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German Pages 340 Year 2017
Robert Pfützner Solidarität bilden
Pädagogik
Robert Pfützner, geb. 1986, arbeitet zur Geschichte und Systematik sozialistischer und emanzipatorischer Pädagogik. Der Erziehungswissenschaftler promovierte mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Robert Pfützner
Solidarität bilden Sozialistische Pädagogik im langen 19. Jahrhundert
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
Zugl.: Dissertation, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2016.
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Inhalt
1. Einleitung | 9
1.1 Ziel und Aufbau der Arbeit | 12 1.2 Dank | 14 2. Methodik | 17
2.1 Textauswahl und Interpretation | 17 2.2 Prämissen der Darstellung | 28 3. Forschungsstand | 31
3.1 Sozialistische Pädagogik | 31 3.2 Solidarität und (sozialistische) Pädagogik | 36 3.3 Forschungsbeitrag | 38
T EIL A – REKONSTRUKTIONEN
UND I NTERPRETATIONEN
4. Brüderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (Franz Heinrich Ziegenhagen) | 41
4.1 Autor und Text | 41 4.2 Überblick | 44 4.3 Voraussetzungen | 46 4.4 Gesellschaft und Gemeinschaft | 57 4.5 Brüderlichkeit und Solidarität | 62 4.6 Pädagogik | 67 4.7 Gesamtschau | 77 5. Brüderlichkeit und die Pädagogik der Gleichheit (Étienne Cabet) | 81
5.1 Autor und Text | 81 5.2 Überblick | 84 5.3 Gesellschaft und Gemeinschaft | 85 5.4 Brüderlichkeit und Solidarität | 95 5.5 Pädagogik | 103 5.6 Gesamtschau | 111
6. Solidarität als sozial-pädagogisches Gesetz (Hippolyte Renaud) | 115
6.1 Autor und Text | 115 6.2 Überblick | 117 6.3 Voraussetzungen | 118 6.4 Gesellschaft und Gemeinschaft | 128 6.5 Brüderlichkeit und Solidarität | 141 6.6 Pädagogik | 145 6.7 Gesamtschau | 151 7. Solidarität und Pädagogik im Klassenkampf (Clara Zetkin) | 153
7.1 Autorin und Text | 153 7.2 Überblick | 155 7.3 Voraussetzungen | 158 7.4 Gesellschaft und Gemeinschaft | 163 7.5 Brüderlichkeit und Solidarität | 169 7.6 Pädagogik | 173 7.7 Gesamtschau | 185 8. Brüderlichkeit als sozialistisch-bürgerliche Tugend (Robert Seidel) | 189
8.1 Autor und Text | 189 8.2 Überblick | 191 8.3 Gesellschaft und Gemeinschaft | 193 8.4 Exkurs in systematischer Absicht: Menschenbild | 199 8.5 Brüderlichkeit und Solidarität | 201 8.6 Pädagogik | 208 8.7 Gesamtschau | 217
T EIL B – I NTERPRETATIONEN
UND
ENTWÜRFE
9. Sozialistische Pädagogiken der Solidarität? | 223 9.1 Problemstruktur: Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft | 223 9.2 Thesen zum historischen Hintergrund | 226 9.3 Sozialistische Lösungsvorschläge: Pädagogiken der Solidarität | 245 10. Pädagogik und Solidarität: Kritik problematischer Verhältnisse | 259
10.1 Standort und Begriff der Kritik | 259 10.2 Spannungen, Widersprüche und Herausforderungen | 266
11. Was bleibt? Konturen (k)einer Theorie solidarischer Pädagogik | 287
11.1 Solidarität als fehlendes Fundament pädagogischen Handelns | 288 11.2 Solidarität als Medium pädagogischen Handelns | 295 11.3 Solidarität als Ziel pädagogischen Handelns | 299 11.4 Solidarität als Grund pädagogisch motivierter Gesellschaftskritik | 304 12. Schluss | 307 13. Literatur | 311
1. Einleitung
Es mag merkwürdig erscheinen, im Jahr 2016 eine Dissertation vorzulegen, die sich mit sozialistischer Pädagogik befasst. Vor 27 Jahren fiel die Berliner Mauer, vor 25 Jahren endete mit der Existenz der Sowjetunion das Experiment eines real existierenden Sozialismus mit einer – unterm Strich – negativen Bilanz. Kuba und die Volksrepublik China führen die Tradition dem Namen nach weiter, doch nicht einmal die parteioffiziellen Parolen wollen mehr verdecken, dass auch hier der globale Kapitalismus beste Bedingungen hat; im Blick auf die Menschenrechtslage und die Sicherung persönlicher Freiheiten ist dort – wie zuvor in nahezu allen realsozialistischen Versuchen – die Situation prekär.1 Auch die neueren sozialistischen Experimente in Lateinamerika, selbstbewusst als Sozialismus des 21. Jahrhunderts2 propagiert, sind bisher eher ambivalent zu bewerten bzw. fallen in sich oder unter dem Druck der ökonomischen und politischen Verhältnisse zusammen. Warum sich in dieser Lage mit sozialistischer Theorie, mit sozialistischer Pädagogik beschäftigten? Hat die Geschichte nicht ihr Urteil gesprochen? Ist der Sozialismus nicht tot und mit ihm ›seine‹ Pädagogik? Wozu also diese Leichenfledderei? Doch ganz so tot scheint die Idee des Sozialismus3 trotz ihres weitestgehenden realgeschichtlichen Versagens nicht zu sein. Der Frankfurter Sozialphilosoph Axel Honneth widmete ihr 2015 eine kleine Schrift, die aber weder im Feuilleton noch in der Fachwelt überschwänglich aufgenommen wurde. 4 Vielmehr als die Rede vom Sozialismus, die in Deutschland immer noch weitestgehend diskreditiert erscheint, artikuliert sich jedoch ein stärker werdendes Unbehagen mit der scheinbaren Alternativlosigkeit kapitalistischer Gesellschaft. Deren fette Jahre sind spätestens seit der Wirtschaftskrise 2008ff. offensichtlich vorbei. Der Blick 1
Vgl. dazu u.a. Amnesty International 2016a; 2016b.
2
Vgl. Buzgalin 2000; Dieterich 2006.
3
Vgl. Honneth 2015.
4
Vgl. Bach 2016.
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auf historische Alternativkonzepte zu einer bürgerlich-kapitalistischen Ordnung mag politisch daher nützlich sein. Was aber hat das mit Pädagogik zu tun, und warum sollte ein erziehungswissenschaftlicher Blick auf diese Alternativen sinnvoll sein? Mit Paul Feyerabend kann die Vermutung aufgestellt werden, dass »jede Idee, sei sie noch so voll von Fehlern, […] einen zukunftsträchtigen Gehalt [hat], der unter neuen Umständen die Forschung vorantreiben kann.« 5 Allein diese Vermutung könnte genügen, sich den pädagogischen Vorstellungen der Sozialist*innen6 zu widmen – irgendein »zukunftsträchtiger Gehalt« würde sich sicher finden lassen. Doch gibt es durchaus weitere Gründe sich mit sozialistischer Pädagogik zu beschäftigen: Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm eine Gesellschaftsform Gestalt an, die als ›bürgerliche‹ bezeichnet wurde und zu deren wesentlichem Charakteristikum die Freisetzung des Individuums aus den Zwängen einer ständischfeudalen, statischen Sozialordnung gehörte. Seither stellt sich die systematische Frage, wie Pädagogik den Zusammenhang zwischen dem formal freien Individuum und der, diese Freiheit erst bedingenden (oder begrenzenden), Gesellschaft denken und praktisch bearbeiten kann. Denn dem Selbstanspruch dieser neuen bürgerlichen Gesellschaft geht es nicht nur darum, die Menschen durch Erziehung in sie einzugliedern, sondern sie durch Bildung zu befähigen aktive politisch und wirtschaftlich handelnde Akteur*innen in ihr zu werden. Pädagogik erhält dadurch in der auf Entwicklung und Fortschritt ausgerichteten Gesellschaft eine dynamische Qualität: Sie hat sich dem Problem der Vermittlung zwischen dem werdenden Individuum und der gewordenen und werdenden Gesellschaft, die aus dem konkreten Zusammenspiel werdender und gewordener Individuen besteht, zu widmen. Die Sozialist*innen des 19. Jahrhunderts lebten und schrieben in einer historischen Situation, in der sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft im Werden befand. Am Beginn dieses Prozesses war keineswegs auszumachen, wo und wie er enden würde. Daher diskutierten sie nicht allein, wie beispielsweise die 5
Feyerabend (1986: 64).
6
In dieser Arbeit wird, je nach Kontext, eine uneinheitliche Schreibweise von geschlechterbezogenen Bezeichnungen zu finden sein. Diese erklärt sich daraus, dass in Textpassagen, in denen kein spezifischer Bezug auf ein bestimmtes Geschlecht genommen wird, generell mit * geschrieben wird, um so auch Personen zu umfassen, die durch eine lediglich ›männlich‹/›weibliche‹ Bezeichnungen nicht angesprochen werden würden (vgl. u.a. Herrmann 2005). Wenn aber konkrete Geschlechtsidentitäten benannt werden oder auf solche Bezug zu nehmen ist (beispielsweise da in den zu interpretierenden Quelltexten von Männern oder Frauen die Rede ist) wird lediglich die weibliche bzw. männliche Bezeichnung genutzt.
E INLEITUNG
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spätere regierungsamtliche Pädagogik der DDR, wie das Individuum zum ›guten sozialistischen Staatsbürger‹ erzogen werden könnte, sondern auch, wie denn eine Gesellschaft überhaupt auszusehen hätte, in der die Freiheit aller Individuen und ihre freie Entwicklung zu »starken Persönlichkeiten von ungebrochener Eigenart«7 gewährleistet sei. In einer sich radikal transformierenden Gesellschaft, wie der des langen 19. Jahrhunderts waren die Sicherheiten, auf die sich Pädagogik in der konsolidierten Moderne der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stützen konnte, noch fraglich. Fraglich werden diese Sicherheiten zum Beginn des 21. Jahrhunderts nun wieder, nachdem das ›Ende der Geschichte‹8 nicht eingetreten ist und politische, ökonomische, demographische und ökologische Verwerfungen neue Herausforderungen darstellen. Die Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft sowie deren pädagogischer Vermittlung stellt sich neu, in einer Zeit, in der sich, parallel zu den benannten Problemen, auch die sozialen, kulturellen und technologischen Bedingungen des Lebens radikal transformieren. Wie eine Gesellschaft aussehen kann, die menschliche Entwicklung, Lernen und Bildung für alle sicherstellt, ist weiterhin umstritten. Womöglich kann sozialistisches Denken dieser Diskussion sinnvolle Beiträge liefern. Feyerabend schreibt wenige Seiten nach der oben zitierten Stelle, dass »alte Mythen, verbrauchte wissenschaftliche Theorien, merkwürdige Vorstellungen einen Kern enthalten, der sich bei einiger Mühe in eine Reihe faktischer Behauptungen verwandeln läßt, die dann mit den modernsten Ideen in fruchtbaren Wettstreit treten können.«9 So kann mit dem positiven Vorurteil an die Arbeit herangegangen werden, die alten sozialistischen Mythen enthalten einen solchen Kern, dem eine Vitalität innewohnt, die mit aktuelleren Ideen in den Wettstreit treten kann. Dieser Kern könnte für pädagogisches Denken im Begriff der Solidarität liegen. ›Solidarität‹ scheint einer der normativen Zentralbegriffe sozialistischen Denkens zu sein, der auf das Verhältnis zwischen einzelnen Personen und Gesellschaft verweist. ›Solidarität‹, so das die Forschung motivierende Vorurteil, verweist auf ein pädagogisch zu vermittelndes Bindeglied, welches die Individuen untereinander und mit der Gesellschaft in ein Verhältnis setzt. Mit ›Solidarität‹ (und ›Brüderlichkeit‹, die eine enge Verwandtschaft zur ›Solidarität‹ hat) könnte denkbar sein, wie Ge7
Zetkin ([1906] 1983: 16). Dass dabei unterschiedliche Konzepte von ›Freiheit‹ vertreten wurden, die zuweilen nur noch zynisch als solche bezeichnet werden können, und eher Vorwegnahmen totalitaristischen Denkens waren, wird im Zuge dieser Arbeit deutlich werden.
8
Vgl. Fukuyama 1992.
9
Feyerabend (1986: 67).
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sellschaftlichkeit und Individualität in ihrer gegenseitigen Bedingtheit zu denken ist. Das Verhältnis zwischen (einer immer auch auf Individualität sich beziehenden) Pädagogik, Solidarität/Brüderlichkeit und Gesellschaft erscheint so als ein erziehungswissenschaftlich relevantes Forschungsproblem, das insbesondere in sozialistischen Ansätzen bearbeitet wurde.
1.1 Z IEL
UND
A UFBAU
DER
A RBEIT
Vor dem Hintergrund des eben Beschriebenen lässt sich die erste Forschungsfrage, der in dieser Arbeit nachgegangen werden soll, konkretisieren: Welche Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen Solidarität/Brüderlichkeit, Pädagogik und dem Sozialen finden sich in der sozialistischen Diskussion des langen 19. Jahrhunderts? Dabei sollen nicht nur die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen den Begriffen analysiert werden, sondern auch die verschiedenen Möglichkeiten die Rede von ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ mit begrifflichem Gehalt zu versehen. Es gilt daher, die je unterschiedlichen Bedeutungen von ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ zu rekonstruieren und dann die entsprechenden Verhältnisse dieser Begriffe zu Pädagogik und Gemeinschaft zu untersuchen. Das Ziel soll dabei nicht sein, alle entsprechenden sozialistischen Konzepte zu analysieren. Die in dieser Arbeit zu beschreibenden und zu diskutierenden Konzepte bilden vielmehr die Eckpunkte zwischen denen sich das Feld der sozialistischen pädagogischen Diskussion von 1789 bis 1918 entfaltete. Sie sollen typische Denkschemata und Argumentationsfiguren repräsentieren, die sich in den dargestellten, ähnlichen oder vermischten Formen immer wieder in sozialistischen Texten pädagogischen Inhalts finden lassen. Mit den in dieser Arbeit vorzulegenden Vorschlägen einer Interpretation sozialistischer Solidaritätsvorstellungen und ihres Verhältnisses zu Pädagogik und Gemeinschaftlichkeit in systematischer Absicht grenzt sich die Forschungsfrage weiter ein. Schließlich könnten die Texte auch im Hinblick auf ihre historische Genese hin interpretiert werden, um sie so als Produkte ›ihrer Zeit‹ verstehen zu können. Gleichwohl der Blick in die historischen und biographischen Umstände der Textentstehung an einigen Stellen geschehen muss, um Verstehenslücken zu füllen, liegt auf dieser Perspektive kein Schwerpunkt. Das Interesse an den Texten ist kein primär historisches; es ist systematisch. Daraus resultiert die zweite Forschungsfrage: Inwieweit die sozialistischen Vorschläge Konzepte und Argumentationsstrukturen liefern können, die auch heute für eine systematische Fassung des Verhältnisses zwischen Solidarität/ Brüderlichkeit, Pädagogik und Gemeinschaft diskussionsfähig sind. Daher wer-
E INLEITUNG
| 13
den die vorzustellenden Konzepte nicht nur interpretiert, sondern auch einer Kritik unterzogen. Im Hintergrund dieses Unternehmens steht die Suche nach für künftige Theoriearbeit produktiven Elementen, die sich in diesen Ansätzen finden lassen. Damit soll ein Beitrag geleistet werden, die emphatische Rede von solidarischer Bildung10, auf ihre systematisch-pädagogische Begründbarkeit zu befragen. Die beiden folgenden Kapitel dienen dazu, den Forschungsgegenstand in inhaltlicher Hinsicht näher zu bestimmen (Was bedeutet ›Sozialismus‹, ›Pädagogik‹ und ›Solidarität‹/›Brüderlichkeit‹?) und das methodische Vorgehen zu erläutern (Kapitel 2). Darüber hinaus ist der Forschungsstand zu rekonstruieren, um den spezifischen Erkenntnisbeitrag der Arbeit auszuweisen (Kapitel 3). Nach diesen Vorarbeiten gliedert sich die Arbeit in zwei Hauptteile. In Teil A werden Konzeptionen des Zusammenhangs zwischen Pädagogik, Solidarität/ Brüderlichkeit und Gesellschaftlichkeit am Beispiel von fünf Quelltexten interpretierend rekonstruiert: Der Lehre vom richtigen Verhaeltnisse zu den Schoepfungswerken, und die durch oeffentliche Einfuehrung derselben zu bewuerkende algemeine Menschenbegluekkung (1792) von Franz Heinrich Ziegenhagen, Die neue Sittenverbesserung durch die ikarische Gemeinschaft in zwölf Briefen von Étienne Cabet (1850), die Solidarität. Kurzgefaßte Darstellung der Lehre Karl Fourier’s (1855) von Hippolyte Renaud sowie Clara Zetkins Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart (1889) und Robert Seidels Buch Sozialdemokratie und staatsbürgerliche Erziehung. Oder: Staatsbürger, Weltbürger und Mensch (1917). Die in diesem Teil vorzulegenden Interpretationen werden sich an einem hermeneutischen Vorgehen zu orientieren haben, wie es in Kapitel 2 näher beschrieben wird. Da das Ziel jedoch nicht nur in einer Rekonstruktion historischer Konzepte besteht, sondern deren systematische Gehalte vielmehr darauf hin befragt werden sollen, inwieweit sie auch unter der gegenwärtigen Situation für Theoriebildung angemessen sein könnten, wird der strikt systematisch arbeitende Teil A durch einen weniger systematischen, in Passagen spekulativen, Teil B ergänzt. Hier wird es darum gehen vor dem Hintergrund der vorgelegten Interpretationen weitergehend über den Zusammenhang von Pädagogik, Solidarität/Brüderlichkeit und Gesellschaft zu diskutieren. Dies geschieht in drei Schritten: Zuerst wird in Kapitel 9 der gemeinsame Bezugsrahmen der Texte, der in der spezifischen Situation der Transformation der ständisch-feudalen hin zur industriekapitalistischen Gesellschaft bestand, in Erinnerung gerufen und die je unterschiedlichen systematischen Verarbeitungen dieser spezifischen historischen Situation in den interpretierten Texten typisiert. Dies erscheint nicht nur als not10
Vgl. Angermüller/Buckle/Rodrian-Pfennig 2012.
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wendiger Schritt zu einem möglichst umfassenden Verständnis der Texte, sondern auch, um Anschlusspunkte an aktuelle Theoriebildung sondieren zu können. In einem zweiten Schritt werden bestimmte Argumentationsstrukturen und Denkfiguren der fünf in Teil A vorgelegten Konzepte vor dem Hintergrund von Überlegungen zur pädagogischen Ethik einer Kritik unterzogen (Kapitel 10). Auf diesem Weg sollen historisch überholte und systematisch problematische Aspekte markiert werden, die für ein aktuelles Projekt einer (sozialistischen) Pädagogik der Solidarität untauglich erscheinen. Eine aktuelle Theorie der Beziehung zwischen Solidarität, Pädagogik und Gesellschaft vorzulegen ist nicht der Anspruch dieser Arbeit. Die interpretierten Quellentexte sowie ihre historische Kontextualisierung und ihre Kritik sind eher Vorarbeiten zu einer solchen Theorie. Die Umrisse einer künftigen Theoriebaustelle Pädagogik und Solidarität, wie sie inspiriert von einer Analyse und Kritik historischer sozialistischer Ansätze und unter Bedingungen der aktuellen gesellschaftlich-pädagogischen Situation aussehen könnte, sollen dennoch skizziert werden (Kapitel 11). Kapitel 12 fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen und gibt eine Ausblick auf mögliche Anschlussforschung.
1.2 D ANK Drei Jahre Forschen und Schreiben sind nicht ohne Unterstützung möglich. Ich will an dieser Stelle den Menschen danken, ohne die mir diese Arbeit nicht gelungen wäre. Karsten Kenklies motivierte mich zur Promotion und begleitete mich mit methodologischer Akribie und engagierter Beratung bis zu deren Fertigstellung. In seinen Seminaren und im Lesekreis lernte ich, was kritische Textarbeit bedeuten kann. Michael Winkler unterstützte das Vorhaben ebenfalls vom ersten Tag an mit einer Portion Leidenschaft und schier unerschöpflichen Hinweisen zu historischen Hintergründen, Querverweisen und zur pädagogischen Systematik. Beiden gilt für ihre Unterstützung und ihren Rat mein herzlichster Dank. Für die zahlreichen, inzwischen weit über den wissenschaftlichen Austausch hinausgehenden Gespräche und die kollegiale Kritik bin ich den Mitgliedern der Mikro-AG Bildungsgeschichte der Hans-Böckler-Stiftung, Stephan Geuenich, Daniel Krenz-Dewe und Kathrin Witek, zu großem Dank verpflichtet. Sebastian Engelmann und Benjamin Paul-Siewert, die beide ebenfalls das Feld der sozialistischen Pädagogik bearbeiten, danke ich für unsere Gespräche, Diskussionen und Eure Kritik. Mit Anne Herrmann, Karola Herrmann, Diana Juneck, Felix Reinhardt, Lydia Siewert und Sandra Töpper habe ich einzelne Kapitel dieser
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Arbeit diskutieren können. Eure Hinweise haben zur Lesbarkeit dieser Arbeit – aber vor allem auch zu meiner Motivation, an ihr weiter zu schreiben – wesentlich beigetragen. Danke dafür. Nicht nur wissenschaftlicher Austausch ist für das Gelingen dieser Arbeit wichtig gewesen, sondern auch freundschaftlicher Beistand. An erster Stelle möchte ich dafür Frank Clemens danken. Wir kennen uns schon viele Jahre, doch die drei Jahre in Schreibkämmerchen und Bibliotheken wären ohne Dich eine ungleich schwerere Zeit gewesen. Nicht weniger danken muss ich den Mitbewohner*innen und Freund*innen in der »Paste«, die meine regelmäßigen Abwesenheiten und Rückzüge aus dem Gemeinschaftsleben großmütig tolerierten. Was Solidarität praktisch bedeutet, kann ich im Zusammenleben mit Euch täglich erproben. Den Luxus, ohne die sonstigen Ablenkungen und Verpflichtungen an der Endkorrektur arbeiten zu können, ermöglichten mir Friederike Gribkowski und Lisa Mews in ihrem Bukarester Domizil. Nicht nur für Eure Gastfreundschaft, sondern vor allem für die sommerlichen Terrassengespräche und den guten rumänischen Wein danke ich Euch von Herzen. Großer Dank gilt darüber hinaus meinen Eltern, meiner Schwester und meinem Großvater, die mich auf meinem Weg unbedingt unterstützen. Mein Dank an Dich, Anne, ist nicht in Worte zu fassen. Ökonomisch wäre diese Arbeit ohne das Promotionsstipendium der HansBöckler-Stiftung nicht möglich gewesen, für deren materielle und ideelle Förderung und die hingebungsvolle Arbeit ihrer Mitarbeiter*innen möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Abschließend gilt mein Dank Katharina Wierichs und Dagmar Buchwald aus dem transcript Verlag für die freundliche Aufnahme in den Verlag, ihre Unterstützung und die reibungslose Zusammenarbeit bei der Herstellung dieses Buches.
2. Methodik
2.1 T EXTAUSWAHL
UND I NTERPRETATION
Alltägliches Verstehen ereignet sich meist im Horizont unbewusster Wahrnehmungsmuster, Einstellungen und Stereotype, die es erlauben, Erfahrungen in eine je eigene Weltdeutung zu integrieren. Kategorien, Prämissen und Vorurteile prägen aber auch wissenschaftliche Erkenntnisprozesse: sie ermöglichen Verstehen überhaupt erst, indem sie die Aufmerksamkeit Forschender leiten. Auf der anderen Seite grenzen sie das Verstehen aber ein und lassen alternative Perspektiven vergessen. Systematische Verstehensprozesse müssen sich daher der von ihnen benutzten Kategorien bewusst werden, um sie reflexiv verwenden zu können. Dieser Zusammenhang ist auch für den Versuch Texte zu verstehen zu beachten. Die hermeneutische Aufgabe besteht nicht darin, sich die benutzten Kategorien bewusst zu machen und diese dann von außen an einen zu verstehenden Text heran zulegen, um den Text als Material zur Füllung dieser Kategorien zu benutzen. Vielmehr gilt es, die Kategorien zu nutzen, einen Text aufzuschließen, und mit den ihm vorgestellten Kategorien ins Gespräch zu bringen. Dabei ist sich der Vorurteilsstruktur der Kategorien bewusst zu bleiben. Das heißt, dass die an den Text herangetragenen Kategorien vorläufig gelten und in der Auseinandersetzung mit ihm modifiziert werden können. Dies gilt auch für die – im Folgenden darzulegenden – Kategorien, die dieser Arbeit zugrunde liegen. Dieses vorläufige hermeneutische Raster soll im Folgenden transparent gemacht werden. Der Auswahl der in diese Arbeit einfließenden Primärtexte liegen fünf, sich aus der Forschungsfrage ergebende Prämissen zugrunde. Die Texte müssten (1) pädagogisch und (2) sozialistisch sein. In ihnen muss ein Konzept von (3) Gemeinschaftlichkeit deutlich werden, und sie müssen (4) die Worte ›Solidarität‹ und/oder ›Brüderlichkeit‹ enthalten. Zuletzt müssen sie (5) in der Zeit zwischen 1789 und 1918 entstanden sein. Die Prämissen (1), (3) und (4) bestimmen dabei
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nicht nur die Auswahl der Texte, sondern leiten als vorläufige Kategorien insbesondere deren Interpretation. Da das Ziel dieser Arbeit nicht die Darstellung der Ideengeschichte sozialistischer Pädagogik ist, sondern die, auf das Verhältnis Pädagogik – Solidarität/Brüderlichkeit – Gemeinschaft bezogene, systematische Rekonstruktion von Begründungsmustern in den Traditionen sozialistischen Denkens, wird mit dieser Arbeit kein Anspruch auf Behandlung eines etwaigen Kanons paradigmatischer sozialistischen Ansätze erhoben. Gleichwohl besteht der Anspruch, diejenigen Denkfiguren des infrage stehenden Zusammenhangs zu rekonstruieren, die das Feld der sozialistischen Diskussion in seiner Pluralität bestimmten. Auch wenn eine letztendliche Begründung der Auswahl nicht möglich ist, so ist beim Autor im Forschungsprozess selbst und im Austausch mit Fachkolleg*innen doch eine entsprechende »theoretische Sensibilität« entstanden, die es erlaubt, davon zu sprechen, dass eine »Sättigung« des Feldes eingetreten ist.1 Dieser, der Methodik der Grounded Theory entnommene, Begriff besagt, dass die »Datenerhebung (und auch die Interpretationsarbeit) […] so lange fortgesetzt [wird], bis sich keine neuen Gesichtspunkte mehr ergeben.« 2 Für diese Arbeit bedeutet das, dass aus Sicht des Autors keine Texte mehr gefunden wurden, die den zu interpretierenden Verhältnissen weitere bedeutende Aspekte hinzufügen würden. Auch wenn sich die fünf genannten Prämissen der Textauswahl und Interpretation aus der Fragestellung herleiten, sind sie je für sich kurz zu begründen und – eingedenk der Uneindeutigkeit der genannten Begriffe – zu konkretisieren. Dies ist um so mehr von Nöten, da die im Folgenden zu explizierenden Kategorien den Gang der Interpretation bestimmen. Die Klärung der Prämissen soll auch helfen, die nach Gadamer »erste aller hermeneutischen Bedingungen [, …] das Sachverständnis, das Zu-tun-haben mit der gleichen Sache« 3 zwischen Text und Interpret darzustellen. Dies bedeutet nicht, dass die im Folgende explizierten Vormeinungen unbefragt in die zu interpretierenden Texte hereingelegt werden, vielmehr soll ihre allgemeine Bestimmung helfen, nach ihren unterschiedlichen, spezifischen Bestimmungen in den konkreten Primärtexten zu fragen, und dabei die den Text erschließenden Kategorien selbst zu reaktualisieren. 2.1.1 Pädagogik Die ausgewählten Texte müssen sich in den Horizont eines pädagogischen Zusammenhangs stellen lassen. In diesem Sinne muss in ihnen ein pädagogisches 1
Strauss/Corbin (1996: 25).
2
Böhm/Legewie/Muhr (ohne Jahr: 28).
3
Gadamer ([1959] 1986: 60).
M ETHODIK
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Konzept erkennbar sein. Ein pädagogisches Konzept wird in einem Text nicht nur – und nicht unbedingt – deutlich, wenn beispielsweise die Worte Bildung, Erziehung, Unterricht, Lernen oder Schule Verwendung finden. Ohne auf die kontroversen Auseinandersetzungen um die Möglichkeiten einer allgemeinen Bestimmung des Pädagogischen eingehen zu wollen, 4 wird im Rahmen dieser Arbeit davon ausgegangen, dass diese Bestimmung möglich ist. Unabhängig davon ist sie für diese Arbeit notwendig, um dem Untersuchungsfeld und der Fragestellung die nötige Klarheit zu geben. Die Grundlage jeden pädagogischen Denkens ist untrennbar mit einer Anthropologie, mit einem Menschenbild verbunden. Pädagogik ohne ein Menschenbild ist schlechterdings undenkbar. Nur im Rahmen einer Anthropologie stellt sich überhaupt erst das Problem der Notwendigkeit und Möglichkeit von Pädagogik. Die Frage nach einem Menschenbild muss also bei der Erhellung des pädagogischen Horizontes der Texte mindestens in Ansätzen beantwortbar sein. Was aber wird in dieser Arbeit unter ›Pädagogik‹ verstanden? Ralf Koerrenz und Michael Winkler bestimmen das Allgemeine der Pädagogik als die Frage nach der »Steuerung von Lernprozessen« in der »Relation zum einzelnen Individuum«: »Aller Pädagogik, wird sie als Erziehen, Bilden, Unterrichten, Lehren oder wie auch immer umschrieben, liegt ein solches Handeln zur Steuerung von Lernprozessen des Individuums zugrunde.« 5 Dabei spiele es keine Rolle, ob der oder die einzelne als solche oder als Teil einer Gruppe angesprochen werde.6 Es lässt sich als ein erstes Element des Pädagogischen festhalten, dass es um den Zusammenhang von Lernsteuerung im Hinblick auf Individuen geht. Lernen soll dabei als die »Entwicklung von Inhalts- und Bedeutungszusammenhängen«7 in Individuen und Gruppen gedacht werden. Die Grundlage, um Lernen überhaupt steuern zu können, ist »die immer vorauszusetzende Lernfähigkeits- und Bildsamkeitsthese,«8 die mit der These vom »erziehungsbedürftige[n] Wesen Mensch«9 einhergeht. Hätte der Mensch nicht die Fähigkeit zu lernen und sich zu bilden (hier zu fassen als innere Lernsteuerung), so könnte er es nicht. Wäre er nicht der Erziehung bedürftig, bräuchte das Lernen nicht gesteuert werden. Befähigung zum Lernen und Bedürftigkeit dessen äußerer (Erziehung) und innerer (Bildung) Steuerung sind somit zwei weitere Koordinaten des in dieser Arbeit verwendeten Begriffs von Pädagogik. 4
Einführend in die Diskussion vgl. u.a. Vogel 1998.
5
Koerrenz/Winkler (2013: 52f.).
6
Ebd.: 53.
7
Bracht (2001: 87).
8
Gamm (1979: 13).
9
Ebd.
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Wenn man von der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen schreibt, so geht unmittelbar damit ein nächstes Element des Pädagogischen einher: Die These, dass das Lernen steuerbar ist. Denn nur, weil der Mensch Lernen kann und Lernen muss, bedeutet das nicht, dass das Lernen auch steuerbar ist. Die These, dass Lernen steuerbar ist, geht zusammen mit der Frage danach wie dieses Lernen zu steuern ist, und dem Problem von Methodik und Didaktik als viertem Element des Pädagogischen. Die Rede von der Steuerung von Lernprozessen macht aber nur Sinn, wenn sie – fünftes Element – mit einem Ziel dieser Steuerung verknüpft ist, das wiederum eng mit dem vertretenen Menschenbild zusammenhängt. Pädagogische Ziele können dabei unterschiedliche Dimensionen und Begründungsweisen haben, die sich nicht ohne Rückbezug auf ein Menschenbild und eine damit einher gehende normative Orientierung erklären lassen. Als ein pädagogisches Konzept beinhaltende Texte gelten also im Rahmen dieser Arbeit Texte, die sich unter den Prämissen der Lern- und Bildungsfähigkeit und der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen mit der Frage der Steuerung (individueller) Lernprozesse (Erziehung als eher von außen initiierte; Bildung als eher binnenorientierte Steuerung) befassen. Dabei müssen in ihnen sowohl methodische Überlegungen über das Wie dieser Steuerung deutlich werden als auch Ziele dieser Steuerungsbemühungen erkennbar sein. 2.1.2 Sozialismus Da es in dieser Arbeit darum geht, sozialistische Argumentations- und Begründungsmuster zu analysieren, müssen die ausgewählten Texte einer sozialistischen Tradition zuzuordnen sein. Nun ist dies eine alles andere als klare Definition. In gewisser Weise ist das Wort ›Sozialismus‹ ein leerer Signifikant, der je nach Situation und Interesse inhaltlich gefüllt werden kann, gefüllt wurde und wird.10 In der aktuellen Literatur zum Thema sozialistische Pädagogik herrscht wenig begriffliche Klarheit.11 Daher muss an dieser Stelle der zumindest ansatzweise erfolgende Versuch einer eigenen Begriffsbestimmung unternommen werden. Dem Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland folgend, kann der Beginn der Entstehung des modernen Sozialismusbegriffs im Umfeld des englischen Owenismus verortet werden, auch wenn das Wort schon vorher in v.a. rechtswissenschaftlichen kontinentaleuropäischen Debatten eine 10
Zur Geschichte des Wortes ›Sozialismus‹ vgl. den noch immer grundlegenden Beitrag von Grünberg 1912.
11
Vgl. S. 31ff. dieser Arbeit.
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Rolle spielte. In England kann ›socialism‹ zum ersten Mal im Jahr 1822 nachgewiesen werden. Dabei lässt sich vermuten, dass »die englischen Begriffe ›socialism‹ und ›socialist‹ im 19. Jahrhundert gebildet wurden, ohne daß die vorausgehende kontinentale Begriffsgeschichte bekannt gewesen wäre.« 12 Der bis dahin für das von Robert Owen (*1771, †1858) aufgestellte System geläufige Begriff ›Owenism‹ wurde recht schnell von ›Socialism‹ verdrängt. Seit den 1830er Jahren trat der Begriff ›socialistes‹ auch in Frankreich auf und wurde hier als Sammelbezeichnung für die Theorien Henri de Saint-Simons (*1760, †1825), Charles Fouriers (*1772, †1837) und Robert Owens benutzt. Im deutschen Sprachraum war der Begriff ›Sozialismus‹ zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur im kleinen Kreis der deutschen Rechtsphilosophen geläufig. 13 An den dort verwendeten Begriff, den inhaltlich wenig mit dem später popularisierten verband, wurde außerhalb dieses Zirkels nicht angeknüpft. Die Begriffe ›Socialismus‹ und ›Socialist‹ wurden »als Neologismen aus der westeuropäischen Diskussion übernommen«14 und bezogen sich – mangels einer entsprechenden Bewegung in Deutschland – auch nur auf die in Frankreich und England sich entwickelnden Phänomene. Seit 1839 lässt sich der Begriff in derartiger Verwendung im deutschen Sprachgebrauch nachweisen.15 Die erste und für die weitere Verbreitung des Begriffs in Deutschland wesentliche Monographie wurde 1842 von Lorenz Stein mit Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs vorgelegt. Darin bestimmte er den Sozialismus-Begriff an drei Merkmalen: Er beziehe sich auf die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft;16 sei in seiner Genese mit der Entstehung des Proletariats und dem Streben danach, dessen Situation zu verbessern verbunden; 17 drittens sei der Sozialismus eine neue Wissenschaft, nämlich die »Wissenschaft der Gesellschaft.«18 Diese grundlegende, aber rudimentäre Definition gilt es für unsere Zwecke zu konkretisieren. Dazu sollen die Definitionsversuche Klaus von Beymes und Georg Fülberths herangezogen werden. 12
Schieder (1984: 934).
13
Vgl. dazu ausführlich: Schieder 1984.
14
Ebd.: 944.
15
Vgl. ebd.: 946.
16
Vgl. Stein (1842: 141).
17
Vgl. ebd.: 7.
18
Ebd.: 139. Die Rede vom Sozialismus als ›Wissenschaft von der Gesellschaft‹ hatte in der Revolution um 1848 eine gewisse Konjunktur (so wurde vereinzelt sogar die Einrichtung von Lehrstühlen für Sozialismus gefordert [vgl. Pinoff 1848]), sie darf aber nicht mit der später vor allem von Engels popularisierten Rede vom ›wissenschaftlichen Sozialismus‹ (vgl. u.a. Engels [1880] 1987) verwechselt werden.
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Unter ›Sozialismus‹ versteht Klaus von Beyme in erster Annäherung einen sehr breiten Sammelbegriff, unter dem er sowohl frühsozialistische, anarchistische, kommunistische, marxistische und sozialdemokratische Theorien und Praktiken subsumiert. Als sozialistisch gelten für ihn Konzepte, die von folgenden Prämissen ausgehen: einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft und dem Bezwecken der Beseitigung dieser Klassenunterschiede; sie streben eine auf Gemeineigentum basierende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung an; sie sehen die Ursache der sozialen Unterschiede in der herrschenden Wirtschafts- und/oder politischen Herrschaftsform; sie streben die Erreichung ihres Zieles durch eine reformatorische und/oder revolutionäre Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse an.19 Georg Fülberth versteht in seiner schmalen Einführung in den Sozialismus unter selbigen »a. eine Gesellschaftsordnung, b. eine politische Bewegung und ihre Theorie, c. ein untergeordnetes Organisationsprinzip in der kapitalistischen Gesellschaft.«20 Er gibt ähnliche inhaltliche Bestimmungen an wie Beyme, ergänzt den Katalog aber und orientiert sich dabei sehr an marxistischem Vokabular.21 Fülberth fügt ein normatives Element ein, das für ihn konstitutiv für sozialistisches Denken ist; es ist ein Anspruch, der »als Gemeinsamkeit aller Sozialistinnen und Sozialisten (über Spaltungen schon damals und später hinweg) angesehen werden«22 könne. Diesen normativen Anspruch, der das begründende und organisierende Motiv des Sozialismus sei, findet Fülberth in dem im Manifest der Kommunistischen Partei formulierten Ziel ausgedrückt, eine »Assoziation« zu schaffen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.«23 Für Fülberth ist gerade diese Bestimmung des Sozialismus von großer Bedeutung, da er sie als Wertmaßstab der Beurteilung der durchgeführten Versuche eine sozialistische Gesellschaft nutzt. Für die hier vorzulegende Begriffsbestimmung ist dieser Gedanken ebenso zentral wie problematisch. Würde er zum einen doch das Verständnis von Sozialismus eng einschränken, und gäbe einem marxschen Definitionselement einen zentralen Stellenwert, an dem sich anderer Vorstellungen zu messen hätten. Diese normative Bestimmung soll daher die Auswahl der Texte nicht bestimmen. Doch soll sie im Bewusstsein bleiben, um sie im kritischen Durchgang durch die Texte als Orientierungspunkt zu halten.
19
Vgl. Beyme 2013.
20
Fülberth (2011: 6).
21
Vgl. ebd.: 12f.
22
Ebd.
23
Marx/Engels ([1848] 1960: 482).
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Noch ein Wort zum Verhältnis zwischen Marxismus und Sozialismus: Wie bei Fülberth, der den normativen Wesenskern des Sozialismus mit einem marxschen Zitat festlegt, finden sich Karl Marx und Friedrich Engels bei den meisten Autor*innen als zentraler Bezugspunkt sozialistischen Denkens. So nennt Manfred Hahn eine umfassende Zusammenstellung von Quellen zur Frühgeschichte des Sozialismus Archivalienkunde des vormarxistischen Sozialismus. Für ihn ist der vormarxistische Sozialismus »die in Analyse und Kritik gefaßte, ablehnende und fordernd auftretende Lehre von der kapitalistischen Gesellschaft als einer notwendig untergehenden Ordnung, ist Wissen über sie bei Einschluß der Konzeption des zum Guten gewendeten Gesellschaftssystems der Zukunft, ohne gedankliche Rückkehr zu vorkapitalistischen Verhältnissen.« 24
Im Übrigen definiert er ihn an ähnlichen Kriterien wie Beyme. Die von Hahn zusammengetragenen archivarischen Informationen betreffen aber einen vormarxistischen Sozialismus. Dieser »ist vormarxistisch [Herv. i.O.] – auch im Sinne des Vorher –, zugleich vormarxistisch [Herv. i.O.], er arbeitet dem marxistischen Sozialismus vor und vererbt sich ihm schließlich.« 25 Ähnlich sieht das Hobsbawm, wenn er schreibt: »Tatsächlich ersetzte die Herausbildung des Marx’schen Sozialismus ihre [sic. seine, R.P.] Vorläufer nicht nur, sondern absorbierte sie und ›hob sie auf‹, um es hegelianisch zu formulieren.«26 Auch hier wird deutlich, dass der Sozialismusbegriff auf Marx ausgerichtet wird. Immerhin wird dies von Hahn deutlich gekennzeichnet. Bei anderen Publikationen entfällt derartige Kennzeichnung. Die Fokussierung des Sozialismusbegriffs auf Marx aber ist ideengeschichtlich, forschungsmethodisch und forschungspolitisch problematisch, engt sie den Begriff doch unnötig auf eine – kontrovers zu interpretierende – Lesart ein, bzw. billigt dieser eine, den Begriff strukturierende Bedeutung zu. Weniger vor dem Hintergrund einer marxistisch orientierten Interpretationsfolie bearbeitet das Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland den Sozialismusbegriff. Auf den ersten Blick erscheint dabei die Begriffsdefinition als der »Kategorie der zukunftsorientierte[n] Bewegungsbegriffe«27 zugehörig intuitiv nachvollziehbar. Die nähere Bestimmung aber lässt Zweifel aufkommen. So sei der Sozialismus »von Anfang an durch theoretische Entwürfe bestimmt, die in
24
Hahn (1995: 14).
25
Ebd.
26
Hobsbawm (2014: 59).
27
Schieder (1984: 923).
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die Zukunft weisen und nicht auf eine historische Realität bezogen sind.« 28 Würde man an einer derartigen Sozialismusdefinition festhalten, so würden nur derartige Konzepte in den Blick kommen, die reine Utopien sind. Das macht keinen Sinn, und auch das Lexikon selbst folgt nicht dieser Definition, sondern legt deutlich dar, wie stark sich sozialistisches Denken auf die Analyse und Kritik einer »historischen Realität« bezogen hat. Nach diesen Vorklärungen kann der für diese Untersuchung verbindliche Sozialismusbegriff konkretisiert werden: Als sozialistisch gelten im Rahmen dieser Arbeit Texte, die die folgenden Kriterien erfüllen: Soziale Ungleichheit wird nicht als individuelles Verschulden interpretiert, sondern als gesellschaftliches Problem, das sich als Spaltung der Gesellschaft in Klassen oder Schichten artikuliert. Als ursächlich für diese Spaltung wird nicht die einzelne Person, sondern die bestehende wirtschaftliche, politische und/oder ideologische Herrschaftsform angesehen. Sozialistisches Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es sowohl die soziale Fragmentierung der Gesellschaft als auch die jener zugrunde liegenden Herrschaftsformen beseitigen will. Es zeichnet sich damit auch durch eine Zukunftsorientierung aus, die die Herstellung einer auf Gemeineigentum basierenden Wirtschaft und Gesellschaft anstrebt. Zuletzt charakterisiert sozialistisches Denken, dass es die beschriebenen Gesellschaftsänderungen auf revolutionärem oder reformatorischem Wege bewerkstelligen will. Diese allgemeine Fassung des Sozialismusbegriffs bleibt offen für zahlreiche spezifische Ausformungen, und verspricht ein weites Feld sozialistischer Konzepte in den Blick zu bekommen. 2.1.3 Solidarität und Brüderlichkeit Da es in dieser Arbeit darum geht, zu analysieren, wie der Zusammenhang zwischen Pädagogik, Solidarität/Brüderlichkeit und Gemeinschaft konstituiert werden kann und mit der oben vorgelegten Perspektivierung von Pädagogik schon eine Konzeption von Pädagogik vorgelegt wurde, die mögliche anderer Bestimmungen ausschließt, soll die Suche nach dem Sinngehalt von ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ keine derartige Einschränkung erfahren. Obgleich etliche Versuche zur inhaltlichen und formalen Bestimmung des Solidaritätsbegriffs vorliegen,29 soll keine dieser Definitionen die Auswahl der Texte bestimmen. Vielmehr dienen die Worte ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ in ihren unterschiedlichen Formen, Abwandlungen und Komposita als Fixpunkte. Sie müssen in den auszu-
28
Ebd.
