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German Pages 244 Year 1976
Anton Hiersche
Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der D D R Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Anton Hiersche
Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technische Revolution
Akademie-Verlag Berlin 1977
2. Auflage Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/323/77 Gesamtherstellung: VEB Druckerei „Thomas Müntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 752 6421 (2150/33) • LSV 8036 Printed in G D R D D R 8,50 M
Inhalt
Vorbemerkung
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Einleitung
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„Physiker" und „Lyriker" Diskussion über Literatur und Naturwissenschaften Lyrik auf der Suche nach A u s d r u c k s m i t t e l n . . . . Komplizierte Wissenschaft — „komplizierte" Lyrik? Das Schöpferische in Literatur und Wissenschaft . .
25 25 43 54 64
Arbeiterklasse und Literatur Die Weite des Gegenstandes Humanismus oder Funktionalisierung des Menschen Kommunistische Lebensart im dramatischen Experiment
75 75 84 97
Literatur und Natur Denn der Mensch ist ein Teil der Natur Von kosmischer zu irdischer Poesie Natur — Ökonomie — Literatur Natur — Ethik — Literatur
109 109 118 126 140
Literatur — nationale Traditionen — Internationalismus Zur Dialektik von Nationalem und Internationalem Realistische soziale Analyse des Nationalen . . . . Gewinn und Verlust des Fortschritts
155 155 165 175
Chancen des Erzählens 187 Informationsfülle, Schnellebigkeit und Erzählliteratur 188 Prosaschreibweisen im Experiment 195 5
Schlußbemerkungen Anmerkungen Personenregister
Vorbemerkung Die vorliegende Arbeit entstand während meines einjährigen Aufenthaltes am Institut für Weltliteratur „A. M. G o r k i " der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau. Die Möglichkeit, an dieser Forschungsstätte arbeiten zu dürfen sowie die großzügige Unterstützung, die ich in jeder Hinsicht genoß, verdanke ich namentlich dem damaligen Direktor des Instituts, Korrespondierendes Akademiemitglied Professor Dr. B. L. Sutschkow, dessen frühen Tod wir inzwischen beklagen mußten. Zu tiefem Dank fühle ich mich dem leider ebenfalls inzwischen verstorbenen stellvertretenden Direktor, Professor Dr. A. L. Dymschitz, gegenüber verpflichtet, dem meine wissenschaftliche Betreuung oblag und dessen Rat mir stets wertvoll war. Für helfende Kritik habe ich dem Korrespondierenden Akademiemitglied Professor Dr. G. I. Lomidse und der von ihm geleiteten Abteilung Multinationale Sowjetliteratur zu danken. Der Fortgang der Arbeit wurde ferner durch Hinweise der Kollegen und Freunde Dr. L. Arutjunow, Dr. sc. W. Borschtschukow, Dr. sc. N. Gej, Dr. W. Kowski, Dr. sc. S. Osmanowa, Professor Dr. sc. A. Owtscharenko, Dr. A. Uschakow und Dr. I. Weinberg gefördert. Ihnen und den vielen hier nicht Genannten sage ich ein herzliches Dankeschön. Berlin, im Januar 1975
Der Verfasser
Einleitung . . . aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch Goethe, Wahlverwandtschaften
Welcher Zusammenhang besteht zwischen wissenschaftlichtechnischer Revolution und Literatur? Es gibt kaum eine andere Frage, über die gegenwärtig in der Sowjetunion unter Schriftstellern, Kritikern und in breiten Leserkreisen so heftig gestritten würde wie über diese. 1 Die Debatten darum haben den Streitpunkt, ob es überhaupt einen solchen Zusammenhang gäbe, bereits in den Hintergrund gedrängt, es geht jetzt um die Formen, die Vermittlungsglieder und den Grad dieses Zusammenhangs. Immer stärker konzentriert sich dabei die Auseinandersetzung auf das LiterarischPraktische, von dem eigentlich der erste Anstoß zur Diskussion ausging: Erwachsen der Sowjethteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution neue, besondere Aufgaben, und wenn ja, welche sind es? Darauf eine erste, vorläufige Antwort vorzuschlagen, sie wiederum in die noch lange nicht abgeschlossene Debatte einzubringen, ist der Zweck meiner Untersuchung. Ursprünglich lautete die Frage in der'sowjetischen Diskussion anders, sie war viel rigoroser formuliert: Hat Literatur noch eine Funktion im „Zeitalter der Wissenschaft und Technik"? Diejenigen Teilnehmer der bereits 1959 einsetzenden Debatte, welche diese Frage so stellten und mit einem mehr oder weniger klaren „Nein" beantworteten, nannte man die „Physiker". Die sie bejahten, gingen unter dem Terminus „Lyriker" in die Geschichte der Sowjethteratur ein. Diese erwiderten die Herausforderung der „Physiker" mit der produktiven Gegenfrage Was muß Literatur tun, um ihre Funktion heute zeitgemäß wahrzunehmen? Die Konzentration darauf führte den „Physiker-Lyriker"-Streit aus 9
seiner Enge heraus, und nach der Ausweitung auf allgemeine Probleme der literarischen Gegenwartsgestaltung ebbte die Diskussion im Laufe des Jahres 1960 allmählich ab. Unterschwellig aber ging sie weiter, trat in verschiedener Form an die Oberfläche und scheint heute, in den siebziger Jahren, einen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen. Schon in der Fragestellung der „Physiker" steckte der Kardinalfehler, der die apodiktische Antwort in gewissem Maße vorausbestimmte und ohne dessen Korrektur alle Aussagen zum Problem „Literatur und wissenschaftlichtechnische Revolution" anfechtbar bleiben: Die „Physiker" sprachen vom „Zeitalter der Wissenschaft und Technik". Der Terminus ist bis heute gebräuchlich und für den alltäglichen Umgang — als Metapher, gleichwertig etwa dem „kosmischen Zeitalter" — auch zulässig. Wissenschaftlich jedoch ist er falsch, weil in dieser Bestimmung des Hauptmerkmals unserer Epoche das Primat der Produktionsverhältnisse willkürlich durch das der Produktivkräfte ersetzt wird. Daraufbauen solche bürgerlichen Gedankenkonstruktionen wie die Konvergenztheorie, die technotrone Gesellschaft und — mutatis mutandis — auch die postindustrielle Gesellschaft auf. 2 Wir haben davon auszugehen, daß sich alle Veränderungen im Beireich der Produktivkräfte — gleich ob evolutionärer oder revolutionärer Natur — unter ganz bestimmten Gesellschaftsverhältnissen vollziehen bzw. solche erfordern und herbeiführen. Unsere Epoche ist daher die des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, wie auf dem Welttreffen der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau 1969 festgestellt wurde. 3 Diese politisch-ökonomisch geprägte Definition wird auch dadurch als gültig bestätigt, daß die wissenschaftlich-technische Revolution eine solche gesamtgesellschaftliche, ja internationale Planung und Leitung von Wirtschaft und Wissenschaft erheischt, wie sie nur unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen möglich ist. Der Sozialismus/Kommunismus ist die Gesellschaftsordnung, die den (durch die wissenschaftlich-technische Revolution) veränderten Produktivkräften gemäß ist. Mit der richtigen Epochenbestimmung beginnt die richtige Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von Litera10
tur, in unserem Falle der Sowjetliteratur, und der wissenschaftlich-technischen Revolution, nach der spezifischen Aufgabe der Literatur unter diesen neuen Bedingungen. Die Epochendefinition muß bei der Charakterisierung des Phänomens „Wissenschaftlich-technische Revolution" immer mitgedacht werden. Es gehört nicht zum Aufgabenbereich einer literaturwissenschaftlichen Abhandlung, die derzeit vorhandene Vielzahl von philosophischen Begriffsbestimmungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu vergleichen und in die Debatte darum einzugreifen. Es muß hier genügen, eine ausgewogene Arbeitsdefinition zu wählen: Wissenschaftlich-technische Revolution ist ein qualitativer Sprung in der Entwicklung der Naturerkenntnis und deren Anwendung, charakterisiert durch die Verwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft und die Umwälzung im ganzen System der Produktivkräfte. 4 Ihr Kernstück ist der „Übergang der Arbeitsfunktion der unmittelbaren Steuerung und Regelung der Maschinen und Anlagen vom menschlichen Gehirn auf technische Steuerungs-, vor allem Regelungseinrichtungen" 5 . Sie beinhaltet daher „grundlegende qualitative Veränderungen in der materiell-technischen Basis der Produktion und ihrer Leitung, aber auch in der Stellung und Funktion des Menschen im Arbeitsprozeß und damit im Charakter der Arbeit. Ihr Wesen besteht in der organischen Verbindung und Wechselwirkung von Wissenschaft, Technik und Produktion, in der sich daraus ergebenden grundlegenden Veränderung der technisch-ökonomischen Elemente des Produktionsprozesses sowie in der Umwälzung der Struktur und Arbeitsweise der Wissenschaft. All dies übt auf das Leben der Menschen, auf den Charakter der Arbeit, die Bildung, Kultur und Lebensweise einen tiefgreifenden Einfluß aus." 6 Diese Vorgänge sind weltweit, und niemand wird bestreiten, daß sich viele Erscheinungen wissenschaftlich-technischer Art in den beiden wichtigsten Gesellschaftssystemen unserer Zeit gleichen. Dennoch wird die wissenschaftlichtechnische Revolution — die ja nicht auf wissenschaftliche Entdeckungen und neue technische Verfahren reduziert werden kann — inhaltlich von den Produktionsverhältnis11
sen entscheidend geprägt. Im Kapitalismus ist sie in den Prozeß der Kapitalverwertung einfunktioniert und dient somit letztlich der Erzeugung des Maximalprofits. Im Sozialismus ist sie auf die Befriedigung der vernünftigen materiellen und kulturellen Bedürfnisse gerichtet und fördert die allseitige Entwicklung des Menschen; sie ist das wichtigste Instrument zur Schaffung der materiell-technischen Basis des Kommunismus. Deshalb stellten der XXIV. Parteitag der KPdSU, der VIII. Parteitag der SED und die Kongresse anderer Bruderparteien die historische Aufgabe, die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution mit den Vorzügen des Sozialismus zu verbinden. 7 Wir befinden uns — in geschichtlichen Dimensionen gesehen — ganz am Anfang dieser Prozesse. 8 Diese kaum noch bestrittene Aussage ist insofern wichtig, als einige Widersprüche, die heute als besonders kraß empfunden und von Vertretern der bürgerlichen Philosophie nicht selten als schicksalhaft und unüberwindlich hingestellt werden — etwa die Widersprüche zwischen ständig steigender Produktion und Endlichkeit der natürlichen Ressourcen, zwischen Industrie und Natur — mit fortschreitender Erkenntnis beherrscht bzw. beseitigt werden können. Die Voraussetzung dafür sind natürlich sozialistische Produktionsverhältnisse, eben die maximale Ausnutzung ihrer Vorzüge. Ein Diskussionsgegenstand bleibt weiterhin die Frage, wann der Beginn der wissenschaftlich-technischen Revolution anzusetzen und wodurch er am auffallendsten charakterisiert ist. Manche sehen ihn in der Formulierung der Relativitätstheorie durch Einstein und der Quantentheorie durch Planck am Anfang des Jahrhunderts, die meisten geben jedoch die vierziger und fünfziger Jahre an und nennen als einschneidende Ereignisse die Einführung automatischer Steuerungssysteme in den Produktionsprozeß, die Kernspaltung und die Kernfusion, die Erfindung des Düsenmotors, die Entwicklung von Raketentechnik und Raumfahrt, die umfassende Anwendung des Fernsehens, den Aufschwung von Genetik und Molekularbiologie. 9 Für die Sowjetliteratur sind zweifellos der letztgenannte Zeitraum und die entsprechenden Merkmale das Entscheidende ge12
