Verfahren, die auf die Auswertung von Erzählungen über die Biografie zielen bzw. diverse elaborierte hermeneutische Verfahren. Eine umfassende Darstellung der Sozialen Diagnose müsste solche Verfahren beinhalten. Weiters wären noch Frage- und Gesprächstechniken zur Exploration und zur Stimulation von Eigendiagnosen zu beschreiben, Verfahren der Konfliktanalyse und Risk Assessments. Reflexive und prozessorientierte Diagnostik würde den Verlauf der Fallbearbeitung selbst in den Blick nehmen, auch sie wird hier nicht vorgestellt. Die Landschaft der diagnostischen Möglichkeiten ist vielgestaltig und unübersichtlich, sie kann hier nicht einmal annähernd zur Gänze abgeschritten werden.
Fast allen vorgestellten Verfahren ist gemeinsam, dass ihre Wirkung bei der
Strukturierung des Unterstützungsprozesses erst dann gegeben ist, wenn die KlientInnen entweder am Verfahren direkt beteiligt sind oder die daraus resultierenden Interventionsentscheidungen → ratifizieren. Die Deutungen der KlientInnen gelten im Prozess als gleichberechtigt, ja sie dominieren sogar insofern, als an sie prozessual angeschlossen werden muss. Diagnosen, die nicht kooperativ erstellt wurden, strukturieren also → Thematisierungs-Strategien der SozialarbeiterInnen, noch nicht den wesenhaft kooperativen Prozess der Problembearbeitung und Lösung.
Der Einsatz von Diagnoseverfahren hebt bestimmende Merkmale kunstge-
rechter Gestaltung von Unterstützungsprozessen nicht auf : • die dialogische Struktur, • die Arbeit am Unterschied zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Gesellschaftlichen und dem Individuellen bzw. Situationalen, „Normalität“ und Autonomie,
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
• der pragmatische Imperativ, dass stets an die Eigendiagnose der KlientInnen anzuknüpfen (und vorrangig an ihr zu arbeiten) ist.
7.0 Vorbemerkungen Ich stelle hier eine kleine Auswahl von diagnostischen Verfahren vor, die der Sozialarbeit zugeordnet sind oder werden können. Zum Teil handelt es sich um Einschätzungspraxen, die zwar gebräuchlich sind, allerdings meines Wissens noch nicht als diagnostische Verfahren nachvollziehbar beschrieben wurden. Die Beschreibung soll zu einer bewussteren Anwendung und zu deren „Zitierbarkeit“ als Verfahren im interdisziplinären fallbezogenen Dialog beitragen. Kontrollierte Praxis könnte dann zu einer Verbesserung der Beschreibungen und zu empirisch besser abgesicherter Diagnostik beitragen. Einzelne Verfahren wurden von mir entwickelt und tw. auch von KollegInnen getestet. Wieder andere sind in verschiedener Form in der Sozialarbeit gebräuchlich und auch bereits dokumentiert. Gegebenenfalls mache ich Vorschläge zu deren Anpassung oder Standardisierung. Die meisten der von mir vorgestellten Verfahren bedürfen der weiteren Ausarbeitung.
Eine Sonderstellung in der Diskussion zur Diagnose in der Sozialen Arbeit ha-
ben die hermeneutischen Verfahren. Obwohl ich ihnen außerordentlich große Sympathie entgegenbringe, hege ich doch meine Zweifel bezüglich deren kon trollierter Einsetzbarkeit in der sozialarbeiterischen Praxis. Bei der Auswahl habe ich auch weitgehend auf die Darstellung der sozialpädagogischen Diagnostik in der Jugendhilfe verzichtet, ihr müsste eine eigene Arbeit gewidmet sein. Aufbau der Unterkapitel Zum Aufbau der folgenden Unterkapitel : Ich widme jedem Diagnosetypus einen Abschnitt, stelle zuerst typusspezifische Überlegungen an und stelle dann exemplarisch Verfahren vor, die ich dem jeweiligen Typus zuordne. Die Zuordnung einiger Verfahren ist nicht eindeutig, sie könnten ev. auch anderen Typen zugerechnet werden. Ich erwähne das dann bei der Beschreibung des Verfahrens.
Die Verfahren selbst versuche ich jeweils mit Beispielen anschaulich zu ma-
chen und schließe Überlegungen zu ihrer diagnostischen Potenz, zu theoretischen Bezügen und zu ihrer Funktion im Unterstützungsprozess an. Letzteres
Vorbemerkungen
ist der oben ausführlicher dargelegten Tatsache geschuldet, dass die Diagnose im sozialarbeiterischen Fallbearbeitungsprozess nicht Interventionen vorangeht, sondern immer auch schon den Charakter einer Intervention hat. Gemeinsamkeiten der Verfahren Allen hier vorgestellten Verfahren ist gemeinsam, dass sie nicht mit persönlichkeitsdiagnostischen Verfahren der Psychologie verwechselt werden können. Sie könnten m.E. – neben zahlreichen anderen möglichen und hier nicht explizierten Verfahren – zu einem Grundstock moderner Sozialer Diagnose werden.
Ein weiteres gemeinsames Merkmal fast aller Verfahren ist, dass sie zwar
nicht persönlichkeitsdiagnostisch, aber personenzentriert sind, d.h., dass sie die Welt, ausgehend von einer → Ankerperson, auffächern und untersuchen. Diagnostische Verfahren, die sich auf Gemeinwesen beziehen, habe ich hier vorerst ausgeblendet.
Trotz der möglicherweise verführerischen oberflächlichen Ähnlichkeit man-
cher Diagnoseraster mit in Dokumentationssystemen gebräuchlichen Rastern warne ich ausdrücklich vor der obligatorischen Übernahme der Diagnoseraster in die Dokumentation. Diagnostische Aufzeichnungen können bestenfalls Beilage zur Dokumentation sein, nie ihr integraler Bestandteil : • Dokumentationen unterliegen einer anderen Logik, sie sind zu stark mit den Bedürfnissen der Organisation verbunden. • Diagnoseinstrumente, die nicht als bloß eines der möglichen Verfahren verstanden werden und die nicht bewusst eingesetzt werden, verlieren ihren Charakter als fachliches Instrument der Falleinschätzung und Interventionsplanung. In der Dokumentation sollten allerdings Hinweise auf die Ergebnisse von angewandten diagnostischen Verfahren enthalten sein.
Terminologie Zu einem weiteren Problem : Groteskerweise besteht in der Sozialarbeit keine Terminologie, um die grundlegenden Formen von Interventionsprozessen zu bezeichnen. Es wäre – noch vor allen Aufsplitterungen in theoretische und me-
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
thodische Schulen – doch zumindest erforderlich, zwischen den Settings und Interventionsintensitäten sprachlich unterscheiden zu können. Dieses Fehlen terminologischer Grundlagen verleitet fast dazu, den zynischen KritikerInnen sozialarbeiterischer Professionalisierungsfantasien recht zu geben. Jedenfalls spricht es nicht für die PropagandistInnen einer Sozialarbeitswissenschaft und der Entwicklung der Sozialarbeit als Profession und Disziplin, wenn sie zwar eine (sic!) Handlungstheorie der Sozialarbeit fordern, geichzeitig aber selbst sprachlos in Bezug auf die wichtigsten Settings und Handlungsformen sind und sich nicht um die Etablierung einer allgemein brauchbaren Terminologie bemühen.
Da ist vorerst einmal der systematische Feldausgriff, der Sozialarbeit von rein
beraterischen und/oder psychotherapeutischen Interventionsformen unterscheidet und für den es noch keine Bezeichnung gibt (abgesehen davon, dass auch die Verbindung von Beratung und Feldintervention methodisch und theoretisch noch wenig untersucht ist).
Unterstützungsprozesse unterscheiden sich je nach zeitlicher Reichweite,
nach Feld-Reichweite sowie nach dem begleitenden Ressourceneinsatz beträchtlich in ihrem Aufbau und in der Methodik. Diese Unterschiede bedingen Unterschiede in der Diagnostik, nicht jedes Verfahren eignet sich für jede Interventionsform.
Ich habe (1998 : 110ff.) zumindest für die grundlegenden Formen sozialar-
beiterischer Unterstützungsinszenierungen eine Terminologie vorgeschlagen, der Vorstoß blieb allerdings bisher ohne jede Resonanz. Für die Zwecke dieser Arbeit muss ich nun auf eigene Faust die Terminologie ausdifferenzieren, um einigermaßen präzise angeben zu können, welche Diagnoseinstrumente in welchen Zusammenhängen einsetzbar sind und in welchen nicht. Ich hoffe, dass sich in den nächsten Jahren KollegInnen finden, die der Profession verbunden sind und sich an der Ausarbeitung und Verbreitung einer einheitlichen Terminologie beteiligen. Bis dahin werde ich mich mit den selbstgestrickten Bezeichnungen begnügen müssen.
Nun einige Hinweise zur von mir verwendeten Terminologie :
All dies sind Formen der Intervention in personenzentrierten Settings, also
Formen der Individualhilfe, so wie ich mich auch bei der Untersuchung von Diagnoseinstrumenten auf personenzentrierte Unterstützungsprozesse beschränke.
Ich unterscheide in der Folge zwischen verschiedenen Interventionsformen je
nach den oben genannten Kriterien und füge in der unten stehenden Übersicht
Vorbemerkungen
noch zwei Spalten hinzu, die sich auf die zeitliche Reichweite der im Bearbeitungsprozess mit den KlientInnen zu treffenden Vereinbarungen beziehen.
Eine kurze Beschreibung der Interventions- und Prozessformen finden die
LeserInnen im Glossar.
Kurzberatung
Sitzungen
Vereinbarungen kurzfristig
Vereinbarungen mittelfristig
Feldinterventionen
Bereitstellung von Lebensfeldsubstituten
1
nein
nein
nein
nein
Kurzintervention
1–3
ja
nein
ja
nein
Beratung
2– ?
ja
eventuell
nein
nein
Alltagsrekonstruktion
3– ?
ja
ja
ja
nein
∞
ja
ja
ja
eventuell
offen
ja
ja
ja
ja
Begleitung Feldsubstitution
Grafik 12 : Typologie sozialarbeiterischer Interventionsformen/Prozesstypen
Weitere Varianten dieser Interventionsformen können sich durch eine Spezialität der Sozialarbeit ergeben, nämlich durch ihre Fähigkeit, auch mit offenen oder wenig strukturierten Settings zurechtzukommen bzw. diese für kurze Interventionen56 zu nutzen, wie z.B. Streetwork. Eine andere Spezialform beschrieb mir ein Kollege von der Arbeitsassistenz, der „Counselling on the job“ praktiziert, also direkt am Arbeitsplatz, ohne dass der Klient dabei seine Arbeit unterbrechen muss. Gedrängt durch Änderungen in den ökonomischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen entwickelte die Deutsche Vereinigung für Sozialarbeit im Gesundheitswesen „Fallgruppen“ (DVSG : 2005), die verschiedene charakteristische Typen von Interventionssettings und Interventionsverläufen klassifiziert. Diese Initiative ist zumindest interessant, wenn sie auch sehr auf den zweck der Einpassung sozialarbeiterischer Leistungen in ein System der Verrechnung zugeschnitten ist – ein allerdings legitimes Anliegen.
Der Einbau einer Systematik der Interventionsformen in eine Typologie und
theoretische Rahmung sozialarbeiterischer Methodik steht noch aus. Für die Dis56 Diese Interventionen bekommen ihre Richtung i.d.R. durch die Kenntnis des Feldes. Aber diese Frage der Methodik kann hier nicht in gebührender Ausführlichkeit diskutiert werden.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
kussion der Brauchbarkeit der vorgestellten diagnostischen Verfahren werde ich mich in dieser Arbeit auf die oben vorgestellte Typologie beschränken. Gegenstände Sozialer Diagnostik Für die Falleinschätzung und die Interventionsentscheidungen in der Sozialen Arbeit sind eine Serie sehr unterschiedlicher Dimensionen relevant. In einer Übersichtstabelle habe ich diese Dimensionen darzustellen versucht (s. Grafik 13) : Diagnostische Dimensionen in der Sozialen Arbeit A. Probleme der B. RelevanzAlltagsbewältigung struktur
aktuell
Vorgeschichte
Perspektive
diagnostische Instrumente (Beispiele) Maßstab Konfrontation der Dimensionen
C. Normalität
D. mögliche Programme
E. Einbindung in das Soziale
F. Status des UnterstützungsProzesses
Anhand welches 1. Wie ist Kl. in Merkmals (der soziale Netze Wie ist der Modus Situation oder d. Kl.) eingebunden und der Kooperation dockt welches 2. in die mit Kl. und mit Programm an diesen Kommunikation ges. anderen Fall mit Funktionssysteme Beteiligten? Unterstützung oder inkludiert? Sanktionen an? Biographie: Situation neu oder bekannt? Aufstieg oder Abstieg? Belastungen / Ressourcen? Bisherige Lösungsversuche von Kl. und anderen? Welches Programm Für die Lösung kann in der welcher Probleme gegebenen Situation Welche der Was ergibt sich will / kann Kl. mit welchen Wie kann die Wie soll die Schwierigkeiten sind daraus an Energie investieren Modifikationen und soziale Einbindung künftige Rolle d. aussichtsreich Konsequenzen für und wie kann man Begleitmaßnahmen verbessert werden? SA aussehen? bearbeitbar? d. Kl.? die Eigenaktivität tatsächlich hilfreich unterstützen? sein? Welches ist bedrohlich? „informierter Alltagsverstand“, Analyse und Problemrankings, Raster für die RisikofaktorenNetzwerkkarte, Kontextualisierung div. Bewertung von Reflexion, analysen etc. + Ecomap, Inklusionsdes präsentierten hermeneutische Optionen mit Intervision Chart (IC) Diagnosen Problems (PPA), PIE Verfahren Risikoanteil (IA) anderer Professionen Bewusstsein d. Kl., „allgemein Gesetze, statistisch, fachlich, Alltagspraxis der Kl. „inneres Team“ Anerkanntes“ Verordnungen empirisch methodisch Mit welchen Schwierigkeiten ist Kl. bei der Lebensführung konfrontiert?
Was ist für Kl. subjektiv und objektiv wichtig und aussichtsreich bearbeitbar?
Welche Abweichungen von welcher Normalitätsfolie sind erkennbar?
Mehrperspektivenraster, Verhandlung
Grafik 13 : Diagnostische Dimensionen
• Probleme der Alltagsbewältigung, mit der Leitfrage : Mit welchen Schwierigkeiten ist der Klient bei der Lebensführung konfrontiert ? • Relevanzstruktur, mit der Leitfrage : Was ist für die KlientInnen subjektiv und objektiv wichtig und aussichtsreich zu bearbeiten ? • Normalität, mit der Leitfrage : Welche Abweichungen von welcher Normalitätsfolie sind erkennbar (und was bedeutet das für die Lebensführung der KlientInnen) ? • Mögliche Programme, mit der Leitfrage : Anhand welches Merkmals der Situ-
Vorbemerkungen
ation oder d. Klienten dockt welches Programm an diesen Fall mit Unterstützung oder Sanktionen an ? • Einbindung in das Soziale, mit der Leitfrage : Wie ist Klient in soziale Netze eingebunden und in die Kommunikation gesellschaftlicher Funktionssysteme inkludiert ? • Und schließlich Status des Unterstützungsprozesses, mit der Leitfrage : Wie ist der Modus der Kooperation mit dem Klienten und anderen Beteiligten ? Dazu liegt quer die Frage der Geschichte, der Vorgeschichte des Falles, der Biographie.
Die Grenzen zwischen den Dimensionen sind nicht scharf gezogen, es gibt
Überschneidungen, gegenseitigen Einfluss. Aber jeder der Dimensionen sind geeignete Verfahren der Analyse und Diagnose zuordenbar.
Die Entscheidung, was denn nun im Fall zu tun sei, erfordert einen zumin-
dest kurzen Blick auf alle Dimensionen. Damit ist auch schon klar, dass nicht ein einzelnes diagnostisches Verfahren, das immer nur eine der Dimensionen abbilden kann, hinreichend für eine Interventionsentscheidung sein kann. Es kann Richtungen der Intervention, der Bearbeitungsstrategie nahelegen, es wird aber immer eine nachfolgende Einschätzung nötig sein, wie im Kontext der anderen Dimensionen die Strategie aussehen kann. Da kann es schon sein, dass die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung – eine Einschätzung in der Normalitätsdimension – die Fremdunterbringung eines Kindes nahelegen würde, die Analyse des sozialen Netzes – Dimension E – aber andere Vorgehensweisen aussichtsreich erscheinen lässt, zum Beispiel die Unterstützung der besorgten und engagierten Großeltern, die durch ein hinreichendes Maß sozialer Kontrolle und nachgehender Unterstützung das Risiko für das Kind entscheidend minimieren können. Andererseits könnte der Befund, dass die Eltern sich auch noch sozial isoliert haben, eine eingreifende Maßnahme dringlich erscheinen lassen.
Das nur als Beispiel, wie eine Dimension durch eine andere kommentiert
wird. Diese Beispiele könnten unter Einbeziehung weiterer Dimensionen noch lange fortgesetzt werden.
Jedes der vorgestellten diagnostischen Instrumente bildet zumindest As-
pekte einer der Dimensionen ab.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Diagnosetypen Während bestimmte diagnostische Verfahren nur im Kontext bestimmter Interventionsformen sinnvoll anwendbar sind, unterscheiden sich die Outputs der Verfahren auch durch ihre Verwendbarkeit im Kontext der Fallbearbeitung. Ich habe auch hier eine Typologie entwickelt (siehe unten stehende Tabelle).
Die vorgestellten Verfahren werden von mir alle den Typen A bis D zugeord-
net. Diagnosen (also Ergebnisformulierungen) vom Typus D bis F sind in hohem Grade von den Vorgaben der AdressatInnen abhängig. Auf die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Schwierigkeiten werde ich noch kurz im Kapitel 8 eingehen. Typ
AdressatIn
Anforderungen
Stellung im Prozess
Anmerkungen
A
KlientIn (Eigendiagnose)
B
KlientIn
Einfachheit ; kommunikative Partizipation oder SelbsttäEinbettung tigkeit ermöglichend ; Alltagskompatibilität ; Optionen eröffnend
B/C
KlientIn und SozialarbeiterIn
Erfüllt sowohl Anforderungen von B als auch von C
Gebrauch sowohl im Prozess als auch außerhalb möglich
C
SozialarbeiterIn + Fachteam
Distanzgewinnung ; Einbezug des Prozesses ; bildgebend, heuristisch, Überblick herstellend.
außerhalb, dient der Reflexion
Rückübersetzung in Sprache des Klienten nicht unbedingt erforderlich ; unverändert im mehrprofessionellen Team einsetzbar.
D
LeistungserbringerInnen
Erklärend ; angepasst an formelle + informelle Kriterien der Leistungserbringer ; Rechtskompatibilität ; Anschlussentscheidung ermöglichend
möglichst gemeinsames Produkt aus KSI
ev. auch bewusste Zensur ; Datenschutz!
E
Important Others
nicht-stigmatisierende Benennung des Problems ; Rollenzuweisung ; Alltagskompatibilität
möglichst gemeinsames Produkt aus KSI
F
eigene Organisation
angepasst an deren formelle + informelle Kriterien ; formale Kompatibilität.
strukturierend
Grafik 14 : Diagnosetypen
Vorausgesetzt und parallel
Datenschutz!
Sichtdiagnosen
Zum Umgang mit diagnostischen Verfahren Die faktische (aber keineswegs wünschenswerte) Dominanz der Dokumentation gegenüber der Diagnose in vielen Praxisfeldern der Sozialarbeit erschwert den Einsatz diagnostischer Instrumente, da KollegInnen dazu neigen, die diagnostischen Instrumente in ähnlicher Form zu handhaben. Bei der Dokumentation besteht, je ausgefeilter sie ist und je mehr sie den Fachkräften auch strukturierte Einschätzungen abfordert, die entscheidende Leistung der Fachkräfte darin, die Fallsituation in die vorgegebene Form der Dokumentation zu pressen. Ist ein Formular einmal ausgefüllt, ist die Arbeit erledigt.
Diagnostische Instrumente erfordern, soll ihr Potenzial genutzt werden, eine
andere Herangehensweise : Das Auffüllen des Rasters eines diagnostischen Verfahrens ist zwar ein wichtiger, aber noch keineswegs der entscheidende Schritt. Der liegt in der Interpretation des mithilfe des Rasters gewonnenen Fallbildes. Die Netzwerkkarte, das ausgefüllte Inklusions-Chart, ist noch nicht die Diagnose, sondern erst das strukturierte Rohmaterial, das eine Diagnose ermöglicht.
Der entscheidende Schritt der Interpretation muss erst erlernt werden, der
Umgang mit diagnostischen Instrumenten bedarf der Übung und erschöpft sich nicht im routinierten Ausfüllen diagnostischer Raster. Mit der Verbreitung von Formularen ist es also nicht getan. Eine Kultur der Interpretation (und der Diskussion über mögliche Interpretationen) wäre zu entwickeln, um sozialarbeiterischer Diagnose einen adäquaten Platz in der Praxis und im mehrprofessionellen fallbezogenen Diskurs zu sichern.
7.1 Sichtdiagnosen Sichtdiagnosen sind die elementarste Form der Diagnose. Jede Face-to-face-Situation, also auch jede alltägliche Begegnung, erfordert die Einschätzung der mir begegnenden Person, um mein Verhalten auf sie abstimmen zu können.
Die Einschätzung erfolgt mit der Hilfe von Typisierungen, und sie erfolgt im All-
tag weitgehend automatisch. Dies gilt auch für weitere visuelle Informationen, z.B. bei Hausbesuchen, bei der Beobachtung von Personen in sozialen Settings etc.
Vor allem BerufsanfängerInnen in der Sozialarbeit haben immer wieder
Hemmungen, diese Typisierungen auch zu explizieren. Sie sehen Typisierungen als Widerspruch zu der nötigen Offenheit, die sie KlientInnen entgegenbringen
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
wollen (und methodisch auch müssen). Diese Scheu erschwert einen bewussten und reflexiven Umgang mit den primären Informationen, die bei der Begegnung mit einer Person aufgenommen und verarbeitet werden.
Ich plädiere daher für ein einfaches, standardisiertes Schema, wie die visuell
aufgenommenen Informationen strukturiert und dargestellt, damit auch interpretierbar gemacht werden.
Visuelle Ersteinschätzung Unter Ersteinschätzung verstehe ich die bewusste visuelle Wahrnehmung der Person am Beginn einer Face-to-face-Sequenz, also einer Beratungssitzung, Besprechung o.Ä. sowie die Umsetzung dieser Wahrnehmung in eine kurze Beschreibung.
Der erste visuelle Eindruck liefert bereits eine Fülle von Informationen und
zwar 1. über die Person, 2. über die soziale Wirkung der Person.
ad 1. : • Geschlecht • ungefähres Alter • Hautfarbe (bzw. wie die mit multiethnischen Verhältnissen etwas unbefangener umgehenden amerikanischen KollegInnen sagen : Race) • Körpergröße, ev. Auffälligkeiten • körperliche Verfassung o Z.B. untergewichtig/normalgewichtig/leicht übergewichtig/übergewichtig
o Z.B. sportlich/normal/deutlich verminderte Leistungsfähigkeit
• Mimik
• körperliche Selbstdarbietung o Z.B. selbstbewusst, verhalten/ängstlich
• Stimmung
o Z.B. wirkt hektisch ; wirkt deprimiert etc.
• Pflegezustand
o Z.B. sehr gepflegte Erscheinung ; wirkt vernachlässigt
Sichtdiagnosen
• Selbststilisierung (Kleidung, Schmuck, Make-up etc.)
ad 2. : Welchen ersten Eindruck erweckt eine Person dieses Aussehens in verschiedenen sozialen Settings bzw. welche Typisierungen wären in welchen Settings wahrscheinlich ?
In der Regel wird der Ersteindruck, abgesehen von einigen Invarianten (Ge-
schlecht etc.), durch den Klang der Stimme, durch die Ausdrucksfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, die gesprächsbezogene soziale Intelligenz und die Sprechkultur sowie die Mimik der Person präzisiert und modifiziert.
Eine erste provisorische Verortung der Person erfolgt durch die visuelle Erst-
einschätzung. Das Gesehene lässt aber i.d.R. noch viele Interpretationen offen (so kann zum Beispiel offensichtliches Untergewicht auf eine Essstörung, auf eine schwere Erkrankung, aber auch auf Unterversorgung mit Nahrungsmitteln verweisen).
Allerdings ist die Sichtdiagnose nicht dazu geeignet, vermeintliche „verbor-
gene“ Eigenschaften der Person festzustellen. Was unter „Menschenkenntnis“ verstanden wird, d.h. das Schließen auf Charaktereigenschaften aus Körperhaltung und Mimik, ist seriös nicht möglich (vgl. dazu auch Knill 2003). Die Sichtdiagnose fasst das offen Sichtbare zusammen. Sie ist ein Festhalten der sichtbaren Oberfläche, nicht ein Wühlen nach dem Verborgenen.
Menschen ist i.d.R. bewusst, dass sie mit ihrer körperlichen Präsenz eine Fülle
von Informationen über sich preisgeben. Sie rechnen damit, dass sie aufgrund ihres Aussehens taxiert werden. Ein solches Taxieren ist nicht per se respektlos oder unmoralisch, es wird es erst, wenn aufgrund der Taxierung der Person im Anschluss der → Respekt verweigert wird.
Die Sichtdiagnose kann in einigen Sätzen oder einem Satz zusammengefasst
werden und bildet in Ergänzung zu anderen Informationen über den Fall einen Grundstock für eine plastische Falldarstellung im Team oder in einem Gutachten.
Entlang dem von mir oben vorgeschlagenen Raster könnte eine Zusammen-
fassung so aussehen : Die ca. 30 Jahre alte, auffallend große und schlanke Frau erscheint zum Erstkontakt sorgfältig gekleidet und bringt in großer Ruhe ihr Anliegen vor.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Es ist nicht erforderlich, in der Zusammenfassung auf alle Punkte des Rasters einzugehen, nicht Vollständigkeit der Beschreibung, sondern Vollständigkeit der Beobachtung sind gefragt. In der Zusammenfassung reicht dann eine Kurzcharakteristik, die einen Eindruck davon gibt, wie sich die Person zu präsentieren weiß.
Diese Zusammenfassung kann natürlich ggf. auch weniger angepasste Er-
scheinungsformen wiedergeben : Der ca. 40-jährige, mittelgroße Mann wirkt auf den ersten Blick körperlich vernachlässigt und wenig gepflegt, er ist aber frisch rasiert. An seinen Händen sind Ekzeme erkennbar, seine Hände zittern. Er sitzt in zusammengesunkener Haltung. Alkoholgeruch, die Kleidung alt. Visuelle Ersteinschätzung Typus C Gegenstand Erscheinungsbild der Person (Körper + Kleidung) Handhabung Bewusste Wahrnehmung des Erscheinungsbilds der Person, dann Formulierung einer Zusammenfassung – häufig vorerst nur in Notizenform. Eine ausformulierte kurze Zusammenfassung der Sichtdiagnose ist bei einer Fallvorstellung im Team und bei einer Begutachtung jedenfalls zu geben. Wirkungen Die regelmäßige bewusste Anwendung der visuellen Ersteinschätzung verbessert die Fähigkeit der SozialarbeiterInnen, Personen aufmerksam wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen auch zu verbalisieren (damit einer Überprüfung zugänglich zu machen). Bestimmte Aspekte der visuellen Ersteinschätzung können zur späteren → Thematisierung vorgemerkt werden. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Im Normalfall keine. Frühzeitige Thematisierung von Beobachtungen kann allerdings den Prozess beeinträchtigen. Interpretation Das äußere Erscheinungsbild einer Person sagt zuallererst etwas über Inklusionschancen aus. Ggf. können auch bestimmte Dress- oder Styling-Codes von Subkulturen sichtbar sein. Ein direkter Schluss auf die Zugehörigkeit der Person zu dieser Subkultur ist jedoch nicht möglich (kommunikative Validierung erforderlich).
Sichtdiagnosen
Einsatzmöglichkeiten der visuellen Ersteinschätzung Einsatz
Situierung im Prozess
Kurzberatung
ja
Startphase
Kurzintervention
ja
Startphase + bei Erstbegegnung mit anderen Fallbeteiligten
Beratung
ja
Startphase
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Startphase + bei Erstbegegnung mit anderen Fallbeteiligten
Hausbesuch Ich beschränke mich in dieser Darstellung weitgehend auf die diagnostischen Aspekte eines Hausbesuchs und werde dessen Stellung in der Beziehungsgestaltung und der Intervention nur streifen.
Hausbesuche sind ein traditionsreiches Instrument der Sozialarbeit : Im Unter-
schied zu anderen Professionen war sie stets auf den Kontakt mit den Lebenswelten der Klientel ausgerichtet. Hausbesuche wurden für unerlässlich gehalten, um die Lebenssituation der KlientInnen realistisch einschätzen zu können.57 Rückläufige Bedeutung hatte das Aufsuchen der KlientInnen in ihrer Wohnung erst durch die stärkere Betonung beraterischer Elemente der Sozialarbeit und die Imitierung gesprächstherapeutischer Settings.
Für Hausbesuche gilt im besonderen Maße, dass bei all ihrer Ergiebigkeit
für die Diagnose doch ihr Interventionscharakter massiv ist. Auf die → Inszenierung muss daher besonders geachtet werden. Beim Hausbesuch treten die Fachkräfte physisch in die private Welt der KlientInnen ein. Im kollektiven Gedächtnis der unteren Klassen sind die autoritär-kontrollierenden Besuche der Fürsorgerinnen tief verankert (vgl. z.B. Wolfgruber 1997). Sie tragen heute noch zu einem dürftigen Image der Sozialarbeit, namentlich der behördlichen, bei. Das ist insofern bedauerlich, als richtig vorbereitete und sorgfältig inszenierte Hausbesuche eine ausgezeichnete Möglichkeit zur Verbesserung der Vertrauensbasis und zur Intensivierung der unterstützenden Beziehung zu den KlientInnen sind. Allerdings bedarf der Eintritt in den Privatbereich der KlientInnen und deren Important Others überlegter Respekterweisungen, damit 57 Man denke an das „Friendly Visiting“ bei Mary Richmond.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
er nicht als entwürdigend, als Ausdruck der Missachtung der Persönlichkeitsrechte empfunden wird.
Man sollte sich dessen bewusst sein, dass der Besuch in der Wohnung von
KlientInnen oder Important Others zuvörderst eine Intervention auf der Ebene der → Mitmenschlichkeit ist. Er berührt basale Aspekte der menschlichen Begegnung : Das Bedürfnis nach Intimsphäre, das Bedürfnis nach der Möglichkeit der Gestaltung des eigenen Bildes, aber auch die Sitte der Gastfreundschaft. Hausbesuche sollten also möglichst so vorbereitet und durchgeführt werden, dass sich die KlientInnen als GastgeberInnen fühlen können. Gelingt das, dann werden sie sich als Menschen respektiert fühlen und die günstigen Auswirkungen auf das → KSI werden bald spürbar sein. KlientInnen als GastgeberInnen : Am deutlichsten wird die Gastrolle im Feld, wenn man von Personen aus dem Fallkontext in ihre Wohnung eingeladen wird. Diese Ausgangssituation garantiert ihnen von vornherein den GastgeberInnenstatus. Die Möglichkeiten einer vorausschauenden Inszenierung sind für sie am größten (Wohnung vorher putzen und zusammenräumen, Entfernen von Gegenständen, die nicht gesehen werden sollen, Vorbereitung der TeilnehmerInnen auf die → Sitzung). Am anderen Ende der Skala steht der unangekündigte Hausbesuch anlässlich einer Anzeige (zum Beispiel einer Misshandlungsanzeige). Jener bietet den Besuchten die geringsten Möglichkeiten der Inszenierung, schafft allerdings eine radikale Ausnahmesituation durch seinen rigiden Kontroll- und Überraschungscharakter58. Beobachtungsleitfaden Hausbesuch Umfeld (Stadtteil) : • Soziale Charakteristik des topographischen Umfelds (soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft, Zahl und Qualität der Geschäfte und der Lokale, Treffpunkte, Lärm, Erholungsmöglichkeiten etc.) Haus • Miets-, Genossenschafts-, Eigentumswohnungen 58 Zur besonderen Situation beginnender Pflichtklientschaft und zu den zu erwartenden Reaktionen der Klientel auf den Autonomieverlust S. Hesser 2000.
Sichtdiagnosen
• soziale Zusammensetzung der Bewohnerschaft • Alter des Hauses • Zustand (baulicher Zustand, Sauberkeit, intakte Infrastruktur ?) Wohnung – Qualität „objektiv“ • Wohnungsgröße, Zahl und Größe der Zimmer und der Nebenräume bzw. eines allfälligen Gartens und von Nebengebäuden. • Helligkeit, Trockenheit • Ausstattung mit Böden, Heizung, Strom- und Gasanschlüssen, Qualität der Fenster, Wärme- und Schallisolierung Wohnung – Qualität durch Nutzung • Belegung der Zimmer • Gestaltung und Ausstattung der Wohnung als Ausdruck von finanziellen Möglichkeiten und Geschmack • Vollständigkeit, Stil und Zustand der Möblierung • „Abgewohntheit“ (Beschädigungen an Möbeln, Geräten, Böden, Verputz etc.) • Rückzugsmöglichkeiten für BewohnerInnen • Möglichkeiten der Funktionstrennung (separierte Arbeits- und Schlafplätze) • Behindert Unordnung die Nutzung ? Garnierung • Dekoration (Bilder, Poster, Ziergegenstände etc.) • Erinnerungsstücke • Gebrauchsgegenstände • Tiere Personen im Raum • Wer ist anwesend/wer abwesend und warum ? • Wie ordnen sich die Personen im Raum an, wer nimmt bevorzugte Plätze ein ? • Wer spricht vor allem, wer lässt wen (nicht) ausreden, wer spricht für andere ? • Ist die Kleidung nachlässig oder haben sich die BewohnerInnen aus Respekt vor dem Besuch „schön gemacht“ ?
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
• Laufen während des Gesprächs Fernsehapparat, Radio etc. ? • Gibt es andere Störungen ? • Wird häufig auf andere (nicht anwesende Personen) Bezug genommen ? Auf welche ? Sachlicher (Problem-)Zusammenhang oder deren Wichtigkeit für diese Wohnsituation ? • Kommunikationsstil zwischen den BewohnerInnen (laut/leise, Anordnungen oder Bitten etc.) • etc. Bei Hausbesuchen ergeben sich durch die reichen visuellen Informationen zahlreiche Anknüpfungspunkte für Gesprächsthemen. In der Startphase des Besuchs (ich gehe hier von angekündigten Besuchen aus) empfiehlt sich, ausführlich → Respekt vor den GastgeberInnen zu zeigen und sich für ihre Wohnung zu interessieren. In der Regel wird dieses Interesse als Interesse an der Person und ihrem Leben verstanden und insofern erleichtert zur Kenntnis genommen, als es das ohnehin offensichtliche Schauen des Besuchs thematisiert, nachvollziehbar und bearbeitbar macht. Die Nicht-Thematisierung schafft hingegen einen Tabubereich, der sowohl das Gesprächsklima überschattet als auch den diagnostischen Ertrag deutlich reduziert. Eine häufige Eröffnung durch die GastgeberInnen, die den Versuch einer Thematisierung des Eindrucks der BesucherInnen von der Wohnung darstellt, ist ein Satz wie „Sie müssen die Unordnung entschuldigen, ich bin gar nicht zum Zusammenräumen gekommen!“. Dieser Satz kann (außer die Wohnung ist tatsächlich stark verwahrlost) mit Anerkennung beantwortet werden : „Sie haben es aber gemütlich hier“ oder „Ich wäre froh, wenn es bei mir immer so aufgeräumt wäre“ (Letzteres eine Reaktion auf mitmenschlicher Ebene). Im Anschluss daran kann man Interesse für Details zeigen, zum Beispiel für ein prominent platziertes Familienfoto oder ähnliche markante Accessoires. In der Folge können Fragen zur Wohnung gestellt werden : • Wohnen Sie gerne hier ? • Wie lange sind Sie schon hier ? • Sind Sie zufrieden mit der Wohnung ? • Sind Sie zufrieden mit der Wohngegend ? • Haben Sie hier in der Nähe auch Freunde, Verwandte ?
Sichtdiagnosen
In das Gespräch sollten Anerkennungen eingestreut werden, z.B. für nette Accessoires, die Mühe, das alles sauber zu halten, oder auch für die Leistung, eine so kleine Wohnung so geschickt zu nutzen.
Den BewohnerInnen sollte Gelegenheit gegeben werden, ihre Gastgeberrolle
wahrzunehmen : Ein Getränk anzubieten, ev. durch die Wohnung zu führen, die Wohnung und deren Accessoires zu erklären und die eine oder andere Geschichte dazu zu erzählen. Erst dann wird – und zwar eingeleitet durch die deutliche Markierung der neuen Gesprächsphase z.B. durch Hinsetzen und eine kleine verbale Überleitung – auf das → Thema des Hausbesuchs eingegangen bzw. auf das derzeit zu bearbeitende Problem. Eine Ausnahme stellen nur überraschende Hausbesuche dar, die einer Erklärung/Begründung bedürfen – in diesem Fall haben die BewohnerInnen das Recht, sofort über den Anlass informiert zu werden, und erst in einer späteren Gesprächsphase kann die Wohnung zum Thema werden.
Die Fülle an Informationen, die ein Hausbesuch erbringt, muss für eine dia-
gnostische Auswertung gewichtet und interpretiert werden. Die meisten dieser Informationen sind unspezifisch, d.h. in keinem engen Zusammenhang mit dem zu bearbeitenden Problem. Es besteht daher die Gefahr, den Fokus der Fallbearbeitung aus den Augen zu verlieren und sich zu umfassend mit der Alltagssituation der KlientInnen zu beschäftigen. Eine wichtige Operation in der Interpretation der gewonnenen Daten ist also deren Befragung auf ihren Zusammenhang mit den aktuell zu bearbeitenden Problemen.
Eine systematische Auswertung der bei einem Hausbesuch (abseits des pro-
blembezogenen Gesprächsinhalts) gewonnenen Daten könnte etwa so strukturiert sein : 1. Rekapitulieren und Formulieren des Eindrucks nach der oben vorgestellten Checkliste. Vor allem Ungeübte sollten dies erzählend gegenüber ZuhörerInnen (KollegInnen) tun. 2. Erstellen einer Kurzzusammenfassung der Eindrücke (einige Sätze). 3. Nun erst „Zusammendenken“ der Eindrücke mit den in der Fallbearbeitung aktuell zu bearbeitenden Problemen : Was bedeutet diese Wohnsituation59 für die Möglichkeiten der KlientInnen, ihre Probleme zu lösen. Welche unterstützenden/hemmenden Faktoren sind erkennbar. Wie „passt“ der Klient in diese Wohnsituation ? 59 Mit „Wohnsituation“ ist hier immer auch die soziale Situation in der Wohnung gemeint.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
4. Auf welche speziellen Aspekte der Wohnsituation wird bei der Beratung zu achten sein ? Die für den Berater deutlichste Auswirkung von Hausbesuchen ist, dass dieser in der Folge mit Bildern versorgt ist, die Problem- und Alltagsbeschreibungen der KlientInnen plastisch machen und lebensweltadäquate Beratung erleichtern.
Eine schriftliche Zusammenfassung könnte folgenden Aufbau haben :
1. Kontext und Empfangssituation a) Anlass b) Vorbereitung (Einladung oder auf Initiative des Sozialarbeiters oder eines Dritten ; vereinbarter Termin ?) c) Anwesende Personen d) Erster Eindruck von der Empfangssituation (vorbereitetes Arrangement ?, aktuelle Tätigkeiten der BewohnerInnen) 2. Beschreibung anhand des Beobachtungsleitfadens 3. problembezogene Analyse Bei zweiten und weiteren Hausbesuchen kann die Thematisierung der Wohnsituation weniger umfangreich sein und ist vor allem auf sichtbare Veränderungen fokussiert. Hausbesuch Typus C Anwendbar bei allen Interventionsprozessformen mit Feldintervention. Gegenstand Struktur und Ausgestaltung des engsten Lebensraums der Ankerperson(en). Problem- und Copingsetting. Handhabung Wenn möglich, sind Hausbesuche mit den Besuchten vorher zu vereinbaren. Überraschende Hausbesuche sind bei akutem Verdacht auf Misshandlung von Kindern indiziert. Kontrollbesuche wegen eines Verdachts entfalten eine andere Dynamik : verständlicher Widerstand der betroffenen Personen gegen Autonomieverlust. Wirkungen Deutliche Veränderung des KlientIn-SozialarbeiterIn-Interaktionssystems. Bei gut vorbereiteten Hausbesuchen Verbesserung von Intensität und Tiefe möglich, Themenausweitung. Hausbesuche mit dem Charakter einer kontrollierenden Verletzung der Privatsphäre muss Autonomieverlust der KlientInnen erst bearbeitet werden.
Sichtdiagnosen Anwendungsprobleme/Kontraindikationen s. Wirkungen. Kontraindiziert z.B., wenn im Hs. lebende Personen nicht in Intervention einbezogen werden sollen. Interpretation Kann zum Teil bereits während des Hausbesuchs kommunikativ/kooperativ erfolgen, vor allem durch Unterhaltung mit den BewohnerInnen über ihre Wohnsituation und über Accessoires in der Wohnung. Nachfolgend Interpretation : 1. als Information über Relevanzen und Alltagsstrukturen im Lebensfeld der → Ankerpersonen ; 2. problembezogen als Landschaft, die Problem und Lösungsmöglichkeiten strukturiert.
Einsatzmöglichkeiten des Hausbesuchs Einsatz Kurzberatung Kurzintervention Beratung
Situierung im Prozess
nein ev.
wann erforderlich
nein
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Startphase
ggf.
wann sinnvoll und/oder erforderlich und/oder von Kl. erwünscht
Feldsubstitution
wann sinnvoll und/oder erforderlich und/oder von Kl. erwünscht
Begehungen Begehungen eines Stadtteils oder eines Ortes dienen einer Erkundung der Situation im öffentlichen Raum. Sie sind jedenfalls einer der ersten Schritte, wenn die Arbeit (nicht nur die Gemeinwesenarbeit) in einem Gebiet aufgenommen werden soll.
Wie die anderen sichtdiagnostischen Verfahren liefert auch die Begehung
noch keine definitiven, sondern nur vorläufige Ergebnisse und vermittelt vor allem einen Eindruck vom Kontext und von der „Atmosphäre“, in der sich ein Fallgeschehen im Realleben entfaltet.
Bei der Begehung wird ein Ort oder ein Stadtteil aufmerksam abgeschritten
und besichtigt. Damit erfährt man die Topografie des Geländes, nimmt Stimmungen und Eindrücke auf, lernt, sich „auszukennen“, d.h., man entwickelt im eigenen Kopf eine Landkarte des Ortes. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich sowohl auf die Topografie als auch auf deren Nutzung durch die BewohnerInnen.
Je nach Zielgruppe der Einrichtung, für die SozialarbeiterInnen arbeiten,
werden bei den Begehungen unterschiedliche Perspektiven eingenommen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
MitarbeiterInnen eines Jugendzentrums werden auf anderes achten60 als Fachkräfte eines geriatrischen Zentrums oder einer Außenstelle des Sozialamts. Für verschiedene soziale Gruppen sind unterschiedliche Aspekte eines Stadtteils/ Ortes relevant und unterschiedliche Weisen der Fortbewegung (Auto, rasch oder langsam zu Fuß, öffentliche Verkehrsmittel, Rollstuhl, Fortbewegung mit Kinderwagen, Fahrrad …) ermöglichen andere Wege, Wegzeiten und Wegmühen.
Eine Entscheidung ist vor Beginn der Begehung zu treffen : Soll sie mit einer
Befragung verbunden werden oder will man sich vorerst auf bloßes Sehen und Er-Gehen61 beschränken. • Begehung ohne Befragung : o Man rüstet sich mit einem Notizblock, einem Kugelschreiber und einem Ortsplan aus. Es ist empfehlenswert, die Tour in einem Wohngebiet (z.B.
in einem, wo ein bereits bekannter Klient wohnt) und nicht im Zentrum zu beginnen. So ahmt man von vornherein einen der zahlreichen möglichen Wege nach, die BewohnerInnen nehmen, wenn sie sich zur Erledigung ihrer alltäglichen Geschäfte in den öffentlichen Raum begeben. o Der Weg sollte zuerst von einem Wohnhaus (möglichst einem Wohn-
hausinneren) durch dessen nächste Umgebung (Aktionsraum von Kindern und anderen in ihrer Mobilität eingeschränkten Personen) zu den nächstgelegenen wichtigsten Versorgungseinrichtungen führen (nächster Supermarkt, Arzt, Trafik, nächstgelegenes Lokal etc.).
o Dann sollte das nächstgelegene Zentrum angepeilt werden, ggf. mithilfe von öffentlichen Verkehrsmitteln.
o Eine genaue Erkundung des lokalen Zentrums gibt i.d.R. einen guten er-
sten Überblick über die lokale Situation. Nach dessen Begehung sollte noch ein Ausflug in ein weiteres Wohngebiet angeschlossen werden.
60 Auf www.pantucek.com verfügbar ist ein Beobachtungsleitfaden, wie er für die speziellen Zwecke eines Jugendzentrums gestaltet sein könnte, entnommen habe ich ihn Krisch (2002). 61 Das Gehen ist nicht nur eine Hilfstätigkeit, um Sehen zu können. Beim Gehen erobert sich der Körper aktiv ein Gelände, und zwar mit allen Sinnen und mit sich selbst im engeren Sinne – mit erlebter Müdigkeit und mit neuen Eindrücken auch für das motorische Gedächtnis. Zudem sind es Stimmungen, hervorgerufen durch Erinnerungen (z.T. auch unterhalb der Bewusstseinsschwelle), durch die „Atmosphäre“ eines Geländes zur gegebenen Tageszeit.
Sichtdiagnosen
Man ahmt damit einen der vielen möglichen Heimwege von Bewohne rInnen des Ortes nach. o Während der Begehung kommt es auf die sehr bewusste Aufnahme visueller und akustischer Reize an. Notizen helfen, den Weg und die Eindrü-
cke später zu rekonstruieren. Ein Beobachtungsleitfaden wie die weiter unten vorgestellten können bei der bewussten Wahrnehmung des Geländes helfen. • Begehung mit Befragung : o Der Weg ist gleich, wie oben beschrieben.
o Was sich ändert, ist das eigene Auftreten, der Gestus : kontaktbereite Haltung. Man verlangsamt seinen Schritt, blickt sich suchend um, grüßt Pass-
antInnen. Oft wird man von Einzelnen angesprochen, die Hilfe anbieten. Nach einer kurzen Erklärung, dass man sich hier orientieren wolle, kann dann ein Gespräch über das Gelände, seine Qualitäten, seine BewohnerInnen und BenutzerInnen zustande kommen. o Es lohnt sich, aktiv auf Menschen zuzugehen, die sich im öffentlichen
Raum aufhalten, sie nach einem Weg oder einer Information über die Gegend zu fragen und ein kurzes Gespräch zu führen. Für ein solches Gespräch sind Menschen, die sich langsamer bewegen (es also nicht allzu eilig haben) oder auf einer Bank sitzen, aus dem Fenster schauen etc. am ehesten bereit. Ziel ist, zusätzliche Informationen zu bekommen, ein Mosaik von Informationen aus den verschiedensten Perspektiven. Die Gespräche sollten allerdings nicht zu ausführlich werden, sonst verliert man das eigene Ziel (Erkundung des Stadtteils/Ortes) aus dem Auge.
o Neugier ist bei Begehungen eine gute Leitschnur. Der Eindruck von einem Gelände und seiner Nutzung wird facettenreicher, wenn man sich
bei der Begehung nicht auf Straßen/Gehsteige/Parks beschränkt, sondern auch in halböffentliche Räume vordringt : Stiegenhäuser, Hinterhöfe, Lokale. Im Idealfall sollten die Begehungen mehrmals, zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen Wochentagen stattfinden. Die Eindrücke können je nach Belebtheit sehr stark variieren.
Ein allgemeiner Beobachtungsleitfaden für eine Erstbegehung könnte etwa
so aussehen :
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Beobachtungsleitfaden für eine Stadtteil-/Ortsbegehung Topografie (Struktur des Geländes) • Flach oder hügelig? • Durch Fluss, breite Straßen, größere unbebaute Flächen in Sektoren geteilt ? Wie leicht können diese Hindernisse überwunden werden ? • Weitläufigkeit/Enge • Lockere oder dichte Verbauung/Nutzung ? • Generell eher lange oder eher kurze Wege ? • Gibt es Grünflächen, Parks, Erholungsräume ? Wohnhäuser • Villen/Einfamilienhäuser/sozialer Wohnbau/Mietwohnungen etc. sind wie verteilt ? • Zustand der Häuser außen • Größe der Wohnungen • Zustand der Häuser innen (Saubere Stiegenhäuser und Aufzüge ? Moderne Ausstattung ? Dekoration der Wohnungseingänge ?) • Wann wurden die Gebäude errichtet und wie wurden sie besiedelt ? • Welche Menschen (welche soziale Schicht) wohnt derzeit in den Gebäuden ? Infrastruktur • nächstgelegene Einkaufsmöglichkeiten • Versorgung mit AllgemeinmedizinerInnen und den wichtigsten fachärztlichen Praxen • Kindergärten und Schulen • Kirche/Pfarre • Erschließung durch öffentliche Verkehrsmittel • Erholungs- und Rückzugsräume • Begegnungsräume (Wo können Fußgänger verweilen, ohne etwas konsumieren zu müssen, wo sind sie relativ geschützt ?) Spuren der BewohnerInnen/NutzerInnen • Finden sich im öffentlichen Raum Spuren von Nutzung durch die Bewoh nerInnen (aufgehängte Wäsche, Graffiti, Anschlagzettel von Privaten + Vereinen, Beschädigungen, Gärten, gestaltete Balkons etc.) ? • durch Gebrauch gebahnte Wege (etwa Pfade durch Grünanlagen)
Sichtdiagnosen
• kleine Geschäfte und Lokale, die auf die soziale BewohnerInnenstruktur abgestimmt sind (z.B. ethnische Ökonomie) Soziale Nutzung • Welche und wie viele Menschen findet man im öffentlichen Raum (Alter, Schicht, ethnische Herkunft) ? • Wird der öffentliche Raum schnell oder gemessen durchschritten, Gespräche ? • Wer „besetzt“ zu welchen Tageszeiten den öffentlichen Raum ? Charakteristik der Angebote und Begegnungsorte • Welche Lokale, Vereinstreffpunkte, Freizeiteinrichtungen etc. finden sich im Stadtteil/Ort ? • Welches Publikum spricht jedes einzelne dieser Lokale an ? Wie ist die Stimmung, wie das Kommunikationsklima in diesen Lokalen ? Die Bedeutung des unmittelbaren Wohnumfelds hat für die meisten Menschen in den reichen Ländern Europas abgenommen, da sie durch die weite Verbreitung des Autos vom Angebot der Wohnumgebung unabhängiger geworden sind und durch Kommunikationsmittel wie das Telefon (v.a. das Mobiltelefon) und das Internet soziale Beziehungen auch über Distanzen aufrechterhalten und pflegen können. Soziale Begegnung findet immer mehr in lokalen Zentren (z.B. auch in den neuen „Multiplexen“) statt. Für Personen mit sozialen und körperlichen Handicaps, vor allem für Arme, speziell für Kinder in armen Familien und für arme alte Menschen ist allerdings weiterhin der soziale Nahraum der wichtigste Raum, in dem sich das gesellschaftliche Leben verwirklicht und verwirklichen muss.
Nicht zu vergessen ist, dass die Wohnumgebung, die „Adresse“, auch ein In-
dikator für den sozialen Status einer Person/Familie ist und für die Definition der je eigenen Identität herausragende Bedeutung hat. So ist es häufiger Teil der Selbstdarstellung von Personen, dass sie, angesprochen auf ihren Wohnort, zu diesem auch Stellung beziehen : Ihn loben oder verdammen, sich selbst als überzeugten Bewohner oder als nur vorübergehend oder „irrtümlich“ hier ansässig darstellen.62 62 Bei meiner sozialarbeiterischen Tätigkeit in der Wiener Großfeldsiedlung in den 70er- und 80er-Jahren war auffällig, dass viele Erwachsene feststellten, sie wohnten jetzt hier und es sei auch ganz nett, aber „eigentlich“ seien sie Burgenländer, Ottakringer, Meidlinger etc.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Wegen der angesprochenen gestiegenen Mobilität sind für fallbezogene
Einschätzungen des sozialräumlichen Aktionsfelds von Personen stets auch Informationen heranzuziehen, die im Gespräch gewonnen werden : Wo halten Sie sich in Ihrer Freizeit auf, was ist die persönliche Topografie Ihres Alltags. Begehung Typus C Gegenstand Erkundung der „Landschaft“, in der sich das Alltagsleben entfaltet. Handhabung Erkundung des Geländes allein, zu zweit oder in einer kleinen Gruppe, ev. auch mit einer Person, die mit den Örtlichkeiten gut vertraut ist. Wirkungen Interesse für und Kenntnis vom Stadtteil/Ort, in dem KlientInnen leben, erleichtert die Kommunikation deutlich. Sie gestalten ihre Erzählungen detailreicher und farbiger, wenn sie den Eindruck haben, dass sie von einer der Zuhörerin bekannten Alltagswelt sprechen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Der eigene Eindruck von einem Stadtteil/Ort bleibt bruchstückhaft. Zu anderen (Tages-)Zeiten können Orte anders aussehen, viele Nutzungen bleiben einem bei einer Begehung verborgen. Die Ergebnisse sollten daher nur als vorläufige betrachtet werden und eigene erste Einschätzungen jederzeit für eine Korrektur durch die Berichte der KlientInnen oder anderer Personen aus dem Feld offen gehalten werden. Kontraindikationen sind mir nicht bekannt. Interpretation Bei der Interpretation besteht die Gefahr, eigene (häufig sozial bedingte) Geschmacksurteile in den Vordergrund zu stellen. Auf geschmacksbasierte Wertungen wie „schön“, „hässlich“, „trist“ etc. sollte daher tunlichst verzichtet werden. Im Vordergrund sollten die Beschreibung bzw. das Anlegen einer geistigen Landkarte des Geländes stehen. Aus der Begehung allein kann ohnehin noch kein Interventionsprogramm abgeleitet werden, dazu sind Besprechungen mit den KlientInnen und deren Sicht von Problemen/Chancen/ Möglichkeiten sowie deren Berichte von ihrer Nutzung des Sozialraums erforderlich.
Einsatzmöglichkeiten der Begehung Einsatz
Situierung im Prozess
Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Startphase
Feldsubstitution
ja
bei Bedarf
vor Beginn der Arbeit mit Einzelfällen in einem Ort/Stadtteil, ggf. aber auch bei Erfordernis einzelfallbezogen mit Fokus auf Wohnort d. Kl.
Kurzdiagnosen
7.2 Kurzdiagnosen Kurzdiagnosen stehen am Anfang jedes sozialarbeiterischen Unterstützungsprozesses. Sie dienen der Klärung der Ausgangsposition der Fallbearbeitung und bereiten im Beratungsprozess den Übergang von der Phase der → Exploration zur Phase der → Konstruktion vor. Vorläufige Diagnose auf Basis vorhandener Daten (VD) Die vorläufige Einschätzung einer Fallsituation ist schon vor dem ersten KlientInnenkontakt möglich, wenn Daten vorliegen. Die Differenziertheit dieser vorläufigen Einschätzung hängt natürlich von Umfang und Qualität der vorliegenden Daten ab. Quellen für die vorläufige Diagnose auf Basis vorhandener Daten können sein : • Akten • eigene Aufzeichnungen von Vorgesprächen • Aufzeichnungen von KollegInnen • mündliche oder schriftliche Vorinformationen von überweisenden Einrichtungen Diesen Unterlagen können Informationen entnommen werden : • Fakten (Geburtsdatum, Wohnort, biografische Daten, medizinische und psychologische Diagnosen, involvierte Personen im Umfeld etc.) • Hinweise auf mögliche Problemdefinitionen von fallbeteiligten Personen und Institutionen • Hinweise auf mögliche Fall- und Problemkonstellationen Um sich einerseits bereits vor dem Erstgespräch ein Bild machen zu können, andererseits die nötige Offenheit für die Entwicklung der Dynamik des → KSI und des Unterstützungsprozesses zu gewährleisten, ist eine bewusste und deutliche Unterscheidung zwischen Fakten verschiedener Ebenen erforderlich. In erster Linie ist zwischen harten und weichen Daten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung zielt auf die Sicherheit, mit der man die Daten als zutreffend annehmen kann. Manche Daten können als sicher gelten, weil sie gut belegt sind (z.B. über
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
glaubwürdige Dokumente) oder weil deren Verfälschung unwahrscheinlich ist (i.d.R. gilt das für Daten wie das Geburtsdatum, Familienstand etc. – allerdings auch hier kann es Ausnahmen geben, wo eine Verfälschung von KlientInnen oder auch anwaltlich agierenden Personen angewendet wird, um Zugang zu sonst nicht erhältlichen Leistungen zu bekommen).
In einem ersten Zugriff auf die vorhandenen Unterlagen ist es günstig, die
Grunddaten herauszufiltern (Name, Geburtsdatum, Familienstand, Wohnort, Important Others, Einkommen, bisherige Kontakte zur eigenen Institution oder zu anderen sozialen Unterstützungseinrichtungen etc.). Diese Daten können gleich so aufgezeichnet werden, dass man später leicht und schnell auf sie zugreifen kann. Unsichere oder fehlende Informationen werden mit einem Fragezeichen versehen bzw. durch ein Fragezeichen ersetzt.
In einem zweiten Schritt könnte geprüft werden, welche weiteren mögli-
cherweise relevanten Informationen die zugänglichen Unterlagen enthalten : frühere Fall- und Problembeschreibungen, Einschätzungen etc. Hier ist mit Interesse, aber auch gehöriger Skepsis vorzugehen. Die Einschätzungen von KollegInnen aus dem eigenen oder einem angrenzenden Fach sind i.d.R. als weiche Fakten zu behandeln, die ohne Überprüfung durch eigene Anschauung nicht als selbstverständliche Basis der eigenen Vorgehensweise genommen werden können. Es ist jedenfalls interessant, welche Einschätzungen KollegInnen bisher abgeliefert haben. Sie haben ihre Gründe gehabt, zu genau jenen Beschreibungen, Hypothesen und Schlussfolgerungen zu kommen, die wir nun in den Unterlagen finden. Vor allem ist es sinnvoll, Warnungen zu beachten. Trotzdem gilt mit gewissen Einschränkungen, dass eine Neuaufnahme eines Falles auch neue Chancen bietet und negative Erfahrungen von KollegInnen sich nicht wiederholen müssen : Man kann mit den Erfahrungen der KollegInnen im Rücken etwas abgeklärter an den Fall herangehen ; die Situation der KlientInnen hat sich inzwischen weiterentwickelt, was ebenfalls neue Chancen bedeuten kann ; und möglicherweise kann tatsächlich auch der eigene Kommunikationsstil besser zu dem der KlientInnen passen.