29
Vgl. S. 36ff. dieser Arbeit.
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wählenden Texten auftreten und sollen dann im Rahmen der Interpretation auf ihren jeweiligen begrifflichen Gehalt befragt werden. Es mag irritieren, ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ als Ankerworte zu wählen. Dies bedarf einer Begründung. Dass die unterschiedlichen Worte ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ auf vergleichbare Sachverhalte bezogen sind, ist eine Vorannahme, deren Geltung sich aus der Arbeit mit den Texten heraus bestätigen oder verwerfen lassen wird. Diese Vorannahme aber ist keine willkürliche, sondern kann durch einschlägige Literatur gestützt werden. So behandelt das Lexikon des Sozialismus ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ unter dem gleichen Stichwort und konstatiert, dass beide »vielfach synonym gebraucht« werden. Zwar ließe sich im »Frühsozialismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] der Übergang von ›Brüderlichkeit‹ zu ›Solidarität‹ beobachten, [jedoch,] ohne daß zwischen den beiden ein klarer definitorischer Unterschied zu konstatieren wäre.«30 In den Geschichtlichen Grundbegriffen gibt es nur einen Artikel zu ›Brüderlichkeit‹, in dem auf ›Solidarität‹ nur am Rande eingegangen wird. Das Wort habe in der Folge der Popularisierung der Ideen Fouriers und der – auch sprachpolitischen – Aktivitäten der Internationalen Arbeiterassoziation ›Brüderlichkeit‹ verdrängt.31 Freilich sind mit der Ablösung von ›Brüderlichkeit‹ durch ›Solidarität‹ inhaltliche Veränderungen verbunden. Die Idee der Brüderlichkeit hat eine bis mindestens ins Urchristentum zurückgehende Geschichte, die spätestens im Bauernkrieg von Thomas Münzer (*1489, †1525) auch politisch radikalisiert wurde.32 Der im 19. Jahrhundert sich verbreitende Solidaritätsbegriff trat gleichsam dessen Erbe an und entwickelt im Laufe der Zeit einen anderen begrifflichen Gehalt. Für das 19. Jahrhundert aber kann man noch von einer synonymen Verwendung ausgehen, auch wenn dieser Verdacht in jedem Text und in der Zusammenschau der ausgewählten Texte zu prüfen ist. 2.1.4 Gesellschaft und Gemeinschaft Sehr kurz kann die Bestimmung des vorletzten Auswahlkriteriums gehalten werden: In den Texten muss von Sozialität, also Gemeinschaft oder Gesellschaft die Rede sein. Beide Begriffe meinen in diesem Zusammenhang, dass in irgendeiner Form Menschen, jenseits eines pädagogischen Verhältnisses, miteinander in Beziehung stehen, bzw. als in Beziehung stehend konzipiert werden. Alle Texte also, die sich nur mit der Erziehung des Individuums beschäftigen, ohne sich auf 30
Beier (1986: 548). Dass Beiers Beobachtung in dieser Form zu holzschnittartig ist, wird im Rahmen der Textinterpretationen in dieser Arbeit deutlich werden.
31
Vgl. Schieder (1972: 578).
32
Vgl. Christoph (1979: 15).
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soziale Gruppen zu beziehen, sind für unser Vorhaben irrelevant. 33 Auf theoretisch gehaltvoller deskriptive Konzepte von Gesellschaft, Gemeinschaft oder Klasse wird hier bei der Auswahl nicht zurückgegriffen. 2.1.5 Das lange 19. Jahrhundert Die letzte Prämisse der Textauswahl begrenzt die Texte auf solche, die zwischen 1789 und 1918 erschienen sind. Die Eingrenzung der Epoche, aus der die zu analysierenden Texte stammen, erscheint zunächst forschungspragmatisch, hat aber sowohl historische als auch systematische Gründe. Diese sind kurz darzustellen. In der Geschichtsschreibung ist der Begriff des langen 19. Jahrhunderts als Bezeichnung des Zeitraum zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg geläufig.34 Es handelt sich um einen Epochenbegriff. Eine Epoche kann als von drei Charakteristika bestimmt definiert werden: »Sie ist von ›epochemachenden‹ Ereignissen eingefasst. Sie stellt einen inneren Zusammenhang dar. Was sie zusammenhält, unterscheidet sie zugleich von dem vorhergehenden und dem nachfolgenden Zeitabschnitt.« 35 Für die Zeit um 1789 wurde von Eric Hobsbawm der Begriff der »dual revolution« geprägt, der die »French Revolution of 1789 and the contemporaneous (British) Industrial Revolution« 36 bezeichnet. Auch wenn die Industrialisierung in England schon vor 1789 begann, sieht Hobsbawm im Zusammenfallen dieser beiden Ereignisse den ›epochemachenden‹ Charakter jener Zeit, in deren Folge Prozesse der Industrialisierung, des starken Bevölkerungswachstums, der Bevölkerungswanderung, der Etablierung von Nationalstaaten bzw. einer entsprechenden Idee der Nation und eines ihr korrespondierenden Nationalbewusstseins das Spezifikum jener Epoche im Vergleich zur vorherigen und nachfolgenden Zeit ausmachen. 37 Der Erste Weltkrieg wird als das Ereignis gesehen, das die Epoche abschließt und eine Zeit neuen Si gnums einleitet. Für den Zusammenhang der Forschungsfrage dieser Arbeit ist vor allem ein kultureller Zusammenhang von Belang. Denn die politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse jener Epoche führten zu einer Freisetzung des Individuums aus Strukturen, die es vorher eingebunden hatten. Die wenig soziale Mobilität oder 33
In gewisser Weise handelt es sich bei diesem Kriterium um eine tautologische Zu spitzung, denn schon die beiden Kategorien ›Solidarität‹ und ›Sozialismus‹ schließen Texte, die rein individualistisch argumentieren, mehr oder weniger aus.
34
Vgl. u.a.: Bauer 2004; Hobsbawm 2010: 21; Kocka 2001.
35
Kocka (2001: 138).
36
Hobsbawm (1962: XV).
37
Vgl. Kocka (2001: 140).
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Herausbildung von Individualität zulassende Ständegesellschaft zerbrach und setzte das Individuum frei. Die umrissenen Problemstrukturen wurden pädagogisch besonders relevant, da auf die Frage nach der Integration der Individuen in einer Gesellschaft sich pädagogische Antworten geradezu aufdrängten. Beide Problemstrukturen, die Freisetzung in die Individualität, wie ihre Reintegration in einen sozialen Zusammenhang reflektierten sich in Lösungsvorschlägen unterschiedlichen weltanschaulichen Hintergrunds. Katholische, protestantische, liberale, konservative und sozialistische Modelle boten sich an. Der Liberalismus schien ideologisch und politisch zu dominieren: »In brief, for classical liberalism, the human world consisted of self-contained individual atoms with certain build-in passions and drives, each seeking above all to maximize his satisfactions and minimize his dissatisfactions, equal in this to all others, and ›naturally‹ recognizing no limits or rights of interference with his urges.« 38
Auch in der Geschichtsschreibung der Pädagogik dominiert die Darstellung nicht-sozialistischer Ansätze, obwohl die Vermutung berechtigt erscheint, dass sozialistische Ansätze nicht weniger gehaltvolle Bewältigungsmodelle anbieten konnten. Zwar begrenzt sich die sozialistische Diskussion nicht auf das lange 19. Jahrhundert, doch kann die Zeit zwischen Französischer und Russischer Revolution legitimer Weise als Epoche der Geschichte des Sozialismus begriffen werden, die sich prinzipiell von späteren unterscheidet. Eine erste Entfaltung modernen sozialistischen Denkens lässt sich im Umfeld der Französischen Revolution mit dem Wirken Gracchus Babeufs (*1760, †1797) beobachten.39 Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich eine breite sozialistische Diskussion, die, trotz aller Verwerfungen und Brüche, als einheitliche Diskussion vorgestellt werden kann. 40 Freilich deutete sich ein Bruch an, der letztlich 1917 mit der Russischen Revolution eintrat. Spätestens hier trat in der theoretischen Diskussion ein Schisma ein, das sich freilich nicht nur theorieimmanent erklären lässt: Die Orientierung der nach 1917 entstehenden kommunistischen Parteien in Europa (und damit auch der KPD in Deutschland) an den wechselnden ideologischen Vorgaben der KPdSU und der Konflikt mit den sozialdemokratischen Parteien macht es schwer, noch systematisch von einer einheitlichen sozialistischen Diskussion zu sprechen, da sich die Prämissen und Motivationen der Theorieproduktion nun durch realpolitische Bedingungen massiv 38
Hobsbawm (1962: 278f.).
39
Vgl. Kool/Krause (1972: 69ff.); Muckle (1917: 141).
40
Ausführlich zur Entwicklung des sozialistischen Denkens im 19. Jahrhundert vgl. u.a.: Muckle 1909, 1917; Schieder 1984; Cole 1960, 1961, 1962; Droz 1972.
28 | S OLIDARITÄT B ILDEN
verschoben. Die Französische und die Russische Revolution gelten so als historische Fixpunkte, die den Rahmen für eine systematische Auseinandersetzung bieten, die anders aussehen müsste, würden andere Zeitrahmen gesetzt werden.
2.2 P RÄMISSEN
DER
D ARSTELLUNG
Die Darstellung von Forschungsergebnissen besitzt eine größere Dichte, Stringenz und Richtung als der ihnen zugrunde liegende Forschungsprozess. Das hermeneutische Unternehmen gleicht oft mehr dem Gang durch einen Irrgarten als dem Folgen eines klaren Weges. Texte werden ausgewählt, dann wieder aussortiert, Deutungsvarianten begründet und wieder verworfen. Die Suche nach Sinn kann schwerfällig und langwierig sein, plötzlich aber öffnen sich Ein- und Aussichten, neue Perspektiven. Der Forschungs-, Denk- und Interpretationsprozess, der zu den Ergebnissen dieser Arbeit führte, kann schon aus pragmatischen Gründen – die Lesbarkeit des Textes wäre nicht mehr gegeben – in der Darstellung nicht aufgenommen werden. Statt dessen orientiert sich der entstandene Text an der klaren Offenlegung der (re-)konstruierten Kategorien und Beziehungen. Was nun vorliegt, ist der Vorschlag einer Deutung der Texte, ein Vorschlag, der vor dem, dem Autor dieser Arbeit inhärenten theoretischen Horizont Zusammenhang und Stringenz beansprucht. Die Interpretation der Primärtexte findet auf zwei Ebenen statt, die von zwei unterschiedlichen Zielvorstellungen, einer analytisch-rekonstruktiven und einer kritisch-konstruktiven geprägt sind. Auf beiden Ebenen handelt es sich um eine systematische Interpretation, die nach dem Gehalt der Texte fragt, nicht aber nach ihrer historischen oder politischen Genese, ihrer Wirkungsabsicht oder Wirkungsgeschichte. Im ersten Teil der Arbeit geht es darum, zu analysieren welche Verhältnisse zwischen Solidarität, Pädagogik und Sozialität in den Texten zum Ausdruck kommen. Der erste Interpretationsschritt versucht also auf einer textimmanenten, theorieinternen Ebene zu arbeiten. Freilich gilt dies nur begrenzt. Zum einen müssen gelegentlich textexterne Informationen herangezogen werden, um mit Verständnislücken umgehen zu können. Zum anderen prägen die an den Text herangetragenen Kategorien Pädagogik und Sozialität bzw. die Worte ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ die Interpretation. Begriffliche Reinheit kann hier nicht herrschen, denn in den unterschiedlichen Kapiteln werden ›Solidarität‹ bzw. ›Brüderlichkeit‹, Sozialismus, Sozialität und Pädagogik (im Rahmen der oben benannten allgemeinen Bestimmungen) je besondere Konkretisierungen erfahren. Es lässt sich nicht vermeiden und ist gewollt, dass unterschiedliche inhaltli-
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| 29
che Konzepte der Begriffe auf unterschiedlichen Maßstabsebenen Verwendung finden. Dies wird nicht als systematisches Manko verstanden, sondern als Gelegenheit einer möglichst breiten Darstellung unterschiedlicher Konzepte. Im zweiten Teil der Arbeit ändert sich die Perspektive und die erarbeiteten Interpretationen werden auf ihren Beitrag zu einer systematischen Begründung des Zusammenhangs zwischen Solidarität, Pädagogik und Sozialität befragt. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der die Texte verbindenden Problemstruktur sowie diejenigen Aspekte, die einer kritischen Diskussion bedürfen. Dabei gilt weder, dass alle Ergebnisse der Interpretationen der Primärtexte Eingang finden, noch dass eine Theorie solidarischer Pädagogik entworfen wird. Das Ergebnis versteht sich vielmehr als eine Anregung, den in Frage stehenden Zusammenhang weiter zu denken. Auch wenn es sich um eine systematische Arbeit handelt, und ideen- oder geistesgeschichtliche Erwägungen für den Gang der Argumentation keine Rolle spielen sollen, kann auf gelegentliche essayistische Exkurse nicht verzichtet werden. Sie waren im Forschungsprozess für das Verstehen der Primärtexte nötig. Sie sind aber auch für die Leser*innen dieser Arbeit nötig, insofern ein Horizont, der den Kontext der Texte und die in ihnen verhandelten Sachverhalte kennt, nicht vorausgesetzt werden kann. Auch wenn mit diesen Exkursen vom systematischen Standpunkt eine Verunreinigung in die Arbeit kommt, erscheint diese aus einer demokratisch-normativen Perspektive, die wissenschaftliche Ergebnisse auch für außerwissenschaftliche Diskurse zugänglich machen will, vertretbar. Überdies ist der historische Bezug nötig, um zum einen die soziale und pädagogische Problemsituation, auf die die Texte reagierten, verstehen zu können und zum andern zumindest thesenhaft prüfen zu können, inwieweit die rekonstruierten Argumentationen auch heute angemessen sein bzw. weiter gedacht werden könnten.
3. Forschungsstand
Auch wenn in der aktuellen öffentlichen Debatte der Begriff ›Solidarität‹ oder besser: die moralische und politische Forderung nach ›Solidarität‹ eine Konjunktur erfährt, bleibt der Begriff doch einer, dem in wissenschaftlichen Fachdiskussionen eher mit Ideologieverdacht und Skepsis begegnet wird. Noch größer wird diese Skepsis, wenn das Wort ›Sozialismus‹ fällt, ohne sich im selben Atemzug von real-sozialistischen Untaten zu distanzieren. ›Sozialismus‹ und ›Solidarität‹ in einer erziehungswissenschaftlichen Forschungsarbeit gemeinsam in den Fokus zu nehmen, mag daher dubios erscheinen. Trotz dieser scheinbar unzeitgemäßen Perspektive kann sich die Arbeit auf Forschungen stützen, die Einzelaspekte des Feldes bearbeitet haben. Im Folgenden sollen diese kurz dargestellt werden. Im ersten Schritt wird der Forschungsstand allgemein zur sozialistischen Pädagogik resümiert, im zweiten Schritt die Diskussionen zum Zusammengang von Solidarität, Gesellschaftlichkeit und (sozialistischer) Pädagogik nachgezeichnet, um drittens den spezifischen Forschungsbeitrag dieser Arbeit auszuweisen.
3.1 S OZIALISTISCHE P ÄDAGOGIK Eine nennenswerte erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit sozialistischer Pädagogik im Allgemeinen und ihrer Theorie im Besonderen findet derzeit innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft nicht statt. 1 Es liegt lediglich mit Armin Bernhards Allgemeiner Pädagogik auf praxisphiloso1
Etwas anders gestaltet sich die Situation in der englischsprachigen Diskussion unter dem Slogan ›radical education‹. Hier wird der Begriff ›socialist education‹ immer wieder aufgegriffen (Hillcole Group 1997, jüngst: Griffiths/Millei 2013), auch wenn der Begriff ›socialism‹ in den einschlägigen Diskussionen weder unumstritten noch eindeutig ist.
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phischer Grundlage ein aktuelles Grundlagenwerk vor, das der Tradition sozialistischer Pädagogik zugeordnet werden könnte, bezieht es sich doch grundlegend auf den italienischen Sozialisten Antonio Gramsci. 2 Darüber hinaus legten Hans-Jochen Gamm und Heinz-Joachim Heydorn Entwürfe vor, die sich in der Tradition sozialistischer Pädagogik verorten lassen. 3 Dennoch hat Gamms Feststellung, es gebe bisher keine »ausgearbeitete[n] Konzepte sozialistischer Pädagogik unter gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen« 4 immer noch Bestand. Die Auseinandersetzung mit sozialistischer Pädagogik hat also in ihrer Geschichte anzusetzen. Die Darstellung des Forschungsstandes muss sich dabei überwiegend auf Literatur stützen, die vom Ende der 1960er bis zum Anfang der 1980er Jahre erschienen ist. In dieser Zeit erlebte Forschung zur sozialistischen Pädagogik im Nachklang der 68er-Bewegung eine gewisse Konjunktur. Die ersten Monographien, die sich mit sozialistischer Pädagogik befassten, erschienen schon vorher und taten dies in explizit ablehnender Perspektive und – so muss hinzugefügt werden – in mangelhafter Kenntnis der Literatur und Beschränkung auf marxistische Vorstellungen.5 Exemplarisch dafür ist Theo Dietrich, der als sozialistische Pädagogik »jene Erziehungs-, Schul- und Unterrichtskonzeptionen« bezeichnet, »die auf Marxschen Grundsätzen und deren Varianten und Modifikationen beruhen.«6 Andere sozialistische Konzeptionen gelangen bei ihm aus dem Blick. Ein Muster, das bei der Beschäftigung mit sozialistischer Pädagogik, ob in kritischer oder würdigender Absicht, oft zu beobachten ist. Die mehrfach aufgelegten Arbeiten Wolfgang Abendroths und Helga Grebings7 zur Geschichte der Arbeiterbewegung legten in den 1960er Jahren den Grundstein für eine neue Rezeptionswelle der Geschichte der Arbeiterbewegung und ihrer Bildungsbestrebungen und damit auch sozialistischer Pädagogiken. Konnte der Zentralrat der Kinderläden Westberlins 1969 noch schreiben, dass »[w]as westdeutsche Erziehungswissenschaftler bislang über sozialistische Pädagogik zustande gebracht haben, […] über das Niveau fixierter Propaganda oder naiver Inkompetenz nicht hinaus [kommt]« 8, hatte sich die Forschungslage im Laufe der 1970er Jahre gebessert. In der Allgemeinen Pädagogik wurden materialistische, an Marx anschließende Theorien bzw. Überlegungen zur proletarischen Bildungsarbeit angestellt, aber selten unter dem expliziten Bezug auf so2
Vgl. Bernhard 2011.
3
Vgl. Gamm 1974; 1979, Heydorn 1970; 1972.
4
Gamm (1972: 161).
5
Vgl. Lange 1954; Dietrich 1966.
6
Dietrich (1966: 15).
7
Vgl. Abendroth 1965; Grebing 1966.
8
Zentralrat der sozialistischen Kinderläden West-Berlin (1969: I).
F ORSCHUNGSSTAND
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zialistische Pädagogik.9 Im Bereich der Historischen Bildungsforschung erschienen Quelleneditionen zur Arbeiterbildung, die sich zum Teil, 10 aber auch ausschließlich auf sozialistische Autor*innen bezogen11 sowie Quelleneditionen zur Geschichte des Sozialismus, die sich zwar nicht vordergründig Pädagogik widmeten, aber auch Texte pädagogischer Provenienz enthielten. 12 Eine nicht vollständige, aber außerordentlich umfangreiche Bibliographie zur sozialistischen Pädagogik veröffentlichte der Zentralrat der sozialistischen Kinderläden WestBerlins 1969, allerdings mit einem starken Akzent auf marxistisch orientierter Klassenkampfbildung. Zur Bildungsdiskussion in der Sozialdemokratie liegen umfangreiche kommentierte Quellensammlungen vor; 13 darüber hinaus zu einzelnen Schwerpunkten, insbesondere zu den pädagogischen Vorstellungen Wilhelm Liebknechts (*1826, †1900)14 und August Bebels (*1840, †1913).15 Auch Monographien zu Spezialthemen, vor allem zur Bildungspolitik und -praxis der Freien Gewerkschaften und der SPD bzw. ihrer Vorläuferorganisationen sind erschienen.16 All diese Werke haben eine historische Perspektive und tragen nur am Rande zu systematischen Klärungen bei. Michael Vesters 1970 erschienene Entstehung des Proletariats als Lernprozess, bezieht sich leider nur auf die britischen Inseln und steht überdies im Schatten von Thompsons grundlegender Schrift The Making of the English Working Class.17 Vor allem im Kontext der Erwachsenenbildung finden sich Beiträge, die sich mit Theorie und Praxis der Arbeiterbildung und insbesondere der sozialistischen Arbeiterbildung beschäftigen. Hervorzuheben ist vor allem die von Josef Olbrich 1982 herausgegebene kommentierte Quellensammlung zur Arbeiterbildung nach dem Fall des Sozialistengesetzes. Hier steht aber – wie meist – die Arbeiterbildung im Fokus, nicht sozialistische Pädagogik. 18 Dementsprechend beginnen 9
Vgl. Gamm (1974: 113f.). Eine Ausnahme bildet Heydorn 1980.
10
Vgl. Feidel-Mertz 1968.
11
Vgl. Olbrich 1982.
12
Zum Frühsozialismus: Kool/Krause 1972a; 1972b; Ramm 1968.
13
Vgl. Olbrich 1982; Lesanowsky 2003, Uhlig 2006.
14
Vgl. Wendorff 1978; Brödel 2007.
15
Lesanowsky 2005.
16
Vgl. Werder 1974; Birker 1980; Faulstich 1987; Wollenberg 1991, Brösamle 1985.
17
Vgl. Vester 1970; Thompson 1968.
18
Vgl. Olbrich 1982. Pädagogische Praxis und Theorie, die sich unter der Bezeichnung ›Arbeiterbildung‹ an Arbeiter*innen richtete, gab es nicht nur mit einem sozialistischen Hintergrund, neben diesen existierten im 19. Jahrhundert nennenswerte liberale und christliche Arbeiterbildungsbestrebungen (vgl. dazu einführend: Grebing 1966).
34 | S OLIDARITÄT B ILDEN
auch Überblicksdarstellungen wie Die Geschichte der Arbeiterbildung erst 1848.19 Selten werden sozialistische Konzeptionen vor 1848 betrachtet, obwohl diese (wie später zu zeigen ist) wesentliche Elemente der späteren Theoreme vorformulierten. Beim Durchgang durch die Literatur wird deutlich, dass sich entweder (werk)biographische, personenorientierte Arbeiten oder historisch orientierte Überblicks- bzw. Spezialdarstellungen finden. Systematische Rekonstruktionen sozialistischer pädagogischer Konzepte finden sich nur fragmentarisch. Generell sind die Darstellungen geprägt von der Konfliktlinie »Klassenkampfbildung versus Volksbildung«20, die im Kontext des Revisionismusstreits innerhalb der Sozialdemokratie prägend war. Dabei wird eine Dichotomie suggeriert, die der Pluralität sozialistischer Konzepte nicht gerecht wird, sie mithin aus der historischen Erfahrung der Trennung von Sozialdemokratie und Kommunismus nach der Oktoberrevolution auf diese Trennung hin angelegt interpretiert. Für die Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs finden sich mehr und umfangreichere, auch systematisch orientierte Arbeiten. Dieser Zeitraum liegt jedoch außerhalb der gewählten Forschungsperspektive und soll deshalb hier außen vor bleiben. In der Deutschen Demokratischen Republik gab es naturgemäß eine umfangreichere Beschäftigung mit dem ›sozialistischen Erbe‹, die sich aber überwiegend am wissenschaftspolitischen Rahmen der marxistisch-leninistischen Staatsideologie zu orientieren hatte. Auslegungen sozialistischer pädagogischer Texte des 19. Jahrhunderts haben eine entsprechende Tendenz und werden im Hinblick auf eine marxistisch-leninistische Pädagogik interpretiert. Dennoch liegen gerade von hier Monographien21 und vor allem Quelleneditionen vor, die den Zugang zu Texten der sozialistischen Tradition wesentlich erleichtern. Dazu zählen die Dokumentenanhänge der Bände 1 und 2 der achtbändigen Geschichte der Deutschen Arbeiterbewegung bzw. der von Robert Alt herausgegebene Band Erziehung und Gesellschaft, Johannes Schenks und Hans Lemkes Reihe Dokumente zur Bildungspolitik und Pädagogik der deutschen Arbeiterbewegung und der Quellenband Zum Kulturprogramm des deutschen Proletariats im 19. Jahr19
Vgl. Bildungsvereinigung Arbeit und Leben Niedersachsen 1983. Dies gilt nicht nur für Überblicksdarstellungen, sondern, von wenigen Ausnahmen abgesehen, generell für die Beschäftigung mit der Arbeiterbildung bzw. sozialistischer Pädagogik. Mag dies sozialhistorisch mit der beginnenden Institutionalisierung der Arbeiterbildungsbestrebungen um die Revolution von 1848 erklärbar sein, so verengt diese Ausrich tung jedoch die Perspektive unnötig und nicht institutionalisierte Akteure und deren Ideen geraten aus dem Blick.
20
Habekost (1982: 22).
21
Vgl. Schäfers 1961; 1965.
F ORSCHUNGSSTAND
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hundert, die einige Quellentexte zugänglich machen.22 Jenseits der pädagogischen Forschung bietet Jürgen Kuczynskis in mehreren Bänden vorliegende Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus wertvolle Datensammlungen und Auswertungen, die vor allem sozialgeschichtlich von Interesse, aber auch zur Erschließung des Kontextes sozialistischer Theorieproduktion und für den kritischen Abgleich der in den Quelltexten genannten Daten relevant sind. Auf die von ihm zusammengetragenen Daten wird im Laufe der Arbeit gelegentlich zu verweisen sein.23 Nach dem Beitritt der DDR zur BRD endete die marxistisch-leninistisch geprägte Erziehungswissenschaft der DDR, womit auch die Auseinandersetzung mit den Traditionen sozialistischer Pädagogik mehr oder minder abbrach. Die (mal mehr mal weniger) kritische Aufarbeitung der sich sozialistisch nennenden Pädagogik in der DDR spielt für den Kontext dieser Arbeit keine Rolle. In aktuellen Nachschlage- und Überblickswerken finden sich, wenn überhaupt, nur kurze generalisierende Darstellungen oder Kommentierungen sozialistischer Pädagogik bzw. kurze Porträts einzelner Autor*innen oder Texte, keine des Zusammenhangs von Pädagogik und Solidarität. Auch in den Hauptwerken der Pädagogik findet sich unter den immerhin 182 ausgewählten Texten kein sozialistischer aus dem 19. Jahrhundert. 24 Im Register des Handbuchs Kritische Pädagogik findet sich Sozialismus im Register fünf Mal, ohne dass es aber eine zusammenhängende Darstellung gibt. 25 Auf diese verzichtet auch Blankertz’ Geschichte der Pädagogik. Lediglich zur »Herausforderung Marx«26 und zu sozialistischen Pädagogik zum Beginn des 20. Jahrhunderts27 finden sich einige Worte. Im Standardwerk von Reble fehlen solche ganz.28 In jüngster Zeit finden sich wieder vereinzelte Publikationen. Auch wenn ›sozialistisch‹ zuweilen wieder auftaucht, so in dem von Janek Niggemann herausgegebenen Band Emanzipatorisch, sozialistisch, kritisch, links? Zum Verhältnis von (politischer) Bildung und Befreiung, bleibt eine nähere Bestimmung sowohl dessen, was unter sozialistisch zu verstehen ist als auch was unter einer sozialistischen Pädagogik zu firmieren hat, aus. 29 Der Übersichtsartikel Sozialis22
Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED 1966ff.; Alt 1960; Schenk/Lemke 1982-1985; Barth 1978.
23
Vgl. Kuczynski 1954a; 1954b.
24
Vgl. Böhm/Fuchs/Seichter 2011.
25
Vgl. Bernhard/Rothermel 2001.
26
Blankertz (2011: 186-193).
27
Vgl. ebd.: 295-304.
28
Vgl. Reble 2009.
29
Vgl. Niggemann 2012.
36 | S OLIDARITÄT B ILDEN
tische Pädagogik von Kuhlmann beschränkt sich auf eine breitere Darstellung der Ansätze Makarenkos und Bernfelds, verweist aber in keiner Weise auf sozialistische Pädagog*innen des 19. Jahrhunderts. Eine systematische Bestimmung dessen, was sozialistische Pädagogik sei, bleibt offen. 30 Auch die Aufsätze Pädagogische Konzepte im frühsozialistischen Diskurs31 und Otto Felix Kanitz – Sozialistische Erziehung auf individualpsychologischer Grundlage32 im von Ulrich Klemm, Hans-Ulrich Grunder, Maurice Schuhmann und Armin Bernhard 2013 herausgegebenen Band Freiheitliche Pädagogik. Bildung und Erziehung in frühsozialistischen, libertären und reformpädagogischen Kontexten will zwar diese marginalisierten Perspektiven wieder in die Diskussion bringen, bietet jedoch bezüglich sozialistischer Pädagogik nicht mehr als die Wiedergabe des bis in die 1980er Jahre erreichten Forschungsstandes. 33
3.2 S OLIDARITÄT
UND ( SOZIALISTISCHE )
P ÄDAGOGIK
Anders als beim Schmuddelkind ›Sozialismus‹ handelt es sich bei ›Solidarität‹ zwar um einen marginalisierten, aber nicht tabuisierten Begriff. Im Feld der politischen Bildung wird ›Solidarität‹ gar als »Klassiker« 34 bezeichnet. Auch darüber hinaus findet sich ›Solidarität‹ öfter in diversen Kanons von Bildungs- und Erziehungszielen.35 ›Solidarität‹ erscheint dort als Tugend, der pädagogische Funktion im schulischen Lernprozess zukommt. 36 Andere sehen in einer »Erziehung zur Autonomie und Solidarität« 37 ein Mittel zur Überwindung von Vereinzelung. Generell wirkt der Solidaritätsbegriff in diesen Katalogen aufgesetzt und 30
Vgl. Kuhlmann 2013.
31
Vgl. Schuhmann 2013.
32
Vgl. Bernhard 2013.
33
Vgl. Klemm/Grunder/Schuhmann/Bernhard 2013.
34
Reinhard (2000: 288). ›Solidarität‹ führt jedoch, verglichen mit dem Emanzipationsbegriff, ein Schattendasein in der Debatte. ›Emanzipatorische Bildung‹ scheint ein konsensfähigerer Begriff zu sein. Dies könnte als Indiz für die individualistische Ausrichtung aktueller Theorieprojekte gedeutet werden. So formuliert selbst Bernhard (2011) lediglich Mündigkeit und Widerstandsfähigkeit als Grundkategorien pädagogischer Zielvorstellungen (243ff.), Solidarität nicht. Inwiefern sich unter dem Eindruck der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung eine Diskursverschiebung abzuzeichnen beginnt, wird sich zeigen.
35
So bei Richter 1974 oder Klafki 1999.
36
Gamm (1988: 95).
37
Ludwig (1991: 336).
F ORSCHUNGSSTAND
| 37
wenig bis nicht systematisch-pädagogisch begründet. Überhaupt scheint in der Erziehungswissenschaft der Bedarf an einer systematischen Klärung des Solidaritätsbegriffs und seines Verhältnisses zur Gesellschaftlichkeit des Menschen wenig ausgeprägt. Anders als in ihren Nachbardisziplinen Soziologie, Politikwissenschaft oder Rechtswissenschaft38 sind in den letzten Jahren keine grundlegenden Auseinandersetzungen über den Begriff geführt wurden. Die letzte Diskussion des Stellenwertes von ›Solidarität‹ für Pädagogik fand im Umfeld der von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft veranstalteten Konferenz Bildung und Solidarität im Dezember 1995 statt, deren Ergebnisse in einem Beiheft von Die Deutsche Schule dokumentiert sind.39 Vor allem die Beiträge von Dieter Wunder, der die Schwierigkeiten einer ›Bildung zur Solidarität‹ in einer individualisierten Gesellschaft problematisiert und von Jörg Schlömerkemper, der sich tatsächlich in systematischer Hinsicht mit dem Zusammenhang von Bildung, Gesellschaft und Solidarität befasst, bringen wichtige Aspekte zur Sprache, ohne diese jedoch in einen Zusammenhang mit Konzepten sozialistischer Pädagogik zu bringen.40 Der 2012 vom Institut Solidarische Moderne herausgegebene Band Solidarische Bildung. Crossover: Experimente selbstorganisierter Wissensproduktion trägt hingegen, trotz seines vielversprechenden Titels, weder zu einer systematischen Klärung der einzelnen Begriffe, noch zu deren Verhältnis etwas bei.41 Im schon zitierten Register des Handbuchs Kritische Pädagogik taucht ›Solidarität‹ nur einmal auf; es wird auf einen Artikel von Andreas Gruschka zur Schulpädagogik verwiesen, in dem ›Solidarität‹ lediglich im Kontext einer Kritik der bürgerlichen Normen in der Schule thematisiert wird. 42 Ein konstruktiver Beitrag des Begriffs wird nicht thematisiert. Aber auch jenseits der Pädagogik gibt es zum Solidaritätsbegriff nur eine »spärliche Literatur.«43 Klaus Christophs mit einer Dokumentensammlung versehener Essay legt differenziert die vielschichtigen Konnotationen des Begriffs frei, und bezieht sich dabei auf die sozialistische Arbeiterbewegung, aber nicht auf Pädagogik.44 Die Geschichtlichen Grundbegriffe gehen auf ›Solidarität‹ ein, stellen jedoch keinen Zusammenhang mit Pädagogik her. 45 Auch der umfang38
Vgl. Tranow 2007; Kneuer/Masala 2015a; Hruschka/Joerden 2014.
39
Vgl. GEW 1997.
40
Vgl. Wunder 1997; Schlömerkemper 1997.
41
Vgl. Angermüller/Buckel/Rodrian-Pfennig 2012.
42
Gruschka (2001: 266).
43
Kneuer/Masala (2015b: 7).
44
Vgl. Christoph 1979.
45
Vgl. Schieder 1972.
38 | S OLIDARITÄT B ILDEN
und kenntnissreiche Sammelband Solidarität. Begriff und Problem nimmt keine explizit pädagogischen Sachverhalte auf. 46 Zwar gab es auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahr 2014 ein Panel mit dem Titel Die (Neu)Entdeckung von Gemeinschaft und Solidarität – Ideologie, Kritik und Kontroversen 47, jedoch ohne, dass hier ein produktives Potential des Solidaritätsbegriffs für pädagogische Theoriebildung in Betracht gezogen wurde.48 Auf dem Folgekongress im Frühjahr 2016 hingegen gab es immerhin einen Vortrag im Rahmen eines Forschungsforums, der sich mit der Frage nach Konzepten ›sozialistischer Solidarität‹ beschäftigte, allerdings mit Fokus auf die DDR. 49 Eine differenzierte Diskussion des Solidaritätsbegriffs stand auch in der DDR-Pädagogik aus. ›Solidarität‹ wurde gemeinhin auf ›sozialistischen Patriotismus‹ oder ›sozialistischen Internationalismus‹ verkürzt. Im Philosophischen Wörterbuch verweist man unter dem Schlagwort ›Solidarität‹ ausschließlich auf »sozialistischen Internationalismus« 50.
3.3 F ORSCHUNGSBEITRAG Eine systematische Analyse der Verhältnisse, die Solidarität, Gemeinschaft und Pädagogik in der Geschichte der Pädagogik generell – und der sozialistischen Pädagogik speziell – zueinander einnehmen, steht aus. Dieses Desiderat soll in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen und bearbeitet werden. Dabei verspreche ich mir nicht nur neue inhaltliche Erkenntnisse über die in Frage stehenden Sachverhalte, sondern habe auch den Anspruch, mich in methodischer Hinsicht, nämlich hermeneutisch-systematisch, dem Forschungsgegenstand in einer zwar traditionellen, aber auf ihn bisher nicht angewandten Form zu nähern. Dies verspricht auch qualitativ neue Erkenntnisse hervorzubringen, die unter den bisher überwiegend historisch ausgerichteten Arbeiten ausgeblendet wurden. 46
Vgl. Bayertz 1998.
47
DGfE (2014: 134).
48
Unter dem Eindruck des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit der Entwicklung der Migration nach Deutschland hat eine große Gruppe von Erziehungswissenschaftler*innen Ende des Jahres 2015 einen programmatischen Entwurf unter dem Titel Für solidarische Bildung in der globalen Migrationsgesellschaft veröffentlicht, in dem bildungs- und wissenschaftspolitische Forderungen aufgestellt werden (Netzwerk rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg 2015).
49
DGfE (2016: 76).
50
Klaus/Buhr (1975: 1110).
Teil A Rekonstruktionen und Interpretationen
4. Brüderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (Franz Heinrich Ziegenhagen)
4.1 A UTOR
UND
T EXT
Franz Heinrich Ziegenhagen wurde am 8. Dezember 1753 in Straßburg geboren. 1 Sein Vater engagierte den pietistischen Geistlichen Johann Friedrich Oberlin als Hauslehrer. Auch wenn dieser nur drei Jahre im Haus blieb, soll er einen nachhaltigen Einfluss auf Ziegenhagen ausgeübt haben und beide blieben bis ans Lebensende Ziegenhagens in Kontakt. Ziegenhagen ließ sich in den 1770er Jahren als Kaufmann in Hamburg nieder, wo er sich neben seiner erfolgreichen kaufmännischen Tätigkeit ab 1775 in einer Freimaurerloge engagierte. 2 Vom gewerblichen Leben wenig erfüllt und von den Idealen der Aufklärung beseelt suchte sich Ziegenhagen im Politischen und Pädagogischen zu verwirklichen. Allerdings war er hier weniger erfolgreich. Seine kurze Tätigkeit am Dessauer Philanthropin3 endete kläglich, auch wenn er erste pädagogische Erfahrungen sammelte, die ihn wohl in seinen Anstrengungen, eine eigene pädagogische Kolonie zu gründen, bestärkten. Ziegenhagen entwickelte seine Ideen in einer Zeit, zu der in Deutschland bestenfalls die Anfänge einer kapitalistischen Entwicklung zu beobachten waren. Seine Perspektive wurde daher nicht so sehr durch die Industrie geprägt, wie die späterer Sozialist*innen, sondern durch die Kritik an materieller Ungleichheit überhaupt sowie einer radikalen, aufklärerischen Weltanschauung, die sich insbesondere an der Religion abarbeitete. In der Folge der Französischen Revolution scheint sich seine philanthropische Gesinnung radikalisiert zu haben und seine Bemühungen, ein eigenes Erziehungsinstitut zu gründen, verstärkten sich. Motiviert von der Revolution konzentrierte Zie1
Die biographischen Informationen dieses Abschnitts bauen auf den Monographien Steiners (1962) und Richters (2003) auf.
2
Vgl. Richter (2003: 221-241).
3
Zu Ziegenhagens Zeit in Dessau vgl. Niedermeier 2008; Richter (2003: 57-64).
42 | S OLIDARITÄT B ILDEN
genhagen sein agitatorisches Wirken schwerpunktmäßig auf Frankreich. So sandte er im Oktober 1792 politische und pädagogische Reformvorschläge an den Nationalkonvent.4 Auf Resonanz stieß er nicht. Nach weiteren erfolglosen sozialreformatorischen Versuchen, insbesondere zur Gründung einer Erziehungskolonie, nahm er sich, verarmt, 1806 das Leben. Bei dem der Interpretation zugrunde liegenden Text handelt es sich um die erste Auflage der Lehre vom richtigen Verhaeltnisse zu den Schoepfungswerken, und die durch oeffentliche Einfuehrung derselben zu bewuerkende algemeine Menschenbegluekkung. Herausgegeben von F. H. Ziegenhagen, 1792, In Hamburg zu finden bei dem Herausgeber (im Folgenden mit Verhältnislehre abgekürzt). Der Druck dieser ersten Auflage wird von Steiner auf das Ende des Jahres 1791 datiert.5 Es folgten zwei weitere Auflagen (1793 und 1799). Eine Kurzfassung des Werks erschien 1793 unter dem Titel Jede Kirche, jede Schule müste ein Hörsaal der Wissenschaften, Künste und Handwerke seyn. Ziegenhagen war bedacht, sein Werk multimedial auszugestalten. Zahlreiche Abbildungen aus der Werkstatt Daniel Chodowieckis illustrieren Ziegenhagens Kritik an den herrschenden Verhältnissen und seine alternativen Vorstellungen. 6 Ein weiteres – musikalisches – Element, mit dem die Verhältnislehre gestaltete ist, besteht in einer Hymne, die bei den Versammlungen in der Kolonie gesungen werden sollte. Dem Text dieser Hymne fügte er eine eigens in Auftrag gegebene Komposition Wolfgang Amadeus Mozarts bei. Schon zu Lebzeiten wurde Ziegenhagen und seiner Verhältnislehre nicht die Popularität und Wirkung zu Teil, nach der er strebte.7 Dennoch weckten seine Ideen die wachsamen Augen der Zensur und die kursächsische Regierung verbot seine Schriften. Ihr Versuch selbiges auch in der republikanisch verfassten Hansestadt Hamburg zu erwirken, scheiterte am dortigen Senat.8 Die Aufnahme der Verhältnislehre in der Öffentlichkeit, war kühl. Immerhin findet sich eine von Ernst Christian Trapp verfasste Rezension, die 1793 in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek erschien, die sich aber von den radikalen Vorstellungen Ziegenhagens distanzierte. 9 4
Der Wortlaut seiner Eingaben und die entsprechenden archivarischen Angaben: Steiner (1962: 205-222).
5
Steiner (1962: 201; 222).
6
Chodowiecki war in den Kreisen aufgeklärter Schriftsteller ein gefragter Künstler und illustrierte eine Vielzahl ihrer Bücher, nicht zuletzt Johann Bernhard Basedows Elementarwerk von 1774 (vgl. Herrmann 2005: 106). Zu den Illustrationen Chodowieckis in Ziegenhagens Werk vgl. Hühns 1976.
7
Vgl. Steiner (1962: 231).
8
Vgl. Steiner (1962: 238f.; 246).
9
Vgl. ebd.: 226; vgl. Trapp 1793.
B RÜDERLICHKEIT
UND
V ERHÄLTNISMÄSSIGKEIT (F RANZ H EINRICH Z IEGENHAGEN )
| 43
Nach seinem Ableben schien Ziegenhagen in Vergessenheit geraten zu sein. Weder bürgerliche Sozialreformator*innen, noch Sozialist*innen bezogen sich auf ihn. Während Fourier, Saint-Simon oder Owen zu den Gründervätern des modernen Sozialismus gezählt werden, spielen die Schriften und praktischen Versuche Ziegenhagens in der sozialistischen Ideengeschichte nahezu keine Rolle. Erst 1953 erschien in der UdSSR ein Artikel über ihn, 10 der 1958 eine Studie in der DDR inspirierte.11 Die erste umfangreiche und ausführliche Erschließung und Aufarbeitung von Leben und Werk Ziegenhagens wurde 1962 von Gerhard Steiner vorgelegt. Die von ihm beabsichtigte Anregung »zu weiterführenden Arbeiten über Ziegenhagens Stellung innerhalb der Entwicklung der deutschen Ökonomiegeschichte, Philosophie, Pädagogik und Publizistik« 12 blieb ebenso wenig beachtet, wie die ähnliche Intention, mit der Gernot Koneffke 1975 das Hauptwerk Ziegenhagens neu herausgab. In den 1980ern erschien eine Dissertation zu Ziegenhagen, allerdings ohne pädagogischen Bezug. 13 Erst Barbara Richter legt mit ihrer 2003 erschienen Promotionsschrift eine auf der Arbeit Steiners aufbauende umfassende historische Studie zu Ziegenhagen vor, die vor allem seiner Verortung in der Tradition der Aufklärung gewidmet ist. Richter befasst sich darin auch mit Ziegenhagens pädagogischen Ansichten, ohne aber auf den im Folgenden zu entfaltenden Zusammenhang von Pädagogik, Gemeinschaftlichkeit und ›Brüderlichkeit‹ einzugehen. Die Verortung der Verhältnislehre als der Tradition sozialistischen Denkens zugehörig ist umstritten. Es ist Richter in ihrer Kritik Recht zu geben, die Ein ordnung Ziegenhagens in verschiedene ideologische Traditionen erscheine beliebig. So wird er von Ruth Müller, Gerhard Steiner oder Heinz-Joachim Heydorn als Sozialist14 interpretiert. Für andere ist Ziegenhagen ein Repräsentant des Liberalismus15 und Regina Wittwer sieht in ihm einen Begründer ökologischen Denkens.16 Sicherlich finden sich für jede dieser Verortungen Argumente. Im Rahmen dieser Arbeit soll der Text als sozialistischer gelten, denn er erfüllt die Eingangs aufgestellten Kriterien: Der Verhältnislehre liegt eine Analyse zugrunde, die von einer in Arme und Reiche gespaltenen Gesellschaft ausgeht. Sodann begründet die Argumentation die Notwendigkeit der Überwindung dieser Spaltung. Die Ursachen der Spaltung der Gesellschaft werden sowohl mit der ökono10
Die deutsche Übersetzung erschien ein Jahr später: Moschkowskaja 1954.