wesen. Das beweist der Zeitpunkt des Beginns und der Inhalt der Physiker-Lyriker-Debatte. Zu den Begleiterscheinungen der Revolution gehört die sogenannte „Informationsexplosion", deren wesentliches Charakteristikum die Erneuerung menschlichen Wissens im Zeitraum von 5—10 Jahren — die Schätzungen gehen hier auseinander — bildet. 10 Die Anforderungen an die berufliche Disponibilität des Menschen steigen infolgedessen, er durchläuft innerhalb seines Lebens mehrere Qualifikationen. Anders ausgedrückt, der Zwang zur Weiterbildung wird für das Individuum zu einer Dauererscheinung mit allen ihren Folgen — steigende Bildung, aber auch Schwierigkeiten, den Produktionsprozeß mit dem Prozeß der Qualifikation, die nicht in jedem Falle während der Arbeit möglich ist, in Übereinklang zu bringen. Quantitative Zunahme der Information und wachsende Spezialisierung stehen in einem untrennbaren dialektischen Zusammenhang. Daraus erwächst der Gesellschaft und dem einzelnen die komplizierte Aufgabe, hohes Spezialwissen mit vertiefter Einsicht in größere Zusammenhänge zu vereinen, um der Vereinseitigung des Menschen entgegenzuwirken. Die ständige Arbeit an der Lösung dieses Problems hilft, eine ernste Gefahr für die Entwicklung des Individuums wie letztlich der Gesellschaft zu vermeiden, eine Gefahr, die durchaus nicht schicksalhaft ist, wie bürgerliche Philosophen behaupten. Im Kapitalismus gehört die Vereinseitigung freilich zum System, ja der geistig verkrüppelte Mensch wird von einigen Theoretikern nachgerade als ideales Glied einer künftigen „technotronen Gesellschaft" angesehen. Nach den Vorstellungen Zbigniew Brzezinskis, Hermann Kahns und Alwin Tofflers, der Propheten der „technotronen Gesellschaft", solle die Mehrzahl der Menschen eine einheitliche Masse satter, wohlhabender Kleinbürger ohne soziale Interessen, ohne das Bedürfnis sozialer Umwälzungen, beherrscht von einer Handvoll Technokraten, werden. 11 Die wissenschaftlichtechnische Revolution unter sozialistischen Bedingungen, der humanistische Gegenwurf zu diesen und anderen menschenfeindlichen Theorien fördert demnach nicht nur die allseitige Entwicklung des Menschen, sie fordert sie in glei13
chem Maße. Hinter dem Problem, die stärkere Spezialisierung mit der vertieften Einsicht in größere Zusammenhänge, in allgemeine Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft zu verbinden, wird somit der geschichtsphilosophische Zusammenhang sichtbar: Es geht darum, die für das Individuum negativen Folgen der Arbeitsteilung, wie sie sich in Jahrtausenden der Klassengesellschaft ergaben — Vereinseitigung, Verkümmerung bestimmter schöpferischer Potenzen —, aufzuheben, den mit der sozialistischen Revolution eingeleiteten Prozeß der Aufhebung konsequent weiterzuführen. Die gegenwärtigen Umwälzungen im Bereich der Produktivkräfte treiben die Freisetzung der schöpferischen Potenzen des Menschen beschleunigt voran, sie schaffen bessere Bedingungen für die — wie Engels bei der Charakterisierung des Kommunismus sagte — „vollständige freie Ausbildung und Betätigung" seiner „körperlichen und geistigen Anlagen" 12 . Hier ist der wesentliche Berührungspunkt zwischen den Prozessen der wissenschaftlich-technischen Revolution und der Literatur unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen. Er ist es aber nicht allein, da sich die wissenschaftlichtechnische Revolution weltweit vollzieht, diese Welt in zwei einander sich ausschließende soziale Systeme gespalten ist und sich in einem langwierigen, von erbitterten Kämpfen auf politischem, ökonomischem, militärischem und ideologischem Gebiet begleiteten Übergangsprozeß befindet. Von Bedeutung für die Sowjetliteratur ist neben der Freisetzung der schöpferischen Potenzen des Menschen dementsprechend auch das widersprüchliche Verhältnis von globalem Charakter der wissenschaftlich-technischen Revolution und ihrer derzeit noch gegensätzlichen Steuerung und Nutzung durch die beiden Weltsysteme. In einer sowjetischen Arbeit wird diese Problematik sehr treffend charakterisiert: „Die unter entgegengesetzten Produktionsweisen von unterschiedlichen sozialen Auswirkungen begleitete wissenschaftlichtechnische Revolution beschleunigt die Entwicklung der Produktivkräfte im Weltmaßstab, was den Umweltschutz, die Erhaltung des biologischen Gleichgewichts zu einem immer aktuelleren Problem werden läßt. Die wissenschaft14
lich-technische Revolution hat tiefgreifende Veränderungen im militärischen Bereich bewirkt, zur Herstellung von Waffen mit nie dagewesener Zerstörungskraft geführt, und das hat die Verhütung eines neuen Weltkrieges zur wichtigsten Aufgabe der Menschheit gemacht. Die Widersprüche zwischen den Möglichkeiten und Gefahren, welche von der wissenschaftlich-technischen Revolution hervorgebracht werden, verleihen — verflochten mit dem Widerspruch zwischen den beiden Systemen — den Beziehungen von Staaten mit unterschiedlicher Ordnung den Charakter einer dialektischen Einheit von Kampf und Zusammenarbeit." 13 Die Lösung der meisten Widersprüche, die der wissenschaftlich-technischen Revolution innewohnen, ist nach alledem in erster Linie eine sozial-ökonomische Aufgabe, sie steht im engsten Konnex mit der Überwindung des Epochenwiderspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Erst in zweiter Linie ist als Lösungsweg die tiefere Einsicht in Naturgesetze, die Entwicklung von Wissenschaft und Technik selbst zu nennen. Für die Erforschung des Zusammenhangs von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution ist die multinationale Sowjetliteratur aus mehreren Gründen ein besonders geeignetes Untersuchungsobjekt: Sie ist entstanden auf der Grundlage der am meisten entwickelten Gesellschaftsverhältnisse in der Welt, die Sowjetschriftsteller schaffen aus einer mehr als halbhundertjährigen eigenen sozialistischen Tradition heraus, sie besitzen große künstlerische Erfahrungen bei der ästhetischen Aneignung vergleichbar gewaltiger Gesellschaftsprozesse unter sozialistischen Bedingungen. Die Sowjetunion hat an der Entwicklung der meisten Wissenschaftszweige und Techniken, die die wissenschaftlich-technische Revolution einleiteten und vorantrieben, führenden Anteil: Atomphysik, theoretische Physik, Automatisation, Mathematik, Weltraumforschung, Raketentechnik, Elektronik, Biologie u. a. Die Umgestaltung der Natur durch Industrialisierung und wissenschaftlich-technische Revolution vollzog und vollzieht sich in unvergleichbaren Ausmaßen. Der multinationale Charakter der Sowjetliteratur läßt einige Probleme schärfer ins Blickfeld treten als anders15
wo, werden doch Völker in die Umwälzung der Produktivkräfte einbezogen, die teilweise eine beschleunigte, verkürzte historische Entwicklung von patriarchalischen, vorfeudalen, ja sogar urgemeinschaftlichen Verhältnissen zum Sozialismus durchlebten. Wenn Sowjetschriftsteller heute die Frage nach der Bedeutung von Wissenschaft und Technik für die Gesellschaft, für den einzelnen Menschen, für die Literatur debattieren bzw. literarisch gestalten, so muß man darin den konsequenten Verfolg einer von ihnen begründeten langen Tradition sehen. Die Sowjetliteratur ist zusammen mit den gewaltigen gesellschaftlichen Bewegungen unseres Jahrhunderts, deren Ziel der befreite, allseitig entwickelte Mensch war und bleibt, auf den Plan getreten, sie war immer Teil dieser Bewegung und damit gleichzeitig Anwalt des Menschen. Wie der XXIV. Parteitag der KPdSU feststellte, waren die Möglichkeiten der Sowjetunion, die materiellen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, lange Zeit aus bekannten historischen Gründen begrenzt: 14 ererbte Rückständigkeit, Zerstörungen durch Bürgerkrieg, Gewappnetsein inmitten kapitalistischer Umkreisung, faschistische Aggression, Überwindung ihrer Folgen usw. Nur im Rahmen dieser Wirklichkeit konnten die Sowjetschriftsteller ihr humanistisches Ideal poetisch realisieren. Mit den wachsenden Möglichkeiten des Sozialismus, vor allem infolge des Sieges über den Faschismus, der Herausbildung eines sozialistischen Weltsystems, des veränderten Kräfteverhältnisses in der Welt, der gesteigerten Produktivität auf der Basis entwickelter Wissenschaft und Technik wurden die Vorzüge der neuen Gesellschaftsordnung für jeden einzelnen Sowjetbürger greifbarer, zu alltäglicher Realität. In der Literatur wurde daher seit 1945, verstärkt nach der Überwindung der Kriegsfolgen in den fünfziger Jahren, immer nachdrücklicher die Frage nach Sinn und Nutzen der Sozialismusentwicklung ganz konkret für den einzelnen Menschen gestellt. Das ist die eine Seite des zentralen inhaltlichen Problems der Sowjetliteratur. Die andere Seite resultiert aus den subjektiven Voraussetzungen für das größere Wachstum der materiellen Potenzen des Sozialismus — aus dem erhöhten sozialisti16
sehen Bewußtsein der Menschen: Im Zentrum der Sowjetliteratur stehen auch die gesteigerten Anforderungen der sozialistischen Wirklichkeit an jeden einzelnen. In b e i d e m , den größeren materiellen Kräften des Sozialismus und dem gefestigten sozialistischen Bewußtsein der Sowjetmenschen, liegt jene Vertiefung des sozialistischen Humanismus beschlossen, dem die Sowjetliteratur der fünfziger bis siebziger Jahre Ausdruck verleiht. Beides findet seinen direkten Niederschlag nun in den Debatten um wissenschaftlich-technische Revolution und Literatur: Auch hier fragen die Schriftsteller nach dem Sinn aller Wissenschaft und Technik für den Menschen im Sozialismus einerseits und nach den moralischen Anforderungen an den Menschen, die sich aus der wissenschaftlich-technischen Revolution ergeben, andererseits. Diese gewaltigen Dimensionen der wissenschaftlich-technischen Revolution, deren entscheidende Bedeutung f ü r die Z u k u n f t des Sozialismus/ K o m m u n i s m u s wie der Menschheit überhaupt; die ungeheuren Mittel zur Veränderung der Erde, die dem Menschen in die H a n d gegeben sind, bei alledem das Fortbestehen des Epochenwiderspruchs — alles dies deutet auf eine neue Q u a lität in der Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Welt; hier ist möglicherweise auch eine neue Qualität der literarischen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit gefordert. Die Debatte um die Rolle der Sowjetliteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution unter sozialistischen Bedingungen hatte, wie eingangs erwähnt, die Phase der absoluten Negation der Literatur durch die „Physiker" in den Jahren 1959/60 ziemlich schnell durchschritten. Ein Jahrzehnt später formulierte Wladimir Solouchin einen anderen, ebenso extremen S t a n d p u n k t : Der wissenschaftlich-technische Fortschritt habe keinerlei Beziehungen zur Kunst. 1 5 In einer Hinsicht — aber nur in dieser — k a n n man Solouchin beipflichten: Atomphysik, Kybernetik,, Kosmosforschung usw. — sieht man einmal davon ab, d a ß sie zum Gegenstand der Literatur gehören können — beeinflussen als wissenschaftliche Disziplinen den Entstehungsprozeß eines literarischen Kunstwerkes nicht direkt. Ange2
H i e r s c h e . Sowjetlit.