Eine kleine Hilfe für die Einordnung von Daten aus den Unterlagen kann
auch die folgende Tabelle geben. Der Terminus „soziales Faktum“ bezeichnet Fakten, die sozial wirksam sind. Kommunizierte Vorstellungen von der Wirklichkeit sind sozial wirksam, egal, ob diese Vorstellungen die Wirklichkeit angemessen darstellen oder nicht. Für den Fortgang der Ereignisse ist immer wieder wichtiger, wie Personen die Wirklichkeit beschreiben, als die tatsächliche Struk-
Kurzdiagnosen
tur der Realität.63 Gutachten, Meinungen von fallbeteiligten Personen etc. sind daher als soziale Fakten anzuerkennen, unabhängig davon, ob sie die Situation adäquat darstellen oder nicht. Tabelle : Faktentypen Faktum (gibt Information über die Struktur der Wirklichkeit) Grunddaten
Soziales Faktum (gibt Information darüber, wie beteiligte Personen über die Situation sprechen)
X
Berichte, Erzählungen
X
medizinische + psychologische Diagnosen
X
Grafik 15 : Faktentypen
Bei der VD empfiehlt es sich, folgende Reihenfolge einzuhalten : 1. Sichtung der Unterlagen nach Grunddaten und deren Ordnung ev. anhand eines → Notationssystems (z.B. Erstellung einer Personalliste oder einer vorläufigen Netzwerkkarte) 2. Auflistung der im Feld vorhandenen Problemdefinitionen 3. Sichtung der Unterlagen nach der bisherigen Geschichte der Fallbearbeitung : Welche Erfahrungen haben die Betroffenen bisher mit ihrer Suche nach Unterstützung gemacht ? 4. Sichtung der Unterlagen nach weiterhin wirksamen sozialen Fakten 5. Zusammenstellung von Hypothesen über bzw. Fragen an den Fall, die in der eigenen Performance ggf. zu klären wären. Am Beginn einer Pflichtklientschaft ist die Sichtung der vorhandenen Unterlagen Standard. Aus ihr entwickelt sich das Design der Eröffnungssitzung. Die KlientInnen wissen, dass die SozialarbeiterInnen Vorinformationen über den Fall haben. Es ist daher sinnvoll, dieses Wissen offenzulegen : Es ist → Thema im Dialog mit den KlientInnen und sie haben die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. 63 Um ein besonders unerfreuliches Beispiel heranzuziehen : Nationalistische Legenden dienen immer wieder (zuletzt etwa im ehemaligen Jugoslawien) zur Mobilisierung der Bevölkerung für Kriege. Der Wahrheitsgehalt dieser Legenden ist dabei oft zu vernachlässigen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Aber auch, wenn es sich nicht um Pflichtklientschaft handelt, ist die Offenle-
gung der Vorinformationen der SozialarbeiterInnen indiziert. Im Zuge des Erstgesprächs können die KlientInnen darauf hingewiesen werden, dass man bereits Unterlagen gesehen hat. Der Inhalt sollte kurz skizziert werden. Die KlientInnen haben dadurch Gelegenheit, eine eigene Stellungnahme zu ihren bisherigen Erfahrungen mit professionellen UnterstützerInnen abzugeben. Dadurch werden die durch das Unterlagenstudium gewonnenen Kenntnisse ergänzt und relativiert. Gleichzeitig erleichtert die Thematisierung des Vorwissens durch die SozialarbeiterInnen die Vertrauensbildung. Vorläufige Diagnose auf Basis vorhandener Daten Typus C Gegenstand Analyse der Ausgangsbedingungen für die Fallbearbeitung Handhabung Systematisches Studium der vorgängig zugänglichen Unterlagen über einen Fall. Auf Basis dieses Studiums wird eine eigene Darstellung der Daten erarbeitet und können Hypothesen über und Fragen an den Fall formuliert werden. Im Erstgespräch werden die KlientInnen kurz darüber informiert, dass man bereits ein Vorwissen hat, und werden die wichtigsten Informationen und Eindrücke zusammengefasst. Sie haben die Möglichkeit zu einer Stellungnahme dazu. Wirkungen Bei kontrollierter Anwendung : Verbesserung der Offenheit im Dialog zwischen KlientIn und SozialarbeiterIn. Chance, auf Vorerfahrungen aufzubauen und nicht die gleichen Fehler zu wiederholen. Möglichkeit, den Prozess der Fallbearbeitung zu beschleunigen, da nicht alle Daten neu erhoben werden müssen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Einschränkung der nötigen beraterischen Offenheit durch Vorurteilsbildung. Interpretation Wie bei allen Sicht- und Kurzdiagnosen dient auch die VD vor allem der Generierung von Hypothesen, deren (z.T.) kommunikative oder durch eigene Beobachtung gestützte Validierung erst im Prozess selbst erfolgen kann.
Einsatzmöglichkeiten der vorläufigen Diagnose auf Basis vorhandener Daten (VD) Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
ggf. vor Erstkontakt
Kurzdiagnosen
Presented-Problem-Analyse (PPA) Das präsentierte Problem bzw. die erste Problemdefinition der KlientInnen ist, wie ich bereits ausführlich im Kapitel 3 dargelegt habe, Ausgangspunkt der Fallbearbeitung in der Sozialarbeit. Die sorgfältige Bearbeitung dieses Problems kann über den möglichen Erfolg des Prozesses entscheiden. Unter den Kurzdiagnosen nimmt daher die PPA einen methodisch hervorragenden Platz ein. Sie ist von beraterischer Tätigkeit nicht zu trennen, ist also gleichermaßen ein Interventions- wie ein Diagnose-Instrument. Das hier vorgestellte Instrument ist eine Ausarbeitung, die einerseits auf gängigen sozialarbeiterischen Gesprächstechniken, andererseits auf der Problemlösungsmethodik aus der Entscheidungslehre (einführend dargestellt in Brauchlin/Heene 1995) beruht.
Um mit dem Klienten am Problem arbeiten zu können, muss das Problem
erst in einer geeigneten Formulierung definiert sein : • Der Klient muss als Aktor benannt sein und • es muss eine schwierige Handlungs- oder Entscheidungssituation des Aktors beschrieben sein. Diese Bedingungen liegen nicht immer von Beginn an vor. Die ersten Problemformulierungen haben möglicherweise folgende Form : • Situation S sollte nicht so sein: o „Mein Mann und ich streiten so oft.“ o „Das Kind wird misshandelt.“
o „Die Wohnung ist verwahrlost.“
• X hat ein Problem (oder : X ist ein Problem) o „Mein Bruder äußert Selbstmordgedanken.“ o „Mein Sohn benimmt sich unmöglich.“ o „Mein Mann wird so leicht aggressiv.“
• Machen Sie Y für mich:
o „Können Sie mir eine Wohnung beschaffen ?“ o „Ich brauche einen Therapieplatz.“
o „Bringen Sie meinen Mann zur Vernunft!“ Die erste Variante (Situation S soll so nicht sein) findet sich oft in den initialen Hinweisen, die die Beschäftigung mit einem Fall verlangen oder nahelegen,
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
kommen also vielfach von Dritten, die später nicht selbst KlientInnen sind. In den Beispielen 2 und 3 kann eine Meldung dieser Art Start für eine konfrontativ beginnende Pflichtklientschaft sein.
Die zweite Variante (X hat ein Problem) wird häufig von Personen angewen-
det, die von sich aus Beratung suchen.
Die dritte Variante (Machen Sie Y für mich) benennt anstelle eines Problems
bereits eine Lösung. Der Lösungsvorschlag verweist auf ein zu lösendes Problem, ohne dieses zu benennen.
Ich benenne in der Folge die Varianten 1 und 2, die gewisse Gemeinsam-
keiten aufweisen, PP1, also als eine Sonder- oder unvollständige Form eines Präsentierten Problems. Eröffnungen der Variante 3 bezeichne ich als Präsentierte Lösung (PL).
Die erste Phase der Problembearbeitung bei Eröffnungen in Form der oben
genannten Varianten ist der Unterstützung der KlientInnen bei der Formulierung eines bearbeitbaren Problems gewidmet. Eine so generierte Problemdefinition nenne ich in der Folge PP2.
Mögliche PP2 bei Eröffnungen wie oben beispielhaft dargestellt könnten z.B.
sein : PP1
PL
PP2
„Mein Mann und ich streiten so oft.“
„Ich bin verzweifelt, weil ich diese Streits nicht mehr aushalte.“
„Das Kind wird misshandelt“ (Kindergärtnerin).
„Ich weiß nicht, wie ich das Kind schützen kann“ (Kindergärtnerin) „Ich will die Kontrollbesuche des Jugendamts endlich loswerden.“ (Vater)
„Die Wohnung ist verwahrlost“ (Heimhelferin).
„Ich ekle mich, wenn ich diesen Klienten besuchen muss.“ (Heimhelferin) „Ich kann nicht besser Ordnung halten, brauche aber diese Heimhilfe unbedingt.“ (Klient)
„Mein Bruder äußert Selbstmordgedanken.“
„Ich fühle mich für ihn verantwortlich und will nichts unterlassen, was ihm helfen könnte.“ (Bruder)
„Mein Sohn benimmt sich unmöglich.“
„Ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich genier mich so, wenn ich schon wieder in die Schule vorgeladen bin.“ „Können Sie mir eine Wohnung beschaffen ?“
„Ich muss aus der Wohnung meiner Freundin ausziehen und habe kein Geld.“
„Ich brauche einen Therapieplatz.“
„Ich bin opiatabhängig und habe keine Unterkunft. Das ist mir jetzt schon zu anstrengend.“
„Bringen Sie meinen Mann zur Vernunft.“
„Ich ertrage sein Verhalten nicht länger, will ihn aber nicht verlassen.“
Kurzdiagnosen
Eröffnungen vom Typus PP1 spielen mit der Erwartung, dass die beschriebene Situation von der Zuhörerin automatisch als problematisch eingestuft wird, die Beraterin also selbst Handlungsbedarf sieht. Sie sind manchmal der offensichtliche Versuch, die Last des Problems und seiner Lösung auf die Beraterin abzuwälzen. Die KlientInnen benennen sich selbst nicht als AkteurInnen. Der Aufforderungscharakter macht die Bearbeitung und Umformulierung erforderlich, um die KlientInnen in die Position der AkteurInnen zu setzen. Erst dann sind die Rollen für eine kooperative und im professionellen Kontext notwendigerweise asymmetrische Problembearbeitung richtig verteilt.
Der Weg zu Problemdefinitionen vom Typus PP2 kann kurz, manchmal aber
auch ziemlich lang sein. Am längsten ist er i.d.R. bei konfrontativ begonnenen Pflichtklientschaften.
Grafik 16 : Arbeit an der Problemformulierung
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Einen Sonderfall stellen einfache Informationsanfragen der folgenden Form dar : • Können Sie mir Information X geben ? o „Wie lange darf nach dem Jugendschutzgesetz ein 14-Jähriger Abends unterwegs sein ?“
o „Wo finde ich eine Eheberatungsstelle ?“
o „Darf eine Mutter dem getrennt lebenden Vater den Kontakt zum Kind verweigern ?“
o etc. Hier liegt vorerst überhaupt keine Problemdefinition vor. Anfragen dieser Art sind häufige Eröffnungen in Einrichtungen mit offenem Kundenverkehr. Einer Anfragebeantwortung muss zur Sicherung der Qualität der Information (Passgenauigkeit, Verwendbarkeit, Vermeidung selbstschädigender Verwendung) jedenfalls eine Kontextnachfrage vorangehen, die Ähnlichkeiten mit einer PPA hat. Kontexterkundung bei Informationsanfrage (Vorgehensweise) • Zusage, dass die Information gegeben wird, dass man aber, um sie richtig geben zu können, noch Informationen brauche. • Frage nach dem aktuellen Anlass. • Einschätzung des emotionalen Status der Fragerin (aufgebracht, verzweifelt, erregt, ruhig/sachlich etc.). • Fragen nach der Situation, in deren Kontext diese Information verwendet werden soll : o Frage nach den handelnden Personen.
o Frage nach damit verbundenen Problemen.
• Weitergabe der Information.
• Frage, ob das für die Fragerin nun die Situation ändert. • Ev. Besprechung, wie weitere Vorgehensweise der Fragerin in der von ihr beschriebenen Situation aussehen könnte. • Angebot, dass sich die Person bei weiteren Fragen gerne wieder an die Einrichtung wenden könne, bzw. ggf. Vereinbarung weiterer Beratungstermine. Es kann sich die vorerst einfache Frage nach einer Information als Eröffnung für einen Unterstützungsprozess herausstellen. In diesem Fall ist dann an Problemformulierungen zu arbeiten, wie oben beschrieben. Die diagnostische Leistung bei der
Kurzdiagnosen
Kontexterkundung nach einer Informationsanfrage besteht in der zügigen Erkundung und Einschätzung des situationalen Zusammenhangs.64 Turner (2002 : 217) führt in einem bereits früher zitierten Beispiel den Anruf einer Person an, bei der eine Abklärung über eine mögliche Suizidgefahr im Zuge der Fragebeantwortung erfolgen muss. Neben den verbalen Informationen sind also die Interpretation von Stimme, Sprechduktus, Körpersprache (s. dazu das Kapitel zur visuellen Ersteinschätzung) und das Ansprechen von beobachteten Gefühlskomponenten wichtig. Die Exploration ist dabei so zu gestalten, dass die KlientInnen nicht frühzeitig die Hoffnung aufgeben, die von ihnen gewünschte Information doch noch zu bekommen. Es müssen also Informationsstücke relativ bald weitergegeben werden, allerdings so, dass bei Fortsetzung des Gesprächs die Hoffnung auf mehr besteht.
Spätestens, wenn das Präsentierte Problem in der Version PP2 vorliegt, kann
die PPA erfolgen. Sie umfasst folgende Schritte, die im Gespräch zu vollziehen sind (wobei die Reihenfolge dieser Schritte variieren kann – nach Möglichkeit kann dem Erzählduktus der KlientInnen gefolgt werden) : • Kontexterkundung o Welche Fakten des Lebens der KlientInnen sind mit dem Präsentierten Problem verbunden ?
o Auf welche Lebensbereiche hat es Auswirkungen ?
o Wer ist noch von dem Problem bzw. seinen Auswirkungen oder von möglichen Lösungsversuchen betroffen ?
o Mit welchen Emotionen ist das Problem verbunden ?
o Welche Personen, Sachverhalte, Gesetze etc. spielen für das Problem eine Rolle ?
o Welche Ressourcen stehen für eine mögliche Problemlösung zur Verfügung ?
o Wie stabil/problembeladen ist der Alltag der KlientInnen abgesehen vom PP ?
• Kontexteinschätzung o Auf Basis der Kontexterkundung ist einzuschätzen, welche Rahmenbe64 Diese Einschätzung ist eine anspruchsvolle Herausforderung an die Professionalität der BeraterInnen. Deshalb ist auch die von manchen Organisationen geübte Praxis, ungeschultes Personal für den Erstkontakt mit KlientInnen am Telefon oder an einem Rezeptionsdesk einzusetzen, äußerst bedenklich.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
dingungen hindernd und/oder förderlich für eine Lösung oder Problembewältigung sind und welche bei einer weiteren Bearbeitung des Problems Berücksichtigung finden müssen. • engeres Problemfeld o Das engere Problemfeld sind die mit dem Akutwerden des Problems unmittelbar verbundenen Ereignisse, Personen, Sachverhalte.
• Problemgeschichte o Wann ist das Problem erstmals aufgetreten ?
o Gab es seither Zeiten, zu denen das Problem nicht akut ist ? Wann ? o Hat sich das Problem seit seinem ersten Auftreten verändert ? o Hat sich die Haltung des Kl. zum Problem seither verändert ? • bisherige Lösungsversuche
o Wie hat Kl. bisher versucht, das Problem zu lösen ?
o Welche Erfahrungen gab es mit diesen Lösungsversuchen ? • Anlass der → Thematisierung
o Was war der aktuelle Anlass, dass sich Kl. entschlossen hat, Hilfe zu suchen ? o Was unterscheidet diesen Anlass von früheren ?
Im Zuge der PPA kann sich die Problemdefinition durch die KlientInnen ändern. Informationen über den → Problemkontext sind aber meist weiter brauchbar, müssen nur ev. ergänzt werden.
Die Presented-Problem-Analyse ist ein kooperatives diagnostisches Verfah-
ren, das im Gespräch die Eigendiagnose der KlientInnen präzisiert. So wird eine gute Ausgangsposition für die weitere Fallbearbeitung geschaffen. Presented-Problem-Analyse (PPA) Typus B/C Gegenstand Ersteinschätzung von Reichweite und Kontext des zu bearbeitenden Problems. Handhabung Die PPA strukturiert das Gespräch in der Anfangsphase des → KSI. Notizen sollten während des Gesprächs nur im nötigsten Ausmaß gemacht werden, das Ergebnis wird ggf. nach Ende des Gesprächs in einem Gedächtnisprotokoll festgehalten. Wichtige Teile können im Gespräch von der Sozialarbeiterin zusammengefasst bzw. wiederholt werden, um so den KlientInnen die Möglichkeit zu geben, die Aussagen zu bestätigen oder zu korrigieren (z.B. : „Habe ich Sie richtig verstanden ? Sie meinen also …“ ; „Für Sie ist es also so, dass … ?“ ; oder ähnlich). Der Eindruck einer „peinlichen Befragung“ kann den Ertrag des Gesprächs erheblich reduzieren. Die Techniken zur Gewinnung der Kontextinformationen werden im Gespräch daher am besten variiert : Neben Fragen kommen auch ausgesprochene Vermutungen und erzählstimulierende Formulierungen zum Einsatz.
Notationssysteme Wirkungen Für SozialarbeiterIn : Mit dem formulierten Problem im Mittelpunkt werden die Aktionsbedingungen für den Unterstützungsprozess einer Erstanalyse unterzogen und der Aktionsraum ausgelotet. Dadurch wird der Blick ausgeweitet und es steht ein breiteres Spektrum für die Beratung und Interventionsplanung zur Verfügung. Für KlientIn : Strukturierung der Eigendiagnose. KSI : Herstellung einer gemeinsamen Wissensbasis über das Problem. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Kontraindikation : Pflichtklientschaft erste Phase. Die PPA erfordert eine Kooperation des Klienten, für die noch keine Basis vorhanden ist, wenn die emotionale Empörung über den Autonomieverlust durch die Pflichtklientschaft noch dominiert (vgl. Hesser 2000). Weitere Kontraindikation : Wenn KlientInnen mit einer Serie von Problemdefinitionen eröffnen, ist vorerst über andere Verfahren (z.B. das Problemranking – s. Kapitel 7.8) ein Entscheidungsprozess darüber herbeizuführen, welchem Problem in der Bearbeitung der Vorrang einzuräumen ist. Ohne diese Vorentscheidung produziert die PPA nur Datenmüll. Interpretation Die PPA ist vorrangig ein Verfahren zur Datengewinnung. Erste Interpretationen in Form von Hypothesen können auf Basis je vorhandenen Wissens über allgemeine Problemdynamiken oder über Lösungs- und Hilfsbedingungen erfolgen. Soweit diese Hypothesen für die weitere Bearbeitung oder für die Aktionen der KlientInnen relevant sind, sind sie in die Kommunikation mit dem Klienten einzuspielen. Manche Hypothesen bedürfen der kommunikativen Validierung (sollten also dem Klienten vorgelegt und seine Stellungnahme dazu eingeholt werden).
Einsatzmöglichkeiten der Presented-Problem-Analyse (PPA) Einsatz
Situierung im Prozess
Kurzberatung
ja
Startphase
Kurzintervention
ja
Startphase
Beratung
ja
Startphase + wenn Kl. neues Problem präsentiert
Alltagsrekonstruktion
ja
Startphase + wenn Kl. neues Problem präsentiert
Begleitung
ggf.
wenn KlientIn Problem präsentiert
Feldsubstitution
ggf.
wenn KlientIn Problem präsentiert
7.3 Notationssysteme Die in diesem Block vorgestellten diagnostischen Verfahren werden von mir als Notationssysteme bezeichnet, weil sie vorerst nicht viel anderes tun, als fallbezogene Informationen auf strukturierte Art zusammenzustellen und einer Bewertung zugänglich zu machen. Im Beratungsprozess gehören sie in die Phase der Konstruktion, also der Entwicklung eines (möglichst gemeinsamen) Bildes von
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
der Situation der KlientInnen. Diagnostische Kategorien werden vorerst noch nicht hinzugefügt. Notationssysteme sind diagnostisch bedeutsam, weil sie über ihre Grammatik das systematische Sammeln bestimmter Daten anleiten, während andere Daten gezielt ausgeblendet werden. Sie ermöglichen hiermit ein Fokussieren der Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte, sozusagen auf „Layers“ der situationalen Komplexität. Das „Übereinanderlegen“ mehrerer Notationen bringt stufenweise eine reichere Abbildung. Notationen haben die Form von Listen oder Grafiken. Ihre Struktur will mit Informationen aufgefüllt werden, ihre Leerstellen verweisen auf bisher Ausgeblendetes. Ihre mögliche Interpretation ist keineswegs beliebig, aber doch verhältnismäßig offen. Diagnostisch wirksam sind Notationssysteme dadurch, dass sie ein Bild der Situation zeichnen (im übertragenen und/oder im buchstäblichen Sinne), anhand dessen mögliche → Ziele und Lösungswege gesucht und diskutiert werden können.
Die Notationssysteme generieren Modelle. „Modelle sind … ein Abbild eines
Originals, im Wesentlichen der Wirklichkeit. Diese ist im praktischen Leben vielschichtig und kompliziert. Im Gegensatz dazu soll das von einem Entscheidungssubjekt verwendete Modell möglichst einfach, aber problemadäquat, in sich selbst konsistent und benutzerfreundlich sein“ (Brauchlin/Heene 1995 : 127). Die in der Folge vorgestellten Instrumente erfüllen diese Forderungen im Großen und Ganzen. Wie die meisten sozialarbeiterischen Diagnoseinstrumente können sie sowohl der Problementdeckung als auch der Generierung von möglichen Lösungswegen dienen. Personalliste Die Personalliste ist eine von mir entwickelte Notation65, die den sozialarbeiterischen Fall als Geschehen zwischen einer bestimmten Zahl von teils wiederum in fallrelevante soziale Systeme eingebundenen, personellen AkteurInnen auffasst. Es kartografiert den → Fallraum und den → Interventionsraum (Letzteren als Teilbereich des Fallraums). Die Einfachheit des Verfahrens macht es praktikabel und im professionellen Alltag gut einsetzbar.
65 Ich entwickelte diese Tabelle bei einer Studie über die Arbeit einer Kriseneinrichtung (Pantucek 2001c). Vorerst erwies sie sich als adäquates Instrument für Fallstudien. In der Folge testete ich sie mit Erfolg in der Lehre und Fortbildung. Auf diese Erfahrungen baut die Beschreibung und Explizierung der Leistungen dieses Instruments auf.
Notationssysteme
Hier zuerst ein Beispiel : Personalliste Fall Rudas erstellt am :
Rolle
Institution
Kontakt
Gertrude Kaiser
Alter
Krisenzentrum XY
SozialarbeiterIn
Name
Institution
1
Paul Rudas
13
Klient
Hsh 1
+
2
Jolanda Nemeth
38
Mutter (Heimhelferin)
Hsh 1
+
3
Tamara Nemeth
05
Schwester
Hsh 1
–
4
Tadeusz Szypanski
47
Vater
unbek. Aufenthalt
–
5
Johann Stadler
?
Ex–Stiefvater
Hsh 2
+
6
Frau Keller
~30
Sozialarbeiterin
AJF
+
7
Frau Baric
~25
Sozialarbeiterin
AJF
+
8
Hr. Dr. N.N.
?
Psychiater
Klinik Spiel
–
9
Frau Stettler
?
Beratungslehrerin
Schule
+
10
Frau Bachinger
?
Klassenlehrerin
Schule
+
11
Fr. Gottschlich
?
Integrationslehrerin
Schule
+
12
Fr. Malina
?
Psychologin
Schule
+
13
Sigrid Studer
?
Horterzieherin
Hort
+
14
Fr. Rambousek
?
Psychologin
Kriseneinrichtung
+
Grafik 17 : Personalliste Beispiel 1
Wer wird in die Personalliste aufgenommen ? Alle fallbeteiligten Personen. Wer fallbeteiligt ist, wird durch die zu bearbeitenden Probleme bestimmt. Teil des Falles ist, wer vom Problem bzw. dessen Bearbeitung betroffen ist und/oder auf die Lösung Einfluss nehmen kann.
Hier wird von einem Verständnis des „Falls“ ausgegangen, das sich deutlich
von gängigen Fallbegriffen abhebt. Gängig, das ist die alltagspraktische Ineinssetzung von KlientIn und Fall oder die Verwechslung des Falles mit der Lebenswelt der KlientInnen. Beide Varianten ignorieren, dass „Fall“ ein Begriff der Organisation (oder der Profis) ist, nicht der KlientInnen oder des Lebens.66
66 S. dazu ausfürlicher auch das Kapitel 3.3 in diesem Band.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 18 : Fallraum
In der professionellen Sozialarbeit bildet das Interaktionssystem KlientIn/SozialarbeiterIn den Nukleus der Fallbearbeitung.
Ausfüllhinweise :
Am Anfang der Liste steht der Klient bzw. die Klientin, die → Ankerperson des Falles. Es folgen die Haushaltsangehörigen, Freunde und Verwandte und schließlich diverse institutionelle AkteurInnen. Die Namensspalte personalisiert : Die RollenträgerInnen sind vorerst Individuen, → „BürgerInnen“, → „Mitmenschen“, haben als solche einen Spielraum bei der Interpretation ihrer Rollen und können Entscheidungen tref-
Notationssysteme
fen, die nicht völlig durch ihre Rolle oder ihre institutionelle oder soziale Einbindung determiniert sind. Es ist tunlichst der volle Name einzutragen. Ist er nicht bekannt, wird er durch ein „Herr N.N.“ oder „Frau N.N.“ ersetzt und gegebenenfalls nachgetragen. Die Altersspalte versucht noch einmal auf Körperlichkeit und Geschichtlichkeit hinzuweisen. Entgegen der weit verbreiteten Geringschätzung gegenüber solchen scheinbar banalen und nebensächlichen Basisdaten beharre ich darauf, dass das Lebensalter der beteiligten Personen zu den gehaltreichsten Grundinformationen über einen Fall gehört. Mit dem Lebensalter verbinden sich spezifische Möglichkeiten und Grenzen, verbinden sich soziale Erwartungen der Person und der Umwelt. Angemessene → Respektinszenierungen und das Nähe/Distanz-Management variieren mit dem Alter der beteiligten Personen. In aller Knappheit des Zahlenausdrucks verweist diese Spalte auf Geschichtlichkeit (Biografie), auf mögliche erfahrungsbedingte Hintergründe, auf gegenseitige Erwartungen und auf basale Autoritätsverhältnisse und mögliche Übertragungsmuster. In der Rollenspalte wird einerseits das Verhältnis zur Ankerperson angeführt, ggf. eine weitere wichtige Rolle, wenn sie für ein Verständnis der lebensweltlichen Einbindung oder der Alltagsorganisation wichtig ist. Dies gilt vor allem für berufliche Rollen, die aktive Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften etc. Die Rolle, die den Fallbezug ergibt, steht immer zuerst und wird durch einen Strichpunkt von weiteren Rollen getrennt. Die Institutionenspalte schließlich erfasst das soziale Referenzsystem, innerhalb dessen die Personen agieren. Da sozialarbeiterische Fallbearbeitung auf den Alltag fokussiert, ist das bei Personen in privaten Rollen jedenfalls der Haushalt als geographischer und sozialer Ort der Organisation des Alltagslebens. Spätestens seit der Ablösung klar hierarchischer paternalistischer Haushaltsformen durch nicht-hierarchische Formen des Zusammenlebens (das kann auch bedeuten : Kampf aller gegen alle) hat der Haushalt keinen Namen mehr, wird er nicht mehr nach einem „Haushaltsvorstand“ benannt. Folgerichtig werden die Haushalte hier nur mehr durchnummeriert, wobei dem Haushalt, dem die Ankerperson angehört, jedenfalls die Nummer eins zugeteilt wird. Personen in professionellen Rollen müssen ihre Aktivitäten gegenüber ihrer Organisation/Institution rechtfertigen und agieren i.d.R. in Auseinandersetzung (das kann heißen : völlige Anpassung, flexible Berücksichtigung oder Rebellion) mit deren Normen. Daher wird für sie die Orga-
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
nisation angegeben. Für jede der fallbeteiligten Personen ist jedenfalls ein solches Referenzsystem angebbar, und sei es der Einpersonenhaushalt des von der Familie getrennt lebenden Vaters. Schließlich wird durch Eintragung eines „+“ oder „–“ in der Kontaktspalte festgehalten, ob zwischen FallbearbeiterIn und der Person ein fallbezogener Kontakt stattgefunden hat oder nicht. Damit wird der aktuelle Interventionsraum der Sozialarbeiterin markiert. Jedes Minus verweist auf die Möglichkeit der Kontaktaufnahme und ist letztlich erklärungsbedürftig. Es muss allerdings festgehalten werden, dass die sozialräumliche Bearbeitung des Falls nicht unbedingt heißen muss, mit allen beteiligten Personen Kontakt aufzunehmen. Deren Einbezug kann auch durch andere „MitspielerInnen“ erfolgen. Jedenfalls sind deren Ansprüche, mögliche Reaktionen, Eingriffsmöglichkeiten zu bedenken und mit den Beteiligten zu diskutieren. Der erste gewollte und wichtige Effekt des Erstellens der Personalliste ist, dass sich der Aufmerksamkeitsfokus auf die soziale Einbindung des Problems bzw. des Klienten verschiebt. Somit wird einer kurzschlüssigen Psychologisierung entgegengewirkt. Die Trias von Name, Rolle und Institution verweist darauf, dass die AkteurInnen jeweils sowohl mit ihrer Persönlichkeit (als → Mitmenschen) als auch in Erfüllung einer sozial vordefinierten Rolle dem Klienten bzw. der Klientin gegenüberstehen und dass sie ihre Aktionen in einem institutionellen oder Alltagskontext (Haushalt) rechtfertigen und verantworten müssen.
Ich behaupte, dass die gängigen Notationssysteme in der Sozialarbeit der
Charakteristik sozialarbeiterischer Fallbearbeitung nur wenig entsprechen. Sie haben teils einen psychologistischen, teils einen bürokratischen Bias. Sowohl der eine wie der andere fokussiert auf die Person bzw. den bürokratischen „Fall“. Die fälschliche Identifizierung des Falls mit der → Ankerperson bzw. dem Klienten/der Klientin wird so durch die Dokumentation gestützt.
Adäquate diagnostische Verfahren in der Sozialarbeit benötigen m.E. eine
Basisnotation, die den Fall in seinen Grundkomponenten als sozialarbeiterischen Fall erfasst. Der sozialarbeitstypische Blickwinkel ist jener auf die „Person in der Situation“. Eine Basisdatennotation kann sich also nicht auf den Klienten/die Klientin allein beschränken, sondern muss gleichwertig die Situation mit einbeziehen, eine Situation, die immer schon auch durch das Erscheinen der Sozialarbeiterin und anderer AkteurInnen in ihr mitbestimmt ist. Die Betrachtung der Fallsituation schließt also notwendigerweise das Set von Personen ein, die
Notationssysteme
fallrelevant sind. Wie weit die Grenzen dieses fallrelevanten Personenkreises zu ziehen sind, bestimmt ein anderes fallkonstruierendes Element, nämlich das formulierte Problem bzw. die formulierten Probleme.
Vorerst bleiben wir noch bei der Personalliste, der Liste der „Mitspiele-
rInnen“ im Fall. Sie umreißt das personelle Setting der Fallbearbeitung und macht (Kontaktspalte) den Interventionsraum des Sozialarbeiters sichtbar. Dieser ist selten nur auf das Klient-Sozialarbeiter-Interaktionssystem (KSI) beschränkt. Das methodische Inventar umfasst ja die aktive Beeinflussung der Situation des Klienten durch Interventionen im Feld : Auch soziale Einzelhilfe hatte diese sozialräumliche Orientierung schon von ihren Anfängen an, erst therapeutisierende Verkürzungen beschnitten temporär das Fallbearbeitungsrepertoire mancher PraktikerInnen, die die „tief gehende“ Gesprächsarbeit mit den KlientInnen als die „eigentliche“ und höherwertige Interventionsform betrachteten.
Das in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik häufig verwendete Genogramm
erfüllt durch die Ausblendung nicht-familiärer AkteurInnen die Anforderungen an eine sozialarbeiterische Basisnotation ebenfalls nicht.
Die Personalliste ähnelt der Besetzungsliste eines Theaterstücks – und kann
auch so gelesen werden. Die Rollenspalte verweist auf die Vorformung der jeweiligen Beziehungen zum Klienten/zur Klientin durch Rollenmuster (Erwartungen und Erwartungserwartungen). Die Namensspalte verweist auf die Besetzung mit Personen („SchauspielerInnen“), die in ihrem Agieren durch Situation und Rollen nicht voll determiniert sind, sondern eigene Interpretationen hinzufügen. Erfahrungsgemäß fällt SozialarbeiterInnen, die mit dem Instrument noch nicht vertraut sind, vorerst die Personalisierung institutioneller Rollen schwer. Sie lassen das Namensfeld leer, weil sie die agierende Person nicht namentlich kennen. Es ist wichtig, auf das Einsetzen zumindest eines Namensplatzhalters unter Einschluss der bekannten Informationen (s. im Beispiel „Hr. Dr. N.N.) zu drängen : Institutionen agieren über Personen, die i.d.R. einen Handlungsspielraum haben und damit mögliche AdressatInnen fallbezogener und problemlösender Intervention sein können. Die Personalliste als Notationsinstrument mit ihrer Konzentration auf die handelnden Personen wirkt der Reifizierung von Bedingungen des Problemraumes entgegen und soll den Blick auf deren Beeinflussbarkeit lenken. Dies kann nur gelingen, wenn die Personalisierung konsequent durchgehalten wird. Das gleichzeitige Anführen der Rolle und der Institution (dem sozialen Referenzsystem) ist m.E. hinreichend, um eine einseitig psychologisierende Interpretation zu erschweren.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Bei Testläufen fiel auf, dass manche wichtige „SpielerInnen“ in der Fallbe-
arbeitung übersehen werden. Personen, die von den KlientInnen in der Darstellung beiseitegeschoben werden, werden oft auch von den FallbearbeiterInnen nicht beachtet und nicht in ihre Überlegungen einbezogen. Dies gilt vor allem für bestimmte Verwandte, die nicht mehr im Haushalt wohnen, oft aber auch für massiv involvierte institutionelle Akteure.
Ein Notationssystem wie die Personalliste scheint vorerst noch nicht im en-
geren Sinne diagnostisch zu sein, weil es keine erklärenden oder kategorisierenden Elemente enthält. Als ordnendes und Übersicht herstellendes Verfahren schafft es aber Voraussetzungen für die Interventionsplanung und für diagnostische Einschätzungen. Außerdem sind auf der Basis systematisch ausgewerteter Erfahrung bereits Interpretationen der Fallgrunddaten, wie in der Personalliste angeführt, möglich :
Mögliche Fragestellungen, entlang derer eine Interpretation erfolgen kann :
Wie groß ist die Zahl der involvierten SpielerInnen ? Welche Interessen verfolgen sie ? Wer unterstützt aktiv welche Lösung ? Wer könnte für eine Mitarbeit an welcher Lösung noch gewonnen werden ? Welche Hindernisse müssten dafür beseitigt werden ? Wer könnte welche Ressourcen zur Verfügung stellen ? Welche dieser Ressourcen wären für welche möglichen Lösungen nützlich ? Wer sollte keinesfalls übergangen werden ? Warum ? Wer ist in den Prozess nur wenig einbezogen ? Warum ? Welche Perspektiven würde es eröffnen, diese Person einzubeziehen ? Ist die Verteilung der Kontakte sinnvoll ? Wer ist für welche mögliche Lösung Schlüsselfigur ? etc. Personalliste Typus : B/C Gegenstand Soziales Setting der Problembearbeitung.
Notationssysteme Handhabung Kooperative Diagnostik : Erstellen der Liste gemeinsam mit dem Klienten/der Klientin. Es sollte etwas Zeit zur Verfügung stehen (ca. 20–30 Minuten). Initialsatz : „Ich möchte mir mit Ihnen gerne anschauen, wer an der Sache aller beteiligt oder von ihr betroffen ist. Da sind zuallererst einmal Sie selbst …“ Der Satzteil „an der Sache“ ist bewusst vage gehalten. Man kann auch einfach „wer da aller beteiligt ist“ sagen, „an der Geschichte“. Ich empfehle, hier Termini wie „Problem“ oder „Lösung“ zu vermeiden, sie fokussieren zu sehr und strahlen auf das weitere Gespräch aus. Wird am Beginn vom „Problem“ gesprochen, besteht die Gefahr, dass dann bei jeder Person überlegt wird, wieweit sie zur Konstituierung des Problems beiträgt. Die Personalliste soll aber den Blick auf das (lebensweltlich-soziale) Setting lenken. Die spezifischen Beiträge der Personen werden vorerst bewusst ausgeblendet und in späteren konstruktiv-diagnostischen Schritten in den Blick genommen. Die ersten Personen kann der Berater selbst aufzählen und in einer Liste eintragen, die auch für die Klientin sichtbar auf dem Tisch liegt. In der Folge wird die Liste in einem kooperativen Dialog ergänzt : „Wer spielt da noch mit ?“, „Müsste es da nicht auch noch einen Vater geben ?“, „Haben Sie auch eine Freundin oder einen Bekannten, mit dem sie manches besprechen ?“ Das Instrument kann auch ohne direkte Beteiligung der Klientin angewendet werden, wenn bereits genügend Informationen über den Fall vorliegen. Wirkungen Kooperative Diagnose : Ausführlicher Check des sozialen Umfelds mit der Möglichkeit, angestrebte Veränderungen zu besprechen. ExpertInnendiagnose : Erweiterung der Möglichkeiten strategischer Positionierung bei der Fallbearbeitung. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen keine bekannt Interpretation Eröffnet viele Interpretationsmöglichkeiten. Interpretation daher möglichst kommunikativ mit KlientIn (bei kooperativer Form) und/oder in Team oder Intervision.
Einsatzmöglichkeiten der Personalliste Einsatz
Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
frühestens nach Abschluss der Startphase, wenn sich der Fall schon „entfaltet“ hat
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
„Crossings“ Ein Notationssystem für Beziehungsbiografien.
waagrechte Linien: weibliche Personen der Elterngeneration Zeitablauf: von links nach rechts (->)
senkrechte Linien: männliche Personen der Elterngeneration Zeitablauf: von unten nach oben ( )
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Kreise: Mädchen; Quadrate: Burschen; Alter eingeschrieben.
kreuzende Linie: Lebensgemeinschaft Kreuzung mit 3/4-Kreis: Ehe Schrägstrich: getrennt bzw. geschieden strichlierte Linie: Partner ohne Lebensgemeinschaft
die Kreise/Quadrate für die Kinder werden nach dem Kreuzungspunkt eingetragen: nach Trennung bei Mutter verbleibend, nahe ihrer Linie. nach Trennung bei Vater verbleibend, nahe seiner Linie. Der Pfeil bezeichnet die Person, um das es in der Beratung geht.
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Grafik 19 : Crossings
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Notationssysteme
Crossings Wie das Genogramm nimmt diese Notationsform familiäre und Abstammungsbeziehungen in den Blick. Ihre Darstellungsweise ist etwas weniger geläufig als die des Genogramms und es sind in ihr nur zwei Generationen leicht darstellbar. Einige Vorteile machen diese Nachteile aber wett. Ich habe diese Notation bei den Wiener JugendamtspsychologInnen 1975 kennen gelernt, habe aber keine schriftlichen Unterlagen darüber und musste sie aus dem Gedächtnis rekonstruieren. Ich habe sie neu benannt (weil mir ihre ursprüngliche Bezeichnung nicht bekannt ist) und benutze sie seit Jahren als rascheste und platzsparendste Form, familiäre Beziehungen zu notieren.
Hier : Frau X hat eine 14-jährige, uneheliche Tochter, die bei ihrem Vater lebt.
Aus geschiedener Ehe 2 Kinder (eine Tochter, 10, und einen Sohn, 8 Jahre), beide bei ihr. Sie hat eine aufrechte Beziehung zu einem verheirateten kinderlosen Mann.
Diese Notationsform ermöglicht nach kurzer Einübungszeit das sehr rasche
und übersichtliche Notieren auch komplizierterer Zweitfamilienkonstruktionen. Einfache Konstellationen sind mit ihr sehr rasch darstellbar. Im Gegensatz zum
Grafik 20 : Crossings Familie B. – „offizielle“ Variante
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Genogramm rückt Crossings die Beziehungsbiografien der aktuellen Elterngeneration in den Vordergrund.
Wie die nun folgenden Notationsbeispiele zeigen, kann in gewissen Gren-
zen auch eine weitere Generation in die Darstellung einbezogen werden. Den Vorschlag für diese Darstellungsform der dritten Generation verdanke ich einer Sozialarbeits-Studentin, Frau Sonja Walsberger.
Für die Familie B. wurden drei verschiedene Darstellungen entworfen : Die
Wirklichkeit ist mitunter um einiges komplizierter und vieldeutiger, als einfach darstellbar wäre. In diesem Fall divergieren die Darstellungen der Beziehungsbiografien beträchtlich. Die obige erste Variante hält den rechtlich relevanten Sachverhalt fest. Alle Kinder der Frau B stammen demnach aus ihrer – nunmehr geschiedenen – Ehe. Der Mann, in dessen Wohnung sie lebt, ist, wie sie sagt, nicht ihr Lebensgefährte.
Tatsächlich aber, so versichert sie ihrer Sozialarbeiterin, hat ihr Jüngster einen
anderen Vater als den „offiziellen“. Und es gebe seit einiger Zeit ein weiterhin aktuelles Liebesverhältnis zu einem gewissen Herbert. Die folgende Darstellung folgt der Version der Geschichte, die Frau B. ihrem Sohn Oliver erzählt hat :
Grafik 21 : Crossings Familie B. – Darstellung gegenüber den Kindern
Notationssysteme
Hier taucht ein mysteriöser australischer Polizist als angeblicher Vater Olivers auf. Die nachfolgende dritte Darstellung setzt eine Hypothese der Sozialarbeiterin um, die dem Augenschein folgt : Oliver sieht dem Mitbewohner von Frau B. „wie aus dem Gesicht geschnitten“ ähnlich. Ihre Ehe war Frau B. recht überstürzt während ihrer Schwangerschaft eingegangen und einige Hinweise sprechen dafür, dass es nicht der Ehemann war, von dem Frau B. damals schwanger war. Der geschiedene Ehemann hat zwar wieder geheiratet, lebte aber nie mit seiner neuen Ehefrau, die aus einem Nicht-EU-Land stammt, zusammen. Möglicherweise handelt es sich um eine „Staatsbürgerschaftsehe“, für die er Geld kassieren konnte. Lässt man diese Vermutungen in die Grafik einfließen, kommt man zu folgender Darstellung :
Grafik 22 : Crossings Familie B. – Hypothese der Sozialarbeiterin
Die Crossings-Zeichnungen veranschaulichen die Beziehungsgeschichte und die Verwandtschaftsverhältnisse in der Familie. Sie lenken den Blick auf die aktuelle Elterngeneration und auf die Positionierung der Kinder. Im Gegensatz zum Ge-
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
nogramm, das tendenziell die Beziehungen über mehrere Generationen in den Blick nimmt und biografische Abläufe nicht veranschaulichen kann, ist es gerade die Verschränkung von Beziehungsbiografien, die Crossings deutlich in den Vordergrund stellt. M.E. besteht der Vorzug dieses Notationssystems gegenüber dem Genogramm darin, dass es die Personen der Elterngeneration als GestalterInnen der eigenen partnerschaftlichen Beziehungen in den Blick nimmt. Es betont damit den aktiven Anteil dieser Generation an der Gestaltung des eigenen Lebens – und die sich daraus ergebenden Erklärungsnotwendigkeiten gegenüber Kindern und neuen PartnerInnen.
Crossings ist ein Notationssystem im engeren Sinn : Es generiert keine eige-
nen Interpretationsmöglichkeiten, man könnte sagen, es ist relativ theoriefrei. Aber es generiert eine Serie von möglichen Fragen an die KlientInnen als Gestalter ihrer eigenen Biografie. Damit ist es für sozialarbeiterische Zwecke sehr gut geeignet.
Für einen Einsatz als strukturierendes kooperativ-diagnostisches Instrument
wäre noch Entwicklungsarbeit zu leisten, vor allem ein Manual mit Beispielsfragen auszuarbeiten. Vorerst leistet es als Notationssystem gute Dienste. Crossings Typus C Gegenstand Darstellung verschränkter Beziehungsbiografien Handhabung Kann während des Interviews mit dem Klienten oder danach leicht auf einem Notizblock erstellt werden. Besser : Während des Interviews, weil Nachfrage möglich. Wirkungen Keine nennenswerten unmittelbaren Wirkungen im Prozess. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Keine Anwendungsprobleme und Kontraindikationen bekannt. Interpretation Keine Interpretationen, die unmittelbar aus der grafischen Darstellung erwachsen. Ermöglicht aber die Thematisierung der Beziehungsbiografie der fallbeteiligten Personen und eröffnet eine Reihe von Fragen dazu.
Notationssysteme
Einsatzmöglichkeiten der „Crossings“-Notation Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Startphase zur Überblicksgewinnung für BeraterIn
Zweitfamiliennotation Das Genogramm als Notationssystem für familiäre Beziehungen hat vor allem für die Darstellung moderner Zweitfamilienkonstruktionen gravierende Mängel, wie ich bereits oben beschrieben habe. Für deren Aufzeichnung habe ich ein einfaches System entwickelt, das sich praktisch bewährt.
Zweitfamilienkonstruktionen sind dadurch gekennzeichnet, dass mehrere
Haushalte über Kinder miteinander verbunden sind. Die Kinder erfordern eine gewisse Kooperation und Abstimmung zwischen den involvierten Personen in verschiedenen Haushalten, erzwingen den weiteren Kontakt zwischen früheren LiebespartnerInnen. Es entsteht je nachdem, welche der beteiligten Personen frühere Partnerschaften mit Nachwuchs hatten, Ketten von mehreren mitei nander verbundenen Haushalten, was ein alltagspraktisch und emotional herausforderungsreiches Konstrukt entstehen lässt.
Haushalte einer Generation werden auf einer Ebene angeordnet. Die senk-
rechten und waagrechten Linien bezeichnen Haushaltsgrenzen. Personen, die in zwei Haushalten je einen Teil ihrer Zeit verbringen, werden die Haushaltsgrenzen überlappend gezeichnet. Der Grad des Hineinreichens in ein anderes Haushaltsfeld kennzeichnet das zeitliche Ausmaß der Anwesenheit im anderen Haushalt. So werden z.B. Besuchsregelungen bei Kindern veranschaulicht. Mitunter sind es aber auch Erwachsene, die in zwei Haushalten präsent sind (s. dazu im Beispiel 1 die Kinderärztin ganz rechts). Die Kinder eines Paares werden untereinander gezeichnet, wobei jeweils das älteste Kind die größte Entfernung zu den Eltern hat. Oberhalb der waagrechten Linie können noch einzelne relevante Großeltern oder andere Personen vermerkt werden.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Ein Beispiel :
Grafik 23 : Zweitfamiliennotation, Beispiel 1 und Legende
Notationssysteme
Diese grafische Notation ordnet sich nach den aktuellen Haushaltsbesetzungen. Sie ist daher besonders dafür geeignet, die aktuellen (oft unübersichtlichen) Probleme in der Alltagsgestaltung von Zweitfamilien sichtbar und diskutierbar zu machen. Zweitfamilienkonstruktionen (also die Verschränkung mehrerer Haushalte durch Kinder) haben einige Charakteristika, die bei der kooperativen Interpretation als Leitfaden verwendet werden können : • Nicht-Identität von Haushalts- und Familiengrenzen • verschiedene und immer wieder unklare Definition der Familiengrenzen durch jede Person (z.B. : Ist für ein Kind ein Stiefbruder nun ein Bruder oder ein unwillkommener Eindringling ?) • unklare Rollen, die der Flexibilität und der Aushandlung bedürfen (Stiefelternteil/Stiefkind ; Stiefgeschwister ; leiblicher, getrennt lebender Elternteil) • Konflikte auf der Ebene der Elterngeneration, die manchmal trianguliert, also über die Kinder ausgetragen werden : o der liegen gebliebene Partnerkonflikt der nunmehr getrennten früheren Paare
o die Rivalität zwischen jetzigen und früheren PartnerInnen der gleichen Person
• das Bestreben mancher AkteurInnen, dem Zweitfamilienhaushalt die Charakteristik eines „normalen“ Kernfamilienhaushalts zu verleihen, i.d.R. dadurch, dass sie versuchen, die Grenzen zu den Nachbarhaushalten dicht zu machen – in der Beispielgrafik oben versucht das die Heilpädagogin rechts, indem sie dem Vater den Kontakt zu den Kindern verweigert. Hier hat sich die erzählende Person den Wunsch nach einem weiteren Kind nicht mehr mit ihrem langjährigen „Halbzeitpartner“ erfüllen können, sondern fand dafür einen jungen, finanziell gut gestellten Mann, der zwar ein Kind, jedoch keine Liebesbeziehung wollte. Insgesamt ergibt sich daraus eine spannende Konstellation, die nichtsdestotrotz zumindest derzeit zu funktionieren scheint. In diesem Fall wird die Verbindung zwischen den beiden Haushalten (Mitte und rechts) nicht durch Kinder, sondern durch den Mann hergestellt. Auch dadurch entstehen allerdings, wie leicht vorstellbar ist, alltagspraktische und emotionale Abstimmungsprobleme für alle Beteiligten.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Noch ein zweites Beispiel :
Grafik 24 : Zweitfamiliennotation, Beispiel 2
Zweitfamiliennotation Typus B/C Für kooperative Diagnose geeignet. Gegenstand Verschränkung mehrerer Haushalte, wie sie für Zweitfamilienkonstruktionen typisch ist. Handhabung Kann zur Exploration des alltagspraktisch relevanten familiären Umfelds bei KlientInnen in Zweitfamilien leicht herangezogen werden. Die grafische Symbolik ist leicht durchschaubar, die Grafik kann daher unter Beteiligung der KlientInnen hergestellt werden. Wirkungen Fokussiert im Prozess auf die alltagspraktischen und emotionalen Abstimmungsprobleme mit den Nachbarhaushalten. Geeignet, um die Kompliziertheit von Zweitfamilienkonstruktionen zu normalisieren (also als selbstverständliche, unhintergehbare Realität darzustellen, mit der die Beteiligten zurande kommen müssen). Insofern ist das Instrument auch im Beratungsprozess sinnvoll. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Es sind weder Anwendungsprobleme noch Kontraindikationen für die Verwendung im Unterstützungsprozess bekannt. Interpretation Kooperative Interpretation steht im Vordergrund : Anhand der Grafik können die alltagspraktischen und emotionalen Probleme in den Beziehungen zu den anderen an der Zweitfamilienkonstruktion beteiligten Personen näher besprochen und Verbesserungsmöglichkeiten thematisiert werden. Ein Wissen über die allgemeinen Probleme von Zweitfamilien ist allerdings nützlich.
Notationssysteme
Einsatzmöglichkeiten der Zweitfamiliennotation Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Startphase, wenn Zweitfamilienproblematik Thema ist, sonst jederzeit möglich, wenn dieses Thema auftaucht.
Problembeschreibungsraster Mehrere Dokumentationssysteme versuchen die sogenannte Mehrperspektivität abzubilden. Der Diskurscharakter fallbezogener Probleme und die Positionsabhängigkeit der Situationssicht zeigen sich in der Sozialarbeit zuerst und am deutlichsten in den i.d.R. stark divergierenden Problemdefinitionen durch die verschiedenen Fallbeteiligten, denen nicht einfach eine vermeintlich objektive Sicht entgegengesetzt werden kann. Die Problembeschreibungen selbst konstituieren den Bedingungs- und Möglichkeitsraum des Falles, sind also Teile quasi-materieller Realität. Diese verschiedenen Perspektiven vorerst einmal wahrzunehmen und „festzuhalten“ ist für die fachgerechte Bearbeitung des Falles erforderlich.
Konsequenterweise versuchen manche Aufzeichnungssysteme, die verschie-
denen Perspektiven festzuhalten. Ein Beispiel dafür ist das von Hiltrud von Spiegel (Heiner u.a. 1994 : 248) vorgestellte Selektive Situationsanalyse-Raster, das ich hier leicht verändert wiedergebe : Zustandswissen Was ist passiert ? Wer ist beteiligt ?
Situationsdeutung Gibt es ein „Problem“ ? Wer hat welches Problem ?
Erklärungswissen wissenschaftlich/erfahrungs bezogen
„Offizielle“ Sicht (Träger, Verwaltung, Team usw.) Sicht der KlientInnen Eigene fachliche Sicht Weitere Sichtweisen aus dem relevanten Kontext Schlussfolgerungen aus dem Vergleich
Grafik 25 : Selektives Situationsanalyse-Raster nach Hiltrud von Spiegel
Wertewissen Welche Bedürfnisse und Interessen liegen vor ?
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
In Rastern wie diesem werden die verschiedenen Sichtweisen auf die zu bearbeitende Situation eingetragen. Wie bei anderen Rastern auch liegt der Hauptnutzen im Aufforderungscharakter der leeren Felder : Sie zwingen die Fachkraft dazu, sich zu den verschiedenen Perspektiven etwas zu überlegen. Darüber hinaus ist allerdings die Nützlichkeit von Rastern wie diesem eher mit Vorsicht zu beurteilen. Vor allem die Spalten 1 und 3 benötigen, will man sie von den verschiedenen Perspektiven her auffüllen, doch einige Verrenkungen. Die Spaltenüberschriften „Zustandswissen“, „Erklärungswissen“ und „Wertewissen“ folgen zwar einer Einteilung von Silvia Staub-Bernasconi, die Unterscheidung und Benennung scheint mir aber gekünstelt zu sein und nicht sehr nahe an der Logik praxisnaher Reflexion zu liegen.
Zu kritisieren ist am oben dargestellten Raster m.E. auch die überproporti-
onale Darstellung der Sicht von Institution und SozialarbeiterIn und die mangelnde Differenzierung der Sicht der weiteren fallbeteiligten lebensweltlichen Akteure. Der Anforderung an eine mehrperspektivische Sicht des Problems wird damit nur unzureichend Rechnung getragen.
In anderen Ausformungen der Mehrperspektiven-Raster werden die Spalten
zur Darstellung von Dimensionen der Alltagsbewältigung herangezogen (Wohnen, Arbeit etc.), so zum Beispiel in dem in der österreichischen Bewährungshilfe bis 2003 üblichen Raster, das in die Falldokumentation integriert war.
Ich habe versucht, auf Basis solcher Raster ein handhabbares Mehrperspekti-
venraster zu entwickeln, das die beschriebenen Schwächen zu vermeiden sucht. In erster Linie führte das zu einer Ausweitung der Positionen, aus deren Sicht die Probleme zu erfassen sind (Zeilen in der Tabelle). Bei der Spaltenbezeichnung orientierte ich mich an den Elementen des Problems :67 1. der Beschreibung der subjektiv unbefriedigenden Situation (Problemdefinition) 2. der gewünschten Lösung (SOLL) 3. der Energie, die die Person/Organisation bereit ist, in eine Veränderung zu stecken, bzw. der Zentralität des Problems (Engagement) 67 Sh. dazu auch die Ausführungen zur PPA im Kapitel 7.2.
Notationssysteme
Grafik 26 : Mehrperspektivenraster
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Die lebensweltlichen Problemformulierungen sind in diesem Raster als Problemformulierungen anderen Charakters von den ExpertInneneinschätzungen abgehoben. Die Ergebnisse von Verfahren der Sozialen Diagnose fließen in dieses Raster ein. Sie ermöglichen der Sozialarbeiterin, ihre eigene fachlich begründete Sicht der Situation darzustellen und dadurch verhandlungsfähig zu machen.
Erfahrungsgemäß68 bereitet bei den Mehrperspektivenrastern die Formulie-
rung des Problems aus der Sicht der KlientInnen die größten Schwierigkeiten. Das hat damit zu tun, dass viele KlientInnen Probleme so formulieren, wie sie glauben, dass die SozialarbeiterInnen es wünschen ; aber auch damit, dass SozialarbeiterInnen die angebotenen Problemformulierungen von vornherein nach Anschlussfähigkeit an ihre eigenen bzw. an von der Organisation gewünschte Problemdefinitionen selektieren. So wird z.B. die deutliche Äußerung der KlientInnen „ich will mit dem Jugendamt nichts zu tun haben“ nicht als relevante Problemformulierung wahrgenommen.
Eine der Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Mehrperspektivenraster ist,
dass es die Fülle von verschiedensten Sichten deutlich macht und daher auf den ersten Blick die Konzentration auf die Bearbeitung eines Problems erschwert. Es bringt die Vieldeutigkeit einer Situation aufs Papier – und scheint vorerst die handlungsfähig machende Komplexitätsreduktion zu erschweren.
Ein praktischer Ausweg aus diesem Dilemma ist möglich :
Die Problemdefinition des Klienten ist der logische Ausgangspunkt für weitere Aktivitäten. Diese Problemdefinition kann in der Phase der Konstruktion (Beratungsphase, in der auf eine gemeinsame Problemdefinition zur Fallbearbeitung von KlientIn und SozialarbeiterIn hingearbeitet wird) mit den anderen vorhandenen Problemdefinitionen konfrontiert werden, wobei die Leitfrage heißt : „Wie kann Ihr Problem erfolgreich angegangen werden, wenn die anderen das so sehen, wie sie es sehen ?“
Problembeschreibungsraster können sowohl kooperativ verwendet werden,
als auch zur Selbstverständigung der SozialarbeiterInnen oder in Fallbesprechungen im Team oder in interdisziplinären Teams.