11
Vgl. Müller 1958.
12
Steiner (1962: 10).
13
Vgl. Wittwer 1988.
14
Müller (1958; 1962); Steiner (1962: 176f; 180); Heydorn (1970: 89).
15
Ausführlich zur entsprechenden Rezeption: Richter (2003: 24-27).
16
Vgl. Wittwer 1988.
44 | S OLIDARITÄT B ILDEN
mischen als auch in der politisch-ideologischen Struktur der Gesellschaft identifiziert. Als wichtiges Mittel der Aufhebung der Friktion wird eine auf reformatorischem Wege zu errichtende und auf Gemeineigentum beruhende Wirtschaftsform gesehen. Einer pädagogischen Interpretation öffnet sich der Text, indem sich sowohl die Frage nach einem Menschenbild beantworten lässt, das den Menschen als lernfähig und erziehungsbedürftig ausweist als auch methodische Überlegungen zur Gestaltung von Lernverhältnissen deutlich werden lässt. Auch die Festlegung von Zielen dieser Lernsteuerung lassen sich finden. Diese Überlegungen finden in der Verhältnislehre mit Bezug auf das Soziale bzw. Gemeinschaftliche statt. Daher bietet sich der Text für eine Interpretation im Hinblick auf unsere Fragestellung an. Des weiteren handelt es sich um einen Text, der im langen 19. Jahrhundert entstanden ist und das Wort ›Brüderlichkeit‹ verwendet.
4.2 Ü BERBLICK Die rudimentäre Wirkungsgeschichte der Verhältnislehre wurde einleitend skizziert, was aber war die Wirkungsabsicht, welche Ziegenhagen mit der Publikation verband? Unter der Überschrift »Zweck der Schrift« schreibt er: »Teils soll sie weise Fuersten und aufgeklaerte Universitaeten zur Einfuerung der Verhaeltnislehre bewegen, welche – wie der Verfasser durch beherzigenswerte Gruende beweist – unverkennbare Vorzuege vor den gewoenlichen Religionen behauptet. Teils aber auch soll sie mir die Bekanntschaft solcher Eltern verschaffen, welche ihre Kinder – und zwar Soene von acht bis neun und Toechter von sechs oder sieben Jahren – zur Landwirtschaft und ueberhaupt zu einem solchen kolonistischen Zirkel bestimmen wolten, wie er S. 90-338 beschrieben ist, und den ich in der Naehe von Strasburg zu errichten wuensche.«17
Zwei Ziele also verfolgt Ziegenhagen: Die politisch Mächtigen davon zu überzeugen, dass das von ihm beschriebene System der bestehenden Weltanschauung und Gesellschaft überlegen ist und von ihnen eingeführt werden solle, 18 und El17
Ziegenhagen (1792: o.S.).
18
Damit reiht sich Ziegenhagens Schrift in eine Tradition aufklärerisch-pädagogischer Texte ein, die sich an mächtige oder wohlhabende Männer richten, in der Hoffnung, von ihnen Unterstützung für die Einrichtung pädagogischer Mustereinrichtungen zu erhalten. Nicht zuletzt dürfe Ziegenhagen sich dabei von Schriften wie Basedows 1768 erschienene Vorstellung an Menschenfreunde und vermögende Männer über
B RÜDERLICHKEIT
UND
V ERHÄLTNISMÄSSIGKEIT (F RANZ H EINRICH Z IEGENHAGEN )
| 45
tern zu gewinnen, ihre Kinder in eine noch zu gründende, prototypische Kolonie zu geben, in der eine Gesellschaft, wie sie Ziegenhagen vorschwebt, zu errichten ist. Der Text hat einen appelativen Charakter und ist auf ein Publikum gerichtet, das der gesellschaftlichen Elite zuzurechnen ist.19 Das Werk gliederte sich in zwei Abteilungen. Während in der ersten eine Analyse der bestehenden Gesellschaft und des Weges hin zu einer ›besseren‹ beschrieben wird, illustriert der zweite Teil anhand historischer Beispiele die Fehler der herrschenden und die Notwendigkeit einer anderen Gesellschaft, wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf die Kritik des katholischen Christentums und der organisierten Religionen überhaupt legt. Ziegenhagens Ziel ist es, durch zahlreiche Beispiele zu belegen, dass »dieses menschenfressende Ungeheuer, religio; mit seinen begleitenden, herzvergiftenden Furien: Nazionalhas und Volkspatriotismus«20 abzuschaffen sei. Für die Rekonstruktion der Systematik Ziegenhagens ist nur der erste Teil der Schrift relevant, da der zweite gegenüber dem ersten keine weiteren systematischen Argumente oder Einsichten enthält. Im ersten Abschnitt des Buches analysiert Ziegenhagen die Fehler der herrschenden Gesellschaftsformation und die aus diesen folgenden Probleme für den Menschen. Generell geht Ziegenhagen davon aus, alles in der Welt sei ›verhältnismäßig‹ eingerichtet: Alles stehe in Beziehung zueinander, und bedürfe einer bestimmten Ausgestaltung dieser Beziehung. Nur durch die ›richtige‹ Einrichtung der Verhältnisse untereinander könne wirkliches Glück erfahren werden. Während die leblose und lebendige, nicht-menschliche Welt schon in den richtigen Verhältnissen sei, wäre dies beim Menschen nicht der Fall. Er sei, obwohl zum Erkennen der richtigen Verhältnisse begabt, noch immer in Aberglauben und Fehlurteilen befangen, die ihn vom »richtigen Verhaeltnis zu den Schoepfungswerken« abhalten, und somit auch von seinem Glück. Nur durch das Erkennen und die diesem folgende Einrichtung ›verhältnismäßiger‹ Beziehungen des Menschen zur Welt, zu anderen Menschen und der verhältnismäßigen AusSchulen, Studien und ihren Einfluss auf die öffentliche Wohlfahrt inspiriert haben lassen. 19
Denn er adressiert nicht nur die politisch Mächtigen, sondern auch die ökonomisch Potenten: Seine Zielgruppe unter den Eltern, sind »begueterte und aufgeklaerte Eltern« (Ziegenhagen 1792: 92). Diese benötigt Ziegenhagen auch, um seine kostspielige Erziehungskolonie aufbauen zu können. Dabei wird ein ähnliches Anliegen deutlich, wie es wenig später in den Texten und Aktivitäten Robert Owens und Charles Fouriers zu erkennen sein wird: Mit Hilfe der Vernunft sollen Reiche und Mächtige überzeugt werden, zur Besserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beizutragen.
20
Ziegenhagen (1792: 628f.).
46 | S OLIDARITÄT B ILDEN
bildung seiner eigenen Anlagen könne das Glück erreicht werden. Da eine derartige Einrichtung der Gesellschaft aber nicht plötzlich zu bewerkstelligen sei, ist für Ziegenhagen die Gründung von Kolonien nötig, in denen ein neues Lebensund Erziehungsmodell praktiziert wird, das die Menschen befähigt, verhältnismäßig zu leben und folglich glücklich zu werden. Durch die Verbreitung dieser Kolonien könne schrittweise die ganze Menschheit in den Zustand der Verhältnismäßigkeit und damit des Glückes gebracht werden. Diese geraffte Darstellung der Verhältnislehre soll für eine erste Orientierung im Werk genügen. Der Schwerpunkt der folgenden, detaillierteren Darstellung wird nun auf den Zusammenhang von Gemeinschaft, ›Brüderlichkeit‹ und Pädagogik gelegt. Dafür sind einige begriffliche Vorarbeiten notwendig.
4.3 V ORAUSSETZUNGEN 4.3.1 Menschenbild 4.3.1.1 Glück als Ziel des Menschen Die grundlegende Prämisse des Menschenbilds Ziegenhagens ist die Bestimmung des Menschen zum Glück: »Gluek – immer volkomnere, dauerhaftere Freude und Zufriedenheit, ist das Ziel aller Wuensche und Bemuehungen des Menschen; dies sucht der Reiche in seinem Pallaste, dies der Arme in seiner Huette! – Der Trieb nach Gluek bleibt in allen Lagen des Lebens unerschuettert. Durch ihn verloescht der starke Trieb zum geselligen Umgange, sobald man in demselben den Gegenstand seiner Freude vermisst; selbst der noch staerkere Trieb zum Leben verschwindet, wenn man sich dasselbe als Ungluek, denkt. – Gluek sucht der Mensch nicht nur auf dieser Erde, es ist auch eines Jeden sehnsuchtsvollste Erwartung jenseits des Grabens.«21 21
Ziegenhagen (1792: 1). Mit dieser Zielbestimmung befindet sich Ziegenhagen im Geist der Zeit: 1776 wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika das Recht auf Glück, ›the persuit of happiness‹, erstmals in einem Verfassungsdokument als Staatszweck formuliert. Zwar waren die Potentaten im Europa jener Zeit von derartigen Aussagen weit entfernt; doch der Anspruch des Menschen auf Glück war ein tragender Gedanken der Pädagogik der Aufklärung. So sah Basedow als eine der Aufgaben von Erziehung, Kinder zu einem »glückseligen Leben vorzubereiten« (Basedow 1880: 40, zit. nach: Burow 2011: 2). Auch Ernst Christian Trapp, der erste Inha ber eines Lehrstuhls für Pädagogik in Deutschland, fasst das Ziel von Erziehung kurzerhand so zusammen: »Erziehung ist Bildung des Menschen zur Glückselig-
B RÜDERLICHKEIT
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V ERHÄLTNISMÄSSIGKEIT (F RANZ H EINRICH Z IEGENHAGEN )
| 47
Glück wird nicht als statischer Zustand gefasst, der irgendwann erreicht ist und sich dann erfüllt; vielmehr sei Glück ein Prozess, der darin bestehe, »immer volkomnere, dauerhaftere Freude und Zufriedenheit« zu empfinden. Glück als Dynamik einer steten Vervollkommnung und Perfektion. Dieses Streben präge alle anderen Bedürfnisse des Menschen und verwiese selbst den Überlebens- und den Geselligkeitstrieb auf die Plätze. Glück sei nicht nur das Ziel des Menschen in seinem Leben (»auf dieser Erde«), sondern auch das, was er nach dem Tod (»jenseits des Grabens«) zu erwarten hoffe. Glück, dieses starke Motiv, auf das Ziegenhagens Entwurf ausgerichtet scheint, ist auf den ersten Blick der Drehund Angelpunkt seiner Theorie. Die Bestimmung des Menschen zum Glück leitet sich für Ziegenhagen aus der göttlichen Natur des Menschen ab. Gott wird als gut und vollkommen gedacht und daher müssten auch die Menschen ihrer Bestimmung nach gut und vollkommen sein: »Dein [Gottes, R.P.] Wesen ist selbst verhaeltnismaeßig heilig und gut, und so schufest du auch die Anlagen des Koerpers und der Seele des Menschen rein und fehlerfrei!«22 In dieser kurzen Passage treten zwei Kernmerkmale der in der Verhältnislehre vertretenen Philosophie zutage: Erstens eine optimistische Anthropologie, die davon ausgeht, dass der Mensch potentiell gut ist; zweitens die Idee einer verhältnismäßigen Einrichtung der Welt. Verhältnismäßig meint an dieser, auf die Gottesnatur bezogenen Stelle, in einem Verhältnis bzw. in einer Beziehung stehend. Nicht nur Gott sei ein solches Verhältniswesen, sondern die gesamte Welt sei verhältnismäßig – miteinander in Beziehung stehend – eingerichtet. Demzufolge sei auch der Mensch ein Verhältniswesen. 4.3.1.2 Der Mensch als Verhältniswesen Ziegenhagen geht davon aus, der Mensch sei von Gott mit Anlagen begabt wor den. Diese Anlagen fasst er als Kräfte auf, die in Verhältnissen zueinander stehen: »Die ganze Taetigkeit des Menschen beruht auf seinen Koerper- und Seelenkraeften. Diese wuerken sowol auf einander selbst, als auf die leblose und lebendige Schoepfung umher; sind aber ihrem gegenseitigen Einflusse hinwiederum ausgesezzt.«23 Der Mensch wird nicht als Monade, sondern als mit seiner Umwelt in Beziehung stehendes Wesen konzipiert. Dieser Beziehungscharakter des Menschen wird für den zu rekonstruierenden Zusammenhang zwischen Gesellschaft, ›Brüderlichkeit‹ und Pädagogik eine zentrale Rolle spielen. Die geistigen und körperlichen Kräfte seien die beiden inneren Anlagen, die die Natur des keit.« (Trapp [1780] 1977: 33) Ob die genannten Autoren und Ziegenhagen das glei che unter ›Glück‹ verstehe, muss hier dahin gestellt bleiben. 22
Ebd.: 66f.
23
Ebd.: 2.
48 | S OLIDARITÄT B ILDEN
Menschen prägten. In ihnen gründe seine gesamte Tätigkeit; sie stünden miteinander in Wechselwirkung, aber auch mit der außerhalb ihrer selbst bestehenden Umwelt. Ziegenhagen umgeht die Gefahr eines deterministischen Menschenbildes, indem nur diese inneren Anlagen und ihr Wechselspiel mit der Umwelt die Entwicklung des Menschen bestimmen würde. Dafür führt er das Motiv der Freiheit ein: »Die Faehigkeiten und Kraefte des Menschen lassen sich nach Gutbefinden ordnen, und nach Wilkuehr gebrauchen. Diese bewaehren die guten Folgen einer richtigen und natuerlichen, und die ueblen einer unrichtigen und erkuenstelten ersten menschlichen Ausbil dung; dies der auffallende Unterschied zwischen dem Menschen, der mit Gelegenheit zum Guten eigenen Fleiß verbinden konnte, und einem Andern, der Beides entbehren muste.« 24
Mit dieser Möglichkeit der willkürlichen, also freien, von menschlichen Willensakten abhängigen Ordnung der Kräfte scheint ein pädagogisches Problem auf. Es deutet sich bereits an, welche Rolle der Modus und der Inhalt der Pädagogik auf die Formung der menschlichen Kräfte haben: Für Ziegenhagen gibt es zwei Möglichkeiten der »Ausbildung«: die »natuerliche« oder die »erkuenstelte«. Beide hätten unterschiedliche Folgen, die erste hat gute, die zweite schlechte. Nicht nur aber die pädagogische Beeinflussung des Menschen, sondern auch die entsprechenden Gelegenheiten oder Bedingung zur richtigen Ausbildung der Fähigkeiten und Kräfte braucht es, und – hier kommt eine subjektive Komponente ins Spiel: Fleiß, also die Mühsal eigener konzentrierter Lernanstrengungen. Darauf wird später ausführlicher einzugehen sein. Wichtiger ist es, an dieser Stelle das Augenmerk darauf zu legen, dass dem Menschen die Möglichkeit zugeschrieben wird, in Freiheit zwischen Alternativen des Handelns zu wählen und ihn damit von der restlichen belebten und unbelebten Natur kategorial unterscheidet: »Die Kraefte der uebrigen Schoepfung, des Feuers, und der Luft, des Wassers und der Erde, der Tiere, Pflanzen und Mineralien, wuerken nach nohtwendig bestimmten, unumstoeslichen Gesezzen der Ordnung und des richtigen Verhaeltnisses unwandelbar fort.«25 Der Unterschied zwischen Mensch und der »uebrigen Schoepfung«: Fähigkeit zum freien Willensakt auf der einen, mechanische Prozesse und Gesetze auf der anderen Seite. Für den Mensch folgt daraus ein Dilemma: »Richtigverhaeltnismaeßig, unabaenderlich, und daher begluekkend sind also die Wuerkungen der sich selbst ueberlassenen vernunft- und leblosen Schoepfung; frei, wilkuerlich, wandelbar, und daher oft unverhaeltnismaeßig und unbegluek-
24
Ebd.
25
Ziegenhagen (1792: 2f.).
B RÜDERLICHKEIT
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| 49
kend sind die Handlungen des vernuenftigen Menschen.« 26 Es scheint an dieser Stelle eine für die weitere Interpretation zentrale Feststellung auf: Glück folge aus einer naturgerechten, vernünftigen Handlungsweise, einer »richtigverhaeltnismaeßigen« Lebensführung. Glück erscheint nun für die Systematik nicht mehr so zentral, wie es nach dem oben geschriebenen zu erwarten gewesen wäre, zumal es auch nur schwach begründet wird. Statt dessen wird die Notwendigkeit eines verhältnismäßigen Lebens ausführlicher und umfangreicher begründet, was ihr die zentrale Stellung im Theoriegebäude Ziegenhagens zuweist: Glück ist verhältnismäßiges Leben. Es folgt ein Ausblick auf die aus dieser Perspektive zu entwickelnde ›richtige‹ Form der Erziehung und des menschlichen Handelns: »Wenn er also wahres, dauerhaftes Gluekk geniessen will, so muß er seine Handlungen nach den nur einzig begluekkenden, aber unwandelbaren Gesezzen der Schoepfung richten, weil diese sich nimmermehr nach ihm bequemen werden, und sich durch seine Fae higkeiten und Kraefte in das richtige Verhaeltnis und in die genaue Uebereinstimmung aller seiner Kraefte unter einander selbst, mit den Kraeften anderer Menschen, und mit der uebrigen ihn umgebenden Schoepfung selbsttaetig sezzen. Dies ist die weise Absicht des guetigen Schoepfers der Menschen, nach welcher er sie zu sinnlichvernuenftigfreien Wesen schuf; dies der große Vorzug, mit welchem er sie vor andern Erdgeschoepfen begabte; dies der wahre Wuerkungskrais ihrer Faehigkeiten und Kraefte!«27
Die nicht-menschliche Natur ist, weil vernunftlos, schon immer im richtigen Verhältnis mit dem Rest der Schöpfung. Der Mensch ist es potentiell, muss sich aber bei Gefahr des Scheiterns, seine Vernunft nutzend, erst das Glück erarbeiten. Richtiges Verhältnis zu sich und dem Rest der Welt sei ihm Aufgabe, die er zu bewältigen habe. Der Mensch wird Schöpfer seiner Selbst (»genaue Uebereinstimmung aller seiner Kraefte unter einander selbst«), seiner Gesellschaft (»mit den Kraeften anderer Menschen«) und der Welt, in der er lebt (»und mit der uebrigen ihn umgebenden Schoepfung«). Diese drei Elemente: Mensch – Gesellschaft – Umwelt werden im Weiteren noch ihre Bedeutung als Ebenen pädagogischen Wirkens erlangen. 4.3.1.3 Der Mensch als vernünftiges und lernendes Wesen Die Selbstschöpfung, die dem Menschen allein auferlegt und aufgegeben ist, und damit seine Würde vor den anderen Dingen und Wesen der Erde ausmacht, weist 26
Ebd.: 5.
27
Ebd.: 5f.
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auf die Möglichkeit und die Notwendigkeit, zu lernen. Denn auch wenn dem Menschen ein Kräftevermögen gegeben sei, so sei dieses weitgehend unbestimmt, und müsse durch Lernprozesse erst seiner Bestimmung zugeführt werden: »In der vernuenftigen Seele des Menschen ist jeder Trieb wilkuerlich und unbestimmt, und so auch der Trieb zum Gluekk’. Er wird zwar zum Streben nach dauerhaftem Wolseyn und Vergnuegen den Folgen des wahren Gluekks, instinktmaeßig getrieben; aber nicht eben so unwiderstehlich zum wahren Gegenstande dieses Strebens und zu den richtigen Mitteln, die ihm denselben verschaffen, hingefuehrt. Vielmehr mit vernuenftiger Freiheit ihn zu begaben, die Bestimmung des richtigen Gegenstandes dieses Strebens, und die demselben angemessene, beste Anwendungsweise der Koerper- und Seelenkraefte seinem eigenen Untersuchen und Forschen zu ueberlassen; aber dann auch ihm die Freude, die unausprechliche Freude zu verschaffen, sich Herr seines Gluekks – o, des entzuekkenden Gedankens, Herr seines Gluekks! – nennen zu duerfen; dies konnte nur Absicht eines al guetigen Gottes bei der Schoepfung des Menschen seyn.« 28
In dieser Passage wird die pädagogische Grundlegung des Textes mit der Bestimmung des Menschen zum Glück in Verbindung gebracht. So stellt Ziegenhagen die These auf, jeder Mensch sei zum Glück von einem Trieb geleitet. Dieser Trieb aber sei unbestimmt, das heißt, das richtige, zum Glück führende Verhalten und die richtigen, zum Glück führenden Inhalte würden ihm durch diesen Trieb nicht mitgeteilt, er treibe ihn nur blindlings zum Glück hin. 29 Einzige Orientierung bilden die Gefühle des Wohlbefindens und des Vergnügens. »Aber Ungluek unter seinen Geschoepfen dulden kann nicht der Alguetige, dem Wolseyn und Vergnuegen Zwek der Schoepfung sind. Es ausserordentlich und wundervol hindern, kann nicht der Alweise, der zur vernuenftigen Freiheit die Menschen erschuf. Natuerlich gute Folgen mit guten Handlungen und natuerlich schlechte mit unverhaeltnismaeßigen Handlungen unzertrennlich zu verknuepfen, und durch eignes Gefuehl den Menschen aufmerksam auf seinen Irrweg zu machen; dies ist der Freiheit der Menschen, dies der Weisheit und Guete des Schoepfers zugleich angemessen, und dies beweist auch die taegliche Erfahrung.«30 28 29
Ebd.: 62. Ein anderes Konzept vertritt die an Charles Fourier orientierte frühsozialistische Pädagogik, wie sie am Beispiel eines Textes von Hippolyte Renaud in dieser Arbeit vorgestellt wird. Hier geht es gerade darum, die Bestimmung der Triebe zu erkennen und dementsprechend zu handeln (vgl. Kapitel 6 dieser Arbeit).
30
Ziegenhagen (1792: 64f.).
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Durch Orientierung an diesen Gefühlen kann sich der Mensch durch Untersuchen und Forschen zu den adäquaten Mitteln und Inhalten des Glückes bringen und damit dem Trieb sowohl inhaltliche als auch formale Bestimmung verleihen – eine göttlich eingesetzte Methode der Lernsteuerung könnte man hier erken nen. Der Lohn dieses (Selbst)erforschungsprozesses ist die Souveränität über sich selbst. Damit wird der Mensch zu seinem eigenen Schöpfer und erlangt so die nur ihm eigene Dignität.31 Um diese Selbstschöpfung bewältigen zu können, habe Gott ihm nicht nur die Fähigkeit dazu gelassen, sondern auch, neben der Orientierungsleistung durch das Gefühl, weitere Hilfsmittel in die Hand gegeben. »Darum legte er ihm das große und lehrreiche Buch seiner Schoepfung vor; darum floesste er ihm so maechtig den Trieb der Geselligkeit ein. Denn nur durch eigene, gepruefte Erfahrung, durch aufmerksame Beobachtung der heiligen Gesezze und Vorschriften der Natur, verglichen mit den Bemerkungen und Erfahrungen seiner geselligen Mitgeschoepfe, solte er die Kenntnis des richtigen Gegenstandes seines wahren Gluekk’s, oder der Erfordernisse zur Koerper- und Seelengesundheit und der Befoerderungsmittel derselben erwerben, und nur durch Handlungen, die diesen Kenntnissen gemaes sind, es auch erreichen.« 32
Das erste Motiv das hier aufscheint ist ein sensualistisches: Das »lehrreiche Buch seiner Schoepfung«, in dem es zu lesen und aus dem es Beobachtungen zu gewinnen gelte sowie das Verhältnis zur äußeren Welt sei von hervorragender Bedeutung für den Lernprozess. Dieses individuell-sensualistische Motiv wird ergänzt durch ein zweites, das auf den zwischenmenschlichen Austausch als notwendigen Korrekturmechanismus zur bloßen Wahrnehmung abzielt. Die Beobachtungen eines Menschen könnten falsch sein, also müsse er seine Erfahrungen mit denen seiner »geselligen Mitgeschoepfe« vergleichen und überprüfen. Es scheint, als geht Ziegenhagen davon aus, dass sich nur in der gemeinsamen Diskussion der Wahrheit, die zum Glück führt, genähert werden kann. Lernen wird als individueller und gemeinschaftlicher Prozess konzipiert. Um richtige Wahrnehmungen und richtige Gedanken zu entwickeln sei es aber auch nötig, dass der Mensch richtig ausgebildet werde. Dies sei bisher versäumt worden: »Aber wegen der zwekwidrigen Ausbildungsart kann er nicht gehoerig sein Nachdenken brauchen.«33 Und dies obwohl er es potentiell könne: »Du o, Schoepfer gabst 31
Ein ähnliches Konzept vertritt Johann Gottfried Herder (*1744, †1803), auch für ihn gewinnt der Mensch seine Würde durch das Lernen, zu dem er gezwungen ist, weil der Instinkt versagt (vgl. Reble 2009: 188).
32
Ziegenhagen (1792: 62f.).
33
Ziegenhagen (1792: 63f.).
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dem Menschen die Mittel glueklich zu werden, und die Faehigkeit, sie richtig anzuwenden, und mehr konntest du ihm, als sinnlichvernuenftigfreiem Geschoepfe nicht geben.«34 In der Chiffre vom »sinnlichvernuenftigfreiem Geschoepfe« wird eine weitere Klassifikation des Menschen deutlich, die auf seine ihm von Gott übertragene Verantwortung für sich selbst verweist. Der Mensch sei ein sinnliches, also: wahrnehmungsfähiges Wesen. Er sei aber auch ein vernünftiges Wesen. Ohne Vernunft könnte er nicht Urteile über das Richtige und das Falsche fällen, und im gemeinschaftlich lernenden Prozess sich dem Richtigen nähern. Zuletzt sei er ein freies Wesen. Diese Qualifizierung verweist auf die Selbstverantwortung des Menschen. Dass er diese Herausforderung der Selbstbildung und damit der Glückseligkeit bisher nicht bewältigt hat, ist somit seine eigene Schuld, sein eigenes Versagen: »Dein [Gottes; R.P.] Wesen ist selbst verhaeltnismaeßig heilig und gut, und so schufest du auch die Anlagen des Koerpers und der Seele des Menschen rein und fehlerfrei! Ihm dem Menschen, dem du zum Gluekke, die Freiheit gabst, der sie aber zu seinem Ungluekke misbraucht, faellt die Herabwuerdigung seines Ranges allein zur Last.« 35 Daher sei es die Aufgabe des Menschen, dieses Elend zu beseitigen. Gott wird aus der Verantwortung entlassen. So hat Ziegenhagen den argumentativen Rahmen weg von einer theozentrischen hin zu einer anthropozentrischen Argumentation und einer entsprechenden Auffassung des Sozialen und Pädagogischen gelegt, nicht ohne aber Gott als den großen Pädagogen erscheinen zu lassen, der Mittel und Wege parat hat, den Menschen zu seinem Glück zu führen. 36 4.3.1.4 Der Mensch als gesellschaftliches Wesen Auf diesen Prämissen aufbauend entwickelt Ziegenhagen sein System und bezieht sich dabei nicht nur auf Lernen zur Erlangung des Glücks, sondern auch auf die dafür nötige Gesellschaft. Die glückliche Gesellschaft erscheint als Bedingung glücklicher Einzelmenschen: »also beruht das Gluek der Geselschaft, auf dem richtigen Verhaeltnisse der Einzelnen, und das Gluek der Einzelnen auf der Uebereinstimmung der Geselschaft. So wie aber auch der Einklang desto volkomner und ergoezzender, und der Misklang desto beleidigender und unertraeglicher wird, je mehr Einzelspielende dazu beitragen: also wird auch das Gluek, wie das Ungluek nur desto groesser, je Mehrere Anteil daran nehmen.« 37 34
Ebd.: 66.
35
Ebd.
36
Vgl. die ähnliche Argumentation bei Ètienne Cabet (vgl. Kapitel 5). Im christlichen Denken besteht die Idee von Gott als Pädagogen auch weiterhin (vgl. Keller 2008).
37
Ziegenhagen (1792: 7).
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Die Einzelnen müssten untereinander und zur Gesellschaft im richtigen Verhältnis stehen, um das Glück zu erlangen. Dabei geht Ziegenhagen davon aus, dass, je größer die Anzahl der in der Gemeinschaft Vereinigten ist, auch das dieser Vereinigung entsprechende Glück wächst, das Unglück aber auch größer wird, wenn mehr Menschen eben nicht im richtigen Verhältnis zueinander stehen. Zwei Menschen, die Dissonanzen haben, mögen schwierig sein, tausend aber erzeugen Chaos, wenn sie nicht im richtigen Verhältnis orchestriert werden. 38 Die Kräfte, die den Menschen ausmachen, sollen untereinander im richtigen Verhältnis stehen, aber auch mit ihrer Umwelt. Dies ist nichts, was gegeben sei, denn es gibt immerhin auch die Möglichkeit, dass die Kräfte nicht übereinstimmen und in einem Missverhältnis zueinander stehen. In der Argumentation wird der Graben geöffnet, über den Pädagogik wirksam werden kann, und Geselligkeit pädagogisch notwendig wird: »Freilich kann sich kein einzelner Mensch dies richtige Verhaeltnis ganz allein erschaffen, denn unentbehrlich ist zu demselben der Umgang mit seines Gleichen. Er ist bestimmt, als geselliges Geschoepf zu leben und sich zu bilden. Je mehrere dies Verhaeltnis unter sich teilen, desto volkomner wird der Genus der glüklichen Folgen.« 39 Der Bildungsgang des Menschen wird als vom einzelnen Menschen selbst gestalteter, aber auf seine soziale Eingebundenheit als notwendige Bedingung angewiesener, konzipiert. Der Mensch sei »bestimmt, als geselliges Geschoepf zu leben.« An anderer Stelle spricht er von einem dem Menschen »angebohrnen Geselligkeitstriebe.«40 Ziegenhagen baut in seine anthropologische Bestimmung des Menschen Geselligkeit als konstitutives Element ein. Bevor wir dazu übergehen können, uns anzusehen, wie sich Ziegenhagen dieses soziale Leben vorstellt, ist es nötig, zwei weitere Grundbegriffe seiner Theorie zu klären, den des Eigentums und den der Freiheit. Ohne die zentrale Stellung dieser beiden Begriffe in der Verhältnislehre rekonstruiert zu haben, ist ein Verständnis, sowohl der gesellschaftlichen als auch der pädagogischen Vorstellungen, die mit ihnen im engen Zusammenhang stehen, nicht möglich.
38
Es mag so erscheinen, als verteidige Ziegenhagen hier sentimental eine statische und der feudalen Ständeordnung entsprechende Gesellschaftsform und ein ihr entsprechendes Menschenbild. Dass dem nicht so ist, wird die weitere Auseinandersetzung zeigen.
39
Ziegenhagen (1792: 6).
40
Ebd.: 162; ähnlich: ebd.: 1.
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4.3.2 Eigentum und Freiheit Ein Kernstück der Überlegungen Ziegenhagens stellt die Erörterung des Zusammenhangs zwischen Eigentum und Freiheit dar. Ausgehend von seiner These des sozialen Charakters des Menschen kommt er zu dem Schluss, die Ungleichverteilung des Eigentums und der Freiheit sei eine der wichtigsten Ursachen (neben der von der Amtskirche gepredigten Religion 41) des bisherigen Ausbleibens glücklichen Lebens. Bevor wir diesen Zusammenhang näher betrachten, sind die Begriffe Eigentum und Freiheit in ihrer Verwendung bei Ziegenhagen zu klären: »Eigentum erklären wir […] als einen Besiz aller der Gueter, welche zur nuezlichen Taetigkeit und zum wahren Vergnuegen unentbehrlich sind; Freiheit aber als ein Vermoegen, alle Kraefte und Faehigkeiten zur Erreichung des richtigen Verhaeltnisses auf’s beste anwenden zu koennen.« 42 Unter Eigentum versteht Ziegenhagen nicht etwa – wie in der liberalen Tradition beispielsweise John Locke – ein Recht über Güter zu verfügen, die durch Arbeit (oder Erbschaft) angeeignet worden, sondern als den Besitz, also das ZurVerfügung-Haben von Gütern, die zu »nützlichen Tätigkeiten und zum wahren Vergnügen« notwendig sind.43 Die Begründung von Eigentum wird also nicht in seiner Genese gesucht, sondern erfolgt aus seiner Verwendung heraus. Daher kann gemäß dieser Definition nicht alles Eigentum genannt werden, sondern nur jene Dinge, die zur »nuetzlichen Taetigkeit« und zum »wahren Vergnuegen« notwendig seien. Alle anderen Dinge, die nicht in diese Kategorien fallen, werden bei Ziegenhagen nicht unter Eigentum gefasst. Er konkretisiert nicht, was für ihn nützliche Tätigkeiten sind. Aus dem Gesamtkontext des Textes kann aber geschlossen werden, dass es sich um solche Tätigkeiten handelt, die sowohl der Gemeinschaft als auch den Einzelnen im Sinne eines verhältnismäßigen Lebens nutzen. Etwas schwieriger fällt es, wahres Vergnügen auf den Begriff zu bringen. Es findet sich im Text aber immerhin ein Indiz: So schreibt Ziegenhagen, es sei illegitim »unser Vergnuegen auf Kosten unserer und anderer Gesundheit [zu] erkaufen; – diese zu erhalten, ist unverbruechlichste Pflicht des geselligen Men41
Vgl. S. 71 dieser Arbeit.
42
Ziegenhagen (1792: 266f.).
43
Vgl. zum Erwerb von Eigentum durch Arbeit: Locke ([1690] 1977: II, §28). Die von Ziegenhagen hier vertretene Bestimmung von Eigentum, als etwas, das in erster Linie der eigenen Subsistenzerhaltung dient, wird ähnlich auch von Jean-Jacques Rousseau in seiner Abhandlung über die politische Ökonomie vertreten, in der er im Sinne des Gemeinwohls fordert, dass Steuern unter Umständen so hoch sein dürften, dass dem Besteuerten nur noch das bleibt, was ihm zum Leben notwendig ist (vgl. Rousseau [1775] 1977: 56).
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schen!«44 Gesundheitsschädliche oder gefährliche Aktivitäten dürften also kein wahres Vergnügen sein. Auch Luxusgüter (neben den Moden), eines der »beiden groeßten Feinde der Natur und des wahren Gluekks« 45, fallen nicht unter den Begriff von Dingen, die dem wahren Vergnügen zuträglich sind. Auch Ziegenhagens Freiheitsdefinition erscheint eigenwillig. Die Freiheit gewinnt, wie das Eigentum, ihre Bestimmung vom Ziel her: Sie ist auf die Erlangung des rechten Verhältnisses (im einzelnen Menschen, mit anderen und der Welt) gerichtet. Sie besteht darin, alle Kräfte und Fähigkeiten zu nutzen, um dieses Ziel zu erreichen. Andere Ziele zu erreichen ist demnach nicht im Sinne der Freiheit.46 Berlin folgend kann der Freiheitsbegriff zweifach ausgelegt werden. 47 Dessen Teilung von negativer und positiver Freiheit scheint auch im Freiheitsbegriff der Verhältnislehre auf: Das Vermögen, die eigenen Kräfte anzuwenden, lässt beide Konnotationen aufscheinen: Freiheit besteht damit in der Abwesenheit von äußeren Zwängen, die daran hindern, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu nutzen; sie besteht aber auch in der Kompetenz, diese Kräfte und Fähigkeiten anzuwenden. Sie wird also durch die Abwesenheit äußerer Zwänge und der Anwesenheit innerer Potenzen definiert; muss jedoch vor dem Hintergrund des eben ausgelegten eine Begrenzung erfahren. So liegt es nahe, dass für Ziegenhagen Zwang, der darauf zielt, das Anstreben eines falschen Verhältnisses zu verhindern, durchaus mit seinem Freiheitsbegriff vereinbar ist. Die erste Facette dieses Freiheitsbegriffs verweist auf eine politische (und sozialpädagogische), die zweite auf eine (individual-)pädagogische Dimension. Darauf wird bei der Diskussion der Pädagogik Ziegenhagens zurück zu kommen sein. Aus diesen Definitionen leitet Ziegenhagen seine zentrale ökonomische (auf das Eigentum bezogene) und politische (auf die Freiheit bezogene) Forderung ab: »Die gleiche Verteilung des Eigentums und der Freiheit, halten wir fuer die Hauptstuezze des geselschaftlichen Gluekks, fuer die unzertrennlichen Begleiter von aechter Aufklaerung.«48 Die Gleichverteilung des Eigentums und der Freiheit! Eine revolutionäre Forderung,49 die zu jener Zeit im deutschen Bürgertum nur äußerst selten vertreten wurde, und auch an der Speerspitze der französischen Revolution nur von ex44
Ziegenhagen (1792: 256).
45
Ebd.: 99.
46
Eine ähnliche Begrenzung des Freiheitsbegriffs tritt uns bei Étienne Cabet entgegen
47
Berlin (1995: 197-256); vgl. auch: Taylor 1988.
48
Ziegenhagen (1792: 267).
49
Nicht zuletzt diese Forderung dürfte es gewesen sein, die die Zensurbehörden auf
(vgl. S. 112 dieser Arbeit).
den Plan rief (vgl. S. 42 dieser Arbeit).
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ponierten Vertreter*innen der Jakobiner.50 Ohne diese Gleichverteilung, die aus der Reform der Eigentumsverteilung resultieren müsste, sprich: der Enteignung der Großbesitzer (Ziegenhagen nennt sie »Erbbesizzer« 51, an einer Stelle sogar schon »Kapitalisten«52), deren Folge eine allgemeine Freiheit sei, könne der Mensch nicht zum Glück kommen. Es geht Ziegenhagen freilich nicht um eine gewalttätige Enteignung, sondern um die aus Einsicht erfolgende freiwillige Überführung des Privateigentums in Kollektiveigentum. 53 In die Gleichverteilung des Besitzes und der Freiheit steckt Ziegenhagen nicht nur die Erwartung ›wahrer persönlicher Bildung‹ und ›echten Glücks‹, sondern auch die des kollektiven Fortschritts und einer neuen Qualität von Gemeinschaftlichkeit: »Muß nicht dadurch unser ganzes geselschaftliches Band dauerhaft und immer dauerhafter verknuepft werden, wenn unser aller Geld- und Gutvermoegen, wenn die Tausende von Talern der Erbbesizzer, wie die Hunderte von Groschen der Gehuelfen eine Masse, alle unsere Faehigkeiten und Kraefte eine harmonische Faehigkeit und Kraft wird? Muß nicht dann die Wuerkung am groeßten seyn, wann alle Kraefte einer Geselschaft mit gleicher Anstrengung eine Absicht zu erreichen streben? Muß dann nicht Eifer und Anstrengung am gleichsten gespannt seyn, wann alles ein Interesse, einen Gewinn, einen Verlust aus macht? Und muß dann nicht die Ausfuehrung großer Taten am leichtesten werden, wann alle mit gleichem Eifer, mit gleichem Feuer fuers Gute arbeiten?« 54
Die Fortschrittserwartungen, die Ziegenhagen in die Kollektivierung des Eigentums stellt, sind groß. Nicht nur soll der Zusammenhalt der Gesellschaft durch Ausrichtung auf das gemeinsame Gewinninteresse gestärkt werden, die Dynamik
50
So finden sich selbst unter den deutschen Jakobinern nur wenige, die die Gleichheit des Eigentums bzw. Vermögens fordern. Selbst einer ihrer radikalsten Vertreter, Georg Conrad Meyer, der Herausgeber der Zeitschrift Der neue Mensch, fordert diese nur, insoweit keine Enteignungen dafür durchgeführt werden: »Meiner Überzeugung nach wäre es ein wahres Glück für die Menschheit, wenn eine Gleichheit des Ver mögens, soweit es ohne die Kränkung des Eigentums anderer möglich ist [Herv. i.O.], bewirkt werden könnte. Dann erst könnten die Menschen wirklich frei und glücklich sein, wenn sie gleich sind.« (Meyer zit in Grab 1990: 13) Vgl. zu dieser Frage auch Fehrenbach (2008: 65).
51
Ziegenhagen (1792: 269).
52
Ebd.: 108.
53
Erneut wird hier eine Parallele zu den in Frankreich entwickelten gleichheitskommunistischen Vorstellungen deutlich.
54
Ziegenhagen (1792: 270).
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des Fortschritts beschleunige sich auch durch die gleichgerichtete Kombination der Kräfte der einzelnen. Kurzum, es soll darum gehen, das Eigentum aller in den gemeinsamen Trust einzubringen und die Fähigkeiten aller in einem koordinierten Projekt zur Erreichung eines Zieles zu vereinigen, um daraus eine neue Qualität von Gesellschaft entstehen zu lassen.
4.4 G ESELLSCHAFT
UND
G EMEINSCHAFT
Wie bei der Schilderung des Menschenbildes in der Verhältnislehre deutlich wurde, spielt Geselligkeit eine zentrale Rolle, um dem Menschen den Weg zum Glück weisen zu können, mithin für seinen Lernprozess. Die Eigentumsverhältnisse spielen darin eine ebenso bedeutende Rolle, wie die politischen Verhältnisse. Daher ist es nur folgerichtig, dass Ziegenhagen sich die herrschende Gesellschaft ansieht, um sie auf ihre Funktionalität im Hinblick auf das Glück des Menschen zu befragen. Dabei kann es hier nicht darum gehen, seine gesamte Gesellschaftsanalyse darzulegen. Der Fokus wird auf das, in dieser Kritik deutlich werdende, Verhältnis zwischen Gemeinschaft, ›Brüderlichkeit‹ und Pädagogik gelegt. 4.4.1 Diagnose und Kritik der bestehenden Gesellschaft Die Fehler der herrschenden Gesellschaft sind es, die den Menschen vom Glück abhalten. Grundlegende gesellschaftliche Fehler sind dabei die schon benannte Ungleichverteilung des Eigentums und der Freiheit sowie die Existenz unterschiedlicher Religionen. Die Folgen der durch diese drei Umstände geprägten Gesellschaftsordnung seien offensichtlich und verdeutlichten, dass die bestehende Gesellschaft nicht den Notwendigkeiten des Glücks entspräche. So würden sich die Folgen materieller Ungleichheit, und der aus ihr folgenden räumlichen Ungleichheit zwischen Stadt und Land seelisch und körperlich im Menschen manifestieren:55 »Der menschliche Koerper wurde immer mehr verweichliget; die maennliche Staerke und wahre Schoenheit gieng groestenteils verloren. Jezt suchte man die Schoenheit im aeußern 55
Ausführliche Einlassungen Ziegenhagens dazu finden sich auf 12ff. seines Werkes, wo er die aus »den Krankheiten des Koerpers hergenommen[en]« (Ziegenhagen 1792: 12) und auf S. 37ff., wo er die aus »den Uebeln der Seele hergenommen[en]« (ebd.: 37) Indizien für die negativen Folgen der falschen Einrichtung der Gesell schaft aufzählt.