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sichts der m i t t e l b a r e n Wirkungsfaktoren ist Solouchins Meinung jedoch nicht haltbar. Allein der psychologische Einfluß, den eingreifende wissenschaftliche Entdeckungen auf die Persönlichkeit des Zeitgenossen ausüben — man denke etwa an die Atombombe, an Kosmosforschung, Genetik —, der s o z i a l e , geistige Gehalt solcher Entdeckungen 16 hat sehr wohl Folgen für das künstlerische Schaffen. Solouchins schroffes Urteil rührt zu einem Teil daher, daß er sehr großen Wert auf die ethisch-ästhetische Wirksamkeit der Kunst und auf die Eigenständigkeit der künstlerischen Widerspiegelung legt. Dabei spielt ein gewisses Mißtrauen, ja ein gut Teil Besorgnis angesichts einiger noch nicht beherrschter Entwicklungsprobleme der wissenschaftlichtechnischen Revolution eine bestimmte Rolle. Die Schärfe der Meinungsäußerung resultiert schließlich auch aus dem Affront gegen einige modische, leere Spielereien mit Attributen, mit Termini der wissenschaftlich-technischen Revolution, wie sie hier und dort in der Sowjetliteratur auftauchen. Die Mehrzahl der sowjetischen Schriftsteller und Kritiker teilt die Auffassung Solouchins nicht, und er selbst gerät mit seiner schriftstellerischen Arbeit in Widerspruch zur eigenen theoretischen Äußerung: Einige Erzählungen der letzten Jahre sind — wie noch zu zeigen sein wird — eine Auseinandersetzung mit Problemen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Im allgemeinen bestreitet heute niemand mehr den Einfluß der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Literatur, nur über den Grad und die Art der Einwirkung gehen die Meinungen auseinander. Stellvertretend für jene, die diesen Grad für sehr gering halten, sei der Kritiker Botscharow zitiert: Mehr als die wissenschaftlichtechnische Revolution nähmen auf die Literatur und die Psyche des Menschen die sozialhistorischen, sozialpsychologischen Kataklysmen unseres Jahrhunderts Einfluß. Zum Beweis dessen führt er die wichtigsten Elemente der Persönlichkeitsstruktur, mit denen es Literatur zu tun habe, an: Die sozialen Grundlagen, die nationalen Traditionen, die psychologischen Faktoren im Individuum und damit im Zusammenhang die physiologisch-biologischen Gegeben18
heiten. 17 Man kann Botscharow so weit folgen, als er die hauptsächlich soziale Determiniertheit des Menschen, das Wesen des Menschen als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse akzentuiert. Er unterschätzt dabei aber offensichtlich die materiell-technischen Mittel, mit denen der Mensch seine Auseinandersetzung mit der Natur führt und sich darin als soziales Wesen überhaupt erst bestätigt. Die „sozialhistorischen, sozialpsychologischen Kataklysmen" unseres Jahrhunderts, deren Einfluß auf die menschliche Persönlichkeit zu den wichtigsten Gegenständen der Literatur gehört, stehen ja in direktem Zusammenhang mit dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, heute eben mit der wissenschaftlich-technischen Revolution. Die bürgerliche Überschätzung des Einflusses von Wissenschaft und Technik auf den Menschen darf nicht mit einer ebenso falschen Unterschätzung beantwortet werden. Nicht ganz annehmbar ist die Meinung des Schriftstellers Mykolas Sluckis: „Keinerlei Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution, wie segensreich sie auch sein mögen, ersetzen die Moral, ihre einfachen Wahrheiten, die vom Leben hart geprüft werden und darum jeden so teuer zu stehen kommen. Die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften lösen nicht das Problem des menschlichen Glücks, obwohl sie natürlich das Leben erleichtern oder vielleicht sogar verlängern." 18 Richtig ist: Moral und Glück gehören zum Komplex der letztlich von der sozial-ökonomischen Basis bestimmten menschlichen Beziehungen, Bewußtseinsfaktoren und Empfindungen, die auch von der Literatur mitbeeinflußt werden und deren Problematik sich keinesfalls automatisch, etwa durch den technischen Fortschritt, löst. Sluckis ist wie Solouchin und jedem wirklichen Künstler-an der eigenständigen, unersetzbaren Funktion der Literatur gelegen. Dennoch scheint uns Sluckis' Ansicht den Weg zur vollen Erkenntnis des Ineinander und Miteinander von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution zu erschweren. Wissenschaft und Technik ersetzen weder die Moral noch die ethisch-ästhetischen Aufgaben der Literatur, aber sie werfen neue moralische Probleme auf, denen nicht immer mit den „einfachen Wahrheiten" beizukommen 2'
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ist (denken wir nur an die Genetik), und wo auch die Schriftsteller mit aufgerufen sind, nachzudenken und Nachdenken zu provozieren. Die wissenschaftlich-technische Revolution schafft nicht automatisch menschliches Glück, aber doch wesentliche materielle Grundlagen des Glücks. Bei anderer Gelegenheit hat Sluckis diese apodiktische Haltung etwas korrigiert und den breiten Einflußbereich der wissenschaftlich-technischen Revolution auf die Literatur umrissen. Dennoch schränkt er ihn auch da immer noch ein, indem er betont, der Literatur bliebe der Mensch, blieben Fragen der Pflicht, des Gewissens, des Empfindens usw. 19 Das ist nur richtig, wenn man diese Fragen nicht künstlich von den Umwälzungsprozessen in der Gesellschaft, also auch denen in Wissenschaft und Technik, trennt. Das andere Extrem in der Sicht auf den Zusammenhang von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution wird von Schriftstellern wie Michail Kolessnikow und Pawlo Sahrebelny vertreten. Ihre Romane 2 0 hinterlassen den Eindruck, als gäbe es in der Realität nichts anderes mehr als allein die wissenschaftlich-technische Revolution. Ihr anerkennenswerter Versuch, zu zentralen Problemen unserer Zeit vorzustoßen, zeitigt daher recht einseitige Resultate. In der Auseinandersetzung um Literatur und wissenschaftlich-technische Revolution behaupten sich immer eindeutiger die Anschauungen, die sich von den Extremen abgrenzen. Daniii Granin kommt bei der Charakterisierung einiger Merkmale der wissenschaftlich-technischen Revolution zu folgenden Schlüssen: „Wirken alle diese Prozesse auf Literatur und Kunst ein? Auf deren Rezeption? Unbedingt. Wenn wir sagen: ,Der Leser ist gewachsen', so meinen wir, daß an diesem Wachstum auch die Entwicklung der Wissenschaft, das massenhafte Interesse für sie Anteil hat. Die Wissenschaft hat die Empfindlichkeit, die Fähigkeit gesteigert, äußerst ferne und äußerst schwache Signale auf immer breiterer Skala zu empfangen. Und diese Aufnahmefähigkeit erschließt dem Schriftsteller neue Beziehungen zum Leser [. . .] Der Schriftsteller hat heute in der Literatur das Recht, auf eine aktivere Teilnahme des Lesers zu zählen, auf das Ver20