68 Ich beziehe mich hier auf meine Erfahrungen in 15 Jahren Front Line Social Work und in ebenso langer Tätigkeit als Supervisor und Seminarleiter für Front Line Social Worker.
Notationssysteme mehrperspektivische Problembeschreibungsraster Typus B/C Gegenstand Problemsichten der fallbeteiligten Personen und Institutionen Handhabung Das Mehrperspektivenraster kann von der Sozialarbeiterin selbst oder gemeinsam mit den KlientInnen gefüllt werden. Möglich ist auch, den oberen Teil (Problemdefinitionen im lebensweltlichen Umfeld) als eigenes Formular den KlientInnen zu übergeben und von ihnen allein (z.B. zwischen zwei → Sitzungen) ausfüllen zu lassen. Die Bearbeitung erfolgt dann mit den KlientInnen unter der Leitfrage : „Wie können Sie Ihr Problem lösen, wenn die anderen es so sehen, wie sie es eben sehen ?“ Besonders indiziert ist die Anwendung des Instruments vor einem beabsichtigten Feldkontakt : Die KlientInnen haben die Möglichkeit, die SozialarbeiterInnen auf die Sichtweisen der Personen ihres lebensweltlichen Umfelds vorzubereiten. Wirkungen Fokussierung des Blicks auf die unterschiedlichen Bewertungen/Interessen im Lebensfeld der KlientInnen. Ermöglicht das Erarbeiten einer nicht-naiven Lösungsstrategie. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Die relevanten Problemdefinitionen sind nicht immer bekannt oder werden abgewehrt, weil sie nicht sozial erwünscht erscheinen. Das Instrument erfordert also möglicherweise einige Anstrengungen, um eine realistische Sicht zu gewinnen. Kontraindikationen sind nicht bekannt. Interpretation Erfolgt am besten kommunikativ – mit dem Klienten oder im Team.
Einsatzmöglichkeiten des Problembeschreibungsrasters Einsatz
Situierung im Prozess
Kurzberatung
ev.
in Phase der Problemkonstruktion
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ggf.
Feldsubstitution
ggf.
vor Feldkontakt
wenn neues Problem zu bearbeiten ist
Ablaufdiagramm Interventionsgeschichte Das Ablaufdiagramm ermöglicht die Aufzeichnung der Interventionsgeschichte. Im Unterschied zu den meisten anderen Beratungsformen sind sozialarbeiterische Beratungsprozesse oft durch den Wechsel von Settings, durch vielfältige
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 27 : Notation Interventionsgeschichte 1
Notationssysteme
Kontakte mit dem sozialen Umfeld, durch außerplanmäßige Kontakte zwischen den vereinbarten → Sitzungen und durch den Wechsel von vereinbarten Kontakten mit Kontakten, die auf einseitige Initiative zustande kommen, gekennzeichnet.
Jedes der Settings, jede Kontaktform, enthält selbst bereits eine relevante
Beziehungsbotschaft und strukturiert den Prozess neu. Wer wann den Kontakt sucht, ob Kontakte in der Institution, auf neutralem Boden oder (wie bei einem Hausbesuch) in der Lebenswelt der KlientInnen stattfinden, hat Einfluss auf die Balancierung von Hilfe/Kontrolle, ist Ausdruck der wechselnden Dynamik des Prozesses.
Der bisherige Verlauf des Prozesses ist für die weitere Interventionsplanung
interessant, z.B. für die Frage, ob nun eher abzuwarten ist oder nachgehende Kontaktaufnahmen gesetzt werden sollen.
Ich stelle Ihnen hier ein Modell für die grafische Darstellung der Interventi-
onsgeschichte vor. Die Inhalte werden in diesem Diagramm nicht dargestellt. Dadurch kann sich der Blick auf die Beziehungsinszenierung selbst konzentrieren.
Planungszeitraum ist der Zeitraum, für den mit dem Klienten bzw. der Klien-
tin Vereinbarungen über die zwischenzeitliche Vorgehensweise getroffen wurden. Das kann sein der Zeitraum bis zur nächsten → Sitzung (Vollform). Dieser
Grafik 28 : Notation Interventionsgeschichte 2
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Zeitraum kann allerdings auch mehrere Sitzungen umfassen, wenn zum Beispiel für zwei Monate regelmäßige Sitzungen vereinbart wurden, oder vereinbart wurde, dass nach zwei Monaten eine Entscheidung über die weitere mittelfristige Vorgangsweise fallen soll. Charakteristischerweise sind solche längere Planungszeiträume für Case Management (z.B. die Assessmentphase) oder bei der Vorbereitung von Entscheidungen über die mögliche Fremdunterbringung von Kindern.
Grafik 29 : Notation Interventionsgeschichte 3
Ich empfehle die konsequente Verwendung einheitlicher und eindeutiger Abkürzungen bei der Kennzeichnung von Rollen/Funktionen :
Alle Familienrollen sollten, ausgehend von der Ankerperson, bezeichnet
werden, die als Referenzpunkt dient. Ankerperson ist jeweils die Person, die dem Fall den Namen gibt bzw. die derzeit im Mittelpunkt des Interesses steht. Normalerweise ist das die Person, die als „KlientIn“ bezeichnet wird. In der Jugendwohlfahrt/Jugendhilfe ist es das Kind.
Notationssysteme Standardabkürzungen für Rollen M
Mutter
V
Vater
stM, stV
Stiefmutter, Stiefvater
stV1, stV2
Indizierung, wenn es mehrere Personen in einer Rolle gibt.
E
Eltern
PE
Pflegeeltern
vGrV, mGrM
Großvater väterlicherseits, Großmutter mütterlicherseits
stvGrE
Eltern des Stiefvaters (Stiefgroßeltern)
Pr
Ehepartner
Pi
Ehepartnerin
LGf
Lebensgefährte
LGfi
Lebensgefährtin
ExPr (u.Ä.)
geschiedener Ehepartner (ev. mit Index bei mehreren Ex-Partnern). Analoge Bildungen bei Ex-Lebensgefährtin etc.
T, S, stT, stS
Tochter, Sohn, Stieftochter, Stiefsohn
Br, Sr
Bruder, Schwester
…
Verwenden Sie auch für charakteristische weitere Rollen Standardabkürzungen. Wenn keine bereits allgemein bekannte und akzeptierte Abkürzung vorliegt, erfinden Sie eine neue und machen Sie zum Diagramm eine Legende bzw. ein Abkürzungsverzeichnis.
Interventionsplanung Zielraster Zielplanung ist bei Unterstützungsprozessen eine anspruchsvolle Aufgabe, da sie einerseits die Planung des professionellen Vorgehens beinhaltet, andererseits realistische → Ziele dialogisch in Abstimmung mit verschiedenen personalen Zielen der Fallbeteiligten, vor allem der KlientInnen, generieren soll. Vor allem letztere Aufgabe fällt allzu oft unter den Tisch. Über die Probleme der Zielplanung s. ausführlich das Kapitel 6.12.
Das hier vorgeschlagene Zielplanungsraster für die Interventionsplanung ist
ein Instrument, um diese Abstimmung vorzubereiten.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Zielplanungsraster
KlientIn, Alter
Präsentiertes Problem bzw. Thema
bearbeitet von
Ziele
Datum
Prozessbezogene Ziele d. SozArb
Situationsbezogene Ziele, formuliert durch SozArb
Situationsbezogene Ziele, formuliert durch KlientIn
kurzfristig
mittelfristig (fakultativ)
langfristig (fakultativ)
Grafik 30 : Zielplanungsraster
Dieses Formblatt dient einer differenzierten Zielplanung, indem es zwischen den verschiedenen Zeithorizonten und den Zieltypen unterscheidet. Wie bereits im Kapitel 6.12 ausgeführt, ist im Rahmen einer flexiblen Zielplanung jedenfalls eine Zielformulierung für den nahen Zeithorizont („kurzfristig“) erforderlich, während je nach der Dynamik und Übersichtlichkeit der Situation mittelfristige und langfristige Zielformulierungen möglich/sinnvoll sind oder vorerst unterbleiben können.
Die drei Spalten beziehen sich auf verschiedene inhaltliche Zielgebiete :
• Prozessbezogene → Ziele der Fachkraft sind jene Ziele, die die Gestaltung der eigenen Performance betreffen. Solche Ziele können z.B. Vertrauensaufbau, die Etablierung regelmäßiger Beratungssitzungen oder die Veränderung der Frequenz, die Ausweitung des → Interventionsraumes, → Thematisierungspläne etc. sein • Situationsbezogene Ziele, formuliert durch die Sozialarbeiterin, sind all jene Ziele, die für eine Stabilisierung oder Verbesserung der Lebenssituation der
Notationssysteme
KlientInnen vom Sozialarbeiter als wünschenswert und erreichbar eingeschätzt werden. • Situationsbezogene Ziele, formuliert durch den Klienten, sind all jene Ziele, die der Klient für sich formuliert. Hier ist besonders darauf zu achten, dass nur jene Ziele angeführt werden, die tatsächlich explizit oder implizit formuliert wurden, nicht jene, die man den KlientInnen unterstellt. Die drei Zeithorizonte : • Kurzfristig sind Ziele, die in den nächsten Tagen oder Wochen angestrebt werden sollen/können. • Mittelfristig sind Ziele, die für die kommenden Monate Gültigkeit haben. • Langfristig sind Ziele, deren Erreichungs-Chance in einer ferneren Zukunft liegt bzw. deren Erreichung nicht direkt angestrebt werden kann, sondern die „nur“ Orientierungsfunktion haben. Letzteres sind Ziele, die nie völlig erreicht werden können, die aber für eine Einschätzung, ob man „auf dem richtigen Weg“ ist, unentbehrlich sind (z.B. personale Autonomie). Das Instrument dient der Vorbereitung der Sozialarbeiterin für eine Besprechung der Ziele mit dem Klienten. Sein Potenzial liegt darin, dass die Differenzierung zwischen prozessbezogenen und lebenssituationsbezogenen professionellen Zielen und den Zielen der KlientInnen explizit vorgenommen werden muss ebenso wie die Zuordnung der Ziele zu den verschiedenen Zeithorizonten. Eine gedankliche Beschäftigung mit den Differenzen zwischen eigenen „professionellen“ Zielen und denen der KlientInnen wird so angeregt. Der Zwang zur Formulierung kurzfristiger Ziele ist hilfreich für eine verbesserte Planung des Unterstützungs- und Beratungsprozesses.
Der Hauptnutzen des Instruments liegt im Prozess der Erstellung, nicht in der
Auswertung oder Interpretation. Das Verfahren ist ein heuristisches Verfahren, also eines, das bei der Erringung von Klarheit und der Suche nach Lösungen hilfreich sein kann. Zielplanungsraster (ZPR) Typus C Gegenstand Kurz-, mittel- und langfristige → Ziele der SozialarbeiterInnen und der KlientInnen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Handhabung Vorbereitung der Zieldiskussion mit den KlientInnen. Der Raster wird zur Selbstverständigung der SozialarbeiterInnen und zur Fokussierung bzw. zur Problematisierung intuitiver Zielvorstellungen genutzt. Einspielen des Ergebnisses in die Beratungssitzung kann für die Zieldiskussion mit dem Klienten nützlich sein. Wirkungen Klärung der Zieloptionen. Wenn das Ergebnis in die Zielverhandlung mit den KlientInnen eingespielt wird (BeraterIn legt die Überlegungen vor und diskutiert sie mit KlientIn), kann das Instrument Basis für kooperative Vorgehensweisen sein und gibt den KlientInnen die Möglichkeit, Korrekturen anzubringen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen In der Anwendung/Erprobung zeigten sich Probleme mancher SozialarbeiterInnen, zwischen den Zieltypen zu unterscheiden. Am häufigsten zeigte sich die Neigung, KlientInnen Ziele zu unterstellen, bzw. eine Unkenntnis über die Ziele der KlientInnen. Interpretation Das Instrument bedarf keiner Interpretation. Seine Ergebnisse fließen nach diskursiver Abklärung mit den KlientInnen in die kooperative Zielplanung ein.
Einsatzmöglichkeiten des Zielplanungsrasters (ZPR) Einsatz Kurzberatung
Situierung im Prozess
nein
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Einsatz immer dann, wenn Zielplanung oder Zielvereinbarungen erforderlich sind.
7.4 Netzwerkdiagnostik Wenn Soziale Arbeit, worüber weitgehend Einigkeit bestehen dürfte, die Einbindung der Menschen in das Soziale und in die Gesellschaft bearbeitet, dann ist die Erkundung und Einschätzung des Status dieser Einbindung zu den zentralen Aufgaben von Diagnostik zu rechnen. Auf der im Kapitel 7.0 vorgestellten Systematik der diagnostischen Dimensionen ist dafür die Spalte „Einbindung in das Soziale“ vorgesehen. Es sind zwei verschiedene Arten dieser Einbindung interessant. Zuerst die als Netzwerke darstellbaren sozusagen „horizontalen“ Beziehungen zu anderen Personen, die auf Gabe und Gegengabe, also auf sozialem Austausch zwischen Personen beruhen. Dieser Austausch wird durch Rol-
Netzwerkdiagnostik
lenerwartungen strukturiert, z.B. über verwandtschaftliche, nachbarschaftliche, freundschaftliche, kollegiale Rollen. Ein Aspekt des Sozialen Austauschs ist das Potenzial an möglicher (lebensweltlicher) Unterstützung. Die Netzwerke sind lebensweltliche Netzwerke. Diese Person-Person-Beziehungen werden mit der Netzwerkdiagnostik erfasst. Die zweite Variante gesellschaftlicher Einbindung ist jene der Inklusion, der Möglichkeit, gesellschaftliche Funktionssysteme zu nutzen. Diese „vertikale“ Einbindung beruht nicht auf persönlichen Beziehungen und Austauschverhältnissen, sondern auf der Funktionsfähigkeit der „sozialen Adresse“69, sie wird auf der Achse 1 des Inklusions-Chart eingeschätzt, das ich im Kapitel 7.6 vorstelle. Für die Aufzeichnung (oft im wörtlichen Sinne) der lebensweltlichen Netzwerke sind eine Fülle von Verfahren im Umlauf, mehr oder weniger gut als diagnostische Instrumente ausgestaltet, also mit Regeln der Gestaltung und der Interpretation versehen, mehr oder weniger theoretisch und empirisch fundiert. Schon unter den Bezeichnungen „Netzwerkkarte“ (z.B. Bundesmodellprojekt Hilfeplanung: o.J.) und „Ecomap“ finden sich recht unterschiedliche Verfahren. Dazu kommen noch zahlreiche andere bzw. Abwandlungen, wie z.B. das „soziale Atom“ (Moreno), die VIP-Karte (Herwig-Lempp: 2007), Network-Diagrams (Hill: 2002), das P3S (Personal Social Support Survey; Pearson: 1997). Ich stelle 2 Varianten vor, die m.E. durch ihre gute theoretische Fundierung (die hier nicht ausführlich gewürdigt werden kann) und durch ihre Aussagekraft über den Beratungskontext hinaus hervorstechen. Beiden ist gemeinsam, dass sie sich nicht auf die engeren Beziehungen (jene, die ohnehin im Blickfeld der Klientin sind) beschränken, sondern auch Raum für die Kartografierung und 69 Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass bei lebensweltlichen Netzwerken die Metapher der Adresse nicht verwendet werden könnte. Sie ist auch dort zur Beschreibung bestimmter Logiken der Kommunikation hilfreich. Wesentlich bei der Inklusion in Funktionssysteme ist aber, dass diese in modernen Gesellschaften eben nicht mehr primär auf persönlichen Abhängigkeiten (z.B. von einem „Patron“) beruhen, sondern auf objektivierten Zugangskriterien, die den Eigenlogiken der Funktionssysteme folgen. Insofern sind die Funktionssysteme „anonym“. Wie Bourdieu dargestellt hat, sind aber weiterhin persönliche Beziehungen („soziales Kapital“) für den Zugang zu Status und gesellschaftlichen Leistungen und Inklusion nützlich. Eine völlige Trennung zwischen der „horizontalen“ Einbindung über lebensweltliche Netzwerke und der „vertikalen“ via Zugangs- und Bezugsberechtigungen gibt es also nicht. Zum Beispiel nutzen SozialarbeiterInnen Beziehungen zu Personen als „Schwachstellen“ von Organisationen, um die Inklusions-Chancen ihrer KlientInnen zu erhöhen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
→ Thematisierung schwacher, derzeit stillgelegter und potenzieller Beziehungen lassen bzw. deren Thematisierung nahelegen. Damit sind sie gut dafür geeignet, momentan nicht zugängliche Ressourcen zum Thema der Beratung und der Rekonstruktionsarbeit zu machen, deren Erschließung anzuregen und zu planen.70
Netzwerkkarte Die Netzwerkkarte ist ein diagnostisches Instrument, das auf einem einigermaßen soliden theoretischen Hintergrund beruht, die Vorteile eines bildgebenden Verfahrens aufweist, das weitgehende interpretative Möglichkeiten eröffnet und gleichzeitig gut für kooperative Diagnostik geeignet ist. All das und noch einige weitere Vorzüge machen es zu einem Verfahren, das für den sozialarbeiterischen Fallbearbeitungsprozess ausgezeichnet geeignet ist. In den letzten Jahren fand es zunehmend Verbreitung in der Sozialarbeitspraxis. An der FH St. Pölten arbeiteten wir im Forschungsprojekt SODIA an einer Weiterentwicklung des Verfahrens. Gemeinsam mit Praxispartnern wurde der Einsatz wissenschaftlich begleitet. Als Resultat wurde ein neues Manual entwickelt und wir können nun eine erprobte Software (easyNWK) für die digitale Erstellung von Netzwerkkarten bereitstellen. Die Anfänge dieses Instruments findet man in der Gemeindepsychologie der 1980er-Jahre. Damals gab es eine leider nur kurze Konjunktur von Netzwerkforschung, die trotzdem ganz gute empirische Grundlagen für netzwerkbezogene Ansätze der Sozialen Arbeit schaffen konnte (exemplarisch: Keupp/Röhrle 1987). Für die Analyse von Netzwerken brachte auch die mathematische Graphentheorie bzw. Social Network Analysis – SNA (Freeman 2000) weitere Impulse. Schließlich ist die Konzeptionierung von sozialem Kapital, wie sie durch Bourdieu (1983) erfolgte, eine wichtige Inspiration für Analyse von und Arbeit an egozentrierten71 Netzwerken (dazu z.B. auch: Lin 1999). Eine Netzwerkkarte besteht aus Knoten und Kanten. Knoten sind jene Punkte, die in der egozentrierten Netzwerkkarte Personen repräsentieren. Kanten (die
70 Zur Bedeutung schwacher Beziehungen s. zum Beispiel Bassarak/Genosko 2001. 71 Bei egozentrierten Netzwerken werden die Beziehungen einer Ankerperson untersucht, die als Zentrum vorausgesetzt wird. Unzentrierte Netzwerke bieten einen Blick von oben auf die Beziehungen innerhalb von Populationen.
Netzwerkdiagnostik
Verbindungslinien zwischen Knoten) repräsentieren den Austausch zwischen den beiden Personen.72
Welche Beziehungen werden in der Netzwerkkarte abgebildet? Zuerst: Es sind immer Beziehungen zwischen Personen (Interaktionssysteme), die hier abgebildet werden. Beziehungen zwischen Personen und Organisation oder Gruppen haben einen anderen Charakter und werden in der NWK nur insofern abgebildet, als sie in Person-Person-Beziehungen aufgelöst werden können. So wird z.B. nicht die Beziehung zum Jugendamt, sondern zur Sozialarbeiterin A und der Psychologin B in die Grafik aufgenommen. Eine Metapher, mit der die hier abgebildeten Beziehungen verstanden werden können, ist jene von Gabe und Gegengabe. Ein archaisches (ein wenig konstruiertes) Bild dazu: In der Gegend, in der ein Stamm seine Zelte aufgeschlagen hat, taucht ein weiterer Stamm auf. Stamm A hat nun zwei Handlungsoptionen. Die erste: Man greift zu den Waffen und versucht die anderen zu vertreiben. Die zweite: Man nimmt eine Ziege, stellt eine Delegation zusammen, die dem Stamm B diese Ziege als Geschenk darbringt. Stamm B hat nun seinerseits mehrere Handlungsmöglichkeiten: Option 1: Er nimmt das Geschenk nicht an – die Folge ist Feindschaft, die Nichtannahme der Gabe ist gleichbedeutend mit der Ablehnung des Angebots, eine kooperative Beziehung aufzunehmen. Option 2: Das Geschenk wird angenommen, die Gäste kehren nach Hause zurück. Irgendwann in den nächsten Tagen findet ein Gegenbesuch statt. Die Delegierten des Stammes B bringen nun ihrerseits eine Gegengabe mit, zum Beispiel einen kunstvoll hergestellten Mantel. In diesem Fall sind die Bedingungen erfüllt, um der Beziehung Dauer zu verleihen: Zwischen Gabe und Gegengabe vergeht Zeit, die Gegengabe ist eine aufgeschobene; und die Gegengabe hat 72 Diese Terminologie entstammt der Graphentheorie (Social Network Analysis). Sie ist allgemein gehalten, weil in anderen Netzwerkdarstellungen Knoten auch etwas anderes als Personen – z.B. Staaten – repräsentieren können, und die Kanten z.B. für Warenströme stehen können. Hier verwenden wir diese Termini, um deutlich zwischen der Grafik und der Wirklichkeit zu unterscheiden. Sprechen wir über die Wirklichkeit, geht es natürlich um Personen und Beziehungen. Sprechen wir über die Grafik, um Knoten und Kanten.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
nicht eindeutig erkennbar den gleichen Wert wie die erste Gabe. Es handelt sich also nicht um einen Äquivalententausch. Option 3: Stamm B nimmt zwar die Ziege an, will allerdings unmittelbar mit einem Gegengeschenk antworten; oder Stamm B bringt seinerseits bei seinem Gegenbesuch eine Ziege als Gabe mit. In beiden Fällen wäre das als Versuch zu deuten, „einander nichts schuldig zu bleiben“. Das Beziehungsangebot wird in einen Äquivalententausch, also in ein einfaches „Geschäft“ umgedeutet. Man will gegenüber den anderen kein offenes Konto haben. Theoretische Zugänge zu Gabe/Gegengabe bzw. zu Reziprozität als Grundlage menschlicher Beziehungen finden sich u.a. bei Mauss 2005, Volz 2006, Stegbauer 2008 und 201173. Anhand dieses Bildes können einige Charakteristika von Person-Person-Beziehungen veranschaulicht werden: • Eine Beziehung ist aufrecht bzw. aktivierbar, wenn die Konten zwischen den PartnerInnen offen sind – also einer Gabe nicht zeitnah stets eine äquivalente Gegengabe gegenüberstand. • Beziehungsaufbau und Beziehungspflege bedürfen eines Investments (an Zeit, Emotionen, Aufmerksamkeit etc.). • Auch Beziehungen, die seit längerer Zeit keine Kontakte aufweisen, können relativ leicht aktivierbar sein – angeknüpft werden kann einerseits an die Beziehungsgeschichte (die entwickelte Art des Umgangs miteinander, an offene Konten). • Da Beziehungen nicht durch Äquivalententausch begründet und aufrechterhalten werden, unterliegt der „Kontostand“ keiner objektiven Buchführung. Die Beziehungspartner können durchaus unterschiedlicher Ansicht über den Zustand ihrer Konten sein. • Die Gaben müssen nicht materieller Natur sein. Über das Bild hinausgehend ist noch festzuhalten: • Äquivalententausch ist zwar nicht die Basis von Person-Person-Beziehungen, verhindert sie aber auch nicht. Man denke an das wachsende Vertrauen zwi73 Eine ausführlichere Aufarbeitung theoretischer Zugänge ist auf www.pantucek.com zu finden.
Netzwerkdiagnostik
schen GeschäftspartnerInnen, die z.B. durch ihre Verlässlichkeit, ihre Freundlichkeit gegeneinander und durch Vertrauensvorleistungen eine Beziehung aufbauen, die sich im Geschäftlichen nicht erschöpft, aber auch das Geschäft immer besser laufen lässt. • Bestimmte Rollenpositionen sind mit Erwartungen verknüpft, an denen Gabe/Gegengabe gemessen werden. Diese sozialen Erwartungen existieren zusätzlich zum Realaustausch. Dies gilt vor allem für Verwandtschaftsrollen, die zumeist unkündbar sind (ich bleibe der Onkel meines Neffen, auch wenn ich mich nicht wie ein solcher verhalte), aber auch für die kündbaren Rollen der professionellen HelferInnen. • Bei KlientInnen der Sozialen Arbeit sind oft Beziehungen stillgelegt bzw. inaktiv, weil die KlientInnen den Eindruck haben, hoffnungslos ihr Konto mit Schuld(en) beladen zu haben; oder umgekehrt: weil sie meinen, die anderen seien an ihnen schuldig geworden. Nicht selten ist es der Vater, der verdammt und zu dem keine Beziehung mehr gewünscht wird. Die vorhin erwähnten andauernden Verpflichtungen von Verwandten ermöglichen aber, bei relativ geringem Investment den Austausch wieder in Gang zu bringen. Ich beginne wieder mit einer Beschreibung der Vorgangsweise74, zeige dann einige Beispiele, um schließlich genauer auf Handhabung, theoretische Fragen und Interpretationsmöglichkeiten einzugehen.
Der Beginn des Interviews Am besten bewährt hat sich der Einsatz der am Ilse-Arlt-Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten entwickelten Software easyNWK. Diese ist auf www.easyNWK.com frei downloadbar. Da es sich um eine Java-Applikation handelt, ist sie auf allen Computer-Plattformen lauffähig. Möglich ist auch, die Netzwerkkarte analog zu erstellen. In diesem Fall werden auf einem großen Blatt Papier die 4 Sektoren eingezeichnet und beschriftet. Die Erstellung erfolgt dann mit dem Bleistift, um Korrekturen zu ermöglichen. In der Regel wird die Netzwerkkarte (NWK) im Rahmen eines Gesprächs mit der Klientin/dem Klienten erstellt. Da seitens der Interviewten keine Vorberei74 Varianten findet man u.a. bei Bullinger/Nowak (1998:175), Jansen (1999:123) und Müller M. (2003:70).
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
tung erforderlich ist, kann das Netzwerkinterview auch ohne Vorankündigung durchgeführt werden. Jedoch sollte sichergestellt sein, dass genügend Zeit reserviert wurde. Mit einer Stunde sollte man ohne Schwierigkeiten das Auslangen finden, meistens wird man weniger Zeit benötigen. Im Netzwerkinterview zeichnen die KlientInnen nicht selbst ihre Netzwerkgrafik. Das geschieht durch die Interviewerin. So muss miteinander gesprochen werden, was eine Reihe von Vorteilen hat: • Die Interviewten werden angeregt, die Erstellung der Grafik mit Erzählungen zu begleiten und tun dies auch. Diese Erzählungen enthalten eine Fülle von Zusatzinformationen, die für eine spätere Besprechung zur Verfügung stehen. • Dass man über die Positionierung eines Knotens sprechen muss, bringt eine erwünschte Verlangsamung in den Prozess. Über die Plausibilität der Positionierung kann sofort gesprochen werden (ist die vorgeschlagene Positionierung realistisch). Für die Erstellung der Netzwerkkarte wird die → Ankerperson festgelegt, i.d.R. der Klient/die Klientin. Sie bildet das Zentrum des Netzwerks. Dann öffnet sich eine Fläche, die in 4 Sektoren geteilt ist: Die 4 Sektoren stehen für 4 verschiedene Typen von Beziehungen: Sektor Familie: Familiäre Beziehungen sind Verhältnisse von Verwandtschaft bzw. Verschwägerung. Den Positionen (Mutter, Onkel, Großmutter, Cousin etc.) entsprechen in der Regel kulturspezifische Rollenerwartungen. Bestimmte Verwandtschaftsbeziehungen sind kaum oder gar nicht kündbar und entfalten ihre Wirkungen auch dann, wenn der Kontakt stillgelegt ist, und sei es nur durch die Leerstelle, die sie hinterlassen (z.B. die abgebrochene Beziehung zum Vater). Sektor FreundInnen/Bekannte: Hier finden sich Beziehungen, die relativ frei gestaltbar/wählbar sind. NachbarInnen, nahe und entferntere FreundInnen und Bekannte. Die gegenseitigen (gefühlten) Verpflichtungen beruhen auf gemeinsamen Interessen oder Begegnungsräumen, sind weitgehend selbst gewählt.
Netzwerkdiagnostik
Grafik 31: Sektoreneinteilung der Netzwerkkarte
Sektor KollegInnen: Mit KollegInnen ist man über die gemeinsame Einbindung in eine Organisation verbunden, es handelt sich um Beziehungen der Arbeitsteilung – wobei unter Arbeit hier nicht nur Erwerbsarbeit zu verstehen ist, sondern ggf. auch die Kooperation in einer Freiwilligenorganisation oder in einem Sportverein. Kollegiale Beziehungen haben einen außerhalb ihrer selbst liegenden (organisatorischen) Bezugsrahmen. Innerhalb des (oder zusätzlich zum) Rahmen können sie aber von den Personen weiter ausgestaltet werden.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Sektor professionelle HelferInnen: Hier werden Beziehungen zu Personen verzeichnet, die in einer helfenden beruflichen oder paraberuflichen Rolle zur Ankerperson stehen: ÄrztInnen, SozialarbeiterInnen, TherapeutInnen, PflegerInnen und so weiter. Diese Beziehungen beziehen ihre Legitimation i.d.R. aus einer Hilfebedürftigkeit der Ankerperson und enden mit ihr bzw. dann, wenn die Ankerperson den Zuständigkeitsbereich der Organisation verlässt, für die die Person arbeitet. InterviewerIn und KlientIn sitzen am besten nebeneinander, beide mit Blick auf die Grafik am Bildschirm. In den früheren Auflagen dieses Buches wurde noch von der Verwendung des Computers abgeraten. Seit es die dafür geeignete Software gibt und sie im Praxiskontext getestet wurde, empfehlen wir dringend deren Verwendung. Neben einer Reihe anderer Vorteile erwies sich auch das durch den Bildschirm ermöglichte Setting (InterviewerIn und Interviewter sitzen Schulter an Schulter und betrachten gemeinsam die Grafik) als äußerst hilfreich. Es signalisiert eine weniger asymmetrische Beziehung, das Arbeitsgerät der Sozialarbeiterin wird zu einem gemeinsamen Gerät. Einleitend wird kurz erklärt: „Sie stehen hier in der Mitte. Die 4 Sektoren stehen für 4 Arten von Beziehungen: solche in der Familie rechts oben, die Beziehungen zu Nachbarn, Freunden, Bekannten links oben. Kolleginnen und Kollegen in der Arbeit, Schule oder im Verein links unten. Und professionelle HelferInnen, zum Beispiel Ärzte oder Sozialarbeiterinnen rechts unten.“ Dann wird die Startfrage gestellt, diese sollte möglichst offen sein und keine Kriterien für Beziehungen angeben. Gut funktioniert z.B.: „Wen gibt es denn so in Ihrem Leben?“ oder „Wer fällt Ihnen zuerst ein?“ „Wer sind denn die wichtigsten Personen?“ Wenn eine Person genannt wird, fragt man „Wo soll ich sie hinzeichnen?“ und deutet mit dem Cursor (Mauspfeil) einen möglichen Standort an. Mit einem Klick öffnet sich dann das Dialogfeld, in das man den Namen oder die Rolle der Person eingeben kann. Die Bestätigung der Eintragung schließt das Dialogfeld, sichtbar werden ein benannter Knoten und eine Linie zum Zentrum (der Ankerperson). Nach dem Schließen kann die Positionierung des Knotens nötigenfalls noch verändert werden.
Netzwerkdiagnostik
Im Interview soll konsequent mit der Metaphorik der grafischen Darstellung gearbeitet werden. Die Frage nach der Qualität der Beziehung wird stets auf die Frage zurückgeführt, wo der Knoten einzuzeichnen sei. Auf eine Explizierung, welche Komponenten zu einer „nahen“ oder einer weiter entfernten Positionierung des Knotens führen, kann in der Regel verzichtet werden. Die Metaphorik von Nähe und Distanz bei einer Beziehung ist Bestandteil der Alltagssprache und des Alltagsverständnisses und bedeutet dort durchaus das Gleiche wie in der Netzwerkgrafik. Die Positionierung des Knotens stellt eine Skalierung dar: auf einer gedachten Linie vom Zentrum (Ankerperson, Ego) zur Kreislinie des Randes wird der Knoten verortet. Tatsächlich ordnet die Software im Hintergrund jeder Position einen Wert auf einer Skala von 1 (ganz außen) bis 9 (ganz innen, nahe beim Zentrum) zu. In die Positionierung fließt die Beurteilung sehr unterschiedlicher Merkmale der Beziehung ein: räumliche Nähe, Kontaktfrequenz, aufgewandte Zeit, emotionale Qualität, gegenseitige Sympathie, Intensität des Austauschs, Einfluss … und möglicherweise noch andere.75 Beim Interview kann kurz auf die Merkmale der aktuell thematisierten Beziehung eingegangen werden, es ist jedoch ratsam, sich in der Phase der Erstellung der Grafik nicht auf ausführlichere Diskussionen einzulassen. Die Fragen dienen in erster Linie der Entscheidung darüber, wo der Knoten zu positionieren wäre. Alle Anmerkungen, die KlientInnen machen, können aber beim anschließenden Gespräch über die Interpretation der fertigen Grafik wieder aufgegriffen werden. Zumeist beginnen Interviewte damit, den Familiensektor zu füllen. Dann arbeiten sie sich im Uhrzeigersinn durch die Sektoren Freunde/Bekannte, KollegInnen und professionelle HelferInnen. Das muss aber nicht so sein und man sollte darauf verzichten, KlientInnen zu dieser Reihenfolge zu drängen. Die Software verzeichnet im Hintergrund, in welcher Reihenfolge die Knoten gesetzt wurden. Nachfragen während des Interviews • Abfragen von Positionen
75 Grundsätzlich wäre es möglich, zumindest einige dieser Komponenten gesondert abzubilden. Hier wird bewusst darauf verzichtet: je detaillierter die Darstellung wird, umso schwieriger wird sie zu interpretieren und um so eher besteht die Gefahr, vom Wesentlichen – der Netzwerkstruktur – abgelenkt zu werden.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Um eine möglichst vollständige Darstellung des Beziehungsnetzes der Ankerperson zu erhalten, ist es sinnvoll, verschiedene mögliche Positionen im Netz abzufragen. Im Familiensektor sind dies die Verwandtschaftspositionen (Mutter, Vater, Großeltern, Geschwister, Kinder, Onkel und Tanten). Bei möglicherweise mehrfach besetzten Positionen (Geschwister etc.) wird auch dann nach weiteren gefragt, wenn die Klientin bereits eine oder zwei genannt hat. Über jede Person sollte zumindest kurz gesprochen worden sein. Noch lebende Personen auf diesen Positionen sollten jedenfalls eingezeichnet werden, gibt es keinen Kontakt zu ihnen, werden sie als Knoten ohne Kante zur Ankerperson in die Grafik aufgenommen (genauere Beschreibung weiter unten bei den FAQs). In den anderen Sektoren wird vorerst unspezifisch nachgefragt („gibt’s noch FreundInnen? Bekannte? Nachbarn?“), später dann gezielt nach sogenannten schwachen Beziehungen, die für die Netzwerkqualität bedeutsam sind: „Vielleicht gibt es noch jemanden, den Sie regelmäßig sehen und dem Sie vielleicht auch etwas über Ihr Leben, Ihren Alltag erzählen? Eine Friseurin, entferntere Bekannte?“ Nachgefragt werden sollte jedenfalls nach allen Personen, von deren Existenz im Umfeld der KlientInnen man weiß. • Überprüfung der Positionierung nach Plausibilität Im Wesentlichen und in den meisten Fällen wird man die Poisitionierung der Knoten durch die KlientInnen akzeptieren. Schon nach den ersten Eintragungen sollte man aber einen ersten Plausibilitäts-Check machen. Wie bereits oben erwähnt, ist eine Erklärung, was mit Nähe/Distanz gemeint ist, in der Regel nicht erforderlich. Fallweise ergibt sich allerdings sehr wohl ein Bias bzw. eine unrealistische Darstellung, weil Interviewte die Knoten von Personen, die ihnen lästig sind, eher dort positionieren, wo sie sie haben wollen, und nicht, wo sie sich befinden. Manchmal ist das offensichtlich, wenn Interviewte mit erkennbaren negativen Emotionen über einen Konflikt berichten und dann den Knoten in großem Abstand zu ihnen positioniert haben wollen. Hier hilft eine einfache Intervention: „Wirklich so weit weg? Ich habe den Eindruck, die Person ist Ihnen näher, als Ihnen lieb ist!“ Das sollte man mit einem neuen Positionierungsvorschlag verbinden. Meist kann man sich dann rasch auf eine realistische Darstellung einigen.
Netzwerkdiagnostik
Hat man andere Informationen von außerhalb der Interviewsituation, die eine Korrektur der Position nahelegen, sollte man sich nicht scheuen, darauf hinzuweisen (z.B.: „vor 14 Tagen haben Sie mir von Herrn XY erzählt, der scheint da eigentlich recht wichtig gewesen zu sein!“). Darüber hinaus kann fallweise noch eine Überprüfung stattfinden, indem man nach einzelnen Merkmalen von Nähe/Distanz fragt: „Diese Tante sehen Sie wahrscheinlich sehr selten“ oder „die Sozialarbeiterin spielt für Sie eine größere Rolle als Ihr Bruder?“ Solche Nachfragen fokussieren zwar nur jeweils auf eine Komponente der Nähe/Distanz-Einschätzung, aber sie generieren weitere Erzählungen/Begründungen durch die Interviewten, die einen Check der Plausibilität der Positionierung des Knotens ermöglichen.
Beziehungen zwischen Personen im Netz Besteht zwischen zwei Personen im Netzwerk eine Beziehung, werden deren Knoten mit einer Linie verbunden. Für diese Beziehungen gelten die gleichen Kriterien wie für Beziehungen zur Ankerperson. Es reicht nicht, dass sich die beiden kennen (z.B. sich fallweise bei einem Familienfest begegnen). Zwischen ihnen muss tatsächlich auch ein Austausch stattfinden, sie haben ein „offenes Konto“ miteinander. Als Indiz kann man nehmen, ob diese Personen selbstständig zueinander Kontakt aufnehmen oder sich nur bei durch Dritte vermittelten Kontakten begegnen. Auf easyNWK können diese Beziehungen auf mehrere Arten eingezeichnet werden: Klickt man einen Knoten an, färbt er sich rot. Wird dann ein weiterer Knoten unter Halten der Controll-Taste angeklickt, dann wird die Linie gezeichnet. Man kann aber auch mehrere Knoten aktivieren (anklicken bei gleichzeitigem Halten der Umschalttaste) und dann im Menü „Clusterverknüpfung erstellen“ anwählen. Es werden dann alle aktivierten Knoten miteinander verbunden. Die dritte Möglichkeit ist, im Menü „Beziehungen verwalten“ zu wählen. Für den ausgewählten Knoten wird dann eine Liste mit allen Personen im Netz ausgegeben und man kann jene auswählen, zu denen eine Beziehung besteht. Während des Interviews entsteht Stück für Stück ein Netz, das in den Sektoren unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Der Normalfall wird sein, dass man die Netzwerkgrafik gemeinsam mit den KlientInnen erstellt. Die Sozialarbeiterin zeichnet nach Anweisung der KlientInnen
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
und im Dialog mit ihnen das Netz. Es sollte dafür genügend Zeit reserviert werden. Für die Erstellung der Grafik können erfahrungsgemäß 20 bis 45 Minuten veranschlagt werden. Die Nachbesprechung wird ebenfalls noch einmal ca. 20 Minuten oder mehr in Anspruch nehmen. Mit einer reservierten Stunde sollte man also in der Regel das Auslangen finden. Nach Fertigstellung der Grafik sollte das Ergebnis ausgedruckt und den KlientInnen in die Hand gegeben werden. Der Vorzug eines grafischen Verfahrens ist, dass das entstandene Bild eine nachhaltige Wirkung entfaltet. Es bleibt im Gedächtnis, man kann auf dieses Bild immer wieder zurückkommen. Mit der Erstellung einer Netzwerkkarte hat man das Thema der Beziehungen zu anderen Menschen nachhaltig und anschaulich im Unterstützungsprozess platziert und einer laufenden Bearbeitung zugänglich gemacht. SozialarbeiterInnen hilft die Netzwerkdiagnostik, sich nicht auf professionelle Beziehungen und Ressourcen zu konzentrieren, sondern die Aufmerksamkeit auf das lebensweltliche Umfeld der KlientInnen zu richten. FAQs zur Erstellung der Grafik: • Soll eingezeichnet werden, ob eine Beziehung belastend oder helfend ist? Definitiv nein, so nahe das auch liegen mag. Verwendet man easyNWK, ist das ohnehin nicht möglich. Das ist kein Mangel der Software – eine solche Funktion wäre leicht zu implementieren gewesen –, sondern eine gut begründete methodische Entscheidung. Menschliche Beziehungen sind häufig von Ambiguität (Mehrdeutigkeit, Uneindeutigkeit) und Ambivalenz (gleichzeitiges Vorhandensein gegensätzlicher Gefühle) gekennzeichnet. Personen, deren Nähe ich dzt. als belastend empfinden mag, tragen möglicherweise auch einiges zu meiner Stabilisierung bei – vielleicht gerade durch ihr „Unangenehm-Sein“, und vordergründig gute und helfende Beziehungen können meine Autonomie und meine Kontakte zu anderen Personen behindern. Wir empfehlen daher auch bei Verwendung einer analogen Variante der NWK-Erstellung dringend, auf eine frühzeitige Bewertung von Beziehungen nach dem Schema „gut“ oder „böse“ (oder Abwandlungen dieser Dichotomie) zu verzichten. In der netzwerkbezogenen Beratung nach Erstellung der NWK-Grafik können solche Bewertungen dann eine Rolle spielen, können anhand des Bildes auch die ungünstigen Aspekte vermeintlich guter und die in vermeintlich „schlechten“ Beziehungen liegenden Chancen thematisiert werden. Eindeutige Festlegungen sind auch dann selten das Ziel, eher ein Diskurs über Möglichkeiten.
Netzwerkdiagnostik
• Wie umgehen mit Beziehungen ohne aufrechtem Kontakt? Der oben stehende Exkurs über Beziehungen als Interaktionssysteme, die auf verzögertem Austausch beruhen, gibt bereits einen Hinweis darauf, dass das Fehlen aktueller Kontakte Beziehungen keineswegs unbedeutend macht. Insbesondere Verwandtschaftsbeziehungen mit ihren stabilen und de facto unkündbaren Rollenmustern wirken auch ohne aktuellen Austausch bzw. können eine Ressourcenreserve darstellen. Nicht-aktualisierte Beziehungen sollten jedenfalls kartografiert werden. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Es kann ein Knoten innerhalb des Netzwerkkreises positioniert werden, jedoch wird die Einstellung „Kante“ auf 0 gestellt. In der Grafik erscheint dann zwar der Knoten, nicht jedoch eine Linie zum Zen trum (Ankerperson, Ego). Die zweite Möglichkeit ist, den Knoten außerhalb des Kreises im grau unterlegten Eckfeld zu platzieren. Dann wird automatisch keine Linie zur Ankerperson gezeichnet. Der Knoten ist vorhanden und steht damit auch für den Beratungsteil des Gesprächs zur Verfügung. Insbesondere wichtige Positionen in der Verwandtschaft werden beim Interview abgefragt: beide Eltern, Großeltern, Kinder, Geschwister, Onkel und Tanten. • Sollen verstorbene Personen eingezeichnet werden? Die NWK ist per definitionem die grafische Darstellung menschlicher Austauschbeziehungen. Mit Verstorbenen kann es keinen Austausch mehr geben. Andererseits sind manche Verstorbene (z.B. der frühere Partner) im Denken der Ankerperson noch sehr präsent, mit ihnen werden noch gedachte Dialoge geführt. Es können auch noch offene Konten bestehen, die eine psychische Belastung für die überlebende Person darstellen und die sie ausgleichen will. Mit dieser imaginären Präsenz der Verstorbenen beschäftigen sich Naturreligionen und der Ahnenkult, aber auch manche Verfahren der Familienaufstellung, der Genogrammarbeit und der Psychotherapie. Über symbolische Handlungen (z.B. der Ehrerbietung für die Verstorbenen) können belastende Reste der Beziehungsgeschichte bewältigt werden. Andererseits kann der gedachte Dialog mit einem verstorbenen Partner von Personen auch als Ressource erlebt werden. Obwohl Verstorbene in der Darstellung und Analyse eines realen sozialen Netzes eigentlich nicht relevant sind – mit der NWK versuchen wir die wirklichen
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Beziehungen abzubilden –, ist es daher sinnvoll, sie in die Darstellung aufzunehmen. Es nicht zu tun, würde unnötig Widerstand bei den KlientInnen provozieren und in deren Augen den Realitätsgehalt der Grafik beeinträchtigen. Für die weitere Beratung ist es ebenfalls sinnvoll, eine Repräsentation im Bild zu haben. Es wird also ein Knoten dort eingezeichnet, wo dies für die KlientInnen passend erscheint, jedoch der Name mit dem Zeichen für „verstorben“ ergänzt ( oder ) und die Kante auf „0“ gestellt, sodass keine Linie zum Zentrum erscheint. Dieser Lösung stimmen KlientInnen erfahrungsgemäß ohne Schwierigkeiten zu.
Grafik 32: Familiensektor mit verstorbenem Bruder und Verwandten ohne Kontakt
• Sollen Haustiere eingezeichnet werden? Wie ist es mit anderen imaginären Personen?
Netzwerkdiagnostik
Manche KlientInnen wollen ihr Haustier oder imaginäre Personen (Gott, Jesus) in das Netzwerk eingezeichnet haben. Es empfiehlt sich eine analoge Vorgangsweise: der Knoten wird eingezeichnet, die Kantenoption auf null gestellt. In der Grafik erscheint dann der Knoten ohne Linie zur Ankerperson. • Ist abgesehen vom Abstand zur Ankerperson auch die Positionierung zu anderen Personen im Sektor wichtig? Die KlientInnen werden automatisch für eine solche Positionierung der Knoten sorgen, dass Personen, die einander sehr nahe stehen, i.d.R. auch benachbart dargestellt werden. Die Genauigkeit der Nähe/Distanz-Verhältnisse zwischen den verschiedenen Personen im Netzwerk ist jedoch sehr begrenzt. A kann z.B. sowohl B wie C sehr nahe stehen, während zwischen B und C kaum eine Beziehung besteht. Die gleichzeitige Abbildung sowohl der Nähe von B und C zu A wie auch deren Distanz zueinander ist in dieser Darstellungsform nicht möglich. Es gibt also deutliche Grenzen der Interpretierbarkeit der Netzwerkgrafik. • Wie ist vorzugehen, wenn eine Person zu zwei Sektoren gehört? Die Darstellung von Personen, mit denen die Ankerperson in 2 verschiedenen Beziehungstypen zu tun hat (der Vater, in dessen Firma sie arbeiten und der daher gleichzeitig ihr Chef ist, KollegInnen, mit denen man auch befreundet ist und sich außerhalb der Arbeit trifft), darf nur einmal erfolgen. Eine Frage, die die Einordnung erleichtern kann, wäre z.B.: „Welche Rolle überwiegt denn? Ist das in erster Linie Ihr Vater oder in erster Linie Ihr Chef?“ Bei befreundeten KollegInnen kann man danach fragen, ob im Falle des Arbeitsplatzwechsels die Beziehung aufrecht bleiben würde. In der Regel werden die Knoten für die Freundin, die auch eine Kollegin ist, dann in der Nähe des KollegInnen-Sektors platziert. • Wo sind MitpatientInnen, andere TeilnehmerInnen einer Therapie- oder Selbsthilfegruppe, andere BewohnerInnen der Wohneinrichtungen, Mitin sassen einzuzeichnen? Diese Beziehungen sind über eine Organisation vermittelt und ähneln daher kollegialen Beziehungen. Wenn aber das Element von (ggf. erzwungener) Nach-
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barschaft dominiert (wie es oft in stationären Settings der Fall ist), ist eine Positionierung im Sektor links oben angebracht. • Ist zu befürchten, dass KlientInnen mutlos werden, wenn sie sehen, wie dürftig ihre Beziehungen sind? Nein, das ist nicht zu befürchten. Empirisch gibt es für eine solche Reaktion kein Beispiel. Im Gegenteil kommt es nicht selten vor, dass KlientInnen nach Erstellung einer NWK, die von den SozialarbeiterInnen als äußerst karg eingeschätzt wird, erfreut feststellen, dass es da doch mehr Personen gibt, als sie gedacht hätten. • Kann man eine Netzwerkgrafik auch ohne die KlientInnen erstellen? Ja, man kann, und manchmal ist das auch sinnvoll. Kennt man die soziale Situation einer Person recht gut, kann man z.B. zu Zwecken der Fallreflexion auf Basis der vorhandenen Informationen eine NWK erstellen und dann analysieren oder im Team vorstellen. Erkenntnisse für die weitere Interventionsplanung können so gewonnen werden, manchmal erkennt man auf Basis einer solchen NWK auch, dass man in der bisherigen Tätigkeit negative Effekte auf das Netzwerk erzeugt hat – und kann das korrigieren. Wann immer möglich sollte man aber die Grafik im Rahmen eines Interviews erstellen. • Was kann man tun, wenn die im Interview erstellte Grafik nach allem, was man weiß, der Realität kaum entspricht? Es kann vorkommen, dass offensichtlich die Grafik unrealistisch ist. Abweichungen sind in beide Richtungen möglich: Manche Personen fantasieren sich Beziehungen oder überschätzen die Intensität. Andere nehmen in ihre Grafik nur ganz wenige Personen auf, obwohl wir wissen, dass ihr Netzwerk bedeutend umfangreicher ist. In beiden Fällen ist es sinnvoll, die Auseinandersetzung nicht bei der Erstellung der NWK selbst zu führen. Wenn erste Korrekturversuche im Interview erfolglos waren, erstellt man die Version der Interviewten. In der anschließenden Beratung kann dann auf die Differenz eingegangen werden. Zum Beispiel kann man der mit der Ankerperson erstellten NWK eine
Netzwerkdiagnostik
zweite hinzufügen, die man selbst auf Basis eigener Beobachtung zeichnet. „Also ich kenne Sie ja schon recht gut. Wenn Sie mich aufgefordert hätten, Ihre Netzwerkkarte zu zeichnen, hätte die so ausgesehen.“ In der Beratung stehen einander dann die beiden Versionen gegenüber und es ist ein Gespräch darüber möglich. • Wie verzeichnet man Beziehungen in Social Networks (Internet)? Mit dem Internet und vor allem mit dem Aufstieg der sogenannten Social Networks (StudiVZ, Facebook etc.) und Internetforen76 sind neue Typen von losen Beziehungen entstanden, die sich in ihrer Qualität nur schwer einschätzen lassen. Für manche Personen mit einem sonst eher kleinen Netzwerk erfüllen die Social Networks eine kompensierende Funktion. Auf eine Abbildung in der NWK sollte also nicht verzichtet werden. Gleichzeitig kann ein verzerrtes Bild entstehen, wenn Beziehungen, die zwar subjektiv eine große Rolle spielen, deren Verbindlichkeit aber sehr gering ist bzw. bei denen es noch nie einen realen Faceto-face-Kontakt gegeben hat, in der NWK gleichwertig zu Beziehungen in der „real world“ aufscheinen. Beziehungen, die das Internet (oder früher auch: Briefverkehr) als einzigen Kanal des Austauschs aufweisen, haben einiges mit imaginären Beziehungen gemeinsam: Die auf einen Kanal eingeschränkte Kommunikation ermöglicht und erfordert eine umfangreiche Ergänzung der dürftigen Informationen durch die Fantasie, die nie einem Realitäts-Check unterliegen. Es liegt nahe, sie bei der NWK-Gestaltung daher ähnlich wie imaginäre Beziehungen zu behandeln: Der Knoten wird eingezeichnet, die Kante allerdings auf null gestellt (keine Linie zur Ankerperson). Gegenüber den Interviewten kann das durch den fehlenden Face-to-face-Kontakt begründet werden. Beziehungen, die zwar aktuell vorwiegend über E-Mail, Social Networks oder Foren gepflegt werden, denen aber ein früherer Beziehungsaufbau in der „real world“ zugrunde liegt, wären allerdings wie jede andere Realbeziehung auch zu behandeln. Die neuen Kommunikationstechnologien haben das Aufrechterhalten von Beziehungen trotz räumlicher Distanz wesentlich erleichtert, und diese Möglichkeit wird auch umfangreich genützt, z.B. zur 76 Eine aufschlussreiche Untersuchung zum Hilfehandeln in Internetforen legten Brandstetter u.a. 2011 vor.
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Aufrechterhaltung enger familiärer Kontakte trotz Migration (vgl. Georgas u.a. 2001). Auswertung und Interpretation der Netzwerkgrafik Die Netzwerkgrafik ermöglicht umfangreiche Interpretationen durch Personen, die sie lesen können und ein Hintergrundwissen über die Funktionsweise von Netzwerken haben. Ein Teil dieser Interpretationen ist bereits auf der ersten Ebene des Bildes möglich. Die Software ermittelt im Hintergrund noch eine Reihe von Kennzahlen, die i.d.R. für das Beratungsgeschäft nicht benötigt werden. Sie gewinnen ihre Bedeutung, wenn kumulierte Daten z.B. im Rahmen eines Forschungsprojekts ausgewertet werden sollen. Im folgenden Abschnitt wird in die Interpretation eingeführt. Danach wird darauf eingegangen. wie das Auswertungsgespräch mit der Klientin zu führen ist. Vorweg sei festgestellt, dass zwischen der fachgerechten Interpretation und der fachgerechten Beratung doch ein großer Unterschied besteht. Die Interpretation hilft, bei der Beratung einen hilfreichen Fokus zu setzen. Tatsächlich wird aber nur ein kleiner Teil der Interpretationen in das Gespräch eingespielt werden.
Grafik 33: Grafik ohne und mit eingeblendeten Horizonten
Netzwerkdiagnostik
Am Ende des Interviews können, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen, in die easyNWK-Grafik Horizonte eingeblendet werden.77 • Netzwerkgröße Dafür gibt es eine einfache Maßzahl: Die Anzahl der Knoten (ohne Ankerperson) mit Ausnahme der Knoten ohne Kante zur Ankerperson. Das Netzwerk von Personen mit ausgebauten und vielfältigen sozialen Beziehungen hat eine Größe von 40 oder mehr. Zu dieser Netzwerkgröße trägt vor allem eine große Zahl an schwachen Beziehungen („weak ties“ – im Gegensatz zu „strong ties“, beschrieben bei Stegbauer 2008) bei. Schwache Beziehungen sind von einer geringen Intensität des Austauschs gekennzeichnet, die gegenseitige Verpflichtung ist nicht sehr umfangreich. Je statushöher eine Person ist, umso leichter fällt es ihr, ein umfangreiches Arsenal an schwachen Beziehungen mit relativ geringen Investitionen aufrechtzuerhalten. Je weniger Einfluss man hat, umso mehr persönliches Zeitinvestment benötigt es, eine größere Zahl an schwachen Beziehungen am Leben zu erhalten. Was Bourdieu Soziales Kapital nennt, verhilft zu Status, und erleichtert die Vermehrung des Sozialen Kapitals. In der Sozialarbeitspraxis werden wir Netzwerke solcher Größe nur selten kennenlernen. Wesentlich häufiger sind Größen von 6 bis 20. Große Netzwerke verweisen auf umfangreiche Ressourcen, zu einer differenzierten Einschätzung müssen aber auch noch andere Kriterien herangezogen werden (Dichte, funktionale Struktur etc.). Hinweise darauf bringen die folgenden Abschnitte. • Dichte Die Netzwerkgrafik ermöglicht die Ermittlung der Maßzahl der Netzwerkdichte. Pearson (1997:96ff.) stellt unter Berufung auf Mitchell (1974) das Maß für die Dichte eines Unterstützungsnetzwerks als relevante Größe für die Beurteilung
77 Es wird davon abgeraten, die Horizonte bereits während des Interviews eingeblendet zu haben: Im Praxistest zeigte sich, dass Interviewte dann dazu neigen, einen Großteil der Knoten in den innersten Horizont zu zeichnen. Der Horizont suggeriert einen qualitativen Unterschied zwischen der Positionierung knapp innerhalb und knapp außerhalb und produziert daher einen Bias bei der Erstellung.
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der Funktionalität von Netzwerken vor. Die Berechnung erfolgt auf Basis einer einfachen Formel: Dichte = n/{ [ N ( N – 1 ) ]/2 } n = die Zahl der Personenpaare im Netz, die zueinander in Beziehung stehen (jedes Paar wird nur einmal gezählt; die Ankerperson wird bei dieser Zählung nicht berücksichtigt) N = die Gesamtzahl der Personen im System (wieder ohne Ankerperson) In der Software easyNWK wird die Dichte automatisch ermittelt (über den Menüpunkt „Analyse“)78. Die Maßzahl der Dichte drückt das Verhältnis der möglichen zu den realisierten Beziehungspaaren aus. Sie liegt zwischen 0,00 (das Netzwerk besteht ausschließlich aus Einzelpersonen, die miteinander nicht kommunizieren) und 1,00 (jede Person im Netz hat zu jeder anderen eine Beziehung). „Dichte ist ein Indikator dafür, wie eng und zentriert ein System ist. Sehr dichte Systeme (z.B. Systeme, in denen fast alle Mitglieder sich kennen und miteinander interagieren) sind typischerweise durch gut verfügbare Kommunikationskanäle, gemeinsam geteilte Informationen und gleichartige Perspektiven charakterisiert.“ (Pearson 1997: 96f.) Netzwerke hoher Dichte bringen eine Reihe von Nachteilen für die Mitglieder mit sich, schränken deren Autonomie ein und stellen nur wenig differenzierte Ressourcen zur Verfügung (ebd.). Eine Netzwerkdichte, die größer als 0,50 ist, kann als hoch bezeichnet werden. Je größer das Netzwerk ist, umso geringer ist die zu erwartende durchschnittliche Dichte. Bei Netzwerken mit 25 und mehr Knoten sinkt die erwartbare Dichte auf unter 0,1. Die Dichte kann also nur in Relation zur Netzwerkgröße angemessen interpretiert werden. Bei Verwendung der Netzwerkkarte als diagnostischem Instrument kann manchmal die Ermittlung von zwei Dichtezahlen die Präzision der Analyse erhöhen: Ein Wert für den inneren Kreis der engeren Kontakte, ein Wert unter Einschluss des äußeren Kreises, der auch die selteneren/loseren Beziehungen 78 Es wird dabei eine .csv-Datei im gleichen Ordner abgespeichert wie die anderen Dateien zur erstellten Netzwerkkarte. Diese kann mit Excel geöffnet werden.