58 | S OLIDARITÄT B ILDEN Anstrich, und Maenner wurden Weibern an Schwaeche gleich; man hielt Krank- und Schwachseyn fuer ehrenvol. Der Ersaz des verlohrnen Kraftgefuehls aber wurde im Besizze von Reichthuemern gesucht. Nun wuerkte alles zusammen, diese haesliche Schoenheit und diese ohnmaechtige Staerke zu befoerdern. Alle staedtische Staende, Kuenstler und Handwerker machten sich dieses zum Zwek, und wurden desto ehrenvoller, jemehr sie ihn befoerderten.«56
Stärke und Schönheit seien überwiegend verschwunden, Männer hätten ihre, sie vor den Frauen auszeichnende, Stärke verloren. Ziegenhagen beschreibt einen klassischen Verfallsprozess. Die frühere, nicht städtische, natürliche Gesellschaft sei anders, besser gewesen und hätte Stärke, Schönheit und Kraft gefördert. Statt diesen Eigenschaften nach zustreben, kompensierten die Menschen deren Verlust durch die Anhäufung von Besitz und Gütern. Materieller Reichtum soll verfallenen charakterlichen und körperlichen Reichtums ersetzten. Hier scheint die negative Bedeutung des Reichtums auf, auf die an anderer Stelle als zentrale Figur in Ziegenhagens Argumentation schon verwiesen wurde (und die immer wieder in seiner sich expliziten Ablehnung jeden Luxus’ deutlich wird). Aber das im Gegensatz zum Stadtleben oft zitierte Landleben wird bei Ziegenhagen nicht durchweg glorifiziert. Die dortige »ungeselliglaendliche Lebensart« 57 wäre dem Glück ebenfalls abträglich. Daher strebt er als Alternative ein Modell an, das die Vorzüge von Stadt und Land miteinander kombiniert und deren Nachteile ausgleicht. Zusätzlich zu den negativen Folgen der Eigentums- und Freiheitsverteilung versündige sich auch die Religion am Glück des Menschen. Ihre Folgen seien die Aufhebung des Gemeinschaftscharakters des menschlichen Zusammenlebens und die Spaltung in widerstreitende »Sekten«: »die wuerkliche Abteilung der Menschen, die doch im Ganzen volkommen aehnliche Geschoepfe sind, in verschiedene Religionssekten und Religionsuntersekten ist dem Wesen des wahren Gluekks und dem einzigen Mittel, dieses zu erreichen; ist einem algemeinfreundschaftlichen Umgang’, ist der Menschenliebe ganz und gar zuwider.« 58
4.4.2 Umrisse der und Weg zur verhältnismäßigen Gesellschaft Wie schon angesprochen, soll der Weg hin zur besseren Gesellschaft durch die Gründung einer Kolonie erfolgen, die mit Hilfe einer »aufgeklaerte[n] Staats-
56
Ziegenhagen (1792: 106).
57
Ebd.: 318.
58
Ebd.: 45.
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kunde«59 regiert werde und deren Gründung weitere folgen sollen. In dieser Kolonie soll eine langsame Entwicklung hin zur verhältnismäßigen Gesellschaft organisiert werden. Revolutionären Änderungsvorstellungen wird eine Absage erteilt: »Ich habe aber gefunden, daß sich dies [die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, R.P.] nicht mit einem Mal’ ausfueren liesse; daß nicht mit einem Mal’ eine ganze Gesellschaft mit allen ihren Gliedern aus dem tiefsten Misverhaeltniss’ in das richtige Verhaeltnis versezzt werden koennte.«60 Statt einer plötzlichen Revolution müsse eine langsame, sorgfältige Reform aus den Keimzellen der Kolonie gestartet werden, um die Schwierigkeit der Vielzahl an Verhältnissen und Menschen, die geändert werden müssten, auf ein bewältigbares Maß zu reduzieren. Mit einer Kolonie soll die Transformation beginnen, später soll ein Netzwerk aus neun miteinander in Kontakt stehenden Kolonien entstehen,61 um in der langfristigen Perspektive schließlich die ganze Welt zu umfassen. Die in der Kolonie erzogenen Kinder sollen, wenn sie erwachsen geworden sind, die Geschäfte der Kolonie übernehmen und ihre Oberhäupter wählen.62 So herrscht zu Beginn in der Kolonie eine Erziehungsdiktatur zur Vorbereitung der demokratischen Verhältnisse. Sobald diese hergestellt seien, würden weitere Reformschritte eingeleitet. Die für die Fragestellung dieser Arbeit drei wichtigsten sind: Die Aufhebung sozialer Unterschiede, die Gleichheit des Eigentums und der Freiheit sowie die Gleichheit der Ausbildung. Die Aufhebung sozialer Unterschiede in der Erziehungskolonie wird anhand etlicher Einzelregelungen deutlich, nicht zuletzt bei der Abschaffung standesgemäßer Titulaturen, Grußrituale und Kleidung.63 Nur die Aufhebung von sozial differenzierenden Normen und Grüßen allein werde soziale Unterschiede aber nicht nivellieren, die Einführung von Besitzgleichheit sei ebenso nötig. Die Argumente dafür wurden schon genannt und müssen hier nicht noch einmal zusammengefasst werden.64 Die Argumente zur Einführung der Gleichheit der Ausbildung werden später entfaltet. Diese neuen Zustände würden eine neue und produktive Vielfalt der Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen: »Jezt haben wir unsere Geselschaft nach ihrem Eigentum’ und ihren Kraeften vereinigt; jezt ist es nun auch Pflicht, daß wir die verschiedenen Faecher der Wissenschaften, Kuens te und Handwerke gehoerig unter uns teilen, und ein Jeder von uns oder auch Mehrere zu59
Ebd.: 316.
60
Ebd.: 91.
61
Vgl. ebd.: 259ff.
62
Vgl. ebd.: 264.
63
Vgl. ebd.: 231.
64
Vgl. S. 54 dieser Arbeit.
60 | S OLIDARITÄT B ILDEN sammen die Verwaltung eines Fachs ausschliessend uebernehmen, so wie sie zu Einem oder Anderem besondere Lust fuehlen und Geschiklichkeit haben. Und ich weiß, es wird kein Fach unbesezzt bleiben, da keines die maennlichen Kraefte hoehnt, und an sich der Gesundheit nachteilig werden kann; denn solche sind teils, so wie das Haarkraeuseln und Bartscheeren, aus der Geselschaft ganz verbannt; teils, so wie das Kochen und Schneidern dem Frauenzimmer ueberlassen; teils, wie die sizzenden Arbeiten ueberhaupt, mit gesun dern vereinigt.«65
Es wird deutlich, dass Ziegenhagen Gleichheit nicht als letztes Ziel setzt, sondern vielmehr als Basis einer sich entwickelnden Vielfalt: Auf Grundlage einer gleichen Ausbildung und gleichen Eigentums soll es darum gehen, sich zu spezialisieren, und in dem Bereich der Wissenschaft, Kunst oder des Handwerks zu arbeiten, der dem Einzelnen aufgrund von Neigung und Fähigkeit am besten zusagt.66 Den möglichen Einwand, nicht alle notwendigen Arbeitsbereiche könnten so mit Arbeitskräften gefüllt werden, zerstreut er damit, dass gesundheitsschädliche oder der ›Manneskraft Hohn sprechende Tätigkeiten‹ abgeschafft seien oder mit anderen, diese Makel kompensierenden, Tätigkeiten vereint seien. Oder aber – und hier wird die Frage der Gleichheit, die Ziegenhagen für alle Menschen postuliert relativiert – diese Arbeiten werden den Frauen überlassen. 67 Habe es die Kolonie geschafft, sowohl die Gleichheit für alle ihre Bewohner herzustellen und den Privatbesitz in Gemeinbesitz zu überführen, so hofft Ziegenhagen, wären viele Laster der gegenwärtigen Gesellschaft abgeschafft und das Reich der Freiheit und des Glückes käme näher: »Jezt sind also […] alle gegenseitige Gehuelfen, Mitglieder eines geselschaftlichen Bands, nur von einander durch Alter und Erfahrung, Geschiklichkeit und Einsicht verschieden und abhaengig; nicht mehr durch gewisse Namen und Scheinvorzuege in Unterabteilungen getrennt. Knecht und Magd, und Herr, und Gebieterin, Gehuelfe und Erbbesizzer, Arme und Reiche finden sich nicht mehr auf unserm Bezirke! – in diesen Gefilden der Bruderliebe und Uneigennuezzigkeit keine unersaetliche Habsucht, kein scheelsehender Neid, keine stolze Herrschsucht ihre freudetoedtenden Blikke jemals wieder verbreiten.« 68
65 66
Ziegenhagen (1792: 272). Hier wird ein Mittelweg zwischen der völligen Entfaltung der Individualität, wie sie von Fourierist*innen gefordert wird (vgl. Kapitel 6) und den stark auf Homogenisierung abzielenden Vorstellungen der Gleichheitskommunist*innen (vgl. Kapitel 5) vertreten.
67
Vgl. dazu S. 272ff. dieser Arbeit.
68
Ziegenhagen (1792: 271).
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Das gegenseitige Band, von dem oben schon gesprochen wurde, bildet sich demnach dergestalt aus, dass gesellschaftliche Hierarchien abgeschafft werden: Alle seien im Rang gegenseitiger Gehilfen und in der Folge der Abschaffung soziale Stratifizierungen verlören auch negative Gefühle ihre Wirkmacht und würden durch ›Gefühle der Brüderlichkeit‹ abgelöst. Gegenseitige Verbundenheit führe zu besseren sozialen Verhältnissen und einer neuen Qualität von Gemeinschaftlichkeit. Die einzigen von Ziegenhagen als legitim erachteten sozialen Unterschiede sind die durch Alter, Erfahrung, Geschicklichkeit und Einsicht. Folgen dieser Unterschiede aber für die Behandlung und Position der Menschen in der Gesellschaft breitet Ziegenhagen keine aus. Doch die entsprechende Formulierung lässt Zweifel an einer tatsächlichen Gleichheit aufkommen. Ziegenhagen spricht nämlich nicht nur davon, dass die Menschen durch »Alter und Erfahrung, Geschiklichkeit und Einsicht« verschieden seien, sie wären dadurch auch »abhaengig«. Sieht man sich die aufgezählten Eigenschaften näher an, so wird deutlich, wie sie aufeinander bezogen sind: Alter an erster Stelle, ihm folgt Erfahrung, die zwar nicht mit dem Alter korrelieren muss, aber doch tendenziell von ihm abhängt, ebenso wie Geschick und Einsicht Eigenschaften sind, die sich zwar nicht zwangsläufig aber doch in engerer Verbindung mit dem Alter entwickeln können. Und tatsächlich hat in der Kolonie, nachdem der Lehrer als Kolo nieleiter abgelöst wird, ein gerontogratisches Gremium zumindest transitorische Regierungsmacht. Habe sich nicht nur die erste Kolonie zu ihrem verhältnismäßigem Stadium entwickelt, sondern alle anderen Kolonien auch, werde weltweit eine neue Form der Gesellschaftlichkeit eintreten. Es wird »algemeine Weltvaterlandsliebe und algemeine Weltoekonomie, statt Nazionen- und Sektenpatriotismus und ihre Folgen, Krieg, Sklavenleben, Leibeigenschaft, Menschenhandel und Despotimus; – […] gemeinnuezzige Gelehrte, Kuenstler, Handwerker und Geschaeftsmaenner, statt ungemeinnuezzige und schaedliche; – eine bessere Verteilung und mehrere Sicherung des Guetervermoegens; statt eines unnoetigen Ueberflusses und unueberwindlichen Mangels […] [geben].«69
Aus ihrem Jammertal wird die Welt gefunden haben, und frei sein von Krieg, Sklaverei und Unterdrückung: Gleichheit, Wohlstand und weltweite Verbrüderung der Menschen untereinander würden herrschen. Eine globale Wirtschaft und eine weltbürgerliche Gesinnung, die jeden nationalen Patriotismus ablehne, entstünde70 und die Arbeiten der Gesellschaftsmitglieder würden gemeinnützig
69
Ebd.: 336.
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werden.71 Ziegenhagen sieht in einer globalen Gesellschaft, in der alle verhältnismäßig miteinander verbunden sind, das Ziel einer zu bewirkenden gesellschaftlichen Reform, die durchgeführt werden müsse, sollen alle Menschen frei von Unterdrückung und materiellem Elend im Glück als von Gott aufgegebenem Zielzustand leben.
4.5 B RÜDERLICHKEIT
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Weder das Wort ›Solidarität‹ noch ›Brüderlichkeit‹ findet in der Verhältnislehre Verwendung. Statt dessen finden wir Redewendungen wie »Brueder und Mitgeschoepfe«72, »Mitbrueder«73, »Brueder«, »Bruderliebe«74 und »verbruederte Mitmenschen.«75 Insbesondere die Vokabel der ›Bruderliebe‹ und der ›Verbrüderung‹ weisen aber eine starke Nähe zur ›Brüderlichkeit‹ auf, so dass wir danach sehen wollen, was für Ziegenhagen den Charakter der ›Brüderlichkeit‹ und das Gefühl der ›Bruderliebe‹ ausmachen. Zum ersten ist ›Brüderlichkeit‹ bei ihm eine sachliche Qualität, die alle Menschen untereinander teilen: Alle Menschen sind Brüder. Dies wird deutlich, wenn Ziegenhagen mit Blick auf die künftige Gesellschaft schreibt: »Mit edlem Stolz verachten wird der Europaer die Reichthuemer, welche er sich auf Kosten
70
Etwa fünfzig Jahre später werden Karl Marx und Friedrich Engels diesen Gedanken im Manifest der Kommunistischen Partei entfalten, wenn sie schreiben: »Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie, mit der Handelsfreiheit, dem Weltmarkt, der Gleichförmigkeit der industriellen Produktion und der ihr entsprechenden Lebensverhältnisse. […] In dem Maße, wie die Exploitation des einen Individuums durch das andere aufgehoben wird, wird die Exploitation einer Nation durch die andere aufgehoben. Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander« (Marx/Engels [1848] 1960: 479).
71
Mit seiner Ablehnung des Patriotismus grenzt sich Ziegenhagen von anderen Schriftsteller*innen der Aufklärung ab, die, wie Basedow, die Erziehung von Kindern zum Patriotismus als Ziel pädagogischen Handelns ansehen (vgl. Basedow 1880: 40). Die gegenläufige Position im Spektrum sozialistischen Denkens vertritt Robert Seidel in seinem auf S. 189ff. dieser Arbeit analysierten Text.
72
Ziegenhagen (1792: 70).
73
Ebd.: 90; 110; 158; 284; 285.
74
Ebd.: 231; 271.
75
Ebd.: 292.
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der Gesundheit seiner Mitbrueder sammeln koennte.« 76 Später schreibt er von »Tausende[n] eurer Mitbrueder« 77, die im Elend leben, um die Reichen aufzufordern »Woltaeter eurer Brueder«78 zu werden. Mit Blick auf die Sklaverei spricht er davon, dass »jener Handel mit schwaechern Mitbruedern« 79 durch die Einführung der Verhältnislehre allmählich aufhören werde. Zweifellos bedeutet hier die Bezeichnung Brüder bzw. Mitbrüder eine Eigenschaft, die diesen als Menschen zukommt, unabhängig von den Verzerrungen der derzeitigen Verhältnisse untereinander. Zum zweiten scheint ›Brüderlichkeit‹ für Ziegenhagen eine moralische und emotionale Qualität zu haben, wie sie in den beiden folgenden Zitaten zum Ausdruck kommt: »Sie [die Menschen in seiner Kolonie, R.P.] lehren sich beim Grusse den edlen Haendedruck, den zugeworfenen oder aufgedruekkten Versicherungskus der gegenseitigen Unterstuezzung und Bruderliebe kennen und ueben; sie verstatten ihnen aber nicht, Diener oder Verbeugungen und Knixe zu machen.«80 Und, an einer oben schon zitierten Stelle: »Jezt sind […] alle gegenseitige Gehuelfen, Mitglieder eines geselschaftlichen Bands, nur von einander durch Alter und Erfahrung, Geschiklichkeit und Einsicht verschieden und abhaengig; nicht mehr durch gewisse Namen und Scheinvorzuege in Unterabteilungen getrennt. Knecht und Magd, und Herr, und Gebieterin, Gehuelfe und Erbbesizzer, Arme und Reiche finden sich nicht mehr auf unserm Bezirke! – in diesen Gefilden der Bruderliebe und Uneigennuezzigkeit keine unersaetliche Habsucht, kein scheelsehender Neid, keine stolze Herrschsucht ihre Freudetoedtenden Blikke jemals wieder verbreiten.« 81
Ziegenhagen legt großen Wert auf symbolische Gesten, die für ihn Zeichen entsprechender Einstellungen sind. Gleichberechtigter Händedruck und Bruderkuss als Symbol für die Gleichheit in zwischenmenschlichen Beziehungen und Ablehnung untertäniger Gesten. In der zweiten Textstelle erfahren wir etwas mehr darüber, was unter Bruderliebe gemeint sein kann: Sie gehe Hand in Hand mit Uneigennützigkeit und stehe im Kontrast zur Habsucht, zum Neid und zur Herrschsucht. Aus dieser Aufzählung können wir über die Bildung von Gegensatzpaaren versuchen, einige nähere Bestimmungen der Bruderliebe zu gewinnen. Dazu muss als erstes die Bedeutung dieser historischen Begriffe erinnert werden. Dazu 76
Ebd.: 110.
77
Ebd.: 158.
78
Ebd.
79
Ebd.: 284.
80
Ebd.: 231.
81
Ebd.: 271.
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wird das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm genutzt. »Habsucht« wird dort definiert als »gieriges verlangen nach habe« oder »unersättlichkeit im erwerb.«82 Das Wort »Neid« »drückt […] besonders jene gehässige und innerlich quälende gesinnung, das misvergnügen aus, mit dem man die wohlfahrt und die vorzüge anderer wahrnimmt, sie ihnen misgönnt mit dem meist hinzutretenden wunsche, sie vernichten oder selbst besitzen zu können.« 83 »Herrschsucht« wird beschrieben als Bestreben »ansehen und gewalt [zu] suchen, um sie andern fühlen zu lassen.« 84 Bruderliebe als Gegenteil dieser drei Beschreibungen würde sich auszeichnen durch eine fehlende Fixierung an persönlichem Besitz sowie in einer egalitären, nicht auf Beherrschung oder Unterwerfung anderer Menschen abzielende Einstellung. Dies betrifft nicht nur die Abwesenheit des Willens zu herrschen, sondern auch, wie aus dem ersten Zitat deutlich wird, den Willen sich zu unterwerfen. Die gegenseitige Unterstützung, die ebenfalls als mit der Bruderliebe verbunden angesprochen wird, erweitert die Emotion um eine Handlungsaufforderung. Der Text verweist auf ein weiteres. Er spricht von den »Gefilden der Bruderliebe« – und bezieht sich dabei auf die oben beschriebenen gesellschaftlichen Strukturen. Erst diese Strukturen seien es, die die Bruderliebe zu einem selbstverständlichen Gefühl machen werden. Welche gesellschaftlichen Strukturen dabei der Bruderliebe ab- oder zuträglich seien, wurde oben behandelt. 85 Doch nicht nur die Änderung der gesellschaftlichen Strukturen erscheint für Ziegenhagen wichtig. Wie oben bei der Betonung der symbolischen Bedeutung von Gesten des Grußes deutlich wurde, zeigt sich Ziegenhagen auch für die subtileren Wege der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten sensibel. Davon zeugt das folgende Zitat, in dem eine fast sprachpolitische Forderung formuliert wird: »Auch wir alle unterscheiden uns durch keine Sekten- oder Abschnittsnamen von der uebrigen Geselschaft unserer verbruederten Mitmenschen. Wir verbannen alle die parteiischen Benennungen von Menschenhaufen, die noch immer Menschenliebe, Freundschaft und Zutrauen stoeren, und Menschenhas, Feindschaft, und Mistrauen an ihre Stelle sezzen. – Wir nennen uns Menschen; – Menschen!« 86
82
Grimm/Grimm 2016a.
83
Grimm/Grimm 2016b.
84
Grimm/Grimm 2016c.
85
Vgl. S. 57f. dieser Arbeit.
86
Ziegenhagen (1792: 292f.).
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Es wird eine tiefere Einsicht in die Macht der Sprache deutlich, wenn er schreibt, die »parteiischen Benennungen« würden Gemeinschaftlichkeit unterminieren. Der Anspruch, dass es nur eine Menschheit, nur Menschen gäbe, weist auf den universalen Charakter seines Entwurfs. Gemeinschaft ist demnach etwas, das für Ziegenhagen naturgemäß als Anlage da ist – alle sind Menschen – das aber doch erst durch gesellschaftliche und sprachpolitische Interventionen geschaffen werden muss. Auf ›Brüderlichkeit‹ als zu Schaffendes weist die Vorsilbe ›ver‹ in »verbruederten Mitmenschen« hin. Beide Bedeutungen erscheinen auch in seinem Lied, das »in den Versammlungshaeusern unter Begleitung von Instrumentalmusik zu singen [ist].«87 Hier steht zu lesen: »Liebt euch! – euch selbst, und eure Brueder!« und in einer späteren Strophe: »Seyt weise nur, seyt kraftvoll, und seyt Brueder!« In der ersten Zeile kommt die Bedeutung der ›Brüderlichkeit‹ als faktische Eigenschaft zur Geltung, in der zweiten ihr normativer Aufforderungscharakter. Ziegenhagen lässt vermeintlich keine Unterschiede zwischen den Menschen gelten, sie alle seien Brüder und sollen sich in der Anerkennung seiner Lehre letztendlich in einer weltweiten Gemeinschaft vereinen: »Nur diese begluekkende Verhaeltnislehre kann Helle des Verstandes, Geradheit des Herzens und Biedersinn mit Koerperstaerke und Gewandtheit verbinden; nur sie kann einen algemeinfreundschaftlichen Umgang und eine algemeine Weltvaterlandsliebe stiften, und nur sie kann alle Bewohner der schoenen Erde Gottes zu einem großen, gleichdenkenden und gleichhandelnden Volke vereinen.«88
Doch erscheint sein Text bei näherer Betrachtung durchzogen von Hierarchisierungen und Unterscheidungen. Die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen und die zwischen ›aufgeklärten Europäern‹ und den »rohen Mongolen und geplagten Neger[n]«89 sticht dabei als textimmanenter Widerspruch zwischen dem von Ziegenhagen formulierten Anspruch und dem, was er tatsächlich schreibt, ins Auge: So irritiert die Rede von den »schwaechern Mitbruedern« 90 bzw. den »schwarzen, schwachen Mitbruedern.«91 Könnte vor dem Hintergrund der in der Verhältnislehre entworfenen Gesellschaftsanalyse und der Diagnose ihrer Folgen für die mangelnde Ausbildung der in ihr lebenden Menschen, dieses »schwächer« auch als Folge eben der Gesellschaft und damit als in der verhält87
Ebd.: 632f.
88
Ebd.: 293f.
89
Ebd.: 627. Vgl. auch: ebd.: 110; 285.
90
Ebd.: 284.
91
Ebd.: 284f.
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nismäßigen Gesellschaft abschaffbar interpretiert werden, so entzieht Ziegenhagen einer solchen Deutung an anderer Stelle selbst den Boden. 92 Ähnlich sieht es mit dem Verhältnis zwischen Frauen und Männern aus. Ziegenhagens Schilderung der angestrebten Geschlechterverhältnisse widerspricht seinem Gleichheitspostulat, so wenn er die vermeintlichen Folgen des Stadtlebens auf die Männer beschreibt.93 Wird dort ein Gegensatz zwischen männlicher Stärke und weiblicher Schwäche bemüht, um auf die negativen Folgen des städtischen Lebens aufmerksam zu machen, nimmt die folgende Passage von einer solchen Betrachtung Abstand und propagiert die Gleichheit der Geschlechter: »Alle guten Absichten wuerden also groeßtenteils scheitern, wenn Knaben und Maedchen nicht nach einerlei Grundsaezzen gebildet wuerden, und nicht einst, als gleichjaehrige und gleichdenkende Paare mit einander umgehen koennten.« 94 Für diese, dem Ziel nach, gleiche Erziehung der Jungen und Mädchen aber bedürfe es, zumindest zu Beginn, einer Differenzierung: »Weil durch die schaechende Lebensart [der gegenwärtigen Gesellschaft, R.P.] das weibliche Geschlecht sehr oft noch mehr verlohren hat, als das maennliche, so muessen in die sem Falle die Maedchen um ein paar Jahre juenger seyn, als die Knaben. Traefen aber Ma edchen und Knaben von einerlei, verhaeltnismaeßiger Koerpergesundheit und Staerke zusammen, so muß die Gleichjaehrigkeit ein vorzueglicher Grund ihrer Verbindung seyn. Gleichheit ist in allen Lagen des Menschenlebens die Mutter des Zutrauens und der Freundschaft.«95
Auch wenn mit diesen Sätzen nicht gänzlich klar wird, ob die Frauen durch die »schwaechende Lebensart«, der sie im Unterschied zu den Männern noch stärker ausgesetzt sind, »noch mehr verlohren« haben, oder ob Frauen aufgrund ihrer Eigenschaften stärker unter jener Lebensart leiden, ist mit dem Bezug auf das formulierte Ziel der Erziehung als Gleichheit doch nahegelegt, dass es sich nicht
92
Ebd.: 285. Vgl. auch die ausführlichere Diskussion auf S. 244f. dieser Arbeit.
93
Vgl. ebd.: 106.
94
Ebd.: 163f. Er befindet sich damit im pädagogischen Denken der Aufklärung in einer Minderheitenposition. Der erste Text aufklärerisch-pädagogischen Denkens, der sich mit der Begründung der Koedukation befasst, wurde 1793 von Theodor Gott lieb von Hippel veröffentlicht. 1802 folgte mit der Bestimmung des Weibes zur höheren Bildung von Amalia Holst ein weiterer Text, der gleiche Bildung für Männer und Frauen, allerdings nur für die höheren Gesellschaftsschichten, fordert.
95
Ziegenhagen (1792: 163).
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um eine spezifisch weibliche Schwäche handelt, auf die Ziegenhagen hier anheben will, sondern um eine gesellschaftlich bedingte, die zu überwinden ist. 96 Dieser optimistischen Lesart setzt der Text einen gehörigen Widerstand entgegen. So wenn er die Rolle der Frau des Leiters der Kolonie darauf beschränkt, Hausbesuche bei den Familien zu machen, um so »unordentliche und unsaubere Haushaltungen, in welchen daher viele gefaehrliche und anstekkende Krankheiten wueten, in Wohnungen der Ordnung und der Gesundheit« 97 zu verwandeln. Oder wenn er sich mit Blick auf die sich freiwillig ergebende Arbeitsteilung in der Kolonie davon überzeugt zeigt, dass »kein Fach unbesezzt bleiben [wird], da keines die maennlichen Kraefte hoehnt, und an sich der Gesundheit nachteilig werden kann; denn solche sind teils, so wie das Haarkraeuseln und Bartscheeren, aus der Geselschaft ganz verbannt; teils, so wie das Kochen und Schneidern dem Frauenzimmer ueberlassen […].«98 Den Frauen wird also, trotz des beständig vorgetragenen Gleichheitspostulats, eine »klassische« Stellung in der Hauswirtschaft zugewiesen bzw. in den Beschäftigungszweigen, die nicht den »maennlichen Kraefte[n] hoehn[en].« ›Brüderlichkeit‹ als Verhältnis der Gleichheit aller Menschen und tätige Gesinnung der ›Bruderliebe‹ ist bei Ziegenhagen zwar als abstraktes Prinzip von universalem Anspruch vorhanden. Es zeigen sich aber in der Schilderung konkreter gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Verhältnisse Gedanken, die im Widerspruch dazu stehen.
4.6 P ÄDAGOGIK 4.6.1 Diagnose und Kritik von Pädagogik Die Grundstrukturen des pädagogischen Denkens in der Verhältnislehre sind von Sensualismus, Vernunftgläubigkeit und der Annahme eines sozialen Charakters menschlichen Lebens geprägt. Die formale Seite der pädagogischen Vorstellungen Ziegenhagens zeigt dabei deutlich ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung 96
Im Rahmen der sozialistischen Diskussion vertritt, fast einhundert Jahre nach Zie genhagen, Clara Zetkin eine ähnliche Argumentation, dernach die Frauen durch ihre Lebensumstände weniger gut gebildet seien als die Männer. Anders als Ziegenhagen geht sie aber nicht von einer generell schwächeren Natur der Frauen aus (vgl. S. 159ff. dieser Arbeit).
97
Ziegenhagen (1792: 182). Vgl. ähnliche Motive bei Robert Owen, Fußnote 120 auf S. 74 dieser Arbeit.
98
Ebd.: 272.
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und dessen Vertrauen in die Macht des Wissens: »Helle und wahre Begriffe in der Seele erzeugen gewis richtige und verhaeltnismaeßige, d.h. gute Handlungen, und diese belohnen durch natuerliche Folge mit Vergnuegen und Zufriedenheit oder mit Gluekke.«99 Die Wahrheit eines Begriffs oder einer Einsicht werde also dadurch belegt, dass das entsprechende Handeln zu positiven Gefühlen führe. Besondere Bedeutung legt Ziegenhagen auf die Spracherziehung. Sprache trenne nicht nur die Menschen voneinander durch trennende Namen und Bezeichnungen, Sprache sei auch das Mittel, die Welt richtig, das heißt angemessen zu erkennen: »Die Sprache der Kolonisten muß stets philosophisch richtig oder der Wahrheit moeglichst angemessen seyn, und an Volkommenheit immer zunehmen. Auf der Volkommenheit oder Unvolkommenheit einer Sprache beruhet die Aufklaerung ganzer Nazionen.«100 Die hellen und wahren Begriffe aber hätten die Menschen noch nicht erreicht, statt dessen herrsche das Gegenteil: »Denn sind dunkle, unausgemachte und unwahre Begriffe in der Seele, so erfolgen unbestimmte, sich oft widersprechende und unverhaeltnismaeßige, d.h. schlechte Handlungen, und ihre natuerlichen Folgen aeussern sich durch Unruh, Mismuth, Traurigkeit und Sorge.«101 Die Trias von Kognition – Handlung – Emotion erscheint genau in dieser Reihenfolge: Das eine bedingt je das ihm folgende. Emotionale Rückkopplung scheint als integraler Bestandteil eines Mechanismus der Lernsteuerung, der gleichsam im Menschen selbst angelegt sei. Diese Lernsteuerung aber könne nicht allein innerhalb des solitären Individuums gelingen, der Austausch mit anderen sei dafür notwendig: »Allein ganz offenbar koennen wir nur aus Vergleichungen der Eigenschaften des einzelnen sowol, als des geselligen Menschen untereinander, und mit den Wuerkungen der leb losen und lebendigen Schoepfung, denen sie bestaendig ausgesezzt sind, dies richtige Verhaeltnis, d.h. das wahre Privat- und Gemeinnuezzige kennen lernen.« 102
Das Kennenlernen der richtigen Verhältnisse wird als kollektiver Lernprozess konzipiert, in dem nicht nur die Menschen untereinander in den Austausch zu treten haben, sondern auch der Austausch mit der belebten und unbelebten Natur die formalen Bezugspunkte bilden, durch die die Kenntnis der inhaltlichen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Menschen und Umwelt zu erlangen sei. 99
Ebd.: 40.
100 Ebd.: 208. 101 Ebd.: 40f. 102 Ebd.: 89.
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Soweit zum groben Rahmen, in dem sich pädagogisches Denken bei Ziegenhagen bewegt. Versuchen wir nun seine Konzepte im Durchgang durch seine Kritik der bestehenden und seinen Entwurf einer alternativen Pädagogik zu konkretisieren. Ziegenhagens Kritik an der bestehenden Gesellschaft und den in ihr herrschenden Formen der Pädagogik hebt darauf ab, dass sie nicht das Lernen der richtigen Begriffe und damit korrelierende Handlungen und Gefühlsbelohnungen vermitteln kann. Statt dessen vergehe sich die »gewoehnliche traurige Erziehungsart«103 an Kindern und Gesellschaft und bringe Unglück hervor. Dies sei sowohl der Form, wie auch dem Inhalt der herrschenden Erziehungsform geschuldet. Die erste, hier zu nennende Kritik Ziegenhagens an der zeitgenössischen Pädagogik findet sich schon bei Jean-Jacques Rousseau. 104 Die Art und Weise pädagogischen Handelns in der Schule sei fern des richtigen Weges zum Glück, eben weil sie unnatürlich sei: »Ebenso findet man bei dem Unterrichte fast nirgends sorgfaeltige Nachforschung und Befolgung der guten glueklichen Wege, welche uns der Schoepfer durch die richtigen Verhaeltnisse in seiner Natur zeigt; fast nirgends gehoerige, und zugleich dem Alter und dem Stuffengang’ in der Natur angemessene Veredlung derjenigen Kraefte, welche er un serer Vernunft und Freiheit zum Vervolkomnen ueberlassen hat; fast nirgends wahre Kunst und aufrichtige Naturliebe, ueberal Abweichung von ihren befeligenden, auch nicht ungestraft zu verlezzenden Gesezzen, ueberal Misbrauch und Verunstaltung ihrer vortreflichen zwekmaeßigen Anlagen, ueberal Kuenstelei!«105
Deutlich wird hier, dass Ziegenhagen, auch wenn er es nicht ausbreitet, ein implizites psychologisches Entwicklungskonzept hat, an dem sich Pädagogik zu orientieren hat. Es gebe einen göttlich-natürlichen Lehrplan, dem zu folgen sei. Stattdessen aber würde die naturgemäße Entwicklung der Anlagen des Menschen behindert und verunstaltet. Interessant ist an dieser Stelle auch seine strikte Abgrenzung von anderen zeitgenössischen Pädagogiken, die ein Brechen des Willens des Kindes wollen, und stattdessen die Vernunft oder Sittlichkeit als etwas äußerliches in es hineinsetzen wollen. Er zeigt vielmehr eine optimistische Anthropologie: Die Anlagen des Menschen seien »vortreflich« und »zweckmae-
103 Ebd.: 41. 104 Vgl. Rousseau (1762) 1998. Auf Rousseau bezieht er sich auch explizit: vgl. Ziegenhagen (1792: 188). 105 Ziegenhagen (1792: 43).
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ßig«, nur zu »veredeln« und das – es scheint schon fast die Pädagogik vom Kinde aus auf – dem Stufengang seiner Entwicklung gemäß.106 Überhaupt wird in der Verhältnislehre scharfe Kritik an jeder Zwanghaftigkeit im pädagogischen Prozess geübt, die die offene, freie und kreative Natur des Menschen zu einem Schatten ihrer Selbst degradiere. Dieser Zwang brächte die ursprüngliche Natur des Menschen zum Erliegen und erzeuge falsches, künstliches Verhalten, das den Menschen vom Glück abbringe: »Denn ein algemeiner Fehler ist es, daß man bei den, ganz zur Munterkeit und Thaetigkeit geschaffenen Kindern ein stilles, gezwungenes, leidentliches, furchtsames Wesen, welches mit Allem zufrieden ist, Gehorsam nennt und Stillsizzen, Ziererei und ein puppenmaeßiges Nachaeffen gewisser Gebraeuche fuer Artigkeit ausgiebt. Ja man sorgt von frueher Jugend an recht eifrig dafuer, daß man fuer die Menschen der verschiedenen Staende, auch ver schiedene Minen, Benennungen und Verbeugungen zu machen wisse. Und so vertreibt man mit Fleis die gute, freie, ofne Natur schon fruehzeitig aus den Menschen, und impfet ihnen dagegen eine falsche truegerische Kuenstelei ein.« 107
Die anerkannten Lernziele stellt er auf den Kopf: »Gehorsam« ist für ihn Leiden, Furcht und Anspruchslosigkeit. »Artigkeit« nichts anderes als die Unfähigkeit selbst zu denken und zu handeln. Die zeitgemäße Höflichkeit sei Künstelei und Reproduktion der gesellschaftlichen Ungleichheiten. Im Zusammenhang mit Ziegenhagens Vorstellungen über den Weg zum menschlichen Glück zeigen sich die für ihn katastrophalen Auswirkungen dieser Erziehung. Nicht nur werde der Tätigkeitstrieb und die Kreativität durch diese Erziehung ausgetrieben, auch der angeborene Geselligkeitstrieb werde zerstört oder eingeschränkt. Neid, Missgunst und Misstrauen gegenüber anderen würden provoziert, prosoziales Verhalten nahezu verunmöglicht: »Wird nicht dadurch [die herrschende Erziehung, R.P.] ganz frueh schon die algemeine Menschenliebe ohne Noth eingeschraenkt, ungegruendete Meenschenfurcht in der zahrten, jedes Eindrukks faehigen Seele erzeugt, und ein leichter Weg zur Hartherzigkeit und Grausamkeit gebahnt?« 108 Die frühe Erziehung ist für Ziegenhagen genau deshalb so zentral, weil hier die Seele noch jedes Eindrucks fähig sei, und sie durch die herrschende Erzie106 Nicht nur bei Rousseau finden sich derartige Gedanken; sie wurden von den Philan thropen aufgenommen, so spricht auch Christian Gotthilf Salzmann davon, man solle »das Kind immer seinen eigenen Willen tun [lassen], so wird es gut werden« (Salzmann [1806] 1964: 70). Radikalisiert wird der Gedanke wenig später im französischen Fourierismus. 107 Ziegenhagen (1792: 48). 108 Ebd.: 53.
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hungsart daran gehindert werde, den Weg zum Glück zu finden, stattdessen hartherzig und grausam werde. Konkret macht er dies bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Kindern, Eltern und Lehrern: »Von einem unuebersehbar schaedlichen Einflusse fuer den Menschen ist auch das Zwangvolle bei seiner ersten Bildung. Welch innerlichen Abscheu muß nicht die freie, zum Vergnuegen geschaffene Seele eines Kindes gegen Lehren schoepfen, welche es mit Gewalt lernen muß, ohne sie zu verstehen und ihren Nuzzen einzusehen! Durch den ueblen Eindruk aber, den die Lehren auf sein Gemueth machen, wird ihm auch die Liebe der Lehrer und Eltern verdaechtig werden.«109
Die Eigenschaften, die bei anderen Pädagogen als ›böse‹ Anlagen des Menschen erscheinen, werden als durch die schlechte Erziehung hervorgebrachte interpretiert. Berücksichtigt man die Bedeutung, die Ziegenhagen dem geselligen Umgang bei der Bildung einer ›verhältnismäßigen‹ Welt-, Selbst- und Sozialbindung zuschreibt, wird klar, wie fatal diese Diagnose ist: Der Form nach versündige sich Pädagogik am Kind durch die Missachtung seiner Entwicklungsstufen, durch die Einschränkung seines angeborenen Tätigkeitstriebes und seiner natürlichen sozialen Gesinnung. Neben den schädlichen Auswirkungen der Form der Erziehung übt Ziegenhagen auch vehemente Kritik an ihren Inhalten, an erster Stelle am Religionsunterricht. Wie oben ausgeführt wurde, ist neben der Eigentumsfrage für Ziegenhagen die Religionsfrage besonders wichtig im Zusammenhang mit einer zum Glück führenden Pädagogik: »Ebenso begeht man bei dem Unterrichte der eingefuehrten Religionen die groebsten Feler gegen das wahre Gluek; obgleich nach dem gewoenlichen Sprachgebrauch’ eben das Wort ›Religion‹ nichts anders heissen soll, als die Lehre vom wahren Gluekk’, und es also der Religion allein zukommen muß, an der Befoerderung des Gemeingluekks zu arbeiten. Aber schon die mehrere Zahl, ›Religionen‹ und die wuerkliche Abteilung der Menschen, die doch im Ganzen volkommen aehnliche Geschoepfe sind, in verschiedene Religions sekten und Religionsuntersekten ist dem Wesen des wahren Gluekks und dem einzigen Mittel, dieses zu erreichen; ist einem algemeinfreundschaftlichen Umgang’, ist der Men schenliebe ganz und gar zuwider.«110
Es zeigt sich, für wie gefährlich Ziegenhagen die Religion für sein Projekt einschätzt. Die Existenz mehrerer Religionen sei widersprüchlich, da es nur einen wahren Weg zum Glück geben könne, mithin nur eine wahre Religion. Die 109 Ebd.: 54. 110 Ebd.: 45.
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Spaltung der Religionen und ihr Widerstreit führe zur Spaltung der menschlichen Gattung, welche die Verbrüderung der Menschheit verhindere. 4.6.2 Methoden verhältnismäßiger Pädagogik Ziegenhagen hat sehr genaue Vorstellungen davon, wie eine den Anlagen und der Natur des Menschen entsprechende Pädagogik auszusehen hat. Über die richtige Form der Erziehung wurde oben schon einiges gesagt, sie hat, wie die gesamte Einrichtung der Gesellschaft, verhältnismäßig zu sein. Für Ziegenhagen sind für eine derartig verhältnismäßige Erziehung zwei Erziehungsinstitutionen von hervorgehobener Bedeutung: Die Landwirtschaft und die kolonistische Ausbildungsanstalt. Besonders wichtig sei landwirtschaftliche Tätigkeit, denn sie »beruht auf sinnlichen Vorstellungen, welche gleichsam ihre natuerliche Unschuld noch behalten haben, und dabei von einer solchen Reichhaltigkeit sind, daß sie dem Menschen sein ganzes Erdenleben hindurch einen unerschoepflichen Stof zum Nachdenken geben.«111 Und weiter: »Auf dem Lande kann aber auch die sittliche oder moralische Denk- und Handlungsart des Menschen durch boese Beispiele, durch Luxus und Moden – den beiden groesten Feinden der Natur und des wahren Gluekks – am wenigsten verdorben werden.« 112 Das Land dient Ziegenhagen als Ort, an dem ein natürliches, moralisches Lernen möglich sei, frei von den oben beschriebenen Auswirkungen städtischen Lebens. Neben diesen moralischen Vorteilen aber sei das Land auch für die körperliche und sinnliche Ausbildung sowie eine gesunde Ernährung bestens geeignet: »Hier bekommen wir Speisen und Getraenke gleichsam unmittelbar aus den Haenden der Natur, und also gewis am heilsamsten. Hier ist Bewegung und Uebung des Koerpers Berufsstand und Nothwendigkeit.« 113 Das Leben und Arbeiten als Landwirtschaftler stellt für Ziegenhagen ein sittliches, moralisches und körperliches Erziehungsmittel dar, um die Verhältnismäßigkeit des Menschen zu erreichen. Er will aber nicht zurück zu einem scheinbar idyllischen Landleben, sondern mit seiner Kolonie einen »Mittelweg zwischen der gewoehnlichen fehlerhaften staedtischen und der ungeselliglaendlichen Lebensart«114 finden. Ziegenhagen beschreibt hier ein indirekt wirkendes Setting von Lernsteuerung durch die Einrichtung entsprechender Umstände und durch Arbeit. Auf diese Motive werden wir im Laufe der Arbeit wiederholt zurückkommen. Die Arbeit in der Landwirtschaft sei zwar für die Bildung zur gemein111 Ziegenhagen (1792: 97). 112 Ebd.: 99. 113 Ebd.: 102. 114 Ebd.: 318.
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schaftlichen Gleichheit wichtig, aber ihr müsse zur vollständigen Bildung eine schulische Ausbildungsanstalt zur Seite gestellt werden: »Nur durch diese Ausbildungsanstalten, welche der Aufklaerung unserer Zeiten ganz angemessen sind; nur durch diese gemeinschaftliche Unterrichtszimmer und Hoersaeaele der Verhaeltnislehren und Uebungen; nur durch eine, diesen gemaeße, Denk- und Handlungsart ist es moeglich, wahre Selbst- und Menschenliebe und wahres Menschengluek zu gruenden. Nur diese begluekkende Verhaeltnislehre kann Helle des Verstandes, Geradheit des Herzens und Biedersinn mit Koerperstaerke und Gewandtheit verbinden; nur sie kann einen algemeinfreundschaftlichen Umgang und eine algemeine Weltvaterlandsliebe stiften, und nur sie kann alle Bewohner der schoenen Erde Gottes zu einem großen, gleichdenkenden und gleichhandelnden Volke vereinen.« 115
Mit diesen Ausbildungsanstalten lässt sich ein, mit der indirekten Lernsteuerung korrespondierendes Moment direkter Lernsteuerung durch Instruktion und Übung identifizieren. Trotz seiner beißenden inhaltlichen Religionskritik behält Ziegenhagen in der Erziehungskolonie einige aus dem Christentum überlieferte Formen bei. So übernimmt der Lehrer und Leiter der Kolonie der Form nach die Rolle eines Pfarrers, der nicht nur lehrt sondern auch predigt. So soll jener »in den Versammlungen fuer Erwachsene am ersten Tag der Woche, (›am Sonntag’‹) in einer kurzen Rede, die algemeinen Grundsaezze der verschiedenen Faecher lichtvoll darstell[en], und ihren Zusammenhang mit dem richtigen Verhaeltniss’ oder dem wahren Gluekk’ ueberzeugend [angeben].« 116 Es ist erstaunlich, wie selbstverständlich Ziegenhagen alte pädagogische Formen übernimmt und lediglich die Inhalte austauscht. So wie der Weg zum Segen Gottes ein durch den priesterlichen Hirten geführter ist, so ist der Weg zum verhältnismäßigen Glück ein ebenso geführter, nur hier durch den säkularisierten, pädagogischen Hirten. Pädagogen finden sich aber nicht nur in der Kolonie. Während Fürsten und Universitäten als übergeordnete Instanzen die finanziellen Mittel bereitstellen sollen, um das Projekt der Kolonie überhaupt zu realisieren (also auf einer vor-pädagogischen, bildungspolitischen Ebene tätig sein sollen), seien Theologen, Prediger und Schullehrer dazu berufen, im direkten Kontakt mit den Menschen (also auf der Ebene direkter pädagogischer Interaktion) die neue Lehre zu verbreiten: »Ihr Theologen, Prediger und Schullehrer, ihr seyt es, von denen die Menschen die Kenntnis des wahren Gluekks gewis zu erlernen glauben! Wer sonst anders, als ihr solte die 115 Ebd.: 293f. 116 Ebd.: 289.