ständnis unerwarteter und fernliegender Assoziationen. Assoziatives Denken erzieht auch zu assoziativer Aufnahme. Der Effekt des gegenseitigen Verstehens wird heute mit sparsameren Mitteln erzielt. Das Fassungsvermögen des modernen Erzählens wächst zweifelsohne: Auf ein und derselben Druckseite, mit der gleichen Zeilenzahl kann man mehr poetische Information als früher wiedergeben und deren Werterhöhen." 2 1 Das ist freilich nur ein Aspekt des Zusammenhanges von Literatur und wissenschaftlich-technischer Revolution, nichtsdestoweniger eröffnet die konstruktive, offensive Haltung Granins zum Problem den Zugang zur ganzen Vielfalt der Beziehungen. Die Umwälzungen im Bereich der Produktivkräfte erweitern unter sozialistischen Verhältnissen die Möglichkeiten der Literatur wie der Kunst überhaupt, indem sie die Produzenten zu höherer Bildung herausfordern, zur Auseinandersetzung mit dem einseitigen Spezialistentum drängen. Nicht zufallig verzeichnet man beispielsweise gegenwärtig in der Sowjetunion eine starke Zunahme der Besucherziffern in Kunstmuseen, so daß von einer „MuseenExplosion" die Rede ist. 22 Granins Auffassung, wie sie hier zitiert wurde, mehr noch Granins Werk, das entschieden weitere Zusammenhänge vorführt, deutet auf das eigentliche gemeinsame Bezugsfeld von Literatur und wissenschaftlichtechnischer Revolution: „Die Einwirkung der wissenschaftlich-technischen Revolution auf das Leben des Menschen wird voll und ganz bestimmt und entschieden in der Sphäre seines s o z i a l e n S c h ö p f e r t u m s . " 2 3 So lautete das Fazit einer der vielen Diskussionsrunden zum Gegenstand. Daraus folgt, wie der Literaturwissenschaftler Alexej Metschenko feststellte: „Die Hauptsphäre, in der sich alle vielgestaltigen Aspekte der wissenschaftlich-technischen Revolution im künstlerischen Schaffen brechen, ist der Mensch." 2 4 Der prinzipielle Unterschied zu den erwähnten Ansichten Botscharows und Sluckis, die ja mit der Betonung des Menschen als Hauptgegenstand der Literatur dieser Auffassung nahekommen, besteht in der Einbeziehung des g a n z e n Menschen in die Umwälzungsprozesse, welche die Vereinigung der wissenschaftlich-technischen Revolution 21
mit den Vorzügen des Sozialismus ausgelöst haben. Die gleiche Meinung teilen Wissenschaftler und Kritiker wie Alexej Jegorow, Ewald Iljenkow, Wadim Kowski, Felix Kusnezow und andere. Die Diskussionen um die Art der Beziehungen zwischen Sowjetliteratur und wissenschaftlich-technischer Revolution berühren immer intensiver die eigentlichen Fragen, die der Klärung bedürfen: Welche Aufgaben erwachsen der Literatur unter den neuen Bedingungen? Welche Wandlungen muß sie durchmachen, um diesen Aufgaben gewachsen zu sein? Oder sind keine wesentlichen Veränderungen in der Literatur zu beobachten, bleibt es beim Aufgreifen einiger neuer Themen und Gegenstände? Auch hier gibt es extreme Ansichten. Die einen sagen, Literatur muß der wissenschaftlich-technischen Revolution die Mobilisierung der menschlichen Gefühle, u. a. vor allem der Liebe, entgegensetzen. Andere fordern die „Intellektualität" der Literatur, gewissermaßen als Übereinstimmung des künstlerischen Denkens und Schaffens mit wissenschaftlichen Erkenntriisvorgängen. 25 Beide Empfehlungen engen die Wirkungsweise der Literatur ein, und obwohl in ihnen einander entgegengesetzte Positionen zum Ausdruck kommen, gehen sie doch im Mißverständnis der wissenschaftlich-technischen Revolution konform: Diese wird als Vorgang angesehen, der zu einer Hypertrophie des rationalistischen Denkens führt, gegen das man die Gefühle auf den Plan rufen oder an das man die Literatur anpassen müsse. Das Ergebnis der im folgenden vorgenommenen Erkundungen nach spezifischen Aufgaben der Sowjetlit?ratur unter den heutigen Bedingungen soll nicht vorweggenommen werden. Hier sei lediglich die Richtung angedeutet, in der bestimmte Verschiebungen vermutlich vonstatten gehen. Wir befinden uns dabei im Einklang mit zahlreichen Überlegungen sowjetischer Wissenschaftler. Alexej Metschenko sieht zwei Akzentverstärkungen in der Literatur: „Die Verteidigung der Priorität des Menschlichen im künstlerischen Schaffen hat noch niemals eine so aktuelle Bedeutung erlangt wie in unseren Tagen." Und: Die wissenschaftlichtechnische Revolution gebe den moralischen Problemen eine 22
neue Bedeutung, größere Schärfe und globale Maßstäbe. 2 6 Vom Standpunkt des Philosophen Ewald Iljenkow hätte die Literatur folgendes zu berücksichtigen: „Bei aller Hochachtung vor der modernen Wissenschaft und Technik wollen wir sie nicht vergöttern, nicht zum Maßstab des absoluten Wertes für alles und jedes machen. Laßt uns, umgekehrt, versuchen, die wissenschaftlich-technischen Neuerungen mit dem alten, aber richtigen Maß zu messen — mit dem Maß der menschlichen Würde jener Menschen, die diese Neuheiten schaffen, mit dem Maß der Entwicklung ihrer Fähigkeiten." 27 Literatur ist demnach einer der gesellschaftlichen Faktoren, die der wissenschaftlich-technischen Revolution das „inhärente M a ß " 2 8 anzulegen vermögen, das Maß, das die historische Subjektwerdung des Menschen ausdrückt. Darin ist natürlich die höhere moralische Verantwortung des historischen Subjekts für die von der wissenschaftlichtechnischen Revolution freigesetzten Kräfte, für die Anwendung dieser Kräfte zum Wohle des Menschen einbegriffen. Nun sind das für eine sozialistisch-realistische Literatur, die sich zudem unter sozialistischen Gesellschaftsverhältnissen entwickelt, keine neuen Aufgaben, sie gehören zur Humanisierungsfunktion dieser Literatur. Mit „Humanisierungsfunktion" ist „ihr Anteil ,an der absoluten Bewegung des Werdens'" gemeint, der Anteil „an der historischen, von Widersprüchen und Kämpfen vorangetriebenen Entwicklung, in der die Menschen zum Schöpfer ihrer selbst werden, am gattungsgeschichtlich ,ewigen' Prozeß, in welchem die Menschen sich mit den objektiven natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz auseinandersetzen, ein immer tieferes Bewußtsein und Wissen von diesen Bedingungen entwickeln und sie dadurch zu beherrschen lernen, in welchem die Menschen ihre Fähigkeiten, ihre intellektuelle und sensuelle Kultur, ihre Persönlichkeit hervorbringen und ihre Macht über die Natur und die Gesellschaft vergrößern" 2 9 . Das Anlegen des „inhärenten Maßes" an gesellschaftliche Prozesse, das Herausarbeiten ihrer Bedeutung für den Menschen und vor allem der Rolle des historischen Subjekts in ihnen sind — wie gesagt — für die Sowjetliteratur nichts 23
Neues, dennoch scheinen sich hier qualitative Veränderungen zu vollziehen: Die quantitativ überdimensional vergrößerte Macht des Menschen über Natur und Gesellschaft hat eine neue Qualität der Beziehungen des sozialistischen Menschen zu seiner Welt hervorgebracht. Mit der weiteren Vergrößerung dieser Macht wird ihr menschlich sinnvoller Gebrauch auf der ganzen Erde zur dringlichsten Frage der sozialistischen Gesellschaft und der in ihr wirkenden Literatur. Nur eine sozialistisch-realistische Literatur kann eine solche Aufgabe in Angriff nehmen. Spätestens hier wird klar, wie wesentlich für die ideologische Auseinandersetzung mit dem Imperialismus die Erforschung des Verhältnisses der sozialistischen Literatur zu diesen Prozessen, ihres Platzes in ihnen ist. An den Reaktionen und Aktionen der Literatur wird letztlich abzulesen sein, inwieweit der vergesellschaftete Mensch, die „assoziierten Produzenten" 3 0 nicht das Opfer der wissenschaftlich-technischen Revolution sind, das von dieser überrollt und funktionalisiert wird, sondern Meister ihres Schicksals auch unter diesen neuen, bisher unbekannten und durchaus komplizierten Bedingungen bleiben. Die eingangs gestellte Frage nach spezifischen Aufgaben der Sowjetliteratur angesichts der wissenschaftlich-technischen Revolution wird am Beispiel der Literatur der endsechziger und siebziger Jahre unter vier Aspekten erörtert: Zunächst geht es um das Verhältnis der Literatur zu den neuen Gegebenheiten allgemein, dann wird von der Arbeiterklasse als Gegenstand und weltanschauliches Zentrum literarischen Schaffens die Rede sein, ferner muß das sich in der Literatur konstituierende neue Verhältnis des Menschen zur Natur erwähnt werden, schließlich verdient die Dialektik von Nationalem und Internationalem Aufmerksamkeit. Das hier vorgelegte Buch hat alle Mängel eines Erstlings auf einem neuen Forschungsgebiet, es widerspiegelt das Stadium des Sammeins und Systematisierens. Es enthält viele Fragen, auf die heute nur vage Antworten gegeben werden können, weil die zu erkundenden Prozesse in der Wirklichkeit wie in der Literatur noch in den Anfangen stecken.