Netzwerkdiagnostik
umfasst. Die Differenz zwischen den beiden Werten gibt einen Hinweis darauf, ob die Aktualisierung der schwachen Beziehungen die Diversität des Netzwerks erhöhen könnte. Je niedriger die Dichte des größeren Netzwerks im Vergleich zum engeren Netzwerk ist, umso lohnender und chancenreicher könnten Aktivitäten zur Aktualisierung der schwächeren Beziehungen im Netzwerk sein. • Verteilung auf die Sektoren Ein wesentliches Merkmal für die Einschätzung eines Netzwerks ist die Verteilung der Knoten auf die 4 Sektoren. Je nach Alter/Lebensphase ist eine andere Verteilung zu erwarten.79 Von besonderem Interesse ist die Besetzung des Sektors mit den professionellen HelferInnen (sowie die Beziehungen von Personen aus diesem Sektor mit solchen aus anderen Sektoren). • intersektorale Beziehungen Bei gut strukturierten Netzwerken finden sich eher wenige Beziehungen, die über Sektorgrenzen hinausreichen. Eine große Zahl intersektoraler Beziehungen schränkt die Autonomie der Ankerperson ein (z.B. ein reger Austausch zwischen den Sektoren Familie und Professionelle HelferInnen). • Cluster Cluster sind mehrere Knoten, die alle miteinander verbunden sind. Eine Freundesclique bildet i.d.R. einen Cluster, auch die engere Familie wird erwartbar Clustereigenschaft haben. Cluster sind also Bereiche im Netzwerk mit lokal hoher Dichte.
79 Im Rahmen des Forschungsprojekts SODIA hat Andrea Windpassinger auf Basis zahlreicher Studien beispielhaft für ausgewählte Lebensphasen erwartbare Netzwerke („Normalitätsfolien“) entwickelt (Aspöck u.a. 2011: xxxx)
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Grafik 34: Cluster
Der Vorzug von Clustern im Netz ist, dass mehrere Personen mich in gleichen Situationen beobachten, sich darüber abstimmen und der Ankerperson auch abgesprochen Rückmeldung geben können. Innerhalb von Clustern können Unterstützungsleistungen aufgeteilt und koordiniert erbracht werden. Idealerweise finden sich in einem Beziehungsnetzwerk mehrere Cluster. Dadurch wird vermieden, dass die Ankerperson von nur einer sozialen Gruppe abhängig ist. • Position „Isolierte“ Isolierte sind Personen, die nur eine Kante zur Ankerperson aufweisen. Diese haben eine herausragende Funktion – sie sind ideale BeraterInnen. Man kann ihnen alles erzählen, ohne fürchten zu müssen, dass die Information dann die Runde macht. Die Ankerperson ist ihre einzige Informantin, hat daher große Freiheit in der Darstellung der Ereignisse. Und Isolierte haben eine Außensicht: Ihre eigene Welt ist eine andere, sie sind von den Vorfällen im Netzwerk der Ankerperson nicht direkt betroffen. Ein gut strukturiertes Netzwerk sollte Isolierte enthalten, und nicht nur im Profi-Sektor. • Position „Star“ Als Star bezeichnet man jenen Knoten, der die meisten Kanten aufweist – die Person mit den meisten Beziehungen im Netzwerk der Ankerperson. Es ist eine einflussreiche Person, besonders dann, wenn einige ihrer Beziehungen sektor übergreifend sind.
Netzwerkdiagnostik Grafik 35: Star
• Position „Brücke“ Als Brücke bezeichnet man einen Knoten, der mehreren Clustern angehört.
Grafik 36: Mutter als Brücke
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
In der Grafik ist die Mutter die Brücke zwischen zwei Clustern. Sie hat als einzige noch aufrechte Beziehungen zum Vater der Ankerperson und dessen beiden Schwestern. Die Besonderheit dieser Konstellation ist, dass die Ankerperson zu Vater und Tanten keine aktuelle Beziehung aufweist. Brückenpersonen können Schlüsselrollen im Netzwerk spielen. • multiplexe Beziehung In uniplexen Beziehungen stehen sich die Beziehungspartner nur in jeweils einer Rolle gegenüber. Multiplexe Beziehungen sind solche, in denen wenigstens eine der Personen gegenüber der anderen in zahlreichen Rollen agiert (z.B. die Nachbarin, gleichzeitig beste Freundin, Beraterin, Spielpartnerin, die hilft, wenn ich krank bin oder sonst etwas brauche, sehr häufig in meinem Haus zu Gast und schaut auch täglich unangemeldet vorbei, wie’s mir geht …). Multiplexe Beziehungen haben keine klaren Grenzen, sind diffus, dauerhaft, in sich wenig differenziert, tendieren zur Ausschließlichkeit. Um ein drastisches Bild zu verwenden: Multiplexe Beziehungen ähneln Krebszellen. Sie haben keinen Mechanismus zu ihrer Begrenzung, sie können nur wachsen. Und weil die Pflege von Beziehungen die begrenzte Ressource Zeit benötigt, wird parallel zum Wachstum dieser einen Beziehungen das restliche Netzwerk ausgedünnt. Die eine Beziehung bietet ja ohnehin alles, was man braucht, und sie beansprucht sehr viel Zeit. In der Netzwerkkarte markiert man eine multiplexe Beziehung mit einer dickeren Kante. In easyNWK: die Kante wird im Dialogfeld bei der Erstellung des Knotens auf den Wert 2 gestellt („normale“ Beziehungen haben den voreingestellten Wert 1, für bestimmte Knoten [s. oben] kann der Wert auf 0 gestellt werden). Beim Auftreten zusätzlicher Belastungen (erweiterte Hilfsbedürftigkeit der Ankerperson) besteht die Gefahr, dass die multiplexe Beziehung wegen Überlastung von einer Person völlig abgebrochen wird. Da es keinen Mechanismus der Regulation bzw. der Begrenzung in multiplexen Beziehungen gibt, kann jene Person, die sich nun überlastet fühlt, dem nur mit einem Beziehungsabbruch begegnen. Begründungen finden sich dafür leicht („Was ich alles für XY getan habe, aber ich habe auch ein eigenes Leben, man kann nicht alles – nicht auch das noch – von mir verlangen.“). Es findet sich sicher auch ein Anlass, vermeintliche Undankbarkeit oder was auch immer. Was übrig bleibt, ist ein durch die Nebenwirkungen der multiplexen Beziehung devastiertes Netzwerk. Solche Be-
Netzwerkdiagnostik
ziehungen sind also trotz ihrer vermeintlichen Intensität und Stetigkeit unsicher und stellen in Netzwerken ein Hochrisiko für die Ankerperson dar. Professionelle HelferInnen sind manchmal an Aufbau und Stützung von multiplexen Beziehungen unabsichtlich beteiligt. Sie sind dankbar dafür, dass sich jemand aus dem Beziehungsnetzwerk um die Ankerperson (KlientIn) kümmert und stärken deren Position noch durch ihre Inanspruchnahme als Kontaktperson. Uniplexe Beziehungen hingegen erfüllen nur eine Funktion (oder wenige Funktionen). Mehrere uniplexe Beziehungen im Netzwerk sind gegenüber Belastungen resistenter als eine multiplexe Beziehung: Die Belastung verteilt sich auf mehrere UnterstützerInnen, der Ausfall einer Unterstützerin oder eines Unterstützers hat keine dramatischen Folgen für die Leistungsfähigkeit des Netzwerks. • Blick auf die erwartbare oder mögliche Zukunft Für die Stabilität eines Netzwerks ist naturgemäß die Zukunftsprognose bedeutend. Während Verwandtschaftsbeziehungen Änderungen in der Lebenssituation relativ gut überdauern können, sind professionelle Beziehungen endlich. Bei einem Wechsel des Settings können mit einem Streich alle bisherigen Beziehungen in diesem Sektor beendet werden. Eine Frage, die für die Interpretation große Bedeutung hat, ist also die, wie das Netzwerk in Zukunft aussehen könnte und wie durch rechtzeitiges Investment in Beziehungen ein guter Übergang von der derzeitigen Phase in die nächste – zum Beispiel bei einer absehbaren Beendigung eines stationären Aufenthalts – vorbereitet werden kann.
Beispiele Die nun folgenden Beispiele von Netzwerkkarten wurden noch analog, also ohne Verwendung der Software easyNWK erstellt – die ersten beiden Beispiele kooperativ mit den KlientInnen, das dritte Beispiel im Zuge einer Fallbesprechung. Sie zeigen typische Netzwerk-Konstellationen.
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Grafik 37: Netzwerkgrafik einer 83-jährigen Frau Netzwerkgröße: 15 Personen Dichte derzeit: 0,76
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Das erste Beispiel zeigt die Netzwerkkarte einer 83-jährigen Frau, die das Glück eines dichten und umfangreichen familiären Netzes hat. Gleichzeitig ist allerdings eine völlige Verarmung der außerfamiliären Beziehungen zu erkennen. Einzig zur Nachbarin und zum Hausarzt bestehen außerfamiliäre Kontakte. Die Dichte ist mit 0,76 sehr hoch. Die Ankerperson ist von ihrer Familie damit in hohem Grade abhängig. Je nach Qualität der innerfamiliären Beziehungen wären netzwerkbezogene Interventionen ggf. in Richtung einer Vermehrung nichtverwandtschaftlicher Kontakte zu setzen. Das zweite Beispiel zeigt das Netzwerk einer jungen Psychiatrie-Patientin, das bereits typische Merkmale des Beziehungsnetzes von Personen aufweist, die intensiv vom Sozial- oder Gesundheitswesen als „Fall“ identifiziert worden sind: Professionelle HelferInnen werden gewichtig. Keine der professionellen HelferInnen „gehört“ der Ankerperson allein, alle besprechen die Situation der Patientin auch mit den Angehörigen, vor allem mit der Mutter, die mit 9 Kontakten eine „Star“-Position innehat. Der jungen Frau gelingt es dzt. aber noch, einige autonome Beziehungen aufrechtzuerhalten. Da gibt es eine Freundin, die die Frau bei einem stationären Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses kennengelernt hat. Zu ihr hält sie den Kontakt via E-Mail aufrecht. Weiters hat sie noch Kontakt zu zwei Mitstudierenden in einem Handelsakademie-Fernkurs. Es deuten sich bereits Isolierung und ein beträchtlicher Autonomieverlust an, an dem die professionellen HelferInnen mitzuwirken scheinen. Noch ist die Dichte des Netzwerks mit 0,21 gering. Wir sehen hier auch ein Muster, das als unerwünschte Nebenwirkung des Einsatzes professioneller Hilfe in vielen Netzwerkkarten auftritt: Die Zahl der Knoten im Sektor professionelle Hilfe vermehrt sich sehr rasch (Profis fallen als „Hilfe“ in erster Linie immer weitere Profis ein). Gleichzeitig wird der Sektor Freunde/Bekannte/Nachbarschaft ausgedünnt. Dafür gibt es zwei Gründe. Es steht nur ein begrenztes Zeitbudget zur Verfügung. Zeit, die in Kontakte zu professionellen HelferInnen investiert wird, geht ab für die Pflege anderer Beziehungen. Das verstärkt den zweiten Effekt: Sozialer Abstieg oder eine Erkrankung – wie in diesem Fall die Schizophrenie – erschweren an sich die Aufrechterhaltung von Beziehungen. Man wird als Person für andere weniger attraktiv und hat Schwierigkeiten, in diesen Beziehungen selbst etwas zu geben. Eine vermeidbare Nebenwirkung zeigt sich im Sektor Familie: Profis sind i.d.R. froh, in diesem Sektor eine Ansprechperson zu haben. Sie halten daher einen intensiven Kontakt zu jener Person im Familiensektor, die sich am meisten
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Grafik 38: Netzwerk einer 20-jährigen Psychiatrie-Patientin Netzwerkgröße: 12 Personen Star: die Mutter mit 9 Kontakten im Netz. Dichte derzeit: 0,21
um die Ankerperson kümmert und für sie sorgt. Die Rolle dieser Person (hier: die Mutter) wird dadurch gestärkt, sie rückt näher zur Ankerperson. Die anderen Personen im Sektor Familie werden entlastet, haben entschieden weniger Informationen und rücken auf der Netzwerkkarte von der Ankerperson weg. Dieser Effekt ist oft auf den Netzwerkkarten von Personen mit größerem Hilfebedarf überdeutlich sichtbar. Es ist, als ob der Rest der Familie „weggesprengt“ wäre.
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Grafik 39: Netzwerk Martin, 25 Jahre Netzwerkgröße: 15 Star: Werkstättenleiter Dichte: 0,81 (sehr hoch)
Der Effekt ist doppelt bedenklich: Das Netzwerk der Ankerperson wird durch die Aktivitäten der Profis ausgedünnt und seine Struktur wird schlechter. Und die Hauptansprechpartnerin (seltener: der Hauptansprechpartner) wird tendenziell überlastet und kann auf weniger andere Personen zurückgreifen, die sich ebenfalls für die Ankerperson verantwortlich fühlen. Eine netzwerkbezogene Sicht der Profis kann dazu beitragen, diesen Effekt abzumildern oder gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Conferencing-Mo-
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delle wie z.B. der Familienrat sind ausgezeichnet geeignet, das Netzwerk von Verwandten und Freunden/Bekannten/Nachbarn besser zu strukturieren und die Überlastung einzelner nächster Angehöriger zu verhindern. Dieses Motiv zeigt sich noch deutlicher im dritten Beispiel (S. 213). Hier ist der beschriebene Prozess weit fortgeschritten. Neben dem Personal und den Kollegen in der Behindertenwerkstatt sind im Netzwerk nur mehr zwei Personen aufzufinden, wobei die Großmutter mit dem professionellen Netz verbunden ist. Ähnlich und in den Konsequenzen noch dramatischer die folgende Situation: Netzwerkgröße: 8 Personen Star: die Sozialarbeiterin (DSA) mit 6 Kontakten im Netz. Multiplexe Beziehung zu Vater Dichte derzeit: 0,28 Bei Entlassung: radikales Schrumpfen des Netzwerks und radikale Erhöhung der Dichte (s. Grafik 40). Die inhaftierte Ankerperson hat nahezu alle Kontakte in den Feldern des natürlichen Netzwerks verloren. Übrig blieb in intensiver Nähe der Vater, und übrig blieb das professionelle Netz, das allerdings mit der bevorstehenden Enthaftung in der derzeitigen Form zusammenbrechen wird. Normalnetzwerke Im Zuge des Forschungsprojekts „SODIA“ an der FH St. Pölten wurden von Windpassinger anhand der Auswertung von Studien für bestimmte Altersgruppen erwartbare Parameter von Netzwerken erstellt und mit Beispielen illustriert. Anhand dieser Folien wird erkennbar, welche Netzwerkgrößen, Sektorenverteilungen und Strukturmerkmale bei Personen mit einer durchschnittlich guten Netzwerkeinbindung zu erwarten sind. Typischerweise für Personen in seinem Alter hat Herr M. (Grafik 41, S. 216 entnommen Aspöck u.a. 2011: 151) einen vor allem mit der Nachkommenschaft dicht besetzten Sektor Familie. Der Sektor Freunde/Bekannte ist nur mehr dünn besetzt. Hier wirkt sich aus, dass bei fortschreitendem Alter viele Peers schon verstorben sind bzw. verringerte Mobilität die Aufnahme neuer Beziehungen
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Grafik 40 : Netzwerk eines 36-jährigen Sexualstraftäters
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Grafik 41: Herr M, 78 Jahre
unwahrscheinlicher macht. Kollegiale Beziehungen (z.B. über Vereinszugehörigkeiten) können dieses Manko ein wenig ausgleichen. Herr M. ist offensichtlich noch gesund und hat daher einen leeren Sektor professionelle Hilfe. Diese Netzwerkgrafik (Aspöck u.a. 2011: 154, S. 217) bildet die Beziehungslandschaft einer jungen Erwachsenen ab. Getragen von einem gut besetzten familiären Netz hat sie mehrere Freundes- und Kolleginnen-Cluster aufzuweisen. Intersektorale Beziehungen gibt es vorrangig zwischen den Sektoren in der linken Hälfte der Grafik – zumal ein Arbeits- oder Studienplatz ein ausgezeichnetes Rekrutierungsfeld für Freundschaftsbeziehungen ist, ist das nicht verwunderlich. Sie hat sich neben der Familie ihr eigenes Netzwerk aufgebaut und so ist ihr die
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Grafik 42: Nora, 20 Jahre
alterstypische Ablösung von der einseitigen Abhängigkeit von der Familie gut gelungen.
Interventionsformen Eine erste Schicht von Interventionen erfolgt bei der Erstellung der Netzwerkkarte selbst. Die in der Regel kurzen Aushandlungen darüber, wo denn ein Knoten zu platzieren wäre, sind Sequenzen, in denen an der Einschätzung von Beziehungen gearbeitet wird und die InterviewerInnen über ihre Vorschläge bereits der Eigendiagnose punktuell eine andere Sicht hinzufügen. Besonders
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deutlich wird das, wenn InterviewerInnen darauf beharren, dass abgebrochene oder inaktive Beziehungen (vor allem im Familiensektor) in die NWK aufgenommen werden – und dann für die weitere Beratung als Bild möglicher Ressourcen bereitstehen. Eine zweite Interventionsschicht folgt nach Fertigstellung der Netzwerkgrafik in der Nachbesprechung. Zuerst haben die Klientinnen das Wort und sollen das gewonnene Bild einschätzen und kommentieren. Dann ist es am Berater/ der Beraterin, auf Basis der fachlichen Sicht die Grafik zu kommentieren. Dabei stehen Chancen und Bedenken im Vordergrund. Es ist anzuraten, diese bildhaft einzubringen („Also wenn ich mir diese Grafik anschaue, dann hätte ich das Bedürfnis, die Mutter nicht ganz so nahe zu haben …“). Nach solchen kurzen Statements hat dann wieder die Klientin/der Klient die Möglichkeit, das zu kommentieren. So ergibt sich rasch ein Dialog über künftige Gestaltungsmöglichkeiten im Netzwerk. Ebenso werden inaktive Beziehungen thematisiert: „Also ein Vater hätte eigentlich die Verpflichtung, Sie zu unterstützen. Was hindert Sie daran, das von ihm zu verlangen?“ oder: „Sie haben ihren Onkel ganz emotional abgelehnt. Was ist geschehen, dass Sie von ihm nichts mehr wissen wollen – oder will er nichts mehr von Ihnen wissen?“ Der Reihe nach werden so mögliche Ressourcen und (auf Basis der Analyse der Netzwerkstruktur) problematische Beziehungen thematisiert und kurz besprochen. Es sollte vermieden werden, einzelnen Beziehungen dabei allzu großes Gewicht zu geben oder auf der intensiven Besprechung von Beziehungen zu beharren, wenn großer Widerstand der KlientInnen erkennbar ist. In diesem Fall reicht es, eigene Gedanken auszusprechen, aber vorerst nicht weiter auf einer Diskussion/Aushandlung zu beharren. Dies kann in späteren Sitzungen erfolgen. Eine dritte Schicht von Interventionen wäre, die Ergebnisse des NWK-Interviews in die eigene Planung von Kontakten im Umfeld der KlientInnen einzubeziehen. Möglicherweise führt das dazu, dass man die Intensität und Frequenz des Austauschs mit manchen Personen (multiplexe Beziehungen, Stars) gezielt verringert; oder dazu, dass man (in Absprache mit KlientIn) Kontakt zu Personen aufnimmt, mit denen Beziehungen inaktiv sind; oder Wege sucht, wie in schwach besetzten Sektoren (z.B. Freunde/Bekannte, kollegiale Beziehungen) sich für KlientIn neue Kontaktmöglichkeiten ergeben könnten; oder man verzichtet darauf, den Sektor professioneller HelferInnen mit weiteren Personen aufzufüllen.
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Die Profis können ihr eigenes symbolisches Kapital nützen, um Kontakt zu Personen aufzunehmen, die die Beziehung zur Ankerperson abgebrochen oder ruhend gestellt haben. Mit Verweis auf moralische Verpflichtungen, die sich aus deren Rollenposition ergeben (z.B. bei einem Vater), mit Erzählungen und Beziehungsaufbau können sie den Boden für die Reaktivierung von Beziehungen bereiten. Systematisch wird das bei Conferencing-Modellen (Familienrat) gemacht. Dabei wirkt die Triangulierung der Beziehung, die für die Ankerperson entlastend sein kann und ihr nicht die volle Last des Investments in den Wiederaufbau der Beziehung anlastet. Damit seien einige naheliegende Möglichkeiten netzwerkbezogener Arbeit im Einzelfall angedeutet. Interventionsformen darüber hinaus wären Thema für eine methodische Abhandlung. Hinweise finden sich u.a. bei Früchtel u.a. (2007) und bei Pearson (1997). Netzwerkkarte B/C Gegenstand Soziale Einbindung der Ankerperson mit dem Fokus auf Unterstützungsnetzwerke. Handhabung Das Instrument ist vielfältig anwendbar: in Fallbesprechungen, Supervisionen etc. zur Rekonstruktion der sozialen Landschaft, in der sich die KlientInnen bewegen, und zur Überprüfung der eigenen feldbezogenen Interventionsstrategien; aber auch mit Vorteil in der kooperativen Diagnostik: Die grafische Darstellung schließt an Alltagsmetaphern an (z.B. „Wer ist Ihnen nahe?“) und wird daher von den KlientInnen spontan in ihrer Logik verstanden. Trotzdem ist es sinnvoll, die KlientInnen durch die Erstellung der Netzwerkkarte zu führen. „Vergessen“ werden bei der Auflistung durch die Ankerpersonen oft lebensweltliche BeraterInnen, zu denen kein intensiverer freundschaftlicher Kontakt besteht (schwache Beziehungen), die aber trotzdem eine bedeutende Beratungsressource darstellen können. Diese Personen können durch die Frage „Mit wem haben Sie dieses Problem schon besprochen?“ oder durch Abwandlungen dieser Frage erhoben werden. In einer gemeinsamen Interpretation kann dann auch über mögliche Strategien zur Korrektur/Verbesserung des Netzes gesprochen werden – ev. ist auch die Erstellung einer SOLL-Netzwerkkarte möglich. Wirkungen Fokussierung auf das soziale Umfeld der KlientInnen und auf die Chancen zur Verbesserung des Lebensfeldes anstelle substituierender Strategien. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Kontraindikationen sind nicht bekannt. In der Anwendung bestehen bei ungeübten Personen manchmal Schwierigkeiten, tatsächlich alle relevanten und potenziell relevanten Personen zu erkennen und in die Grafik einzubeziehen. Interpretation Die Interpretation kann sowohl kooperativ mit den KlientInnen als auch im Rahmen von Fallbesprechungen erfolgen. Sie gibt Hinweise auf netzwerkbezogene Strategien der Fallbearbeitung (Netzwerk-Coaching, Netzwerkaufbau, Rückbau dominanter oder belastender/isolierender Beziehungen, Unterstützung von Unterstützern etc.).
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Einsatzmöglichkeiten der Netzwerkkarte Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Situierung im Prozess
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Ende der Startphase, möglichst vor Abschluss der mittelfristigen
Begleitung
ja
Hilfeplanung
Feldsubstitution
ja
Ecomap Die Ecomap ist eine Variante der Netzwerkkarte. Sie unterscheidet sich von ihr dadurch, dass mögliche soziale Kontakte auf einem Formular bereits vorbenannt verzeichnet sind und die KlientInnen in einer → Sitzung ihre eigene Ecomap anhand dieses Formulars erstellen können. Das hier vorgestellte Formular (Hepworth u.a. 1997: 267) ist von mir leicht abgewandelt und übersetzt worden. Die Ankerperson kann das Formular bei einer Sitzung selbst bearbeiten. Die Anweisungen lauten: 1. „Kreisen Sie zuerst alles ein, was Teil Ihres jetzigen Umfelds ist.“ 2. „Ziehen Sie nun eine Linie von Ihnen selbst zu jedem Kreis, der für Sie eine positive und starke Beziehung darstellt.“ 3. „Nun ziehen Sie eine strichlierte Linie von Ihnen zu jedem Kreis, der für Sie belastende oder negative Situationen darstellt.“ 4. „Nun ziehen Sie eine Wellenlinie zu allem, was Sie brauchen würden, das Ihnen derzeit aber nicht zur Verfügung steht.“ 5. „Sehen Sie sich nun Ihre Zeichnung an. Wie würden Sie sie zusammenfassend beschreiben? Was ziehen Sie daraus für Schlüsse?“ Damit schließt die Sequenz mit einer Interpretationsaufforderung an die Klientin/den Klienten in der üblichen Reihenfolge, wie sie auch für professionelle Interpretationsprozesse von grafischen Daten charakteristisch ist: Zuerst wird die Grafik beschrieben, dann folgt die Bewertung/Interpretation. Die Zeichnung ist Ausgangspunkt für die Diskussion der sozialen Beziehungen der KlientInnen. Die Beraterin, die die Grafik ja auch sieht, interpretiert sie vorerst still und spielt, wenn für den Fortgang der Beratung erforderlich bzw.
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Grafik 43: Ecomap nach Hepworth/Rooney/Larsen
nützlich, ihre Interpretation in das Gespräch ein. Insbesondere ist zu empfehlen, bei einer sehr negativen Interpretation durch die Klientin die vorhandenen gelingenden Beziehungen zu betonen, Möglichkeiten der Verbesserung von problematischen Beziehungen und der Aktivierung von weiteren Ressourcen anzusprechen. Ergänzend kann auch eine „SOLL“-Ecomap gezeichnet werden, ev. auf dem selben Formular unter Einsatz einer zweiten Stiftfarbe. Das oben vorgestellte Formular ist eine adaptierte Variante, die einige Einwände aus der Praxis gegenüber der Erstversion berücksichtigt. Vor allem wurde von PraktikerInnen bemängelt, dass „Eltern“ zu unspezifisch sei. Bei zahlreichen
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Personen seien die Beziehungen zur Mutter und zum Vater extrem unterschiedlich (meistens intensiver und günstiger zur Mutter). Daher wurde bei dieser neuen version zwischen Vater und Mutter unterschieden.80 Einzelne Benennungen wurden angepasst bzw. verständlicher gemacht. Die nun folgenden Ausfüllbeispiele sind noch mit einer früheren Version der Ecomap erstellt worden. Hier ein erstes Beispiel:
Grafik 44: Ausfüllbeispiel Leopold S., 24a
80 Ich bin nur zögernd auf diese Anregung eingegangen. Die Ecomap kartiert nicht die Bezie-
Netzwerkdiagnostik
Im ersten Ausfüllbeispiel zeigt sich eine in der eigenen Kleinfamilie isolierte Person, deren einziger unproblematischer Außenkontakt die Sozialarbeiterin ist. Im Ausfüllbeispiel 2 findet sich eine andere Charakteristik: Sabrina M., 27 Jahre
Grafik 45: Ausfüllbeispiel Sabrina M., 27a
Die Klientin hat keine funktionierenden Kontakte in ihrer Familie mehr und bewegt sich offensichtlich nur in einer Gruppe. Auch die Kontakte innerhalb des dritten Kreises sind wenig gestreut.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Schließlich noch ein drittes Ausfüllbeispiel:
Grafik 46: Ausfüllbeispiel Martin K., 42a
hungen zu einzelnen Personen, sondern zu allen Personen, die einen bestimmten Beziehungstypus repräsentieren. Die Funktion „Eltern“ ist nur dann intakt, wenn zu Mutter und Vater eine vorrangig auf gegenseitige Unterstützung beruhende Beziehung besteht. Ich kenne die fachlich wenig fundierte, aber verbreitete Tendenz, abgebrochene oder stark beeinträchtigte Beziehungen zum Vater für nicht weiter beachtenswert oder bearbeitenswert zu halten – und ich fürchte, dass diese Tendenz durch die separate Anführung von Mutter und Vater in der Ecomap gestützt wird: die Ambivalenz bzw. der Mangel in der Beziehung zu den Eltern scheint nicht mehr auf.
Netzwerkdiagnostik
Dieses Beispiel zeigt eine Person ohne Kontakte im näheren Umfeld, nahezu alle Kontakte sind institutionell vermittelt. Der psychisch kranke Mann ist in hohem Grade vom institutionellen Hilfssystem abhängig. Die Ecomap ist ein in den USA verbreitetes Verfahren der sozialen Diagnose (Cormier u.a. 2002: 219). Sie ist einfacher zu handhaben als die Netzwerkkarte. Von dieser unterscheidet sie sich durch die Vordefinition der Kreise (Horizonte) und der möglichen Kontaktbereiche sowie durch einen Verzicht auf die rigide Personalisierung. Die Ecomap ist im Vergleich zur Netzwerkkarte ein sehr grobes Instrument und liefert nur einen Bruchteil an Informationen. Als rasch durchzuführendes Verfahren eignet sich die Ecomap gut für den Einsatz in Beratungsprozessen, kann z.B. in mehrmonatigem Abstand mehrfach vorgelegt werden und so die Entwicklung der Netzwerkeinbindung der KlientInnen abbilden. Die Einfachheit des Instruments ermöglicht seinen Einsatz für Black-Box-Diagnostik (s. dazu Kapitel 7.8). Den KlientInnen sollte geraten werden, das Ergebnis mit einer Person aus ihrer Lebenswelt zu diskutieren – am besten mit einer isolierten (s. Netzwerkkarte). Interpretation der Ergebnisse und Schlussfolgerungen für mögliche Interventionen entsprechen weitgehend denen bei der Netzwerkkarte, wobei die Schwerpunkte ein wenig verschoben sind: Durch die deutliche Darstellung von belastenden und gewünschten Beziehungen liegt die Aufmerksamkeit rasch bei den Möglichkeiten und Hindernissen für den Aufbau funktionaler Umweltbeziehungen. Die auf dem Formular dargestellten vielen Möglichkeiten von unterstützenden Umweltkontakten können es erleichtern, mit dem Klienten auch neue Chancen für eine Ausweitung des Netzes zu diskutieren. Ecomap Typus B/C Gegenstand E.1: Einbindung in soziale Netze unter dem Aspekt der Unterstützung. Handhabung Das Formular wird von der Ankerperson selbst ausgefüllt, die Ausfüll-Anweisungen sind standardisiert (s.o.). Wirkungen Fokussierung der Beratungssequenzen auf die Struktur der Umweltbeziehungen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Kontraindikationen sind nicht bekannt, auch keine gravierenden Anwendungsprobleme.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Interpretation Eine nur oberflächliche Interpretation der Ecomap kann die Aussagekraft stark beeinträchtigen. Es werden dann nur die ohnehin von den KlientInnen in den Vordergrund gerückten Probleme wahrgenommen. Die kooperative Interpretation erfordert einige Genauigkeit auch bei der Ausdeutung der für die Grafik doch stark vereinfachten Einschätzung von Beziehungen.
Einsatzmöglichkeiten der Ecomap Einsatz Kurzberatung
ev.
Kurzintervention
ev.
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Einsatz in allen Phasen möglich
7.5 Biografische Diagnostik Die Biografie der KlientInnen spielt eine herausragende Rolle für das Verständnis der Person, ihres Selbstverständnisses, ihres Ortes in der Welt, der Erfahrungen, auf die sie zurückgreift oder die ihr Verhalten und ihre Weltsicht vorstrukturiert/ beeinflussen. Die Zugänge zu biografischen Informationen sind mannigfaltig, eine hervorragende Rolle spielen dabei Beratungstechniken, die die KlientInnen zu Narrationen über ihre Biografie ermutigen. Im Zusammenhang mit lösungsorientierten Vorgehensweisen können auch Vorerfahrungen aus Situationen selektiv abgefragt werden, die der jetzigen herausfordernden Situation ähneln.
Aus dem weiten Feld biografischer Verfahren stelle ich eines vor, das durch
seine systematische Rückbindung an die Realbiografie (im Unterschied zur Biografie als Erzählung) für einen sozialarbeiterischen Kontext besonders interessant ist. Der biografische Zeitbalken ordnet die Erzählungsbestandteile in einer Übersicht – einer mehrdimensionalen Timeline – an und fragt auch nach der genauen zeitlichen Verortung, nach dem vorerst Unerzählten. Timelines können auch zur Analyse von anderen Prozessen herangezogen werden, z.B. für Interventionsgeschichten, für organisatorische und politische Prozesse. Werden Timelines mehrdimensional angelegt, erhöht das den Erkenntniswert und die Interpretations- oder Fragemöglichkeiten beträchtlich.
Biografische Diagnostik
Biografischer Zeitbalken Bekommen wir mit der oben vorgestellten Netzwerkkarte die soziale Geografie der lebensweltlichen Einbindung der Ankerperson in den Blick, systematisiert und visualisiert der biografische Zeitbalken die Individualgeschichte in mehreren Dimensionen. Das Instrument wurde in der niederländischen Sozialpsychiatrie für das Intake entwickelt. Es bildet die wichtigsten lebensgeschichtlichen Daten entlang einer Zeitachse ab und ermöglicht die parallele Notation verschiedener Dimensionen der Biografie. Der Biografische Zeitbalken ist eine Notation, eine bestimmte im Kontext Sozialer Arbeit nützliche Art, Daten aufzuzeichnen und so einer Interpretation zugänglich zu machen. In dem Maße, wie das in Kooperation mit den KlientInnen geschieht, wird deren Eigendiagnose zur Diskussion gestellt und die Anamnese weist Merkmale eines Beratungsgesprächs auf. Besonderheiten der Diagnostik mit dem biografischen Zeitbalken: • Die Biografie wird als mehrdimensionales Geschehen aufgefasst und auch so abgebildet. • Die Darstellung auf der Timeline erfordert die Erschließung von biografischen Fakten und Daten, die nicht alle in der Erinnerung der Interviewten präsent sind. Damit verbindet das Verfahren Elemente einer aktengestützten Anamnese mit den Narrationen der Person. Die Daten kommentieren die Narration, die Narration kommentiert die Daten. • Den Narrationen wird mit der Timeline eine grafische Darstellung hinzugefügt, die neue Blicke auf die Biografie ermöglicht. Für das biografische Interview mit dem Zeitbalken stehen mehrere Möglichkeiten der Aufzeichnung zur Verfügung: • Die Eintragung der Life-Events kann auf einem großen Bogen Papier – am besten mit Bleistift, weil erfahrungsgemäß oft korrigiert werden muss – erfolgen. Vor Beginn des Interviews sollten bereits die Zeilen und die Beschriftung mit Jahreszahlen vorbereitet sein. Es gibt Vorlagen in Word und Excel, die die Erstellung der Grafik auf dem Computer ermöglichen (www.pantucek.com). Für die Handhabung im Interview ist einige Übung erforderlich, dafür ist die so entstehende Grafik schöner und leichter interpretierbar. Korrekturen können einfacher vorgenommen werden.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Am Ilse-Arlt-Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten wird derzeit an der Entwicklung eines Programms gearbeitet, mit dem die Erstellung am Computer wesentlich erleichtert werden soll. Das Programm ist eine JavaApplikation und steht in der jeweils aktuellen Version auf www.easybiograph. com zum Download zur Verfügung. Wenn eine der ersten beiden Varianten gewählt wird, treten häufig Ungenauigkeiten in der grafischen Darstellung auf, vor allem bei knapp aufeinanderfolgenden Ereignissen. Bei der Verwendung der Software ist das sehr selten, da in einer Dialogbox bei jedem Ereignis noch der genaue Zeitpunkt eingetragen werden kann. In dieser Beschreibung wird durchgehend auf die Erstellung mit der Software easyBiograph Bezug genommen. Für die Vorbereitung des Interviews gibt es zumindest zwei Möglichkeiten: 1. Interview beginnt mit leerem Blatt. 2. vor dem Interview werden von der Fachkraft bereits die aus den Akten ersichtlichen Daten eigetragen. ad 1.: Der InterviewpartnerIn81 wird das Thema des Interviews angekündigt und es wird ein Termin vereinbart. Dafür ist mindestens eine Stunde zu reservieren und die Möglichkeit eines zweiten Termins anzukündigen. Sie wird gebeten, ggf. Unterlagen mitzunehmen, die die Rekonstruktion der Biografie erleichtern können – z. B. Dokumentenmappen, Fotoalben etc. Die Interviewerin sollte ebenfalls alle Unterlagen bereitstellen, in denen Daten für die Biografie nachgeschlagen werden können. Das Interview beginnt dann i.d.R. mit den ersten Lebensjahren: Wann und wo geboren, mit wem zusammengewohnt in dieser Zeit? usw. ad 2.: Peter und Kitty Lüdtke haben bei einem Projekt in Berlin eine andere Variante erfolgreich erprobt: Vor dem Gespräch mit den KlientInnen erstellten sie auf der Basis eines ausführlichen und genauen Studiums der Akten einen Zeitbalken. 81 Ich verwende hier den Terminus „InterviewpartnerIn“, da die Erstellung eines biografischen Zeitbalkens nicht nur für KlientInnen, sondern auch für andere Personen interessant ist.
Biografische Diagnostik
Grafik 47 : Formular für Bografischen Zeitbalken (Ausschnitt)
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Dieser wurde dann den KlientInnen vorgelegt. Die KlientInnen ergänzen, kommentieren und korrigieren die Eintragungen. Der Vorteil dieser Vorgangsweise ist, dass die SozialarbeiterInnen sich im Vorfeld bereits mit der Vorgeschichte (ihren Lücken, ihrem organisationsbedingten Bias) beschäftigen und gegenüber den KlientInnen dann das Bild offenlegen, das die Organisationen von ihnen produziert haben. Diese Inszenierung entspricht den Kriterien eines offenen und respektvollen Vorgehens, da die SozialarbeiterInnen nicht so tun, als hätten sie (und die Organisation) kein Vorwissen. Ein weiterer Vorzug ist die Abkürzung des Verfahrens im KlientInnenkontakt und die Möglichkeit, schneller auf Wesentliches einzugehen. Ereignisse werden mit einer senkrechten Linie markiert, Zeiträume mit einem Balken. Zur leichteren Verortung der Ereignisse sind unter der Altersspalte die Jahreszahlen eingetragen. • Interviewhinweise Das Interview sollte sich eng an der Aufgabe der Erstellung der Timeline ausrichten. Sie steht im Vordergrund und gesprochen wird stets mit Bezug auf die Grafik. Der Blick der Interviewerin wechselt stetig von der Interviewten zur Grafik und wieder zurück. Das Ziel des Interviews ist die Erstellung eines möglichst vollständigen biografischen Zeitbalkens. Während des Interviews werden von den Interviewten i.d.R. Erzählungen mitgeliefert. Diese Narrative sind interessant und werfen Themen auf, die allerdings nicht im Rahmen des biografischen Interviews ausführlich behandelt werden sollen. Es empfiehlt sich, dafür Interesse zu zeigen, dann aber wieder relativ bald auf das Instrument zu fokussieren. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Faktenfokussierung unterlaufen wird und ein Abschluss der Zeitbalkenerstellung in weite Ferne rückt. Soweit nur irgend möglich sollte die Terminisierung der biografischen Ereignisse genau erfolgen. In der Regel reicht dafür die Erinnerung der interviewten Personen nicht aus, sondern müssen Recherchen erfolgen bzw. Dokumente herangezogen werden. Die Genauigkeit der Darstellung hat daher Vorrang vor einem raschen Abschluss des Verfahrens. Gegebenenfalls ist daher ein zweiter Interviewtermin anzusetzen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Termin kann die Erzählerin bzw. der Erzähler recherchieren und Dokumente zu Rate ziehen. Manchmal ergeben sich so wesentliche Ergänzungen und Korrekturen
Biografische Diagnostik
zur erinnerten Geschichte. Wie auch in anderen Gesprächssituationen wird das Interesse am realen Ablauf von den KlientInnen kaum jemals als mangelnder Respekt empfunden, sondern eher als Ausdruck von Anerkennung und ehrlichem Interesse. In den Kommentaren sollte die Interviewerin dosiert Anteilnahme ausdrücken („Das muss eine sehr schwierige Zeit für Sie gewesen sein“), dann aber immer wieder loben bzw. Anerkennung aussprechen („Trotz der Trennung der Eltern ist es Ihnen gelungen, die Schule ohne Verzögerung abzuschließen! Wie haben Sie das geschafft?“; „In dieser Lebensphase hatten Sie ja viele Schicksalsschläge auszuhalten! Wie ist Ihnen das gelungen?“). Detailliertere Hinweise für die Interviewführung finden Sie auf www.pantucek.com. • Dimension Familie In der Dimension Familie werden alle Ereignisse eingetragen, die das familiäre Setting verändern: Geburt und Tod wichtiger Bezugspersonen, Partnerschaften, Heirat und Trennung der Eltern etc. • Dimension Wohnen In der Dimension Wohnen werden Änderungen im Wohnsetting erfasst. Das Setting ändert sich nicht nur durch Umzug, sondern auch dadurch, dass Personen den Haushalt verlassen (z.B. Auszug von Geschwistern oder eines Elternteils) oder neu dazukommen (z.B. Geburt von Geschwistern). Einzutragen ist also nicht nur der Wohnort, sondern auch die weiteren Personen im Haushalt. • Dimension Bildung In dieser Dimension werden vom Kindergarten über die Schulausbildung bis zu Studium oder Berufsausbildungen alle Bildungsaktivitäten erfasst. • Dimension Arbeit Die Arbeitskarriere umfasst alle bezahlten Tätigkeiten und Arbeitsplatzwechsel, auch jene in der Firma.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
• Dimension Gesundheit In der Zeile Gesundheit werden (auch vorübergehende) Krankheiten bzw. Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Funktionsfähigkeit dargestellt. • Dimension Behandlung/Hilfe Die Zeile Behandlung/Hilfe dient der Darstellung nennenswerter medizinischer, sozialarbeiterischer, psychotherapeutischer und ähnlicher Hilfe. Längere stationäre Aufenthalte erscheinen auch in der Dimension „Wohnen“. • Dimension „Sonstiges“ und unbenannte Zeile Neben den sechs obligatorischen Zeilen können dem Kontext entsprechend noch ein bis zwei weitere Zeilen hinzugefügt werden. Die Zeile „Sonstiges“ dient vorerst dazu, biografisch wichtige Ereignisse aufzunehmen, die nicht in die obligatorischen Zeilen passen. Hier können z.B. gravierende Umweltereignisse verzeichnet werden (Kriege, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen, politische Umbrüche). Bei Personen, die in der DDR aufgewachsen sind, haben z.B. die Maueröffnung und der Zusammenbruch der DDR als Staat 1989–1990 die Rahmenbedingungen der Biografie wesentlich verändert. Für Personen, die in Jugoslawien geboren wurden, waren es die Balkankriege in den 1990er-Jahren. Es wird empfohlen, solche Umbrüche jedenfalls einzutragen. Sie sind für eine angemessene Interpretation der Biografie unerlässlich. Die Software easyBiograph ermöglicht die freie Editierbarkeit der Beschriftung der letzten beiden Zeilen. So können biografische Dimensionen hinzugefügt werden, die für die Person oder in diesem Kontext bedeutend sind. Zum Beispiel wird in Settings wie der Bewährungshilfe eine Zeile für „Delinquenz“ zu reservieren sein. Bei Personen, in deren Leben das ehrenamtliche Engagement (z.B. in der Lokalpolitik und in zivilgesellschaftlichen Organisationen), eine künstlerische oder sportliche Betätigung eine Rolle spielt, wird man dafür eine Zeile zur Verfügung stellen. So ist abgesichert, dass neben den für alle Menschen wichtigen biografischen Dimensionen auch frei gewählte und subjektiv bedeutsame Sinnwelten abgebildet werden. Es folgen nun einige relativ einfache Beispiele.
Biografische Diagnostik Grafik 48: Ausfüllbeispiel 1 Biografischer Zeitbalken
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Das erste Beispiel zeigt den Lebenslauf einer jetzt 24-jährigen Frau. Die Dimensionen Familie, Wohnen und Bildungskarriere zeigen eine lineare Entwicklung ohne dramatische Brüche – sieht man von der Trennung der Eltern im 12. Lebensjahr und dem Verbleib beim Vater ab. Die Arbeitskarriere verläuft allerdings unerwartet: es gelingt keine Berufsfindung, der Substanzenkonsum spielt eine wichtige Rolle. Der Autor des zweiten Zeitbalkens hat die ereignisreichen letzten Monate einigermaßen genau dargestellt. Für Herrn Steirer, der sich lange gut halten konnte, war seine inzwischen fünfte Periode der Arbeitslosigkeit der Beginn einer krisenhaften Entwicklung. Nach einer neuerlichen Umschulung erreicht er nur mehr eine Position als Leasingarbeitskraft, praktisch zeitgleich setzt ein depressiver Schub ein, der seine Situation nicht nur zu einem Fall für das Arbeitsmarktservice, was ja schon seit seinem 20. Lebensjahr immer wieder vorkam, sondern zu einem (psychiatrischen) Fall für das Gesundheits- und Sozialwesen macht. Nun ein Versuch der kurzen Interpretation des Zeitbalkenbeispiels 2: Trotz einiger Belastungen in der Kindheit (Trennung der Eltern bei Schuleintritt, Krankheit der Mutter und deren Verlust im Alter von 9 Jahren) gelingt dem jungen Hannes Steirer eine normale Ausbildungskarriere. Probleme ergeben sich erst am Ende der Lehrzeit, die er zwar abschließen kann, die Lehrabschlussprüfung absolviert er aber nicht mehr erfolgreich. Dies könnte mit dem neuerlichen Verlust seiner nächsten Bezugspersonen, nun den Großeltern, zusammenhängen. Seine Selbstständigkeit beginnt jedenfalls mit einem Misserfolg. Es folgt eine lange Periode der Stagnation. Herr Steirer hat keine nahen Verwandten mehr, er kann aber auch nicht einmal kurzfristig eine Partnerschaft aufbauen und lebt nunmehr seit 19 Jahren allein. Die Phasen seiner Berufstätigkeit sind immer wieder durch Phasen der Arbeitslosigkeit unterbrochen. Am erfolgreichsten war er als Einrichtungsberater, eine Tätigkeit die er immerhin fast 8 Jahre ausüben konnte, bis er wieder vorläufig endgültig arbeitslos wurde. Die jetzige Situation ist vergleichbar mit seiner Krise 1998, als ein Bandscheibenleiden seine Karriere als Berufskraftfahrer beendet hatte. Tatsächlich folgte damals eine längere Periode vorerst der Arbeitslosigkeit und dann wechselnder kurzfristiger niedrig qualifizierter Arbeiten. Erst der erste Kurs des Arbeitsmarktservice eröffnete ihm neue Perspektiven, deren nunmehriger Zusammenbruch den Ausbruch von Depressionen im Gefolge hatte. Nun scheint Herr Steirer aus dem ersten Arbeitsmarkt herauszufallen und er wird zur Annahme von → In-
Biografische Diagnostik Grafik 49: Ausfüllbeispiel 2 Biografischer Zeitbalken
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
klusionssubstituten gedrängt. Die jetzige Krisensituation unterscheidet sich von jener vor 14 Jahren durch zwei gewichtige Faktoren: Herr Steirer ist älter geworden und die neuerliche Qualifizierung hatte keinen zählbaren Erfolg, vielmehr häufen sich die demütigenden Erlebnisse am Arbeitsmarkt. Der Ausbruch der Depression scheint also in seiner Biografie nahezu logisch positioniert. Noch wehrt sich Herr Steirer dagegen, ganz in die Substitutwelt des Sozial- und Gesundheitswesens „eingesaugt“ zu werden. Einen Arbeitsplatz in einem Beschäftigungsprojekt für Haftentlassene und psychisch Kranke hat er empört abgelehnt und wurde dafür mit Entzug der finanziellen Unterstützung durch das Arbeitsmarktservice bestraft. Die Analyse des Zeitbalkens lässt folgende Interventionsmöglichkeiten erkennbar werden: • Beratung: Verweis auf die Ähnlichkeiten mit der Situation nach der Bandscheibenoperation. Wie ist es ihm damals gelungen, die schwierige Zeit durchzustehen? Was lässt sich daraus für die jetzige Situation lernen? • Beratung: Einsatz der Netzwerkkarte als kooperativ-diagnostisches Instrument, um Möglichkeiten eines Netzwerkaufbaus aufzuspüren. • Beratung: Thematisierung der lebensgeschichtlichen Situation mit Fokus auf die aktuelle Krise und die unsicheren Zukunftsaussichten. Ist die Zeichnung des Zeitbalkens mit der nötigen Genauigkeit abgeschlossen, kann die Analyse wie folgt durchgeführt werden: • Durchsicht der einzelnen Dimensionen der Biografie: Wodurch sind sie gekennzeichnet? Was unterscheidet sie von „normalen“ oder erwartbaren Biografieverläufen? Unter „Normalität“ ist hier nicht eine gesellschaftliche Normalität gemeint, sondern die subjektive und aus dem sozialen Ort erwachsende Normalität der Perspektive und der erwartbaren Erwartungen der Ankerperson. Im vorliegenden Beispiel finden wir solche Brüche im Kindheits- und Jugendalter in der Dimension Familie und im Erwachsenenalter in der Dimension Arbeit. • Aufmerksamkeit auf die Leerräume im Zeitbalken: Nicht nur eingetretene Ereignisse, sondern auch nicht-eingetretene Ereignisse sind mitunter prägende biografische Erfahrungen. (Hier: das völlige Fehlen von Partnerschaften und die Phasen von Arbeitslosigkeit.)
Biografische Diagnostik
• Aufspüren von zeitlichen Zusammenhängen: Sind Ereignisse in einer Dimension von Ereignissen in anderen Dimensionen zeitlich nahe begleitet? Andererseits aber auch: Was war kontinuierlich, obwohl in anderen Dimensionen sich die Ereignisse überstürzten? (Hier: die beachtenswerte Kontinuität der Schulkarriere trotz dramatischer Entwicklungen im engsten familiären Umfeld.) • Einschätzung der aktuellen Situation im lebensgeschichtlichen Kontext: Hat es ähnliche Situationen schon einmal gegeben? Was ist an ihr völlig neu? Ähnlichkeiten verweisen auf Erfahrungen mit der Bewältigung schwieriger Situationen, Neues auf die Notwendigkeit der Beschäftigung mit den Coping-Strategien. Wie bei allen „bildgebenden Verfahren“ der Diagnostik lohnt sich die Mühe der Grafikerstellung nur dann, wenn man sich in der Interpretation auf die Grafik einlässt, auf ihre Darstellungslogik, ihre Anordnung der Fakten, ihre Möglichkeiten des Sichtbarmachens von Zusammenhängen bei gleichzeitigem Ausblenden anderer möglicher Zusammenhänge. Erstellung und Interpretation des biografischen Zeitbalkens müssen gelernt und geübt werden, dann kann er zu einem Instrument werden, das wertvolle Hinweise für die Interventionsplanung gibt. Dies gilt vor allem in Kombination mit der Netzwerkkarte. In der Arbeit mit den beiden Instrumenten zeigte sich, dass in manchen Fällen der Zeitbalken, in anderen die Netzwerkkarte entscheidende Hinweise für die Interventionsplanung gab und dass vor Anwendung der Instrumente nicht vorauszusagen war, welches produktiver sein würde. Dies ist auch ein Beleg dafür, dass beide Instrumente nicht nur bereits Bekanntes neu/anders darstellen, sondern wirklich zu neuen Erkenntnissen über den Fall führen können. Sie sind damit mehr als bloße Notationssysteme.
Biografischer Zeitbalken Typus B/C Gegenstand übersichtliche Darstellung der Biografie des Klienten Handhabung Kooperative Erstellung (zumindest in Skizzenform) im Beratungssetting.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Wirkungen Ordnung der biografischen Erzählung des Klienten, Sichtbarmachen von Brüchen, ähnlichen Lebenssituationen. Bietet relativ reichhaltiges Material zur Thematisierung der Erfahrungen. Oft Intensivierung der Beratungsbeziehung. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Führt vorerst einmal weg von den aktuellen Problemen, kann „Schwere“ in den Prozess bringen ; daher muss nach kooperativem Einsatz des Instruments wieder aktiv der Bezug zum Jetzt hergestellt werden. Kein Einsatz bei kürzeren unterstützenden Beziehungen. Interpretation Kooperativ : unter Hinweis auf bestimmte biografische Phasen oder Ereignisse : Ansprechen der Erfahrungen des Klienten. Expertendiagnose : Erarbeiten von Hypothesen aufgrund des genauen Studiums der Grafik, ev. in Intervision. Kommunikative Validierung erforderlich – Hypothesen sollten in den Beratungsprozess ausdrücklich eingespielt werden.
Einsatzmöglichkeiten des Biografischen Zeitbalkens Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Gegen Ende der Startphase, sonst immer bei geringerer Dynamik des Prozesses möglich. Nur einmal in einem Prozess erstellen.
7.6 Lebenslagendiagnostik Lebenslagendiagnostik versucht unter vorübergehendem Absehen vom präsentierten Problem die Lebenslage der KlientInnen in einem Überblick zu erfassen. Dieser Überblick ist nötig, um • angesichts der Konzentration auf das präsentierte Problem nicht aktuelle Gefahren zu übersehen, die Handeln erforderlich machen. • Möglichkeiten für „dezentriertes“ Handeln aufzuspüren, also Interventionen und Aktivitäten, die das Problem nicht direkt, sondern indirekt angehen.
Lebenslagendiagnostik
Zum Standard bei Dokumentationssystemen in der Sozialarbeit gehört die Ermittlung der materiellen Bedingungen des Lebens (Einkommen, Schulden, Wohnsituation, Unterhaltsansprüche und -verpflichtungen) und einiger anderer die Handlungsmöglichkeiten strukturierender Parameter (Important Others, Familienstand, Qualifikation, Arbeitsverhältnisse, körperliche und psychische Bedingungen, Vorstrafen, Abhängigkeiten etc.). Mit der Darstellung dieser Daten wird die Lebenssituation der KlientInnen insgesamt in den Blick genommen, diese Daten ermöglichen die Anpassung der Interventionsstrategien an die Möglichkeiten der Betroffenen und können Gefahren sichtbar machen. Mit dem Inklusions-Chart, das hier in der bereits dritten Version vorgestellt wird, wurde ein Instrument entwickelt, mit dem die wesentlichsten Daten zur Lebenslage der KlientInnen eingeschätzt und zur Grundlage eines gut ausgewiesenen Interventionsdesigns gemacht werden können. In einer Abwandlung des IC für die speziellen Bedürfnisse arbeitsmarktbezogener Arbeit wurde von Prospect das integrachart® entwickelt, das sich im Praxiseinsatz ebenfalls bewährt hat und hier kurz vorgestellt wird.
Inklusions-Chart (IC3) Das IC3 ist ein Instrument der Sozialen Diagnostik, das sich inzwischen zu einem kompakten Klassifikationssystem für wesentliche Komponenten der Lebenslage entwickelt hat. Die Achsen kartografieren drei relativ selbstständige Perspektiven und Interventionsräume der Sozialen Arbeit. Es wird jeweils ein allgemeiner Maßstab für das Ausmaß der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Austausch angewendet. Das IC3 ist somit für eine kompakte Diagnostik der Lebenslage als Ausgangspunkt für Hilfeplanung gut geeignet. Gleichzeitig eröffnet es die Möglichkeit aussagekräftiger statistischer Auswertungen, die Aussagen über die Lage von Zielgruppen Sozialer Arbeit und über größerräumige Exklusionsprozesse zulassen. Es bildet so auch menschenrechtrelevante Parameter ab.
Vorbemerkungen zur 3. Version Das Inklusions-Chart (IC) liegt nunmehr in seiner 3. Version vor. Seit seiner Erstveröffentlichung 2005 wurde es einmal wesentlich erweitert (IC2). Die neue Version enthält eine Reihe kleinerer Anpassungen, die Resultat eines Forschungs-
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
und Entwicklungsprozesses sind, der 2010/11 an der FH St. Pölten in Zusammenarbeit mit einigen Praxisorganisationen stattfand. Unter der Leitung von Peter Pantuček und Sabine Sommer waren Sabine Grünzweil, Marlene Paul, Verena Rameseder und Corinna Sattler als Forscherinnen beteiligt. Das Team begleitete den Einsatz des Verfahrens in Organisationen der Suchthilfe, der Sachwalterschaft (entspricht in D: Betreuung) und einem Jugendamt, beobachtete Anwendungsprobleme und erarbeitete Lösungsvorschläge. In Laborinterviews wurde der Interviewverlauf beobachtet, aufgezeichnet und ausgewertet. Für das gesamte Chart wurde die Nomenklatur überarbeitet. In Anlehnung an Klassifikationssysteme wird nun von drei Achsen gesprochen, deren jede mehrere Dimensionen abbildet. Die wesentlichen Änderungen gegenüber dem IC2 auf Achse 1: • Von einer 5er-Skala wurde bei Achse 1 auf eine 4er-Skala gewechselt. Die frühere Option „dauerhaft exkludiert“ hatte sich als nicht trennscharf erwiesen. • Die Bezeichnung der Skalenstufe 3 wurde von „teilweise“ auf „mangelhaft“ geändert. Der Abstand zur Stufe 2 („weitgehend“) wurde damit deutlicher. • Die Tendenz wird nunmehr nicht mit einem Minus- oder Plus-Zeichen symbolisiert, sondern durch einen nach unten oder oben weisenden Pfeil. In der Titelzeile wurde in Klammer der Begriff „Dynamik“ erklärend beigefügt. Der beim IC2 häufig aufgetretene Anwendungsfehler, dass anstelle der aktuellen Dynamik die subjektive Bewertung verzeichnet wurde, tritt seither kaum mehr auf. • Schließlich wurde noch die Spalte „Kennzeichen“ in „Informationen (Daten/ Fakten)“ umbenannt. • Der Faktor „Information“ wurde in „Medien“ umbenannt. Damit soll deutlicher werden, dass es hier um die Chance der Personen geht, Medien für die Informationsgewinnung zu nutzen. • Der Faktor „Gesundheitswesen“ wurde in „medizinische Versorgung“ umbenannt. Der verhältnismäßig häufig auftretende Fehler, hier nicht den Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens, sondern die Gesundheit der Personen zu beurteilen, soll so minimiert werden. Änderungen auf Achse 2:
Lebenslagendiagnostik
• Änderung der Bezeichnung der Skalenstufen • analoge Änderung bei der Tendenz-Spalte und der Informationen-Spalte Änderungen auf Achse 3: • analoge Änderungen bei Spaltenbezeichnungen • Der Faktor „Bildung/Wissen“ wurde in „Kompetenzen“ umbenannt und sollte nun weniger dazu verführen, einmal formal erworbene Qualifikationen höher zu gewichten als die aktuell verfügbaren Kompetenzen. Weitere Änderungen: • Das Manual wurde überarbeitet. • Für alle Faktoren steht nun eine Definition der jeweils besten Stufe bereit („volle Inklusion“, „adäquate Existenzsicherung“ bzw. „sehr gute Funktionsfähigkeit“). Es ist zu beachten, dass diese Definitionen für europäische Gesellschaften des beginnenden 2. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts kalibriert sind. Je nach Anwendungsort und Anwendungszeit können die Leistungen der Funktionssysteme und damit die Kennzeichen voller Inklusion wesentlich variieren. • Dem Wunsch von AnwenderInnen, auch für die Zwischenstufen der Skalierung Definitionen zur Verfügung zu stellen, konnte nicht entsprochen werden. Dafür sind die möglichen Varianten von Teilinklusionen bzw. Teilexklusionen zu vielfältig. Auf den nächsten Seiten wird das Formular vorgestellt, danach folgt ein ausführliches Manual.