74 | S OLIDARITÄT B ILDEN Menschen zu guten Staedtern und Landleuten, klugen Hausvaetern und Hausmuettern, einsichtsvollen Geschaeftsmaennern, angenehmen Geselschaftern, treuen Freunden, weisen Regenten und biedern Untertanen bilden? Wem sonst anders als euch verdanken sie ihre gute oder schlechte Bildung?«117
Die Reform der Gesellschaft ist eine pädagogische Reform im Modus der Predigt und des Lehrens. Zentrale Bedeutung hat dabei der Lehrer oder Oberaufseher der Kolonie: Es solle sich dabei um einen jungen Gelehrten im Alter von 24 oder 25 Jahren handeln, der den Kindern als Freund und Lehrer dient: »Wir verlangen in ihm nicht einen ganz fehlerfreien, und bis zur Volkommenheit gereiften Erzieher. Wir fordern nur einen Mann von gesundem Koerper und gesunder Seele, von gehoeriger wissenschaftlicher Einsicht und insbesondere von erprobter Herzensreinigkeit; der als ein Kinderfreund und vorzueglicher Liebhaber des Ausbildungsfaches, sich immer mehr in demselben zu vervolkomnen wuensche.«118
Ein jugendlicher Lehrer sei besser als ein Alter, »dessen finstern und steifen Ge sichtszuege nur zu sehr verraten, daß er das wahre Gluek des Lebens nicht auf dem rechten Wege verfolge.« 119 Die Unbeschwertheit des jungen Lehrers hätte diesen Makel nicht. Dem Lehrer stehen zu Unterrichts- und Erziehungszwecken weitere Personen zur Seite. So seine Frau, die durch Vorbild für Ordnung sorgen soll. Die klassische Geschlechterteilung bricht sich in dieser Konzeption wieder Bahn.120 Neben der Frau des Lehrers bedürfe es aber »zur zwekmaeßigen Ausbildung der Kinder […] der staedtischen Kuenstler und Handwerker.« 121 Diese sollen den Kindern die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten beibringen, freilich unter der Aufsicht des Lehrers.122 So ganz will also Ziegenhagen die Verbindung 117 Ebd.: 88. 118 Ebd.: 175. 119 Ebd. 120 Auch wenn Ziegenhagen von der gleichen Erziehung der Geschlechter spricht, findet sich die Frau doch in der traditionellen und ungleichen Position der (freilich diesmal die engen Bande der unmittelbaren Familie sprengenden) Hausfrau und Mutter wieder. Vgl. auch zur Rolle der Frau bei der Arbeitsteilung: S. 60 dieser Arbeit. Ein ähnliches Modell der Rollenteilung praktizierte der englische Frühsozialist Robert Owen in seiner Modellfabrik New Lenark, obwohl er, genau wie Ziegenhagen die grundsätzliche Gleichberechtigung von Mann und Frau propagierte (vgl. Owen 1970: 26). 121 Ziegenhagen (1792: 168). 122 Ebd.: 206.
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der Kolonie zur Außenwelt nicht abbrechen lassen. Es geht ihm, auch wenn diese Momente vorhanden sind, nicht um eine romantische Rückkehr ins Landleben, sondern um eine durchaus neue Gesellschaft, in der sich Formen des Bestehenden und Formen des Neuen in Synthese fortentwickeln. Die Form der Kolonie erlaubt es, als bedeutsam und gut bewertete Lerngegenstände und -anlässe bewusst in das Leben der Zöglinge einzulassen, während Phänomene mit vermeintlich gegenteiligem Effekt ausgegrenzt bzw. ausgeblendet werden können. Neben diesen klassischen formalen Elementen pädagogischen Strebens spielt für Ziegenhagen die gemeinschaftliche Erziehung eine große Rolle. Anders als Rousseau, der zwar seinen Emil auch auf dem Land aufziehen will, aber eben allein in einem engen Lehrer-Schüler-Verhältnis, ist für Ziegenhagen gemeinsame, kollektive Erziehung der Kinder ein anthropologisch begründetes Erfordernis: »Nicht isolirt sondern gesellig muessen die Kinder auf dem Land’ erzogen werden. Dies schliesset offenbar aus dem uns angebohrnen Geselligkeitstriebe. Nur durch die Gesel schaft erlangt der Mensch die Kenntnis vom geselligen Verhaeltniss’ und Misverhaeltniss’, oder vom Sittlichguten und Sittlichboesen; durch sie kann er die schon gemachten Beob achtungen und Erfahrungen seiner Nebenmenschen benuzzen; durch sie wird seiner Taetigkeit in allen Guten, Großen und Edlen die gehoerige Spannkraft mitgeteilt. Aechte Geselligkeit aber findet nur zwischen gleichgesinnten und gleichhandelnden Menschen statt, und dieses sezzt hinwiederum gleiches Alter und gleiche Kenntnisse voraus; daher muß auch beides im voraus gegruendet werden, wenn eine Geselschaft glueklich seyn soll.« 123
Die Forderung, Kinder in der Gesellschaft anderer Kinder zu erziehen, leitet Ziegenhagen vom naturalistischen Motiv des Geselligkeitstriebes ab. Dieses biologistische Argument bleibt aber nicht allein stehen. Es wird durch sozialpädagogische Überlegungen ergänzt: So sei der Austausch in Gesellschaft nötig, um die Normen des gemeinsamen Zusammenlebens erlernen zu können, aber auch, um die Erfahrungen der Mitmenschen zu nutzen und so nicht alle Erfahrungen selbst machen zu müssen. Auch im Hinblick auf Leistungsfähigkeit sporne die Gemeinschaft zu besseren und höheren Leistungen an. Es lehre und lerne sich aber in der Gemeinschaft auch effizienter und kostengünstiger, so ein weiteres Argument für den Unterricht in großen Gruppen: »Durch diese Aenderung gewinnen nicht nur unsere Lehrer zu ihrem eigenen Gebrauche mehr Zeit, da sie auf viele zugleich wuerken koennen; sondern wir ersparen auch unserer Gemeinkasse unnoetige Ausgaben.«124 123 Ebd.: 162. 124 Ebd.: 186f. Wenig später werden Andrew Bell und Joseph Lancaster umfangreiche und detaillierte Modelle gemeinschaftlichen Unterrichts vorlegen, die auf ähnlichen
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Nun sei aber nicht jedes Beisammensein Gemeinschaft. Echte Gemeinschaft gründe nur in der Gleichheit der Gesinnung und des Handelns. Diese aber seien begründet im gleichen Alter und gleichen Kenntnissen. Aus diesem Grund will Ziegenhagen seine Kolonie mit etwa gleichaltrigen Kindern gründen. Neben den Formen der Erziehung und des Lehrens spielen Inhalte eine große Rolle bei der Formung des neuen Menschen. Aus der oben skizzierten pädagogischen Grundmatrix: Begriffe – Handlungen – Gefühle leitet sich dementsprechend auch Ziegenhagens starke Betonung der Inhalte ab: Nur wenn den Menschen die ›wahren‹ Begriffe, also die ›richtigen‹ Inhalte bewusst geworden sind, könnten sie ›richtig‹ handeln und dementsprechend glücklich werden. Wichtig ist für Ziegenhagen der Kampf gegen Vorstellungen und Vorurteile, die den Menschen vom Gemeinschaftsleben abhalten, an erster Stelle gegen die Vorstellung der Gottgewolltheit und des positiven Nutzens von Eigentumsungleichheiten: »Menschen verlasst den Wahn: ›es sey eine große Weisheit Gottes in der unverhaeltnis maeßigen Verteilung des Guetervermoegens zu suchen, und der Arme muesse nur aus Noht gedrungen manches Gute tuhn.‹ Lernt – durch die aechte Verhaeltnislehre – menschlich denken und handeln! Glaubt nicht, daß das Gefuel der Guete und Nuzbarkeit einer Handlung nicht stark genug sey, um das ganze Kraftvermoegen des Menschen zum Taetigseyn anzuspornen, oder daß er fuer Nuzbarkeit und Tugend nicht empfaenglich gemacht werden koennte. Solch menschenfeindliches Vorurteil muß aus der menschenfreundlichen kolonistischen Geselschaft auf immer verbannt seyn.« 125
Erneut wendet er sich gegen die Vorstellung der motivationalen Wirkung der Ungleichheit, vor allem der Armut. Das Gefühl, etwas Nützliches und Gutes getan zu haben, sei ein adäquater Motor guten und richtigen Handelns. Den alten, falschen Ansichten solle eine sachlich richtige, enzyklopädische Bildung entgegengesetzt werden,126 die von entsprechenden Fachlehrern und Experten vermittelt werden soll:
Überlegungen hinsichtlich der Effizienz basieren. Vgl. Caruso (2010: 165-260); Stratenwert (2014: 13-43). 125 Ziegenhagen (1792: 186). 126 Ziegenhagen bezieht sich hier auf die von Denis Diderot und Jean Baptiste le Rond d’Alembert herausgegebene Encyclopédie (1751ff.), die von Ziegenhagen wohl vor allem wegen ihrer grundlegend an den Ideen der Aufklärung orientierten Ausrichtung und ihrer Religionskritik als Standardwerk für den Unterricht ausgewählt wur de.
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»Im Betrachte der Einrichtung seines solchen gemeinschaftlichen Unterrichts wird zufoerderst in allen einzelnen Faechern der Encyklopaedie ein eigener Gelehrter oder Kuenstler erfordert, welcher der Jugend taeglich, den Erwachsenen aber auf bestimmte Tage der Woche ueber das Besondere und die Eigenheiten einer Wissenschaft, einer Kunst oder eines Handwerks Unterricht erteilt.«127
Ziegenhagen geht es nicht nur um pädagogische Arbeit mit Kindern, sondern auch um Andragogik. Im wöchentlichen Turnus sollen die Erwachsenen zu Weiterbildungsveranstaltungen herangezogen werden, um sich kontinuierlich vervollkommnen zu können.128 Pädagogik als Lernsteuerung und Lernaufforderung wird als lebenslanger und unabgeschlossener Prozess konzipiert.
4.7 G ESAMTSCHAU Die für das Werk namengebende Idee der Verhältnismäßigkeit ist die zentrale Klammer der ziegenhagenschen Erzählung. Alles in der Natur sei von Gott in den richtigen Verhältnissen zu- und miteinander eingerichtet worden. Alles, bis auf der Menschen, befinde sich in einer richtigen Ordnung. Dem Menschen wurde als einzigem Lebewesen von Gott Vernunft und die Fähigkeit zum freien Denken und Handeln gegeben. Diese Freiheit sorge nun dafür, dass der Mensch, entgegen dem Rest der Natur, nicht mechanisch im richtigen Verhältnis zu sich und seiner Umwelt stehe. Er müsse vielmehr durch eigene Anstrengung diese richtigen Verhältnisse erst erkennen und dann ihnen gemäß handeln. Nur auf diese Weise könne er zum Ziel seines Lebens kommen: Dem Genuss von Glück. Gemeinschaftlichkeit kommt in diesem Prozess eine mehrfache Bedeutung zu. Zum einen als angeborener Trieb des Menschen, der ihm von Gott gegeben wurde, um durch den Austausch mit anderen Menschen zu lernen, sich ins rechte Verhältnis zur Welt zu setzen. Gemeinschaft ist also pädagogisch notwendig. Der Mensch sei auf den Austausch mit anderen angewiesen, um die möglichen Fehler seiner Wahrnehmungen und seine Vorurteile im Gespräch zu prüfen und abzulegen. Eine dritte Begründung der zentralen Bedeutung der Gemeinschaftlichkeit für den Menschen ist ein ökonomisches Kriterium: Gemeinschaftlich wirtschafte und lehre es sich effizienter. Gemeinschaft wird bei Ziegenhagen dabei notwendigerweise als Gemeinschaft Gleicher konzipiert. Ihre Mitglieder sollen gleich an Eigentum sein bzw. das Eigentum der Gemeinschaft gehören, sie sollen gleich sein an grundlegenden 127 Ziegenhagen (1792: 288f.). 128 Dies betrifft auch den ›Verhältnislehrer‹ selbst, der sich kontinuierlich weiterbilden soll (vgl. Ziegenhagen 1792: 175).
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Kenntnissen und Fähigkeiten sowie an politischen Rechten und Pflichten. Das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft wird als eines der gegenseitigen Bedingung und Verpflichtung, aber auch der Ermöglichung konzipiert. So könne die Gemeinschaft nur bestehen, wenn die Individuen sie rational und emotional tragen – eine Pädagogik zur ›Brüderlichkeit‹ erhält hier ihren Platz – dafür müsse die Gemeinschaft so eingerichtet sein, dass sie diese Haltung von den In dividuen verdient. Sei dem so, hätten die Gemeinschaftsmitglieder aber auch Verpflichtungen gegenüber sich selbst und der Gemeinschaft, um sie in diesem lebenswerten Zustand zu erhalten. Denn nur die verhältnismäßige Gemeinschaft könne dem Individuum Glück bringen – und das verhältnismäßige, gesunde Individuum der Gemeinschaft. Die Gesundheit zu »erhalten, ist unverbruechlichste Pflicht des geselligen Menschen.« 129 So sehr Ziegenhagen auch die gleiche Gemeinschaft aller anstrebt, ist diese doch nicht frei von Brüchen. Er bedient einen rassistischen Diskurs, der die Gesellschaft in höher und niedriger entwickelte Menschen teilt. Neben dieser Hierarchisierung nach rassistischen Kriterien findet aber auch die klassische Spaltung in Männer und Frauen Widerhall bei ihm. Dafür, dass er in der Tendenz seiner Weltgesellschaft die vermeintlichen Unterschiede der ›Rassen‹ aufheben will, finden sich in seiner Schrift immerhin Indizien; die Aufhebung der Unterschiede der Geschlechter aber lässt sich nicht so deutlich aus der Verhältnislehre ableiten. Dieser innere Widerspruch zu seinen postulierten Gleichheitsansprüchen bleibt unaufgelöst und wird später weiter diskutiert.130 ›Brüderlichkeit‹ erscheint in drei Facetten. Alle Menschen seien als Kinder Gottes Brüder und so komme ihnen ›Brüderlichkeit‹ als verwandtschaftlicher, Gleichheit an Pflichten und Rechten begründende, Eigenschaft zu. Diese ›Brüderlichkeit‹ der Menschen untereinander lege die Basis für ihre Gemeinschaft. Die herrschenden Weltanschauungen, allen voran die Religionen aber verhinderten diese natürliche Gemeinschaft der Menschen. Daher ergeht im Text eine moralische Aufforderung zur ›Brüderlichkeit‹ als Haltung, als Bewusstsein, das gegenüber den Mitmenschen einzunehmen ist und die mit einer Handlungsorientierung verbunden ist. Hier haben pädagogische und sozial-reformatorische Bemühungen anzusetzen. Wobei für Ziegenhagen keine der beiden bedeutsamer ist als die andere, sie sind vielmehr miteinander verschränkt. Bei genauer Betrachtung ist die Unterscheidung beider nicht zutreffend, sondern sein gesamtes Reformkonzept auf allen Maßstabsebenen pädagogisch zu nennen. Denn nur durch die politische Schaffung von Gemeineigentum und Freiheit könne der pädagogische Auftrag 129 Ziegenhagen (1792: 256). 130 Vgl. S. 272ff. dieser Arbeit.
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einer verhältnismäßigen Erziehung greifen. Sie könne nicht glücken, solange die, das Individuum umgreifenden, Bedingungen Verhältnismäßigkeit unmöglich machen. Diese Sozial-Pädagogik lässt sich in der Verhältnislehre auf vier Maßstabsebenen zeigen: Die erste, basale, keimzellenförmige, ist die zwischen zwei oder wenigen Menschen im direkten Umgang miteinander; die zweite ist die der Kolonie; die dritte Ebene der untereinander verbundenen neun Kolonien und letztlich auf der vierten Ebene die globale Weltgesellschaft. Auf all diesen Ebenen spielt für Ziegenhagen der Gleichheitsgedanke eine zentrale Rolle. Pädagogische Bemühungen haben sich in der Mikro-Perspektive auf die Lernsteuerung von Individuen zu richten. Auch wenn das Individuum der Gemeinschaft zum Lernen der Verhältnismäßigkeit bedarf, so haben sich doch am Individuum die pädagogischen Bemühungen zu kristallisieren; es sei Träger und Kreuzungspunkt der Kräfte und ihrer Verhältnisse, und nur dem individuellen Mensch komme die Freiheit zu, Entscheidungen treffen zu können. In diesem Sinne geht es Ziegenhagen auch nicht darum, eine rein kollektivistische Erziehungsform zu verteidigen. Vielmehr will er die Gemeinschaft so einrichten, dass der einzelne Mensch sein Glück finden kann. Hier findet sich die vor-pädagogische Makroebene wieder, auf der es gelte, die Bedingungen der Möglichkeit einer Pädagogik, die zur Einsicht in die Verhältnismäßigkeit führt, möglich zu machen.131 Somit liegt mit der Verhältnislehre einen sozial-reformatorischen Entwurf vor, der durch und durch pädagogisch ist: Er geht von der Bildungsfähigkeit und Erziehungsnotwendigkeit des Menschen aus, und dreht sich um die Frage, wie entsprechende Lernsteuerung möglich ist. Denn Ziel des menschlichen Leben sei das Glück: Die Einsicht in die Verhältnismäßigkeit allen Seins, in die Eigenschaft aller Menschen als Brüder und ›lebenslanges‹ Lernen. Darauf hin müsse sich Gesellschaft und Pädagogik ausrichten.
131 Vgl. dazu ausführlicher: S. 268ff. dieser Arbeit.
5. Brüderlichkeit und die Pädagogik der Gleichheit (Étienne Cabet)
5.1 A UTOR
UND
T EXT
Ètienne Cabet wurde am 1. Januar 1788 in Dijon/Frankreich geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und verstand sich in seinen jüngeren Jahren als radikaler Demokrat. Wie etliche der frühen französischen Sozialisten war er bei den Carbonari organisiert, einer geheimen Vereinigung, die »no clear or consistent theory or policy, beyond that of revolutionary opposition« 1 hatte, aber als Sammelbecken und Austauschforum der Radikalen galt. Cabet nahm an der Revolution von 1830 teil. Zu Beginn dem ›Bürgerkönig‹ Louis-Philippe, der ihn auch mit einem offiziellen Posten auf Korsika versah, 2 nahestehend, übte er mehr und mehr Kritik an königlicher Willkür und betrieb in seinem Blatt La Populaire demokratische Propaganda. Daher musste Cabet Frankreich verlassen, ging nach Brüssel, dann nach London ins Exil. Seine Zeit im Exil nutzte er zum intensiven Studium der Französischen Revolution, das sich in der mehrfach aufgelegten Histoire populaire de la Révolution française de 1789 à 1830 3 in vier Bänden niederschlug. Während seines Studium verarbeitete er sowohl die eigenen Erfahrungen bei den Carbonari als auch die Geschichte der putschistischen ›Verschwörung der Gleichen‹ Babeufs.4 Beides brachte ihn zu der Überzeugung, 1
Cole (1962: 75).
2
Kool/Kraus (1967: 303f.).
3
Cabet 1840b.
4
Die von François Noël (Gracchus) Babeuf 1795 initiierte Geheimgesellschaft wurde 1796/97 zerschlagen und die meisten ihrer Mitglieder, inklusive Babeuf, guillotiniert. Die Ideen und die Geschichte dieser Gruppe wurde von ihrem überlebenden Anhänger Philippe Buonarroti ([1828] 1909) niedergeschrieben und popularisiert. Belletristischen Niederschlag fand die Verschwörung bei Ilija Ehrenburg 1928.
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»daß der Kommunismus nicht als gewaltsamer Willensakt einer Minorität eingeführt werden kann, sondern nur mit Zustimmung der Mehrheit.« 5 Im Exil wandelte sich Cabet unter dem Eindruck von Thomas Morus’ Utopia und dem Einfluss der Schriften Robert Owens vom bürgerlichen Radikalen zum bekennenden Kommunisten.6 Seine Wandlung vom Demokraten zum radikal an Gleichheit orientierten Kommunisten dokumentiert sich in seinem Kommunistischem Glaubensbekenntnis7 und im vielfach aufgelegten, utopischen Roman 8 Reise nach Ikarien9, in dem er mit großer Detailfreude die Gestalt einer kommunistischen Gesellschaft beschrieb. Wie bei den Anhänger*innen Owens (von deren Siedlungsexperimenten Cabet stark beeinflusst war) und anderen Frühsozialist*innen beschränkte sich das Schaffen Étienne Cabets nicht nur auf die Schriftstellerei: Er versuchte seine Ideen ab Dezember 1848 im US-Staat Illinois in die Tat umzusetzen, 10 allerdings scheiterte der Versuch nicht nur daran, dass er Opfer eines windigen Landbetrügers wurde, sondern auch daran, dass die Gruppe, mit der er seine Ikarische Kolonie gründen wollte, überwiegend aus Schustern und Schneidern bestand – Bauern aber, die zur Versorgung der Menschen nötiger gewesen wären, waren fast keine unter den Neusiedler*innen. 11 Darüber hinaus prägte sich bei Cabet – entgegen der von ihm gepredigten Demokratie – ein diktatorischer Führungsstil aus, der zu seiner vorzeitigen Verbannung aus der Kolonie führte. 12 Ein Jahr später, am 8. November 1856, starb Étienne Cabet in St. Louis/USA. Die Grundlage der folgenden Interpretation ist Cabets Buch Die neue Sittenverbesserung durch die ikarische Gemeinschaft in zwölf Briefen (in der Folge mit Sittenverbesserung abgekürzt) in der Übersetzung von T. B. Allhusen, erschienen in Kiel 1850, ohne Verlagsangabe, aber mit dem Vermerk »Gedruckt in der Schulbuchdruckerei.« Dieser hier Verwendung findende deutsche Text geht auf eine Publikation Cabets aus dem Jahre 1841 zurück.13 Dabei handelt es sich 5
Höppner/Seidel-Höppner (2002: 45).
6
Ramm (1968: 390); Cole (1962: 76; 79). Der Einfluss beider Denker wird auch in dem im Folgenden zu interpretierenden Text deutlich.
7
Französisch: Cabet 1841a; deutsch: Cabet 1842.
8
Cabet selbst wehrte sich gegen eine Qualifizierung seines in der Reise nach Ikarien dargestellten Prinzips als Utopie. Er war von der »Möglichkeit der Anwendung« seiner Prinzipien (Cabet 1842: 346) überzeugt.
9
Französisch: Cabet 1840a; deutsch: Cabet 1847.
10
Ausführlich dazu: Höppner/Seidel-Höppner (2002: 243-388).
11
Kool/Krause (1967: 309).
12
Saage (1999: 74).
13
Vgl. Cabet 1841b.
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DER
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um einen Auszug der Essenzen aus der Reise nach Ikarien, »in dem das Romanhafte abgestreift, und nur die Kritik des heutigen Gesellschaftssystems und die leitenden Grundsätze der kommunistischen Gemeinschaft kurz skizziert sind.« 14 Étienne Cabet steht im Schatten der großen drei Namen des Frühsozialismus Henri de Saint-Simon, Robert Owen und Charles Fourier. In der Geschichtsschreibung des (Früh-)Sozialismus wird er als rührender Idealist dargestellt, der sich intellektuell durch eine »banale Mittelmäßigkeit« 15 auszeichne. Doch selbst der Autor dieses Diktums konstatiert, dass »die Bedeutung Cabet’s für die Geschichte des Proletariats […] doch über seine persönliche Bedeutung weit hinaus [reichte], denn sie vermochte – vielleicht gerade wegen ihrer Mittelmäßigkeit – auf das damalige französische Proletariat einen größeren Einfluß auszuüben, als die Genialität St. Simon’s oder Fourier’s, deren Lehren Kaviar für das Volk war.«16
Und tatsächlich fanden Étienne Cabets Schriften nicht nur unter französischen Arbeiter*innen weite Verbreitung.17 Formal erfüllt die Sittenverbesserung alle Kriterien der Textauswahl: Es handelt sich um einen sozialistischen Text, der die soziale Ungleichheit in der Gesellschaft nicht als individuelle Verfehlung einzelner, sondern als soziales Problem fasst, das auch nur durch eine Veränderung der sozialen Strukturen verändert werden kann. Diese Veränderung soll auf dem Weg einer allmählichen gesellschaftlichen Transformation erfolgen. Neben explizit pädagogischen Passagen, öffnet sich der Text auch einer Interpretation, die sowohl die Fragen nach dem Menschenbild, der (inneren und äußeren) Steuerung von Lernprozessen und deren Methode sowie dem Ziel dieser Steuerungen beantwortbar macht. Der Text handelt darüber hinaus nicht nur von der individuellen Dimension des Pädagogischen, sondern beschäftigt sich intensiv mit der sozialen Dimension der Gemeinschaft. Zuletzt finden die Worte ›Brüderlichkeit‹ und ›Solidarität‹ Verwendung und der Text ist innerhalb des gesetzten zeitlichen Rahmens entstanden. Neben diesen formalen Kriterien wurde die Sittenverbesserung ausgewählt, weil sie inhaltlich spezifische Argumentationsmuster zeigt, die typisch für eine bestimmte Strömung des frühen Sozialismus sind, den man als Gleichheitskommunismus bezeichnen kann.18 Diese Richtung war nicht nur in Frankreich 14
Lindemann (1908: V).
15
Lux (1894: XI).
16
Ebd.
17
Saage (1999: 73); Lux (1893: 8).
18
Vgl. Engels ([1885] 1975: 214).
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stark, sondern wurde, beispielsweise von Wilhelm Weitling, 19 auch im deutschen Sprachraum vertreten. Die entsprechenden Grundmotive dieses egalitären Sozialismus versprechen, im Vergleich zu den anderen Texten, spezifische Begründungsstrukturen für das Verhältnis zwischen Solidarität, Gemeinschaft und Pädagogik zu finden. Für die Sittenverbesserung und nicht den umfangreicheren Romantext der Reise nach Ikarien wurde sich aus pragmatischen Gründen entschieden, da es sich um einen übersichtlicheren Textkorpus handelt, der die im Roman verhandelten grundlegenden Prinzipien wiedergibt.
5.2 Ü BERBLICK Wie der Titel des Buches nahelegt, handelt es sich um eine Zusammenstellung von zwölf Briefen, die zum Teil inhaltlich aufeinander aufbauen, zum Teil didaktisch begründete Redundanzen aufweisen. Den Briefen Cabet vorangestellt ist ein zweiseitiger, als Einleitung dienender Text, der eine sehr geraffte Darstellung der grundlegenden Aussagen des Buches gibt und für die Relevanz einer Beschäftigung mit seinen Ideen wirbt. Dieser Text ist nicht namentlich gekennzeichnet. Er ist aber definitiv nicht von Cabet (er fehlt im französischen Original), wahrscheinlich vom Übersetzer verfasst und wird in die Analyse nicht einbezogen. Ebenso nicht in die Interpretation einbezogen wird der letzte Teil des Buches, bei dem es sich um eine »Wahlen-Anleitung unter dem Schutze der vorläufigen Regierung des französischen Freistaats« handelt. Sie fehlt ebenfalls im von Cabet selbst geschriebenen Text und wird daher nicht in die Interpretation einbezogen. Der für die Interpretation relevante Textkorpus besteht aus den zwölf Briefen Étienne Cabets. Seinen ersten Brief eröffnet Cabet mit einem Glaubensbekenntnis, das den missionarischen Charakter des Textes verdeutlicht: »Wohlan! ich bin Communist, Communist durch die Ueberzeugung nach langen Studien, eifriger Communist, bereit selbst mein Leben für meinen socialen und politischen Glauben zu geben.«20 Neben diesem stürmischen Bekenntnis skizziert er die »Allgemeinen Ideen über die Communisten und die Gütergemeinschaft« 21 sowie sein Menschenbild und die Bedeutung der Erziehung für die Herausbildung der neuen Gesellschaft, die er sich als »einheitliche, gleichheitliche, brüderliche« 22 Gemeinschaft vorstellt. Seine Schilderung der Strukturen und Prinzipien der neuen 19
Vgl. Weitling (1838/1839) 1971; 1842.
20
Cabet (1850: 5).
21
Ebd.
22
Ebd.: 11.
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Gesellschaft verbindet er mit deren Begründung aus der menschlichen Natur und einem Plädoyer für die Nutzung der Vernunft. Diese Ausführungen erstrecken sich bis in den sechsten Brief, an den die Erörterung der Position »des Weibes« 23 in der herrschenden und künftigen Gesellschaft anschließt. 24 Immer wieder nimmt Cabet Fragen der Erziehung auf, wobei erst der achte Brief unter dem Titel »Ueber die Erziehung«25 steht. Nach einer »Widerlegung etwaiger Einwürfe gegen die Gleichheit und die Gemeinschaft« 26 folgt eine Darlegung jener Prinzipien der künftigen Gesellschaft, die sich schon in der gegenwärtigen finden sowie Überlegungen zum Übergang in die neue Gesellschaft. Den Schluss bildet der zwölfte Brief, der in Form eines dramatischen Dialogs verfasst ist und in dem, in der Kontrastierung mit anderen Gesellschaftsmodellen (so unter anderem dem der Anhänger Charles Fouriers), die Vorzüge der Ikarischen Gemeinschaft herausgearbeitet werden.
5.3 G ESELLSCHAFT
UND
G EMEINSCHAFT
Das Gesellschaftliche wird in der Sittenverbesserung in drei Perspektiven thematisiert: In der Kritik an der bestehenden Gesellschaft, in der Beschreibung der neuen, zu errichtenden Gesellschaft und in der Beschreibung der verschworenen Gruppe der Anhänger der Idee des Ikarischen Kommunismus. Obgleich für die Fragestellung dieser Arbeit vor allem die letzten beiden Perspektiven interessant sind, erfolgt erst eine knappen Schilderung von Cabets Gesellschaftskritik, um vor diesem Hintergrund seine alternativen Vorstellungen besser nachvollziehen zu können. 5.3.1 Diagnose und Kritik der bestehenden Gesellschaft Dem propagandistischen Anliegen der Schrift entsprechend teilt Cabet die Darstellung didaktisch in eine sehr knapp gehaltene Kritik der bestehenden Gesellschaft und eine umfangreichere Illustration der vom ihm entworfenen, alternati-
23 24
Ebd.: 50ff. Dieses Kapitel ist nach seiner Veröffentlichung in den Deuze Lettres d'un Communiste à un Réformiste sur la Communauté wiederholt eigenständig veröffentlicht wurden. In den 1840er Jahren erschien es in mindestens zwei Übersetzungen auch auf deutsch (vgl. Lindemann 1908: V), zuletzt 1908 (Cabet 1908).
25
Cabet (1850: 67ff.).
26
Ebd.: 77ff.
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ven Gemeinschaft. Das Leben des Menschen in Gesellschaft ist dabei für Cabet grundsätzlich naturgegeben: »Da die Natur den Menschen wesentlich gesellschaftlich [Herv. i.O.] gebildet hat, so ist die Gesellschaft [Herv. i.O.] natürlich. Sie ist bürgerlich oder politisch in Folge der von den Menschen erdachten Institutionen geworden. Die bürgerliche oder politische Gesellschaft sollte nichts anders sein als die Vervollkommnung der natürlichen Gesellschaft.« 27
In dieser Passage werden zwei Dinge deutlich: Es wird kein ungesellschaftlicher Naturzustand vorgestellt, sondern eine anthropologische Bestimmung des Menschen zur Gesellschaftlichkeit: Das Leben in Gesellschaft sei für den Menschen von Natur aus gegeben. Diese natürliche Gesellschaft aber – deren Form nicht näher beschrieben wird – sei durch Institutionen und Einrichtungen, die der Mensch geschaffen habe, zu einer neuen Form der Gesellschaft, nämlich der bürgerlichen bzw. der politischen geworden. Diese bürgerliche Gesellschaft scheint nötig zur »Vervollkommnung der natürlichen Gesellschaft.« Diesen Zweck aber erfülle die bestehende bürgerliche Gesellschaft nicht. Im Gegensatz, sie führe zu schlechten Folgen, sie sei gar »der Satan der die Menschheit verderbt; sie ist der Teufel von dem man das Menschengeschlecht befreien muß.« 28 Es sei so, »daß das Uebel in einer schlechten gesellschaftlichen Organisation sich befindet« und daher »das Heilmittel auch nur in einer besseren Organisation der Gesellschaft, in schicklicheren und rathsameren Anordnungen liegt.« 29 Worin aber genau sieht Cabet die Fehler der bestehenden Gesellschaft? Der Hauptpunkt der cabetschen Kritik der Gesellschaft geschieht von der Prämisse aus, »daß die Ungleichheit die Ursache allen Uebels und daß die Gleichheit das einzige Heilmittel ist.«30 Ungleichheit beherrsche die bestehende Gesellschaft überall: »In Folge der Unwissenheit, der Unerfahrenheit, der Barbarei des Menschengeschlechts während vieler Jahrhunderte, existirt die bürgerliche und politische Gleichheit wirklich nirgends, und die gesellschaftliche Ungleichheit schändet und zerstört die natürliche Gleichheit, anstatt sie zu guarantiren und zu vervollkommnen.«31 Gleichheit, die allen Menschen natürlicherweise zu komme, werde von der Gesellschaft, statt sie auszubauen und weiterzuentwickeln, suspendiert. 32 Mehr noch, die Gleichheit, die im natürlichen Gesellschaftszustand bestehe, werde im 27
Ebd.: 12.
28
Ebd.: 6.
29
Ebd.: 7.
30
Ebd.: 17.
31
Ebd.: 15.
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bürgerlichen Zustand zerstört. An ihrer Stelle polarisierten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse: »[Ü]berall ist die Nation zusammengesetzt aus Regierern und Regierte, Arbeiter und Müssiggänger, Reiche und Arme, thätige Bürger die alle politischen Rechte besitzen, und leidende Bürger die keine haben. Hieraus: Neid, Haß, Krieg in dieser angeblichen Gesellschaft.«33 Aus dem vorherigen Zitat wird noch etwas deutlich: Cabet beschreibt »Unwissenheit« und »Unerfahrenheit« der Menschen als mitursächlich für den desolaten Gesellschaftszustand. Diese beiden Kategorien deuten an, wie der Zustand überwunden werden könnte, nämlich durch den Erwerb von Wissen und Erfahrung, also durch das Lernen.34 5.3.2 Neue Gesellschaft: Die ikarische Gemeinschaft Während Cabet unter dem Begriff der ›Gesellschaft‹ das bestehende soziale System fasst, wird sein neues soziales System mit dem Begriff der ›Gemeinschaft‹35 umschrieben. Diese Differenz, gleichwohl er sie nie explizit definiert, soll nun etwas genauer betrachtet werden. Dabei wird nicht seine gesamte, sehr detaillierte Gestaltung einer kommunistischen Gemeinschaft analysiert. Vielmehr werden, erstens, die Basisprinzipien des Zusammenlebens in den Blick genommen und, zweitens, die Aspekte, die im Zusammenhang mit Cabets Brüderlichkeitsbegriff und seinen pädagogischen Vorstellungen stehen. Mit der rhetorischen Frage: »Was ist die Gemeinschaft?« 36 beginnt Cabet die Beschreibung der ikarisch-kommunistischen Gesellschaft. Und er antwortet: »Sie ist eine einheitliche, gleichheitliche, brüderliche Verbindung.« 37 Damit sind die drei Grundprinzipien seines Gesellschaftsentwurfes benannt. Die Verwandt32
Cabet folgt der optimistischen Anthropologie Rousseaus, der in der falschen Anordnung der Gesellschaft die Ursache für Ungleichheit sieht (vgl. Rousseau [1755] 1984). Auch im Plädoyer für die Reform in Richtung einer kollektivistischen Gesellschaft ähneln sich die Konzepte (vgl. Rousseau [1762] 2005).
33
Cabet (1850: 12).
34
Die Denkfigur eines Prozess der Humanisierung der Gesellschaft als bewusster, zu steuernder menschlicher Lernprozess unterscheidet sich von Ansichten, beispielsweise im Fourierismus oder auch im später popularisierten Vulgärmarxismus, nachdem die Geschichte ihren eigenen Gesetzen folgt und teleologisch, unabhängig vom Willen und Streben der einzelnen Menschen, auf ihr Ziel hin sich entwickelt.
35
Stellenweise wird die Gemeinschaft auch als »kommunistisch« oder »ikarisch« bezeichnet. Beide Bezeichnungen werden daher im Folgenden synonym gebraucht.
36
Cabet (1850: 10).
37
Ebd.: 10f.
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schaft dieser Losung mit der bürgerlichen Parole ›Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit‹ ist offensichtlich. Nur, dass an der Stelle der – bürgerlichen (?) – Freiheit die – kommunistische (?) – Einheit steht. Darauf ist zurückzukommen. Sehen wir uns die drei Prinzipien im Detail an. 5.3.2.1 Einheit An erster Stelle seiner Charakterisierung der neuen Gesellschaft steht das Prinzip der ›Einheit‹. ›Gleichheit‹ und ›Brüderlichkeit‹ folgen ihr und erlangen, wie zu zeigen sein wird, als korrespondierende Prinzipien erst von ihr her Bedeutung und ergänzen dieses abstrakt organisierende Prinzip auf der gesellschaftlichen (›Gleichheit‹) und der intersubjektiv-persönlichen Ebene (›Brüderlichkeit‹). Einheitlich, so Cabet, sei die Gemeinschaft, denn sie sei »gegründet auf die Einheit in allem: die Einheit in der Nation oder dem Volk, Einheit im Gebiet oder Territorium, Einheit im Gut oder Eigenthum (das untheilbar, gemeinschaftlich oder national ist), Einheit in der Industrie.«38 Später ergänzt er die »Einheit in der Gesellschaft, der Erziehung, des Eigenthums, dem landwirthschaftlichen und gewerbefleißigen Betriebswesen.«39 Den Nutzen dieser Einheitlichkeit begründet er mit den politischen und ökonomischen Folgen, denn: »Wären alle Bürger vereint in den Volksversammlungen in allen Bezirkskreisen, in allen Bezirken, an dem selben Tage, zur selbigen Stunde, so könnte das Volk seine Willen darthun, als wäre es ein einziger Mann … Und die Arbeiter, getheilt nach den Bedürfnissen der Ackerwirthschaft und des Gewerbes, wie eine Armee nach den militärischen Bedürfnissen, würden arbeiten wie die Arbeiter einer einzigen Werkstatt. Wohlan denn! die Gemeinschaft bildet nur eine einzige Gesellschaft, eine einzige Nation, ein einziges Volk, das ein einziger Wille arbeiten und handeln macht zu einem einzigen Gewinne, zum allgemeinen Nutzen, zum gemeinschaftlichen Glück.« 40
Jenseits des Arguments, ein einheitlicher Apparat könne besser zum »allgemeinen Nutzen« arbeiten, als die zersplitterte bürgerliche Gesellschaft und dass auch die Einheitlichkeit des Besitzes, entgegen seiner Zersplitterung, viele Vorteile hätte, effektiver und effizienter wäre, 41 finden sich bis hier recht wenig Argumente für die Einheitlichkeit. Diese folgen aber, mit ihren zu problematisierenden Implikationen, in der nächsten, zentralen Passage. Sie begründet die Einheitlichkeit der Gemeinschaft mit dem »Endzweck« der bürgerlichen Gesellschaft: 38
Ebd.: 11.
39
Ebd.: 19; 18; ähnliche Kataloge: ebd.: 21; 22; 27; 33; 60.
40
Ebd.: 20f.
41
Ebd.: 22-26.
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»Da der Endzweck einer politischen und bürgerlichen Gesellschaft ist, die Rechte von allen Mitgliedern zu sichern, indem man sie versöhnt, die Eintracht, den Frieden, die Ord nung und die Sicherheit eines Jeden unter ihnen erhält, und indem man die Gewalt, so wie die Ungerechtigkeit, die Bedrückung des Schwachen durch den Starken verhindert, dadurch das man den allgemeinen Willen für den vereinzelten Willen ersetzt, so beschreibe ich die Freiheit wie folgt: Es ist das Recht, alles das zu thun, was nicht durch das Gesetz verboten ist, und nicht alles das zu thun, was nicht durch dasselbe befohlen ist, falls dieses Gesetz der Abdruck des öffentlichen Willens ist.« 42
Nicht nur die in dieser Textstelle zum Ausdruck kommende Zweckbestimmung der Gesellschaft, sondern auch der pointiert vertretene Freiheitsbegriff sind zentral für die weitere Interpretation des Textes. Zweck der Gesellschaft also sei die Durchsetzung des allgemeinen Willens an Stelle des vereinzelten Willens. Nur so könne das Glück der Menschen verwirklicht werden. Freiheit wird von Cabet daher nicht in humanistischer oder liberaler Tradition als ein Recht des Individuums mit der Würde der Person begründet, sondern aus dem kollektiv gegebenen gesetzlichen Rahmen der Gesellschaft abgeleitet. Damit vertritt er einen kollektivistischen Freiheitsbegriff, der sich an Rousseaus Contract Social orientiert: Freiheit entfaltet sich im Rahmen des gesetzlich ver- und gebotenen. Der in Gesetzesform gegossene allgemeine Wille, der volonté générale, begründet und beschränkt Freiheit.43 Freilich ist dieses Gesetz nur bindend, sofern es den ›öffentlichen Willen‹ (das ist für Cabet der Wille der Mehrheit) der Gemeinschaftsmitglieder widerspiegelt: »Wenn das Gesetz durch Alle gemacht worden ist, so ist es nothwendigerweise im Interesse aller, oder wenigstens im allgemeinen Interesse; weil man nicht zulassen kann, daß Alle nicht den Willen gehabt haben sollen, ihr Interesse zu sichern, oder mit diesem Willen, daß sie nicht, wie ein Einziger oder die Minorität, die nöthige Kenntniß und Vernunft besitzen, um dieses Interesse und diesen Willen zu verwirklichen.« 44
42
Ebd.: 36.
43
Vgl. Rousseaus ([1762] 2005) identitäres Demokratiekonzept, das nicht, wie die in Europa historisch sich durchgesetzt habende Vorstellung einer repräsentativen und konfliktorientierten Demokratie, davon ausgeht, dass im Wettstreit politischer Parteien eine dem Gemeinwohl entsprechende Gesetzgebung erfolgen kann. Vielmehr geht er von der Existenz ›richtiger‹, dem Wohl aller gleichermaßen dienender Gesetze aus, die vom volonté générale erkannt werden können. Cabet folgt dieser Konzeption nahezu vollständig.
44
Cabet (1850: 38).
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Hypothetisch mag dieses Argument überzeugen, es weist aber etliche Schwachstellen in den Prämissen auf, die es problematisch erscheinen lassen. 45 Lassen wir die tatsächlichen Schwierigkeiten einer solchen Praxis außen vor, so ist doch schon die theoretische Konstruktion wenig praktikabel. So erscheint die Prämisse schwierig, dass alle ihr Interesse sichern wollen. Das ist zum ersten eine nutzenmaximierende Konzeption des Menschen, die nicht überzeugen muss. Sie geht zum zweiten davon aus, dass jedem Menschen sein Interesse einsichtig ist, was auch nicht als gegeben angenommen werden kann. Und drittens geht sie implizit davon aus, dass der oder die einzelne auch über die entsprechenden Mittel verfügt, um seinem/ihrem Interesse Geltung zu verschaffen. Diese Probleme werden, auch wenn sie Cabet nicht wörtlich anspricht, thematisiert und münden in ein Verständnis von Politik, zu der nur diejenigen ermächtigt sind, die eine entsprechende Bildung nachweisen können. 46 Cabet will keine Entscheidungen im Konsensprinzip (im Interesse aller), sondern Mehrheitsentscheidungen (im allgemeinen Interesse). Dabei wird jedoch eine Minderheitengruppe unter das Diktum der Mehrheit gestellt. Diese gesetzmäßige Einschränkung der Freiheit sei zwar nicht die einfachste und bequemste der Lösungen, da der Mensch so nicht das volle Maß individueller Freiheit erlangen könne, aber: »Daß es eine Unannehmlichkeit ist, sich im voraus dem Gesetze der Mehrheit zu unterzie hen, ist wahr; aber ist dieses nicht das unausweichliche Ergebniß der Unvollkommenheit der menschlichen Natur? Hat der wilde Zustand oder der gesetzlose Zustand nicht noch größere Schwierigkeiten? Und in der Gesellschaft, welche Mittel könnten vorhanden sein, irgend eine Frage zu entscheiden, wäre es nicht zum Abstimmen zu schreiten oder sich zu schlagen?«47
Auch wenn die Einheitlichkeit eine Verbesserung im Vergleich zum »wilde[n] Zustand« darstellt, bleibt sie allein doch problematisch, weswegen ihr das Prinzip der Gleichheit koordiniert wird. 5.3.2.2 Gleichheit Während ›Einheit‹ als abstraktes Prinzip erscheint, an dem sich alles in der Gemeinschaft zu orientieren hat, handelt es sich bei ›Gleichheit‹ um ein, die sozia45
Cabet argumentiert damit für die Unterordnung der Einzelnen unter die Kollektiventscheidung. Sollten sie dies nicht tun, dann aus mangelnder ›Vernunft‹. Politisch ist diese Vorstellung problematisch, da sie den politischen Dissens pathologisiert.