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„Physiker" und „Lyriker" Diskussion über Literatur und Naturwissenschaften
Die Leningrader Studentin Nina W. hatte sicher nicht geahnt, welchen Sturm sie mit ihrem Brief an Ilja Ehrenburg entfachen würde. Dabei beklagte sie sich lediglich über eine private Angelegenheit, über Meinungsverschiedenheiten mit ihrem Freund Juri, einem Physikstudenten, der sich auf der Höhe der Zeit — man schrieb das Jahr 1959 — dünkte: „Einmal versuchte ich ihm ein Gedicht von Block vorzulesen. Er hörte unwillig zu, sagte mir, daß das veraltet, Quatsch wäre, daß jetzt eine andere Epoche sei. . . Als wir uns das letztemal trafen, war er sehr verletzend, erklärte mich für verrückt, ich verstünde nicht, daß, wenn der Kosmos erobert würde, sich für Romane nur verschiedene ,Damen mit Hündchen' interssieren könnten, daß ich nicht modern sei, und so weiter und so fort." 1 Ilja Ehrenburg, der auf diesen Brief eine offene Antwort in der Komsomolskaja prawda publizierte, nannte den Physikstudenten Juri einseitig entwickelt, er sah zwischen dessen Unverständnis für Kunst und dem gleichgültigen Verhalten zur Freundin einen direkten Zusammenhang. Mit dieser schlüssigen Erklärung Ehrenburgs hätte die Sache beendet sein können, doch da meldete sich ein Ingenieur namens Poletajew zu Wort und verteidigte Juri. Seine Verteidigung sprengte den scheinbar privaten Rahmen des Gesprächs, enthüllte das schwierige weltanschauliche Problem, das hier verborgen war: „Wissenschaft und Technik formen das Antlitz der gegenwärtigen Epoche . . . Wir leben durch das Schöpfertum des Verstandes und nicht des Gefühls, durch die Poesie der Ideen, Theorien, Experimente, des Bauens. Das ist unsere 25
Epoche. Sie fordert den Menschen voll und ganz, und wir haben keine Zeit auszurufen: ach, Bach! ach, Block! Natürlich sind sie veraltet und halten mit unserem Leben nicht mehr Schritt . . . Ob wir es wollen oder nicht, aber die Dichter beherrschen immer weniger unsere Gedanken und lehren uns immer weniger . . . Überlassen wir die Kunst den Liebhabern, denen, die sie wünschen . . ." Poletajew hielt Juri der sozialistischen Gesellschaft für gemäßer als dessen Freundin Nina: „Ich persönlich meine, daß eine Gesellschaft, wo es viele praktische Juris und wenige Ninas gibt, stärker ist als eine, in der viele Ninas und wenige Juris leben." 2 Poletajew wurde leidenschaftlich unerstützt, aber auch ebenso empört abgelehnt. Jedem war klar: Hier ging es um etwas sehr Wichtiges, um eine Kardinalfrage der sozialistischen Gesellschaft. Vor allem unter der Jugend entbrannten heiße Diskussionen. Schüler einer 10. Klasse hörten auf, für den Literaturunterricht zu arbeiten, sich auf Poletajew berufend. 3 In diese knisternde Atmosphäre hinein zuckte Boris Sluzkis Gedicht Physiker und Lyriker wie der Funke einer elektrischen Entladung: Es scheint, die Physiker steigen im Ansehen. Es scheint, die Lyriker geraten in Bedrängnis. Das liegt nicht an kühler Berechnung, hier zeigt sich ein weltweites Gesetz. Folglich haben wir etwas nicht entdeckt, etwas, was unsere Sache gewesen wäre! Folglich sind unsere süßen Jamben lahme Flügel, und unsere Rosse fliegen nicht wie Pegasus . . . Darum sind die Physiker im Ansehen, darum sind die Lyriker in Bedrängnis. Das ist allzu offensichtlich. Streiten wäre einfach sinnlos. 26
So ist es nicht einmal betrüblich, sondern eher interessant zu beobachten, wie unsere Reime wie Schaum vergehen, und Größe allmählich auf die Logarithmen übergeht. 4 Die Diskussion, die bislang „Der Dichter und die Gegenwart" hieß, hatte nun — zunächst noch inoffiziell — einen neuen Namen: Unter dem Titel „Physiker und Lyriker" ist sie in die Literaturgeschichte eingegangen. Von den vielen öffentlichen Debatten, die nun einsetzten, seien genannt: Am 23. Dezember 1959 kamen in Moskau Arbeiter, Ingenieure und Studenten zusammen, um über Ehrenburgs und Poletajews Position Rede und Gegenrede zu führen. 5 Am 26. Februar 1960 trafen sich im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums Künstler und Naturwissenschaftler, unter ihnen der berühmte Physiker Lew Landau, Akademiemitglied Engelgardt hielt einen Vortrag über die innere Welt des Wissenschaftlers. 6 Fazit: Man verallgemeinere bitte nicht die Ansichten Poletajews, die Naturwissenschaftler schätzen sehr wohl die Kunst und das Gespräch mit den Künstlern. Dennoch, das Problem war so nicht aus der Welt zu schaffen, die Auseinandersetzung ging weiter und bewegte sich hauptsächlich darum, wie Literatur besser den Forderungen der Zeit entsprechen könnte. Der Grundtenor der Schriftstellermeinungen war — Selbstkritik. Der Lyriker Pawel Antokolski fragte, wie es geschehen konnte, daß im Kampf für eine bessere Zukunft der Menschheit die Vertreter der exakten Wissenschaften in der vordersten Linie stünden — und nicht die Künstler? 7 Die Brisanz dieser Frage war offensichtlich: Gerade die russische Literatur hatte immer in der ersten Reihe dieses Kampfes gestanden, und das sollte nun nicht mehr so sein? In einem Artikel Ehrenburgs hieß es dann auch, die Sowjetliteratur habe noch nicht die Höhe von Tolstoi, Dostojewski, Gogol und Tschechow erreicht. 8 Heute mag uns dieser Anflug von 27
Defätismus gegenüber dem enormen Selbstbewußtsein der „Physiker" befremden, waren doch zu dieser Zeit gerade Scholochows Neuland unterm Pflug (Zweiter Teil) und Ein Menschenschicksal erschienen, es gab Leonows Russischen Wald, Twardowskis Poem Fernen hinter Femen, ganz zu schweigen von den klassischen Werken der zwanziger und dreißiger Jahre. D a m a l s aber, an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren, als vor allem die Weltraumforschung die beeindruckende Leistungsstärke von Naturwissenschaft und Technik in das Bewußtsein breitester Massen hob, waren unter Schriftstellern solche Zweifel an der eigenen K r a f t nicht ungewöhnlich. So schrieb der litauische Dichter E d u a r d a s Miezelaitis unter dem Eindruck der Diskussion: „ K a n n die Schönheit wirklich ihre erzieherische Funktion so ausüben wie wir es wollen? Übertreiben wir nicht ihre Rolle, ihre Bedeutung? [. . .] W o z u schreibe ich? Niemals stand vor mir die Frage so hart, niemals hat sie mich so schrecklich gequält wie jetzt." 9 U n d : „In der Gegenwart macht die menschliche Gesellschaft in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft einen größeren Fortschritt als in der Kultur. Die Zeit, in der wir leben, ist konkret und realistisch." 1 0 Pawel Antokolski forderte von jedem Schriftsteller gar Elementarkenntnisse in moderner Physik, damit die Literatur mit der Zeit Schritt halten könne. 1 1 Die selbstkritische Ü b e r p r ü f u n g der eigenen Leistung war trotz einiger defätistischer Züge wichtig und fruchtbar, sie blieb jedoch nicht die einzige Reaktion der sowjetischen Schriftsteller auf die Herausforderung der „Physiker". Zu bescheiden in der Wertung des eigenen Beitrages, sehr bestimmt aber in der grundsätzlichen Bejahung der Notwendigkeit von Literatur und Kunst, führten die „Lyriker" ihre Gegenoffensive. Denn die Haltung, die sich in Poletajews Brief manifestierte und die keine Privatansicht, sondern — wie das Echo bewies — für Teile der Intelligenz und der Jugend typisch war, konnte nicht einfach hingenommen werden. Zwar war der Stolz auf die großen Entdeckungen der Naturwissenschaft und der Technik im 20. J a h r h u n d e r t — Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Kernspaltung, Kernfusion, Kybernetik, K o m p u t e r , Mutation, Mechanis28
mus der Vererbung, Turbotriebwerke, Raketentechnik, R a u m f a h r t usw. — verständlich, und ihn teilten auch die „Lyriker", doch der Ausschließlichkeitsanspruch der „Physiker" war unbedingt zurückzuweisen. Sie verallgemeinerten unzulässig ihren Bewußtseinsstand und ihre Weltauffassung und übertrugen sie auf alle Schichten des Volkes. Sie sprachen ferner — und das ist das Bedenkliche — von einem Zeitalter der Wissenschaft und Technik, ohne zu berücksichtigen, d a ß Wissenschaft und Technik immer von bestimmten Gesellschaftsordnungen genutzt werden, d a ß der Charakter unseres Zeitalters in erster Linie von der gewaltigen sozialen Bewegung der Menschheit vom Kapitalismus zum K o m munismus bestimmt wird. Im Ausschließlichkeitsanspruch derer, für die Poletajew sprach, lag — unbeabsichtigt — die G e f a h r der Loslösung der Wissenschaft von ihrer sozialen, menschlichen Zweckgerichtetheit. Zu welchem Extrem ein solcher Weg führen kann — wenn die gesellschaftlichen Bedingungen dies nicht verhindern —, zeigt etwa das Beispiel des Physikers Enrico Fermi, der während der Entwicklung der ersten amerikanischen A t o m b o m b e gesagt haben soll: „ L a ß t mich in R u h e mit euren Gewissensbissen; das ist doch so schöne Physik." 1 2 Der dritte offenkundige Fehlschluß Poletajews trennt das ästhetische Verhalten des Menschen zur Welt künstlich vom rationell-analytischen. Mehr noch, Poletajew erachtet diese Seite für unnütz, die Beschäftigung mit Kunst für leeren Zeitvertreib. Er spricht der Kunst jegliche Rolle in der Welt von heute ab. Das Kernproblem, um das es hier geht und das den Eifer der Debattierenden erklärt, ist nicht mehr und nicht weniger als die Auffassung vom Menschen der Gegenwart und der Z u k u n f t : Einseitige Ausbildung, vielleicht sogar Vollendetheit einzelner Seiten seines Wesens — oder Erziehung zu einer allseitig entwickelten Persönlichkeit, der es vor allem anderen nicht an genügender Einsicht in die Grundgesetze gesellschaftlicher Entwicklung, nicht an humanistischem Verantwortungsgefühl, auch nicht an ästhetischem Empfinden gebricht. Bei der Ausprägung dieser Fähigkeiten des Menschen haben Literatur und Kunst wesentlichen Anteil. Unter Be29