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voll
Grafik 50: IC3-Formular, Achse 1
I. lebensweltl. Support
H. Kommunikation
G. medizinische Versorgung
F. Medien
E. Bildungswesen
D. Mobilität
C. Geldverkehr
B. Sozialversicherung
A. Arbeitsmarkt
1. Funktionssysteme
Presenting Problem
KlientIn: Name, Alter
Inkludierungsgrad weitgehend
Inklusions-Chart (IC3)
mangelhaft
= !!
Tendenz (Dynamik)
Informationen
(Daten und Fakten)
erstellt von:
Intervention
(laufend und geplant)
erstellt am:
242 Ausgewählte Diagnoseinstrumente
exkludiert
mangelhaft
mangelhaft
weitgehend Einschätzung nach GAF-Scale
0
0
0
Substitution in %
eingeschränkt
adäquat
sehr gut
= !!
Tendenz (Dynamik)
= !!
Grafik 51: IC3-Formular, Achsen 2 und 3
aktuell
Informationen (Daten und Fakten)
Informationen (Daten und Fakten)
Maximum Jahr
Formular © peter pantucek 2005-2012. Verwendung unter Beibehaltung des Copyright-Hinweises frei.
D. Funktionsniveau
C. Sorgepflichten
B. Kompetenzen
A. Gesundheit
3. Funktionsfähigkeit
C. Sicherheit
B. Lebensmittel
A. Wohnen
2. Existenzsicherung
nicht gewährl. gefährdend
Tendenz (Dynamik)
Intervention
Intervention
Lebenslagendiagnostik 243
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Achse 1: Funktionssysteme Achse 1: Inklusion/Exklusion Die Möglichkeit, die Ressourcen der Gesellschaft zu nutzen, kann als Inklusion/ Exklusion in die Kommunikation von Funktionssystemen beschrieben werden, wie dies Luhmann, Baecker und Uecker getan haben. Castel, ohne den Begriff „Inklusion“ zu verwenden, verwies darauf, dass die Zuteilung von Leistungen und Chancen zunehmend nicht mehr in Ansehung der Person, sondern auf Basis von Datensätzen erfolgt. In diesem Zusammenhang ist der Terminus „Soziale Adresse“ hilfreich. Die soziale Adresse besteht aus den in einer Organisation vorhandenen Daten, die mit dem Namen der Person verknüpft sind. Ein intakter Datensatz macht die Person im System sichtbar und ermöglicht dem System die Adressierung. Eine defekte Adresse (z.B. für das Finanzwesen mangelhafte Kreditrückzahlung) schränkt die Adressierbarkeit ein oder umgekehrt: hindert die Personen daran, die Leistungen des Systems zu nutzen, die anderen sehr wohl zur Verfügung stehen. Eine intakte soziale Adresse ist die Voraussetzung, aber keine hinreichende Bedingung dafür, dass Personen die Leistungen der Funktionssysteme nutzen können. Es kann auch andere Gründe geben, dass Personen ihre Teilhabe-Chancen nicht nutzen, z.B. können Personen die nötigen Informationen über ihre Möglichkeiten fehlen, lebensweltliche Bedingungen können sie von der Nutzung abhalten. Soziale Arbeit ist einerseits der Versuch, soziale Adressen zu reparieren (Uecker), andererseits versucht sie die personalen Bedingungen zu beeinflussen, sodass Personen vorhandene Teilhabechancen besser wahrnehmen können. Auf der Achse 1 wird dieses Verhältnis auf neun Dimensionen kartografiert und damit ein sehr großer Bereich sozialarbeiterischer Tätigkeiten und Beeinflussungs-Chancen erfasst. Für eine korrekte Anwendung des Instruments ist eine Kenntnis aller theoretischen Bezüge nicht erforderlich. Das Chart zählt einige wichtige Funktionssysteme auf. Die Inklusion/Exklusion der KlientInnen wird auf einer 4-stufigen Skala anhand von Fakten und Indizien beurteilt. Zu beachten ist: Der Grad der Inklusion hängt ab
Lebenslagendiagnostik
1. von der Mechanik des Systems, 2. von den subjektiven Bedingungen und Merkmalen der Person. Es kann sowohl im System bedingte Gründe für einen Ausschluss geben als auch in der Person liegende. Manchmal bedingen diese beiden Faktoren einander (z.B. wenn die Hochschwelligkeit beim Zugang zu Bildungsangeboten eine besonders hohe Motivation erfordern würde, die die Ankerperson dzt. nicht aufbringt). Eine Inklusion könnte sowohl durch eine Senkung der Schwellen als auch durch eine Erhöhung der Motivation der Person erreicht werden. Die „freiwillige Exklusion“ aus einem oder mehreren Funktionssystemen kann Teil eines selbstgewählten Lebensstils sein. Im Chart wird daher nur die faktische Inklusion/Exklusion bewertet, ohne dass eine „Schuldzuweisung“ erforderlich ist – und die volle Inklusion/Teilhabe ist nicht automatisch Ziel der Unterstützungsarbeit. Kartografiert wird die Ausgangsposition. Die Ziele sind und bleiben Gegenstand des Dialogs zwischen KlientInnen und UnterstützerInnen (SozialarbeiterInnen, Case-ManagerInnen). Die Auswahl der Funktionssysteme erfolgte pragmatisch. Das Sozialwesen wurde mit Ausnahme der obligatorischen Sozialversicherung ausgeklammert, denn es erfüllt eine subsidiäre bzw. kompensatorische Funktion. Es ist per definitionem nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen zugänglich, sondern nur für jene, die das Merkmal der „Bedürftigkeit“ aufweisen. Eine Inklusion beim Sozialwesen setzt anderweitige Exklusion voraus.82 Es lässt sich auch darüber streiten, ob „Arbeitsmarkt“ ein Funktionssystem darstellt. Die beteiligten Funktionssysteme sind jenes der Wirtschaft, aber auch das der öffentlichen Verwaltung und der zivilgesellschaftlichen Organisationen. Für Individuen, die versuchen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, erscheint allerdings der „Markt“ der Stellenangebote als ein Kompositum, in dem sie sich zu bewegen haben und auf dem sie ihre Chancen suchen müssen. Arbeitsrechtliche Regelungen (Gesetze, Kollektivverträge etc.) strukturieren diesen Markt. Auch hier scheint uns daher trotz einer möglichen theoretischen Unsauberkeit die Behandlung des Arbeitsmarkts als (Funktions-)System als nicht nur vertretbar, sondern auch sinnvoll.
82 Umgekehrt werden aber nicht nur ansonsten Inkludierte von den Leistungen des Sozialwesens ausgeschlossen, sondern auch Personen, die von besonders umfassender Exklusion betroffen sind. Dies trifft zum Beispiel Personen ohne legalen Aufenthaltsstatus.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Genau genommen passt „lebensweltlicher Support“ ebenfalls nicht in die Liste, weil wir es dabei nicht mit einem Funktionssystem zu tun haben. Wie Heiko Kleve richtig festgestellt hat (2004: 176ff), müsste hier richtiger von „Integration“ gesprochen werden. Für die genaue Erhebung dieser Dimension stehen als sozialdiagnostische Verfahren z.B. die Netzwerkkarte, die Ecomap oder das P3S (Personal Social Support Survey; Pearson 1997) zur Verfügung. Im IC2 wird, um keine praktisch wenig relevanten Komplizierungen in den Bogen einzuschreiben, über diese theoretisch-terminologische Ungenauigkeit hinweggesehen. Vor einem ähnlichen Problem der Integration lebensweltlicher Unterstützung in die klassifikatorische Systematik standen übrigens die Autoren des PIE. In dessen zweiter Achse, den Umweltbedingungen, wurde erst in einem zweiten Schritt die Komponente „System emotionaler Unterstützung“ eingefügt, die auf einen ähnlichen Bereich zielt. Für das Inklusions-Chart wurde allerdings nicht auf einen Inhalt (emotionale Unterstützung), sondern auf strukturelle Merkmale zurückgegriffen. Lebensweltlicher Support umfasst keineswegs (nur) emotionale Unterstützung, sondern oft auch handgreifliche und materielle Hilfeleistungen. Der Unterschied zu den Leistungen, die die Funktionssysteme erbringen, liegt darin, dass es sich hier um Person-Person-Beziehungen handelt.
Hinweise zur Skalierung: Relevant ist jeweils der faktische Status, egal wie er zustande gekommen ist. In jeder Dimension kann fehlende Teilhabe z.B. selbst gewählt sein. Auch Selbstexklusion ist Exklusion und wird als solche vorerst einmal im Inklusions-Chart vermerkt. Es wird empfohlen, zuerst bei allen Achsen und sämtlichen Dimensionen den Status quo zu erheben (also alle Spalten inklusive der Fakten-Spalte auszufüllen), und sich erst nach Abschluss dieser Erhebung mit der Frage, wo Interventionen gesetzt werden sollen, zu beschäftigen.
1.A. Arbeitsmarkt Eine volle Inklusion in das System Arbeitsmarkt heißt, dass die Person erfolgreich ihrer Qualifikation und ihren Fähigkeiten adäquate Arbeit (auch: selbstständige Arbeit) finden und halten kann, mit deren Ertrag der Lebensunterhalt angemessen finanziert werden kann (bzw.: könnte).
Lebenslagendiagnostik
Exkludiert ist eine Person, wenn sie keine legale bezahlte Arbeit finden oder annehmen und/oder ihren Lebensunterhalt auch nicht teilweise arbeitsbasiert finanzieren kann; oder sie verzichtet darauf, eine bezahlte Arbeit zu suchen, da sie ihren Lebensunterhalt anderweitig finanziert (z.B. durch eine Pension, durch informelle/illegale Arbeitsverhältnisse). Zwischenstufen ergeben sich, wenn zumindest eine der Bedingungen von Vollinklusion nicht gegeben ist (z.B. bei prekären Arbeitsverhältnissen, Inklusion auf dem zweiten Arbeitsmarkt, unzureichender Bezahlung, die den Lebensunterhalt nur dürftig oder gar nicht abdeckt).
1.B. Sozialversicherung Das Sozialversicherungssystem ist eine gesellschaftliche Infrastruktur zur Absicherung von Lebensrisiken. Voll inkludiert in das System der Sozialversicherung ist eine Person, wenn sie auf Basis eigener Leistungen selbst versichert ist und sämtliche Leistungen der Sozialversicherung, wie sie dem Ausbau des Systems der Sozialversicherung im jeweiligen Land entspricht, im Bedarfsfall in Anspruch nehmen kann (Krankenversicherung, Pensionsversicherung, Arbeitslosenversicherung etc.). Exklusion: Keine bestehende Sozialversicherung. Zwischenstufen ergeben sich z.B. bei Mitversicherung, die einen eingeschränkten Leistungsanspruch zur Folge hat; beim aktuellen Fehlen von Pensionsversicherung etc.
1.C. Geldverkehr Voll inkludiert in das System des Geldverkehrs ist eine Person, wenn sie Konten eröffnen, von diesen in vollem Umfang Geld beheben kann, wie dies dem Ausbau der Leistungen des Systems im jeweiligen Land entspricht (auch über Geldautomaten und andere Formen bargeldlosen Zahlungsverkehrs) und wenn sie kreditwürdig ist. Exkludiert ist eine Person, die kein Bankkonto besitzt oder keinen Zugriff auf ihre Konten hat und die keinen Kredit erhalten kann. Zwischenstufen: Einzelne Möglichkeiten fehlen, der Zugriff auf das Konto ist beschränkt, von der Zustimmung Dritter abhängig, oder es kann kein Kredit in Anspruch genommen werden.
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In dieser Dimension wird NICHT eingeschätzt, wie viel oder wenig Geld die Person zur Verfügung hat. Allerdings sind Einschränkungen der Nutzungsmöglichkeiten oft Resultat von zu niedrigem oder unregelmäßigem Einkommen, von Schulden etc.
1.D. Mobilität Volle Inklusion meint die Möglichkeit, sich frei zu bewegen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder eigenen Fahrzeugen in vertretbarer Zeit und zu einem leistbaren Preis alle für die Erledigung alltagswichtiger Angelegenheiten und für die Erfüllung darüber hinausgehender Bedürfnisse (Erholung, Kultur, Gesundheitspflege, soziale Kontakte) erforderlichen Orte, Institutionen und Personen zu erreichen. Die Person nutzt diese Möglichkeit auch. Exkludiert sind Personen, die in ihrer körperlichen Mobilität eingeschränkt sind, denen kein adäquates Verkehrsmittel zur Verfügung und/oder die ohne fremde Hilfe zahlreiche nötige und gewünschte Wege nicht zurücklegen können. Es ist ihnen nicht möglich, das durch den Einsatz ausreichend vorhandener Geldmittel zu kompensieren.
1.E. Bildungswesen Ins Bildungswesen voll inkludiert zu sein heißt, Zugang zu Angeboten der Bildung, Ausbildung, beruflichen und außerberuflichen Weiterbildung zur Erweiterung oder Aktualisierung des Wissensstandes und der Fähigkeiten zu haben, darüber ggf. auch Zertifikate oder andere Bescheinigungen erhalten zu können und die Angebote, auch abgestimmt mit dem eigenen Lebensplan und den eigenen Bedürfnissen, zu nutzen. Exkludiert sind Personen, die keinen Zugang zu Angeboten der Bildung, Ausbildung und Weiterbildung haben oder die einen (eingeschränkten) Zugang hätten, diesen aber nicht nutzen.
1.F. Medien Inklusion heißt, Zugang zu Medien (Zeitungen/Zeitschriften, Radio, Fernsehen, Internet) zu haben, über die Informationen verbreitet werden, die für die eigene Lebensführung, für die Kommunikation mit dem sozialen Umfeld oder für
Lebenslagendiagnostik
die Lebensplanung relevant sind; heißt: diesen Zugang auch gezielt zu nutzen und die Informationen entschlüsseln und in ihrer Bedeutung für die eigene Lebensführung einschätzen zu können. Exkludiert sind Personen, die keinen Zugang zu Medien haben, diese nicht nutzen oder in Bezug auf ihre Lebensführung nicht entschlüsseln oder richtig interpretieren können. Zwischenstufen ergeben sich, wenn Personen Medien nur eingeschränkt nutzen können, ihnen die Kompetenzen zur gezielten Nutzung tw. fehlen oder sie Schwierigkeiten haben, ohne Unterstützung die für sie passenden Informationen aufzufinden.
1.G. medizinische Versorgung Volle Inklusion in das System der medizinischen Versorgung ist gegeben, wenn die Leistungen der Medizin und der medizinischen und Pflegeberufe auf dem Niveau der Zeit zugänglich und leistbar sind, wenn im Bedarfsfalle diese Möglichkeit auch wahrgenommen wird und eine adäquate Unterstützungsleistung erwartet werden kann. Exkludiert sind Person, die sich die Leistungen der Medizin und der medizinischen Berufe nicht beschaffen können oder sie nicht in Anspruch nehmen, obwohl Bedarf besteht, oder sie erhalten keine passenden und angemessenen Unterstützungsleistungen. Der Zugang zu den Leistungen der medizinischen und pflegerischen Versorgung kann beeinträchtigt sein z.B. durch das Fehlen geeigneter Dienste in erreichbarer Nähe, durch Angst vor der Nutzung, durch Sprachprobleme etc.
1.H. Kommunikation Volle Inklusion in das System der Kommunikation ist gegeben, wenn die Person in den verbreiteten Medien für Person-Person-Kommunikation (Briefverkehr, Telefon, SMS, E-Mail) über zugängliche Adressen verfügt und selbst über diese Medien mit Personen ihrer Wahl ohne unübliche Einschränkungen kommunizieren kann und dies auch tut. Exkludiert sind Personen, die über keine Adressen verfügen bzw. keinen Zugang zu den Medien der Person-Person-Kommunikation haben oder die diesen Zugang nicht nutzen. Es sind ihnen nur Face-to-face-Kontakte möglich.
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1.I. lebensweltlicher Support In das System des lebensweltlichen Supports voll inkludiert ist eine Person, wenn sie zumindest einige andere Personen in der nahen Umgebung hat, die ihr Leben mit Aufmerksamkeit begleiten, gegebenenfalls Unterstützung leisten und dabei die Autonomie der Person wahren. Die Unterstützung schließt immaterielle Formen wie interessiertes Zuhören, emotionale Zuwendung etc. ein. Für volle Inklusion ist zusätzlich das Vorhandensein eines weiteren umfangreichen sozialen Netzes, vor allem im Feld der nachbarschaftlich/freundschaftlichen oder kollegialen Beziehungen charakteristisch. Exkludiert sind Personen, die mit Erfolgen und Misserfolgen im Leben allein fertig werden müssen und/oder das Umfeld unterstützt eine positive und autonome Lebensführung nicht, sondern behindert sie.
Skalierung Für jede Dimension sind Definitionen für volle Inklusion bzw. Exklusion angeführt. Zwischen Vollinklusion und Exklusion kann ein Kontinuum von möglichen Zwischenstufen gedacht werden, das in diesem Instrument durch die beiden mittleren Skalenpositionen „weitgehend“ und „mangelhaft“ inkludiert repräsentiert wird. Die Vielfalt der möglichen Merkmalskombinationen in diesem Feld macht es unmöglich, mit präzisen Definitionen die jeweilige Zuordnung zu unterstützten. Die AnwenderInnen sind aufgerufen, diese Zuordnung selbst nach dem Kriterium vorzunehmen, ob die Teilhabemöglichkeiten eher in der Nähe von Inklusion oder von Exklusion liegen.
Tendenz/Dynamik Neben der Einschätzung der derzeitigen faktischen Inklusion wird in einer eigenen Spalte die Tendenz festgehalten. Hier soll in kompakter Form die Dynamik des Prozesses erfasst werden: Gibt es deutliche Anzeichen dafür, dass weitere Exklusion droht? Ist der Status stabil oder weist die Tendenz in Richtung Inklusion? Dabei wird auf die beobachtbare Entwicklung in den letzten Tagen/Wochen zurückgegriffen. Die Tendenzspalte ist ausdrücklich NICHT dazu da, um eine subjektive Einschätzung zu platzieren, wie gravierend die mangelnde Teilhabe die Lebens-
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führung beeinträchtigt (Problemintensität). Und sie ist NICHT dazu da, um die Beeinflussbarkeit von Inklusion/Exklusion abzubilden (Prognose). Für die Dringlichkeit/Möglichkeit unterstützender Interventionen ist die aktuelle Dynamik ein bedeutendes Indiz: akute Exklusionstendenzen erfordern in der Regel eine rasche Intervention; ebenso ist die aktive Unterstützung von noch nicht selbsttragenden Inklusionsdynamiken indiziert. Stabile Faktoren sind oft verhältnismäßig schwierig zu beeinflussen und werden eher mittel- bis längerfristig in Angriff zu nehmen sein. Unterschieden wird zwischen vier Typen der Dynamik: • „/“ bezeichnet eine günstige Tendenz in Richtung mehr Inklusion • „=“ steht für fehlende Dynamik, einen stabilen Status. Auf jedem der Niveaus (also z.B. auch auf dem der Exklusion) kann die Tendenz stabil sein. • „“ bezeichnet eine Dynamik in Richtung (weiterer) Exklusion. Aktuelle Ausschlusstendenzen sind eine Indikation für inklusionssichernde Interventionen. • „!!“ bezeichnet eine aktuell krisenhafte Entwicklung, d.h. unmittelbar drohende weitere Exklusion. Eine Intervention ist bei dieser Dynamik nicht nur indiziert, sondern dringend erforderlich.
Informationen Die Informationsspalte dient der Unterlegung der Einschätzung mit Fakten. Hier sind vor allem jene Indizien und Fakten stichwortartig festzuhalten, die zur Einstufung auf der 4-stufigen Inklusions-/Exklusions-Skala und zur Einschätzung der Tendenz/Dynamik geführt haben. Wenn vorhanden, sollen sowohl günstige wie auch ungünstige Fakten und Indizien vermerkt werden.
Interventionen In der Interventionsspalte werden die geplanten Interventionen verzeichnet. Es wird empfohlen, diese Spalte erst nach Abschluss aller anderen Eintragungen in Angriff zu nehmen. Zur Interventionsplanung: Die verschiedenen Ebenen der Inklusion/Exklusion sind zumindest lose miteinander verkoppelt. So führt z.B. die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zum vollen Einstieg in das System der Sozialversicherung und mit
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einer gewissen zeitlichen Verzögerung in das des Geldverkehrs (aber nicht notwendigerweise umgekehrt) usw. Es gilt die Daumenregel, dass gleichzeitige Interventionen in mehr als drei Dimensionen kontraindiziert sind. Durch die lose Verkopplung der Ebenen ist es möglich, mit Interventionen in einer oder zwei Dimensionen positive Wirkungen auch in anderen Dimensionen anzustoßen. Erste Wahl für Interventionen ist eine Ebene, in der eine aktuell krisenhafte Entwicklung stattfindet („!!“). Dazu kann eine Intervention auf einer zweiten Dimension angegangen werden, in der eine Tendenz in Richtung Exklusion („“) besteht. Eine mögliche dritte Intervention könnte auf einer Dimension stattfinden, die eine Dynamik in Richtung Inklusion („“) aufweist (zur Stützung von Eigenaktivitäten und Zuversicht der KlientInnen). Die Interventionen sollten so konkret wie möglich bezeichnet werden. Eine Liste von Interventionen steht derzeit noch nicht zur Verfügung, doch wäre es ein Ziel der Weiterentwicklung des Instruments, eine solche zumindest beispielhaft vorzulegen. Bei der Anwendung in einem Arbeitsfeld empfiehlt es sich, eine Beispiel-Liste gängiger Interventionen zu erstellen. Achse 2: Existenzsicherung Auf der zweiten Achse werden drei Dimensionen der Existenzsicherung betrachtet: Wohnen, Lebensmittel und Sicherheit. Möglich gewesen wäre auch, die zweite Achse entlang einer bedürfnistheoretischen Konzeption zu gestalten. Ilse Arlt (1958) hatte versucht, Sozialarbeit („Fürsorge“) entlang einer von ihr entwickelten Bedürfnistheorie zu begründen. In neuerer Zeit hat Martha C. Nussbaum (1999) einen ähnlichen Ansatz verfolgt und zehn „Fähigkeiten“ (Capabilities) formuliert, die ein gutes Leben ausmachen und deren Ermöglichung nicht nur vom Individuum, sondern auch von den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bedingungen abhängt. Eine Operationalisierung dieser Fähigkeiten und ihrer Ermöglichungsbedingungen – oder einer einigermaßen vollständigen Bedürfnisliste – hätte aber den Rahmen gesprengt und das Instrument zu umfangreich gemacht. Wir haben uns daher dafür entschieden, das Inklusions-Chart auf jene drei zentralen Bereiche der Existenzsicherung zu beschränken, die klassischerweise stets im Fokus sozialarbeiterischer Aufmerksamkeit stehen.
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Skalierung Die Einschätzung erfolgt auf Achse 2 anhand einer Skala, die von „sicher und adäquat“ bis zu „nicht gewährleistet“ reicht. • „sicher und adäquat“ ist die Existenzsicherung in der genannten Dimension dann, wenn sie auf gutem Niveau jetzt und in absehbarer Zukunft organisiert werden kann. • „weitgehend“ gelingt die Existenzsicherung, wenn die Befriedigung der wichtigsten Grundbedürfnisse im Großen und Ganzen gewährleistet scheint, jedoch nur unter Einschränkungen oder nicht durchgehend bzw. wenn Unsicherheiten in Kauf genommen werden müssen. • „prekär“ ist die Existenzsicherung dann, wenn sie nur auf einem sehr niedrigen Niveau gewährleistet ist, wesentliche Erfordernisse nicht erfüllt sind oder nur ausnahmsweise und kurzfristig erfüllt werden können bzw. das Niveau der Versorgung immer nur kurzfristig gesichert werden kann. •
„nicht gewährleistet“ heißt, dass die Existenzsicherung in der genannten Dimension nicht gegeben ist.
2.A. Wohnen Adäquat ist die Existenzsicherung in der Dimension Wohnen, wenn eine geeignete Unterkunft zur Verfügung steht: Zumindest ein trockener und heizbarer Raum mit Bett; mit Möglichkeiten, den Besitz sicher und ohne Zugriff durch andere aufbewahren zu können; Raum und Möblierung, um sich ungestört erholen zu können oder anderen Tätigkeiten nachzugehen, die gemeinhin mit „Wohnen“ assoziiert werden (Gestaltung des Raumes, Lesen, Fernsehen, Musik hören, Schreiben, Gäste empfangen und bewirten, Kochen, für die eigene Körperhygiene sorgen, ungestörte intime Kommunikation, Haustiere halten etc.). „Nicht gewährleistet“ ist die Existenzsicherung in der Dimension Wohnen, wenn die Person über keine Unterkunft verfügt oder nur tageweise Zugang erhält bzw. wenn sie auf vorübergehende Bereitschaften von Dritten für den Zugang zu einem geeigneten Schlafplatz angewiesen ist.
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2.B. Lebensmittel Unter Lebensmittel werden hier all jene Produkte verstanden, die für die Lebensführung benötigt werden. Das sind sowohl Nahrungsmittel als auch andere Güter des täglichen Bedarfs. Adäquat ist die Existenzsicherung in der Dimension Lebensmittel gewährleistet, wenn die Person hinreichenden Zugang zu qualitativ akzeptablen Produkten hat, die der Lebensführung dienen: Nahrungsmittel (Speisen und Getränke), Kleidung, Hilfsmittel für die Körperhygiene, Medikamente und andere gesundheitsrelevante Produkte; Produkte, die Schutz vor unerwünschter Schwangerschaft und vor Ansteckung gewähren; Produkte, die dem Ausbau des eigenen Wissens und der Bildung dienen (Internet, Bücher, Zeitschriften); Produkte, die der geistigen und emotionalen Entwicklung dienen (Kunstwerke, Musik). „Nicht gewährleistet“ ist die Versorgung, wenn der Zugang zu solchen Produkten nicht gegeben ist, wenn nötige Erneuerungen und Reparaturen (z.B. von Kleidung, Möbeln) nicht vorgenommen werden (können) oder wenn Produkte nur in einer so schlechten Qualität beschafft werden können, dass sich daraus eine Gefahr für Gesundheit oder Sicherheit ergibt.
2.C. Sicherheit In der Dimension Sicherheit wird die Möglichkeit der Person abgebildet, ihre physische, psychische und soziale Integrität zu wahren sowie ihren Besitz vor dem Zugriff anderer zu schützen. Adäquat ist die Existenzsicherung in der Dimension Sicherheit, wenn die Person nicht durch Angriffe auf die eigene körperliche und psychische Integrität bedroht ist, sie muss nicht um den persönlichen Besitz fürchten, hat die Möglichkeit, Geheimnisse zu bewahren (auch Briefe, Gegenstände), hat Bewegungsfreiheit und die Freiheit, sich mit anderen Personen eigener Wahl zu treffen und mit ihnen (auch unbeobachtet) zu kommunizieren. Nicht gewährleistet ist die Sicherheit, wenn die Person weitgehend schutzlos physischen, psychischen oder sozialen Angriffen ausgesetzt ist bzw. wenn andere ohne Zustimmung der Person auf deren Besitz zugreifen und/oder wenn ohne ihre Zustimmung persönliche Geheimnisse missachtet werden, ihre Bewegungsfreiheit bzw. ihre Sozialkontakte von anderen massiv eingeschränkt oder überwacht werden.
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In der Praxiserprobung spielte mehrfach die Frage eine Rolle, was in der Dimension Sicherheit als Substitution zu werten wäre. Substituiert ist die Sicherheit z.B., wenn sich die Person in Einrichtungen begeben muss, die ihren Schutz gewährleisten oder verbessern (z.B. Frauenhaus) bzw. wenn sie zu ihrem Schutz Organisationen oder Personen mobilisieren muss.
Substitution in Prozent Die Existenzsicherung kann auf Basis der „normalen“ Teilhabe der Personen am gesellschaftlichen Prozess des Austauschs und der Arbeitsteilung gesichert sein. Zum Beispiel hat jemand ein gesichertes Einkommen aus eigener Arbeit (Inklusion in Arbeitsmarkt) und kann sich so in Kombination mit einem Kredit (Inklusion in System Geldverkehr) auf dem freien oder geförderten Markt eine Wohnung oder ein Haus leisten. Andere Personen können oder wollen das nicht. Sie greifen nicht auf eigene Leistungen und das Entgelt dafür zurück, sondern nehmen Substitute (Ersatzleistungen) in Anspruch. Das Sozialwesen stellt solche Substitute zur Verfügung (betreutes Wohnen, Heimplätze etc.), nicht selten tun das auch Verwandte (Erwachsene wohnen weiterhin bei ihren Eltern). Durch die Inanspruchnahme von Substituten ergibt sich i.d.R. eine Abhängigkeit, die über geschäftliche Beziehungen (wie z.B. beim Mieten einer Wohnung) hinausgeht. Diese Abhängigkeit kann persönlich gefärbt sein oder in Auflagen (zeitliche Begrenzung, Wohlverhalten etc.) bestehen. Hilfen, die flächendeckend und nicht-stigmatisierend zur Verfügung stehen, werden hier nicht als Substitute verzeichnet (z.B. geförderte Kredite zur Wohnraumbeschaffung; die Familienbeihilfe und Karenzgeld; die Polizei als Sicherheitsinfrastruktur). Transferleistungen, die auf dem Versicherungsprinzip beruhen, wie z.B. das Pensionseinkommen, sind ebenfalls nicht als Substitute zu bewerten. Bezieht jemand aber Sozialhilfe, dann beruht seine Existenzsicherung auf einer Substitution. In der Spalte „Substitution in Prozent“ wird ausgewiesen, in welchem Ausmaß die Person bei der Existenzsicherung auf solche Substitute zurückgreifen muss/kann. In der Regel wird es sich hier um eine Schätzung handeln, in Organisationen ist es sinnvoll, anhand von Beispielen häufig vorkommender Substituierungen zu einer gemeinsamen Skala zu kommen.
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Tendenz Auch bei der Dimension Existenzsicherung wird die Dynamik des Prozesses in einer eigenen Spalte erfasst. Es wird eingeschätzt ob aktuell Verbesserungen oder Gefährdungen des bisherigen Status anstehen oder ob er stabil ist. Dies folgt sinngemäß der Vorgangsweise wie bei Achse 1 „Inklusion/Exklusion“. Achse 3: Funktionsfähigkeit Bei der Ergänzung der Inklusions-Charts durch weitere Achsen lag es nahe, auch noch die persongebundenen situativen Bedingungen einzubeziehen. Im PIE geschieht dies durch die Achsen 3 und 4 (psychische und physische Gesundheit), die ICF83 zielt in hoher Detaillierung auf den Aspekt der Funktionsfähigkeit (Functioning). Für Interventionsstrategien der Sozialen Arbeit ist die Funktionsfähigkeit der Klientinnen und Klienten (ihre „Fitness“) eine nicht zu vernachlässigende Rahmenbedingung. Schließlich hängt von ihr ab, wie sie im gesellschaftlichen Umfeld wahrgenommen werden, welche Wege ihnen offenstehen oder versperrt sind, was ihnen an Eigenleistung zugemutet werden kann und was nicht. In weiten Teilen der theoretischen und methodischen Literatur zur Sozialen Arbeit wird der Aspekt der Funktionsfähigkeit ausgeblendet bzw. keiner eingehenden Betrachtung gewürdigt. In Praxiskontexten spielt er jedoch eine große Rolle für die Zielformulierung und die Interventionsplanung. Die Abstinenz der Sozialen Arbeit bei der Explizierung dieses Aspekts behindert m.E. ihre Professionalisierung und macht sie in der Praxis von diesbezüglichen medizinischen Einschätzungen über Gebühr abhängig. In den Kommentaren zum ICF wird bereits darauf hingewiesen, dass ein deutlicher Unterschied zwischen der Diagnose von Krankheiten und der Diagnose von Einschränkungen der Funktionsfähigkeit besteht. Während Ersteres (das Vorhandensein von „Krankheiten“) Domäne medizinischer Diagnostik ist, kann die faktische Funktionsfähigkeit in Bezug auf die Erfordernisse der Alltagsbewältigung auch von sozialarbeiterischen Fachkräften eingeschätzt werden. Dabei interessiert weniger, aufgrund welcher Umstände Funktionen der Alltagsbewältigung beeinträchtigt sind, als das beobachtbare Faktum der Beeinträchtigung und die Auswirkungen auf die Alltagsgestaltung und Lebensführung. 83 ICF (2005); eine Einschätzung der Bedeutung der ICF für die Soziale Arbeit s. Kraus u.a. 2006.
Lebenslagendiagnostik
Für die dritte Achse des Inklusions-Charts wurden die Dimensionen Gesundheit (physische und psychische), Kompetenzen und Sorgepflichten gewählt. Zum Abschluss wird empfohlen, eine skalierte Einschätzung der sozialen Funktionsfähigkeit auf Basis der General Assessment of Functioning Scale aus dem DSM IV84 vorzunehmen.
Tendenz Ebenso wie in den ersten beiden Achsen die Tendenz festgehalten wurde wird auch auf Achse 3 die Dynamik mit demselben Schema erfasst.
3.A. Gesundheitszustand Unter Gesundheit werden alle Faktoren der Verfügbarkeit des Körpers für die Bewältigung des Alltags (d.h. die Fähigkeit, das eigene Leben aktiv und ohne Gefährdung zu führen) subsummiert, inklusive psychischer Faktoren. Für das Inklusions-Chart ist das Augenmerk vor allem auf jene Aspekte zu richten, die wesentlichen Einfluss auf die alltägliche Lebensführung haben und die Chancen zur weiteren Gestaltung des Lebens tangieren. Entscheidend für die Beurteilung sind nicht mögliche zukünftige Gefährdungen, sondern das derzeitige Niveau. Die Skalierung erfolgt auf einer 4-stufigen Skala: „sehr gut“ → … ist der Gesundheitszustand, wenn keine nennenswerten Beeinträchtigungen in der Funktionsfähigkeit und im Wohlbefinden gegeben sind oder wenn höchstens harmlose oder alltägliche Erkrankungen (Schnupfen, temporäres Unwohlsein, kleine Verletzungen) bei sonst guter Funktionsfähigkeit auftreten. „eingeschränkt“ → … ist der Gesundheitszustand, wenn die Person durch eine Erkrankung dauerhaft oder temporär in ihrer Funktionsfähigkeit und/oder ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt ist. Ihre Arbeitsfähigkeit oder Fähigkeit zur selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens wird dadurch aber nicht dauerhaft infrage gestellt.
84 Das DSM IV ist ein Klassifikationssystem für psychische Störungen (s. Sass, H. u.a. 2003).
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„mangelhaft“ → … ist der Gesundheitszustand, wenn die Person auf unbestimmte Zeit in ihrer Funktionsfähigkeit und ihrem Wohlbefinden nennenswert beeinträchtigt ist und dadurch Einbußen in ihrer Arbeitsfähigkeit und ihrer Fähigkeit zur selbstbestimmten Gestaltung ihres Lebens erleidet. „gefährdend“ → … ist der Gesundheitszustand, wenn die Person durch gesundheitliche Probleme auf unabsehbare Zeit in ihrer Funktionsfähigkeit und ihrem Wohlbefinden wesentlich eingeschränkt ist, eine weitere Verschlechterung in Betracht gezogen werden muss und dadurch die Fähigkeit zur selbstständigen Gestaltung ihres Lebens entscheidend eingeschränkt ist bzw. die Erkrankung zu einem dominanten Zukunftsthema wird.
3.B. Kompetenzen Unter Kompetenzen werden alle Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Person verstanden, die für die Gestaltung ihres Alltagslebens, für ihre Chancen an gesellschaftlicher Teilhabe (z.B. im Arbeitsprozess), für die Lösung in der Lebensführung auftretender Probleme und für die eigene Positionierung zur Welt und zu sich selbst relevant sind. Entscheidend für die Beurteilung ist nicht das einmal erworbene, sondern das derzeit zugängliche Niveau. Beurteilt wird nicht die formale Bildung, sondern das tatsächliche Niveau, gleichgültig, ob es über formale Bildungsabschlüsse oder auf anderem Weg erworben wurde. Mitentscheidend für die Einschätzung ist die Fähigkeit der Person, das eigene Wissen auch in seiner Relativität und Begrenztheit zu erkennen (kompetenter Umgang mit Nicht-Wissen). Die Skalierung erfolgt auf einer 4-stufigen Skala: „sehr gut“ → … sind die Kompetenzen, wenn die Person ein gutes Bildungsniveau aufweist, wenn sie über ein umfassendes Wissen über in ihrem Lebenskontext relevante Fakten verfügt, wenn sie die Relativität und Ergänzungsbedürftigkeit des eigenen Wissens erkennt und fähig ist, dementsprechend zu handeln (aktive Suche nach Informationen, Fähigkeit zur Korrektur von Wissensbeständen und Einschätzungen). „eingeschränkt“ → … sind die Kompetenzen, wenn die Person über ein unzureichendes Bildungsniveau verfügt und/oder wenn sie nur mangelhaftes Wissen über in ihrem Lebenskontext relevante Fakten verfügt und/oder wenn ihre Fähigkeit, auf Wissensmängel adäquat zu reagieren, eingeschränkt ist.
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„mangelhaft“ → … sind die Kompetenzen, wenn ihr Bildungsniveau so niedrig ist, dass sie über wesentliche Fähigkeiten, die zur Bewältigung ihrer Lebenssituation nützlich wären, nicht verfügt (z.B. eingeschränkte Fähigkeit, verstehend zu lesen; eingeschränkte Fähigkeit, für die Alltagspraxis nötige Rechnungen anzustellen) und/oder wenn ihre Fähigkeit zur Adaption oder Ergänzung ihres Wissens wesentlich eingeschränkt ist. „gefährdend“ → … sind die Kompetenzen, wenn die Person nicht über die Grundfertigkeiten verfügt, die zur Bewältigung des Alltags erforderlich sind (Lesen, Schreiben, Beherrschung der Grundrechenarten), und/oder wenn sie nicht die Fähigkeit besitzt, ihr Wissen als mangelhaft zu erkennen und darauf mit Lernaktivitäten zu reagieren.
3.C. Sorgepflichten Unter Sorgepflichten ist zu verstehen, wenn die Person Verantwortung für andere Personen trägt (z.B. als Mutter/Vater, Partner/Partnerin). Wenn keine solche Verantwortung besteht, bleibt die Zeile frei. Die Skalierung erfolgt auf einer 4-stufigen Skala: „sehr gut“ → ist die Wahrnehmung der Sorgepflichten, wenn die Person ihren finanziellen, pflegerischen, erzieherischen, emotionalen Verpflichtungen nachkommt und in rollenadäquatem Ausmaß die Beziehungen zu jenen Personen pflegt, für die sie Verantwortung trägt. „eingeschränkt“ → … ist die Wahrnehmung der Sorgepflichten, wenn die Person dauerhaft oder temporär ihren Verpflichtungen nicht oder nicht in ausreichendem Maß nachkommt. Ihre Rolle als verantwortliche Person wird dadurch nicht komplett infrage gestellt, aber die abhängigen Personen sind in ihrem Wohlbefinden und ihrer Entwicklung dadurch beeinträchtigt. „mangelhaft“ → … ist die Wahrnehmung der Sorgepflichten, wenn die Person auf unbestimmte Zeit ihre Verantwortung nicht ausreichend wahrnehmen kann und sich dadurch ohne Substitution eine länger dauernde Mängellage bei den abhängigen Personen ergibt.
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„gefährdend“ → … ist die Wahrnehmung der Sorgepflichten, wenn die Person auf unabsehbare Zeit ihre Sorgepflichten nicht wahrnimmt, der Kontakt abgebrochen wurde oder die Verantwortung zurückgewiesen wird bzw. wenn Angriffe auf die abhängige Person erfolgen. In der Spalte „Informationen“ sind die Personen, für die die Ankerperson Verantwortung trägt, anzuführen. Weiters ist kurz darzulegen, welche Fakten zur skalierten Einschätzung führten. Substitution: Die Wahrnehmung der Sorgepflichten kann wie die Existenzsicherung entweder auf Basis aktiver Teilhabe der Personen am gesellschaftlichen Prozess des Austausches gesichert sein oder durch Inanspruchnahme von Substituten, die das Sozialwesen (z.B. Unterhaltsvorschuss) oder private UnterstützerInnen (z.B. die Pflege von Kindern durch die Großeltern) zur Verfügung stellen. Was unter Substituierung zu verstehen ist, folgt den gleichen Prinzipien wie bei der Achse Existenzsicherung. Zum Ausmaß der Substitution von Sorgepflichten ist noch anzumerken, dass diese in der Regel nicht 100% erreichen kann, da „natürliche“ Funktionen wie gewisse aus der leiblichen Elternschaft resultierende Verpflichtungen (z.B. aktives Interesse an der Lebensführung der Kinder) dauerhaft an den biologischen Eltern „haften“ bleiben und ihnen diese Restfunktion auch bei einer erfolgreichen Pflegestellenunterbringung der Kinder bleibt.
3.D. Global Assessment of Functioning Abschließend kann eine Einschätzung des sozialen Funktionsniveaus nach der GAF-Scale vorgenommen werden. Die GAF-Scale ist dem DSM-IV-Klassifikationssystem entnommen und bildet dessen Achse V. Die Einschätzung erfolgt auf Basis der Wahrnehmung und der zugänglichen Informationen und soll den aktuellen Zeitraum umfassen. Ergänzend dazu kann auch das höchste Niveau, das im vergangenen Jahr erreicht wurde, angeführt werden. Die Einschätzung auf der GAF-Scale ermöglicht die kompakte Darstellung der von BeobachterInnen wahrgenommenen sozialen Funktionsfähigkeit der Person. Das ist für eine Unterstützungsstrategie insofern wichtig, als dadurch die möglichen/erreichbaren Ziele realistischer eingeschätzt werden können und eine Unter- oder Überforderung der KlientInnen verhindert werden kann. Wie
Lebenslagendiagnostik Globale Erfassung der Funktionsniveaus • Erfolgt anhand der Global Assessment of Functioning Scale (GAF), entnommen dem DSM-IV • Erfasst psychische, soziale und berufliche Funktionsbereiche • Sollte sich auf den aktuellen Zeitraum beziehen ; ev. ergänzend Angabe des höchsten Niveaus im letzten Jahr. • Skala zwischen 1 und 100 Code 100–91
Hervorragende Leistungsfähigkeit in einem breiten Spektrum von Aktivitäten, Schwierigkeiten im Leben scheinen nie außer Kontrolle zu geraten, wird von anderen wegen einer Vielzahl positiver Qualitäten geschätzt, keine Symptome.
90–81
Keine oder nur minimale Symptome, gute Leistungsfähigkeit, interessiert und eingebunden in breites Aktivitätsspektrum, sozial effektives Verhalten, im Allgemeinen zufrieden mit dem Leben, übliche Alltagsprobleme oder -sorgen
80–71
Wenn Symptome vorliegen, sind diese vorübergehende oder zu erwartende Reaktionen auf psychosoziale Belastungsfaktoren ; höchstens leichte Beeinträchtigungen der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit.
70–61
Einige leichte Symptome ODER einige leichte Schwierigkeiten hinsichtlich der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit, aber im Allgemeinen relativ gute Leistungsfähigkeit, hat einige wichtige zwischenmenschliche Beziehungen.
60–51
Mäßig ausgeprägte Symptome ODER mäßig ausgeprägte Schwierigkeiten hinsichtlich der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit.
50–41
Ernste Symptome ODER eine ernste Beeinträchtigung der sozialen, beruflichen und schulischen Leistungsfähigkeit.
40–31
Einige Beeinträchtigungen in der Realitätskontrolle oder der Kommunikation ODER starke Beeinträchtigungen in mehreren Bereichen, z.B. Arbeit oder Schule, familiäre Beziehungen, Urteilsvermögen, Denken oder Stimmung.
30–21
Das Verhalten ist ernsthaft durch Wahnphänomene oder Halluzinationen beeinflusst ODER ernsthafte Beeinträchtigung der Kommunikation und des Urteilsvermögens ODER Leistungsunfähigkeit in fast allen Bereichen
20–11
Selbst- und Fremdgefährdung ODER ist gelegentlich nicht in der Lage, die geringste persönliche Hygiene aufrechtzuerhalten ODER grobe Beeinträchtigung der Kommunikation.
10–1
Ständige Gefahr, sich oder andere schwer zu verletzen. ODER anhaltende Unfähigkeit, die minimale persönliche Hygiene aufrechtzuerhalten. ODER ernsthafter Selbstmordversuch mit eindeutiger Todesabsicht.
0 Unzureichende Informationen
Grafik 52 : Global Assessment of Functioning
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auch andere personenbezogene Einschätzungen werden diese im alltäglichen und im professionellen Kontakt jedenfalls getroffen – sie sind für die Kalibrierung der eigenen Gesprächsstrategie erforderlich. Mit der GAF-Scale wird sie expliziert und ist so auch der fachlichen Diskussion zugänglich. Zu beachten ist, dass die Skala die Funktionsfähigkeit der Person vor einem gedachten „normalen“ Hintergrund erfasst, also die Beschaffenheit der Umwelt nicht einbezieht. So kann eine mäßige soziale Funktionsfähigkeit in einer freundlichen, unterstützenden und sichernden Umwelt relativ unbedenklich sein und ein gutes Leben ermöglichen, während eine gleich hohe (oder: gleich niedrige) soziale Funktionsfähigkeit in einer behindernden oder wenig unterstützenden Umwelt ernste Probleme in der Lebensführung zur Folge haben kann. Die Einstufung auf der GAF-Scale (im Zusammenhang des IC3: Achse 3, Dimension 4) kann daher nicht unmittelbar als interventionsbegründend herangezogen werden, sondern ist nur im Kontext des Gesamtbildes richtig interpretierbar.
Handhabung und Interviewhinweise Das Inklusions-Chart war ursprünglich nicht als Instrument kooperativer Diagnostik gedacht. Da sich aber günstige Praxisberichte über den Einsatz im Gespräch mit den KlientInnen häuften, wurde im oben bereits erwähnten Forschungsprojekt SODIA schwerpunktmäßig diese Einsatzvariante untersucht. KlientInnen, die keine gravierenden kognitiven Beeinträchtigungen aufweisen, haben offensichtlich von einem Gespräch, das anhand des Formulars geführt wurde, profitiert. Es konnten keine unerwünschten oder kontraproduktiven Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung oder auf den Unterstützungsprozess beobachtet werden. Das Ausmaß der kooperativen Beteiligung der KlientInnen war jedoch nicht immer gleich gut ausgeprägt. In der Regel eröffnet die Interviewerin mit dem Hinweis darauf, dass sie nun anhand dieses Formulars wesentliche Aspekte der Lebenslage besprechen wolle. Es ist kommunikativ hilfreich, wenn sich die Interviewerin dabei vom Formular ein wenig distanziert: „Ich soll das ausfüllen, da gibt es Regeln dafür, vielleicht muss ich auch einmal in der Beschreibung nachschauen, damit ich das richtig mache. Bitte helfen Sie mir, damit wir das gemeinsam hinbekommen.“ Die leichte Distanzierung ermöglicht es, eine Position einzunehmen, in der man die Klientin nicht „verhört“, sondern mit ihr gemeinsam – sozusagen Schulter
Lebenslagendiagnostik
an Schulter – einen Blick auf das Formular und die dadurch aufgeworfenen Fragen richtet. Da im Formular selbst keine Fragen formuliert sind, sondern sich darauf nur Stichwörter – und die sind nicht alle allgemein verständlich – befinden, müssen die Fragen im Interview erst formuliert werden. Diese richten sich i.d.R. auf Merkmale, die die Einschätzung des Grades der Inklusion (auf Achse 1), des Niveaus der Lebenssicherung und des Ausmaßes der Substitution (Achse 2) bzw. der Funktionsfähigkeit (Achse 3) ermöglichen. Man kann mit Achse 1/Dimension A beginnen. Informationen, die man bereits hat (Vorwissen oder vorliegende Unterlagen), sollte man zuerst nennen, dann den KlientInnen Gelegenheit zur Ergänzung oder zu Kommentaren geben. Genau genommen handelt es sich also nicht um ein Interview, nicht bloß um ein Frage-Antwort-Spiel, sondern um ein Gespräch. Beide Seiten spielen Informationen ein, und es ist zu erwarten, dass auch die KlientInnen einige Fragen stellen werden. Im Duktus des Gesprächs ergeben sich möglicherweise thematische Sprünge, KlientInnen schließen an die Frage nach ihrer Beschäftigungssituation z.B. eine Erklärung zu ihrer eingeschränkten Mobilität an. Soweit möglich, kann man diesen thematischen Sprüngen folgen, es ist nicht erforderlich, die vom Formular vorgegebene Reihenfolge einzuhalten. Neben den direkt verwertbaren Informationen präsentieren Klientinnen ggf. auch ergänzende Erzählungen, auf die kurz eingegangen werden kann, bevor man sich dann rasch wieder den für das Formular relevanten Fragen widmet. Auf die ergänzenden Erzählungen kann man ggf. nach Abschluss des IC-bezogenen Gesprächs zurückkommen und die dort gelegten Spuren weiterverfolgen. Eine interessante Situation im Interviewablauf ist, wenn die ersten Skalierungen eingetragen werden. Dabei handelt es sich um eine regelgeleitete, zusammenfassende Einschätzung der vom Klienten dargebotenen oder aus den Unterlagen bzw. dem Vorwissen bekannten Fakten. Die Einschätzung ist also eine fachliche durch die Fachkraft und ist nicht verhandelbar, bedarf aber ggf. einer Erklärung. Die Klienten werden dabei mit einer Außensicht auf ihre Lage konfrontiert. Sie werden dazu möglicherweise eine Stellungnahme abgeben – die kann z.B. so ausfallen, dass sie einen Status mangelhafter Inklusion als für sie zufriedenstellend bezeichnen. Am Faktum ändert das nichts, die Information bietet jedoch eine Information über Änderungsbereitschaften und ist insofern relevant. Im Formular wird sie nicht direkt abgebildet, ein Vermerk kann allenfalls in der Informationen-Spalte erfolgen.
263
264
Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Die diesbezüglich schwierigste Phase des Gesprächs ist jene zur Achse 3, vor allem zu den Dimensionen B (Kompetenzen) und D (Functioning Scale). Hier werden Aspekte des Selbstbilds thematisiert und es können Diskrepanzen zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung deutlich werden. Das kann weniger erfahrene Fachkräfte verunsichern und dazu verleiten, auf die Thematisierung im Gespräch zu verzichten oder die Einschätzung opportunistisch entlang der Eigeneinschätzung der Klientin vorzunehmen. Von beidem wäre abzuraten. Eine kooperative Unterstützungsplanung erfordert einen offenen Umgang auch mit divergierenden Einschätzungen der Fähigkeiten der Klienten. Es ist daher anzuraten, dass bereits beim Gespräch anhand des IC3-Formulars die Fachkraft ihre Einschätzung in einer adäquaten und respektvollen Form, aber realistisch und nicht beschönigend einbringt. Entgegen den verbreiteten Befürchtungen, Klienten könnten sich dadurch missachtet fühlen, ergeben sich daraus nur selten Probleme. Im Gegenteil schätzen sie in der Regel die Offenheit. Fantasien, was denn nun der Sozialarbeiter „wirklich“ über sie denke, die sehr behindernd sein können, kommen so gar nicht auf. Faktoren, die auf der GAF-Scale abgebildet werden, sollten jedenfalls angesprochen werden. Die nummerische Einschätzung selbst hingegen wird zumeist nicht Gegenstand des Gesprächs sein (u.a. weil sie zu viele Erklärungen erfordern würde und weil die Gefahr besteht, dass die Einschätzung als Eigenschaftszuschreibung missverstanden würde)85. Nach Abschluss der Datensammlung und Einschätzung – also wenn das Formular schließlich gefüllt ist – sollte jedenfalls eine Nachbesprechung stattfinden. Empfohlen wird, dass die Sozialarbeiterin vorerst ihre Kommentare abgibt und zur Diskussion stellt („Mir fällt auf, dass …“; „Wenn ich mir das anschaue, mache ich mir Sorgen wegen …“; „Gut, scheint ja zu funktionieren …“ usw.). Dabei sollten sowohl ungünstige Aspekte wie auch günstige (Ressourcen) Erwähnung finden. Erste Vorschläge für mögliche Ziele und unterstützende Maßnahmen können hier eingebracht und so die Aushandlung eines Hilfeplans eröffnet werden.
85 Sehr wohl denkbar ist allerdings, dass die Skala ausgewählten KlientInnen für eine laufende Selbsteinschätzung (Eigendiagnose) angeboten wird – etwa indem sie täglich auf Basis von Selbstbeobachtung einen Wert in ein Formular eintragen. Nach diesem Muster, aber mit einem etwas stärker ausdifferenzierten Instrument haben Sommerfeld u.a. (2011) in ihrem Forschungsprojekt zu Fallverläufen gearbeitet.
X
X
X
X
X
X
X
X
X
Grafik 53: Inklusions-Chart Beispiel 1, Blatt 1
I. lebensweltl. Support
H. Kommunikation
G. medizinische Versorgung
F. Medien
E. Bildungswesen
D. Mobilität
C. Geldverkehr
B. Sozialversicherung
A. Arbeitsmarkt
1. Funktionssysteme
erstellt von: Ingrid Kramer, MA
=
=
=
=
=
=
Telefonkontakte zu M., Schwester, einer Freundin. Besuche nur in Anwesenheit des Ehemanns
noch kein Mailaccount (überlegt), eingeschränkte Möglichkeit der Telefonnutzung
Arztbesuche fallweise
Medienkonsumentin, zuletzt Information auch über Internet (Frauenberatung)
seit Hauptschulabschluss keine Bildungsaktivitäten
völlige Kontrolle durch Ehemann, kein Auto
kein selbstverwaltetes Geld, keine Bankomatkarte. Keine Schulden (?)
mitversichert bei Ehemann
seit 8 Jahren im Haushalt
(Daten und Fakten)
= !! =
Informationen
Tendenz (Dynamik)
Misshandlung und Isolierung durch Lebenspartner
Inkludierungsgrad
voll
Presenting Problem
Maria Rabic, 26a
weitgehend
KlientIn: Name, Alter
mangelhaft
Inklusions-Chart (IC3)
exkludiert
Beispiele
(laufend und geplant)
Intervention
2012-05-14
Netzwerkanalyse, Netzwerkaktivierung (ev. Feldintervention)
unterstützende Beratung, Information
keine
Beratung rechtlich, Handlungsoptionen
vorerst aufgeschoben
erstellt am:
Lebenslagendiagnostik 265
X
weitgehend
eingeschränkt
!!
0
aktuell
Grafik 54: Inklusions-Chart Beispiel 1, Blatt 2
Formular © peter pantucek 2005–2012. Verwendung unter Beibehaltung des Copyright-Hinweises frei.
Maximum Jahr
65
keine aktuell verwertbare berufliche Qualifikation, durch Isolation mangelhaftes Wissen über ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Aktuell Wissensaufbau
keine gesundheitlichen Probleme
Informationen (Daten und Fakten)
akute Gefahr massiver Angriffe des Partners bei Entdeckung ihrer Hilfesuchaktivitäten
ausgezeichente Versorgung mit Lebens mitteln
keine persönlichen Rückzugsräume, weitere Einschränkungen möglich, wenn Partner Außenkontakte entdeckt
Informationen (Daten und Fakten)
keine
=
= !!
Tendenz (Dynamik)
=
0
Einschätzung nach GAF-Scale
X
X
0
= !!
Tendenz (Dynamik)
D. Funktionsniveau
X
mangelhaft mangelhaft
X
Substitution in %
C. Sorgepflichten
B. Kompetenzen
A. Gesundheit
3. Funktionsfähigkeit
C. Sicherheit
B. Lebensmittel
A. Wohnen
adäquat
sehr gut
2. Existenzsicherung
nicht gewährl. gefährdend
vorerst aufgeschoben
Intervention
Organisation einer vorübergehenden Ersatzunterkunft (Fluchtmöglichkeit), Beratung zu Verhalten bei Eskalation
s. 2.C
Intervention
266 Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Lebenslagendiagnostik
Zusammenfassung: PP: Misshandlung und Isolierung durch Lebenspartner. Im IC3 ist auf Achse 1 (Inklusion) bei einer insgesamt sehr problematischen Lage keine Bedrohung durch die Gefahr einer akuten Verschlechterung sichtbar. In der Dimension 2 (Existenzsicherung) wird eine Zuspitzung der Lage durch das aktuelle Hilfesuchverhalten der Klientin erkennbar. Auf Achse 2 (Existenzsicherung) weisen sowohl die Dimension Wohnen als auch die Dimension Sicherheit eine negative oder krisenhafte Tendenz auf und erfordern die Vorbereitung von Ersatzlösungen. Die Achse 3 weist eine relativ gute Ausgangslage der Klientin in den Dimensionen Gesundheit und Kompetenzen auf. Mittelfristig ist mit Schwierigkeiten zu rechnen, da durch die lang andauernde Isolation Aufholbedarf gegeben ist. Im Detail ist auf Achse 1 ein weitgehender Ausschluss der Klientin aus den meisten Funktionssystemen (Arbeitsmarkt, Geldverkehr, Mobilität, Bildungswesen, z.T. auch Kommunikation) erkennbar. Eine Sanierung ist erst nach einem Durchbrechen der Isolation möglich und kann daher vorerst noch nicht in Angriff genommen werden. Als Schlüsselbereich erscheinen derzeit die Dimensionen Medien und lebensweltlicher Support, die einen Ausbruch aus der Isolation stützen könnten. Auf diese Dimensionen werden daher die Interventionen fokussiert. Auf Achse 2 sind Wohnen und Sicherheit auf einem ohnehin schlechten Niveau akut gefährdet. Alternative Möglichkeiten der Sicherung müssen gesucht werden. Als erste Wahl wäre die Möglichkeit, das marginale soziale Netz zu aktivieren, anzugehen. Wenn hier keine hinreichenden Möglichkeiten zur Existenzsicherung in der akut bedrohlichen Situation gefunden werden, sind Alternativen (Frauenhaus?) in Betracht zu ziehen. Auf Achse 3 zeigt neben Gesundheit und Kompetenzen als relativ günstige Faktoren das doch eingeschränkte Funktionsniveau von 65 auf der GAF-Scale, dass sich im Zuge der weiteren Lebensbewältigung noch Probleme infolge der Wirkungen der lang dauernden Isolation zeigen können. Es ist wahrscheinlich, dass eine mittelfristige Unterstützung nötig sein wird.