46
Vgl. die entsprechenden auf S. 106 dieser Arbeit zitierten Ausführungen Cabets.
47
Cabet (1850: 38).
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len Beziehungen und die Behandlung der einzelnen Menschen adressierendes Prinzip. Die kommunistische Gemeinschaft sei »gleichheitlich, d.h. gegründet auf die Gleichheit in allem: Gleichheit in Erziehung, Gleichheit in Arbeit, Gleichheit in Genüssen.«48 Was Cabet unter Gleichheit versteht, präzisiert er wenig später: »Unter Gleichheit verstehe ich Gleichheit an Rechten und Pflichten, Genüssen und Bürden. Diese Gleichheit von Rechten und Pflichten ist natürlich oder gesellschaftlich, und die sociale Gleichheit ist bürgerlich oder politisch [alle Herv. i.O.].«49 Es wiederholt sich seine Unterscheidung zwischen natürlich-gesellschaftlich und bürgerlich-politisch, auf die wir schon in seiner Gesellschaftsanalyse gestoßen sind. Die »natürliche Gleichheit« sei »durch die Natur selbst eingesetzt« 50, die »allen dieselben Organe, dieselben Bedürfnisse, denselben Instinct, dieselben Gefühle, dieselben Leidenschaften gegeben«51 habe. Er erkennt dabei aber an, dass die Natur unter den Menschen »Verschiedenheiten [Herv. i.O.] von Größe, von Farbe, von Kraft u.s.w. erzeugt«52 hätte, doch: »construiren diese Verschiedenheiten [Herv. i.O.] keine Ungleichheit in Rechten und Pflichten. Die Natur hat ihre Kinder nicht in Stämme, Klassen oder Kasten getheilt; sie hat sie nicht erschaffen um Herren, Regierer, Ausbeuter, Reiche, Müssigänger zu sein, die alle Vortheile genießen und keine Lasten tragen, glücklich sind und in Ueberfluß schwimmen; und dagegen die andern um Sclaven, Regierte, Ausgebeutete, Arme, mit Arbeit überhäufte zu sein, die alle Beschwerden tragen, ohne irgend einige Vortheile zu genießen, unglück lich und des Nöthigen beraubt.«53
Statt die Genüsse den einen und die Bürden den anderen zuzuschlagen, sollen sie unter allen gleich verteilt sein. Auf diese ›natürliche‹ Gleichheit der Menschen, die aber, er räumt es selbst ein, gewisse Unterschiede hervorbringe, folgt eine höhere, weiterentwickelte Form der Gleichheit nämlich die »sociale Gleichheit«, die »vollkommener als die natürliche Gleichheit sein [sollte].« 54 Cabet unterscheidet dabei die »bürgerliche oder sociale Gleichheit«, die »existirt oder 48
Ebd.: 11.
49
Ebd.: 14.
50
Ebd.
51
Ebd. An dieser Stelle wird der fundamentale Kontrast zum Menschenbild des Fourieristen Renaud deutlich, das in der Konsequenz ein entsprechend gegensätzliches Gesellschafts- und Pädagogikkonzept nach sich zieht (vgl. Kapitel 6).
52
Cabet (1850: 14).
53
Ebd.
54
Ebd.: 15.
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existiren sollte zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft hinsichtlich ihres individuellen Interesses«55 von der »politische[n] Gleichheit«, die »unter allen Bürgern existiren sollte, hinsichtlich ihrer politischen Rechte, z.B. Wähler, Wählbar, Bürgergardist u.s.w. zu sein.«56 Während die natürliche Gleichheit faktisch gegeben zu sein scheint, sei die soziale Gleichheit noch zu schaffen und zwar auf dem Weg der politischen Reform 57 und der Pädagogik.58 Dass dieses Unternehmen ein pädagogisches zu sein hat, wird auch in Cabets, noch stark dem rationalistischen Denken der Aufklärung verhafteter, Gegenwartsdiagnose deutlich. Die bürgerliche Freiheit existiere, »[i]n Folge der Unwissenheit, der Unerfahrenheit, der Barbarei des Menschengeschlechts während vieler Jahrhunderte«59 nicht, könne aber durch Aufklärung und Lernen erreicht werden. Trotz dieses Plädoyers für die allgemeine Gleichheit sind nicht alle Gemeinschaftsmitglieder in Ikarien gleich. So billigt Cabet, auch wenn die Frauen ökonomisch gleichgestellt sein sollen, doch nur Männern politische Rechte zu. Auch in anderer Hinsicht erscheint eine gewichtige Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in Cabets Weltbild.60 Abgesehen von einer anthropologischen Setzung des Unterschiedes zwischen Männern und Frauen wird im Text, ohne die Prämisse der Einheitlichkeit damit zu entkräften, ein relationales und relativierendes Gleichheitsverständnis deutlich, in dem sich die natürliche Ungleichheit der Menschen reflektiert: »Sie werden hiergegen wahrscheinlich einwenden, daß die Bedürfnisse und die Kräfte der Menschen nicht gleich sind; Sie errathen meine Antwort: daß die Gleichheit durch die Vernunft und die Billigkeit geordnet werden muß, daß Gleichheit in Nahrung u.s.w. im Verhältniß zu den Bedürfnissen, und die Gleichheit der Arbeit in Verhältniß zu den Kräften sein muß.«61
Damit bekommt sein Gleichheitskonzept eine Komponente, die tendenziell die Selbstaufhebung des Gleichheitspostulats ermöglicht, zumindest aber den komplexen Charakter seines Egalitarismus verdeutlicht, vielleicht eine Idee von Gerechtigkeit auftauchen lässt.
55
Ebd.
56
Ebd.
57
Vgl. S. 93f. dieser Arbeit.
58
Vgl. S. 105f. dieser Arbeit.
59
Cabet (1850: 15).
60
Vgl. dazu: S. 272ff. dieser Arbeit.
61
Cabet (1850: 17).
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5.3.2.3 Brüderlichkeit Gleichwohl an dieser Stelle die dritte Bestimmung der Ikarischen Gesellschaft als ›brüderlich‹ näher interpretiert werden müsste, soll es genügen, Cabets Diktum, die Gemeinschaft sei »brüderlich, auf die Basis der Brüderschaft« 62 zu benennen. Da in dieser Arbeit auf Brüderlichkeits- und Solidaritätskonzepte ein besonderer Wert gelegt wird, erfolgt die Analyse des cabetschen Brüderlichkeitsbegriffs in einem separaten Kapitel.63 5.3.3 Der Weg in die ikarische Gemeinschaft Cabet ist kein politischer Revolutionär. Wie einleitend beschrieben, schreckte ihn die gescheiterte ›Verschwörung der Gleichen‹ ab. Daher macht er seine Ablehnung jedes putschistischen Politikkonzeptes schon im ersten Brief der Sittenverbesserung deutlich, wenn er schreibt, dass die »Einführung der Gemeinschaft nur durch die Macht der öffentlichen Meinung, durch den Nationalwillen, durch das Gesetz«64 geschehen solle. Im vorletzten Brief greift Cabet dieses Motiv wieder auf und plädiert dafür, die »Verwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft in eine Gemeinschaft«65 ausschließlich auf friedlichem und legalem Wege zu vollziehen: »Nichts durch die Gewalt und den Zwang. Alles durch die Beredung, die Ueberzeugung, die Kraft der öffentlichen Meinung, den Nationalwillen, durch die Ausübung der Volksherrschaft, durch das Gesetz.«66 Es scheint, als habe diese Ablehnung von Gewalt keine pragmatisch-opportunistischen Gründe (wie Umgehung der Pressezensur, die nach der Niederlage der 1848er Revolutionär*innen von den europäischen Polizeistaaten radikalisiert wurde67), wie bei anderen Autor*innen, sondern entspringt tatsächlich Cabets Überzeugung, die er sowohl aus eigenen Erfahrungen als auch aus dem Scheitern revolutionärer und putschistischer Bewegungen gezogen hat. »Eine plötzliche, rein materielle Revolution«, so Cabet, »könnte selbst ihren Gang und Fortschritt verhindern oder verschieben.«68 An Stelle der Gewalt tritt bei Cabet ein 62
Ebd.: 11.
63
Vgl. S. 95-103 dieser Arbeit.
64
Cabet (1850: 11).
65
Ebd.: 89.
66
Ebd.: 89f.
67
Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 verschärften die europäischen Monarchien nicht nur die polizeilichen Maßnahmen gegen Oppositionelle im Inneren, sondern verstärkten auch untereinander die Kooperation zur Abwehr erneuter Revolutionen (vgl. zur Situation in den deutschen Ländern: Siemann 1983).
68
Cabet (1850: 90).
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bedingungsloser Glaube an die Macht des besseren Arguments und der Vernunft: »Noch einmal, es ist die Besprechung, die ich anrufe als einziges mächtiges Mittel, um die Gemeinschaft einzuführen; denn ich denke so: ist der Communismus ein Irrthum, so kann Nichts ihn siegen machen. Aber ist er eine Wahrheit, so kann Nichts seinen Sieg verhindern […].« 69 Ist die Überzeugung geglückt, müsse man die Gemeinschaft nicht vorraussetzungslos aufbauen: In der bestehenden Gesellschaft gäbe es schon zahlreiche »Grundstoffe«, die die Prinzipien der Ikarischen Gütergemeinschaft vorwegnähmen: Die »natürlichen Dinge«, wie Luft, Licht oder Wasser; das bestehende gemeinschaftliche Eigentum an Plätzen, Wegen, Straßen, Häfen; das Christentum, das die »Erde mit religiösen Gemeinschaften […] bedeckt« und diverse »Stiftungen und Anstalten« sowie »Versicherungs-Compagnien« seien Beispiele dafür. 70 Doch nicht nur durch die »Beredung«, also argumentative Überzeugung, solle die Gemeinschaft eingeführt werden, sondern auch auf institutionellem Wege durch legislative Änderungen. Eines der, nach Maßgabe der Vernunft, im Mehrheitsbeschluss zu verabschiedenden Gesetze soll die Erbschaften begrenzen. So will Cabet die Möglichkeit individueller Erbschaften abschaffen. 71 Er beruft sich dabei jedoch auf eine problematische Argumentation: »Die Kinder, die nach dem Anfang des Uebergangssystems geboren werden, haben unbedingt kein erlangtes Recht und können sich nicht beklagen über Gesetze, die über die Erbfolge und 69
Ebd.
70
Ebd.: 86f.
71
Kritik am Erwerb von Reichtum durch Erbschaft wird schon von Franz Heinrich Ziegenhagen geübt (vgl. S. 54f. ) und sie wird ein wesentliches Element sozialistischer Ungleichheitskritik bleiben. In Deutschland wurde die – politisch folgenlose – Kritik an Erbschaften vom Königsberger Juristen Ernst Gottlob Morgenbesser 1798 aus zwei Richtungen begründet: »Die menschliche Natur weiß nichts von einer Wirkung nach dem Tode, von einer Befugnis des Eigentümers durch seine Handlung […] oder Unterlassung […] diejenigen zu bestimmen, auf welche sein Eigentum durch seine Tod übergehen soll. […] Denn die Republik ist eine Gesellschaft von Menschen, die auf einander wirken, und zwar nicht als bloße Körper, sondern als körperliche Vernunftwesen. Ein Leichnam wirkt als bloßer Körper; in der Reihe der Vernunftswesen ist er durch den Tod vernichtet; die Lebenden können also keiner Wirkung unterworfen sein, die das Dasein eines Vernunftwesens voraussetzt. Auch lässt sich ein empirisches Gesetz, wodurch das Erbschaftsrecht eingeführt würde, auf das Sittengesetz nicht zurückführen. Die […] Erbfolge[n], welche sich auf noch nicht existierende Menschen erstrecken, verletzen die angeborne Gleichheit der Menschen, indem sie den einen mit Vorrechten geboren werden lassen, die dem anderen fehlen« (Morgenbesser 1798: 29f., zit. nach Schild 1982: 446).
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über das Eigenthum gemacht worden sind.« 72 Cabet argumentiert damit, dass neugeborene Kinder »kein erlangtes Recht« hätten, mithin rechtlos seien, und daher nicht über Gesetzte klagen könnten, die Erb- und Eigentumsregelungen betreffen. Abgesehen davon, dass die Abschaffung von Erbfolgen auch mit anderen Argumenten als einer vermeintlichen kindlichen Rechtlosigkeit vertreten werden könnte,73 zeigt sich hier eine der problematischen Implikationen der Theorie Cabets: Ein bedingungsloser Kollektivismus, der sich an einer abstrakten Gemeinschaft orientiert, der sich das Individuum zu seinem eigenen Wohl einzufügen hat. Besonders deutlich wird das gerade an dieser Passage, in der Kinder als von Beginn an rechtlos dargestellt werden, die ihr Recht nur von der zu entwickelnden Gemeinschaft her bekommen könnten. 74 Für Cabet ist der Übergang zum Kommunismus daher ein pädagogisches Unternehmen, das in der Übergangszeit vor allem Erwachsene, in der Ikarischen Gemeinschaft dann die neugeborenen Kinder lernen lassen soll, wie sie in der Gemeinschaft zu leben haben. Bevor wir aber zu der genaueren Interpretation seiner pädagogischen Überlegungen kommen, legen wir den Fokus auf den, neben der Gleichheit, zentralen Grundsatz der Ikarischen Gemeinschaft, ›Brüderlichkeit‹ und ›Solidarität‹.
5.4 B RÜDERLICHKEIT
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In der Sittenverbesserung ist sowohl die Rede von ›Brüderlichkeit‹ als auch von ›Solidarität‹. Allerdings taucht ›Solidarität‹ nur einmal auf, während ›Brüderlichkeit‹ (bzw. ›brüderlich‹, ›Brüderschaft‹, ›Brüder‹, ›Bruder‹, ›Bruderliebe‹, ›Bruderschaft‹) mehrfach Verwendung findet. Dabei scheint es, als würden beide Worte nicht synonym, sondern mit deutlich differierenden Bedeutungsgehalten verwendet.
72 73
Cabet (1850: 97). Vgl. beispielsweise die völlig gegensätzliche Ansicht, die in Die Solidarität von Renaud zum Ausdruck kommt (vgl. S. 136 dieser Arbeit).
74
Diese Vorstellung erinnert an den Umgang mit Kindern im antiken Sparta. Das Kind hatte dort keine ›eigenen‹ Rechte, sondern mehr oder weniger nur den Zweck das Material für die Sicherung der Gemeinschaft abzugeben. Erfüllte es diesen Zweck nicht, in dem es beispielsweise schon bei der Geburt als zu schwach eingeschätzt wurde, der Gemeinschaft zu dienen, wurde es zum Sterben am Fuß des Berges Taygetus ausgesetzt (vgl. Browen 1972: 53). Eine solche Konsequenz zieht Cabet frei lich nicht, doch läge sie durchaus sie in seiner Argumentationslogik.
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5.4.1 Solidarität Das Wort ›Solidarität‹ findet im Text nur an einer Stelle Erwähnung, wird aber dort als ein zentrales Prinzip der Ikarischen Gemeinschaft dargestellt. Dies geschieht im achten Brief, in dem Cabet über »bürgerliche Erziehung« schreibt, die zum Ziel habe: »Bürger zu bilden, indem sie Allen das Grundgesetz und die vorzüglichsten Gesetze der Gemeinschaft lehrt, indem sie ihnen ihre Pflichten und Rechte auseinandersetzt, ihnen zeigt, daß die sociale Gerechtigkeit die freie Besprechung vor der Wahl erfordert, aber auch, daß der Friede und die Nothwendigkeit darauf die achtungsvolle Unterwerfung der Minderzahl an die Mehrzahl verlangt. – Es wird auch die Nothwendigkeit des öffentlichen Geistes [Herv. i.O.] oder des Prinzips der Solidarität[75] [Herv. i.O.] oder wechselseitigen Verpflichtung für’s Ganze dargelegt. Man wird sich leicht überzeugen, daß das öffentliche Interesse alle Privat-Interessen in sich schließt, daß alle persönlichen Interessen sich im allgemeinen Interesse vermischen; daß für die Gemeinschaft arbeiten für sich selbst arbeiten heißt.«76
Zur Einsicht in die Notwendigkeit von ›Solidarität‹ soll erzogen werden, das Verständnis jener ist der zentrale Inhalt der Erziehung zum Bürger. Was aber bedeutet ›Solidarität‹? Der zentralen Satz ist noch einmal genauer anzusehen: »Es wird auch die Nothwendigkeit des öffentlichen Geistes [Herv. i.O.] oder des Prinzips der Solidarität [Herv. i.O.] oder wechselseitigen Verpflichtung für’s Ganze dargelegt.« Drei Bezeichnungen finden für den selben Sachverhalt Verwendung, wobei die beiden ersten, der »öffentliche Geist« und das »Prinzip der Solidarität« wenig fassbar sind, aber durch die dritte Beschreibung als »wechselseitige Verpflichtung für’s Ganze« verständlicher werden: Es steht nicht geschrieben: ›Wechselseitige Verpflichtung füreinander‹, was ein gemeinschaftliches Band zwischen den Gesellschaftsmitgliedern akzentuieren würde, sondern von der »wechselseitigen Verpflichtung für’s Ganze«, also für die Ikarische Ge-
75
Da es sich um das einzige Auftauchen des Wortes ›Solidarität‹ im Text handelt, soll sich im Urtext versichert werden, dass es sich nicht um eine Willkür der Übersetzung handelt, sondern das verwendete Wort tatsächlich ein anderes ist, als ›fraternité‹. Und in der Tat benutzt Cabet an dieser Stelle das Wort ›solidarité ‹ (Cabet 1841b: 85). Im ursprünglichen Dokument taucht ›solidarité‹ noch zwei weitere Male auf, jedoch in Anhängen an den 10. Brief (Cabet 1841b: 102, 123), die in die deutsche Übersetzung nicht mit aufgenommen sind.
76
Cabet (1850: 75).
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meinschaft als konkrete Abstraktion.77 – Noch deutlicher wird der Bezug auf die Gemeinschaft im folgenden Satz, wenn Cabet schreibt, dass »für die Gemeinschaft arbeiten für sich selbst arbeiten heißt.« ›Solidarität‹ bezeichnet in der hier zitierten Stelle ein Prinzip, das von allen einzelnen verlangt, miteinander für das, was als Gemeinschaft bezeichnet wird, zu arbeiten. Dies läge nicht nur im Interesse der Gemeinschaft, sondern auch jedes und jeder einzelnen. 5.4.2 Brüderlichkeit Während ›Gleichheit‹ das sozial-organisatorische Prinzip der Ikarischen Gemeinschaft ist, wird ›Brüderlichkeit‹78 in der Sittenverbesserung wahlweise als »Tugend«79, »[christliches] Prinzip«80, »Gefühl«81, »Grundsatz«82 oder als eine »Gewohnheit«83 bezeichnet. Vier Bedeutungsvarianten des Brüderlichkeitsbegriffs können rekonstruiert und sodann das Verhältnis dieser Begriffe zu den beiden anderen Zentralbegriffen ›Gleichheit‹ und ›Einheitlichkeit‹ diskutiert werden. 5.4.2.1 Brüderschaft als natürliches Verwandtschaftsverhältnis Bei der ersten Variante, die den Brüderlichkeitsbegriff inhaltlich näher bestimmt, handelt es sich um die säkularisierte These von den Menschen als Kindern Gottes. ›Brüderlichkeit‹ wird hier als natürliches Verwandtschaftsverhältnis aller Menschen gefasst. Cabet bezeichnet »die Natur als die Mutter aller Menschen und die Menschen als Brüder.«84 Genauso hätten das auch »alle Philosophen« gesehen, die das »Menschengeschlecht als eine einzige Familie« und die »Men77
Diese Solidaritätsbegriff ist damit nahezu identisch mit dem römischen Begriff, der
78
Bemerkung zur Übersetzung: Zwar ist im Text wechselnd von ›Brüderlichkeit‹,
sich allerdings nur auf die rechtliche Sphäre bezog (vgl. S. 24f. dieser Arbeit). ›Brüderschaft‹ oder ›Bruderschaft‹ die Rede, jedoch sind vom Übersetzer diese drei Worte wohl nur aus Gründen der Ausdrucksvielfalt gewählt worden. Im französi schen Urtext (Cabet 1841b) taucht nur das Wort ›fraternité‹ auf, während ›confrérie‹, das sich im Deutschen mit ›Bruderschaft‹ im Sinne von Bund, Gemeinschaft, oder Zusammenschluss übersetzen lässt, keine Verwendung findet. 79
Cabet (1850: 8).
80
Ebd.: 11; 79; 89.
81
Ebd.: 13; 92.
82
Ebd.: 78.
83
Ebd.: 97.
84
Ebd.: 78.
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schen als Brüder« aufgefasst hätten. 85 Auf dieser Prämisse könnte nun die Forderung nach einem brüderlichen Umgang miteinander formuliert werden. Interessanterweise macht Cabet das gerade nicht, sondern wählt eine andere Argumentation. Daher bleibt die Grundlegung der Menschen als Brüder auch folgenlos und zieht keine weiteren Schlüsse nach sich. 86 Vielmehr steht ein moralisch begründetes Brüderlichkeitskonzept stärker im Vordergrund, das Cabet aus der christlichen Tradition begründet. 5.4.2.2 Brüderlichkeit als christliches Prinzip zur Organisation der Gesellschaft Schon im ersten Brief findet sich ein Plädoyer für ›Brüderlichkeit‹ als christliches Prinzip: »Nehmt an, übt aus, macht bekannt, verbreitet das christliche Prinzip der Brüderlichkeit, zieht hieraus alle Folgen, und Ihr gelangt zur vollkommensten gesellschaftlichen Organisation, die am meisten fähig ist, vollständig das Heil und das Glück der Menschheit zu realisieren.«87 Interessant ist, dass schon zu Beginn des Textes ›Brüderlichkeit‹ als christliches Prinzip eingeführt wird, jedoch ohne weiter auf das spezifisch Christliche daran einzugehen. Immerhin aber stellt der Verweis auf das Christentum eine gewisse Anschlussfähigkeit für entsprechende Leser*innengruppen dar, die mit den sonst oft anti-religiös agitierenden Sozialist*innen wenig Gemeinsames finden wollen.88 Das »Prinzip der Brüderlichkeit« verweist an dieser Textstelle auf mehrere Facetten: So ist sie etwas, das angenommen (und weiter vermittelt) werden kann, also eine Überzeugung, ausgeübt werden kann, also eine Praxis, und darüber hinaus eine Grundlage, aus der man gesellschaftliche Organisationsprinzipien ableiten kann. Mehr sogar, aus dieser Grundlage könnten die gesellschaftlichen Organisationsprinzipien abgeleitet werden, die »am meisten fähig« 85
Ebd.: 12.
86
Vgl. die ähnliche Argumentation Ziegenhagens, der aber aus dem Postulat der Verwandtschaft (Brüderschaft) aller Menschen die Forderung nach einer dieser entsprechenden brüderlichen Gesinnung ableitet (vgl. S. 62 dieser Arbeit).
87
Cabet (1850: 11).
88
Cabet war nicht der einzige Frühsozialist, der sich von den rationalistischen Denkmustern der Aufklärung abwandte. Wilhelm Weitling, der für die Einführung sozialistischen Denkens, bis zu seiner Ausreise in die Vereinigten Staaten zentrale Bedeutung hatte, bediente sich, vor allem in seinen späteren Werken, explizit christlicher Motive (vgl. Weitling [1845] 1971). Wobei umstritten ist, ob er dies aus einer neu gewonnenen christlichen Überzeugung, oder aus propagandistischen Überlegungen tat. Vgl. einführend zur Weitlingsforschung Schäfer 1971; Marsiske 1999; Knatz 1989.
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seien, »das Glück der Menschheit zu realisieren.« Demgemäß spricht Cabet auch davon, dass »Brüderlichkeit die Basis aller Institutionen, aller Gesetze, aller gesellschaftlichen Organisation sein [sollte].« 89 Doch ›Brüderlichkeit‹ soll nicht nur Basisprinzip gesellschaftlicher Organisationen sein, sie soll auch von jedem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft verkörpert werden, womit die dritte Bedeutungsvariante angesprochen ist. 5.4.2.3 Tugend und Gefühl der Brüderlichkeit Dass es sich bei ›Brüderlichkeit‹ um eine Art Basisprinzip handelt, wird auch an einer früheren Textstelle deutlich, in der Cabet schreibt, die Menschen würden es in der Ikarischen Gemeinschaft gewohnt sein, »die Vernunft zur Führerin zu nehmen und alle Tugenden der Brüderschaft zu verwirklichen.« 90 Auf den Zusammenhang zwischen Vernunft und ›Brüderlichkeit‹ ist später einzugehen, hier aber wird deutlich, dass der Brüderschaft mehrere Tugenden zugehören, die zu üben sind. An anderer Stelle heißt es: »Und ich möchte die Communisten von jetzt an, sei es unter sich, sei es im Betreff aller andern Individuen, die Brüder schaft ausüben sehen.«91 Was die »Tugenden der Brüderlichkeit« genau sein sollen, wird an einer anderen Stelle klar, an der Cabet über die Notwendigkeit einer praktisch ausgeübten ›Brüderlichkeit‹ auch schon in der bestehenden Gesellschaft schreibt. Diese sei nötig, um diejenigen, die nicht von der kommunistischen Gemeinschaft überzeugt seien, zu gewinnen: »wohl weiß ich, wie viele Bedenken, Selbstbeherrschung und wahrhafter Muth erforderlich sind, um Gefühle der Brüderschaft gegen diejenigen zu hegen, von denen man nur Geringschätzung, Verachtung, Feindschaft, Verläumdungen und Beschimpfungen empfängt.« 92 Später ergänzt er die Liste dieser Tugenden mit »Mäßigung«, »Duldsamkeit« und »Wohlwollen«93. Der hier aufgezählte Katalog könnte als ›Tugendkanon der Brüderlichkeit‹ angesehen werden, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Bedachtes handeln, Selbstbeherrschung, Mut, Mäßigung, Duldsamkeit, Wohlwollen. Da die Grundlage der ›Brüderlichkeit‹ christlich sei, wäre das Gebot der Nächstenliebe der »Grundsatz der Brüderlichkeit«. Im Brief über die Erziehung heißt es:
89
Cabet (1850: 13).
90
Ebd.: 8.
91
Ebd.: 13.
92
Ebd.: 15.
93
Ebd.: 16.
100 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Die Erziehung, die stets die Vernunft hervorruft, zeigt leicht dem Kinde, daß sein vernünftiges und wahres Interesse ist, zu lieben, um geliebt zu werden, alle Menschen wie Brüder [Herv. i.O.] zu betrachten, und unaufhörlich den philosophischen Grundsatz, der so schön ist, daß man ihn vergöttern möchte, ›Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst‹ [Herv. i.O.] auszuüben. In den ersten Vereinigungen der kleinen Kinder und sofort in allen folgenden Zusammenkünften lehrt man alle Einzelpersonen, beständig diesen Grundsatz der Brüderlichkeit auszuüben. Man gewöhnt auf diese Weise ein ganzes Geschlecht mit ei nem Male zur Ausübung aller socialen Tugenden.« 94
›Brüderlichkeit‹ wird hier geradezu als Mutter aller Tugenden dargestellt, aus der »alle socialen Tugenden« sich ableiten würden. Und: Sie sei erlernbar. Das wird im Zuge der Rekonstruktion des pädagogischen Konzepts der Sittenverbesserung diskutieren zu sein. 5.4.2.4 Brüderschaft als politische Überzeugungsgemeinschaft Eine letzte Bedeutungsvariante von ›Brüderlichkeit‹ erscheint bei der Rede von »Brüderschaft«95. Diese bezieht sich auf eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer oder ähnlicher politischer Überzeugung. An zwei Textstellen taucht eine derartige Verwendung auf, so wenn Cabet schreibt, er sei überzeugt, »daß Reformer, Demokraten und Republikaner sich bald, als Brüder, der Gemeinschaft anschließen werden«96 und später: »[I]ch wünsche, daß alle Communisten sich mit den Reformern verbrüdern.« 97 Auch wenn hier nicht explizit von ›Brüderschaft‹ oder ›Brüderlichkeit‹ die Rede ist, so lässt sich doch leicht ein assoziativer Kontext herstellen. ›Brüderschaft‹ verweist zwar schon auf die kommende Gemeinschaft, zu der hin die Verbrüderung führen soll, meint aber hier vorläufig einen kleineren Kreis (potentiell) politischer Verbündeter, die ihre Differenzen beiseite legen sollen, um gemeinschaftlich für die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse einzutreten. 5.4.3 Solidarität, Brüderlichkeit, Einheit und Gleichheit Die Dreieinigkeit der Begriffe ›Einigkeit‹, ›Gleichheit‹, ›Brüderlichkeit‹ verlangt, keinen der Begriffe isoliert zu betrachten, sondern ihr Beziehungsgeflecht in die Interpretation einzubeziehen. Dabei kann es im Rahmen dieser Arbeit nicht darum gehen, alle diese Beziehungen zu untersuchen. Der Fokus wird auf 94
Ebd.: 73.
95
Ebd.: u.a.: 8; 11; 13; 18.
96
Ebd.: 11.
97
Ebd.: 41.
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diejenigen Verhältnisse gelegt, die helfen, einen möglichst umfassenden Begriff von ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ zu erhalten. 5.4.3.1 Solidarität, Einheit und Gleichheit Kommen wir auf das oben ausgelegte Zitat zur ›Solidarität‹ zurück und fragen, in welchem Verhältnis ›Solidarität‹ zu den anderen Kernbegriffen steht, und ob und wie sie in ein Verhältnis zur ›Brüderlichkeit‹ gesetzt werden können. ›Solidarität‹ als »wechselseitige Verpflichtung für’s Ganze«98 lässt die Verbindung zu ›Gleichheit‹ und ›Einheitlichkeit‹ hervortreten. Alle sollen gleichermaßen angesprochen sein, es gibt niemanden, der oder die sich der Verpflichtung zu entziehen vermag. Die Orientierung an der Einheitlichkeit wird deutlich durch den Bezug aufs Ganze. Es ist ja kein gegenseitiger Bezug je aufeinander, sondern auf die Totalität der ganzen Gemeinschaft, in der es keine persönlichen Interessen mehr geben werde, da der »allgemeinen Wille […] den vereinzelten Willen ersetzt«99. So es dennoch abweichende Einzelinteressen geben sollte, haben diese Mitglieder der Gemeinschaft die Pflicht auf Unterwerfung unter die Mehrheit. 100 Insofern konkretisiert sich der Solidaritätsbegriff als Unterwerfungsbegriff, nicht nur der Minderheit unter die Mehrheit sondern des Einzelnen unter ein allgemeines Interesse. 5.4.3.2 Solidarität und Brüderlichkeit Diesen Solidaritätsbegriff zugrunde legend muss nach dreierlei gefragt werden: Zum ersten inwieweit sich beide Worte auf unterschiedliches beziehen, also tatsächlich unterschiedliche Begriffe vorliegen, oder ob ›Solidarität‹ mit einem der vier vorgestellten Brüderlichkeitsbegriffe synonym gedacht werden kann. Sollte dem nicht so sein, muss weiter gefragt werden, ob, zweitens, beide Begriffe in einem Verhältnis stehen und wie, drittens, dieses Verhältnis gestaltet ist. Beginnen wir mit ›Brüderlichkeit‹ als a) faktischem natürlichen Verwandtschaftsverhältnis. Dies ist auf jeden Fall eine andere Konzeption als ›Solidarität‹ im Sinne einer Aufforderung zur Unterwerfung unter den allgemeinen Willen. In die Nähe eines solchen Begriffs kommen eher die Fassungen von ›Brüderlichkeit‹ als b) soziales Organisationsprinzip und c) soziale Grundtugend. ›Brüderlichkeit‹ als soziales Organisationsprinzip wurde bisher formal, aber noch nicht inhaltlich bestimmt, ›Solidarität‹ könnte hier tatsächlich die inhaltliche Ausgestaltung des formalen Prinzips sein. Ebenso könnte man das mit ›Solidarität‹ Gemeinte als soziale Grundtugend bestimmen. In einem scharfen Spannungsver98
Ebd.: 75.
99
Ebd.: 36.
100 Vgl. ebd.: 38.
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hältnis jedoch steht dieser Solidaritätsbegriff zur Idee der d) Bruderschaft, denn obgleich eine solche ›Solidarität‹ innerhalb der Gruppe geübt werden könnte, würde es doch nach außen, an die nicht kommunistische Mehrheit gewendet, eine Aufforderung beinhalten sich dieser zu unterwerfen. Wir sehen, ›Solidarität‹ ist in diesem Text nicht gleichbedeutend mit ›Brüderlichkeit‹, steht aber in einem engen Verhältnis zu ›Brüderlichkeit‹ als Organisationsprinzip und als sozialer Tugend. Während ›Brüderlichkeit‹ als Organisationsprinzip eher formal definiert ist, lässt sich ›Solidarität‹ als dessen inhaltliche Konkretisierung verstehen. Bei ›Brüderlichkeit‹ als sozialer Tugend, die durch das Gebot der Nächstenliebe eher inhaltlich bestimmt ist, tritt ›Solidarität‹ als weniger emotionales inhaltliches Attribut hinzu. 5.4.3.3 Brüderlichkeit und Einheit Einheitlichkeit ist das die gesamte Gesellschaftskonzeption in der Sittenverbesserung bestimmende Prinzip. Nur durch sie könne die gesellschaftliche Fragmentierung überwunden und eine soziale Struktur geschaffen werden, in der die Wohlfahrt aller gesichert sei. Einleitend wurde ›Brüderlichkeit‹ als das der subjektiven Seite, also den Individuen, zugeneigte Element dieser Gesellschaft bezeichnet. Diese Bestimmung ist im Lichte der bis hierher erfolgten Interpretationsschritte leicht zu modifizieren. Denn es gab mindestens vier Verwendungsweisen von ›Brüderlichkeit‹ im Text. Zwei davon korrespondieren auf einer recht abstrakten Ebene mit dem Einheitsbegriff, nämlich die Idee der Verbrüderung zur kommunistischen Gesinnungsgemeinschaft sowie ›Brüderlichkeit‹ als Gesellschaft organisierendes Prinzip. ›Brüderlichkeit‹ als natürliches Verwandtschaftsverhältnis kann als im Text nicht thematisch gewordene Begründung für Einheitlichkeit gesehen werden. Lediglich ›Brüderlichkeit‹ als Gefühl und Tugend kann als subjektives Korrelat zur gesellschaftlichen Einheitlichkeit gefasst werden. Generell aber wird deutlich, dass ›Einheitlichkeit‹ und ›Brüderlichkeit‹ in einem sich gegenseitig bestätigenden und verstärkenden Verhältnis zueinander stehen. 5.4.3.4 Brüderlichkeit und Gleichheit Gleichheit wurde oben als das Prinzip beschrieben, das gleiche Rechte und Pflichten für jeden und jede verlangt, sie bezieht sich aber auch auf die materielle Verteilung von Gütern. Solange diese ungleich verteilt seien, könne es keine Brüderschaft geben: »Wie können die von der Brüderschaft [Herv. i.O.] reden, die den Ueberfluß beibehalten, wenn Massen menschlicher Geschöpfe das
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Nothwendige fehlt? – Hierin liegt das Uebel... Das Heilmittel ist in der Verwirklichung der Brüderschaft und demzufolge in der Gleichheit.« 101 Gleichheit ist also eine Bedingung des Entstehens von ›Brüderlichkeit‹. Rekapitulieren wir die vier herausgestellten Brüderlichkeitskonzepte und fragen, in welches Verhältnis sie sich zur Gleichheit an Rechten, Pflichten und Gütern setzen lassen: Die natürliche Verwandtschaft kann, wie bei der Gleichheit, als Grundlage dienen. Vor allem aber ist Gleichheit ein fundamentales Organisationsprinzip der Gemeinschaft und damit eng mit dem entsprechenden Brüderlichkeitsbegriff zusammenhängend. Auch mit ›Brüderlichkeit‹ als Tugend gibt es Anknüpfungspunkte und mit der Gesinnungsgemeinschaft, in der sich alle gleich behandeln sollen. In der zu realisierenden Gemeinschaft wird ›Brüderlichkeit‹ nicht von Gleichheit zu trennen sein: »Ich [die Gütergemeinschaft, R.P.] trenne nie die Bruderschaft von der Gleichheit. Ihr arbeitet unter einander wie Brüder und Ihr theilt unter einander wie Brüder.«102 Dieses gleiche Arbeiten und Teilen wird aber relativiert, wenn Cabet schreibt, »daß die Brüderlichkeit einem Bruder nicht gestattet, mit seinem Bruder zu heckeln, ihm weniger zu gewähren, weil er etwas weniger gearbeitet habe.«103 Es kommt das Moment der ›Brüderlichkeit‹ als den totalitären Charakter der Gleichheit abmilderndes Element ins Spiel. Gleichheit bezieht sich hier darauf, das jeder das ihm Mögliche leistet und das ihm Nötige erhält, nicht, dass alle unabhängig von ihrem Können und Bedürfnissen gleich behandelt werden. ›Brüderlichkeit‹ und Gleichheit ergänzen sich: ›Brüderlichkeit‹ wirkt als (sanftes) Korrektiv gegenüber den Ungleichheit implizieren könnenden Ansprüchen der Gleichheit.
5.5 P ÄDAGOGIK 5.5.1 Diagnose und Kritik von Pädagogik Schon der Titel der Schrift Cabets – Sittenverbesserung – legt eine pädagogische Interpretation nahe. Scheint es doch allein dem Titel nach darum zu gehen, bessere Sitten zu erlernen und auszuüben. Doch auch jenseits dieser, die gesamte Schrift durchziehenden pädagogischen Aufgabe, legt Cabet selbst explizit einen sehr weiten Begriff von Erziehung zugrunde:
101 Ebd.: 13. 102 Ebd.: 114. 103 Ebd.: 17.
104 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Unter Erziehung verstehe ich, werther Freund, nicht allein die Erziehung von Seiten des Lehrers oder den sogenannten Unterricht, sondern die Erziehung in ihrem allgemeinsten und ausgebreitetsten Sinne, die Erziehung, die bei der Geburt beginnt und das Leben hindurch dauert, die Erziehung durch alle Personen und durch alle Dinge, die das Kind und den Mann umgeben, die Erziehung durch die Mutter oder die Amme, durch den Vater, die Eltern, die Diener, die Gefährten, die Meister, die Bücher und Wochenschriften; und ich theile sie sogleich, der Klarheit wegen, in natürliche, moralische und geistige Erziehung. Nach meiner Ansicht ist die Erziehung alles oder beinahe alles, und ohne sie ist der Mensch nichts oder beinahe nichts [alle Herv. i.O.].«104
Pädagogik wird bei Cabet primär unter dem Schlagwort ›Erziehung‹ verhandelt.105 Dabei zeigt sich ein umfassender Begriff von Erziehung, der sich in enger Fassung auf Lehrer im Unterricht bezieht, in seiner weiten Fassung jedoch auf etwas, das sich über den gesamten Lebenslauf erstreckt und von allen Menschen und allen Dingen, die andere Menschen umgeben, vollzogen wird. Was dabei genau passiert, wird hier noch nicht klar. Aber es geht darum, den Menschen zu etwas zu machen. Denn ohne Erziehung sei er »nichts oder beinahe nichts.« Um den Menschen zu etwas zu machen, sei lebenslange Erziehung nötig, und zwar natürliche, moralische und geistige. Bestehende pädagogische Praktiken unterzieht Cabet polemischer Kritik. Diese Kritik trägt wenig bei zu einer systematischen Rekonstruktion der im Fokus dieser Arbeit stehenden Zusammenhänge und soll daher nur Anhand einiger kurzer Zitate vorgestellt werden. So wäre unter den herrschenden Bedingungen die Situation des Volkes in Erziehungsangelegenheiten nicht so, wie sie sein könnte: »Heutigen Tages erhält das Volk gar keine Erziehung. Keiner der Millionen Proletarier ist, was er sein würde, wenn sein Verstand geübt und ausgebildet wäre.«106 Aber auch am oberen Ende der Gesellschaft sehe es nicht besser aus: »Was die Bevorrechteten anbetrifft, so ist ihre Erziehung und ihr Unterricht ebenso abscheulich als unvollkommen.« 107 Cabet fasst zusammen: »Wo ist noch 104 Ebd.: 67. 105 Obgleich mit der im Methodenkapitel vorgelegten Definition ›Erziehung‹ als tendenziell von außen initiierte Steuerung von Lernprozessen definiert wurde, wird im Folgenden, dem Sprachgebrauch Cabets folgend, auch dann von ›Erziehung‹ gesprochen, wenn nicht völlig deutlich ist, ob damit Erziehung im Sinne von äußerer Lernsteuerung gemeint ist. Da aber aus der Interpretation des Gesamttextes ein die ser Definition ähnlicher Erziehungsbegriff deutlich wurde, erscheint dieses Vorgehen gerechtfertigt. 106 Ebd.: 21. 107 Ebd.
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heute die Erziehung für das Volk? Ist es nicht ein Lügenwerk, wie das der Gesellschaft? […] wahrhafte Erziehung ist da gegenwärtig weder für die Armen, noch für die Reichen.«108 Neben dieser Diagnose der Erziehung als den Rahmen des Möglichen unterbietend, bringt Cabet eine herrschaftskritische, diesen pädagogischen Missstand erklärende, Komponente ins Spiel: »[H]at man nicht zu allen Zeiten und in allen Ländern, so wie bei allen Völkern gesehen, daß die Aristrokraten und Priester sich des Monopols der Erziehung bemeistern und sie dem Volke versagen, um es in der Verthiertheit und Dummheit, in dem Elende und der Sklaverei zu erhalten?«109 Kurzum: Die Erziehung aller Menschen der bestehenden Gesellschaft bliebe hinter ihren Möglichkeiten zurück, weil es im Interesse der Herrschenden liege. Diese beraubten nicht nur die Beherrschten ihrer Möglichkeiten, sondern auch sich selbst. 110 Gegenüber dem hier kritisierten, soll in der Ikarischen Gemeinschaft eine bessere, dem Menschen angemessenere Erziehung stattfinden. 5.5.2 Ziele der Pädagogik Ziel der gesamten Pädagogik in der Ikarischen Gemeinschaft ist »in jeder Hinsicht Männer, Bürger, Arbeiter, Brüder zu bilden« 111 bzw. »Männer, Arbeiter, Bürger [zu] machen.«112 Dabei hat Pädagogik für Cabet vor allem eine politische Funktion: »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Erziehung sich vorzugsweise damit beschäftigt: Bürger zu bilden und Allen alle nöthigen Kenntnisse, um die Gesetzgebung und die öffentliche Verwaltung verstehen zu können, gewährt. Man überzeugt sich selbst, ehe ein junger Man auf das bürgerliche Register eingeschrieben, daß er wirklich den hinlänglichen Unterricht erhalten hat.«113
108 Ebd.: 69. 109 Ebd.: 68. 110 Er greift hier das Motiv des ›Widerspruchs von Bildung und Herrschaft‹ auf, das die Instrumentalisierung der Pädagogik zum Zwecke der Herrschaftssicherung benennt; ein Motiv das von Karl Liebknecht ([1872] 1968) bis zu Heinz-Joachim Heydorn (1970) ein oft bemühter Topos sozialistischer Kritik an der Verquickung von Herrschaft und Pädagogik ist. 111 Cabet (1850: 22). 112 Ebd.: 35. 113 Ebd.: 47.