dingungen, da dem Menschen durch die wissenschaftlichtechnische Revolution immer mehr Macht über seine Welt in die Hände gegeben wird, muß die Entwicklung gerade dieser Seiten und dementsprechend die ideell-ästhetische Wirkung der Literatur um so höheren Wert erlangen. Andererseits stimuliert die komplizierter werdende Aneignung der schnell wachsenden wissenschaftlichen und technischen Kenntnisse stets von neuem die einseitig nur darauf orientierte Ausbildung der Menschen — auch unter sozialistischen Bedingungen. Daraus erklärt sich, warum die Diskussion der „Physiker" und „Lyriker" nicht im Jahre 1960 abgeschlossen sein konnte, sondern in verschiedenen Erscheinungsformen die sechziger und siebziger Jahre hindurch immer wieder aufflackerte und zunehmend die Werke der Literatur selbst durchdrang, ohne daß in jedem Falle der Bezug zum ursprünglichen Ausgangspunkt erkennbar war. Es handelt sich hier um einen Prozeß, der vorläufig zu keinem Ende gelangen kann, der sich aber keinesfalls in das idealistische Schema eines ewigen Kampfes zwischen Ratio und Emotio einfügt. Ihm liegen, wie ersichtlich, objektive Gesetzmäßigkeiten des sozialen und wissenschaftlich-technischen Fortschrittes im Sozialismus zugrunde. Die Ausbildung allseitig entwickelter Individuen ist genauso notwendig wie die Spezialisierung des einzelnen. Die Lösung dieses Widerspruches ist kein einmaliger Akt, sondern eine ständige Aufgabe. Es zeugt von der weltanschaulichen und künstlerischen Reife der Sowjetschriftsteller, daß sie sehr früh die Auseinandersetzung über ihren Anteil an der Lösung dieser Aufgabe begonnen haben, über die eigenständige Rolle der Literatur unter den neuen Bedingungen: der wissenschaftlich-technischen Revolution im Sozialismus. Da diese noch in ihren Anfangen steht, sollten die theoretischen Überlegungen und praktisch-künstlerischen Lösungsvorschläge der Schriftsteller zunächst als Erkundungen angesehen werden, nicht als epochale klassische Ereignisse. Wir lehnten die zu harte Selbstkritik an den eigenen künstlerischen Leistungen einzelner Schriftsteller (Ehrenburg, Antokolski) ab, das sollte aber nicht gleichbedeutend sein mit einer unkritischen Erhöhung des Geschaffenen, von dem hier und in den folgen30
den Kapiteln im einzelnen die Rede ist. Bei der Bewertung gegenwärtiger Literaturprozesse ist neben entschiedener Betonung der Bedeutsamkeit von Literatur überhaupt Nüchternheit in der Sicht auf das einzelne Werk geboten. Vielleicht liegt der Reiz der heutigen Sowjetliteratur wie der Literaturen anderer sozialistischer Länder eben gerade in ihrem Erkundungscharakter, in der fragenden Auseinandersetzung mit einer Welt, die sehr stark in Bewegung ist — infolge der gewaltigen sozialen und wissenschaftlich-technischen Umwälzungen. Doch zurück zur Literaturentwicklung nach der „Physiker-Lyriker"-Debatte. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre, sieht man von Daniii Granins Roman Dem Gewitter entgegen (1962) einmal ab, schien es, als wären die Auseinandersetzungen um die ideell-ästhetische Wirksamkeit der Literatur in der wissenschaftlich-technischen Revolution verstummt. Andere Probleme rückten in den Vordergrund — vor allem das Durchdenken der eigenen Geschichte, eine gewisse Bilanzierung des durchschrittenen Weges. Ein solcher Versuch ist der letzte Teil der Romantrilogie Konstantin Fedins Die Flamme (1961, 1965), die bereits kurz nach dem Krieg mit den Büchern Frühe Freuden (1945) und Ein ungewöhnlicher Sommer (1948) begonnen worden war. Direkt autobiographisch ist Konstantin Paustowskis sechsteilige Erzählung vom Leben, die 1963 zum Abschluß kam und ebenfalls bilanzierenden Charakter hat. Hierzu ist nicht zuletzt auch die Memoirenliteratur zu rechnen, vor allem Ilja Ehrenburgs Menschen, Jahre, Leben (1960—1965). In der Lyrik ist es nach Wladimir Lugowskoi (Poem Jahrhundertmitte, 1958) nun Alexander Twardowski, der mit Fernen hinter Fernen (1950—1960) ein Poem schuf, in dem die Geschichte des Landes auf ihre Resultate hin, auf ihre Bedeutung für die Welt und für den einzelnen Sowjetmenschen befragt wird, bewundernd und kritisch zugleich, wobei der Autor sich nicht außerhalb der Kritik stellt. Die kritische literarische Auseinandersetzung mit verschiedenen Erscheinungsformen des Personenkultes, die im Poem geführt wurde, ist bis zur Mitte der sechziger Jahre Gegenstand vieler Werke — so in Juri Bondarews Roman Die Stille (1962), aber auch in Sergej 31
Salygins Erzählung Am Irtysch (1964), die vor allem durch die zugespitzte Gestaltung der Humanismusproblematik großes Aufsehen erregt hatte. Die künstlerisch am meisten überzeugende Darstellung dieses Problemkomplexes, verknüpft mit vorwärtsweisenden Überlegungen zum Charakter der Beziehungen Individuum-Gesellschaft im Sozialismus stammt aus der Feder des Kirgisen Tschingis Aitmatow: Abschied von Gulsary (1966). Mit der stärkeren Rückbesinnung auf die besten Traditionen sowjetischer Geschichte ist das Aufleben der Leniniana, die Einbeziehung der Gestalt Lenins in die Literatur, verknüpft: Emmanuil Kasakewitschs Blaues Heft (1960) und Walentin Katajews Kleine eiserne Tür (1964) sind als Prosawerke zu nennen, in der Dramatik ist es Michail Schatrow mit den dokumentarischen Stücken Der 6. Juli (1964) und Bolschewiki (1967). Andrej Wosnessenski wählte für sein Poem Longjumeau (1963) Lenin als ideell-ästhetisches Zentrum. Zur Bilanzierung des Vergangenen, zur allseitigen Aneignung der eigenen Geschichte zählen auch die meisten Werke über den Großen Vaterländischen Krieg. Die erste „Welle" der Kriegsdarstellung aus der „Grabenperspektive" (Baklanow, Bondarew) war schon Ende der fünfziger Jahre vorüber. Im Laufe der sechziger Jahre vollendete Konstantin Simonow seine 1959 begonnene Trilogie Die Lebenden und die Toten mit Man wird nicht als Soldat geboren (1964) und Der letzte Sommer (1971). Eine wesentliche Rolle spielte für die Literatur die historische Fundierung des Kriegsthemas durch die zahlreichen Memoiren sowjetischer Heerführer (Shukow, Rokossowski, Tschuikow, Schtemenko), die in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre erschienen. Der Roman Heißer Schnee (1969) von Juri Bondarew widerspiegelte in gewisser Weise bereits die dadurch gewonnene tiefere Kenntnis der Wahrheit über den Krieg. Die Probleme der Gegenwart wurden von der Literatur auch am unmittelbar zeitgenössischen Gegenstand gestaltet. Wadim Koshewnikows Darf ich vorstellen, Balujew (1960) war ein anregender Versuch, einen Leiter im Schnittpunkt gesellschaftlicher und persönlicher Beziehungen zu 32
zeigen. Ein im gewissen Sinne vergleichbares Buch, das in innerer Polemik zu Koshewnikows steht, war am Ende der sechziger Jahre Wil Lipatows Roman Die Mär vom Direktor P. (1969). Zu philosophischer Verallgemeinerung brennender Fragen der heutigen Sozialismusentwicklung tendiert Oles Hontschars Roman Tronka (1963). Ein breites Bild des gegenwärtigen Kolchosdorfes zeichnete Sergej Krutilin mit seinem „Roman in Novellen" Lipjagi (Das Dorf an der Walstatt) (1965). Etwa zeitgleich mit dem Eintritt der jungen Dichtergeneration — Jewgeni Jewtuschenko, Andrej Wosnessenski, Robert Roshdestwenski, Bella Achmadulina — in das literarische Leben der Sowjetunion machte Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre die sogenannte „junge Prosa" von sich reden: Wassili Axjonow mit dem Roman Drei trafen sich wieder (1960) und Sternenfahrkarte (1961), Anatoli Gladilin mit mehreren Romanen. Diese Werke widerspiegelten typische Haltungen städtischer Schuljugend — vom pubertätsbedingten Protest gegen alles und alle bis zum mehr oder weniger klaren Suchen nach einer neuen bejahenden Position zum sowjetischen Leben. So schnell und überraschend, wie sie aufgetaucht war, verschwand die „junge Prosa" wieder, Axjonows Das Jahr der Scheidung (1964) kann gewissermaßen als Schlußpunkt gelten. Charakteristisch für die sechziger und die beginnenden siebziger Jahre waren schließlich auch Werke, die die Literatur selbst zum Gegenstand hatten. Valentin Katajews Der heilige Brunnen (1966) und Das Gras des Vergessens (1967), auch Eduardas Miezelaitis' Nachtfalter und Lyrische Etüden (1972) stellen eine eigenartige Mischform von Autobiographie und literaturtheoretischem Essay dar, sie reflektieren über die Bedeutung und Selbständigkeit literarischkünstlerischer Weltaneignung und die Aufgaben der Literatur in unserer Zeit. Aus der Schar bemerkenswerter Schriftstellertalente, die in diesem Jahrzehnt in die Literatur kommen bzw. von der Öffentlichkeit mehr als zuvor beachtet werden, sind vor allen anderen der Kirgise Tschingis Aitmatow und der Belorusse Wassil Bykau zu nennen. Aitmatow beweist nach Djamila (1958) mit der Erzählung Der erste Lehrer (1962) 3
H i c r s c h e . Sowjellit.
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wiederum seine künstlerische Kraft, und Bykau lenkt mit der Dritten Leuchtkugel (1962) und der Alpenballade (1964) die Aufmerksamkeit auf sich. Beide werden in den folgenden Jahren gerade die für die wissenschaftlich-technische Revolution so wesentliche Frage des subjektiven Faktors, der Moral bei der Weiterentwicklung der neuen Gesellschaft, der erhöhten Verantwortung des Menschen für die sozialistischen Lebensnormen zum Kernpunkt ihrer Arbeit machen. Aitmatow und Bykau gehören damit zu jenen Autoren, die den Grundton für die Literatur der endsechziger und siebziger Jahre angeben. Unter der Vielzahl der Probleme, denen die Literatur um diese Zeit ihre Aufmerksamkeit zuwendet, rücken allmählich vier, die alle in einem mehr oder weniger vermittelten Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Revolution und der weiteren Schaffung der Grundlagen des Kommunismus stehen, in das Zentrum des literarischen Lebens. Es sind dies die Probleme Arbeiterklasse und Literatur, Literatur und Kampf für die Erhaltung der natürlichen Umwelt des Menschen, das Verhältnis der Literatur zu den nationalen Traditionen, schließlich die Funktion der Literatur im Miteinander mit der wissenschaftlichen Welterkenntnis. Diese vier Probleme finden ihren Niederschlag in literarischen Werken, meist nicht getrennt voneinander, sondern verknüpft zu einem komplizierten Komplex, wie auch die entsprechenden Diskussionen oft ineinandergreifen. Wir werden dem im jeweiligen Kapitel genauer nachgehen, deshalb zunächst nur so viel darüber: Auch unter den Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, in einer Zeit, da die Intelligenz höhere gesellschaftliche Bedeutung erlangt und auch zahlenmäßig wächst, behält die Arbeiterklasse als bewußteste und bestorganisierte Kraft ihre führende Rolle in der sozialistischen Gesellschaft. 13 Sie bleibt die Hauptträgerin der Produktion, d. h. sie schafft die materiellen Voraussetzungen jeder Wissenschaft und macht deren Entdeckungen nutzbar. Die sozial-ethischen Kriterien zur Bewertung wissenschaftlicher Arbeit und ihrer Ergebnisse sind Teil der marxistischleninistischen Weltanschauung der Arbeiterklasse und 34