267
X X X
F. Medien
G. medizinische Versorgung
H. Kommunikation X
Grafik 55: Inklusions-Chart Beispiel 2, Blatt 1
I. lebensweltl. Support
X
E. Bildungswesen
X X
X
X
D. Mobilität
C. Geldverkehr
B. Sozialversicherung
A. Arbeitsmarkt
1. Funktionssysteme
erstellt von:
=
=
praktisch keine aktuellen Beziehungen, Scham
verwendet Handy; Mailaccount weitgehend ungenutzt
(laufend und geplant)
Intervention
2012-05-14
Kursbesuch anregen?
ev. später überprüfen
ggf., wenn möglich, arbeitsplatzsichernde Maßnahmen nach Arztbesuch
erstellt am:
Netzwerkberatung und Rekonstruktion
Zugang wäre möglich, verweigert Arztbesuche Coaching (Adipositas?)
TV, liest keine Zeitungen. Nun aktive Suche (Aufsuchen der Beratung)
!!
st. 15 Jahren keine Bildungsaktivitäten, grundsätzliche Bereitschaft vorhanden
kein Auto, Benutzung öffentl. Verkehrsmittel wird zunehmend mühsam, daher meist z.H.
=
funktionierende Bankomatkarte, keine nennenswerten Schulden (lt. Kl.)
durchgehend versichert ASVG
prekäre Arbeitsverhältnisse, kaum Unterbrechungen, zuletzt gekündigt im Krankenstand
(Daten und Fakten)
Informationen
Martina Lehner, DSA
=
=
Tendenz (Dynamik)
depressive Verstimmung (Eigendiagnose)
Inkludierungsgrad
voll
Presenting Problem
Franziska Czech, 42a
weitgehend
KlientIn: Name, Alter
mangelhaft
Inklusions-Chart (IC3)
exkludiert
268 Ausgewählte Diagnoseinstrumente
X
X
mangelhaft mangelhaft
=
30
=
=
= !!
aktuell
Grafik 56: Inklusions-Chart Beispiel 3, Blatt 2
53
Kontaktaufnahme
Tochter, 17a, bei Pflegeeltern, Besuche sehr selten, kommt Zahlungsverpflichtung nicht nach 68
anlassbezogen Beratung + Information
Wissensmängel bzgl. Gesundheit, Medizin, Ernährung, Recht. Schwierigkeiten, Informationen zu akzeptieren
Maximum Jahr
Coaching (s. 1.G), Begleitung zum Arzt
Intervention
Intervention
besorgniserregende Symptome: Adipositas, Atem- und Herzbeschwerden, Angstzustände, depressive Stimmungen (lt. Klientin)
Informationen (Daten und Fakten)
wg. Immobilität Gefahr, bestohlen zu werden und verbalen Angriffen ausgesetzt zu sein, groß. Gewisser Schutz im Heim.
ausreichende Versorgung
dzt. in betreutem Wohnheim
Informationen (Daten und Fakten)
Formular © peter pantucek 2005–2012. Verwendung unter Beibehaltung des Copyright-Hinweises frei.
Einschätzung nach GAF-Scale
80
D. Funktionsniveau
X
=
Tendenz (Dynamik)
=
0
= !!
100
X
X
nicht gewährl. gefährdend
X
Substitution in %
C. Sorgepflichten
B. Kompetenzen
A. Gesundheit
3. Funktionsfähigkeit
C. Sicherheit
B. Lebensmittel
A. Wohnen
adäquat
sehr gut
2. Existenzsicherung
weitgehend
eingeschränkt
Tendenz (Dynamik)
Lebenslagendiagnostik 269
270
Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Zusammenfassung: PP: depressive Verstimmungen (Eigendiagnose) Im Inklusionschart zeigen sich auf Achse 1 (Inklusion) dzt. stabile Einbindungen bei den Dimensionen A bis D, schlechtere Werte bei Bildungswesen, Medien, Gesundheitsversorgung und dem lebensweltlichen Support-System. Am pro blematischsten die Entwicklung des Faktors Gesundheit: rasche Zuspitzung auf Basis einer schlechten Ausgangsposition. Frau Czech verweigert seit 10 Jahren Arztbesuche, aufgrund ihrer zuletzt großen Schmerzen wäre aber eine Untersuchung dringend erforderlich. Motivationsarbeit und Coaching inklusive Begleitung zum Arzt erscheinen dzt. als die vordringlichsten Maßnahmen. Netzwerkberatung und Netzwerkrekonstruktion (ev. mit mediierenden Interventionen im Feld) können ggf. parallel, spätestens aber nach einem Monat beginnen. Auf Achse 2 fällt auf, dass die Klientin in der Dimension Wohnen derzeit nur durch die Unterbringung im Wohnheim versorgt ist. Selbstständiges Wohnen wäre auch unter Rücksichtnahme auf die Werte auf Achse 3 durchaus möglich. Vorrangig bleibt allerdings die Absicherung einer medizinischen Versorgung.
Datenbankversion Das IC3 ist realtiv leicht leicht in Dokumentations-Datenbanken einzubauen. Auf www.pantucek.com steht auch eine Filemaker-basierte Datenbankversion zur Verfügung, durch die die Eintragung erleichert wird. Die Definitionen sind hier über Klick schnell zu erreichen.
Version mit alternativer grafischer Darstellung Mit dem gleichen Informationsgehalt, allerdings einer stärker grafisch gestalteten Darstellung wartet die Variante IC3_graph auf. Soweit möglich, wurden hier die Informationen den Prinzipien der Visualisierung von sozialen Sachverhalten in Anlehnung an Neurath (Hartmann 1997) in Grafiken umgesetzt. Eine Vorlage als Word-Datei findet sich ebenfalls auf www.pantucek.com.
Lebenslagendiagnostik
Grafik 57: IC3-Datenbankversion Blatt 1
Grafik 58: IC3-Datenbankversion Blatt 2
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272
Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 59: IC3graph Seite 1
Grafik 60: IC3graph Seite 2
Lebenslagendiagnostik Inklusions-Chart (IC3) Typus C–D Gegenstand Einschätzung der Einbindung d. Kl. in die wichtigsten alltagsrelevanten Funktionssysteme, des Grades der Existenzsicherung und der Funktionsfähigkeit Handhabung Das Formular wird von der Beraterin selbst ausgefüllt und dient einer kompakten Gesamtübersicht sowie der Begründung von Intervention und Nicht-Intervention. Gute Erfahrungen gibt es beim nunmehr empfohlenen offenen Einsatz als Gesprächsleitfaden bei Anamnese bzw. Assessment. Das Ergebnis dient als Grundlage für ein Hilfeplangespräch. Wirkungen Gewinnung eines Überblicks über objektive Bedingungen der Lebensführung und über Chancen/Gefahren. Mittel zur kompakten Gesamtdarstellung der Lebenslage der KlientInnen und zur Entscheidung über Interventionen. Vorrangig ist die Intervention dort, wo aktuelle Ausschlussprozesse stattfinden. Ein zweiter Interventionsschwerpunkt kann in der Unterstützung sich abzeichnender positiver Entwicklungen liegen (Stärkung der Ressourcen). Der besondere Vorzug des Instruments liegt in der übersichtlichen Darstellung der wesentlichsten Komponenten sozialer Einbindung und gesellschaftlicher Teilhabechancen der KlientInnen. Wie jede Interventionsstrategie bedarf auch eine, die auf einer Einschätzung mittels Inklusions-Chart beruht, der kommunikativen Abstimmung mit den KlientInnen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Keine Kontraindikationen bekannt. Bei kognitiv stark beeinträchtigten Personen kann eine kooperative Anwendung scheitern. Interpretation Die Interpretation bezieht sich in erster Linie auf die „Tendenz“ und fokussiert nicht auf „Ursachen“, sondern auf Möglichkeiten zur praktischen Verbesserung der Inklusion – also sehr stark auf praktische Handlungsmöglichkeiten der KlientInnen und auf Interventionsmöglichkeiten der SozialarbeiterInnen. Eine Kommunikation mit den KlientInnen über die Ergebnisse ist zu empfehlen. Dabei sind sowohl die unbedenklichen Faktoren (Ressourcen) als auch die problematischen zu würdigen und für eine weitere Strategie/→ Zielvereinbarung zu berücksichtigen.
Einsatzmöglichkeiten des Inklusions-Charts (IC3) Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Startphase: als Hilfsmittel für mittelfristige Hilfeplanung. Teil des Assessments bei Case Management. Später bei Bilanzterminen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
integrachart® Das integrachart® wurde von der Unternehmensberatung prospect für den Einsatz in der Arbeitsvermittlung bzw. in Einrichtungen, die arbeitsmarktbezogenes Case Management anbieten, entwickelt (Hausegger u.a. 2012). Es basiert einerseits auf dem Inklusions-Chart, andererseits auf dem Methodenset zur Operationalisierung von Employability von Apel und Fertig (2009).
Ähnlich wie das IC3 ist das integrachart® ein Instrument, das der Strukturie-
rung der Diagnose dient und eine Dokumentation der wichtigsten Parameter für eine Interventionsplanerstellung sicherstellt. Hier werden all jene Aspekte der Lebenslage in den Blick genommen, die hinsichtlich einer Arbeitsmarktintegration relevant sind. Das Instrument ist bereits im kontrollierten Praxiseinsatz getestet und weiterentwickelt worden.
Neben der Ausbuchstabierung für das Anwendungsfeld weist es weitere Be-
sonderheiten auf. Es wurde konsequent auf IT-Basis ausgerichtet. Die Skalierung wird durch vorgegebene Auswahlfelder erleichtert. Auswahlfelder gibt es auch bei den Interventionen. Und schließlich werden zu einem späteren Zeitpunkt auch die Ergebnisse der Interventionen standardisiert erfasst. Damit ist eine optimale Umgebung geschaffen, um Ausgangssituationen, Interventionen und Ergebnisse statistisch erfassen zu können. Der Charme des Instruments liegt darin, dass die Anforderungen an eine avancierte Erfassung von Daten für Ausgangslagen und Wirkungsmessung mit den Erfordernissen eines klientenorientierten Assessments zusammengeführt werden.
Während beim Inklusions-Chart von einer kompakten Datenerhebung aus-
gegangen wird (ggf. im Rahmen eines Gesprächs unter Bezugnahme auf bereits vorliegende Daten), wird beim integrachart® für die Datenerhebung ein Zeitraum von maximal 3 Monaten veranschlagt. Damit wird ein langsamer Beziehungsaufbau einkalkuliert und auf eine sukzessive Erhebung und Verarbeitung der Daten orientiert.
Eine vollständige Darstellung des Instruments findet sich in Hausegger
(2012).
Als Vorteile werden von Hausegger u.a. (2012: 119f) genannt:
• gemeinsamer Mindeststandard, welche Bereiche diagnostisch auszuloten sind • Generierung eines Betreuungsplans wird unterstützt
Grafik 61: integrachart®, Ausschnitt Wohnen
Lebenslagendiagnostik 275
Grafik 62: integrachart®, Ausschnitt Qualifikation
276 Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Lebenslagendiagnostik
• Standardisierte Dokumentation der Ressourcen und Problemlagen sowie der Zielerreichung unterstützt Qualitätsentwicklung und evidenzbasierte Verbesserung der Angebote • Es wird „verdeutlicht, welche Problemlagen in welcher Ausprägung und in welchen Kombinationen sich hinter (…) ‚Mehrfachproblematiken’ verbergen“ (ebd.: 120). • Und schließlich werden Ergebnisse der Unterstützung sichtbar, die unterhalb der Latte Arbeitsmarktintegration liegen. Eine besonders interessante Innovation ist, dass auf Basis der eingegebenen Daten der Vorlage für einen „Integrationsplan“ unter der Überschrift „Meine aktuelle Ausgangslage“ eine grafische Aufbereitung von Problemlagen und Ressourcen automatisch eingefügt und den KlientInnen zur Verfügung gestellt wird.
Bemerkenswert bei dieser Vorlage für einen Hilfeplan ist, dass die Klientin/
der Klient (hier wird von Kunde / Kundin gesprochen) in die Zentralposition gerückt wird. Die Überschriften lauten „Mein Weg zum nächsten Job“; „Meine aktuelle Ausgangslage“; „Mein Ziel für die Zeit bei …“; „Wann ist dieses Ziel erreicht und woran erkenne ich, dass es erreicht ist?“, und schließlich „Schritte zur Erreichung des Zieles“. Was bei Hilfeplanerstellungen als Qualitätsstandard gilt und doch nur selten erreicht wird, nämlich die Beteiligung der Klienten bei der Erstellung und ihre motivierte Teilhabe bei den Zielformulierungen, wird durch die Überschriften in der ersten Person unterstützt.
Das von Hausegger (2012) vorgelegte Instrumentarium wird noch durch
eine Variante des integrachart® für Jugendliche ergänzt. Außerdem wurde ein Instrument für das vorgelagerte Screening entwickelt, das der faktenbasierten Entscheidung dient, ob direkt Aktivitäten zur Arbeitsvermittlung möglich sind oder eine umfassendere Unterstützung (z.B. durch Case Management) indiziert ist. Die ausführlichere Erhebung der Lebenssituation mit dem integrachart® wird im zweiten Fall in Angriff genommen.
Damit liegt für individualisierte arbeitsmarktbezogene Unterstützungspla-
nungen ein Set von theoretisch und empirisch fundierten Instrumenten vor.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 63: Integrationsplan zum integrachart®, Seite 1
Lebenslagendiagnostik
Grafik 64: Integrationsplan zum integrachart®, Seite 2
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 65: Integrationsplan zum integrachart®, Seite 3
Lebenslagendiagnostik integrachart® Typus C-D Gegenstand Strukturierte Erhebung und Einschätzung von Aspekten der Lebenslage, die für die Chancen von Personen auf dem Arbeitsmarkt relevant sind. Handhabung Das Set von Instrumenten ist computerbasiert in die Falldokumentation integriert. Für die Datenerhebung steht ein Zeitraum von maximal 3 Monaten zur Verfügung, danach kann eine Hilfeplanvorlage („Integrationsplan“) generiert werden, auf deren Basis die Zielvereinbarungen für das Case Management getroffen werden können. Die KlientInnen erhalten eine plakative Zusammenfassung der Problemlagen und Ressourcen. Die Detailstrukturierung ermöglicht auch Fachkräften ohne Hochschulstudium der Sozialen Arbeit eine korrekte und aussagekräftige Diagnostik von Ausgangslage und Unterstützungsbedarf. Wirkungen Das Instrument stellt sicher, dass wesentliche Dimensionen der Lebenslage erhoben und in die Unterstützungsplanung einbezogen werden, und es ermöglicht eine aussagekräftige statistische Auswertung. Für arbeitsmarktbezogenes Case Management liefert es die Grundlagen für die Aushandlung des Unterstützungsplans. Anwendungsprobleme / Kontraindikationen Keine Kontraindikationen bekannt. Anamnese im Kontext arbeitsmarktpolitischer Hilfestellungen nur dann sinnvoll, wenn bei Vorliegen problematischer Situationen auch konkrete Unterstützung angeboten wird. Interpretation Die Interpretation erfolgt in erster Linie kooperativ bei der Aushandlung des Unterstützungsplans („Inte grationsplan“). Die statistische Auswertung liefert systematisch Hinweise für Prognose und Planung.
Einsatzmöglichkeiten des integrachart® Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
nein
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Verlängerte Startphase (Assessment): Instrument für mittelfristige Hilfeplanung. Später bei Bilanzterminen.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
7.7 Klassifikationssysteme Medizin und Psychiatrie haben Klassifikationssysteme entwickelt, die international anerkannt und gebräuchlich sind. Sie strukturieren die Diagnosen und erleichtern ihre Kommunizierbarkeit in der professionellen Community weltweit. Klassifikationssysteme bieten eine umfassende Systematik, in der Diagnosen dargestellt werden können. Jede Diagnose ist mit einem Code versehen, sodass die Klassifikation auch die Funktion einer universalen Sprache erfüllen kann. Mithilfe des Codes kann die Diagnose eines Professionals auch dann entziffert werden, wenn man seine Sprache nicht beherrscht. Damit spielen Klassifikationssysteme eine wichtige Rolle für die Entwicklung einer internationalen Kultur und Wissensbasis medizinischer Professionalität. Weitere Vorzüge sind international vereinheitlichte Kriterien für die Terminologie und dafür, welche Merkmale für welche Diagnose erforderlich und hinreichend sind. Dadurch wird international vergleichbare und vergleichende Forschung und Statistik erleichtert. Im Gesundheitsmanagement werden die Klassifikationen ebenfalls für die Optimierung der Statistik, der Verrechnung und der Planung genutzt.
Bei den nicht Sozialarbeit-spezifischen Klassifikationssystemen ICD-10, DSM
IV und ICF verzichte ich auf die sonst übliche Zusammenfassung zur Anwendbarkeit am Ende der Subkapitel. ICD-10 Kapitel XXI Das in der Medizin gebräuchlichste Klassifikationssystem ist das ICD. Die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (ICD-10) wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstellt und im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Gesundheit vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) ins Deutsche übertragen und herausgegeben. Die Abkürzung ICD steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, die Ziffer 10 bezeichnet die 10. Revision der Klassifikation.
Im Kapitel XXI enthält das ICD-10 eine Aufzählung von potenziellen Gesund-
heitsrisiken aufgrund sozioökonomischer oder psychosozialer Umstände mit den Verschlüsselungen Z55 bis Z65. Diese wie die darauf folgenden Klassifikationen „Personen, die das Gesundheitswesen aus sonstigen Gründen in Anspruch neh-
Klassifikationssysteme
men“ (Z70 bis Z76) enthalten eine Reihe von Faktoren, die Indikationen für und Themen von sozialarbeiterischer Beratung/Unterstützung sein können.
Hier ein Beispiel :86
Z63 Andere Kontaktanlässe mit Bezug auf den engeren Familienkreis Inkl. : Abwesenheit eines Familienangehörigen Familienzerrüttung durch Trennung oder Scheidung Probleme in der Beziehung zu den Eltern oder angeheirateten Verwandten Probleme in der Beziehung zum Ehepartner oder Partner Ungenügende familiäre Unterstützung Unselbstständiger Verwandter, der häusliche Betreuung benötigt Verschwinden oder (vermuteter) Tod eines Familienangehörigen Exkl. : Missbrauch von Personen (T74.-) Probleme mit Bezug auf : • Erziehung (Z62) • negative Kindheitserlebnisse (Z61)
All die angeführten Anlässe werden unter bloß einem Verschlüsselungscode subsummiert, eine differenzierte Verschlüsselung erfolgt nicht. Bei Krankheiten wird die Verschlüsselung bis zu fünfstellig differenziert. Damit bleibt für die Zwecke der Sozialarbeit die Klassifikation zu grob und enthält auch nicht das ganze Spektrum der Problemstellungen, die durch Soziale Arbeit bearbeitet werden.
Bestimmte Diagnosen nach Kapitel XXI des ICD-10 könnten also als Begrün-
dung einer Überweisung zur Sozialarbeit dienen bzw. einen Anschluss sozialarbeiterischer Angebote an das statistische und Verrechnungssystem des Gesundheitswesens ermöglichen. Diagnostische Leistungen der Sozialarbeit sind hier allerdings nicht abbildbar – und für eine Prognose über das nötige Ausmaß an sozialarbeiterischer Unterstützung ist das Raster zu grob und daher ungeeignet.
86 Das komplette Verzeichnis steht im Downloadbereich des DIMDI zur Verfügung : http :// www.dimdi.de/de/klassi/diagnosen/icd10/index.htm. Der sozialarbeitsrelevante Teil ist auch auf meiner Website www.pantucek.com zugänglich.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Die Achsen IV und V des DSM-IV Das DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fourth Edition) ist ein Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (APA 2000 ; deutsch : Sass 2001) für die Erfassung psychischer Störungen. Daneben liefert es Informationen zu den Störungen : bekannte Ursachen, Statistiken zum Auftreten und zur Prognose sowie einige Forschungsergebnisse zu Behandlungserfolgen. Das DSM-IV umfasst mehrere Achsen, wobei nur die Achsen I und II klassifikatorisch codiert sind : Achse I : Klinische Störungen und andere klinisch relevante Probleme Achse II : Persönlichkeitsstörungen und geistige Behinderung Achse III : medizinische Krankheitsfaktoren Achse IV : psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme Achse V : globale Erfassung des Funktionsniveaus Die Achse IV des DSM-IV kategorisiert psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme, die psychische Störungen beeinflussen können. Dies trifft weitgehend auf alle Probleme zu, mit denen Sozialarbeit konfrontiert ist. Insofern liegt der Schluss nahe, dass die in Form des weit verbreiteten Klassifikationssystems DSM in der derzeit gültigen Version IV vorhandene Klassifikation relativ umstandslos auch für die Sozialarbeit verwendet werden könnte.
Dem stehen nun einige Einwände entgegen. Der m.E. zwar schwerwie-
gende, aber im interdisziplinären Dialog kaum wirkungsvolle ist, dass das DSMIV-Klassifikationssystem die sozialen Komponenten nur als Nebenbedingungen der psychischen Störungen in den Blick nimmt. Eine Hierarchisierung auf der berufspolitischen Ebene zwischen Psychiatrie und Sozialarbeit wird so in einem Klassifikationssystem zum Ausdruck gebracht. Das System scheint der unteroder bestenfalls beigeordneten Stellung der Sozialarbeit einen objektiven Anstrich zu geben. „Hauptdiagnosen“ sind in der Regel auf Achse I oder II angeordnet. Die Achse IV ist nicht in das Zahlencodesystem eingeschlossen.
Gravierend scheint mir jedoch auch ein zweiter Einwand zu sein. Die Achse
IV des DSM klassifiziert mögliche Belastungsfaktoren des psychosozialen Bereichs reichlich ungenau, für die Bedürfnisse sozialarbeiterischer Kommunikation in einer allzu groben Auflösung.
Klassifikationssysteme
DSM-IV – Achse IV Erfassung psychosozialer und umgebungsbedingter Probleme, die Diagnose,
Therapie und Prognose einer psychischen Störung beeinflussen können. Positive Stressoren werden nur aufgeführt, wenn sie zu einem Problem füh-
ren oder ein Problem darstellen. So viele Probleme wie nötig aufführbar. Die Achse IV listet 9 Problemkategorien auf : Probleme mit der Hauptbezugsgruppe Probleme im sozialen Umfeld Ausbildungsprobleme Berufliche Probleme Wohnungsprobleme Wirtschaftliche Probleme Probleme beim Zugang zu Einrichtungen der Krankenversorgung Probleme beim Umgang mit dem Rechtssystem/Delinquenz andere psychosoziale oder umgebungsbedingte Probleme
Trotzdem ist damit zu rechnen, dass die Achse 4 des DSM-IV (beziehungsweise der demnächst zu erwartenden neuen Version V) in einigen Bereichen Verwendung finden wird, wobei anzunehmen ist, dass die Diagnose auf Achse IV entweder von Ärzten selbst erstellt oder an SozialarbeiterInnen delegiert wird. Für den Unterstützungsprozess der Sozialarbeit selbst bleibt eine kategoriale Diagnose auf Basis der Achse 4 des DSM-IV allerdings relativ bedeutungslos.
Die Achse V („Global Assessment of Functioning Scale – GAF-Scale) besteht
aus einer Einschätzung des allgemeinen Funktionsniveaus einer Person auf einer Skala von 1 bis 100. Es ist auf das „Funktionieren“ einer Person in ihren sozialen Beziehungen fokussiert. Damit ist es für die Sozialarbeit interessant, allerdings leidet auch diese Skala an dem Mangel, dass sie eindimensional ist, d.h. von einer stabilen Umwelt ausgeht, deren Beschaffenheit in die Einschätzung keinen Eingang findet. Als Aspekt der Lagebeurteilung ist allerdings eine Beurteilung der Funktionsfähigkeit der Person auch für die Sozialarbeit wichtig, weshalb ich eine Einschätzung entlang der GAF-Scale als Ergänzung in der neuen Version des
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Inklusions-Charts vorschlage. Die GAF-Scale wird daher dort (Kapitel 7.6) näher vorgestellt. ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit Für die Soziale Arbeit wesentlich interessanter als die oben genannten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV ist die von der Weltgesundheitsorganisation 2001 auf Englisch, 2005 in einer deutschen Übersetzung präsentierte ICF87. „Allgemeines Ziel der ICF-Klassifikation ist, in einheitlicher und standardisierter Form eine Sprache und einen Rahmen zur Beschreibung von Gesundheits- und mit Gesundheit zusammenhängenden Zuständen zur Verfügung zu stellen. Sie definiert Komponenten von Gesundheit und einige mit Gesundheit zusammenhängende Komponenten von Wohlbefinden (wie Erziehung/Bildung und Arbeit). Deshalb können die in der ICF enthaltenen Domänen als Gesundheitsdomänen und mit Gesundheit zusammenhängende Domänen betrachtet werden. Diese Domänen werden unter den Gesichtspunkten des Körpers, des Individuums und der Gesellschaft in zwei Hauptlisten beschrieben : (1) Körperfunktionen und Körperstrukturen sowie (2) Aktivitäten und Partizipation [Teilhabe]. Als Klassifikation gruppiert die ICF systematisch unterschiedliche Domänen für einen Menschen mit einem bestimmten Gesundheitsproblem (z.B. was ein Mensch mit einer Krankheit oder einer Gesundheitsstörung tatsächlich tut oder tun kann). Funktionsfähigkeit ist ein Oberbegriff, der alle Körperfunktionen und Aktivitäten sowie Partizipation [Teilhabe] umfasst ; entsprechend dient Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation [Teilhabe]. Die ICF listet darüber hinaus Umweltfaktoren auf, die mit den genannten Konstrukten in Wechselwirkung stehen. Auf diese Weise wird es dem Benutzer ermöglicht, nützliche Profile der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit eines Menschen für unterschiedliche Domänen darzustellen.“ (ICF 2008 : 9)
87 Der Gesamttext der ICF kann im Downloadbereich der DIMDI-Website bezogen werden : http ://www.dimdi.de
Klassifikationssysteme
Die ICF ist nur für die Anwendung im Bereich Gesundheit konzipiert. Es werden Bereiche klassifiziert, in denen Behinderungen auftreten können. Der Anspruch ist, dass sowohl positive wie auch negative Bilder der Funktionsfähigkeit erstellt werden können (Ressourcen- und Defizitorientierung). Die ICF soll das ebenfalls von der WHO edierte ICD-10 nicht ersetzen, sondern ergänzen : ICD-10 klassifiziert Gesundheitsprobleme nach dem medizinischen Modell, darauf basiert die medizinische Therapie. ICF klassifiziert die (sozialen) Folgen eines Gesundheitsproblems. Es werden nicht Personen klassifiziert, sondern deren individuelle Situation.
Essenziell für die ICF ist die Ausrichtung auf ein Konzept der funktionalen
Gesundheit : Es werden die einzelnen gestörten Funktionen, die Auswirkungen auf Aktivität und Teilhabe sowie die Wechselwirkung mit der sozialen und materiellen Umwelt abgebildet.
Eine Person gilt als funktional gesund,
– wenn vor ihrem gesamten Lebenshintergrund (Konzept der Kontextfaktoren) ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereiches) und Körperstrukturen denen des gesunden Menschen entsprechen (Konzept der Körperfunktionen und Strukturen). – wenn sie alles tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsprobleme erwartet wird (Konzept der Aktivitäten). – wenn sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und in dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigungen der Körperfunktionen oder Körperstrukturen oder der Aktivitäten erwartet wird.88 Das konzeptionell anspruchsvolle Klassifikationssystem ist in allen Zusammenhängen interessant, in denen Menschen aufgrund im weiten Sinne gesundheitlicher Beeinträchtigungen Einschränkungen in ihrer Alltagsgestaltung zu gewärtigen haben. In den Komponenten „Körperfunktionen“ und „Körperstrukturen“ folgt die Klassifikation einem gängigen Verständnis von Behinderung, indem Beeinträchtigungen von physischen und psychischen Funktionen und Strukturen beurteilt werden. Die Komponenten „Aktivitäten und Partizipa-
88 Danke an Eva Kraus für diese Zusammenstellung. Eine instruktive zusammenfassende Information, erarbeitet von Eva Kraus, Ellen Puchstein und Ruth Weizel ist auf www.pantucek.com zugänglich.
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tion (Teilhabe)“ sowie „Umweltfaktoren“ zielen auf eine relationale Einschätzung, wie sie für die Planung sozialarbeiterischer Aktivitäten erforderlich ist : Sie werden unter Rücksichtnahme auf die tatsächliche aktuelle Lebensumwelt eingeschätzt.
Für einen ersten Eindruck seien hier zuerst die First-Level-Klassifikationen
der beiden Komponenten vorgestellt :
Klassifikation der Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)
Kapitel 1 : Lernen und Wissensanwendung Kapitel 2 : Allgemeine Aufgaben und Anforderungen Kapitel 3 : Kommunikation Kapitel 4 : Mobilität Kapitel 5 : Selbstversorgung Kapitel 6 : Häusliches Leben Kapitel 7 : Interpersonelle Interaktionen und Beziehungen Kapitel 8 : Bedeutende Lebensbereiche Kapitel 9 : Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben Kapitel 1 : Produkte und Technologien Kapitel 2 : Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt Kapitel 3 : Unterstützung und Beziehungen Kapitel 4 : Einstellungen Kapitel 5 : Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze Für jede der beiden Komponenten soll hier nun je ein Unterkapitel zur Veranschaulichung vorgestellt werden. Zuerst ein Unterkapitel aus dem Kapitel 7 der Komponente „Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe)“ : Allgemeine interpersonelle Interaktionen (d710−d729) d710 Elementare interpersonelle Aktivitäten Mit anderen in einer kontextuell und sozial angemessenen Weise zu interagieren, wie die erforderliche Rücksichtnahme und Wertschätzung zeigen oder auf Gefühle anderer reagieren. Inkl. : Respekt, Wärme, Wertschätzung und Toleranz in Beziehungen zeigen ; auf Kritik und soziale Zeichen in Beziehungen reagieren und angemessenen körperlichen Kontakt einzusetzen
Klassifikationssysteme
d7100 Respekt und Wärme in Beziehungen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise Rücksichtnahme und Wertschätzung zu zeigen und darauf zu reagieren. d7101 Anerkennung in Beziehungen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise Zufriedenheit und Dankbarkeit zu zeigen und darauf zu reagieren. d7102 Toleranz in Beziehungen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise Verständnis und Akzeptanz für Verhalten zu zeigen und darauf zu reagieren. d7103 Kritik in Beziehungen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise implizite und explizite Meinungsverschiedenheiten oder Uneinigkeit auszudrücken und darauf zu reagieren. d7104 Soziale Zeichen in Beziehungen Zeichen und Hinweise, die bei sozialen Interaktionen vorkommen, in angemessener Weise zu geben und darauf zu reagieren. d7105 Körperlicher Kontakt in Beziehungen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise mit anderen körperlichen Kontakt aufzunehmen und darauf zu reagieren. d7108 Elementare interpersonelle Aktivitäten, anders bezeichnet d7109 Elementare interpersonelle Aktivitäten, nicht näher bezeichnet d720 Komplexe interpersonelle Interaktionen Die Interaktionen mit anderen in einer kontextuell und sozial angemessenen Weise aufrechtzuerhalten und zu handhaben, wie Gefühle und Impulse steuern, verbale und physische Aggressionen kontrollieren, bei sozialen Interaktionen unabhängig handeln und in Übereinstimmung mit sozialen Regeln und Konventionen handeln. Inkl. : Beziehungen eingehen und beenden ; Verhaltensweisen bei Interaktionen regulieren ; sozialen Regeln gemäß interagieren und sozialen Abstand wahren. d7200 Beziehungen eingehen In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise mit anderen Interaktionen für kurze oder längere Zeiträume zu beginnen und aufrechtzuerhalten, wie sich vorstellen, Freundschaften schließen und berufliche Beziehungen herstellen, eine mögliche Dauer-, Liebes- oder intime Beziehung beginnen. d7201 Beziehungen beenden In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise Interaktionen zu beenden, wie zeitlich begrenzte Beziehungen am Ende eines Besuches beenden, längerfristige Beziehungen mit Freunden, die in eine andere Stadt ziehen, beenden oder Beziehungen mit
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Arbeits-, Berufskollegen oder Dienstleistungserbringern beenden sowie Liebes- oder intime Beziehungen beenden . d7202 Verhalten in Beziehungen regulieren In einer kontextuell und sozial angemessenen Weise Gefühle und Impulse, verbale und physische Aggressionen zu regulieren. d7203 Sozialen Regeln gemäß interagieren In sozialen Interaktionen unabhängig zu handeln und sich nach den sozialen Konventionen, die die eigene Rolle, Stellung oder einen anderen sozialen Status bei Interaktionen mit anderen bestimmen, zu richten. d7204 Sozialen Abstand wahren In einer kontextuell, sozial und kulturell angemessenen Weise sich über den Abstand zwischen sich und anderen bewusst zu sein und diesen zu wahren. d7208 Komplexe interpersonelle Interaktionen, anders bezeichnet d7209 Komplexe interpersonelle Interaktionen, nicht näher bezeichnet d729 Allgemeine interpersonelle Interaktionen, anders oder nicht näher bezeichnet Die Beurteilung erfolgt auf einer Skala, die von xxx.0 (Problem nicht vorhanden) bis xxx.4 (Problem voll ausgeprägt) reicht, wobei die xxx für den jeweiligen Code stehen. Die Klassifikation d7204.2 würde also bedeuten, dass es ein mäßig ausgeprägtes Problem bei der Wahrung des angemessenen Abstands zwischen sich und anderen gebe. Die Beurteilung erfolgt hier in Relation zu einer „einheitlichen oder Standardumwelt“ (ICF 2008 : 95). Die Merkmale dieser Standardumwelt werden mit der Komponente der Umweltfaktoren kodiert.
Als Beispiel für die Codierung von Umweltfaktoren hier das Kapitel 4 :
Kapitel 4 : Einstellungen Dieses Kapitel befasst sich mit Einstellungen, die beobachtbare Konsequenzen von Sitten, Bräuchen, Weltanschauungen, Werten, Normen, tatsächlichen oder religiösen Überzeugungen sind. Diese Einstellungen beeinflussen individuelles Verhalten und soziales Leben auf allen Ebenen, von zwischenmenschlichen Beziehungen, Kontakten in der Gemeinde bis zu politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Strukturen. So können zum Beispiel individuelle oder gesellschaftliche Einstellungen zu Vertrauenswürdigkeit und Wert einer Person zu ehrenhaftem oder negativem und diskriminierendem Umgang
Klassifikationssysteme
(z.B. Stigmatisierung, Stereotypisierung und Marginalisierung oder Vernachlässigung der Person) motivieren. Die klassifizierten Einstellungen beziehen sich auf Personen des Umfeldes der zu beschreibenden Person und nicht auf die zu beschreibende Person selbst. Die individuellen Einstellungen sind bezüglich der Arten der Beziehungen, die in Kapitel 3 der Umweltfaktoren aufgelistet sind, kategorisiert. Werte und Überzeugungen sind nicht gesondert von den Einstellungen codiert, weil angenommen wird, dass sie die treibenden Kräfte hinter den Einstellungen sind. e410 Individuelle Einstellungen der Mitglieder des engsten Familienkreises Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen der Mitglieder des engsten Familienkreises, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e415 Individuelle Einstellungen der Mitglieder des erweiterten Familienkreises Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen der Mitglieder des erweiterten Familienkreises, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen, und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen e420 Individuelle Einstellungen von Freunden Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Freunden, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e425 Individuelle Einstellungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Bekannten, Seinesgleichen (Peers), Kollegen, Nachbarn und anderen Gemeindemitgliedern, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e430 Individuelle Einstellungen von Autoritätspersonen Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Autoritätspersonen, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e435 Individuelle Einstellungen von Untergebenen Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Untergebenen, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen.
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e440 Individuelle Einstellungen von persönlichen Hilfs- und Pflegepersonen Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von persönlichen Hilfsund Pflegepersonen, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen, und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e445 Individuelle Einstellungen von Fremden Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Fremden, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e450 Individuelle Einstellungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von Fachleuten der Gesundheitsberufe, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e455 Individuelle Einstellungen von anderen Fachleuten Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen von anderen Fachleuten, die eine bestimmte Person oder andere Dinge (z.B. soziale, politische und ökonomische Themen) betreffen und die individuelles Verhalten und Handlungen beeinflussen. e460 Gesellschaftliche Einstellungen Allgemeine oder spezifische Meinungen und Überzeugungen, die im allgemeinen von Mitgliedern einer Kultur, Gesellschaft oder subkulturellen oder anderen gesellschaftlichen Gruppen zu anderen Menschen oder zu sozialen, politischen und ökonomischen Themen vertreten werden und die Verhaltensweisen oder Handlungen einer Einzelperson oder Personengruppe beeinflussen. e465 Gesellschaftliche Normen, Konventionen und Weltanschauungen Sitten, Praktiken/Bräuche, Regeln sowie abstrakte Wertsysteme und normative Überzeugungen (z. B. Ideologien, normative Weltanschauungen und moralphilosophische Ansichten), welche innerhalb gesellschaftlicher Kontexte entstehen und die gesellschaftliche und individuelle Gewohnheiten und Verhaltensweisen beeinflussen oder schaffen, wie gesellschaftliche Normen der Moral, der religiösen Verhaltensweisen oder Etikette ; religiöse Lehren und daraus abgeleitete Normen und Konventionen ; Normen, die Rituale oder das Zusammensein sozialer Gruppen bestimmen. e498 Einstellungen, anders bezeichnet e499 Einstellungen, nicht näher bezeichnet
Klassifikationssysteme
Bei der Beurteilung von Umweltfaktoren wird sowohl eine positive als auch eine negative Skala herangezogen. Die Negativskala bezieht sich auf Barrieren, d.h., es wird eingeschätzt, inwieweit die vorfindliche Umwelt eine Barriere darstellt. Die Skala reicht von xxx.0 (Barriere nicht vorhanden) bis xxx.4 (Barriere voll ausgeprägt). Wird die Umwelt in Bezug auf einen Faktor als förderlich eingeschätzt, kann die Skala in den Positivbereich verlängert werden. Die Skala reicht in diesem Fall von xxx+0 (Förderfaktor nicht vorhanden) bis xxx+4 (Förderfaktor voll ausgeprägt).
Die ICF ist ein mächtiges Instrument und ist in Deutschland durch die Veran-
kerung im Sozialgesetzbuch IX bereits unmittelbar wirksam. Sie überschreitet systematisch eine medizinisch eingeschränkte Sicht auf Behinderung und Krankheit und hat daher das Potenzial, den Diskurs über die Aufgaben des Gesundheitswesens neu zu strukturieren.
Auf Basis der ICF sollen einrichtungsspezifische sogenannte Core-Sets erar-
beitet werden, die für eine bestimmte Klientel typische Faktoren zusammenfassen. Dadurch kann das Instrument handhabbarer gemacht werden. Es besteht allerdings die Gefahr, dass durch die rigide Auswahl von Faktoren für das Core Set die Stärken der ICF unterlaufen werden.89
Die Darstellung hier muss zwangsläufig unvollständig und unzureichend
bleiben. Weitere Informationen zur ICF sind auf einschlägigen Websites zu finden, einige auch auf www.pantucek.com.
Viel wird von der Umsetzung/Übersetzung der ICF in die Praxis des Gesund-
heitswesens abhängen. Die mittelfristigen Auswirkungen auf die Soziale Arbeit können noch schwer abgeschätzt werden. Einige wesentliche Weichenstellungen wie die Situationsbezogenheit und die detaillierte Aufgliederung von Umweltfaktoren können bei der Diskussion über ein mögliches Klassifikationssystem für die Soziale Arbeit allerdings nicht übergangen werden.
89 So berichtet z.B. Ruth Weizel (Kraus u.a. 2006 : 30) von einem Core-Set, entwickelt durch den Kostenträger Kärntner Landesregierung. Der ICF wurden nur 21 Items, alle aus der Domäne „Aktivität und Partizipation“, entnommen. Die Skalierung wird direkt in einen Personalbedarf übersetzt. Von den Grundgedanken der ICF bleibt so nichts übrig.
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Person-In-Environment-Classification-System (PIE) Der Wunsch nach einem Klassifikationssystem in der Sozialarbeit ist zwar vorhanden und nachvollziehbar, die Entwicklung eines verbindlichen Systems allerdings in hohem Grad unwahrscheinlich. Die Sozialarbeit besitzt keine potenten Organisationen, die systematisch die Entwicklung eines solchen Systems, die mit beachtlichen Kosten verbunden wäre, finanzieren könnten oder wollten, und keine internationale Organisation mit ausreichendem Einfluss und Ansehen, die seine Verbreitung auch vorantreiben könnte.90 Schon die systematische Erprobung scheitert daran, dass dazu die Kooperation von Trägerorganisationen nötig wäre, die wiederum ihre eigenen Dokumentationssysteme und Dokumentationsbedürfnisse haben, die i.d.R. stärker an betriebswirtschaftlichen, bürokratischen und juristischen Kriterien ausgerichtet sind, als an den fachlichen Erfordernissen der Sozialarbeit.
Der einzige mir bekannte Versuch, ein Klassifikationssystem für die Sozial-
arbeit zu entwickeln, wurde von Karls und Wandrei in den USA am Beginn der 90er-Jahre unternommen und kam seither nicht richtig vom Fleck. Der erhoffte Beginn einer professionsweiten Entwicklungsarbeit scheint nur in eine Sackgasse geführt zu haben.
Trotzdem : Der Versuch war nicht nur verdienstvoll, sondern er ist in einigen
Ansätzen durchaus brauchbar und verdiente eine breitere Rezeption. Im deutschen Sprachraum wurde die Anstrengung der Amerikaner überhaupt lange ignoriert, erst 1998 wurde er kurz in den Blättern der Wohlfahrtspflege (Adler 1998 :161ff.) vorgestellt – ohne erkennbare Resonanz. 2000 nahm Stimmer ihn in seinen Band „Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialarbeit“ auf. Ich übersetzte die Erhebungsbögen 2002 auf Deutsch und testete sie in der Lehre und in der Arbeit mit PraktikerInnen.
Das von J. M. Karls und K. E. Wandrei (1994a und b) entwickelte System
nimmt für sich in Anspruch, theorieneutral zu funktionieren, d.h. für SozialarbeiterInnen, egal welcher Ausrichtung oder Schule, verwendbar zu sein.
Ich stelle wieder zuerst das Werkzeug (hier die Erhebungs- und Ergebnis-
bögen) vor, um dann auf einige Aspekte dieses Notationssystems einzugehen. 90 Ilse Arlt (1958 :23) beklagte bereits vor einem halben Jahrhundert, dass die Fürsorge mangels eines internationalen „anerkannten geistigen Forums“ an ihrer Entwicklung behindert sei. Daran hat sich leider noch wenig geändert.
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Die Bögen sind von mir für Lehr- und Testzwecke ins Deutsche übersetzt worden. Das Manual ist allerdings noch unübersetzt und, soweit mir bekannt, gab es im deutschen Sprachraum auch noch keine kontrollierten Testläufe für dieses System. Einige Tests in Lehre und Praxis in den USA, Japan und anderen Ländern sind in Karls/Wandrei (1994b) dokumentiert.
Das PIE, entwickelt in den 90er-Jahren mit Unterstützung der National Asso-
ciation of Social Workers von Karls und Wandrei in den USA, stellt den Anspruch, Keim eines Klassifikationssystem zu sein, das für die Soziale Arbeit in Zukunft eine vergleichbare Rolle spielen könnte wie das ICD-10 oder DSM-IV in der Medizin bzw. der Psychiatrie. Zu diesem Zweck ist das System auch ähnlich aufgebaut, zum Beispiel mit einem Codesystem und mit mehreren „Achsen“, hier Faktoren genannt. Das PIE ist auf die Kombinierbarkeit mit den Klassifikationssystemen der Medizin ausgerichtet : Der Faktor 3 (Psychische Gesundheit) und der Faktor 4 (Physische Gesundheit) entsprechen Diagnosen nach ICD-10 bzw. DSM-IV. Die diagnostische Leistung der sozialarbeiterischen Fachkräfte besteht in der Klassifizierung entlang der ersten beiden Faktoren, nämlich Problemen in Rollen und Problemen der Umwelt – wobei die Klassifikation in Faktor 2 nur insofern erfolgt, als sie Probleme bei Faktor 1 tangiert. Faktor 3 und 4 können, wenn und solange keine autorisierten medizinischen Diagnosen vorliegen, vorerst nach Angaben der KlientInnen ausgefüllt werden (eine Quellenangabe für die Diagnosen bei den Faktoren 3 und 4 ist jedenfalls anzuführen).
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Grafik 66 : PIE Blatt 1 (Karls/Wandrei)
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Grafik 67 : PIE Blatt 2 (Karls/Wandrei)
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Grafik 68 : PIE Blatt 3 (Karls/Wandrei)
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Grafik 69 : PIE Blatt 4 (Karls/Wandrei)
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Grafik 70 : PIE Blatt 5 (Karls/Wandrei)
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Grafik 71 : PIE Blatt 6 (Karls/Wandrei)
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 72 : PIE Blatt 7 (Karls/Wandrei)
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Grafik 73 : PIE Blatt 9 (Karls/Wandrei)
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 74 : PIE Blatt 9 (Karls/Wandrei)
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Grafik 75 : PIE Blatt 10 (Karls/Wandrei)
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 76 : PIE Ergebnisblatt (Karls/Wandrei)
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Zuallererst fällt auf, dass Karls und Wandrei anstelle der Termini „Krankheit“ oder „Störung“ den Problembegriff verwenden. So wenig überraschend das ist, verdient es doch festgehalten zu werden. Mit dieser Begriffswahl erfolgt bereits eine Abgrenzung gegenüber einem essenzialistischen und/oder einem dem medizinischen analogen Verständnis des Gegenstands der Kategorisierung. Konsequenterweise werden auch keine Symptome angeführt, deren Vorhandensein dann zu einer diagnostischen Zuordnung führt. Weiters wird auf eine ursachenorientierte qualitative Charakterisierung der Probleme verzichtet. Die erfassten Problemdimensionen sind • der Ort des Auftretens • die Art • die Dauer • die Qualität der Copingstrategien Das Klassifikationssystem ist auf Individuen zentriert. Wendet man es auf Problemlagen an, die mit einem sozialen System, z.B. der Familie, sehr stark verknüpft sind (wie dies z.B. in der Jugendwohlfahrt die Regel ist), muss für die wichtigsten zentral beteiligten Personen je eine eigene Diagnose durchgeführt werden. Ich halte das für einen Vorteil : Arbeit mit Familien läuft ohnehin Gefahr, die Beziehungsaspekte im Vordergrund zu sehen und die Individuen als die i.d.R. einzig handlungs- und vertragsfähigen Systeme91 dabei aus den Augen zu verlieren.
Mit der Entscheidung, die Klassifikation auf der Achse eins entlang von
„Problemen in Rollen“ zu strukturieren, begünstigt eine relationale (und soziologische) Sichtweise. Vorerst passiert weder eine Verortung des Problems „im“ Klienten noch eine Schuldzuweisung, sondern es wird nur ein Problem mit subjektiver Bedeutung konstatiert. Da das Rollenmanagement der KlientInnen in Blick genommen wird, stehen im Anschluss Interventionsmöglichkeiten offen, die auf den Klienten, sein Verhalten und sein Bewusstsein zielen, aber auch solche, die auf eine Beeinflussung der lebensweltlich anderen Personen und/oder auf eine Beeinflussung der Beziehung zielen. Die Klassifikation ist damit ideal auf die sozialarbeiterische Interventionspalette zugeschnitten.
91 Die Rede von der „Familie als Klient“ (exemplarisch : Herwig-Lempp 2002) konstruiert einen Klienten, der nicht handlungsfähig ist. „Die Familie“ kann keine Entscheidungen treffen, außer man stellt eine Struktur zur Verfügung, in der sie das kann – wie das zum Beispiel das Family Group Decision Making (s. Kapitel 7.8) tut.
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Als besonders hilfreich erwies sich bei Probeläufen die Indizierung nach
den drei Dimensionen Intensität, Dauer und Copingfähigkeiten. Hohe Zahlen bei allen drei Indizes verweisen auf Dringlichkeit. Probleme großer Intensität, mit deren Bewältigung die KlientInnen große Schwierigkeiten haben und die noch relativ neu sind, erfordern und ermöglichen Bearbeitung – durch die kurze Dauer ist die Prognose bei einer Bearbeitung auch noch wesentlich besser, als wenn die Probleme bereits seit längerer Zeit bestehen. Die Indizierung ermöglicht begründete Entscheidungen über die Interventionsstrategie.
Ergänzend zum PIE wäre noch eine (zumindest beispielhafte) Aufzählung
der möglichen Interventionen wünschenswert. Die der amerikanischen Ausgabe des PIE angefügte Interventionsliste ist m.E. noch zu allgemein und bedarf einer Konkretisierung. Hier stehen wir allerdings vor dem allgemeinen Problem unvollständiger Professionalisierung in der Sozialarbeit, das ich bereits im Kapitel 7.0 angesprochen habe : die mangelnde Standardisierung der Sprache und der Begriffe in der Sozialarbeit.
Das PIE ist tendenziell ein sehr mächtiges Instrument für sozialarbeiterische
Diagnostik. Wünschenswert wäre auch hier eine kontrollierte Erprobung in Praxiszusammenhängen, die Übersetzung/Anpassung des Manuals und die Entwicklung einer Liste möglicher Interventionen.
In der Lehre ermöglicht das PIE die Orientierung der Sozialarbeits-StudentIn-
nen auf Fragestellungen der Sozialarbeit in Abgrenzung zu solchen der Psychologie, Psychotherapie oder Medizin. Das entspricht auch internationalen Erfahrungen (vgl. z.B. Mandiberg und Kiyaoka 1994 : 113ff.).
Als allgemein gültiges Klassifikationssystem und gemeinsame Sprache für die
Sozialarbeit wird das PIE wahrscheinlich nicht funktionieren, dafür wäre eine tendenziell flächendeckende Anwendung erforderlich. Dagegen spricht, dass die medizinischen Klassifikationssysteme (ICD-10, mit Einschränkungen DSM-IV ) aus materiellen Gründen Dominanz beanspruchen und sichern – so schließen Statistiken und Leistungsgewährung der Sozialversicherungsträger an Klassifikationen nach dem ICD-10 an. Die Chance, sozialarbeiterische Leistungen (und deren Finanzierung) über das PIE statistisch zu erfassen, ist gering und würde eine mächtigere Verhandlungsposition der Sozialarbeit erfordern, als sie real gegeben ist. Realistischerweise kann also das PIE in interessierten Organisationen als diagnostisches Instrument und als Instrument der Interventionsplanung sowie der organisationsinternen Statistik eingesetzt werden, wird aber die Koexistenz mit dem ISD–10 suchen müssen, obwohl dieses für sozialarbeiterische Zwecke weitgehend unbrauchbar ist.
Klassifikationssysteme Person-In-Environment-System (PIE) Typus C/D/F Gegenstand Probleme in Rollen und Probleme in der Umwelt Handhabung Kann von SozialarbeiterInnen auch ohne direkte Beteiligung der KlientInnen für die Klassifikation der relevanten Probleme und für eine Vorbereitung der Interventionsplanung verwendet werden. Ausfüllen der Formulare außerhalb der KSI. Ratsam ist aber ein Einspielen der Ergebnisse in die nächste → Sitzung mit dem Klienten („Ich habe mir Ihre Situation durch den Kopf gehen lassen, mir scheinen … die wichtigsten Probleme zu sein.“) Wirkungen Die Handhabung des Instruments hat wenig direkte Auswirkungen auf die KSI, stärkere Fokussierung der Vorstellungen der SozialarbeiterInnen, ermöglicht Interventionsentscheidungen. Eröffnet durch seinen Aufbau eine sozialökologische Perspektive. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Wegen der derzeit geringen Verbreitung sind die Codierungen für die Interventions- und Thematisierungsentscheidungen brauchbar, allerdings nicht für die Kommunikation zwischen verschiedenen professionellen HelferInnen, wie man es von einem Klassifikationssystem erwarten würde. Keine bekannten Kontraindikationen. Interpretation Das Erhebungs- und Klassifikationsinstrument PIE erfordert bereits bei der Einschätzung der einzelnen Probleme/Kategorien Entscheidungen/Skalierungen durch die Sozialarbeiterin. Die weitere Interpretation kann dann anhand der Codices erfolgen und die Skalierung z.B. für eine Problemreihung nach Prognose und Dringlichkeit nutzen. Kommunikative Validierung sinnvoll.
Einsatzmöglichkeiten der Person-In-Environment-Klassifikation Einsatz
Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Gegen Ende der Startphase und zu Evaluationsterminen
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
7.8 Kooperative und Black-Box-Diagnostik Was ich hier als „Black-Box-Diagnostik“ bezeichne, sind Verfahren, die ganz klar nicht darauf abzielen, dass die SozialarbeiterInnen klüger werden, sondern dass die KlientInnen ihre Handlungsfähigkeit verbessern. Diese Verfahren sind in dem Sinne diagnostisch, als sie auf die strukturierende Bewertung von Situationen zielen und dass sie unter Anleitung/Organisation der SozialarbeiterInnen stattfinden. Ihr Black-Box-Charakter besteht darin, dass die SozialarbeiterInnen nicht die Kontrolle über die Inhalte des Prozesses haben, in manchen Fällen sogar das Ergebnis nicht erfahren, sondern nur die Schlussfolgerungen daraus. Black-Box-Diagnostik ist gleichermaßen Diagnose wie Intervention, wobei der Interventionscharakter überwiegen kann. Sie knüpft nicht nur an der Eigendiagnose durch die Fallbeteiligten an, sondern stimuliert und strukturiert sie, versucht ihr eine Richtung zu geben.
In der Sozialarbeit und einigen Bereichen der Psychotherapie sind eine Fülle
von Fragetechniken entwickelt worden, die die KlientInnen zur Entwicklung strukturierter und präziser Eigendiagnosen hinführen können. Auf die wichtigsten der hier nicht dargestellten sei kurz verwiesen : die Techniken zirkulären Fragens und die Wunderfrage aus der Lösungsorientierten Kurztherapie.
Kooperativ sind auch eine Reihe von diagnostischen Verfahren, die ich in
anderen Abschnitten beschrieben habe. Das ist auch nicht verwunderlich : Sozialarbeit braucht aufgrund ihrer Interventionsstrategie den Anschluss an die Eigendiagnosen der KlientInnen, weshalb für sie jene Verfahren am nützlichsten sind, die KlientInnen in die Diagnoseerstellung aktiv einbeziehen. Das Besondere an den in diesem Kapitel vorgestellten Verfahren ist, dass bei ihnen die Arbeit der KlientInnen im Vordergrund steht und die Interpretationsarbeit der SozialarbeiterInnen relativ unbedeutend bleibt. Problemranking Dieses Instrument wurde mir von einer Kollegin für den Einsatz in der Krisenintervention beschrieben, ist jedoch nahezu universell bei multiplen Problemlagen anwendbar.
Die Vorgehensweise ist einfach : Wenn KlientInnen eine Vielfalt von Proble-
men präsentieren (z.B. Schulden, übermäßiger Alkoholkonsum des Partners, Erziehungsprobleme mit den Kindern, depressive Verstimmungen …), wird ihnen
Kooperative und Black-Box-Diagnostik
vorgeschlagen, dass sie bis zur nächsten Sitzung alle ihre Probleme aufschreiben und in eine Rangordnung ähnlich wie eine „Hitparade“ bringen sollen. Auf Platz eins das Problem, das für sie jenes ist, das sie zuerst behandelt haben möchten, usw. In der nächsten Sitzung werden die KlientInnen dann eingeladen, diese geordnete Liste zu präsentieren. Auf deren Basis wird nach Besprechung, wie es zu dieser Reihung gekommen ist, die Entscheidung über die weitere Vorgangsweise im Unterstützungsprozess getroffen.
Eine mögliche Variante ist, den KlientInnen zu empfehlen, die erste Variante
ihrer Liste auch mit Important Others zu besprechen. So werden andere Problemsichten von den KlientInnen selbst in ihre Überlegungen einbezogen (sie können natürlich auf ihrer Sicht der Dinge beharren, aber auch dann tun sie das bereits in Kenntnis der anderen Sichtweisen).
Erster Effekt des Einsatzes dieses Verfahrens von Black-Box-Diagnostik ist,
dass die BeraterInnen dem unmittelbaren Druck der zahlreichen Probleme entkommen.
Der zweite Effekt ist, dass die KlientInnen sich selbst um eine Ordnung ih-
rer Eigendiagnose bemühen. Sie arbeiten strukturiert an einer Gewichtung. Die Wahrscheinlichkeit der motivierten Mitarbeit der KlientInnen an der Lösung der Probleme kann so erhöht werden. Problemranking Typus A Gegenstand subjektive Reihung der Probleme nach Wichtigkeit Handhabung Anweisung an Klienten, bis zur nächsten Sitzung eine Rangliste seiner Probleme zu erstellen. Die Zeit zur gründlichen Überlegung ist unbedingt zu gewähren – innerhalb einer Sitzung wäre die Entscheidungszeit zu kurz und die Verbindlichkeit/Zuverlässigkeit der Reihung wesentlich geringer. Fakultativ kann dem Klienten empfohlen werden, die Liste mit einer Person seines Vertrauens zu besprechen. Wirkungen Strukturierung der Problemsicht der KlientInnen, Klärung bei multiplen Problemlagen. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Anwendungsprobleme können sich ergeben, wenn KlientInnen sehr geringes Selbstbewusstsein besitzen und die Liste nach sozialer Erwünschtheit erstellen. Gibt es Hinweise darauf, kann dies in der Besprechung der Liste bei der Folgesitzung thematisiert werden. Interpretation Wenig Interpretationsleistung durch die Fachkraft erforderlich. Die Liste bietet Möglichkeit zum relativ direkten Anschluss von kooperativer Interventionsplanung.