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Hier taucht wieder ein schon diskutiertes Motiv auf, nämlich, dass der Einzelne prinzipiell rechtlos sei, und ihm erst von der Gemeinschaft Rechte zugebilligt werden. Hier nun manifestiert sich das im konkreten Beispiel der politischen Rechte, die ein »Mann« erst erhalten solle, nachdem er eine gewisse Bildung vorweisen kann.114 Ziel von Pädagogik ist also Wissen zu erwerben, das für die Partizipation an der Gemeinschaft als notwendig erachtet wird. Erst dann ist es möglich, die vollen Bürgerrechte zu erhalten. Für Cabet ist das problemlos, denn da in der Gemeinschaft alle gleich erzogen würden, dürfte es niemanden geben, dem dieser Nachweis nicht glückte. Wie nun die Erziehung zur Verwirklichung dieser Ziele vorzustellen ist, soll im Folgenden genauer betrachtet werden. 5.5.3 Neue, alternative Pädagogik Wie oben angedeutet, kommt der Steuerung von Lernprozessen eine bestimmende Rolle sowohl bei der Errichtung der neuen Gemeinschaft wie auch bei deren Erhaltung zu. Generell sei sie in Ikarien Gemeinschaftsaufgabe: »Um dieses Uebel [also den Zustand der Gesellschaft, R.P.] zu verbessern, und dem Willen der Natur nachzukommen, um den Menschen seinem Geschick entgegen zu führen, und das allgemeine und persönliche Glück zu sichern, nimmt die Gemeinschaft die Erziehung zur Grundlage; die den Unterricht in sich schließt. – Diese Erziehung ist, hinsichtlich der Anfangsgründe, eine und dieselbe für alle; und diese Schul-Erziehung sollte die Grundsätze aller Wissenschaften, aller Künste, aller Handwerke in sich schließen. Darauf die besondere oder gewerbliche Erziehung, die allen denjenigen gestattet wird, welche die Wahl eines besondern Handwerks gemacht haben.« 115
Die Gemeinschaftsaufgabe Erziehung, zeigt sich Cabet überzeugt, würde in der Verfassung der neuen Gemeinschaft im Interesse aller kodifiziert werden: »Lassen Sie uns annehmen, daß es [das Volk, R.P.] überall versammelt sei, und sich über die Erziehung berathe. Glauben Sie, daß sich ein einziger Bürger, ein einziger Mitgenosse finden würde, der ein Interesse hätte, die Erziehung der Kinder zu verhindern? Haben 114 Mit der Verkopplung (politischer) Bildung und politischen Beteiligungsrechten vertritt Cabet eine Position, die zwar in ihrer Forderung, Rechte erst zu gewähren, wenn sichergestellt ist, dass eine ausreichende Bildung erworben wurde, eine Extremposition in der sozialistischen Diskussion darstellt. Das Problem von mangelhafter politischer Handlungsfähigkeit als Folge mangelhaften Wissens ist aber ein Kernelement sozialistischer bildungspolitischer Debatten nicht nur des 19. Jahrhunderts. 115 Cabet (1850: 21f.).
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nicht Alle und Jeder im Gegentheil klar ein Interesse, die vollkommenste Erziehung anzu nehmen, damit die gediegensten Menschen, die geschicktesten Arbeiter, die besten Bürger gebildet werden? Man würde übereinstimmend, in einem der ersten Artikel der Constitution, kund thun, daß die Erziehung, dem Geist und dem Herzen eben so nothwendig als die Nahrung dem Kör per, eines der ersten Interessen und eine der ersten Pflichten der Gemeinschaft gegen alle ihre Kinder ist.«116
Neben der Aufgabe der Gemeinschaft, ihre eigene Grundlage durch Erziehung zu sichern, kommen in diesen beiden Textstellen weitere Aspekte zur inhaltlichen Differenzierung der Erziehung zur Sprache, die im Folgenden weiter auseinander gelegt werden sollen. Obgleich die neue Erziehung erst im Rahmen der Ikarischen Volksherrschaft aufgestellt werden könne, legt Cabet schon bestimmte inhaltliche und zeitliche Prinzipien fest, die er für sinnvoll hält. 5.5.3.1 Zeitlichkeit der Erziehung Cabet hat einen umfänglichen Begriff von Erziehung, die für ihn »bei der Geburt beginnt und das Leben hindurch dauert.« 117 Genauer gesagt beginnt die Erziehung für ihn schon vor der Geburt, nämlich bei der Empfängnis, nach der die Entwicklungsbedingungen des Kindes gesellschaftlich zu sichern seien. 118 Die nächste Phase der Erziehung »geschieht gleich in der [Herv. i.O.] Familie, durch die Mutter, den Vater, die Brüder und Schwestern, bis zu einem gewissen Alter, sage bis zu 5, 6 oder 7 Jahren.« 119 Nach dieser Phase familiärer Erziehung sollen die Kinder in, von der Gemeinschaft getragenen, Institutionen erzogen werden: »Darauf wird die Erziehung gemeinschaftlich [Herv. i.O.] und geschieht an allen vereinigten Kindern gemeinschaftlich. Ich untersuche jetzt nicht, ob es dann möglich und rathsam sein wird, die gemeinschaftliche Erziehung mit der Erziehung in der Familie zu verbinden, d.h. die Kinder in ihrer Familie des Morgens und Abends zu lassen, und sie nur während des Tages in den gemeinschaftlichen Schulen zu versammeln. Vergessen Sie aber nicht, daß ich die Väter und Mütter selbst wohl erzogen und fähig, Kinder zu leiten, voraussetze.«120
116 Ebd.: 70. 117 Ebd.: 67. 118 Vgl. Cabet (1850: 71). Vgl. auch die ähnliche Argumentation bei Clara Zetkin (S. 173ff. dieser Arbeit). 119 Ebd. 120 Ebd.
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Der letzte Satz spricht dafür, dass Cabet für eine geschlossene Anstaltserziehung, zumindest in der Übergangsphase, plädieren würde. Es kann vermutet werden, dass in den an die Erwachsenen gerichteten Erziehungsbestrebungen die Elternerziehung eine nicht unwichtige Rolle zu spielen hat. 121 Diese gemeinschaftliche Erziehung soll, wie weiter unten zu behandeln ist, der Allgemeinbildung dienen, um im 17. oder 18. Lebensjahr sich zur Berufsbildung hin zu spezialisieren. 5.5.3.2 Physische Erziehung Ein Feld der Erziehung ist für Cabet die »physische« oder »natürliche Erziehung«, die sich vor allem auf den Körper richtet. Er lässt diese Erziehung noch vorgeburtlich beginnen, wobei nicht das Kind, sondern dessen schwangere Mutter Empfängerin entsprechender Bemühungen sei: »Die physische [Herv. i.O.] Erziehung fängt bei der Geburt und selbst bei der Empfängniß an; denn man belehrt die Mutter über alle Vorsichtsmaßregeln, welche die Gesundheit und die Vervollkommnung des Kindes während der Schwangerschaft und nach der Entbindung erfordern.«122 Die Verantwortung entsprechender Vorkehrungen liege nicht allein bei der Mutter, sondern bei der gesamten Gemeinschaft, die alle Maßnahmen ergreifen solle, um Gefahr von Mutter und Kind abzuwenden. 123 Der erste Aspekt der physischen Erziehung besteht in der Abwehr von Gefahren und der materiellen Sicherstellung der gesunden Entwicklung des Kindes. Auf zwei weitere Aspekte legt die Darstellung wert: Gymnastische Erziehung und Erziehung zur Hygiene. Gymnastische Erziehung umfasst verschiedene sportliche Übungen, wie »Laufen, springen, klettern, sich niederlassen, auf dem engsten und glattesten Boden gehen, tanzen, schwimmen, zu Pferde steigen, einen Wagen leiten«124. Ziel dieser Übungen ist die Stärkung und Ausbildung der »Gesundheit, Kraft, […] Gestalt, Anmuth, Biegsamkeit, Behändigkeit« 125 der 121 Die Eltern erscheinen in den meisten sozialistischen Erziehungskonzeptionen als Problem, da sie als Agenten des Vergangen bzw. der überholten Gesellschaft gelten (vgl. die reaktionäre Rolle der Frau in der Erziehung bei Zetkin [S. 180 ]). Will Ziegenhagen dieses Problem damit entschärfen, dass er die Kinder den Eltern entzieht, bzw. Waisenkinder in seine Erziehungskolonie aufnimmt, entwickelt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Überzeugung, dass nicht nur die Kinder als künftige Generation, sondern auch »der Erzieher selbst erzogen werden muß« (Marx [1845] 1978: 5f.). Das Problem wird außerhalb der sozialistischen Diskussion aber auch schon von Kant ([1803] 1923: 443f.) reflektiert. 122 Cabet (1850: 71). 123 Ebd.: 71f. 124 Ebd.: 72. 125 Ebd.
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Kinder. Neben dieser direkt den Körper adressierenden Erziehung spielt aber auch eine Erziehung, die psychische Dispositionen anspricht, eine wesentliche Rolle in der physischen Erziehung: »Fügen Sie hinzu die Gewohnheit der Reinlichkeit wie der Mäßigkeit, das Praktische aller Regeln der Gesundheitslehre […] die Abwesenheit aller Romane und aller Bilder, die die Leidenschaften entzünden könnten, […] die Hände-Arbeit in den speciellen Werkstätten, und die Gewohnheit, alle Geräthschaften mit der Hand geschickt gebrauchen zu können.«126
Fragen der körperlichen Hygiene, der Kontrolle der körperlichen Leidenschaften127 und Routine in den handwerklichen Fertigkeit werden unter physischer Erziehung subsumiert. Das Erziehungsziel eines kräftigen, gesunden und arbeitsamen Menschen wird propagiert. Die Erziehung zu einer entsprechenden Haltung steht schon am Übergang zur moralische Erziehung. 5.5.3.3 Moralische und bürgerliche Erziehung Kern- und Ursprungspunkt der Moral der kommunistischen Gemeinschaft sei die Vernunft. Daher müsse sie auch das erste sein, was pädagogisch vermittelt wird: »Die moralische [Herv. i.O.] Erziehung fängt in der Familie bei der Geburt an. Sie gewöhnt das Kind gleich, sich seines Verstandes und seiner Vernunft zu bedienen, zu beobachten, zu untersuchen, zu vergleichen, zu versuchen, Alles der Vernunft zu unterwerfen, sich selbst von Allem Rechenschaft abzulegen.« 128 Vernunft richte sich auf zweierlei: Die Welt außerhalb, die vernunftgemäß durchdrungen werden soll und auf das Selbst, das vor Vernunft sich zu rechtfertigen habe. Dieser herauszubildende Habitus bildet die Grundlage Ikarischer Subjektivität. Gleichsam auf dieser pädagogisch erworbenen Grunddisposition aufpfropfend erfolgt das, was Cabet an anderer Stelle »bürgerliche Erziehung« nennt: »Der zweite Hauptgegenstand, den die Erziehung das Kind lehre, sind seine Rechte und Pflichten oder seine Pflichten und Rechte (da ich nicht entscheiden will, welche voran stehen). Man gewöhnt es, die Gerechtigkeit und die Billigkeit auszuüben, und vorzüglich folgenden Grundsatz: Thue keinem Andern, was Du nicht willst, das man Dir thue. Thue Andern dasjenige, was Du willst, das man Dir thue. Man lehrt es, man überredet es, man
126 Ebd. 127 Vgl. den Widerspruch zur dezidiert den Leidenschaften (Passionen) ihren Weg las senden Pädagogik Renauds (S. 145ff. dieser Arbeit). 128 Cabet (1850: 72).
110 | S OLIDARITÄT B ILDEN überzeugt es durch seine Vernunft, daß sein wohlverstandenes Interesse erheischt, die Rechte Anderer zu achten, damit Andere die seinen achten.« 129
Diesen zweiten Hauptgegenstand, der überhaupt das zentrale Motive der Cabet’schen Pädagogik ist, kann – womöglich etwas anachronistisch – politische Bildung genannt werden. Damit ist, neben der Erziehung zur Vernunft, eine zweite grundlegende Erziehungsdimension identifiziert: Die Erziehung zur Achtung des Andern. Ein drittes, damit verknüpftes, Element fügt er diesem Imperativ hinzu: Die Erziehung zur ›Solidarität‹. 130 Das vierte Element der moralischen Erziehung ist die Erziehung zur Arbeit: »Man macht ihm [dem Kind, R.P.] fühlbar, daß die Arbeit eine Nothwendigkeit für den Menschen ist,daß die Gesellschaft sich nicht erhalten könnte, wenn niemand arbeitet; daß er kein größeres Recht, wie jedes andre Wesen hat, sich der Arbeit zu entziehen; daß sei nen Antheil zur Arbeit zu leisten, seine Schuldigkeit, seine Pflicht ist; und daß für die Ge sellschaft, die ihn ernährt, nicht zu arbeiten, ein Diebstahl sein würde und ihn gerechterweise aussetzt, aus der Gemeinschaft gestoßen zu werden.« 131
Nun taucht eine sehr harte Zwangsmaßnahme auf: Die Androhung des Verweises aus der Gemeinschaft, sobald man sich der Pflicht zur Arbeit entzieht. Dieses Zwangsmoment erscheint hier nicht zum ersten und letzten Mal, es ist integraler Bestandteil der Gemeinschafts- und Erziehungsvorstellungen der Sittenverbesserung132. Wechselseitige Verpflichtung kann man das Grundmotiv nennen, wie es an anderer Stelle, als dem cabetschen Solidaritätsbegriff inhärentes dargestellt wurde133 und der Begründung der Arbeitspflicht dient.
129 Ebd.: 72f. 130 Vgl. ebd.: 75, vgl. auch das entsprechende ausführliche Zitat auf S. 96 dieser Arbeit. 131 Ebd.: 73. 132 Auch hier erscheint der Text nahezu wieder wie ein Rousseau-Plagiat. Dieser schrieb im Emil: »Wer außerhalb der Gesellschaft lebt, schuldet niemandem etwas und hat das Recht, zu leben, wie es ihm gefällt. In der Gesellschaft aber lebt er notwendiger weise auf Kosten der anderen: er schuldet ihnen Arbeit als Preis für seinen Unterhalt. Das gilt ohne Ausnahme. Arbeiten ist also eine unerlässliche Pflicht des Menschen innerhalb der Gesellschaft.« (Rousseau [1762] 1998: 193). 133 Vgl. Cabet (1850: 73).
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5.5.3.4 Intellektuelle Erziehung Das letzte zu behandelnde Element der Erziehung betrifft die Vermittlung allgemeiner und berufsbildender Inhalte, die in Form von Unterricht stattfinden soll, der »in allgemeinen oder elementarischen und in besonderen oder gewerblichen [alle Herv. i.O.]«134 Unterricht unterteilt wird. Die allgemeine Erziehung solle in Schulen stattfinden, die alle Kinder bis zum 17. oder 18. Lebensjahr besuchen. Sie soll die »Grundstoffe aller erlangten Kenntnisse, aller Wissenschaften, aller Künste, aller Gewerbe«135 vermitteln. An die allgemeine Erziehung schließt die »specielle Erziehung« an, die in der von den Schülern gewählten beruflichen Domäne eine fachliche Befähigung zum Ziel hat. Interessanterweise gibt es im Text keine Formulierung, die nahelegt, dass die Gemeinschaft entscheiden soll, wer wo arbeiten solle, wie es doch aus den bisher geschilderten gesellschaftlichen Prinzipien resultieren müsste. Statt dessen sollen die Schüler ihr Metier selbst wählen können. Ohne weiter darauf einzugehen, wird noch bemerkt, dass die spezielle Erziehung, also die Fachausbildung »zu jeder Zeit theoretisch und praktisch«136 sei.
5.6 G ESAMTSCHAU In der Sittenverbesserung wird vor dem Hintergrund einer Kritik der bestehenden Gesellschaft, die es nicht vermöge das »allgemeine und persönliche Glück« der Menschen zu sichern, das Gegenbild einer Gemeinschaft entworfen, die diesem Ziel entsprechen soll. Analog zur bürgerlichen Losung der Französischen Revolution fasst Cabet seine kommunistische Losung in drei Kernbegriffe: ›Einheit‹, ›Gleichheit‹, ›Brüderlichkeit‹. Dies seien die Prinzipien, nach denen die bessere Gesellschaft, die Ikarische Gemeinschaft, bestimmt sein soll. Dabei kommt dem Begriff der Einheitlichkeit die höchste Bedeutung zu. ›Einheitlichkeit‹ ist das zentrale Prinzip in der Gemeinschaft, alles von den institutionellen Arrangements über die pädagogischen Bemühungen bis hin zum Willen und Leben des einzelnen Menschen ist diesem Prinzip subordiniert. ›Gleichheit‹ und ›Brüderlichkeit‹ befinden sich kategorial auf einer Ebene unter ›Einheitlichkeit‹. 134 Ebd. 135 Ebd.: 74. 136 Ebd.: 75. Die Verbindung zwischen theoretischem und praktischem Lernen, oder zwischen Unterricht und Arbeit muss als ein zentrales Element sozialistischen pädagogischen Denkens angesehen werden. Im – sachlich eingegrenzten – Rahmen dieser Arbeit kann eine entsprechende ideengeschichtliche Rekonstruktion nicht geleistet werden, obwohl sie anhand der ausgewählten Texte möglich wäre.
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›Gleichheit‹ adressiert dabei die Ausrichtung und Funktion der gemeinschaftlichen Institutionen und die Stellung der Gemeinschaftsmitglieder untereinander, während ›Brüderlichkeit‹ zwar auch eine, das Institutionelle betreffende Bedeutung hat, hauptsächlich aber sich auf persönlich zu lebende Gesinnungen und Tugenden bezieht. Obgleich der Text ›Brüderlichkeit‹ immer wieder als zentralen Begriff hervorhebt, erlangt er erst aus der Verbindung mit ›Einheitlichkeit‹ und ›Gleichheit‹ seine Bedeutung. Selbes gilt für den nur einmal Verwendung findenden Solidaritätsbegriff. Von den vier Deutungsvarianten, die der Text für den Brüderlichkeitsbegriff öffnet, sind vor allem die des (christlichen) (Organisations-)Prinzips und die der sozialen Grundtugend von Bedeutung. Sie haben auch den engsten Zusammenhang mit dem Begriff der Solidarität, der wechselseitige Verpflichtung aller einzelnen für die Gesamtheit bedeutet, worin wieder die zentrale Stellung des Einheitsbegriffs deutlich wird. Das Soziale erscheint in drei Facetten: Zum ersten als Folie der Kritik in Form der bestehenden, ungenügenden Gesellschaft, als zweites in Form der künftigen, besseren Gesellschaft und als drittes in Form der politischen, kommunistischen Gesinnungsgemeinschaft, die die neue Gesellschaft errichten will. Erste zeichnet sich durch eine Zersplitterung in verschiedene Gruppen aus, die zweite durch die oben beschriebene Einheitlichkeit und die dritte durch Ein heitlichkeit der politischen Gruppe in der Zersplitterung der bestehenden Gesellschaft und einen transformatorischen Charakter, da sie sich selbst mit Einrichtung der neuen Gesellschaft überflüssig machen will. Pädagogik bekommt in diesem Rahmen zwei Bedeutungen. Dabei ist grundlegend die Bestimmung der Erziehung als alles, was den Menschen zum Menschen macht. In der bestehenden fragmentierten Gesellschaft sei ihr das nicht möglich. Jedoch soll die Gemeinschaft der Kommunisten durch Überzeugungsarbeit die noch nicht Überzeugten dazu bringen, sich der ikarisch-kommunistischen Gemeinschaft anzuschließen. Bei dieser Propaganda handelt es sich um eine erste Form des Pädagogischen. Die zweite Gestalt erhält sie innerhalb der Gemeinschaft, wo sie die Aufgabe hat, am Erreichen des Ziels der Gemeinschaft, dem »allgemeinen und persönlichen Glück«, mitzuwirken. Dabei ist die unmittelbar der Erziehung zugeordnete Zweckbestimmung, »gediegene Menschen, geschickte Arbeiter und beste Bürger« zu erzeugen, mithin die möglichst vollkommene Eingliederung eines und einer jeden in die Gemeinschaft zu vollziehen. Es geht vor allem darum, das zentrale ›Prinzip der Solidarität‹ im oben beschriebenen Sinne als sittliche Disposition in den Menschen zu verankern und sie so in die einheitliche Gemeinschaft einzubinden. Dem korrespondiert die Pflicht zu Arbeiten, um einen produktiven Beitrag zur Gesamtheit zu leisten.
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Zusammenfassend (und vereinfachend) besteht die Erziehung zur ›Brüderlichkeit‹ und ›Solidarität‹ in der Sittenverbesserung darin, dass die Menschen lernen, sich überzeugt in die einheitliche und gleichheitliche Gemeinschaft zu fügen und ihre Interessen den agglomerierten Interessen aller unterzuordnen. Pädagogik kommt dabei nicht ohne Zwang bzw. dessen Androhung aus, denn bei Nichtbefolgung der Maßgaben der ›Tugend der Brüderlichkeit‹ droht der Ausstoß aus der Gemeinschaft.
6. Solidarität als sozial-pädagogisches Gesetz (Hippolyte Renaud)
6.1 A UTOR
UND
T EXT
Claude Hélène Hippolyte Renaud wurde am 26. Mai 1803 in Besançon/Frankreich geboren. Er besuchte die École Polytechnique in Paris und ab 1825 die Militärakademie Metz und machte eine Karriere als Artillerieoffizier der französischen Armee, die er 1860 mit seiner Pensionierung beendete. 1 Neben diesem bürgerlichen Leben engagierte sich Renaud für die Verbreitung der Ideen des französischen Frühsozialisten Charles Fourier. Es ist nicht sicher, ob Renaud schon an der École Polytechnique mit den Ideen Fouriers bekannt geworden ist. Möglich ist dies aber, denn in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts war diese Institution ein Zentrum frühsozialistischer Debatten: Allen voran der organisatorische Führer der an Fourier orientierten Sozialist*innen, Victor Considerant (*1808, †1893), studierte hier. Spätestens in Metz, wo ab 1828 auch Considerant Dienst tat und öffentlich für den Fourierismus propagierte, 2 wird Renaud zum Anhänger Fouriers geworden sein. Er verfasste einige Werke zur Popularisierung der Gedanken Fouriers, die sich an den, die Extravaganzen des Meisters glättenden, Schriften Considerants orientierten. Außerdem schrieb er für die sozietären Zeitschriften La Phalanstère, La Phalange und La Science sociale.3 Als sein Hauptwerk gilt der in diesem Kapitel zu interpretierende Text Solidarite. Vue synthétique sur la doctrine de Charles Fourier von 1842. Das Urteil der Nachwelt über Hippolyte Renaud ist unspektakulär: »Er war kein schöpferischer Denker. Was ihm allerdings in seinem Hauptwerk besonders gut gelang, war, die Elemente der Lehre Fouriers in einer Weise zu beschreiben, daß sie auch den politischen ›Normalverbrauchern‹ unter seinen Zeitgenossen 1
Vgl. Kool/Krause (1972: 199); Vapereau (1893: 1317).
2
Van Davidson (1988: 20).
3
Kool/Krause (1972: 199).
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zugänglich wurden.«4 Trotz seiner volkstümlichen Erfolge blieb er im Schatten Charles Fouriers und Victor Considerants. Renaud starb am 6. Januar 1874 in Epinal/Frankreich. Die Textgrundlage dieses Kapitels bildet das 1855 im Selbstverlag der Schweizer-Phalanx in dritter Auflage erschienene 120-seitige Buch Solidarität. Kurzgefaßte Darstellung der Lehre Karl Fourier’s (im Folgenden mit Die Solidarität abgekürzt) von Hippolyt Renaud. Es ist eine deutsche Bearbeitung von Renauds Solidarite. Vue synthétique sur la doctrine de Charles Fourier von 1842, die von Kaspar Bär und Karl Bürkli 5 besorgt wurde. Dem Inhaltsverzeichnis ist zu entnehmen, dass noch ein zweiter, nicht realisierter, Teil geplant war, um das gesamte Buch Renauds zu übersetzen. Auf den ersten Blick mag verwundern, nicht einen ins Deutsche übertragenen Text Charles Fouriers selbst, oder den Text eines deutschsprachigen Fourieristen als Quelltext zu verwenden, sondern den eines wenig bekannten französischen Anhängers Fouriers.6 Die Wahl fiel auf Die Solidarität, da sich dieser Text durch seine Qualität vor anderen auszeichnet: In ihm ist explizit die Rede von 4
Ebd. Die Ansichten Fouriers waren in einigen Aspekten wesentlich radikaler als das, was Renaud in Die Solidarität als Theorie seines Meisters ausgibt. Dies hat wohl hauptsächlich damit zu tun, dass die Schriften Fouriers schwer zu lesen und zu verstehen waren, und der Zugang zu seiner Lehre für viele seiner Anhänger*innen (sicher auch der Renauds, der Considerant schon aus der Militärzeit in Metz kannte) über die Schriften Victor Considerants erfolgte. »Considerant is recognized generally as the leading catalyst of the Fourierist movement. He, more than any other individual, including Charles Fourier, popolarized Fourierism« (Van Davidson 1988: 1). Dabei unterschlug Considerant in seiner Fourier-Popularisierung »some of his mentor’s fundamental theories, particularly the ideas on cosmology, free love, and the family« (Van Davidson 1988: 2). Eine vergleichende Analyse der Erziehungsvorstellung Considerants bspw. in Considerant 1844 (deutsch: 1847) mit denen Hippolyte Renauds würde die Verwandtschaft der Gedanken womöglich belegen.
5
Karl Bürkli gilt als einer der Gründungsfiguren der sozialistischen Bewegung in der Schweiz. Er kam 1845 in Paris in Kontakt zu Fourierist*innen und wurde fortan zum Anhänger der Lehren Fouriers, und übersetzte zahlreiche sozietäre Schriften ins Deutsche, trug selbst aber nichts zur Entwicklung der Theorie bei (vgl. Gridazzi 1935: 90f.).
6
Immerhin hätte mit der deutschen Übersetzung Victor Considerants Theorie der natürlichen und anziehenden Erziehung (1847) ein fourieristisches Werk mit explizit pädagogischem Bezug vorgelegen. Allerdings wird in diesem Text weder ›Brüderlichkeit‹ noch ›Solidarität‹ benutzt. Die Werke von Fourier selbst fallen als Quelltexte aus, da sie im 19. Jahrhundert nicht in deutscher Sprache vorlagen.
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›Solidarität‹ und ihrem Zusammenhang mit Gemeinschaft und Pädagogik. Es konnten keine anderen Texte der sozietären Schule in deutscher Sprache von entsprechender inhaltlicher Qualität gefunden werden. 7 Von Fourier selbst lag im 19. Jahrhundert kein ins Deutsche übertragener Text vor, so dass er als Urheber einer Quelle, die den Auswahlkriterien entspricht, ausfällt.8 Darüber hinaus erfüllt der Text die formalen Auswahlkriterien: Er kann als sozialistischer gelesen werden: Soziale Ungleichheit und individuelles Elend gilt ihm als gesellschaftlich, nicht individuell begründet und müsse daher durch eine Reform der Gesellschaft überwunden werden. Es wird sich zeigen, dass er sich im Hinblick auf die Elemente eines pädagogischen Konzepts hin auslegen lässt: Er beschreibt sowohl ein Menschenbild, das dem Menschen Bildungsfähigkeit und Erziehungsbedürftigkeit attestiert als auch Überlegungen zu Methoden und Zielen von Bildung und Erziehung im Sinne von innerer und äußerer Lernsteuerung. Wie schon aus der Qualifikation des Textes als sozialistisch hervorgeht, handelt der Text nicht von rein individuellen Problemen, sondern befasst sich in besonderer Weise mit der Frage der Gemeinschaftlichkeit. Zuletzt: Der Text ist im 19. Jahrhundert erschienen und es finden die Worte ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ Verwendung.
6.2 Ü BERBLICK In der Vorrede des Buches wird schnell deutlich, worum es dem Autor geht: Nachdem die Menschheit über Jahrhunderte nach den ›wahren Gesetzen‹ der Moral und des gesellschaftlichen Lebens gesucht habe, seien »[d]ie Grundpfeiler der ewigen sozialen Wahrheit […] endlich aufgefunden. Wir versichern, das diese Grundsätze nicht mehr verloren gehen, so wenig als der Name dessen, der sie entdeckte. 7
Gleichwohl gab es eine nicht unbeträchtliche fourieristische Publizistik in deutscher Sprache, die sich aber eher wirtschaftlichen als pädagogischen Fragen widmete und überwiegend in Zürich unter der Ägide Karl Bürklis erscheinen ist. Auf sie weist Bebel in seiner Fourier-Biographie (1978: 241f.) hin. Von größere Bedeutung sind nach Bebels Urteil: Coignet 1851, 1855; Churoa 1840; Stromeyer 1844 und Michael*** 1846.
8
Die ersten Textzusammenstellungen: Fourier 1919; 1958. Das erste (und bisher einzige) zusammenhängend ins Deutsche übersetzte Werk Fouriers wurde erst 1966 von Adorno herausgegeben (vgl. Fourier 1966).
118 | S OLIDARITÄT B ILDEN Und dieser Name, der heute noch verkannt, morgen aber schon auf dem weiten Erdenrunde begrüßt und gesegnet sein wird: – dieser Name ist Karl Fourier!« 9
Charles Fourier10 habe die Gesetze erkannt, nach denen die Einzelnen und die ganze Menschheit zu Wohlstand und Glück gelangen könnten. Diese Gesetze seien zwar umfangreich, aber doch einfach zu begreifen und so will Renaud »versuchen, die Entdeckung in ihrer einfachen und erhabenen Einheit darzustellen.«11 Um dieses Unternehmen zu bewältigen, ist Die Solidarität in, neben der Vorrede, zwei Hauptabteilungen geteilt. Die erste widmet sich der Darstellung »Allgemeine[r] Grundsätze«, während die zweite die »Einheit des Menschen mit sich selbst« zum Thema hat. Im ersten Abschnitt werden in zwei Kapiteln die weltanschaulichen Grundannahmen argumentativ dargelegt, wobei das Wissenschafts- und Vernunftverständnis in seinem Bezug zu Gott zentral ist. Die zweite Hauptabteilung ist ebenfalls in zwei Kapitel unterteilt. Im ersten Kapitel stellt Renaud das Konzept der Passionen vor, während im zweiten Kapitel die daraus abzuleitenden gesellschaftlichen Organisationsprinzipien und -formen dargestellt werden.
6.3 V ORAUSSETZUNGEN Auch bei der Darstellung von Die Solidarität ist es nötig, bestimmte Vorklärungen vorzunehmen, die die Interpretation des Textes im Hinblick auf die Fragestellung erst ermöglichen. Dies betrifft die miteinander verknüpften Vorstellungen von Gott, der Vernunft und des Bösen sowie des Menschenbildes. 6.3.1 Gott, die Vernunft und das Böse 6.3.1.1 Gottesbild Das von Renaud dargestellte System basiert auf der Annahme der Existenz eines Gottes, der »unendlich vernünftig und unendlich gut«12, ein »schöpferisches Wesen«, das den Menschen geschaffen habe und ein »höher[er] Geist, von welchem sein [des Menschen, R.P.] Geist ein Ausfluß« sei. 13 Wo Gott herrsche, herrsche 9
Renaud (1855: VIII).
10
Die Übersetzer des Textes haben den Namen Charles Fouriers zu Karl verdeutscht. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Originalschreibweise des Namens benutzt.
11
Renaud (1855: X).
12
Ebd.: 10.
13
Ebd.
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das Gesetz der Vorsehung, der planmäßig geschehenden Ereignisse, so dass »sich der Mensch zum Gedanken an Gott [erhebt], und dieser Gedanke, der jeden Zufall verwerfen muß, […] darauf hin [führt], für Alle, für die Einzelnen wie für die Gesammtheit, eine Vorsehung, eine Bestimmung anzunehmen.« 14 Das bedeutet aber nicht, alles was geschieht, sei als ›gottgewollt‹ anzusehen, denn obgleich Gott »[a]lles zum Guten eingerichtet« habe, müsse der Mensch »das bewunderungswürdige Ineinandergreifen seines Werkes studiren, um die Kunst zu entdecken, Vortheile daraus zu ziehen.« 15 Tue er das nicht, folgten Not, Elend und Unglück. Doch dauerndes Unglück sei nicht mit der Existenz Gottes vereinbar: »Die Vernunft sagt uns klar und bestimmt, […] daß Gott ein Wesen, welches er geschaffen, nicht zum Unglück geschaffen haben kann, weil er selbst unendlich vernünftig und unendlich gut ist!« 16 Als Bedingung, Glück und damit das Ziel seiner Bestimmung zu finden, sei dem Menschen aufgetragen, seinen Willen mit dem Gottes in Übereinstimmung zu bringen, indem nach der Erkenntnis der Bestimmungen und Gesetze Gottes gesucht wird: »Diese Bestimmung zu erkennen, ihr nachzustreben und sie zu erfüllen, soll beständig alle Kräfte des Menschen in Anspruch nehmen. Nur so kann er seinen Willen mit dem göttlichen Willen in Uebereinstimmung bringen, nur so gehorcht er, nur so erfüllt er seine Pflicht.«17 Die Unterwerfung unter den Willen Gottes wird nicht als passiver, einmaliger Akt gesehen, sondern als – das wird später relevant – aktiver, kontinuierlicher Prozess, in dem der Mensch versucht, die Gesetze Gottes zu erkennen und ihnen gemäß zu leben.18 Kehrseite dieser Pflicht des Menschen gegenüber Gott sei das »Recht […], verstehen zu können, was Gott von ihm verlangt.« 19 Gott hat somit gegenüber dem Menschen eine Pflicht, der er in zweierlei Form genügt: Zum einen, indem er stets die Richtung weist, in die der Mensch sich, nach Er kenntnis strebend, zu richten hat, zum zweiten indem er ihm ein Instrument gab, mit dem diese Richtung und der Weg dahin genauer erforscht werden kann. Das erste ist die ›Attraktion‹, das zweite die ›Vernunft‹. Zur Attraktion: »Die Attraktion ist das allgemeine Gesetz. Allem innewohnend, offenbart sie immer und ewig den Willen Gottes: sie ist allezeit [Herv. i.O.] und überall [Herv. i.O.], und zeigt so die beständige Sorgfalt des Schöpfers für Alles, was von ihm ausgeht; sie weist jedes We14
Ebd.: 1f.
15
Ebd.: 22.
16
Ebd.: 20f.
17
Ebd.: 2.
18
Vgl. die ähnlichen Ansichten Franz Heinrich Ziegenhagen auf S. 46ff. dieser Arbeit.
19
Renaud (1855: 2).
120 | S OLIDARITÄT B ILDEN sen auf die richtige Bahn, und zeigt jedem seine Bestimmung; sie ist ununterdrückbar und unausrottbar in ihrem Wesen; sie existirt immer und immer trotz der Vorurtheile und der moralischen Vorschriften und Staatsgesetze. Regirt Gott durch die Attraktion, so ist er gewiß, daß die Wesen ihm dankbar gehorchen und sich dabei glücklich fühlen.« 20
Der dezidiert sozialkritische Impetus der Schrift wird hier deutlich, wenn zu lesen ist, dass die Kraft der Attraktion »trotz der Vorurtheile und der moralischen Vorschriften und Staatsgesetze« existiere, und das einzige Gesetz sei, dem sich unterzuordnen sei. Es wird darauf zurückzukommen sein. Auf die Vernunft ist schon jetzt etwas umfangreicher einzugehen. 6.3.1.2 Vernunft Dem Begriff der Vernunft kommt in Die Solidarität eine doppelte Rolle zu. Auf der einen Seite dient der Bezug auf die Vernunft dazu, die in der Schrift dargelegten Gedanken als Wahrheiten auszuweisen, die der Prüfung durch die Vernunft standzuhalten vermögen. Zum zweiten wird die Vernunft als Werkzeug dargestellt, mit dessen Hilfe der Mensch lernen kann den Weg zum Glück zu finden. Dies gelingt ihm zwingend: »Die menschliche Vernunft ist unfehlbar.« 21 Allerdings, so wird bei der vertieften Lektüre deutlich, hat die Rede von der Vernunft hauptsächlich eine legitimatorische Funktion gegenüber dem Lesepublikum. Diesem soll vermittelt werden, dass der ihm vorliegende Text auf den anerkannten Prinzipien der Vernunft beruhe, und somit wahr sei. 22 Welches Konzept von Vernunft aber findet sich in Die Solidarität? Sehen wir uns eine etwas längere Textstelle vom Anfang des Buches an: »Als Gott den Menschen auf die Erde setzte, trug er ihm auf, Alles zu fassen und zu be greifen, was mit ihm in Verbindung steht und von ihm abhängt, Alles, was auf seine Handlungen und auf seine Bestimmung einen Einfluß ausübt. Und dafür hat er ihm ein einziges Instrument gegeben: die Vernunft [Herv. i.O.]. Die Vernunft muß also richtig sein, muß der wahren Würdigung der Dinge genügen, denn ohne dieß hätte Gott den Menschen unwiderruflich zum Irrthum verdammt, und Gott allein, als Schöpfer eines unrichtigen, schlechten Instruments, trüge alsdann die Schuld an diesem Irrthum und dessen Folgen: dem Elend und dem Laster.« 23 20
Ebd.: 32f.
21
Ebd.: 4.
22
Auf das Wahrheitsverständnis Renauds kann hier nicht umfänglich eingegangen werde. Kurzum ist für ihn »die Wahrheit eine absolute« (Renaud 1855: 12), »ein Satz, der für die Wissenschaft unwiderruflich festgestellt ist« (ebd.).
23
Renaud (1855: 4).
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Da Gott weder Schlechtes noch Unrichtiges tun könne, müsse auch die Vernunft ein gutes und richtiges Instrument sein, wie Renaud an späterer Stelle hervorhebt.24 Die Tatsache, dass der Mensch (noch) nicht alles richtig erkannt habe, und seine Erkenntnis fehlerhaft und seine Handlungen schlecht seien, will Renaud nicht Gott und der Vernunft, sondern den (noch) mangelnden Fähigkeiten des Menschen anlasten. Die Vernunft wird als ein unfehlbares Instrument beschrieben, deren Gebrauch jedoch geübt und gelernt werden müsse, um zu unfehlbaren Ergebnissen zu kommen, denn: »Indessen, es ist wahr, hat sich der Mensch oft getäuscht, und er täuscht sich noch jeden Tag. Aber auch der Ingenieur kann sich täuschen, und sei er mit noch so vollkommenen Instrumenten versehen. Denn der Ingenieur muß seine Instrumente, und der Mensch seine Vernunft gebrauchen lernen [Herv. i.O.].«25 So er den rechten Gebrauch der Vernunft gelernt habe, werde der Mensch die rechten Erkenntnisse, also Einsicht in die gottgegebenen Wahrheiten gewinnen. Wahrheit ist dabei untrennbar mit Vernunft verknüpft: »Die Wahrheit hat und kann nur eine einzige Eigenschaft haben, die, von der Vernunft angenommen zu werden. Wahr ist etwas kraft der Vernunft [Herv. i.O.], eben weil sie es so findet, weil sie nach göttlichem Recht [Herv. i.O.] die einzige und oberste Richterin des Wahren und Falschen ist.«26 Dabei gibt es für Renaud keine Unterschiede zwischen mathematischen, philosophischen oder sozialen Wahrheiten. Während erstere jedoch inzwischen erkannt worden seien, seien zweitere noch unbekannt: »Und doch ist das Gesetz der Bewegung der Himmelskörper heute bekannt, und Gott, der uns diese Wissenschaft zuließ, deren wir noch am Ende hätten entbehren können, wäre sehr unkonsequent gewesen, wenn er uns untersagt hätte, das Gesetz der sozialen Bewegungen [Herv. i.O.] kennen zu lernen, welches für uns von ungleich größerer Wichtigkeit ist.«27
Wir kommen dem zentralen Thema des Buches näher: Um das Gesetz der sozialen Bewegungen soll es gehen, das untrennbar mit dem oben schon benannten »Gesetz der Attraktion« und dem »Gesetz der Solidarität« in Beziehung steht. Dennoch, und darauf kommt Renaud immer wieder zurück, gibt es Fehler, Irrtümer und das Böse. Der Mensch macht Fehler, die ihn schmerzen. Dies jedoch ist nicht Grund zur Klage an Gott. Denn die aus der falschen Anwendung der Ver24
Vgl. ebd.: 14f.
25
Ebd.: 4f.
26
Ebd.: 5.
27
Ebd.: 9.
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nunft verursachten Fehler und Schmerzen haben ihren Zweck: Die Folgen der menschlichen Fehler werden als Zurechtweisungen Gottes gesehen, die mehr oder weniger sanft auf den rechten Weg und in die neue, bessere soziale Welt weisen sollen.28 6.3.2 Menschenbild Der Besitz der Vernunft ist für Renaud das, was Menschen von Tieren unterscheidet.29 Sie sei aber nur ein Element, das den Menschen ausmacht. Insgesamt bestehe der Mensch aus drei grundlegenden »Prinzipien«: »1. Den Passionen (aktives und bewegendes Prinzip); 2. Dem Körper (passives und bewegtes Prinzip); 3. Der Intelligenz (neutrales und regulirendes Prinzip) [alle Herv. i.O.].«30
Dem Körper wird, wie die Erläuterung in Klammern schon verdeutlicht, eine untergeordnete, abhängige Stellung im menschlichen Wesen zugewiesen, wie auch im Fortgang der Textstelle deutlich wird: »Der Körper bewegt sich in der That immer nach den vorgeschriebenen Regeln der Intelligenz. Er handelt in Uebereinstimmung mit derselben und gehorcht dabei ihrem Willen; dieser Wille aber kann nur aus den Neigungen oder Passionen hervorgehen.« 31 In dieser kurzen Passage ist die Hierarchie der drei Prinzipien deutlich: An erster Stelle stehen die Passionen als aktives, willensbildendes Prinzip, die vermittelt über die Intelligenz als Regulativ den Körper sich passiv bewegen lassen. Der Intelligenz kommt eine rein instrumentelle Funktion zu: Sie hat die Aufgabe, 28
Vgl. dazu ausführlich: S. 145-151 dieser Arbeit.
29
Renaud beschreibt die Auszeichnung des Menschen vor den Tieren wie folgt: »Wenn der Mensch die Dinge nicht durch Beobachtung zu begreifen hätte, wenn er Alles schon bei der Geburt wüßte, wenn er nicht irren könnte; so hätte er einen einzigen Führer: den Instinkt [Herv. i.O.]; aber er hätte keine Vernunft. […] Auf diese Weise, es ist wahr, wären die Menschen glücklich nach Art der Thiere, welche in den ihrer Natur günstigen Umständen leben. Auf diese Weise würden die Generationen in einem einförmigen, steten, nie wechselnden Glücke dahinleben. Wäre aber dieses Glück demjenigen vergleichbar, auf welches der Mensch Anspruch machen kann, er der nach dem Ebenbilde Gottes [Herv. i.O.] erschaffen und mit Vernunft begabt ist?« (Renaud 1855: 28) Die Parallelen zu Ziegenhagens Konzeption und entsprechenden Konzepten der Aufklärung sind offensichtlich (Vgl. S. 49ff. dieser Arbeit).
30
Renaud (1855: 36).
31
Ebd.
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durch Gebrauch der Vernunft Wahrheiten zu erkennen. Auch wenn die Intelligenz durch das Prinzip der Vernunft generell nur Wahrheit zu erkennen vermag, so sei sie doch nicht gleich verteilt, die Menschen hätten unterschiedlich stark ausgeprägte Verstandeskräfte: »Hierin liegt der Unterschied zwischen den Intelligenzen: die eine vermag den Weg zu bahnen, welcher zu einer neuen Wahrheit führt; die andere ist bloß im Stande, auf dem Wege nachzufolgen, welchen die erstere geebnet hat; die dritte endlich ist zu schwach, selbst auf der ganz freien, geebneten Heerstraße vorwärts zu kommen.« 32
Das, vor Körper und Intelligenz, zentrale Prinzip ist das der Passionen oder Neigungen, das ursächlich für jede bewusste menschliche Handlung sei – es ist auch der Kern des Menschenbildes in Die Solidarität: »Jede freie That des Menschen, jede freiwillige Anwendung seiner Körperkräfte und sei ner Intelligenz ist immer durch eine Neigung bestimmt. Diese Neigung, sei sie, wie sie wolle, nennt Fourier ›Passion‹ [Herv. i.O.]. Die Seele [Herv. i.O.], das Ich, das Bewegende, das Agens, das sich nur in den Passionen offenbart, kann als die Summe derselben be trachtet werden.«33
Die Passionen oder Neigungen sind von konstitutiver Bedeutung. Entsprechend der eingangs beschriebenen These, der Gang der Dinge der Welt gehorche göttlichen Gesetzen, ist für Renaud auch das menschliche Wesen durch entsprechende Gesetze reguliert: »Begreife man doch, daß die moralische Welt durch Gesetze regirt wird, die sich so bestimmt erweisen, als die Gesetze der materiellen Welt. Eben deßhalb findet eine soziale Bewegung statt, weil im menschlichen Herzen Neigungen oder Passionen vorhanden sind, und das Gesetz der sozialen Bewegung, als Folge der Passionen, fließt direkt aus Gott, der den Menschen geschaffen hat, wie er ist. Die Passionen des Menschen können, wie die Naturkräfte, nur dann das Gute hervor bringen, wenn sie in einem passenden, naturgemäßen Mittel wirkt. Außerhalb dieses Mittels sind die Passionen verderblich, gerade wie das Feuer, welches ohne geeignete, wissenschaftliche Apparate nur zerstörende Wirkungen hervorbringt. Die Passionen des Menschen verändern wollen, weil sie Böses hervorbringen, heißt, einem Naturgesetz widerstreben, heißt, am Unmöglichen sich versuchen. […]
32
Ebd.: 6.