werden von dteser in der Praxis, d. h. in der materiellen Produktion und der gesellschaftsleitenden Tätigkeit der Klasse ständig überprüft und vervollkommnet. Die wissenschaftlich-technische Revolution beeinflußt die beiden wichtigsten Formen der praktisch-sinnlichen Aktivität der Arbeiterklasse : die Produktion (kompliziertere Technik fordert höhere Qualifikation, teurere Maschinen mit hoher Produktivität fordern mehr Verantwortung) und die Gesellschaftsleitung (hochentwickelte Wirtschaft und Wissenschaft verlangen neue Leitungsqualitäten). Eine Literatur, die mit der Wirklichkeit Schritt halten will, muß unter diesen Bedingungen ihre Rolle, ihre Aufgaben ständig von neuem reflektieren. Aus diesem Grunde dauert seit dem Ende der sechziger Jahre die Diskussion „Arbeiterklasse und Literatur" unentwegt an. Der zweite Gegenstand der laufenden Debatten ergibt sich aus dem unerhörten Wachstum der Industrie und des Verkehrs. 14 Das Miteinander von Mensch und natürlicher Umwelt ist zum Problem geworden, das unter sozialistischen Bedingungen zwar planvoll und unbeeinflußt von kurzsichtigen Profitinteressen angepackt wird, aber nichtsdestoweniger ein Problem bleibt. Die Diskussionen darüber, die die gesamte Gesellschaft erfaßt haben, sind kein Nachvollzug der weltweiten, vielfach von Pessimismus geprägten Umweltschutzauseinandersetzungen. Für die Sowjetliteratur ist es allein deshalb kein Hinterherhinken, weil sie bereits zwei Jahrzehnte vor diesen Debatten begonnen hatte, die bewußte Regulierung des Stoffwechsels mit der Natur künstlerisch und philosophisch zu reflektieren: in Leonows Roman Der russische Wald( 1953). Mehr noch, die Gespräche und Literaturwerke darüber unterscheiden sich wohltuend von den Kassandrarufen der bürgerlichen Wissenschaft, weil sie — ohne die Lage zu beschönigen — um die bessere Ausnutzung der Vorzüge des Sozialismus auf diesem Gebiet ringen. Die Umweltschutzpläne der bürgerlichen Wissenschaft dagegen — und seien die Beweggründe ihrer Urheber noch so lauter — kranken alle daran, daß sie die Wurzel des Übels, das Privateigentum an Produktionsmitteln, die rücksichtslose Jagd nach dem Maximalprofit, nicht antasten. 3"
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Das Engagement der Sowjetliteratur für die Erhaltung der Lebenssphäre wird Teil ihrer ideell-ästhetischen Funktion; es ist um so notwendiger, als die wissenschaftlich-technische Revolution der Gesellschaft enorme Mittel in die Hände gegeben hat, die Natur zu verändern. Unter diesen Bedingungen sind die Anforderungen auch an den einzelnen Menschen sehr hoch. Sicher kann die Literatur etwas dazu tun, damit das Individuum ihnen besser gewachsen ist. Der Zusammenhang mit dem Problemkreis „Arbeiterklasse und Literatur" ergibt sich gerade aus der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung der Moral der Klasse, die auch im Miteinander von Mensch und Natur der entscheidende Faktor sein muß und die zu erkunden und weiter auszuprägen die Literatur heute ganz besonders aufgerufen ist. Die dritte Frage, die Literatur und Kritik zum Ende der sechziger Jahre hin zunehmend bewegt, ist die nach dem Verhältnis von nationalen Traditionen und gesellschaftlichem sowie wissenschaftlich-technischem Fortschritt. 1? Das Aufblühen und die gegenseitige Annäherung der nationalen Kulturen, das mit dem kommunistischen Aufbau, dem Wachstum der Produktivkräfte, d. h. auch mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammenhängt, schließt ein erhöhtes nationales Selbstbewußtsein als integralen Bestandteil des Sowjetpatriotismus ein. Das alltägliche und immer intensivere Miteinander der vielen Nationen und Völkerschaften bringt den wechselseitigen Vergleich mit sich, das Begreifenwollen der nationalen Eigenart, der nationalen Tradition im Leben wie in der Literatur. Die Diskussionen werden auch durch direkte Einflüsse der wissenschaftlich-technischen Revolution stimuliert: durch die unvermeidliche Standardisierung, die die Architektur wie den Massenbedarfsartikel erfaßt, durch die wachsende Rolle der Massenkommunikationsmittel — vor allem des Fernsehens. Schließlich wirkt sich die Urbanisierung aus, der prozentuale Rückgang der Dorfbevölkerung. Selbst der so notwendige Prozeß der Angleichung der Lebensweise in Stadt und Land ruft Auseinandersetzungen hervor. Der Kern der Diskussionen besteht in folgendem: Ist das Nationale etwas Unveränderliches, seit je Gegebenes, das 36
vielleicht sogar vorwiegend an das dörfliche Leben geknüpft ist und dem durch verstärkte internationale Kommunikation, Standardisierung und Verstädterung der Untergang droht, oder ist dieses Nationale eine historisch wandelbare Kategorie, heute gebunden an die Revolutionierung der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse, an den Aufbau einer menschlichen Welt, der ohne Internationalismus nicht möglich ist? Ist das Nationale daher gegenwärtig nicht stärker als je zuvor nur in seiner dialektischen Einheit mit dem Internationalen zu begreifen, wird es nicht durch verstärkte Kontakte der Sowjetvölker untereinander, auch durch Urbanisierung und selbst durch Standardisierung entwickelt und bereichert? In den drei bisher erwähnten Problemen tritt deutlicher als in der Debatte der „Physiker" und „Lyriker" das soziale Bezugsfeld der wissenschaftlich-technischen Revolution zutage. Hier wird deren Einheit mit der sozialistischen Revolution unübersehbar; die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihr Ethos, ihr Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Welt, ihr Internationalismus sind offensichtlich. Das vierte Diskussionsthema der beginnenden siebziger Jahre — das in diesem und im letzten Kapitel im Mittelpunkt steht — ist die Funktion der Literatur im Miteinander mit der wissenschaftlichen Welterkenntnis und somit eine direkte Weiterführung des „Physiker-Lyriker"-Streits. 16 Dieser wurde Ende der sechziger Jahre im Hegeischen Sinne aufgehoben, d. h. zunächst überwunden, indem die ihm zugrunde liegenden zentralen weltanschaulichen, sozialethischen und ästhetischen Fragen differenziert an die Oberfläche traten. Die intensiven sozial-ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Prozesse in der Sowjetunion haben diese Differenzierung vorangetrieben. Die ursprünglichen Streitpunkte der Jahre 1959/60 — das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur, das angebliche Zurückbleiben der Literatur hinter den großen Leistungen der Naturwissenschaft, Bejahung oder Negation der gesellschaftlichen Rolle der Kunst überhaupt — wurden Anfang der siebziger Jahre auch im anderen Sinne „aufgehoben", also auf höherem Niveau debattiert. Charakteristisch dafür ist der 1972 er37
schienene Artikel Das Einmaleins ist längst durchgenommen von F. Schirokow, 1 7 Kandidat der physikalisch-mathematischen Wissenschaften. Hier wird der enge Zusammenhang von sozialen Prozessen und wissenschaftlich-technischem Fortschritt nicht mehr — wie bei Poletajew — außer acht gelassen, sondern ausdrücklich hervorgehoben, auch stellt der A u t o r die Bedeutung der Kunst nicht in Frage. Dennoch wiederholt Schirokow einige Vorwürfe der „ P h y siker" gegenüber der zeitgenössigen Sowjetliteratur, und zwar verschärft und mit ausführlicher Argumentation. Er schildert — wie seinerzeit Poletajew — das stürmische Wachstum der Wissenschaft und fragt zwischen den Zeilen immer wieder: „ U n d w o bleibt dagegen die heutige Literatur?" Die großen Leistungen realistischer Literatur der Vergangenheit vergleicht er mit der höchsten Zahlentheorie; was jedoch die Schriftsteller heute anböten, das wäre nur das Einmaleins. U m der Literatur aus dieser beklagenswerten Lage herauszuhelfen, schlägt Schirokow ihr vor, sie solle — wie die Wissenschaft — das Erbe zerstören, d. h. sich von überkommenen Gestaltungsmethoden lösen, das Denken „entkonservativieren", die ererbte Psyche erschüttern, zur „Synthetisierung" vordringen, Sprache und Erzähltechnik vervollkommnen. A n dem Ratschlag ist einzig der letzte Halbsatz akzeptabel, doch scheint er unangemessen — die Sowjetschriftsteller arbeiten an der Weiterentwicklung von Sprache und Erzähltechnik, sie lösen sich auch von überkommenen Gestaltungsmethoden, wo diese für die Widerspiegelung heutiger Realität nicht ausreichen. Der Artikel von Schirokow ist aber nicht nur in Details anfechtbar, er ist im Ansatz und in der Methode zweifelhaft. Ein Vergleich zwischen Wissenschaft und Kunst, bei dem mathematisch-naturwissenschaftliche Maßstäbe angewandt werden, ist dilletantisch und bringt außer Vorhaltungen gegenüber der Kunst keine Ergebnisse. Der Informationsgehalt der Sixtinischen Madonna, so schrieb der Philosoph Ewald Iljenkow in der Erwiderung auf Schirokows Beitrag, lasse sich eben nicht in „ b i t " ausdrücken, und die gemessenen Rhythmen Bachs oder Tolstois könne man nicht mit der Geschwindigkeit von Raketen vergleichen. 18 Und wenn die 38
klassische realistische Kunst wie durch ein Wunder dem kritischen Blick der Mathematiker oder Physiker standhält, müßte man hinzufügen, so ist damit die Tauglichkeit der angewandten Kriterien noch lange nicht bewiesen. Sie erinnern trotz ihrer scheinbaren Modernität groteskerweise an die absoluten, der Vergangenheit entlehnten Maßstäbe des „Großen Realismus" bei Georg Lukäcs, mit denen der gegenwärtigen Sowjetliteratur nicht beizukommen ist. Bedenklich sind die Empfehlungen, Literatur müsse das Denken vom Zwange des Konservatismus erlösen, die ererbte Psyche erschüttern. Schirokow schließt von der Entthronung herkömmlicher Vorstellungen der klassischen Physik durch Einstein, Planck u. a. direkt auf das Verhältnis von heutigen und früheren literarischen Darstellungsmethoden. Wir erkennen hier — in verwandelter Form — die Behauptung Poletajews aus der Diskussion 1959/60, unserer Epoche gemäß sei nur die Poesie der Ideen, Theorien, Experimente. Ehe konservatives Denken und ererbte Psyche abgelehnt werden, ist zu fragen, was darunter verstanden wird. Der Sozialismus hat bekanntlich am radikalsten mit dem konservativen Denken, das von der alten Welt ererbt war, gebrochen, die von ihm hervorgebrachten Denkweisen sind historisch sehr jung, sie bedürfen eher des Ausbaus und der Festigung denn der Entthronung. Die Psyche des Menschen im Sozialismus — allen Veränderungen gegenüber gewiß am zähesten — ist ebenfalls noch in einem Entwicklungsprozeß; die Modifikationen, die von der sozialistischen Gesellschaftspraxis bewirkt wurden, müssen sich noch stabilisieren. Wenn schon naturwissenschaftliche Denkmethoden und andere Denkformen miteinander verglichen werden sollen, dann doch in unserem Falle wohl so: den Veränderungen im naturwissenschaftlichen Weltbild, die Einstein, Planck u. a. ausgelöst haben, entsprechen etwa die Umwälzungen in der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, der Ökonomie, im weiteren Sinne in der Weltanschauung und Sozialpsyche überhaupt — Veränderungen, die vom Marxismus-Leninismus, der sozialistischen Revolution, vor allem der Oktoberrevolution ihren Ausgang nahmen. Deshalb ist es nicht richtig, von der Literatur 39