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Einsatzmöglichkeiten des Problemrankings Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
Situierung im Prozess
Startphase zur Strukturierung der Eigendiagnose
ja
Begleitung
ggf.
Feldsubstitution
ggf.
wenn bei multipler Problemlage angezeigt
Skalierungen DeShazer (1989 und 1992) hat Skalierungen in seiner auf sozialarbeiterische Beratungskonzepten aufbauenden sogenannten systemischen Kurztherapie entwickelt. Sie funktionieren so, dass KlientInnen während der Sitzung dort, wo sie relativ vage Einschätzungen liefern, zur Verortung auf einer Skala von 1 bis 10 aufgefordert werden.
Die Erfassung komplexer qualitativer Daten durch einen Zahlenausdruck hat
den Vorteil der Verdichtung. Wenn ich einen Klienten ersuche, sein Verhältnis zu seinen Eltern auf einer Skala zwischen 1 und 10 zu verorten, wobei 1 katas trophal und 10 prächtig sein soll, so wird er die Kontaktfrequenz, die Häufigkeit und Intensität von Streits, das Ausmaß an erfahrener Liebe, an Unterstützung, seine Gefühle beim Gedanken an seine Eltern überlegen, wird mit früheren Phasen dieser Beziehung vergleichen und mit anderen ihm bekannten Eltern-KindBeziehungen, mit seinen Vorstellungen von einer guten Eltern-Kind-Beziehung und seinen Wünschen an seine Eltern. All das wird er einfließen lassen in seine Entscheidung. Sagen wird er : 5. In diese Entscheidung gingen all die ambivalenten Gefühle ein, die wir normalerweise unseren Eltern gegenüber haben. Im Beratungsprozess kann so eine Verdichtung sinnvoll sein, wir kennen die Skalierung als ein Mittel, um die Gedanken zu strukturieren und zu fokussieren. Wir könnten zum Beispiel dann den Klienten auffordern, sich zu überlegen, wie er auf einen Wert von 7 kommen könnte. Was müsste er dafür tun ? Er wird auf die Überlegungen zurückgreifen, die er vorher angestellt hat. Er hat sie ja noch zur Hand, sie sind nicht verschwunden.
Betrachten wir allerdings diese Zahl 5 von außen, wissen wir nicht, welche
Überlegungen und Informationen in sie eingeflossen sind, können wir die auch
Kooperative und Black-Box-Diagnostik
nicht wieder herausholen. Die 5 sagt fast nichts. All die Ambivalenzen sind verschwunden, die vorher im Kopf des Klienten waren. Vor allem aber ist festzuhalten, dass sich dieser Wert nicht mit den Werten vergleichen lässt, die von anderen Klientinnen und Klienten gewählt wurden. Er ist kein Maß. Er ist ein qualitatives Datum, ein Symbol für ein Bündel an Erfahrungen, Gefühlen und Wünschen, und dieses Symbol kann nur entziffern, wer es selbst niedergeschrieben hat.
Aus diesem Grund sind Skalierungen – wenn sie nicht inflationär angewandt
werden – ein ausgezeichnetes Instrument zur Verdichtung der Eigendiagnose und zur Fokussierung der Lösungsüberlegungen der KlientInnen, sind allerdings ein wenig geeignetes Mittel für darüber hinausgehende Diagnostik oder für das Vergleichen von Problemlagen (vgl. dazu Pantucek 2003b). Skalierung Typus A Gegenstand Einschätzung von Gefühlsqualitäten oder komplexen Beziehungsqualitäten durch die KlientInnen Handhabung Einsatz im Beratungsgespräch. Aufforderung an KlientIn, ein Gefühl oder eine Beziehung auf einer Skala von 1 bis 10 einzuschätzen, wobei die Extremwerte von der Beraterin benannt/beschrieben werden. Nach der Skalierung durch KlientIn kann in der Beratung auf den Wert Bezug genommen werden („Was müsste geschehen, damit Sie auf den Wert X kommen ?“ ; „Woran würden Sie erkennen, dass dieser Wert gestiegen/ gesunken ist ?“ ; „was können Sie tun, um auf X zu kommen ?“) Wirkungen Die wichtigste Wirkung ist die Fokussierung der KlientInnen, die Ordnung ihrer vagen oder widersprüchlichen Gedanken zum Thema und die Möglichkeit, dann ein Ziel zu benennen, das sich zwar in einer Zahl ausdrückt, aber die Vielschichtigkeit und Ambivalenz der Situation trotzdem nicht eliminieren muss. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Keine Anwendungsprobleme bekannt. Interpretation Eine Interpretation der vom Klienten generierten Zahlenwerte ist nicht erforderlich, diese dienen in der Folge als Chiffre für die Situation bzw. die Qualität, die der Klient eingeschätzt hat.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Einsatzmöglichkeiten von Skalierungen Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Einsatz jederzeit kurzfristig möglich
4-Felder-Matrix des Motivational Interviewing Motivational Interviewing („Motivierende Gesprächsführung“) ist eine Beratungstechnik, die in der Suchtberatung entwickelt wurde (Millner/Rollnick 2002, Körkel/Drinkmann 2002) und sich durch die Anerkennung der inneren Ambivalenz der KlientInnen auszeichnet. Ohne das Gesamtkonzept hier vorstellen zu können, sei doch auf ein Element des Beratungskonzepts hingewiesen, das eine strukturierte Bearbeitung der Eigendiagnose der KlientInnen unterstützt und auch in anderen Feldern der Sozialen Arbeit mit Gewinn angewandt werden kann.
Ausgangsannahme ist, dass Menschen wesentliche Änderungen ihres Verhal-
tens einerseits wünschen, andererseits fürchten. Tendenziell (selbst)schädigende Gewohnheiten/Verhaltensweisen, seien es nun substanzgebundene Süchte oder z.B. körperliche Angriffe auf die eigenen Kinder, pflegen sie nicht aus Unkenntnis über deren schädliche Wirkungen oder aus Bosheit, sondern weil eine Aufgabe dieser Verhaltensweisen eine Fülle von Nachteilen mit sich bringt, die möglicherweise sofort wirksam werden, während die segensreichen Folgen erst mit einiger Zeitverzögerung einzutreten pflegen. Darüber hinaus ziehen sie aus dem von außen betrachtet schädlichen oder unmoralischen Verhalten direkten Nutzen. Ein Nutzen, der bei so manchen therapeutischen Anstrengungen abgewertet oder verneint wird.
Die 4-Felder-Matrix dient den KlientInnen zu einer rationalen Abwägung ih-
rer Entscheidung zwischen Aufrechterhalten oder Änderung ihres Verhaltens/ Lebensstils. Um sie voll wirksam werden zu lassen, sollte seitens der Beraterin möglichst kein Druck ausgeübt werden. Das Instrument ist auch beratungstech-
Kooperative und Black-Box-Diagnostik
nisch am wirkungsvollsten, wenn die KlientInnen auf ihre eigene Entscheidung verwiesen werden, wenn die Beraterin die guten Gründe der KlientInnen für ihr derzeitiges Verhalten und dessen Beibehaltung anerkennt.
Die Matrix wird von KlientInnen selbst ausgefüllt, und das möglichst abseits
eines Settings, das irgendeine Form von Druck auf sie ausüben könnte. Es empfiehlt sich daher, ihnen das Blatt mitzugeben, damit sie es in Ruhe zu Hause bei reiflicher Überlegung ausfüllen können.
Bei der Nachbesprechung sind die Einträge in den vier Feldern gleichgewich-
tet zu würdigen und zu besprechen. Keine der Eintragungen sollte abgewertet werden. Nur so wird eine rationale Entscheidung der KlientInnen nachhaltig unterstützt und eine erfolgreiche Änderungsentscheidung wahrscheinlicher. Für einen erfolgreichen Einsatz lohnt es sich, sich mit den Techniken des Motivational Interview vertraut zu machen. Nachteile Wenn ich weiter mache wie bisher
Wenn ich mein Verhalten ändere
Grafik 77 : 4-Felder-Matrix Motivational Interview
Vorteile
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Nachteile
Vorteile
Wenn ich weitermache wie bisher
gesundheitliche Schäden finanzielle Anhängigkeit schlechtes Vorbild für Kinder Beziehungsprobleme Verlust der Partnerschaft Verschwendung von Zeit Verlust des Führerscheins Verlust sozialen Ansehens Kraftaufwand durch Verheimlichen Gefährdung der Wohnung depressive Stimmungen Verlust der Selbstbestimmung
Entspannung weniger Angst angenehme Rauschgefühle soziale Kontakte/Freunde „Vergessen“ von Konflikten innere Unruhe abbauen sich zurückziehen können/Drumherum abschalten mutiger werden weniger Langeweile mehr Genuss
Wenn ich mein Verhalten ändere
Probleme mit/Verlust von Freunden weniger Entspannung mehr Angstzustände mehr Angstzustände Grübeln Alleinsein/Einsamkeit weniger Genuss
mehr Zeit für Familie weniger Geldprobleme zufriedenere Partnerschaft besseres Lebensgefühl Zeit für Interessen/Hobbys geregelte Arbeit mehr Selbstbewusstsein gesünder sein höheres Ansehen Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen
Grafik 78 : 4-Felder-Matrix Motivational Interview (Beispiel nach Körkel/Drinkmann 2002)
4-Felder-Matrix des Motivational Interviewing Typus A/B Gegenstand Rationale Abwägung als Basis für Veränderungsentscheidung der KlientInnen Handhabung Einbettung in eine respektvolle, geduldige und nicht drängende Beratungsstrategie ist erforderlich. Die Matrix sollte von den KlientInnen ohne Zeitdruck (am besten zu Hause zwischen 2 Sitzungsterminen) ausgefüllt werden. In der Beratung wird die Liste von der Beraterin durchgehend bestätigend kommentiert, die Schlussfolgerungen daraus liegen beim Klienten/der Klientin. Rückgriff auf die Liste, wenn Veränderungsentscheidung von KlientIn getroffen wurde : Wie können befürchtete Nachteile vermindert werden ? Es darf kein Zweifel daran bestehen, dass der Klient/die Klientin die Matrix nur für sich selbst und zur Unterstützung der eigenen bewussten Entscheidung ausfüllt. Es ist dringend anzuraten, dass sich BeraterInnen vor Einsatz des Instruments mit der Technik des Motivational Interviewing auseinandersetzen. Wirkungen Entscheidungsvorbereitende Strukturierung der Eigendiagnose ; respektvolle Würdigung der guten Gründe der KlientInnen für ihr aktuelles (problemgenerierendes) Verhalten. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen In Verbindung mit direktivem oder Druck generierendem Beratungsverhalten kann das Verfahren seine Wirkung verfehlen, weil KlientIn vermeintlich erwünschte Abwägung präsentiert, dahinter eine nicht explizierte Eigendiagnose aufrechterhält.
Kooperative und Black-Box-Diagnostik Interpretation Die Interpretation obliegt in erster Linie dem Klienten/der Klientin. Ggf. können vom Berater Informationen/ Überlegungen eingespeist werden, wie Nachteile der Verhaltensänderung gering gehalten werden können. Gleichzeitig sollten diese Nachteile aber als gravierend gewürdigt werden.
Einsatzmöglichkeiten der 4-Felder-Matrix des Motivational Interviews Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Nach gelungener Startphase (Vertrauensaufbau), wenn eine Entscheidung der KlientInnen über mögliche Änderungen eines habituellen, potenziell selbstschädigenden Verhaltens ansteht.
Family Group Decision Making/Social Group Conference Unter verschiedenen Bezeichnungen (Familienrat, Family Group Conferencing, Verwandtschaftsrat etc.) wurden in den letzten Jahren auch in Deutschland Verfahren erprobt, die ein in Neuseeland ab 1989 für den Kinder- und Jugendschutz entwickeltes und unter anderem auch in den Niederlanden – dort unter dem Namen Eigen-Kracht-Konferenzen – erprobtes Modell zum Vorbild haben.
Entwickelt wurde das Verfahren in Neuseeland, und zwar als Reaktion auf
ein Problem der Kinderschutzbehörden : Ihnen wurde nicht ganz zu Unrecht rassistische Praxis vorgeworfen. Kinder aus der Maori-Ethnie hatten eine vielfach höhere Chance, bei Schwierigkeiten aus der Familie genommen zu werden. Offensichtlich gab es bei den Fremdunterbringungsentscheidungen einen Bias zuungunsten der Maoris. Um dem gegenzusteuern, wurde auf ein traditionelles Instrument zurückgegriffen – auf den Rat der erweiterten Familie. Das Grundprinzip besteht darin, dass im Falle einer kritischen Situation (z.B. Gefährdung eines Kindes, Straffälligkeit von Jugendlichen), in der die Jugendwohlfahrt eine Fremdunterbringung in Erwägung ziehen würde, die erweiterte Familie zu einer Konferenz eingeladen wird. In Varianten werden auch nahe FreundInnen, NachbarInnen etc. eingeladen. Um die Teilnahme wird intensiv geworben, zuerst um das Einverständnis der Eltern, dann um die Teilnahme aller Personen, die in Beziehung zu der Kernfamilie stehen. Nötigenfalls wird
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
eine Entschädigung für Verdienstentgang gezahlt, um die Teilnahme zu ermöglichen, oder es wird für weit entfernt lebende Personen die Teilnahme via Video-Konferenz ermöglicht.
Die Konferenz selbst findet in Räumen statt, die von der Behörde zur Ver-
fügung gestellt werden (das ist nicht in allen Varianten des Verfahrens so). Verpflegung wird bereitgestellt, auf Wünsche der Familie wird eingegangen (z.B. kann vor Beginn auch ein religiöses Ritual stattfinden).
Am Beginn der Konferenz legen die SozialarbeiterInnen bzw. die Vertrete
rInnen der Behörden ihre Sicht der Situation dar – und sie betonen, welche „Lösung“ die Behörde vorschlagen würde, z.B. eben eine Fremdunterbringung. Die Fachleute erklären ihre Einschätzung und die Rechtslage. Dann wird den versammelten KonferenzteilnehmerInnen die Möglichkeit zur Beratung für die Vorlage eines Alternativvorschlages gegeben. Hier sind verschiedene Varianten denkbar. Im neuseeländischen Modell beraten die KonferenzteilnehmerInnen allein, ohne Fachkräfte. So viel Vertrauen in die BürgerInnen beweisen nicht alle VeranstalterInnen von Gruppenkonferenzen. In einigen US-amerikanischen Varianten, in Großbritannien (Brown 2002) und bei einigen deutschen Pilotprojekten sind die verantwortlichen SozialarbeiterInnen oder professionellen ModeratorInnen bei den Beratungen der Konferenz anwesend. Ich hege beträchtliche Zweifel daran, dass das sinnvoll ist. Jedenfalls sollten Fachkräfte auf Abruf bereitstehen, um der Konferenz beratend zur Seite zu stehen, wenn sie das wünscht – es können z.B. juristische oder medizinische Fragen auftauchen, deren Beantwortung für die Beratungen bedeutend sein können.
Die Dauer der Beratungen ist offen, manchmal können sie sehr lang wer-
den, ev. einen ganzen Tag. Am Ende, wenn die Konferenz zu einem Ergebnis gekommen ist, wird dieses Ergebnis den VertreterInnen der Behörde vorgelegt und mit dieser verhandelt. Nötigenfalls wird mit den Hinweisen der Fachkräfte noch einmal in eine Beratungsphase eingetreten, dann wieder ein modifiziertes Ergebnis vorgelegt und verhandelt. Am Ende steht eine Vereinbarung darüber, wie die TeilnehmerInnen der Konferenz dazu beitragen wollen/werden, dass die Probleme gelöst werden, die Anlass für die Einberufung der Konferenz waren. Wijnen-Lunenburg und van Beet (2008 : 4) berichten von Eigen-Kracht-Konferenzen im Bereich Jugendschutz in den Niederlanden. Durchschnittlich nehmen 13 Personen teil, sie treffen in diesem Rahmen 18 Entscheidungen. Für 80% der Vereinbarungen fühlen sich die Familien selbst verantwortlich, 20% betreffen staatlich geförderte professionelle Betreuungsleistungen. Die Verbindlichkeit
Kooperative und Black-Box-Diagnostik
der Vereinbarungen scheint sehr hoch, der größte Teil der Vereinbarungen wird nach drei Monaten von der Familie erfüllt. Kinder, Eltern, Verwandte und BetreuerInnen sind mit den Ergebnissen der Konferenz signifikant zufrieden. Auch bei den deutschen Pilotprojekten zeigte sich eine große Zustimmung aller Beteiligten zum Ergebnis, auch wenn letztlich die von der Jugendwohlfahrt vorgeschlagene Maßnahme (Fremdunterbringung) am Ende als Ergebnis der Konferenz feststand. Damit zeigt sich, dass ein mögliches günstiges Ergebnis der Konferenz darin bestehen kann, dass eine Maßnahme die Akzeptanz des Familiensystems findet und damit die Erfolgschancen verbessert werden.
Die Innovation liegt darin, dass gerade zu einem Zeitpunkt, an dem im
üblichen behördlichen Prozedere die Einbindung der KlientInnen und ihres Umfelds eher in den Hintergrund rückt und die Aktionen der Behörde in den Vordergrund, eine gezielte Rückdelegation der Situationseinschätzung und der Lösungsfindung an das natürliche soziale Netz gesetzt wird. Was ist daran diagnostisch ? Zweifelsohne muss vorweg eine profunde Situationseinschätzung durch die Fachkräfte getroffen werden. Schließlich ist es an ihnen, die Konferenz vorzubereiten, mit ihrer Situationsdarstellung die gewünschten TeilnehmerInnen von der Wichtigkeit der Konferenz zu überzeugen und in der einleitenden – möglicherweise konfrontativen – Situationsdarstellung die Dringlichkeit der Beratung noch einmal zu verdeutlichen. Dann aber wird der Stab an die Konferenz weitergegeben. Dort findet durch die TeilnehmerInnen eine genaue Analyse der Situation statt (und es ist anzunehmen, dass dabei durchaus auch harte Worte fallen), und Lösungswege sucht auch die Konferenz. Das heißt, dass der diagnostische Prozess der Falleinschätzung und Lösungsfindung nicht von den Fachkräften zu Ende gegangen wird, sondern eine im Diskurs der BürgerInnen zu findende Situationseinschätzung und Lösungsstrategie zur Grundlage der weiteren Vorgehensweisen gemacht wird. So wird Verantwortung für die Diagnose einer bedrohlichen Situation zwar nicht komplett an die BürgerInnen zurückgegeben (schließlich bleibt die Einschätzung der Situation als bedrohlich durch die Behörde/die einladende Organisation ja die Grundlage der Beratungen), die Einschätzung im Detail und das Finden von Möglichkeiten kooperativer Lösungen wird aber den betroffenen BürgerInnen zugetraut.
Neben dem traditionellen Anwendungsgebiet des Kinder- und Jugendschut-
zes sind für Social Group Conferences (wie wir es am Ilse-Arlt-Institut der FH St. Pölten nennen, weil wir eine Beschränkung auf Familienmitglieder als TeilnehmerInnen nicht für sinnvoll halten) ist ein Einsatz auch in anderen Feldern
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
denkbar und in den Niederlanden z.T. auch schon erprobt : in der SeniorInnenarbeit, im Feld der psychiatrischen Versorgung etc. Family Group Decision Making (FGDM)/Social Group Conference (SGC) Typus B Gegenstand Familiäre Situation und Ressourcen der erweiterten Familie und des nahen sozialen Umfelds in Fällen von Bedrohungssituationen. Handhabung Die aufwändige Vorbereitung und Durchführung erfordert speziell geschultes Personal. Wirkungen Verantwortungsübernahme durch Mitglieder der erweiterten Familie und des nahen sozialen Umfelds. Ziel ist Empowerment und Entwicklung von Mechanismen, die den Schutz der bedrohten Person und die Organisation von wirksamer lebensweltlich basierter Hilfe gewährleisten. Installierung des natürlichen sozialen Netzes als Partner der Sozialeinrichtungen. Die Kernfamilie wird stärker in den Zusammenhang der erweiterten Familie bzw. ihres lebensweltlichen Umfelds eingebunden. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Die Kernfamilie bzw. die Hauptbetroffenen müssen der Konferenz zustimmen. Das Verfahren ist relativ aufwändig und daher kostenintensiver als ein konventioneller Entscheidungsprozess durch die Behörde. Interpretation Die Konferenz muss ihren Entscheidungsprozess und ihre Entscheidungsgründe nicht transparent machen, muss allerdings glaubwürdig machen können, dass die von ihr vorgeschlagenen Lösungen funktionieren können. Das Ergebnis wird anhand der vor der Konferenz von der Sozialeinrichtung formulierten Bedingungen und Zielsetzungen geprüft, aber nicht mehr weiter interpretiert.
Einsatzmöglichkeiten des Family Group Decision Making (FGDM)/der Social Group Conference (SGC) Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
nein
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ev.
Bei gravierendem Hilfebedarf
ev.
Vor Entscheidung über Anordnung oder Aufhebung einer Feldsubstitution
Feldsubstitution
Situierung im Prozess
Bei anstehenden dramatischen Entscheidungen
Risikoabschätzung
7.9 Risikoabschätzung Alle diagnostischen Verfahren dienen mehr oder weniger der Vorbereitung von Entscheidungen. Wenn hier ein eigenes Kapitel „Entscheidungsvorbereitung benannt ist, dann geht es offensichtlich um etwas Spezifischeres – nämlich um die Vorbereitung von schwerwiegenden Entscheidungen, die weitreichende Folgen für die Betroffenen haben können. Betroffen sind die KlientInnen, deren Umfeld, aber auch die Organisation (z.B. weil die Intervention längerfristig beträchtliche Kosten verursacht).
Für Interventionsentscheidungen dieser Art ist in vielen Organisationen
ein verlangsamendes Prozedere unter zwingendem Einbezug mehrerer (Mit-) EntscheiderInnen vorgesehen. Als mögliche Hilfestellung für die Vorbereitung schlage ich das Interventionsassessment (IA) vor. Interventionsassessment (IA) Das Interventionsassessment ist ein Verfahren, das der Strukturierung der Vorüberlegungen für eine Interventionsentscheidung dient und zu einer differenzierten Begründung solcher Entscheidungen unter bewusster und ausdrücklicher Einbeziehung von Risikoeinschätzungen führen soll.
Sozialarbeit ist in manchen Handlungsfeldern mit der Entscheidung (oder der
Vorbereitung von Entscheidungen) über weitreichende Interventionen befasst. Als weitreichend kann eine Entscheidung dann angesehen werden, wenn sie • hohe Kosten verursacht und/oder • massiv in Lebenszusammenhänge eingreift und/oder • starke Auswirkungen auf die Zuteilung von Lebenschancen hat und/oder • mit einem nennenswerten Schadensrisiko für die KlientInnen behaftet ist. Grundsätzlich ist hier an Interventionsentscheidungen gedacht, wobei Entscheidungen zur Nicht-Intervention ebenfalls als Entscheidungen betrachtet werden, obwohl sie subjektiv bloß als Nicht-Entscheidung oder als Entscheidungsaufschub wahrgenommen werden mögen.
Das Verfahren umfasst mehrere Schritte :
1. Deklarierung der Entscheidung als Entscheidung zwischen Alternativen. Nicht-Intervention ist dabei i.d.R. als eine der Alternativen wahrzunehmen. 2. Strukturierte Einschätzung der Interventionsalternativen anhand des Assessmentbogens
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
3. Vergleich der Ergebnisse der Assessments 4. Begründete Entscheidung für eine Variante Das Verfahren hat den Zweck, zu begründeten und bewussten Interventionsbzw. Nicht-Interventions-Entscheidungen unter Einbeziehung von Risikoeinschätzungen und Alternativen zu kommen. Es reagiert auf eine in Organisationen weit verbreitete Praxis, die gerade risikobehaftete Interventionen dadurch zu rechtfertigen versucht, dass sie als alternativlos dargestellt werden und Risiken wie erwartbare Nebenwirkungen verleugnet werden. Die Entscheidungsqualität wird durch solche an der Rechtfertigung orientierte Begründungsroutinen nennenswert beeinträchtigt. Komplexität und Risiko Weitreichende Interventionen erfordern Entscheidungen zum Eingreifen in ein Feld mit komplexen, vielschichtigen Bedingungszusammenhängen. Sichere Vorhersagen über die Wirkungen des Eingreifens können nicht getroffen werden, weil die Zahl der Bedingungen und Prozesse, die das Resultat beeinflussen können (die „intervenierenden Variablen“), unüberblickbar groß ist bzw. einige dieser relevanten Gelingensbedingungen von ebenfalls unkontrollierbaren zukünftigen Entwicklungen abhängen. Da am Erfolg Menschen beteiligt sind, muss auch die weitgehende Unvorhersagbarkeit individuellen Verhaltens und individueller Entwicklungen ins Kalkül gezogen werde.n92
Für die EntscheiderInnen erscheint diese Unmöglichkeit einer sicheren Vor-
hersage als Risiko. Individuelle und überindividuelle Erfahrungswerte (erhoben zum Beispiel im Rahmen von Wirkungsforschung, „Evidence Based Social Work“) ermöglichen allerdings, dieses Risiko zu kalkulieren und als Misslingenswahrscheinlichkeit in Vorüberlegungen einzubeziehen. Nimmt man als Beispiel die Unterbringung von Kindern bei Pflegefamilien, so ist mit einer statistischen Wahrscheinlichkeit von ca. 30 % mit einer Pflegerückstellung zu rechnen. Die Misslingenswahrscheinlickeit ist insgesamt allerdings höher, da weiters die Gefahren eines dauerhaft aufrechten Pflegeverhältnisses bei entwicklungsbehindernden oder gar traumatisierenden Umständen bestehen (z.B. Missbrauch/Misshandlung, Isolation, Mangelförderung etc.). So betrachtet, ist statistisch gesehen die Maßnahme der Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie eine hoch riskante Intervention, die allerdings bei Gelingen einen hohen Nutzen bringen kann. 92 S. dazu ausführlicher die Ausführungen zu „wicked problems“ im Kapitel 5.
Risikoabschätzung
Entscheidungen unter solchen Bedingungen können nie völlig sichere Ent-
scheidungen sein. Die Gefahr, dass eine Intervention misslingt, ist nur verringerbar, aber nie völlig zu eliminieren. Gerade in der Jugendwohlfahrt und hier vor allem in der behördlichen Jugendwohlfahrt mit ihrer Garantenstellung wird also ein bewusster Umgang mit dem Risiko von Interventionsentscheidungen (und Nicht-Entscheidungen bzw. Entscheidungen zur Nicht-Intervention) eher zur Erhöhung der Qualität der Entscheidungen führen als der notwendigerweise vergebliche Versuch der völligen Eliminierung (eigentlich : das Ignorieren) des Risikos. Auch rechtlich kann die ausdrückliche Einbeziehung von statistischen oder erfahrungsbasierten Risikoabschätzungen in die Entscheidungsbegründungen eine fachlich besser abgestützte Legitimation von Eingriffen (oder : Nicht-Eingriffen) bringen. Zur Vermeidung von schematischem Vorgehen werden jedoch neben den Erfahrungswerten stets die besonderen Bedingungen des Einzelfalls zu berücksichtigen sein, die das Risiko in diesem Fall vergrößern oder verkleinern können. Rolle der Teamkultur Als das größte Hindernis für eine risikobewusste Entscheidungsfindung erscheint jedoch nicht das Fehlen von Verfahren, die eine rationale Risikoabwägung anleiten, sondern die risikoaverse Kultur in Organisationen. Unter risikoaverser Kultur wird hier jede Organisationskultur verstanden, die auf Fehler mit Verleugnung reagiert bzw. bei der Unmöglichkeit der Verleugnung nur personale „Schuld“ sucht und bestraft. Solche Kulturen fördern die Verleugnung von Risiko bei entscheidenden MitarbeiterInnen, fördern Angst und Entscheidungen, die an Organisationskonformität orientiert sind und nicht an der Logik des Falles.93
Besteht eine risikoaverse Organisationskultur, kann die bloße Einführung
z.B. der verpflichtenden Verwendung des Formulars zum Interventionsassessment keine Wendung zu bewussteren und qualitsätvolleren Entscheidungen bringen. Zu erwarten ist vielmehr, dass die Formulare zur Camouflierung organisations-opportunistischer Entscheidungen verwendet werden. Das Formular Eine genauere Erläuterung einer informierten Interventionsentscheidung soll nun anhand des Formulars, der Checkliste, erfolgen (s. dazu die Grafiken 79 und 80). 93 S. dazu auch Kapitel 6.13.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 79 : Interventionsassessment – Optionenblatt Seite 1
Risikoabschätzung
Grafik 80 : Interventionsassessment – Optionenblatt Seite 2
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
Grafik 81 : Interventionsassessment Übersichtsblatt
Risikoabschätzung
Auf dem Übersichtsblatt werden zuerst in der oberen Hälfte die Grunddaten eingetragen, inklusive der zur Diskussion stehenden Interventionsoptionen. Die Option 4 (und damit auch die Checkliste 4) ist stets für die Option der NichtIntervention vorgesehen.
Dann wird für jede der Interventionsoptionen das Optionenblatt ausgefüllt.
Die Items 1 bis 4 dienen einer ersten Bestandsaufnahme des Diskurses von
Fallbeteiligten : 1. Wer befürwortet diese Intervention ? All jene Personen aus dem Fallraum (s. dazu das Kapitel zur Personalliste) wären aufzulisten, die die untersuchte Interventionsoption befürworten. 2. Ergänzende Hinweise von BefürworterInnen Auch jene Personen, die grundsätzlich mit dieser Option einverstanden sind, haben oft wertvolle Hinweise auf mögliche Probleme bzw. auf sinnvolle ergänzende Maßnahmen. Diese Hinweise sollen nicht verloren gehen, sondern ev. im Interventionsdesign berücksichtigt werden. Jedenfalls sind sie in einer Interventionsbegründung hinreichend zu würdigen. 3. Wer ist gegen diese Intervention ? Alle Personen aus dem Fallraum94 sind aufzulisten, die die Interventionsoption ablehnen oder ihr kritisch gegenüberstehen. 4. Begründungen + ergänzende Hinweise der GegnerInnen dieser Intervention Gerade bei riskanten Interventionsentscheidungen besteht die Gefahr, dass die Argumente von GegnerInnen übersehen oder abgewertet werden bzw. die darin enthaltenen Warnungen nicht hinreichend gewürdigt werden. Die Zeile dient dazu, diese Argumente und Hinweise sichtbar und für die Optimierung des Interventionsdesigns nutzbar zu machen. Die Argumente und ergänzenden Hinweise werden hier aufgezählt, nicht jedoch bewertet (vor allem nicht abgewertet). Die Items 5 und 6 zielen auf die Organisation.
94 Zum Begriff des „Fallraums“ s. das Kapitel zur Personalliste
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
5. Implementierungsaufwand Interventionen unterscheiden sich u.a. durch den Aufwand, der für ihre Implementierung erforderlich ist. Hier wären jedenfalls alle Aktivitäten anzuführen, die für die fachgerechte Durchführung erforderlich sind (z.B. Suchen einer Pflegestelle, Vorbereitung der Pflegeeltern, Antragstellung, Erstellung eines Fallberichts, Verhandlungen mit den Eltern und anderen Verwandten etc.).
In der Regel werden jene Interventionen bevorzugt durchgeführt, die ent-
weder mit wenig Implementierungsaufwand verbunden sind oder für deren Implementierung in der Organisation gut bekannte und abgesicherte Routinen zur Verfügung stehen. Das sind nicht immer die besten Interventionen. 6. Mögliche begleitende Maßnahmen zur Minderung von Risiken und Nebenwirkungen Diese Zeile ist bereits eine Resümee-Zeile. In ihr ist auf die Ergebnisse der Zeilen 2, 4, 7, 8, 10 und 12 Bezug zu nehmen und überlegt darzulegen, wie auf die in den Referenzzeilen benannten Probleme, Risiken und Nebenwirkungen vorbeugend reagiert werden könnte. Es empfiehlt sich, nach Ausfüllen der Zeilen 1 bis 5 eine erste Einschätzung vorzunehmen, diese dann nach Ausfüllen der zweiten Seite des Formulars zu ergänzen. Nutzen-/Risikoeinschätzung Für jede der Optionen sind dann anhand einer Checkliste die Chancen, Risiken, Einwände und ergänzenden Hinweise anzuführen und einzuschätzen. Dabei wird auf Skalierungen zurückgegriffen. Die Skalierung erfolgt jeweils auf einer Skala von sehr niedrig, niedrig, mittel, hoch, sehr hoch, und der Einschätzung werden Zahlenwerte zugeordnet. Die Zuordnung von Zahlenwerten ermöglicht das Bilden einer Summe, die dann mit der Summe bei der Einschätzung der anderen Optionen verglichen werden kann.
Solche Verfahren sind als Unterstützung der Entscheidungsfindung bei der
Wahl zwischen mehreren Optionen durchaus hilfreich : Sie ermöglichen, auch bei unübersichtlichen Entscheidungen, bei denen eine Reihe von Variablen berücksichtigt werden muss, zu einer Reihung zu kommen. Auch wenn kein Automatismus erwünscht ist (es muss keineswegs zwangsläufig jene Option mit der günstigsten Punktezahl gewählt werden), bringt die teilweise Operationalisierung doch einen Zugewinn an Übersichtlichkeit.
Risikoabschätzung
Die vorliegende Tabelle bewertet höheres Risiko mit einer höheren Punkte-
zahl. Die Option mit der höchsten Punktesumme wird also in aller Regel die risikoreichste sein, bei jener mit der niedrigsten Punktezahl befindet man sich am ehesten auf der sicheren Seite.
Die Punktesumme gibt einen Entscheidungshinweis. Einige entscheidungs-
relevante Fakten sind allerdings nicht skaliert bzw. nicht skalierbar. Darauf wird noch einzugehen sein. Der wichtigste Effekt des Instruments liegt allerdings nicht in der Bildung der summenmäßigen Risikoeinschätzung, sondern darin, dass für die anstehende Entscheidung wesentliche Aspekte wie Risiken und Einwände sowie mögliche Abänderungsvorschläge überlegt und niedergeschrieben werden müssen. Spalte „allgemein“ Für jede Interventionsart gibt es erfahrungsbasierte Werte. So kann etwa für die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien ein statistischer Wert für die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns angegeben werden, wenn man als Kriterium für das Scheitern nimmt, dass das Kind frühzeitig wieder aus der Pflegefamilie herausgenommen werden muss.95
Dieser erfahrungsbasierte Wert sollte anhand der akkumulierten Daten der
Organisation oder anhand einschlägiger Forschungsergebnisse ermittelt werden. „Evidence Based Social Work“ versucht, solche Daten bereitzustellen, die eine empirisch fundierte Interventionsbewertung ermöglichen.
Für die Erstellung der Bewertungen in dieser Spalte benötigen Fachkräfte
i.d.R. die Unterstützung ihrer Organisation. Nur wenn akkumulierte Daten nicht vorliegen, sollte diese Spalte auf der Grundlage der individuellen fachlichen Erfahrung ausgefüllt werden. Spalte „fallspezifisch“ Jeder Fall kann aufgrund der spezifischen Konstellation der Situation Elemente enthalten, die für die Interventionsoption eine verringerte oder erhöhte Wahrscheinlichkeit des Gelingens/Misslingens erwarten lassen.
Wenn die Eingriffsintensität bei einer Fremdunterbringung z.B. allgemein als
hoch oder sehr hoch einzuschätzen ist, kann im zu untersuchenden Fall die In95 Z.B. weil die Pflegeeltern die Rückgabe des Kindes verlangen oder weil sich zeigt, dass das Kind auch in der Pflegefamilie misshandlungsgefährdet ist.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
tensität geringer sein, da das Kind bzw. der Jugendliche selbst bereits aus seiner Herkunftsfamilie geflüchtet ist und die Fremdunterbringung wünscht.
Die Spalte ermöglicht, neben der von den Besonderheiten des Einzelfalles
abstrahierenden allgemeinen Bewertung eine Würdigung der spezifischen Situation. 7. Eingriffsintensität Wie invasiv ist eine in Erwägung gezogene Intervention, d.h., wie stark greift sie in die Lebenssituation und in die Autonomie der Akteure ein ? Es wird davon ausgegangen, dass eine Intervention umso besser legitimiert sein muss, je höher ihre Eingriffsintensität ist. 8. stigmatisierende Wirkung, Selbststigmatisierung Ein weiterer Risikofaktor bei Interventionen ist, dass die AdressatInnen dadurch „stigmatisiert“ werden, d.h., dass die Tatsache dieser Intervention ihnen in ihrem weiteren Leben Schwierigkeiten bereiten, als Argument für die Vorenthaltung von Chancen genutzt werden kann. „Selbststigmatisierung“ meint den Effekt, dass sich die AdressatInnen die Intervention selbst als Versagen zurechnen. Dadurch reduzieren sie selbst ihre Chancen auf die erfolgreiche Bewältigung künftiger biografischer Herausforderungen. Interventionen, die eine massive Stigmatisierung und/oder Selbststigmatisierung zur Folge haben, unterliegen daher einem besonderen Legitimierungsbedarf. 9. Nutzen bei Gelingen Diese Zeile zielt auf die gewünschten und erwarteten günstigen Effekte der überlegten Intervention. Hier wird also zuerst der erwartete Nutzen im Verhältnis zu den anderen Optionen auf der Skala zwischen „sehr niedrig“ und „sehr hoch“ eingeschätzt und in der folgenden Zeile beschrieben. 10. Risiko bei Gelingen/Nebenwirkungen Jede gelingende Intervention kann auch ungünstige Nebenwirkungen haben (z.B. kann die gelungene Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie die Beziehungen zur Herkunftsfamilie nachhaltig problematisch werden lassen). Wie bei Medikamenten können besonders wirksame Interventionen auch besonders starke Nebenwirkungen hervorrufen.
Risikoabschätzung
11. Risiko des Scheiterns Eine Intervention ist dann als gescheitert zu betrachten, wenn sie ihre wesentlichen Ziele nicht erreicht oder wenn sie vorzeitig abgebrochen werden muss. Für das Risiko des Scheiterns sollte es Erfahrungswerte (aus der Organisation, aus der empirischen Forschung) geben. Wie bei den anderen Items der Seite eins kann das Risiko aufgrund spezifischer Bedingungen des Falles als größer oder kleiner eingeschätzt werden als im statistischen Mittel. So kann, um beim Beispiel der Fremdunterbringung zu bleiben, das Risiko des Scheiterns geringer sein, weil das zu vermittelnde Kind charmant ist und keine erkennbaren Handicaps aufweist, außerdem mit einer Kooperation der Eltern zu rechnen ist. 12. Schaden bei Scheitern Es kann ein Scheitern geben, das wenig Schaden anrichtet. Es kann aber auch ein Scheitern geben, nach dem die Situation voraussichtlich schlechter ist als vor der versuchten Intervention. Letzteres trifft z.B. bei einer gescheiterten Pflegefamilienunterbringung zu, in die das Kind große Hoffnungen gesetzt hat und deren vorzeitiges Ende als Zurückweisung erlebt wird, die das Selbstwertgefühl des Kindes und sein Vertrauen weiter erschüttert. Summe Die Summenzahl fasst die auf Seite 2 des Assessmentbogens erfolgten Skalierungen in einer Zahl zusammen. Je höher diese Zahl, umso ungünstiger das Nutzen-/ Risiko-Verhältnis für die Interventionsoption.
Eine sehr große Abweichung zwischen den Zahlen in der linken und der
rechten Spalte sollte zu einer neuerlichen kritischen Überprüfung der Einschätzung der fallspezifischen Gegebenheiten führen (vielleicht unter Beiziehung einer zweiten Fachkraft) : Weicht die fallspezifische Situation wirklich so stark von der „normalen“ bzw. „üblichen“ Situation ab, bei der Interventionen wie diese gesetzt werden ? Resümee Hier ist Platz für eine zusammenfassende Bewertung der Interventionsoption. Übersichtsblatt Auf dem Übersichtsblatt werden schließlich die Ergebnisse der Assessments zu den einzelnen Interventionsoptionen zum Vergleich aufgelistet.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente Interventions-Assessment (IA) Typus C Gegenstand Systematische Abklärung der Risiken geplanter weitreichender Interventionsentscheidungen Handhabung
Wirkungen Keine unmittelbaren Auswirkungen auf den Prozess. Hilfsmittel zur systematischen Vorbereitung weitreichender Interventionsentscheidungen. Risiken und Nebenwirkungen müssen benannt werden, Begleitmaßnahmen zur Verminderung von Risiken und Nebenwirkungen können angedacht werden. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Einbettung in Kommunikation erforderlich (am besten zu zweit oder zu dritt Ergebnis diskutieren). Sollte Teil eines Entscheidungsprozesses sein, der die Suche nach fallspezifischen angepassten Lösungen zum Inhalt hat. Ein Anwendungsproblem ist die mögliche „bürokratische“ Handhabung – also ein routinemäßiges Ausfüllen des Formulars, damit die de facto bereits vorher getroffene Entscheidung durch ein pseudoobjektives Verfahren legitimiert werden kann. Vor allem die Würdigung der fallspezifischen Besonderheiten kann dafür missbraucht werden. Daher ist es anzuraten, diese Einschätzung noch einer kritischen Überprüfung durch andere (Team) zu unterziehen. Hinzuweisen ist auch darauf, dass weitreichende Entscheidungen intensive explikative (erklärende) Kommunikation mit den KlientInnen erfordern, um Nebenwirkungen durch Missachtung der Autonomie der KlientInnen zu minimieren. Kontraindiziert bei „kleinen“ Entscheidungen (zu aufwändig, lenkt ab von der Suche nach passgenauen Interventionen). Interpretation Die Summen geben einen Hinweis darauf, welche der in Betracht gezogenen Interventionen ein günstiges Verhältnis von Nutzen und Risiko aufweist. Je höher die Zahl, umso ungünstiger ist dieses Verhältnis. Ein Automatismus besteht aber nicht : Die Entscheidung für die Intervention mit der niedrigsten (besten) Summe aus den Skalierungen kann aus fallbezogenen Gründen (die im zweiten Teil des Optionenblatts ermittelt wurden) trotzdem kontraindiziert erscheinen.
Einsatzmöglichkeiten des Interventions-Assessments (IA) Einsatz Kurzberatung
nein
Kurzintervention
nein
Beratung
nein
Alltagsrekonstruktion
ev.
Begleitung
ev.
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Einsatz im fachlichen/organisatorischen Entscheidungsverfahren.
Symptom- und Risikofaktorenlisten
7.10 Symptom- und Risikofaktorenlisten Die größte Nähe zu einer Diagnostik nach dem Vorbild der Medizin findet man bei den Symptomlisten, die „Verdachtsmomente“ enthalten, die bei Häufung das Vorhandensein bestimmter → Fallmuster nahelegen. Das wichtigste Einsatzgebiet der Symptomlisten ist die Jugendwohlfahrt, wo Sozialarbeit unter anderem auftragsgemäß den Schutz von Kindern vor gravierenden Verletzungen ihrer Rechte gewährleisten muss. Sie ist mit Taktiken der Verschleierung und Verheimlichung seitens der TäterInnen konfrontiert und muss doch Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern entdecken, um geeignete Maßnahmen zu deren Schutz einleiten zu können. Damit wird aber auch schon eine Beschränkung der Einsatzmöglichkeiten für Symptomlisten deutlich : Sie sind nützlich zur Entdeckung von Fallmustern, geben aber kaum einen Hinweis auf die spezielle Konstruktion des Einzelfalls. Für die Differenzialdiagnose und die konkrete Interventionsplanung ist die Heranziehung weiterer Diagnoseinstrumente unbedingt erforderlich.
Ich stelle hier eine Liste dieser Art vor, von offizieller Seite publiziert. Sie ist
in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen zur Erkennung von Kindesvernachlässigung entstanden. Auf www.pantucek.com finden Sie unter anderem noch eine Liste von Anzeichen für Gewalt gegen Kindern,96 sie ist eine Publikation des österreichischen Bundesministeriums für Soziales und Generationen.
Vernachlässigung erkennen (Deutscher Kinderschutzbund o.J. : 25–27) Die folgenden Ausführungen sollen erste Orientierungen zum Erkennen einer Kindesvernachlässigung geben. Diese sollen Helferinnen und Helfer dabei unterstützen, besonnen zu reagieren, verschiedene Handlungsmöglichkeiten abzuwägen, die eigenen fachlichen und persönlichen Grenzen zu erkennen und – wenn nötig – die Unterstützung anderer Einrichtungen und Dienste zu suchen. Diese Hinweise sind dazu gedacht, mehr Sicherheit in konkreten Situationen zu geben. Mit diesen Hinweisen möchten 96 Ich will mich der m.E. unsäglichen Mode nicht anschließen, von Gewalt „am“ Kind oder Gewalt „an“ Frauen zu sprechen. Gewaltopfer sind nicht Objekte und wir sollten sie nicht sprachlich zu Objekten degradieren.
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
wir auch die Leserinnen und Leser dieser Broschüre unmittelbar ansprechen. Deshalb verwenden wir im folgenden Text auch die direkte und persönliche Ansprache. 1. Schritt : Zeichen erkennen, Informationen aufnehmen Sie betreuen ein Kind oder haben Kontakt zu einem Kind und machen sich Sorgen, weil es Symptome von Vernachlässigung zeigt. Was können Sie tun ? Beobachten Sie genauer und häufiger. Bedenken Sie, dass Vernachlässigung kein einmaliger, sondern ein sich wiederholender Vorgang ist. Halten Sie Ihre Beobachtungen schriftlich fest, um sicherer zu sein, ob Ihre Sorgen begründet oder eher unbegründet sind. Führen Sie Buch über Ihre Beobachtungen. Denken Sie daran, dass Sie durch Ihre Wahrnehmung Verantwortung übernehmen wollen und sollen!
Lesen Sie noch einmal aufmerksam die oben beschriebenen Symptome von Ver-
nachlässigung durch. Beobachten Sie, ob folgende Erscheinungen zutreffen : • Schlaf-, Ess- u. Schreiprobleme, • nicht zu übersehende Ernährungs- oder Gesundheitsprobleme, • ein deutliches Unter- oder Übergewicht, Gedeihstörungen, • unzureichende Pflege, Kleidung oder Hygiene, • deutliche Entwicklungsverzögerungen, • Verhalten, das auffällig aktiv, nervös oder verschüchtert, passiv/apathisch, • distanzlos oder besonders aggressiv erscheint.
(Vgl. dazu auch folgenden Fragekatalog, bezogen auf Säuglinge und Kleinkinder).
Ausreichende Körperpflege • Trifft man das Kind ständig in durchnässten, herabhängenden Windeln an ? • Sind größere Teile der Hautoberfläche entzündet ? • Finden sich regelmäßig Dreck- und Stuhlreste in den Hautfalten (Genital- und Gesäßbereich) ? Geeigneter Wach- und Schlafplatz • Liegt das Kind tagsüber stundenlang in einem abgedunkelten oder künstlich beleuchteten Raum und bekommt kaum Tageslicht ? • Sind Matratzen und Kissen ständig nass und muffig ? • Liegt das Kind immer in der Wippe, der Tragetasche oder im Bett ? Schützende Kleidung • Bietet die Kleidung hinreichend Schutz vor Hitze, Sonne, Kälte und Nässe ?
Symptom- und Risikofaktorenlisten
• Ist das Kind der Jahreszeit entsprechend gekleidet oder wird es oft schwitzend oder frierend angetroffen ? • Ist die Bewegungsfreiheit des Kindes in seiner Kleidung gewährleistet oder ist es zu eng geschnürt, sind Kleidungsstücke zu klein oder viel zu groß ? Altersgemäße Ernährung • Gibt es eine stete Gewichtszunahme (Gewichtskurve im Vorsorgeheft) ? • Bekommt der Säugling überalterte oder verdorbene Nahrung ? Reicht die Flüssigkeitsmenge ? • Sind hygienische Mindeststandards (Reinigung der Flasche) gewahrt ? Behandlung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen • Ist das Recht des Kindes auf Vorsorge (z.B. Impfungen) gewährleistet ? • Werden Krankheiten des Kindes nicht oder zu spät erkannt und/oder wird die Behandlung verweigert ? • Werden Entwicklungsverzögerungen oder Behinderungen nicht erkannt und/oder unsachgemäß behandelt ? Schutz vor Gefahren • Wird das Kind z.B. ohne Aufsicht auf den Wickeltisch oder in die Badewanne gesetzt ? • Wird das Kind für sein Alter zu lange allein gelassen ? • Werden Gefahren im Haushalt übersehen (defekte Stromkabel, Steckdosen, für das Kind zugängliche Medikamente/Alkohol, ungesicherte Treppen, gefährliches Spielzeug etc.)? • Sind Eltern durch psychische Beeinträchtigungen, Suchtabhängigkeit o.Ä. in ihrer Wahrnehmung getrübt oder in ihrer Verantwortungsfähigkeit eingeschränkt ? Zärtlichkeit, Anerkennung und Bestätigung • Wird das Kind beim Füttern in den Arm genommen oder bekommt es lediglich eine Flasche, die es allein trinken muss ? • Erfolgt das Wickeln grob und ohne Ansprache ? • Wird dem Kind bei Krankheit oder Verletzung Trost verweigert ? • Wird der Säugling bei unerwünschtem Verhalten (z.B. Strampeln beim Wickeln) gezüchtigt, geschlagen, gekniffen, geschüttelt usw. ?
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Sicherheit und Geborgenheit • Bleibt das Kind trotz anhaltenden Schreiens unbeachtet ? • Ist das Kind einer gewalttätigen Atmosphäre ausgesetzt ? • Machen die Eltern dem Säugling durch Anschreien, grobes Anfassen, Schütteln oder Schlagen Angst ? Individualität und Selbstbestimmung • Wird das Kind als Besitz betrachtet, über den man nach Belieben verfügen kann ? • Wird mit dem Kind nur dann geschmust, wenn das eigene Bedürfnis nach Körperkontakt, Zuneigung und Zärtlichkeit befriedigt werden soll ? Ansprache • Wird nicht oder kaum mit dem Kind gesprochen ? • Wird nicht oder kaum mit dem Kind gespielt ? • Steht kein altersentsprechendes Beschäftigungsmaterial für das Kind zur Verfügung ? • Wird dem Kind kein ausreichender Körperkontakt angeboten ? Verlässliche Betreuung • Wird das Kind ständig verschiedenen Personen zur Betreuung überlassen ? • Hat das Kind eine verantwortungsfähige Bezugsperson, die beabsichtigt, langfristig für das Kind zu sorgen ? • Ist das Kind sozial isoliert, kommt es nie mit anderen Kindern/Erwachsenen in Kontakt ? Falls Sie Informationen über die familiäre Situation des Kindes haben oder mit den Eltern oder Erziehungsberechtigten im Gespräch sind, achten Sie auf die Risikofaktoren in der Lebensgeschichte des Kindes. Liegt eine Häufung mehrerer der nun folgenden Risikofaktoren vor ? Bitte bedenken Sie : Es handelt sich lediglich um Faktoren, die das Risiko der Vernachlässigung erhöhen. Dies bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass bei Vorliegen mehrerer dieser Faktoren eine Kindesvernachlässigung zwangsläufig ist. Zur Geschichte des Kindes • Unerwünschtheit • abweichendes und unerwartetes Verhalten • Entwicklungsstörungen
Symptom- und Risikofaktorenlisten
• Missbildungen und Deformationen, Behinderungen • niedriges Geburtsgewicht und daraus resultierende körperliche und geistige Schwä chen, Frühgeburt • längere krankheitsbedingte Krankenhausaufenthalte (Unterbrechung der ElternKind-Interaktion) Zur Geschichte der Eltern • Misshandlungen in der eigenen Vorgeschichte • Akzeptanz körperlicher Züchtigung • Mangel an erzieherischer Kompetenz • Unkenntnis über Pflege, Erziehung und Entwicklung von Kindern • aggressives Verhalten • Suchtkrankheiten • bestimmte Persönlichkeitszüge wie mangelnde Selbstkontrolle, Außenseiterrolle, große Ängstlichkeit, Depressivität Zur Geschichte der Familie • erhebliche finanzielle Probleme • arbeitslosigkeit • mangelnde soziale Unterstützung und Entlastung • schlechte Wohnverhältnisse • soziale Isolierung • eheliche Auseinandersetzungen • sehr junges Alter der Eltern Diese Liste enthält sowohl Symptombeschreibungen als auch (im zweiten Teil) die Aufzählung von Risikofaktoren. Ein Erkennen der hier angeführten Symptome setzt i.d.R. voraus, dass man die Eltern im Kontakt mit den Kindern beobachten kann. Sie kann damit auch einer Überprüfung der Eindrücke bei Hausbesuchen dienen. Der Liste sind keine Erläuterungen beigegeben, ab welcher Symptomhäufung von Vernachlässigung gesprochen werden könne. Die Einschätzung des Gesamtgeschehens bleibt den Fachkräften überlassen.
Symptom- und Risikofaktorenlisten sind gut geeignet, um die Aufmerk-
samkeit auf mögliche Gefährdungen, die von Fallbeteiligten bisher nicht thematisiert wurden, zu lenken bzw. um die Plausibilität und Faktenbasis von Verdächtigungen zu überprüfen. Allerdings ist zu beachten, dass Listen dieser Art
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
auch eine Reihe von Schwächen haben und die Schlussfolgerungen, die aus den Ergebnissen zu ziehen wären, sorgfältig abgewogen werden müssen. Symptomlisten enthalten nebeneinander starke und schwache Hinweise, ein Großteil der Symptome ist mehrdeutig, könnte also auch ein Symptom für eine andere Problemlage sein. Risikofaktorenlisten wiederum dürfen nicht als Beleg für das faktische Vorliegen des Tatbestands z.B. der Misshandlung gelesen werden. Risikofaktorenlisten lassen ein Risiko erkennen, nicht mehr und nicht weniger. Allerdings können sie hilfreich sein, um dezentrierte Interventionsmöglichkeiten zu eröffnen : Die Arbeit an der Verminderung von Risikofaktoren kann eine sinnvolle Unterstützungsstrategie sein. Symptom- und Risikofaktorenlisten Typus C/D Gegenstand Suchen von → Fallmustern ; am häufigsten dienen sie der Erkennung von gesellschaftlich definierten Problemlagen, die eines aktiven Eingriffs bedürfen, d.h. bei denen nicht auf eine → Thematisierung durch die Betroffenen gewartet werden kann. Handhabung Die Listen können bei Verdacht auf das Vorliegen eines Fallmusters von HelferInnen zur Hand genommen werden. Entlang der genannten Symptome und Risikofaktoren wird die derzeitige Informationslage geprüft, ev. ergeben sich Hinweise auf die Notwendigkeit weiterer Recherchen. Beim Vorliegen mehrerer Risikofaktoren ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, beim Vorliegen mehrerer Symptome können, wenn dies bei diesem Fallmuster indiziert ist, die Beteiligten mit den Beobachtungen und dem daraus abgeleiteten Verdacht konfrontiert werden. Wirkungen Auswirkungen auf den Fallbearbeitungsprozess ergeben sich vor allem bei einer Erhärtung des Verdachts auf Vorliegen des Fallmusters. Die nötige Konfrontation verändert den Charakter der Klient-SozialarbeiterInteraktion und erfordert Begleitmaßnahmen zur Sicherstellung des weiteren Kontakts. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Anwendungsprobleme können sich vor allem dann ergeben, wenn durch die Konzentration auf die „Aufdeckung“ des Fallmusters die kooperative Arbeit an den von den KlientInnen präsentierten Problemen vernachlässigt wird oder wenn anstelle der Konfrontation ein anklagender Gestus eingenommen wird. Interpretation Unsicherheiten in der Interpretation entstehen durch die Unklarheit, ab wann, d.h. bei Vorliegen welcher und wie vieler Symptome mit einiger Sicherheit von einem Vorliegen des Fallmusters ausgegangen werden kann. Verfälschungen ergeben sich mitunter auch durch sympathisches oder oberflächlich kooperatives Auftreten von TäterInnen (oder umgekehrt : ruppigen und widerspenstigen Personen wird schon bei geringer Evidenz Fehlverhalten unterschoben).
Typenbildungen
Einsatzmöglichkeiten der Symptom- und Risikofaktorenlisten Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ggf.
Feldsubtitution
ggf.
Situierung im Prozess
Als Instrument zur Selbstvergewisserung der HelferInnen kann es jederzeit eingesetzt werden, wenn es sachlich erforderlich scheint.
7.11 Typenbildungen Typenbildung ist ein Verfahren, das in einer Organisation/einer Zielpopulation „typische“ Situationen und/oder „typische“ Verläufe beschreibt, Merkmale definiert und eine Zuordnung von Fällen zu solchen Typen ermöglicht. Dazu ist die qualitative Untersuchung einer bestimmten AdressatInnengruppe und der zugehörigen Fallverläufe erforderlich. Es werden „typische“ Verläufe extrahiert.
Die Erstellung und Beschreibung der Typen erfolgt sinnvollerweise in Zusam-
menarbeit mit erfahrenen PraktikerInnen aus dem Handlungsfeld, die durch den langjährigen Umgang mit der Klientel mit ihrer erfahrungsgestützten Fähigkeit zur Mustererkennung hilfreich sein können. Die so gewonnenen „provisorischen“ Idealtypen können dann auf Übereinstimmung mit den vorhandenen oder weiteren kontrolliert erhobenen Daten über die Zielgruppe untersucht werden. Im Ergebnis dieser Überprüfung wird i.d.R. eine abschließende Modifizierung des Modells – wieder mit den erfahrenen PraktikerInnen – erforderlich sein, bzw. ergänzt sich das Bild über die typischen Verläufe durch Daten über Verlaufsteile, die außerhalb des Sichtbarkeitsbereichs für die konsultierten PraktikerInnen liegen.