pauschal zu fordern, sie solle das Denken erschüttern. Es gibt keine weltanschaulich indifferente Psyche eines sogenannten modernen, technischen Zeitalters, auf deren Ausbildung Literatur hinzielen müßte. Die schädlichste Form konservativen Denkens, die Literatur überwinden helfen muß, ist enges, einseitiges Spezialistentum, das alle Erscheinungen der Wirklichkeit nur mit verkürztem Maßstab mißt, die Eigenart und den dialektischen Zusammenhang dieser Erscheinungen nicht wahrnimmt. Eine völlig andere Sache ist die ständige Arbeit der Schriftsteller an sich selbst, an der Weiterentwicklung der Methode, um sie den Bedingungen in der Realität stets anzupassen, d. h. dem Menschen zu helfen, diese Wirklichkeit zu erkennen und zu verändern. Hier ist freilich noch vieles zu leisten — wir sprachen bereits vom Erkundungscharakter der Literatur —, aber die Empfehlungen Schirokows können da nicht wirksam werden, sie gehen von fehlerhaften Prämissen aus. Ewald Iljenkow hat in seiner Antwort auf Schirokow noch einmal an eine grundsätzliche Position erinnert, von der aus das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst, die eigenständige Rolle der Kunst in unserer Zeit erörtert werden muß: Der sozialistische Mensch kann die Probleme der wissenschaftlich-technischen Revolution nur bewältigen, wenn er in sich eine solche „fundamentale schöpferische Fähigkeit" entwickelt hat, wie es die produktive Vorstellungskraft ist. Diese muß „auf die Schönheit orientiert" sein, d. h. das „Niveau künstlerischer Vorstellungskraft" erreichen. Die Unentwickeltheit dieser Vorstellungskraft, des Gefühls für die Schönheit schadet weniger dem betreffenden Individuum als vielmehr den Menschen, die mit ihm an einer Sache arbeiten, und letztlich gereicht es der Sache selbst zum Schaden. 19 Das gilt im Prinzip für jeden Menschen, gleich welche Funktion er im Gesellschaftsganzen auch einnehmen mag; besonderes Gewicht bekommt dies allerdings für jene, deren Tätigkeit einen weiten Wirkungsradius hat, und dazu rechnen auf jeden Fall die Wissenschaftler. Einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung der so notwendigen produktiven Vorstellungskraft haben zweifelsohne Kunst und Literatur, 40
auch dann, wenn sie mit — scheinbar — „konservativen" Mitteln geschaffen wurden. Den Werken von Scholochow, Leonow oder Aitmatow ist mit Vergleichen zu heutiger Physik, Mathematik und anderen Disziplinen überhaupt nicht beizukommen, doch haben sie unser Denken beeinflußt, indem sie die bereits sozialistische „ererbte Psyche" des Erbauers der neuen Welt befestigten und gleichzeitig um neue Einsichten bereicherten. Die allgemeine — nicht auf die Sowjetliteratur beschränkte — Bedeutung der „Physiker-Lyriker"-Diskussion und ihrer Fortsetzung an der Wende von den sechziger zu den siebziger Jahren ist offensichtlich, weil heute nahezu alle sozialistischen Länder von ähnlichen sozialen und wissenschaftlich-technischen Prozessen erfaßt sind. In der D D R — um nur dieses naheliegende Beispiel zu nehmen — hat es zwar der äußeren Form nach eine solche Debatte nicht gegeben. Dennoch wurden auch hier Stimmen laut, die etwa von den Schriftstellern Beschäftigung mit Kybernetik verlangten, andernfalls könnten diese bald „nicht mehr mitreden" 20 . Auch die Überforderung der Literatur gegen Ende der sechziger Jahre, als nicht selten Erwartungen gehegt wurden, Literatur könnte direkt und mit sogleich meßbarem Ergebnis in Gesellschaftsprozesse eingreifen, deutet auf Unverständnis der spezifischen Funktion der Literatur — allerdings von einem anderen Extrem aus. Eine Position, die der der sowjetischen „Lyriker" annähernd entsprechen würde, hat u. a. in Erwin Strittmatters Büchern der kleinen Prosa literarische Gestaltung gefunden. Dort finden wir jene vier Probleme, die ab Ende der sechziger Jahre Gegenstand der sowjetischen Literaturdiskussion geworden waren und deren Zusammenhang mit der sozialen und wissenschaftlich-technischen Revolution wir nachwiesen: Arbeiterklasse und Literatur, Erhaltung der Welt für den Menschen, nationale Traditionen und Verhältnis Literatur-Naturwissenschaft. Die Haltung des sozialistischen Erzählers Strittmatter zu den kleinen Dingen, die durch ihn das Unscheinbare verlieren und ihre Bedeutsamkeit offenbaren, ist weit entfernt von weltfremder Kontemplation. Es ist die Haltung eines arbeitenden Menschen, in ihr lebt die produktive Welt41
auffasgüng der Arbeiterklasse, für die das poetische Naturerlebnis — auch unter schwersten Kampfbedingungen — nie überflüssiger Luxus war. In dieser Position ist die von den Klassikern theoretisch formulierte Auffassung der Arbeiterklasse vom allseitig entwickelten Menschen poetisch manifest. Und weiter: Die poetische Entdeckung und damit Aneignung der Welt, wie sie Strittmatter am scheinbar kleinen Gegenstand vorführt, erinnert den vom politischen und ökonomischen Alltagskampf in Anspruch genommenen sozialistischen Zeitgenossen sehr behutsam und unaufdringlich, doch zugleich nachdrücklich daran, daß er und seine Gesellschaft Teil der Natur sind. Diese Natur, wunderbar und verletzlich, muß er erhalten, wenn er sich selbst erhalten will. Die dritte Parallele zur sowjetischen Problematik, das Verhältnis von nationaler Tradition und wissenschaftlich-technischem Fortschritt, hat bei Strittmatter auf Grund der kaum vergleichbaren nationalen Situation eine andere Gestalt, sie steht nicht im Vordergrund. Dennoch äußert sich im bewußten Anknüpfen an traditionelle Formen der deutschen Literatur — Anekdote, Kalendergeschichte — auch im behutsamen, bedächtigen Erzählen, im Gebrauch einer Sprache, die nicht oberflächlich „auf Modernität" aus ist, eine bestimmte Haltung. Sie richtet sich wider gewisse SprachModen, die unser — angeblich — wenig traditionsbetontes, schnelles, technikbesessenes, nüchternes Leben sozusagen adäquat literarisch fassen wollen. Das dörfliche Leben, von dem in den meisten Geschichten, Anekdoten und lyrischen Miniaturen die Rede ist, wird als in Veränderung begriffen, nicht aber als Anachronismus, als etwas Unzeitgemäßes, zu Überwindendes dargestellt. Pastorale Idyllisierung wäre bei Strittmatter undenkbar. Strittmatters Traditionsgebundenheit ist nicht „rein" nationalliterarisch, er hat auch bei Prischwin und Paustowski gelernt, es deutet sich in seinem Schaffen selbst jene Dialektik von Nationalem und Internationalem an, von der in den sowjetischen Diskussionen seit den endsechziger Jahren ständig die Rede ist. Was den vierten Gegenstand angeht, so hat Strittmatter die Selbständigkeit, Notwendigkeit und Eigenart künstlerischer Weltaneignung gerade mit seinen zahlreichen Büchern der 42
kleinen Prosa verfochten, unbeirrt, unauffällig, mit polemischer Schärfe.
Lyrik auf der Suche nach Ausdrucksmitteln Als in der Diskussion die „Physiker" den „Lyrikern" vorwarfen, diese hätten die Wandlungen, die Wissenschaft und Technik in der Psyche der Zeitgenossen hervorriefen, noch nicht poetisch gestaltet bzw. die poetischen Werke wären nicht auf diese Psyche eingestellt, so hatte dieser Vorwurf — bei all seiner abzulehnenden Einseitigkeit und Abstraktheit — noch eine gewisse Berechtigung. Für die endsechziger Jahre aber traf er dann schon nicht mehr zu: Die Lyriker hatten inzwischen auch dieser Komponente des gesellschaftlichen Bewußtseins dichterischen Ausdruck verliehen, aber nicht in der damals quasi empfohlenen Isolierung, sondern in der Einheit mit jenen Veränderungen der menschlichen Psyche, die vorrangig durch die sozialen Prozesse bewirkt worden waren. Zwei Namen sind hier vor allen anderen zu nennen: Leonid Martynow und Andrej Wosnessenski. Leonid Martynow, das war den „Physikern" entgangen, hatte sich schon in den fünfziger Jahren dem Thema zugewandt, dessen Nichtvorhandensein so vehement angeprangert worden war. Der siebente Sinn heißt ein Gedicht von 1952; in ihm wird vom Menschen eine Eigenschaft gefordert, der er gerade in der wissenschaftlich-technischen Revolution dringend bedarf: Es werden Wolkenkratzer gebaut — den Architekten Ruhm und Ehre, aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. Besser und besser schreibt man Bücher, alle kann man gar nicht lesen, aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. 43
Feiner und feiner werden die Sinne, es sind nicht mehr fünf, sondern sechs. Aber der Mensch will schon anderes — besser als das, was ist. Verborgene Ursachen erkennen, geheime Pfade aufspüren — an die Stelle dieses sechsten Sinns, trete der siebente Sinn! Diesen siebenten Sinn benennen kann jeder auf seine Weise. Vielleicht ist es einfach die Fähigkeit, das Kommende greifbar vor sich zu sehen! 21 Maxim Gorki hatte vom „Weltverstehen" gesprochen, einer Eigenschaft, die der Mensch allerdings erst unter sozialistischen Bedingungen voll entwickeln könne. 22 Das meint Martynow mit dem sechsten Sinn. Wenn er nun noch als siebenten Sinn feine besonders ausgeprägte Vorstellung vom Künftigen fordert, assoziiert sich die Gorkische „dritte Wirklichkeit" 23 . Gorki erwartete bekanntlich vom sozialistischen Schriftsteller, daß er bei der Darstellung seiner Zeit immer die Zukunft — die dritte Wirklichkeit — mit im Blick habe. Was Martynow will, scheint jedoch darüber hinauszugehen. Hier deutet sich unserer Meinung nach eine sehr wesentliche Haltung des sozialistischen Menschen in unserer Zeit an: die Einheit von Erkenntnisdrang und genauem Wissen um die Folgen der Anwendung der Erkannten. Damit das „andere", das der Mensch immer wieder will, tatsächlich besser sei, als das, was schon ist. Das Empfinden, Zeitgenosse einer allumfassenden Revolutionierung von Wissenschaft und Technik zu sein, ist allerdings in diesem Gedicht noch nicht ausgeprägt, es war im gesellschaftlichen Bewußtsein noch nicht voll präsent, obwohl Relativitätstheorie, Atomphysik, Kybernetik und Fernsehen schon zur Realität gehörten. Das gesellschaftliche Bewußtsein in der Sowjetunion sah sich mit anderen Problemen konfrontiert: Den Krieg und seine Folgen fühlten die Menschen noch hautnah, die größten Schwierigkeiten des Wiederaufbaus wurden 44
gerade überwunden. Doch nur sechs Jahre später, 195