Für die individualdiagnostische Arbeit haben die einmal vorliegenden Typen
einen großen Wert. Sie erleichtern eine rasche vorläufige Zuordnung, verbessern im Feld kooperierender Organisationen und ExpertInnen die fallbezogene Kommunikation und können mehr Freiraum für die differenzialdiagnostische „Feinabstimmung“ von Interventionen und Hilfen schaffen.
Vorbehalte, die gegen kontrollierte Typenbildungen vorgebracht werden,
bringen vor allem die Befürchtung zum Ausdruck, dass dadurch schematisches Arbeiten und stigmatisierende Etikettierungsprozesse gefördert würden. Ich
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
kann mich diesen Befürchtungen zum Teil anschließen, halte die Negativeffekte aber unter bestimmten Voraussetzungen für kontrollierbar :
Typisierungen sind ein grundlegender Prozess von Wahrnehmung und Den-
ken. Die PraktikerInnen müssen, um überhaupt erfahrungsgestützt arbeiten zu können, selbstverständlich bereits Typisierungen vornehmen und tun dies auch. Im freien Erzählen geben sie auch bereitwillig solche von ihnen entwickelten/ verwendeten Bilder typischer Situationen und typischer Fallkonstellationen preis. In der fallbezogenen Kommunikation mit KollegInnen wird notgedrungen auf Typisierungen zurückgegriffen, von denen angenommen wird, dass sie die KommunikationspartnerInnen teilen. Nur so ist ein sparsamer Dialog überhaupt möglich. Mit dem Verfahren der kontrollierten Bildung von typischen Verlaufsformen und Problemkonstellationen wird die Typisierung also nicht neu eingeführt, sondern nur in einen kontrollierteren Rahmen überführt.
Die gewonnenen Typenbeschreibungen dürfen in der Praxis allerdings nicht
als streng handhabbare Kategorien missverstanden werden. Als Idealtypen sind sie nur Konstrukte für die leichtere Orientierung. Jeder reale Fall mit seinen wesentlichen Situationsmerkmalen liegt sowohl zwischen den Typenbeschreibungen (als er kaum jemals einer Beschreibung voll entspricht bzw. als er i.d.R. Elemente mehrerer Typen enthält), als auch außerhalb der Typisierungsebene (als er wesentliche Elemente enthält die in den Typenbeschreibungen gar nicht erfasst sind). Nach einer Zuordnung des Falles zu einem Typus kann sich die Diagnose also dann auf die Differenzen zum Beschreibungsset des gewählten Typus konzentrieren.
Meines Erachtens wäre die Offenlegung der Typenbildungen der Praxis, ihr
kontrollierter Einsatz und ihre organisations- und ev. feldübergreifende Diskussion und wissenschaftlich begleitete Überprüfung ein lohnender Schritt in der Professionalisierung der Sozialarbeit.
Vorerst muss offen bleiben, wie groß die Reichweite der Gültigkeit solcher
Typenbildungen wäre. Da es sich auch bei ihnen um sozialarbeiterische, also relationale Typisierungen handelt, können die gefundenen Situationstypen sehr stark von lokalen/regionalen gesellschaftlichen Bedingungen geprägt sein. Die gefundenen Typen stellen selbst schon eine Diagnose des gesellschaftlichen Sozialraumes dar : Die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen produzieren97 jene typischen Problemkonstellationen. Diese Konstellationen können bei anderer Rechtslage und/oder Rechtspraxis, bei einer anderen Ausprägung von Kultur, 97 Wenn man will : … im Aufeinandertreffen mit bestimmten individuellen Dispositionen.
Typenbildungen
Ökonomie, Sozialwesen etc. sich völlig anders darstellen oder auch gar nicht als problematische Konstellationen wahrnehmbar sein.
Also gilt für sie wie für Soziale Diagnosen insgesamt, dass sie nicht als Per-
sönlichkeitsdiagnosen missverstanden werden dürfen. Es wäre ausgesprochen wünschenswert, wenn im professionellen Alltagssprachgebrauch nicht gesagt/ geschrieben würde „KlientIn X ist eine Typus B-KlientIn“, sondern „KlientIn X ist in einer Situation vom Typus B“. Damit käme auch zum Ausdruck, dass die Person eine relative Autonomie gegenüber ihrer Lebenssituation hat, sich also bewusst und zwischen verschiedenen Optionen wählend dazu verhalten kann. An dieser Haltung arbeitet Sozialarbeit schließlich, und in diesem Sinne sind die KlientInnen auch die potenziellen Verbündeten der Sozialarbeit bei der Bewältigung schwieriger Situationen. Und umgekehrt.
Ein Typisierungsmodell für KlientInnen, die bei Einrichtungen der Woh-
nungslosenhilfe vorsprechen, könnte zum Beispiel zwischen folgenden typischen Ausgangssituationen98 unterscheiden : A Klienten, die erst seit Kurzem wohnungslos sind, derzeit noch regelmäßig oder immer wieder Erwerbsarbeit nachgehen, keine wesentliche gesundheitlichen Beeinträchtigungen. B Klienten mit akuter, aber relativ kurz dauernder Wohnungslosigkeit, bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen und/oder andere Komplikationen (Schulden, Sucht). C Klienten, die bereits eine längere Periode der Wohnungslosigkeit hinter sich haben, gesundheitlich beeinträchtigt und ohne Arbeit bzw. ohne Aussicht auf Erwerbsarbeit sind. D Klienten, die nicht eindeutig einem der Typen zuordenbar sind. Für KlientInnen, deren Situation dem Typus A zuzuordnen wäre, bedürfen anderer Hilfen als jene, deren Situation dem Typus C zuzuordnen wäre – es wäre bei ihnen zum Beispiel aussichtsreicher, auf eine rasche Wiederbeschaffung eines Wohnraums auf dem freien Markt zu orientieren, die Maßnahmen müssen auf eine Erhaltung der Fähigkeit zielen, auf dem ersten Arbeitsmarkt Stellung zu finden. Bei Klienten in einer Situation vom Typus C wäre es hingegen unange98 Diese Typisierungen entspringen nicht kontrollierter Empirie, sondern sind hier nur beispielhaft konstruiert.
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bracht, sie zu konventioneller Arbeitssuche zu drängen, es stehen Interventionen zur Sicherung einer Grundversorgung im Vordergrund.
Ich nehme an, dass durch dieses Beispiel deutlich wurde, dass eine baldige
Typisierung hilfreich sein kann – und ggf. auch die KlientInnen vor falsch orientierter Betreuung bewahren kann. Dafür wären allerdings einige Voraussetzungen zu schaffen : • Ausarbeitung eines diagnostischen Verfahrens, das mit einiger Sicherheit die richtige Zuordnung erlaubt und gleichzeitig NICHT auf Individualisierung verzichtet. • Sicherstellung, dass eine einmal getroffene Zuordnung zu einem Typus den KlientInnen nicht anhaftet wie ein Brandmal. • Sicherstellung, dass trotz Zuordnung zu einer Betreuungsform auf Basis der Typisierung dann individualisierend gearbeitet wird und eine differenzierende, an der Eigendiagnose der KlientInnen anknüpfende Arbeit mit ihnen geleistet wird. Mir ist bewusst, dass das Verfahren der Typenbildung gewisse Ähnlichkeiten mit Klassifikationssystemen hat. Von ihnen unterscheidet es sich zuallererst durch die geringere Reichweite und einen gröberen Raster. Typenbildungen erheben nicht, wie dies z.B. das PIE tut, den Anspruch auf universelle Einsetzbarkeit. Sie beziehen sich auf eine bestimmte Zielgruppenpopulation und auf einen definierten institutionellen und Gemeinwesen-Kontext. Außerdem fokussieren sie auf eine bestimmte Problemdefinition, i.d.R. auf jene, die die Institution zu bearbeiten hat. Typenbildungen legen eine bestimmte Organisationsform der Hilfe nahe und sind in Organisationen die Basis für die Zuteilung der KlientInnen zu bestimmten Bearbeitungsprogrammen. Typenbildungen Typus C/D Gegenstand Zuordnung der KlientInnen zum Bild einer „typischen“ Ausgangssituation. Handhabung In einer (kurzen) Erhebungsphase werden die KlientInnen anhand einer Liste charakteristischer Situationsmerkmale einem Typus zugeordnet. Bei dieser Zuordnung wird gleichzeitig vermerkt, welche der Merkmale in diesem Fall nicht erkennbar sind bzw. welche Merkmale anderer Situationstypen der Fall aufweist. Auf Basis dieser Zuordnung wird über das weitere Bearbeitungsprogramm durch die Organisation entschieden.
Voodoo-Diagnostik Wirkungen Erleichterung der Auswahl organisationaler Ressourcen und Abstimmung des Ressourceneinsatzes auf die situationstypischen Erfordernisse. Anwendungsprobleme/Kontraindikationen Das wesentlichste Anwendungsproblem ist die Gefahr, dass die Arbeit mit den KlientInnen nach Zuordnung zu einem Situationstypus nur mehr schematisch erfolgt und dass sie dieser Typisierung nicht mehr entfliehen können. Ein weiteres Problem besteht darin, dass KlientInnen einem Situationstypus zugeordnet werden, obwohl ihre Situation zahlreiche uneindeutige Merkmale aufweist oder stark von „typischen“ Situationen abweicht. Kontraindiziert ist die Typisierung, wenn eine rasche Gesamteinschätzung der wesentlichen Parameter der Situation nicht erfolgen kann, und jedenfalls, wenn der institutionelle oder gesellschaftliche Kontext eine Stigmatisierung mit negativen Folgen für die KlientInnen befürchten lässt. Interpretation Die Typisierung erfordert vorerst keine weitere Interpretation, aber eine nachfolgende differenzierende und individualisierende kooperativ-diagnostische Arbeit.
Einsatzmöglichkeiten von Typenbildungen Einsatz Kurzberatung
ja
Kurzintervention
ja
Beratung
ja
Alltagsrekonstruktion
ja
Begleitung
ja
Feldsubstitution
ja
Situierung im Prozess
Startphase, regelmäßige Überprüfung
7.12 Voodoo-Diagnostik Unter „Voodoo-Diagnostik“ verstehe ich jene Verfahren, die „magische“ Anteile haben und mit nennenswerten Showeffekten im Beratungsprozess eingesetzt werden. Die „magische“ Komponente äußert sich i.d.R. in einer Verabsolutierung des Verfahrens. Die Einheit von Diagnose und Therapie wird betont und im Prozess hat gemeinhin das ideologisierte Verfahren Priorität vor der Situation, vor der „Wirklichkeit“. Familienaufstellungen „nach Hellinger“ haben z.B. alle Kennzeichen einer solchen Voodoo-Diagnostik.
Ob ein Verfahren seriös ist oder nicht, hängt nicht nur vom Verfahren selbst
ab, sondern von der Einhaltung der Grundregeln der sozialarbeiterischen Fallbearbeitung und der helfenden Beziehung, vom Respekt vor dem sozialarbei-
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Ausgewählte Diagnoseinstrumente
terischen Berufsethos (detailliert : National Association of Social Workers 1996) und vor der Autonomie und dem Recht auf Hilfe der KlientInnen.
Diagnostische Verfahren, die im therapeutischen Kontext seriös sind, können
in einem sozialarbeiterischen Setting unseriös, „Voodoo-Diagnostik“, sein. Nicht, weil SozialarbeiterInnen das Verfahren nicht beherrschen würden, sondern weil es z.B. von notwendiger praktischer/materieller Hilfe ablenkt, weil es zu stark auf Vergangenheit orientiert, weil es in einem offeneren Setting oder einem Setting mit Kontrollanteilen nicht den nötigen geschützten und vom Alltagsleben hinreichend getrennten Raum vorfindet etc.
Es verbietet sich also die wahllose Übernahme von Verfahren aus anderen
professionellen Kontexten, die Angepasstheit an die besonderen Bedingungen der Sozialarbeit muss ebenso überlegt werden wie die Zumutbarkeit für die KlientInnen.
Die Ideologisierung von Verfahren, mit dem Psychoboom der 80er- und dem
Esoterikboom der 90er-Jahre aufgekommen, ist jedenfalls der direkte Weg in klientenschädigende Praxis. M.E. sind der beste Schutz dagegen die Kenntnis und Beherrschung einer größeren Zahl von diagnostischen Verfahren und die Achtung für die mächtigste aller Diagnosen, nämlich die Eigendiagnose der KlientInnen.
Alle diagnostische Kunst kann nur dazu dienen, den Dialog mit den KlientIn-
nen und deren Umwelten zu intensivieren. In diesem Dialog liegt die Faszination der Sozialarbeit, in ihm liegt auch ihre Stärke. Mit der Sozialarbeit angepassten diagnostischen Verfahren können wir diese Stärke entwickeln und den KlientInnen und ihrem sozialen Umfeld sowie den anderen in den Fall involvierten HelferInnen intelligente, selbstbewusste, respektvolle und herausfordernde Gesprächspartner sein.
8. Gutachtenerstellung
Diagnosen sind nicht mit Gutachten99 ident. Während die Diagnostik in erster Linie eine Facharbeit ist, sind Begutachtungen öffentliche Papiere. An sie werden daher Anforderungen gestellt, die sich von den Anforderungen an Diagnosen doch deutlich unterscheiden.
Obwohl SozialarbeiterInnen in Zusammenhang mit ihren Fällen viel mit Drit-
ten verhandeln bzw. auch schriftliche Zusammenfassungen und Stellungnahmen abgeben müssen, ist die Kultur des Schreibens von Begutachtungen nur schwach entwickelt und die sozialarbeiterischen Begutachtungen weisen im Vergleich zu jenen anderer Berufsgruppen beträchtliche Mängel auf, wie Lindemann (1999 : 70f.) zu Recht beklagt. Ich folge hier im Wesentlichen seinen Vorschlägen, ergänze und präzisiere sie jedoch für die verschiedenen Anlässe, Ziele und Zielgruppen.
Eine strukturelle Besonderheit sozialarbeiterischer Begutachtungstätigkeit
liegt darin, dass sie aufgrund des beruflichen Profils nicht jene Neutralität haben kann, wie dies bei anderen Berufsgruppen der Fall ist. Gutachtenerstellung ist in einem sozialarbeiterischen Setting immer auch eine fallbezogene Intervention, muss daher in das Gesamtdesign der Fallbearbeitung integriert werden und den allgemeinen Zielen und Regeln von Feldinterventionen entsprechen.
Meines Erachtens ist das auch der wichtigste Grund für den auf den ersten
Blick als unsauber erscheinenden Umgang mit Begutachtungen. Die schwierige Aufgabe besteht also darin, Objektivität, kontrollierte Datenerhebung und Dateneinschätzung nicht nur vorzutäuschen, sondern tatsächlich zu praktizieren und mit kontrollierter und abgestimmter Intervention zu verbinden.
99 Ich verwende den Begriff „Gutachten“ hier nicht im juristischen Sinne. Unter Gutachten verstehe ich jede strukturierte Stellungnahme eines Experten/einer Expertin im interdisziplinären und interorganisationellen Diskurs, die fallbezogene Entscheidungen beeinflussen soll. Wahlweise könnte man auch von „Expertisen“ sprechen.
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Gutachtenerstellung
Wie dies bei den verschiedenen Begutachtungsformen gelingen könnte, ver-
suche ich in der Folge kurz anzudeuten. Zuerst allerdings sei das Verhältnis von formalisierter Diagnostik zu Gutachten noch beleuchtet. Ähnlich wie bei der Dokumentation handelt es sich um differierende Vorgangsweisen, die zueinander in einem Verhältnis der gegenseitigen Ergänzung stehen. Gutachten können auf Diagnosen verweisen, sie sind allerdings keine Diagnosen, sondern Texte, die mit Blick auf einen Dritten verfasst werden. Gutachten sind absichtsvolle Texte, deren Logik der Logik der interdisziplinären Kommunikation zu folgen hat, sich auf die disziplinäre Logik zwar bezieht und beruft, aber nicht von ihr strukturiert wird. Kontrollierte diagnostische Verfahren werden in einem Gutachten also zitiert bzw. wird auf sie verwiesen, sie gehen in das Gutachten allerdings nicht im vollen Umfang ein.
Die Anforderungen an Gutachten wurden von Lindemann (1999 : 58f.) zu-
sammenfassend formuliert : 1. Rahmenbedingungen des Gutachtens, Explorationssituation und damit verbundene Probleme, Anlass der Begutachtung usw. sind konkret beschrie ben. Der Gutachter gibt Auskunft, wie er an die im Gutachten zusammengestellten Daten herankam und für wie glaubhaft er die jeweilige Datenquelle einschätzt. 2. Im Zusammenhang jeder Aussage ist für den Rezipienten nachzuvollziehen, wer genau die Aussage, die Beobachtung, die Wertung gemacht hat. 3. Die inkriminierten Verhalten wie jeder andere Sachverhalt sind konkret beschrieben. 4. Bei Aussagen, die Bezug zur objektiven Welt aufnehmen, werden neben der konkreten Beschreibung des Sachverhaltes explikative Angaben zu Un tersuchungsmethode, -instrument und -ergebnis formuliert. 5. Bei Aussagen, die Bezug zur sozialen Welt aufnehmen, wird neben der Beschreibung des inkriminierten Verhaltens der damit verbundene Auslegungs- und Interpretationsprozess parallel beschrieben. 6. Bei Aussagen, die Bezug zur subjektiven Welt aufnehmen, wird die Äußerung des Klienten konkret formuliert und in Anführungsstriche gesetzt. Zugleich gibt der Gutachter Gründe an, warum er sie als glaubwürdig einschätzt. 7. Die kontextuellen Bedingungen der inkriminierten Verhalten und der soziale Kontext sind hinreichend beschrieben, so dass das spezifische Verhalten von einem Rezipienten aus diesem Zusammenhang heraus nachzuvollziehen und zu verstehen ist.
Gutachtenerstellung
8. Der Gutachter legt sein, bei der Definition problematischer Verhalten/Sachverhalte/Situationen zugrunde gelegtes, normatives Bezugssystem offen und begründet, warum er die von ihm angelegte Norm im konkreten Fall als gerechtfertigt und damit legitim einschätzt. 9. Der Gutachter macht seine persönlichen Wertpräferenzen explizit. 10. Der Gutachter benennt seinen Theorienbezug und begründet, warum er das inkriminierte Verhalten der Klienten theoretisch und nicht vor deren lebensweltlichem Hintergrund und Herausforderung deutet. Die hier zusammengefassten Anforderungen begründet der Autor mit Berufung auf das sprachpragmatische Wahrheitskonzept von Habermas (Lindemann 1999 : 54ff.), dem er auch die Unterteilung in die „objektive Welt“ (Aussagen mit Wahrheitsanspruch), die „soziale Welt“ („richtiges“ Verhalten – Normbezug) und die „subjektive Welt“ (Anspruch auf Wahrhaftigkeit) entnimmt.
Hält man sich an die Wahrnehmung der Alltagspraxis (also die alltägliche
Empirie sozialer Berufstätigkeit und ihrer reflektierenden Besprechung in Supervisionen und Seminaren), so kommt man zu ähnlichen Schlüssen. Nicht-SozialarbeiterInnen (PsychologInnen, ÄrztInnen, JuristInnen), die interdisziplinär mit SozialarbeiterInnen zusammenarbeiten, beklagen, dass die Expertisen von SozialarbeiterInnen entweder nicht als Expertisen erscheinen, also scheinbar bloß den Standpunkt der KlientInnen verdoppeln, oder wenig nachvollziehbar seien. Der Weg, wie die SozialarbeiterInnen zu ihren Einschätzungen gekommen sind, sei nicht transparent und die Einschätzungen erschienen daher als beliebig und nur wenig vertrauenserweckend.
Aus meiner Sicht liegt die Schwäche der Lindemann’schen Anforderungs-
liste in deren wiederholtem Bezug auf „Verhalten“, nicht auf „Situation“. Sie erscheint daher eher an einem psychologischen Bild des Falles orientiert – eine Falle, in die man im interdisziplinären Diskurs leicht tappt. Schließlich fokussieren die benachbarten Professionen ja stets auf die Person bzw. das Physische und Psychische. In der fallbezogenen Kommunikation erfordert es daher einige Sorgfalt und einiges professionelles Selbstbewusstsein, mit den eigenen Erklärungen nicht direkt an diese persönlichkeitsdiagnostischen Versuchungen anzuschließen.100 100 Hier könnte auch ein Grund für die Klage der Nachbardisziplinen liegen : Wenn SozialarbeiterInnen sich nicht auf die Persönlichkeitsdiagnostik einlassen, sondern die Lebenssituation erklären, wird dies von den persönlichkeitsfixierten ExpertInnen als „Aufwei-
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Gutachtenerstellung
Nichtsdestotrotz liefert die Anforderungsliste eine brauchbare Orientierung
für die Gestaltung von Gutachten/Expertisen. M.E. sind kontrollierte diagnostische Verfahren, wie ich sie oben beschrieben habe, eine unabdingbare Voraussetzung für die Erstellung von Gutachten, die in der interdisziplinären Kommunikation den Einschätzungen der SozialarbeiterInnen entscheidungsrelevantes Gewicht verleihen können. • mündliche Gutachten bzw. präsentierte Kurzbegutachtungen in mehrdisziplinären Settings Fallbespechungen und Helferkonferenzen sind Settings, in denen die Fachkräfte gefordert sind, in kompakter Form mündliche Einschätzungen der Fallsituation zu präsentieren. Auf der Basis mehrerer solcher Expertisen wird dann der Dialog über eine abgestimmte Fallbearbeitungsstrategie geführt. • Gutachten gegenüber Ressourcen gewährenden Organisationen Vom „Bettelbrief“ bis zum umfangreichen, von der anzusprechenden Organisation vorstrukturierten, Antrag reichen die Formen dieser Expertisen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Fachkräfte werden dabei von den Wünschen der KommunikationspartnerInnen vorbestimmt/eingeengt. Die Formulierungen sind oft so abzustimmen, dass sie den – häufig formalisierten – Kriterien der Ressourcengewährung entsprechen.
In ihrer Berufspraxis haben SozialarbeiterInnen gehäuft mit dem verfassen
solcher Kurzexpertisen zu tun, und oft genug sind sie MeisterInnen in der Aktivierung von Ressourcen. Für die Gestaltung kann es nur wenige allgemein gültige Richtlinien geben, weil in erster Linie pragmatisch vorzugehen ist, also entlang der Wünsche der gewährenden Organisation. Probleme ergeben sich bei dieser Form „fallbezogener Öffentlichkeitsarbeit“ ev. in Bezug auf den Datenschutz – also die Frage, welche Daten weitergegeben werden können, ohne den KlientInnen mittelfristig Schaden zuzufügen. Die Abklärung mit den KlientInnen ist für eine solche Entscheidung unabdingbar. chung“ ihrer Einschätzungen empfunden. Die Verlagerung der Erklärung aus der Person hinaus in die Umwelt erscheint als „Entschuldigung“ der Person bzw. als Abwertung persönlichkeitsbezogener Erklärungsansätze. Hier wäre dann weniger eine Professionalisierung sozialarbeiterischer Expertise gefordert, als die Entwicklung der Fähigkeit der Nachbarprofessionen, über den eigenen Tellerrand zu blicken und einen anderen Blickwinkel als zumindest gleichberechtigt anzuerkennen.
Gutachtenerstellung
Zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit der Expertise kann jedoch auch hier der
Verweis auf durchgeführte diagnostische Verfahren hilfreich sein. Dies gilt vor allem, wenn für die Entscheidung über den Ressourcenzugang auch noch andere als die sozialarbeiterischen Stellungnahmen herangezogen werden.
Für die Form der Einbeziehung diagnostischer Verfahren gilt hier (wie im
Folgenden) : Es wird das Verfahren benannt und es werden die Ergebnisse angeführt. Schließlich werden diese Ergebnisse in Bezug auf die zentrale Fragestellung der Expertise eingeschätzt. Die Unterlagen des Verfahrens selbst (Tabellen, Zeichnungen) sind nicht Teil der Expertise, sondern verbleiben beim Gutachter/ der Gutachterin. • Gutachten für Gerichte Gutachterliche Stellungnahmen, die zu rechtlich relevanten Entscheidungen der Verwaltung oder von Gerichten führen, unterliegen besonderen Ansprüchen. Sie sind geeignet, die Rechtsstellung der KlientInnen wesentlich zu verändern. Daher wäre besondere Sorgfalt bei Erstellung und Formulierung angezeigt.
Die oben beschriebenen Kriterien für die Begutachtung sind bei Gutachten,
die klientInnenbezogene Entscheidungen der Verwaltung oder des Gerichts vorbereiten, jedenfalls einzuhalten, will man, dass die sozialarbeiterische Stellungnahme das ihr zustehende Gewicht bei der Entscheidungsfindung erhält.
Ich kann hier kein Mustergutachten entwickeln, ohne den Rahmen zu spren-
gen. Wieder sei auf die Bedeutung kontrollierter Diagnostik verwiesen : Sie ermöglicht, die fachliche Einschätzung der Situation auf eine solide Basis zu stellen, die sich deutlich von Alltagsdeutungen abhebt, ohne gleichzeitig die Sichten der fallbeteiligten Personen zu entwerten. Formal wird wieder das verwendete diagnostische Verfahren benannt, sein Ergebnis skizziert und in der Zusammenfassung auf die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen für die im Vordergrund stehende Fragestellung eingegangen.
Zur Entwicklung von Richtlinien und Hilfsmitteln für eine fachlich saubere
und im interdisziplinären Dialog anschlussfähige Gutachtertätigkeit von SozialarbeiterInnen bedürfte es allerdings noch einer ausführlicheren Beschäftigung mit dem Thema. Die professionelle Kultur bedarf auch hier noch einer Entwicklung.
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9. Schlusswort
In der sozialarbeiterischen Praxis ist der kontrollierte Einsatz adäquater Diagnoseverfahren derzeit noch eher die Ausnahme als die Regel. Das hat mehrere Gründe : Die Dominanz psychologisierender Verfahren, verbunden mit dem Missverständnis, Diagnostik sei letztlich immer Persönlichkeitsdiagnostik. Die relativ unkritische Übernahme psychologisierender Diagnosen und wenig produktiver Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen ist von schlechtem Gewissen begleitet : Nicht wenige KollegInnen lehnen Diagnostik generell ab, weil sie deren stigmatisierende Wirkung fürchten. Die bürokratische Arbeitsorganisation in vielen institutionellen Zusammenhängen, die systematisch auf behördlich relevante juristische Kategorisierungen entlang Gesetzes- und Verordnungstexten orientiert. Um Zugang zu Ressourcen zu erlangen, müssen die Fachkräfte ihre Fallresümees zumindest auch in dieser Sprache verfassen. Eine hinreichende Unterscheidung zwischen fachlicher Einschätzung und Bericht mit ressourcenaktivierender Wirkung (fallbezogener Öffentlichkeitsarbeit) ist nicht selbstverständlich. Die geringe Verbreitung der diagnostischen Verfahren in der Praxis hat auch ein empirisch-kritisches Vakuum zur Folge. Die Interpretationen scheinen und sind vorerst noch relativ beliebig. Auf dem Weg zu einer ihre eigenen Stärken gezielter einsetzenden und entwickelnden Sozialarbeit wird es an der Ausarbeitung eines kontrollierten diagnostischen Instrumentariums keinen Weg vorbei geben. Unter anderem könnte dadurch auch ein klareres Bild der Front-Line-Social-Worker von ihrer Arbeit erreicht werden, könnten die kontraproduktiven Psychologisierungen und Pädagogisierungen zurückgedrängt werden.
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Schlusswort
Dafür müssten allerdings die hier exemplarisch beschriebenen und analy-
sierten Instrumente verstärkt unter kontrollierten Bedingungen in der sozialarbeiterischen Praxis eingesetzt werden. Die Entwicklung von Manualen, die die Verwendung der jeweiligen Methoden im Prozess beschreiben und anleiten und Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, wäre vordringlich zu leisten. Es bleibt allerdings zweifelhaft, ob eine derzeit noch auf der Stelle tretende Sozialarbeitswissenschaft, die mehr mit Schulenkämpfen als mit der wissenschaftlichen Begleitung der Professionspraxis beschäftigt ist, dies leisten kann.
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Glossar
In diesem Glossar erläutere ich, mit welchem Bedeutungshorizont ich Begriffe im laufenden Text verwende. Dies ist erforderlich, weil einige Begriffe von mir in einen neuen Kontext gestellt werden. Andere wiederum, die in Literatur und Praxis mit verschiedenen und mitunter weiteren Bedeutungsräumen benutzt werden, werden in diesem Text mit einem engeren Bedeutungshorizont eingesetzt. Vereinzelt verwende ich auch Neologismen, wo ich für die Bezeichnung eines Sachverhalts nicht auf bereits eingeführte Vokabel zurückgreifen konnte. Alltagsrekonstruktion Ich verwende den Begriff für jene sozialarbeiterische Interventionsform, in der → Beratung und Interventionen im → Feld gekoppelt werden, um den Klien-
tInnen nach zeitlich begrenztem sozialarbeiterischem Einsatz wieder eine autonome Alltagsgestaltung zu ermöglichen. Ankerperson Ankerperson ist beim Zeichnen und der Analyse personenbezogener Netzwerke jene Person, die im Zentrum des Netzwerkes steht, von deren sozialem Ort aus sich das Netz entfaltet. Ich verwende den Begriff überall dort, wo bei beschreibenden, aufzählenden, darstellenden Verfahren eine Person im Zentrum steht und z.B. Rollenbezeichnungen von MitspielerInnen dann auf diese Person bezogen werden (Vater, Sozialarbeiterin etc.). In den meisten Fällen ist das die Person, die dem → Fall den Namen gibt. Die Bezeichnung → KlientIn wäre insofern nicht immer passend, als die Ankerperson in einem Notationssystem oder bei der Anwendung eines diagnostischen Verfahrens nicht notwendigerweise im methodischen Sinne KlientInnenstatus haben muss.
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Glossar
Auftrag Allgemein verstehe ich in diesem Text unter Auftrag Wünsche/Aufforderungen an die SozialarbeiterInnen. Diese können von allen fallbeteiligten Seiten (Gesetzgeber, -träger, andere Institutionen, KlientIn und Important Others) kommen. Aufträge sind zu explizieren und zu verhandeln. Sie können in ein → Mandat münden.101 Begleitung/Alltagsbegleitung Alltagsbegleitung ist eine Interventionsform, in der SozialarbeiterInnen oder andere Fachkräfte dauerhaft eine Rolle im → Feld bzw. im Alltag der KlientInnen übernehmen, ohne die Perspektive eines baldigen Rückzugs. Beratung Als Beratung bezeichne ich in dieser Arbeit 1. sozialarbeiterische Interventionsformen ohne Intervention im → Feld. Gleichzeitig ist 2. Beratung selbstverständlicher Bestandteil aller Interventionsformen : Sie ist ein Gespräch mit den KlientInnen oder mit anderen in den Fall involvierten Personen über ihre Handlungsmöglichkeiten in einer gegebenen → Situation. Bürger/Bürgerin Ich verwende diesen Begriff, um zu kennzeichnen, dass Personen, die SozialarbeiterInnen in der Fallbearbeitung begegnen, nicht nur → Mitmenschen und nicht nur TrägerInnen einer bestimmten fallbezogenen Rolle (KlientIn, Impor tant Other etc.), sondern auch gleichberechtigte BürgerInnen eines Gemeinwesens sind. Auch auf dieser Ebene begegnen sie den anderen AkteurInnen. Der Status als BürgerIn ist durch Rechte/Pflichten, durch einen gemeinsamen Bezug auf eine Rechts- und Normenordnung charakterisiert. Er verweist daher immer auf ein überindividuelles Drittes, dem alle AkteurInnen gleichermaßen unterworfen sind. Das gesatzte Recht und die gegebene Rechtspraxis machen den Kern dieses Dritten aus, auf das sich grundsätzlich jedeR Beteiligte berufen 101 In früheren Texten habe ich nicht zwischen Auftrag und Mandat unterschieden, sondern bloß die Notwendigkeit betont, Aufträge auszuhandeln. Es hat sich gezeigt, dass aufgrund des Alltagsgebrauchs des Begriffs dies immer wieder zu Unklarheiten führt und zwischen Ausgangsposition und Ergebnis der Verhandlung schwer sprachlich zu unterscheiden war. Ich schlage daher nun diese eindeutige Trennung zwischen den Begriffen „Auftrag“ und „Mandat“ vor.
Glossar
kann. Die bewusste und explizite Wahrnehmung der AkteurInnen als BürgerInnen hat zentrale Bedeutung für die → Inszenierung von → Respekt. Datenschatten Darunter ist die Datenspur zu verstehen, die ein Mensch in verschiedenen Datenbanken hinterlässt (bzw. die die Verarbeitung verschiedenster Daten durch Institutionen hinterlässt). Der Datenschatten ist ein Teil der → Persona. Eigendiagnose In der Eigendiagnose erklären sich KlientInnen die Situation, die ihnen Probleme bereitet. Die Eigendiagnose enthält i.d.R. Vorstellungen über die Ursache und über Lösungsmöglichkeiten der jetzigen Situation. Da die Eigendiagnose wichtige Informationen über Problem und Problemkontext enthält und sie der entscheidende Faktor für die Handlungsbereitschaft der KlientInnen ist, hat die Arbeit an ihr (aber nicht gegen sie) einen zentralen Stellenwert im sozialarbeiterischen Beratungsprozess. Exploration Phase im Beratungsgespräch, in der die KlientInnen dabei unterstützt werden, ihre Sicht der Situation darzulegen. Aktivitäten der SozialarbeiterInnen in dieser Phase sind aktives Zuhören, explorierende Fragen zur Eigendiagnose der KlientInnen und zum Kontext des → Präsentierten Problems bzw. des aktuellen → Themas. Der Explorationsphase folgt die Phase der → Konstruktion. Fall Der Fall ist jene Konstellation, die bei der Übernahme eines → Auftrags durch einen Sozialarbeiter/eine Sozialarbeiterin entsteht und sich im Laufe der Bearbeitung entfaltet. Die personelle Reichweite dieser Konstellation wird durch das formulierte → Problem und die Einbeziehung weiterer HelferInnen bestimmt. Ein Fall hat i.d.R. den Namen des Klienten/der Klientin. Fallmuster Als Fallmuster bezeichne ich charakteristische Problemkonstellationen, die eine Eigendynamik und Eigenlogik entwickeln, wie zum Beispiel Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, Trennungskrisen, chronische Wohnungslosigkeit etc. ; Fallmuster sind Konstrukte, die dem Konstrukt „Krankheit“ der Medizin rela-
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tiv nahe kommen : Als typische Problemkonstellationen können sie mithilfe von „Symptomen“ entdeckt werden und beschreibbare typische Verläufe helfen bei der Exploration und der Interventionsplanung. Feld Das Feld ist die fallbezogene Landschaft außerhalb des → KSI. Feldintervention Jede Intervention, die außerhalb des KlientIn-SozialarbeiterIn-Interaktionssystems (KSI) stattfindet. Bereits das Sichtbarwerden der Sozialarbeiterin für Personen aus dem Lebensfeld der KlientInnen ist eine erste Feldintervention. Feldsubstitution Unter Feldsubstition verstehe ich hier das Ersetzen von (fehlendem oder vermeintlich insuffizientem) lebensweltlichem Umfeld durch Einrichtungen des Sozial- und/oder Gesundheitswesens : Heime, Tagesstätten, Pflegefamilien etc. Gespräch Fallbezogene Gespräche sind die wichtigste, aber nicht die einzige Interventionsform in der Sozialarbeit. Sie können in Form von → Sitzungen stattfinden, aber auch in anderen Formen, zum Beispiel : Kurzgespräch bei zufälliger Begegnung im Feld Telefonat aufgrund eines aktuellen Bedürfnisses nach Informationsgewinnung oder Informationsweitergabe Kontrolltelefonat oder Kontrollbesuch, um GesprächspartnerIn an Vereinbarung zu erinnern begleitende Gespräche z.B. auf dem Weg zu einem Termin (Begleitung zu einem Amt, einer möglichen Arbeitsstelle etc.) etc. Mögliche Modi sind Beratung, Verhandlung, Information, „Small Talk“, Erzählung, Überredung etc., also nahezu die gesamte Breite des Spektrums von Gesprächen des Alltags unter zusätzlicher Verwendung von Gesprächstechniken professioneller und therapeutischer Gesprächsführung.
Glossar
Zusätzlich zu den Gesprächen mit den KlientInnen findet auch die Mehrzahl
der → Feldinterventionen in der Form von Gesprächen statt. Grunddaten Unter Grunddaten sind die basalen Daten zur sozialen Verortung der KlientInnen und zur Genese des Falles zu verstehen. Das sind je nach Setting i.d.R. Name, Geburtsdatum, Adresse, Qualifikation, Einkommen, Verpflichtungen, Important Others ; weiters Anlass, Setting und Dauer der Beschäftigung der Institution mit dem Fall. Je nach Einrichtung und Arbeitsfeld können weitere Daten dazukommen (z.B. Daten zum Substanzenkonsum bei Suchtberatungseinrichtungen). In Settings der Gruppen- oder Gemeinwesenarbeit definieren sich die Grunddaten wieder anders, aber grundsätzlich nach dem gleichen Schema. Important Others Die bedeutenden Personen im lebensweltlichen Umfeld einer Ankerperson. Dies sind nahe Verwandte und PartnerInnen, FreundInnen und andere Personen, die auf die Lebensführung wesentlichen Einfluss nehmen. Inklusionssubstitut Inklusionssubstitute sind Leistungen des Sozialwesens, die fehlende Inklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme ersetzen sollen (Sozialhilfe, Beschäftigungsprojekte etc.). Inszenierung Bewusste Gestaltung von Begegnungssequenzen, Settings und Handlungsabläufen. Die Inszenierung umfasst die personelle und räumliche Anordnung, den Einsatz von körpersprachlichen und verbalen Formeln und Floskeln, den dramaturgischen Aufbau. Eine adäquate bzw. geglückte Inszenierung z.B. von Beratung ist wesentliche Bedingung der Wirksamkeit, indem sie über ihren Symbolgehalt die Kooperation der KlientInnen erleichtert. Klient/Klientin KlientIn ist in der Sozialarbeit die gängige Bezeichnung für die → Ankerperson des Falles. Für Klientschaft ist i.d.R. eine (möglicherweise nur mündliche, möglicherweise durch die Umstände erzwungene) Vereinbarung erforderlich. Vor Erreichen der Arbeitsvereinbarung wird von „potenziellen KlientInnen“ gesprochen.
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Klient-Sozialarbeiter-Interaktionssystem (KSI) Ich bezeichne dieses dem Fall zentrale Kommunikationssystem als KSI. In der traditionellen Sozialarbeitsliteratur ist dafür der Begriff „(helfende) Beziehung“ üblich. Mir erscheint dieser Terminus allerdings als zu unscharf und er suggeriert durch seinen inflationären Gebrauch in der Alltagssprache die Konstituierung von Sympathie etc., was keine notwendige Bedingung für gelingende Kooperation und Intervention ist. kommunikative Validierung Validierung einer Einschätzung durch Nachfragen. Bestätigung einer Vermutung durch die Ankerperson. Nach der k. V. kann die Einschätzung mit höherer Wahrscheinlichkeit als zutreffend betrachtet werden. Konstruktionsphase Phase im Beratungsgespräch, die der → Exploration folgt. In der Konstruktionsphase bringen die BeraterInnen auch ihre eigenen Einschätzungen der Situation ein und versuchen mit den KlientInnen zu einer gemeinsamen Sprachregelung für die weitere Kooperation zu kommen (Entwicklung von Arbeitshypothesen). Die → Eigendiagnose wird dadurch aber nicht suspendiert. Kurzberatung Als Kurzberatungen bezeichne ich Beratungsbeziehungen, die nur ein Gespräch umfassen und nicht mit der Vereinbarung eines weiteren Gesprächstermins enden, und solche, bei denen zwar ein Folgegespräch vereinbart, vom Klienten aber nicht mehr in Anspruch genommen wird. Kurzintervention Kurzinterventionen sind Sequenzen von höchstens drei → Sitzungen, die mit einer Intervention der Sozialarbeiterin im Feld verbunden sind. Darüber hinaus wird kein weiterer Gesprächstermin vereinbart oder ein weiterer vereinbarter Gesprächstermin wird von der Klientin nicht mehr in Anspruch genommen. Lebensfeld Lebensfeld ist der soziale und physikalische Raum, in dem eine Ankerperson sich bewegt, auf den sie sich in ihrer Alltagsgestaltung beziehen muss und der von ihrem sozialen und physischen Ort aus sichtbar ist. Die Ankerperson ist Zentrum
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dieses Lebensfelds, das allerdings auch für andere (aus anderer Perspektive) sichtbar ist. Lebensfeldsubstitut Als Lebensfeldsubstitute bezeichne ich Einrichtungen/Leistungen des Sozialwesens, die wesentliche Teile eines „natürlichen“ Lebensfeldes ersetzen. Speziell sind das Heime, Wohngemeinschaften und Ähnliches. Lebensfeldsubstitute errichten eine institutionell geformte Welt um die KlientInnen, die nur bedingt mit dem Leben außerhalb von Institutionen vergleichbar ist. Für die KlientInnen entstehen dadurch biografische Etappen, die sie in Sonderwelten verbracht haben. Der Sondercharakter, die Künstlichkeit von Lebensfeldsubstituten hebt sie aus anderen Maßnahmen und Interventionen hervor. Der Extremfall für Lebensfeldsubstitute sind totale Institutionen. Lebenswelt Die Lebenswelt ist die subjektive Welt aus der Perspektive des je einzelnen Individuums. Sie umfasst das → Lebensfeld, den Körper und die Bilder und Vorstellungen, die das Individuum von dieser seiner Welt in seinem Kopf hat. Mandat Aus einer Übereinkunft zwischen SozialarbeiterInnen und Dritten resultierende Legitimation für und ggf. Verpflichtung zu Interventionen. Das Mandat ist i.d.R. das Ergebnis einer Verhandlung auf Basis von → Aufträgen. Mitmensch Mit diesem Terminus spreche ich die elementare Tatsache an, dass sich Menschen immer auch als Gattungswesen begegnen. Die Wahrnehmung der Mitmenschlichkeit bedeutet, den anderen in seiner Körperlichkeit, als Lebewesen, für das die Reziprozität der Perspektiven Geltung haben kann, zu akzeptieren. Mitmenschlichkeit ist basal und verweist sowohl auf körperliche als auch auf vorsprachliche Empfindungen anderen gegenüber. Sie ist damit der Verbindung, die durch den Begriff → Bürger bezeichnet wird, vorgelagert. Die → Inszenierung von → Respekt wird zwar auf der Ebene des gemeinsamen BürgerInnentums expliziert, hat aber die Mitmenschlichkeit als breitere Basis. Ich habe von Maria Loley (Ertl 1996) gelernt, auf diese Grundlage sozialarbeiterischer Begegnung auch in der methodischen und theoretischen Reflexion zu achten.
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Persona Als „Persona“ wurde im antiken Griechenland die hölzerne Maske der Schauspieler bezeichnet. In unserem Zusammenhang meint Persona die öffentlich wahrgenommene Seite einer Person. Dazu gehören ihr Erscheinungsbild, die Erzählungen über eine Person, die von ihr kursierenden Bilder (im wörtlichen und übertragenen Sinne), aber auch ihr Aufscheinen in Akten und Datensätzen. Die Persona ist ein sozialer Tatbestand und von der Person, dem „wirklichen“ Menschen, nur eingeschränkt kontrollierbar. Präsentiertes Problem, Presented Problem (PP) Personen, die Kontakt zu SozialarbeiterInnen aufnehmen, übernehmen die KlientInnenrolle, indem sie ein Problem formulieren. Das präsentierte Problem ist das von ihnen zur Bearbeitung angebotene Problem. Das kann u.U. eine vorerst taktisch vorgeschobene Fragestellung sein, die Zeitgewinn und eine Testphase ermöglicht. Erst wenn sich die Beraterin bei der Behandlung dieses Problems als vertrauenswürdig erwiesen hat, werden weitere, ev. wichtigere Probleme von den KlientInnen in der KSI vorgebracht.
Ich bezeichne in dieser Arbeit jene für eine Bearbeitung noch ungenügen-
den Eröffnungsformulierungen als PP1, die als erstes Beratungsresultat in eine bearbeitbare Form gebrachten Problemformulierungen als PP2. Bearbeitbare Probleme benennen den Ratsuchenden als Aktor und eine Handlungssituation, für die der Aktor dzt. nicht weiß, wie sie gut zu bewältigen ist. Presenting Problem (Vorstellungsgrund) Als Presenting Problem wird der Anlass der Beschäftigung der Institution mit dem Fall verstanden. Dieser ist nicht notwendigerweise mit dem Präsentierten Problem ident. Problem Ein Problem ist die Differenz zwischen einem IST und einem (möglicherweise nicht ausformulierten) SOLL, festgestellt durch einen Aktor, wobei zwischen IST und SOLL (zumindest) ein Hindernis steht. Der Aktor gibt zu erkennen, dass er bereit ist, zur Überwindung des Hindernisses Energie zu investieren. In der Sozialarbeit ist „Problem“ die zentrale Referenz in der Fallbearbeitung und die Existenz eines beschreibbaren Problems Bedingung der Möglichkeit methodischen Vorgehens.
Glossar
Problemdefinition Als Problemdefinition wird in der Sozialarbeit die Formulierung bezeichnet, die eine Person für ihre subjektive Sicht des gegenständlichen Problems findet. Die Problemdefinitionen für ein und dieselbe Situation differieren zwischen den verschiedenen fallbeteiligten Personen und Organisationen mitunter beträchtlich. Die Problemdefinition, die KlientInnen finden, ist Teil der → Eigendiagnose. Problemkontext Jene personalen, sozialen, gegenständlichen Fakten und Relationen, die Genese und Charakteristik des vorliegenden → Problems bestimmen. Die zumindest holzschnittartige Erkundung des Problemkontexts ist notwendige Voraussetzung für angemessene Interventionen. Ratifizierung Ratifizierung ist das Zeichen der Zustimmung, das Gesprächspartner zu einer vorgeschlagenen Formulierung (Einschätzung, Vereinbarung, Verfahrensvorschlag) geben. Die Ratifizierung kann verbal oder nonverbal (z.B. durch Nicken) erfolgen. Die Ratifizierung macht aus dem Vorschlag einen „Beschluss“, also eine gemeinsame Entscheidung der Kommunikationspartner, auf die man sich im Kommunikationssystem in der Folge legitim berufen kann. In ihrer Verbindlichkeit ist die Ratifizierung um so stärker, je expliziter sie erfolgt : Ein gesprochenes „ja“ ist z.B. stärker als ein Kopfnicken, ein „So machen wir das“ stärker als ein „Wenn Sie meinen“. Die stärkste Form der Ratifizierung ist die Formulierung des Inhalts in eigenen Worten. Respekt Respekt ist der Modus der Begegnung mit anderen oder der Bezugnahme auf andere, in dem sie als Personen mit Autonomie, Würde und Recht auf Beachtung und Anhörung anerkannt werden. In der Sozialarbeit wird fallbeteiligten Personen deutlich Respekt erwiesen und dadurch die Basis für problemlösende Kooperation geschaffen. Respekt kann in → Inszenierungen des Respekts deutlich ausgedrückt werden. Höflichkeit, Geben und Akzeptieren von Gastfreundschaft, Aufmerksamkeit etc. sind Mittel der Realisierung von Respekt.
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Sitzung Unter Sitzung verstehe ich jedes Gespräch im Zusammenhang der Bearbeitung eines Falles, das deutlich als Bearbeitungs- bzw. Beratungsgespräch markiert ist, in dem sich also SozialarbeiterIn und Personen aus dem Fallkontext in ihren fallbezogenen Rollen geplant und absichtlich begegnen. Sitzungen sind inszeniert : i.d.R. stellen die SozialarbeiterInnen eine geeignete Gesprächssituation her, die Gesprächspartner sitzen, es wird systematisch auf frühere Sitzungen Bezug genommen und es kann zu verbindlichen Vereinbarungen kommen. Entscheidend für den Sitzungscharakter eines Gesprächs sind aber nicht Sitzordnung oder Ort, sondern die Strukturierung und die Stellung im Prozess. So können Sitzungen mitunter auch in Form eines Telefongesprächs stattfinden. Sitzungen sind eine Sonderform des → Gesprächs. Situation Situation ist eine reale Anordnung von Personen, Sachen und sozialen Systemen. Thema und Thematisierung Ein Thema ist ein inhaltliches Feld, das im → KSI angesprochen wird und auf das damit in diesem Kommunikationssystem legitim (unter Berufung auf frühere Kommunikation) Bezug genommen werden kann. In der → Beratung dienen Themen der inhaltlichen Ausrichtung. Sie können auch ohne ausdrückliche → Problemdefinition eingeführt werden und erhöhen dadurch den taktischen und strategischen Spielraum in der Beratung beträchtlich. Aufgrund der Rollenverteilung im KSI ist es allerdings (vor allem in kürzeren Varianten) für KlientInnen schwierig, Themen ohne Problemdefinition zu etablieren, da sie dadurch ihre KlientInnenrolle verlassen würden. Unter Thematisierung verstehe ich die Etablierung (das „Ansprechen“) eines neuen inhaltlichen Feldes im KSI. Ziele Ziele sind gedanklich vorweggenommene zukünftige Zustände, Sachverhalte oder Handlungsergebnisse, die jemand konkret anstrebt bzw. zu verwirklichen beabsichtigt. Ohne Verwirklichungsvorsatz sind gedankliche Vorwegnahmen von zukünftigen Zuständen usw. keine Ziele, sondern bestenfalls Wünsche oder Wunschdenken. Es reicht nicht aus, wenn die SozialarbeiterInnen den Verwirklichungsvorsatz haben ; die KlientInnen müssen ihn auch haben.102 102 Diese Definition ist entnommen Possehl (2002 : 2).
Zielvereinbarung Zielvereinbarungen sind ein explizit gemachter Konsens zwischen SozialarbeiterIn und KlientIn über anzustrebende Änderungen der Lebenssituation der KlientInnen. Sie bedürfen, um als Vereinbarung durchgehen zu können, der ausdrücklichen → Ratifizierung durch die KlientInnen. Scheinvereinbarungen sind solche, bei denen die Interessen einer Seite in einem Ausmaß unberücksichtigt bleiben, dass eine aktive Mitarbeit dieses Vereinbarungspartners an der Zielerreichung nicht erwartet werden kann.
Zielvereinbarungen steuern und strukturieren für die professionell Beteili-
gten einen Teil ihres Arbeitsprozesses, für die KlientInnen einen Teil des in ihre Lebenssituation hineinreichenden Interventionsprozesses. Dies sind, analog zum „doppelten Mandat", die beiden unterschiedlichen sozialen Gesamtzusammenhänge, in denen Zielvereinbarungen auch bei identischer Formulierung gesehen und bewertet werden müssen : Teil von Arbeitsprozess und Teil von Lebenssituation.103
103 Zweiter Teil dieser Definition ist entnommen Possehl (2002 : 3).
Abbildungsverzeichnis
Grafik 1: Konstituierung gesellschaftlicher Bearbeitung „sozialer Probleme“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 2: Entnommen Sidler (1999: 192). . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 3: Problemdefinitionen und Positionierung. . . . . . . . . . . . . .
39
Grafik 4: Sprachen und Anforderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 5: Der Fall.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 6: Elemente von Fallmustern.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 7: Ablaufschema Diagnose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Grafik 8: Aufmerksamkeitsfokus der Sozialarbeit. . . . . . . . . . . . . . .
91
Grafik 9: Poster „You’ll Need a Social Worker“ Teil 1. . . . . . . . . . . . .
105
Grafik 10: Poster „You’ll Need a Social Worker“ Teil 2. . . . . . . . . . . . .
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Grafik 11: Entscheidungssetting. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Grafik 12: Typologie sozialarbeiterischer Interventionsformen/ Grafik 12: Prozesstypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
Grafik 13: Diagnostische Dimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
Grafik 14: Diagnosetypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
Grafik 15: Faktentypen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
147
Grafik 16: Arbeit an der Problemformulierung. . . . . . . . . . . . . . . . .
151
Grafik 17: Personalliste Beispiel 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
Grafik 18: Fallraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
158
Grafik 19: Crossings. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
Grafik 20: Crossings Familie B. – „offizielle“ Variante. . . . . . . . . . . . .
165
Grafik 21: Crossings Familie B.: Darstellung gegenüber den Kindern. . . .
166
Grafik 22: Crossings Familie B. – Hypothese der Sozialarbeiterin. . . . . . .
167
Grafik 23: Zweitfamiliennotation, Beispiel 1 und Legende. . . . . . . . . .
170
Grafik 24: Zweitfamiliennotation, Beispiel 2. . . . . . . . . . . . . . . . . .
172
Grafik 25: Selektives Situationsanalyse-Raster nach Hiltrud von Spiegel ..
173
388
Abbildungsverzeichnis
Grafik 26: Mehrperspektivenraster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Grafik 27: Notation Interventionsgeschichte 1. . . . . . . . . . . . . . . . .
178
Grafik 28: Notation Interventionsgeschichte 2. . . . . . . . . . . . . . . . .
179
Grafik 29: Notation Interventionsgeschichte 3. . . . . . . . . . . . . . . . .
180
Grafik 30: Zielplanungsraster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
182
Grafik 31: Sektoreneinteilung der Netzwerkkarte. . . . . . . . . . . . . . .
191
Grafik 32: Familiensektor mit verstorbenem Bruder und Verwandten ohne Kontakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
Grafik 33: Grafik ohne und mit eingeblendeten Horizonten. . . . . . . . .
202
Grafik 34: Cluster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
Grafik 35: Star. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Grafik 36: Mutter als Brücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
Grafik 37: Netzwerkgrafik einer 83-jährigen Frau. . . . . . . . . . . . . . .
210
Grafik 38: Netzwerk einer 20-jährigen Psychiatrie-Patientin. . . . . . . . .
212
Grafik 39: Netzwerk Martin, 25 Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
213
Grafik 40: Netzwerk eines 36-jährigen Sexualstraftäters . . . . . . . . . . .
215
Grafik 41: Herr M, 78 Jahre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216
Grafik 42: Nora, 20 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
Grafik 43: Ecomap nach Hepworth/Rooney/Larsen. . . . . . . . . . . . . . .
221
Grafik 44: Ausfüllbeispiel Leopold S., 24a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
222
Grafik 45: Ausfüllbeispiel Sabrina M., 27a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
Grafik 46: Ausfüllbeispiel Martin K., 42a. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224
Grafik 47: Formular für Bografischen Zeitbalken (Ausschnitt). . . . . . . .
229
Grafik 48: Ausfüllbeispiel 1 Biografischer Zeitbalken. . . . . . . . . . . . .
233
Grafik 49: Ausfüllbeispiel 2 Biografischer Zeitbalken. . . . . . . . . . . . .
235
Grafik 50: IC3 Formular, Achse 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242
Grafik 51: IC3 Formular, Achsen 2 und 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Grafik 52: Global Assessment of Functioning. . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
Grafik 53: Inklusions-Chart Beispiel 1, Blatt 1. . . . . . . . . . . . . . . . . .
265
Grafik 54: Inklusions-Chart Beispiel 1, Blatt 2. . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
Grafik 55: Inklusions-Chart Beispiel 2, Blatt 1. . . . . . . . . . . . . . . . . .
268
Grafik 56: Inklusions-Chart Beispiel 3, Blatt 2. . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
Grafik 57: IC3 Datenbankversion Blatt 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Grafik 58: IC3 Datenbankversion Blatt 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Grafik 59: IC3graph Seite 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 60: IC3graph Seite 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
272
Abbildungsverzeichnis
389
Grafik 61: integrachart®, Ausschnitt Wohnen. . . . . . . . . . . . . . . . .
275
Grafik 62: integrachart®, Ausschnitt Qualifikation . . . . . . . . . . . . . .
276
Grafik 63: Integrationsplan zur integrachart®, Seite 1. . . . . . . . . . . .
278
Grafik 64: Integrationsplan zur integrachart®, Seite 2. . . . . . . . . . . .
279
Grafik 65: Integrationsplan zur integrachart®, Seite 3. . . . . . . . . . . .
280
Grafik 66: PIE Blatt 1 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
Grafik 67: PIE Blatt 2 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
Grafik 68: PIE Blatt 3 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
Grafik 69: PIE Blatt 4 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
Grafik 70: PIE Blatt 5 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
Grafik 71: PIE Blatt 6 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
Grafik 72: PIE Blatt 7 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
302
Grafik 73: PIE Blatt 8 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 74: PIE Blatt 9 (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 75: PIE Blatt 10 (Karls/Wandrei). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 76: PIE Ergebnisblatt (Karls/Wandrei) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 77: 4-Felder-Matrix Motivational Interview. . . . . . . . . . . . . . .
315
Grafik 78: 4-Felder-Matrix Motivational Interview (Beispiel nach Körkel/Drinkmann 2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grafik 79: Interventionsassessment – Optionenblatt Seite 1. . . . . . . . .
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Grafik 80: Interventionsassessment – Optionenblatt Seite 2. . . . . . . . .
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Grafik 81: Interventionsassessment Übersichtsblatt. . . . . . . . . . . . . .
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Judith Wolfsberger
frei geschrieben Mut, freiheit und str ategie für Wissenschaftliche abschlussarbeiten
Judith Wolfsberger begleitet seit Jahren Studierende beim Schreiben ihrer Abschlussarbeiten und lehrt in Workshops innovative Schreibmethoden aus dem englischsprachigen Raum. Sie macht Mut, sich im Dschungel der Massenuniversität zu behaupten und die Angst vor der Wissenschaft abzulegen. Dieses Buch vermittelt die Schreibkompetenz, leicht und rasch in eigenen Worten wissenschaftliche Inhalte zu formulieren und strategisch zu überarbeiten. 2009. 259 S. Br. 150 x 215 mm. ISBN 978-3-8252-3218-4
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar
AnnA MAriA Dieplinger
SoziAle DienStleiStungen für pAtient i nnen unD Angehörige Studien und Konzepte zur orientierung von Sozialarbeit im KranKenhauS
Soziale Dienstleistungen bestimmen die Zufriedenheit der PatientInnen und Angehörigen und erfüllen in weiterer Folge den sozialen Auftrag einer Gesellschaft. Der Sozialdienst eines Krankenhauses kann als individuelles Schnittstellen- und Entlassungsmanagement agieren, Ressourcen, Strategien und Perspektiven aufzeigen und beitragen, dass der Behandlungserfolg nach dem Verlassen eines Krankenhauses garantiert wird. 2008. 149 S. br. 155 x 235 mm. iSbn 978-3-205-77768-7
böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43(0)1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau.at | wien köln weimar