33
Ebd.: 36.
124 | S OLIDARITÄT B ILDEN Die Aufgabe des Menschen besteht vielmehr darin, diese Neigungen oder Passionen zu studiren, um daraus ein Mittel, eine soziale Form abzuleiten, in welcher sie nur gute Resultate hervorbringen können.«34
Es lohnt, an dieser Passage länger zu verweilen, denn hier werden die Grundthesen des Textes deutlich. Zum einen ist die Rede von sozialen Bewegungen, Gesetzen und Formen, zum andern von den Passionen. Die Passionen dienen als Triebkraft, die individuelle und soziale Bewegungen auslösen. Mit sozialen Bewegungen meint Renaud den Verkehr der Individuen 35 untereinander. Allerdings hänge das Resultat der Bewegungen von der Form ab, in der sich diese gesetzmäßigen sozialen Bewegungen gezwungenermaßen abspielen: Sei die Form ›geeignet‹, resultiere Gutes, sei sie ungeeignet, Schlechtes aus diesen Bewegungen.36 Da die Passionen die Triebkräfte der sozialen Bewegungen seien, müsse das soziale System diesen Triebkräften angemessen ausgestaltet werden. Renaud spricht von der »abgeleitet[en]« Form, die das Soziale vom Passionellen sei. Damit einher geht die These der Veränderbarkeit der sozialen Formen, während die göttlichen Gesetze der sozialen Bewegung nicht veränderbar seien, genauso wenig, wie die Passionen. Der Versuch, die Passionen zu ändern, wäre auch unsinnig, sind sie doch die Triebfedern, die den Menschen zur Suche nach dem »un iversellen Glück« antreiben. Das Streben nach dem allgemeinen Glück, das heißt dem sozialen Glück, dem Glück aller, in dem keiner und keine davon ausgeschlossen wäre, bezeichnet Renaud nach Fourier als Uniteismus: »Man muß also dieses Streben nach einem universellen Glück, welches die Passionen Aller zusammenfaßt, für einen Wunsch nach Harmonie zwischen allen Wesen, allen Schöpfungen, allen Welten und Gott halten!
34
Ebd.: 23.
35
Wobei der Begriff des In-Dividuums für die renaudsche oder fouriersche Fassung der menschlichen Natur unangemessen scheint, denn für sie ist der Mensch sehr wohl teil- bzw. zergliederbar, nämlich in seine unterschiedlichen passionellen Bestandteile.
36
Die Verwandtschaft zu den zivilisationskritischen Ansichten Rousseaus ist nicht so eng, wie es hier scheint. So sieht Renaud nicht das Leben in Gesellschaft generell kritisch, sondern nur das in der bestehenden, und während Rousseau den Fehler der existierenden Gesellschaft durch einen politischen Gesellschaftsvertrag einzudämmen hofft, ist Renaud davon überzeugt, dass ein besserer gesellschaftlicher Zustand sich quasi naturgesetzlich ergeben wird.
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Dieses Streben, das einzige im menschlichen Herzen, weil es ja alle Passionen, wie die weiße Stammfarbe alle Farben, in sich enthält, nennt Fourier das Streben nach Einheit: Uniteismus [Herv. i.O.]. Wenn man im Menschen nur diese Einheits-Passion kennen würde, welche der Stamm aller andern Passionen ist, so würde dieß nur auf einen unfruchtba ren Wunsch nach Harmonie hinauslaufen; von Verwirklichung wäre keine Rede. Diese Passion zerfällt aber in andere, welche man finden muß, wenn man tiefer in das menschliche Herz eindringt.«37
Der Uniteismus sei das Zentrum, besser: die Wurzel aller unterschiedlichen Passionen, die sich im Menschen fänden und in ihren je individuellen Kombinationen unterschiedlichste Charaktere hervorbringen würden, ohne die es nur schnöde Harmonie gäbe: »Betrachtet man die Menschen in der fast unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Karaktere, so scheint es auf den ersten Anblick, es gebe im Menschen eine zu große Anzahl von Passionen, als daß sie klar und bestimmt zergliedert werden könnten.«38 Doch sei dem nicht so, denn diese Vielzahl an Passionen lasse sich »auf einige Grundpassionen zurückführen, welche sich in den verschiedensten Abstufungen unter einander verbinden und so die große Mannigfaltigkeit der menschlichen Karaktere hervorbringen.« 39 Es kann nun nicht darum gehen, das gesamte System der Passionen detailliert darzustellen. Im Sinne der Aufgabenstellung dieser Arbeit soll der Blick darauf gerichtet werden, diejenigen Elemente und Zusammenhänge darzustellen, die für die Interpretation des Verhältnisses zwischen Sozialem, Solidarischem und Pädagogischem Relevanz beanspruchen können. Wie oben schon erwähnt, sieht Renaud das Streben nach Glück als konstitutiv für den Menschen an. Dieses Glück könne der Mensch nur auf drei Arten erreichen: »Abgesehen von den Beziehungen mit Seinesgleichen, in sich selbst oder in Berührung mit der Natur. […] In seinen besonderen Beziehungen mit denjenigen Seinesgleichen, welche mehr oder weniger direkt mit ihm in Berüh rung stehen. […] In seinen allgemeinen Beziehungen mit der Gesellschaft.«40 Diese Passage ist von zentraler Bedeutung für die Systematik der Passionen, die sich auf diese drei Arten menschlicher Glück- und Leidensfähigkeit beziehen: An erster Stelle könne der Mensch in seinem Verhältnis zu sich selbst und in seiner Beziehung mit der ihn umgebenden (nicht-sozialen) Umwelt Glück erlangen. An zweiter Stelle in seinen sozialen Beziehungen und drittens in der Art und Weise, wie er zur Gesellschaft, also dem sozialen Ganzen, in Beziehung 37
Renaud (1855: 39f.).
38
Ebd.: 37.
39
Ebd.
40
Ebd.: 40.
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steht.41 Diesen drei Domänen der Verfolgung des Glücks entsprechen die drei, dem Uniteismus entspringenden, passionellen Haupttypen (Ast-Passionen): Das Streben nach Luxus, nach Gruppen und nach Serien. Das »Streben nach Luxus«42 bestünde aus dem Streben nach körperlicher Gesundheit (der Erlangung von Glück im Verhältnis zu sich selbst) und nach materiellem Reichtum (der Erlangung von Glück im Verhältnis zur materiellen Umwelt). Das »Streben nach Gruppen« hingegen entstehe aus dem »Wunsch, sich Seinesgleichen zu nähern, mit ihnen Vereinigungen zu bilden, Gruppen [Herv. i.O.].«43 Die Bestrebungen nach Freundschaft, Ehrgeiz, Geschlechtsliebe, und Familismus bilden die einzelnen Passionen des Strebens nach Gruppen. Diese Passionen führen dazu, dass sich die Menschen vereinen. Daher nennt Renaud sie »vereinende« oder »affektive« Passionen: »Die vereinenden, affektiven Passionen sind aber direkt sozial, da der Mensch sie durchaus nicht außer dem Zusammenhang mit andern Menschen befriedigen kann. Um die Pas sionen dieser Ordnung gut zu verstehen, muß man sich merken, daß jede derselben zwei Triebfedern hat, eine geistige und eine materielle, was in der folgenden Uebersicht durch die Buchstaben G. und M. bezeichnet ist. Freundschaft. Eingeschlechtliche Affektion G. Affinität der Karaktere, M. Affinität der industriellen Neigungen Ehrgeiz. Korporative Affektion. G. Bündniß für den Ruhm, M. Bündniß für das Interesse Geschlechtsliebe. Zweigeschlechtliche Affektion. M. Physische Liebe, G. Geistige Liebe Familismus. Blutsverandtschaftliche Affektion. M. Band der Blutsverwandtschaft, G. Band der Adoption. […] Eine Gruppe, die sich unter dem Einflusse der materiellen Triebfeder allein bildet, ermangelt des Adels. Sie ermangelt der Nützlichkeit, wenn die geistige Triebfeder allein da-
41
Interessant ist, dass es keine vierte Dimension gibt, die der Beziehung zu Gott nämlich, der ja doch als Schöpfer im System Renauds sehr präsent ist. Allerdings scheint die gesamte Theologie Renauds darauf ausgerichtet, Gott als Schöpfer und ersten Anstoßer zu konzipieren, der dann im weitere Verlauf, seine Schöpfung sich selbst, meint: dem regelrechten Ablauf nach den von ihm gegebenen Gesetzen überlässt, ohne selbst wieder ins Spiel zu treten. Göttliche Wunder oder plötzliche göttliche Schicksalsschläge kommen bei Cabet nicht vor, vielmehr ist Gott nach seiner schöpferischen Leistung völlig absent bzw. nur noch durch seine Gesetze anwesend.
42
Renaud (1855: 41). Renaud steht hier im starken Widerspruch zu den Ansichten Ziegenhagens, der sich Luxus und materiellen Reichtum als Hindernisse einen glücklichen Lebens betrachtete (vgl. S. 55 dieser Arbeit).
43
Ebd.
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bei im Spiele ist. Die Gruppe ist vollkommen, edel und nützlich zu gleicher Zeit, wenn sie durch beide Triebfedern der Passion gebildet wird. [alle Herv. i.O.]«44
Die dritte Ast-Passion richte sich nicht direkt auf den Verkehr der Menschen untereinander, sondern die gesellschaftliche Form des Zusammenlebens. Denn, ob und wie der Mensch diese beiden Passionen, also die nach Luxus und die nach Gruppen, befriedigen könne, sei abhängig von der Form der Gesellschaft: »Der Mensch genießt oder leidet an seinen allgemeinen Beziehungen mit der Gesellschaft, je nachdem diese Gesellschaft sein Streben nach Luxus und nach Gruppen [Herv. i.O.] begünstigt oder unterdrückt, und für ihn mehr oder weniger günstig die Beziehungen dieser Gruppen unter einander selbst ordnet.« 45 Die schlechte Gesellschaft, die die Passionen des Menschen behindert, müsse verändert werden. Wie schon aus dieser Textstelle hervorgeht, sollen die Beziehung der Gruppen, nicht nur die der Menschen untereinander, den Passionen entsprechend organisiert werden. Das Streben nach dieser Organisation nennt Renaud »Strebung nach Serien«: »Die Strebung nach Serien [Herv. i.O.] ist also die dritte und letzte Ast-Passion des Uniteismus.«46 Auch wenn das dargelegte System der Passionen generell auf alle Menschen zuträfe, so gibt es für Renaud doch Unterschiede der Ausprägung und Dominanz einzelner Passionen entsprechend des Alters und des Geschlechts der Menschen. So herrsche in der Kindheit die Freundschaft vor, im Erwachsenenalter Liebe, später Liebe und Ehrgeiz, um im Alter dem Familismus als dominierender Passion zu weichen.47 Auch den Geschlechtern ordnet Renaud vorherrschende Passionen zu: »Die Geschlechter stehen auch unter größerm oder geringerm Einflusse von einigen dieser affektiven Passionen. Die höhern affektiven sind im Manne, die niedern affektiven in der Frau vorherrschend. In dieser Hinsicht sind die Geschlechter einander gleich. In Bezug auf Freundschaft und Ehrgeiz ist der Mann [Herv. i.O.] übergeordnet, in Bezug auf Liebe und Familie aber die Frau [Herv. i.O.].«48
Es wäre interessant auf die, dieser Setzung zugrunde liegenden, Annahmen und die sich im gesellschaftlichen System widerspiegelnden Phänomene einzu-
44
Ebd.: 48.
45
Ebd.: 41.
46
Ebd.: 42.
47
Vgl. ebd.: 50f.
48
Ebd.
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gehen.49 Allerdings geht Renaud darauf im Folgenden nicht weiter ein. Es finden sich wenige Ausführungen zum Geschlechterverhältnis im weiteren Verlauf des Textes.
6.4 G ESELLSCHAFT
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6.4.1 Diagnose und Kritik der bestehenden Gesellschaft Kritik an der bestehenden Gesellschaftsform wird im Text immer wieder formuliert, da die sozialen Formen nicht den Passionen entsprächen. Da die Passionen andere Formen verlangen, um entsprechend glückendes Leben zu ermöglichen, müssten diese Formen geändert werden. Renauds Kritik soll nicht komplett referiert, sondern nur die Elemente vorgestellt werden, die dem Verständnis des Gemeinschaftskonzepts in Die Solidarität dienlich sind. Die bestehende Gesellschaft wird als »vereinzelte, anarchische, zivilisirte [50] Gemeinde«51 beschrieben, in der alles der harmonischen Vereinigung im Wege stehe, und die Ausübung der Passionen zu negativen Wegen und Wirkungen zwinge. Darüber hinaus nötige sie den Menschen zur Einseitigkeit, die die Man nigfaltigkeit der Charakter und Passionen unterdrücke. Zwang ist für Renaud ein Übel, weil er eben gerade die freie Entfaltung der Passionen behindere. Es kann bei diesen kursorischen Bemerkungen bleiben, sie genügen, um die ersten Konturen des Gesellschaftsbildes Renauds hervortreten zu lassen. Es wird im Folgenden deutlicher werden. 6.4.2 Der Weg in die neue, harmonische Gesellschaft Renaud übernimmt Fouriers Idee einer evolutionären gesellschaftlichen Entwicklung, die vom paradiesischen Zustand des ›Edenismus‹ über die Epoche der 49
Wie in den Texten Ziegenhagens und Cabets tritt auch hier bei der Analyse der Vorstellungen zu den Beziehungen der Geschlechter ein Widerspruch zwischen dem formulierten prinzipiellen Gleichheitsanspruch und den dann als konkrete Ausgestaltung der Geschlechterbeziehungen beschrieben Konzepten hervor. Überdies ist der positive Bezug auf Familie, den Renaud hier nimmt, ein Indiz für die, Considerant folgende, Abweichung von den Ansichten Charles Fouriers, der dem Konzept der Ehe und der Familie ablehnend gegenüberstand (vgl. Fourier [um 1820] 1977).
50
Zur Bedeutung des Begriffs ›zivilisiert‹ bzw. ›Zivilisation‹ siehe unten, wenn die Gesellschaftsauffassung Renauds dargestellt wird.
51
Renaud (1855: 58).
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›Wildheit‹, des ›Patriarchats‹, der ›Barbarei‹ bis in den Zustand der ›Zivilisation‹ hin liefe.52 ›Zivilisation‹ bezeichnet den Zustand, in dem sich die soziale Welt im Moment befinde. Dieser Zustand sei nicht der Endpunkt der Entwicklung, sondern ein Durchgangsstadium, in dem noch immer Fehler herrschten, die sozialen Formen nicht den Passionen entsprechen und so statt der guten, negative Wirkungen nach sich ziehen. Eine neue, bessere Gesellschaft aber erscheint am Horizont: »Es ließe sich […] eine soziale Form denken, in welcher die Neigungen der Menschen gerade so viel Gutes stiften, als die in der jetzigen, schlecht organisirten Gesellschaft Böses hervorbringen. In dieser noch zu entdeckenden Gesellschaft wären Vernunft und Neigung in völligster Uebereinstimmung, Pflicht und Vergnügen hätten ganz gleichen Sinn; hier würde der Mensch, ohne Gefahr und ohne alle Berechnung, nur seinem Hange, d.h. dem Gesetze der Attraktion [Herv. i.O.] folgen; hier brauchte er nie zu handeln nach äußerer Nothwendigkeit, und sich nicht mehr unter das Joch des Zwanges zu beugen; hier würde er folglich alle seine Arbeit mit Vergnügen verrichten.« 53
Diese Gesellschaftsform, das neue Paradies, sei die ›Harmonie‹. Zwischen diesem Endzustand gesellschaftlicher Entwicklung und der ›Zivilisation‹ gäbe es das Übergangsstadium des ›Garantismus‹, eine Gesellschaftsform, in der bestimmte Grundpassionen und Bedürfnisse des Menschen erfüllt sein würden, aber noch nicht die »völligste Übereinstimmung« herrsche. 54 Für den Wandlungsprozess von der ›Zivilisation‹ zur ›Harmonie‹ wird in Die Solidarität ein behutsamer Reformprozess beschrieben, der zuerst auf lokaler Ebene beginnen soll: »Die Gesellschaft besteht aber aus einer gewissen Zahl von Agglomerationen oder Men schenhaufen, die in ihren Geschäften in tagtägliche gegenseitige Berührung treten, in welchen sie aber allem Dem mehr oder weniger fremd bleiben können, was sich außer ihrem Bereiche zuträgt. […] 52
Ebd.: 24-26.
53
Ebd.: 31f.
54
Es ist immer wieder diskutiert wurden, inwieweit dieses Schema der gesellschaftlichen Entwicklung auch die geschichtsphilosophischen Grundannahmen Marx’ und Engels’ wenigstens im Manifest der kommunistischen Partei ([1848] 1960) geprägt hat, aber auch in Engels’ Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats ([1884] 1962), in der der Kommunismus gleichsam als höher entwickelte Wiederkehr eines paradiesischen Ur-Zustandes aufgefasst wird, wiederzufinden ist (vgl. zur Übersicht der Debatte: Reinisch 2012).
130 | S OLIDARITÄT B ILDEN Ist es deßhalb nicht angemessen, mit der Reform der Gemeinden zu beginnen, den Versuch mit einer einzigen [Herv. i.O.] Gemeinde zu machen, um jede Gefahr zu vermeiden, wenn der Erfolg nicht nach Wunsch ausfallen sollte? Gelingt der Versuch, so werden ihn andere Gemeinden nachahmen, die Reform wird nach Art der Dampfmaschinen um sich greifen, und nach kürzerer oder längerer Zeit, je nach der Größe und der Evidenz der erhaltenen Ergebnisse, wird, die Nation zuerst, und am Ende der Dinge die ganze Erde nur noch reorganisirte, sozietäre Gemeinden besitzen.« 55
Man merkt die Vorsicht, die hier trotz der Überzeugung, die ›richtigen‹ Gesetze des sozialen Lebens erkannt zu haben, waltet. Auch wenn die ›wahren‹ Gesetze sozialer Bewegungen durch Fourier aufgedeckt seien, müssten die entsprechenden sozialen Formen in einem steten Prozess in einer »Probe-Phalanx« 56 entdeckt und erprobt werden. Erst wenn erfolgreiche soziale Formen, also solche den Passionen entsprechenden, gefunden wurden, könne der Prozess der sozialen Transformation fortgeführt und letztlich zu einem weltweiten Erfolg geführt werden. 6.4.3 Die neue, harmonische Gesellschaft Schon mehrfach ist deutlich geworden, dass für Renaud die neue, ›bessere‹ Gesellschaft eine Form des sozialen Miteinanders bieten muss, die den Passionen entspricht. Die Grundeinheit der, nach den Bedürfnissen der Passionen organisierte Gemeinde, wird den Namen »Phalanx« tragen, 57 die Immobilien dieser Ge-
55 56
Renaud (1855: 58). Vgl. ebd.: 115. Auf Renauds Entwurf dieser Probe-Phalanx kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. dazu: Renaud (1855: 115-119). Wieder wird eine Homologie zu Ziegenhagen deutlich, der ebenfalls durch eine erste Probegründung die praktischen Möglichkeiten neuer Gesellschaftsformen in Kolonieform testen will. Probegründungen von Phalanxen gab es etliche in Frankreich und den USA, die meisten scheiterten nach gewisser Zeit.
57
Der Begriff ›Phalanx‹ beschrieb im antiken Griechenland eine dicht geschlossene militärische Formation. Es ist naheliegend, dass der Begriff von Fourier zur Beschreibung der Basiseinheit seiner neuen Gesellschaft gewählt wurde, um so auf den einheitlichen und organisierten Charakter dieser im Kontrast zur – von ihm kritisierten – vereinzelten und vereinzelnden Gesellschaft hinzuweisen. Im Umfeld des Fourierismus wird synonym zu ›Phalanx‹ auch ›sozietäres System‹, ›seriäres System‹, ›Assoziation‹ oder ›Gemeinde‹ gewählt. In diesem Kapitel werden diese Worte im gleichen Sinne genutzt. Von Gesellschaft wird gesprochen, wenn von dem soziale System, das von Fourier/Renaud ›Zivilisation‹ genannt wird, die Rede ist.
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meinde, »Gebäude, die Wohnung, Werkstätten etc.« werden »Phalanstär« 58 genannt, die Mitglieder der Phalanx »Phalansterianer.« 59 Soziale Formen in der Phalanx werden von Renaud auf zwei Ebenen beschrieben, zum einen die (dem Bedürfnis nach Gruppen entsprechenden) Gruppen, zum anderen die (der Passion nach Serien entspringenden) Serien. Ihre Gesamtheit bildet die Phalanx. 6.4.3.1 Gruppen Die sozialen Basiseinheiten der neuen sozietäre Gesellschaft sind die Gruppen. Wie bilden sie sich? Welche Leistung erbringen sie für die Einzelnen und welchen Nutzen haben sie für die Gesellschaft? Für Renaud gibt es drei grundlegende Formen von Gruppen, die aus den Möglichkeiten zu genießen hervorgehen: »Eine Vereinigung, eine Gruppe, genießt auf ganz verschiedene Weise, je nach der Ursa che, welche sie ins Leben gerufen hat. Diese Ursache kann wechseln, weil die Menschen untereinander ungleich sind, und diese zu berücksichtigenden Ungleichheiten sind, was die Gruppenbildung anbetrifft, von dreierlei Art: 1. Die Menschen sind ungleich durch ihren Rang in Folge ihres Vermögens, ihres Talentes, ihrer Körperkraft, ihrer Schönheit, ihres innern und äußern Werthes; 2. Sie unterscheiden sich nach ihrem Geschlecht; 3. Sie sind von verschiedenen Familien und unterscheiden sich noch durch ihre Geburt, ihre Abstammung.«60
Gruppen, also Vereinigungen von einzelnen Menschen, kommen ins Leben, weil bestimmte Ursachen, die die Menschen dazu bringen, sich zu verbinden, bestehen. Aufgrund der Unterschiede in der Ausprägung der Passionen unter den Menschen, die es zu berücksichtigen gilt, können sich so auch unterschiedliche Gruppen bilden: »[…] Gruppe, welche gebildet wird, ohne irgend welche Rücksicht auf natürliche Ungleichheiten; Gruppe, wo Gleichheit und Brüderlichkeit herrscht: Gruppe der Freundschaft. […] Gruppe, in welcher die Menschen, nach ihrem Rang geordnet, durch Obere nach einem Ziel hingeführt werden, das fähig ist, ihren Ehrgeiz zu befriedigen: Gruppe des Ehrgeizes. 58
Renaud verzichtet auf die Beschreibungen des Phalanstère. Charles Fourier hingegen stellt das Gebäude als materialisierte Struktur des sozialen Gesetzes in großem Detailreichtum dar (vgl. Bollerey 1991: 94-167; Considerant 1848; Fourier 1849).
59
Renaud (1855: 59).
60
Ebd.: 43.
132 | S OLIDARITÄT B ILDEN […] Gruppe, welche sich durch die Strebung der verschiedenen Einzelwesen bildet, sich geschlechtlich zu lieben und sich zu vereinigen: Gruppe der Geschlechtsliebe. […] Gruppe, welche sich unter dem Einflusse des Bandes der Verwandtschaft bildet, Vereinigung von Familienmitgliedern: Gruppe der Familie. [alle Herv. i.O.]«61
Die erste Gruppe, die »Gruppe der Freundschaft«, erscheint dabei unvermittelt, denn hier kämen Menschen zusammen ohne Rücksicht auf ihre Ungleichheiten. Renaud versäumt es aber mitzuteilen, aus welchem Grund diese Gruppe zusammen findet. Zwar charakterisiert er das Verhältnis der Gruppenmitglieder untereinander als von »Gleichheit und Brüderlichkeit« geprägt, liefert aber keine Begründung, warum es diesen Zusammenschluss gibt. Es wird später darauf zurückzukommen sein, denn für den in Frage stehenden Zusammenhang dieser Arbeit ist diese Gruppe von besonderem Interesse, da sie die Einzige ist, in der etwas eine Rolle spielt, das ›Brüderlichkeit‹ genannt wird. Die drei anderen Gruppen ergeben sich aus den oben beschrieben Unterschieden unter den Menschen, wobei bedacht werden muss, dass Renaud generell davon ausgeht, dass es den Passionen um Vereinigung geht, und diese Vereinigung sich in den Gruppen widerspiegelt. Dabei sind die Gruppen, die sich bilden, kontingent: Aus unterschiedlichen Rängen folgt nicht zwingend, dass sich Menschen in Rangordnungen gruppieren, und »Obere« »Untere« führen; es wäre auch möglich, dass sich Gruppen von gleichrangigen Menschen bilden. Auch der »Gruppe der Geschlechtsliebe«, die sich aus der Anziehung des weiblichen und männlichen Geschlechts ergibt, stünde die nicht formulierte Möglichkeit einer geschlechtshomogenen, sexuellen Gruppe gegenüber. Lediglich die »Gruppe der Familie« wird durch Gleichheit, nämlich Gleichheit der Abstammung gebildet. In ihr finden nicht unterschiedliche Personen zueinander sondern die, die durch Verwandtschaft verbunden sind. Eine nähere Charakterisierung dessen, was sich Renaud unter den Gruppen vorstellt, geht aus der folgenden etwas umfangreicheren Passage hervor: »Die erste Tabelle gibt den natürlichen Ton jeder dieser Gruppen an. Die zweite zeigt, woher der Anstoß kommt, wenn die Gruppe handeln soll. Die dritte Tabelle, welche vorzüglich ins Auge gefaßt werden muß, bezieht sich auf die Kritik; diese korrigirt, unterweist und macht wieder zurecht, bildet somit eines der Elemente der Erziehung. Jede Gruppe hat eine Art der Kritik, welche ihr eigen ist, und welche bei allen andern nicht am Platze wäre. 1. Ton. Gruppe der Freundschaft oder Gleichmachung. 61
Ebd.
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Herzlichkeit ohne Ansehung des Ranges. Gruppe des Ehrgeizes oder der Aufsteigung. Nachgiebigkeit der Untern gegen die Obern. Gruppe der Liebe oder Umkehrung. Nachgiebigkeit des stärkern gegen das schwächere Geschlecht. Gruppe der Familie oder Absteigung. Nachgiebigkeit der Obern gegen die Untern. 2. Hinzuziehung. Gruppe der Freundschaft. Alle ziehen sich gegenseitig hin. Gruppe des Ehrgeizes. Die Obern ziehen die Untern hin. Gruppe der Liebe. Die Frauen ziehen die Männer hin. Gruppe der Familie. Die Untern ziehen die Obern hin. 3. Kritik. Gruppe der Freundschaft. Die Masse kritisirt scherzhaft das Individuum. Gruppe des Ehrgeizes. Der Obere kritisirt ernsthaft den Untern. Gruppe der Liebe. Das Individuum entschuldigt blindlings das Individuum. Gruppe der Familie. Die Masse entschuldigt nachsichtig das Individuum. [alle Herv. i.O.]«62
Es kann hier nicht darum gehen, die gesamte Auflistung zu analysieren. Sie soll lediglich einen Einblick in die unterschiedlichen, in den Gruppen herrschenden Modi des sozialen Umgangs geben. Wir werden später den Blick auf die Gruppe der Freundschaft legen, weil in dieser »Gleichheit und Brüderlichkeit« 63 herrschen soll. Im Kontrast zu den anderen Gruppen wird versucht werden den Charakter von »Gleichheit und Brüderlichkeit« genauer auszulegen. Auch auf die Arten der Kritik, die Renaud selbst explizit als der Erziehung dienlich bezeichnet, wird zurück zu kommen sein.64 62
Ebd.: 49f.
63
Ebd.: 43.
64
Vgl. S. 145ff. dieser Arbeit.
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6.4.3.2 Serien Die Gruppen sollen in der Phalanx nicht isoliert voneinander bestehen, sondern im gesellschaftlichen Ganzen miteinander verbunden werden. Die Initiative zur Verbindung komme aus den Individuen, nicht aus dem kollektiven Willensentschluss einer Gruppe: »Das Band zwischen den Gruppen soll durch die seriäre Organisation gebildet werden, welche jene mit einander in Verbindung bringt. Die Beziehung einer Gruppe zu einer an dern Gruppe kann aber nur wetteifernd, freundschaftlich oder indifferent sein. Das Mitglied einer Gruppe kann die Berührung mit einer andern Gruppe aus drei Gründen wünschen: […] Es sucht die Berührung der wetteifernden Gruppen, mit welchen es sich messen will. […] Es ist gerne mit freundschaftlichen Gruppen in Berührung, weil sie es in seinen Ansprüchen unterstützen, und weil es sich darin gefällt, sie ebenfalls zu unterstützen. […] Endlich bringt die Ermüdung und die Langeweile, welche es natürlich empfinden würde, wenn es sich immer mit der nämlichen Sache und mit den nämlichen Personen beschäftigen müßte, in ihm das Bedürfnis hervor, zeitweise diese Gruppe zu verlassen, um in eine neue, den allgemeinen Ansprüchen der ersten indifferenten einzutreten, zu welcher es sich aber persönlich durch irgend eine Regung hingezogen fühlt. [alle Herv. i.O.]«65
Drei Neigungen also würden Gruppen veranlassen, miteinander in Kontakt zu treten: Wettbewerbsgeist, Freundschaft und das Bedürfnis nach Abwechslung. Mit Blick auf die oben genannte »Gruppe der Freundschaft« und die in ihr herrschende ›Brüderlichkeit‹ kann registriert werden, dass ›freundschaftlich‹ in Bezug auf die Beziehung von Gruppen untereinander bedeutet, sich freiwillig und freudig gegenseitig Unterstützung zu gewähren und dabei eine scheinbar überwältigende emotionale Energie frei zusetzen: »Die freundschaftlichen Gruppen, welche uns bewundern, die große Vereinigung von Menschen, welche ihren Beifall über unsre Anstrengungen bezeugen, bringen in uns einen blinden Enthusiasmus hervor, eine unüberdachte Begeisterung [Herv. i.O.], welche die Vernunft bei Seite setzt und uns zu muthvollen und aufopfernden Thaten begeistert […]« 66 Im Kontrast dazu steht der Kontakt mit Gruppen, die ähnliches tun, wie die eigene, und so nicht Unterstützung erheischen, sondern Kräftemessen im Wettbewerb: »Diese Passion ist ein Hang zur Intrigue, zum Wettkampf, zur Kaba le.«67 Einen Sonderfall stellt der dritte Kontaktmodus zwischen den Gruppen dar. Er drückt weniger ein Verhältnis der Gruppen untereinander aus, als vielmehr die 65
Renaud (1855: 44).
66
Ebd.
67
Ebd.
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Möglichkeit einer (temporären) Neuzusammensetzung, die aus dem Abwechslungsbedürfnis der Einzelnen resultiert. Dieses »Bedürfniß, welches alle Menschen empfinden« entspringe dem Faktum, dass »[s]elbst ein Vergnügen […] in die Länge einförmig, langweilig [wird] und zu Widerwillen [führt].« 68 Von dieser Möglichkeit des Wechsels soll auch häufig Gebrauch gemacht werden, es stellt ein bedeutendes Prinzip der seriären Organisation dar. 6.4.3.3 Prinzipien und Strukturen der Phalanx Die Gruppen und Serien bilden, bei Erhalt der Autonomie der einzelnen Person, die sozialen Grundformen der Phalanx. Mit den von den Passionen abgeleiteten Strukturprinzipien der Serien und Gruppen sind wesentliche Organisationsprinzipien der Phalanx benannt. Um das Bild zu komplettieren und weitere Elemente darzustellen, die für eine Interpretation des sozialen Systems der Phalanx im Hinblick auf ihr Verhältnis zu ›Solidarität‹/›Brüderlichkeit‹ und zur Pädagogik relevant sind, werden im folgenden kurze Schlaglichter auf weitere, nicht direkt aus den Passionen abgeleitete Elemente geworfen sowie das in Die Solidarität konstruierte Ineinandergreifen des gesellschaftlichen Mechanismus69 illustriert. Trotz der oben erwähnten graduellen Unterschiede, die Renaud im Charakter von Männern und Frauen sieht, werden die Geschlechter in der Phalanx gleichberechtigt behandelt: »Die Frauen und die Kinder treten in die Sozietät auf ganz gleicher Art, wie die Männer.«70 Auf welche Art der Beitritt zur Phalanx erfolgt, welche Rechte und Pflichten für alle dort zu erfüllen sind, darauf ist gleich einzugehen. Hier sollte es genügen, auf die gleichberechtigte Teilhabe aller hinzuweisen, die utilitaristisch begründet ist, denn »[d]iese Vereinigung aller drei Geschlechter (Fourier heißt die Kindheit das sächliche Geschlecht) gibt ein Mittel ab, großen Reiz in die Arbeit zu bringen.«71 Arbeit soll in der Phalanx keine Last mehr sein, sondern eine Lust. Ein Mittel dazu ist die Mischung der Geschlechter, ein weiteres die Anerkennung der völligen Freiheit eines jeden Gemeinschaftsmitglieds. Renaud geht dabei sehr weit und billigt allen Mitgliedern der Phalanx vollständige Freiheit der Entscheidung zu, auch, und das betont er besonders, den Kindern: »Wir verlangen also absolute Freiheit für Alle, selbst für Kinder, an deren Befreiung noch kein einziger Radikaler dachte. Auch die Kinder haben das Recht des freien Auslasses ihrer 68
Ebd.: 45.
69
Es wird sich zeigen, dass die Metapher des Mechanismus für die Gesellschaftsvorstellung Renauds angemessen ist, denn Gesellschaft funktioniert bei ihm wie ein perfekt ineinander greifendes Räderwerk.
70
Renaud (1855: 59).
71
Ebd.: 74.
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Neigungen; statt dessen aber unterwirft sie unsere Gesellschaft der härtesten und vollständigsten Sklaverei.«72Da das freie Auslassen der Neigungen im Medium der kollektiven Arbeit erfolge, sollten die Kinder umfänglich in das Arbeitsleben der Kolonie einbezogen werden.73 Zurück zur Freiheit: Absolute Freiheit bedeutet für Renaud auch, dass es keinen Zwang zur Arbeit geben kann. Es besteht die Freiheit, nicht zu arbeiten. Diese Freiheit wird gedeckt vom Recht, von der Gemeinschaft den lebensnotwendigen Unterhalt zu erhalten. Da aber die Arbeit dem Ausleben der Passionen entsprechen würde, wäre der Wunsch, nicht zu arbeiten sehr selten: »Denn da die Arbeit anziehend ist, so wird man die Menschen nicht mehr zu derselben zwingen müssen; da sie aus Neigung arbeiten, so werden sie auch von der Furcht und Angst befreit sein, sich nicht das Nöthigste erwerben zu können, denn sie erwerben sich doch immer, mag begegnen, was will, ein bescheidenes Minimum [Herv. i.O.] für Kleider, Wohnung, Nahrung, Platz in den öffentlichen Wagen etc. etc., so daß Alle mit ihrem Minimum leben können, wo sie immer nur wollen. Dieses Minimum kommt ihm sogar in dem Falle zu, daß er sich weigern wollte, zu arbeiten. Dieser Fall kann aber nur eine Anomalie sein, welche aus der Zerrüttung seines ganzen Organismus hervorginge, und ein Solcher wäre demnach auf die Stufe mit einem Irren zu stellen.« 74
Deutlich tritt hier eine Fetischisierung der Arbeit und der Selbstverwirklichung des Menschen via Passionsbefriedigung in der Arbeit zu Tage. Auch wenn Renaud nicht von einer Pflicht zur Arbeit spricht, so wird diese doch implizit deutlich, in dem diejenigen, die eben nicht arbeiten wollen, als ›zerrüttet‹ und ›irre‹ beschrieben werden.75 Die Möglichkeit, sich der Arbeit zu verweigern, ist im System von Die Solidarität schwer zu denken, denn alles dreht sich ja gerade darum, dass die Arbeit angenehm und freudig wird. 72 73
Ebd.: 115. Dieser Einbezug der Kinder in das Arbeitsleben der Kolonie hat nicht nur eine soziale, mit dem unbedingten Bestehen auf dem Diktum der Freiheit zu tun habende Funktion, sondern auch eine pädagogische.
74
Renaud (1855: 104).
75
Das Problem der Stellung der Arbeit sowohl für die Anthropologie als auch für die Gesellschaft wurde in der (früh)sozialistischen Theorie immer wieder von gegensätzlichen Standpunkten aus diskutiert. Entgegen dem doch milden Arbeitszwang bei Renaud findet sich in der Ikarischen Gemeinschaft Cabets absolute Arbeitspflicht (vgl. S. 112 dieser Arbeit). Eine frühe Kritik, des sich im sozialistischen Den ken herausbildenden Arbeits-Fetischismus lieferte Lafargue in der Broschüre Das Recht auf Faulheit (Lessenich/Lafargue [1883] 2014).
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Nicht alle Prinzipien der bestehenden Gesellschaft werden von Renaud verworfen. Aus seiner evolutionistischen Konzeption der Gesellschaftsentwicklung geht hervor, dass in einer Gesellschaft durchaus Elemente vorhanden sein können, die beim Verlassen der Epoche in eine andere, höhere Gesellschaftsformation mitgenommen werden. So verhält es sich unter anderem mit der Arbeitsteilung: 76 »Weil die Theilung der Arbeit in ihrem Prinzipe gute Resultate liefert, soll sie gepflegt und auf alle Zweige der menschlichen Industrie angewendet werden; aber dieß erst [Herv. i.O.], wenn das Mittel gefundenen ist, diesem traurigen Uebel, der Verkümmerung des Arbeiters, zuvorzukommen; wenn gefunden ist, das Wohl des Individuums mit der Vermehrung des Reichthums in Einklang zu bringen.«77
Kritik an der Arbeitsteilung wird dennoch laut, nämlich an der Form, in der sie in der bestehenden Gesellschaft zu beobachten ist, in der die Arbeiter und Arbeiterinnen verkümmerten, da sie zu monotonen, geistlosen, aber notwendigen Bestandteilen einer Maschine degradiert würden.78 Die »gute[n] Resultate«, auf die Renaud hier anspielt, seien bisher lediglich die »Vermehrung des Reichthums« zu Lasten des Wohles der Arbeiter und Arbeiterinnen. Dieser Last der langen, stupiden Arbeit soll die Organisation der Phalanx entgegen wirken, die dazu führt, dass jeder und jede nur noch kurze Zeit mit einer Arbeit verbringt, und dann zu einer anderen übergeht: »Diesem ökonomischen Prinzip, der Theilung der Arbeit zufolge wird jeder in seinen häuslichen, landwirthschaftlichen und gewerblichen, kurz in allen Arbeiten der Phalanx mit einem möglichst kleinen Arbeitsfach oder Detail betraut. Und da sein solches Arbeitsfach nicht viel Schwieriges darbietet, so kann die Lehrzeit auch nicht lange dauern, und Jeder wird mit ziemlicher Leichtigkeit wol dreißig verschiedene Arbeiten erlernen und ausüben, so daß er abwechselnd bald die eine, bald die andere ergreifen kann, ganz wozu seine körperlichen und geistigen Kräfte ihn befähigen.« 79
76
Das Motiv der Arbeitsteilung als Möglichkeit individueller Erfüllung bleibt in der sozialistischen Theorie, aber auch in der nicht-sozialistischen Sozialtheorie marginal. Statt dessen wird Arbeitsteilung üblicherweise mit Entfremdungserfahrungen in Verbindung gebracht (vgl. May 1985; Schwarte 1980: 93-97).
77
Renaud (1855: 65).
78
Vgl. zur zeitgemössischen Beschreibung u.a. Engels (1845) 1972. Die Arbeitszustände in den Fabriken wurden aber auch vermehrt Stoff literarischer Darstellungen, so etwa in Ernst Adolf Willkomms Roman Weisse Sclaven von 1845.
79
Renaud (1855: 66).
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Allerdings ist kein beliebiger Wechsel der Arbeiten möglich, sondern eine (wenn auch, aufgrund der Einfachheit der einzelnen Arbeiten, kurze) Ausbildungszeit, an deren Ende die Gruppenmitglieder entscheiden sollen, ob der Neuling die nötigen Kenntnisse erworben hat, um in einer bestimmten Gruppe mitarbeiten zu können. Um Koordinations- und Anreizstrukturen zu schaffen, die verhindern, dass nur die begehrten, sondern auch die weniger begehrten aber gesellschaftlich notwendigen Arbeiten erfüllt werden, soll es in der Phalanx entsprechende Strukturen geben.80 Die bisher beschriebenen Elemente leitet Renaud zum Teil aus den Passionen ab, zum Teil aber setzt er sie auch als wünschenswert (Gleichberechtigung), um sie dann utilitaristisch zu rechtfertigen, oder übernimmt sie (Arbeitsteilung) aus der bestehenden Gesellschaft, da sie auch in der Phalanx einen Sinn haben. Ein weiteres Element, das die innere Einheit der Phalanx stiften soll, wurde noch nicht genannt: Es ist die Verbindung von Kapital und Arbeit und die Vereinigung individueller Kapitale zu einem Gemeinschaftskapital nach dem Modell einer Aktiengesellschaft: »Es bildet sich eine Assoziation unter allen Einwohnern der Gemeinde (arm und reich); das soziale Kapital besteht aus den Liegenschaften (den Immobilien) Aller und den Mobilien und Kapitalien, welcher Jeder für räthlich hält, bei der Gesellschaft an Zins anzulegen.« 81 Wird aus dem zur Verfügung gestellten Kapital Gewinn erzielt, erhält der Eigentümer der entsprechenden Aktienscheine eine jährliche Auszahlung. 82 Jedoch sind Einkünfte aus dem Kapital nur eine Art der Einkünfte, die in der Assoziation erzielt werden können. Neben diesen wird die Arbeit des Einzelnen entlohnt und sein, in diese Arbeit einge80
Damit trotz dieser Wahlfreiheit die nötigen Arbeiten ausgeführt werden, soll die Verteilung der Gewinne entsprechend den nötigen Arbeiten steuernd wirken: »Die Arbeiter, frei in der Auswahl der Arbeit, könnten sich möglicherweise anders gruppi ren, als es das allgemeine Interesse verlangen würde. Um Alles wieder ins Gleichgewicht zu bringen, um die Arbeiter gerade auf die Punkte zu rufen, wo sie mangeln, um sie von den Gruppen zu entfernen, wo sie überflüssig sind, besitzt die Gesellschaft ein Mittel: die Vertheilung des Gewinnes. Indem sie die für die Arbeit einer Gruppe ausgesetzte Summe vermindert, entfernt sie die Lauen und verringert so die Zahl der Arbeiter. Durch das entgegengesetzte Mittel ruft sie die Arbeiter zu den schwächern Gruppen« (Renaud 1855: 100).
81
Renaud (1855: 59).
82
Der Einbau individueller Leistungsanreize und entsprechender Unterschiede in der Entlohnung steht im Kontrast zur Gleichheitsvorstellung, auch was das Einkommen betrifft, beispielsweise bei Étienne Cabet, und setzt sich in der marxistisch geprägten Arbeiter*innenbewegung nicht durch. Lediglich in libertären Strömungen sozialistischen Denkens wird der Gedanke positiv aufgenommen.
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brachtes, Talent: »Auf diese Wiese können alle Männer, Frauen, Kinder auf drei Theile Anspruch machen, je nachdem sie an der Produktion durch die produktiven Tätigkeiten: Kapital, Arbeit und Talent [Herv. i.O.], Theil genommen haben.«83 Dies mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen, ist für Renaud aber folgerichtig, da durch höheres Talent auch eine höhere Leistung für die Phalanx entsteht. Ergänzend müsste noch ein vierter Teil des Einkommens erwähnt werden, den Renaud an dieser Stelle nicht erneut nennt, der aber oben schon erwähnt wurde; das von der Gemeinschaft gewährte Minimum. Die Struktur und Verflechtung der Kapitale und der Arbeit soll die Verflechtung und Vereinheitlichung der individuellen Interessen bewirken, die nun nicht mehr entgegengestellt sich aufreiben, sondern gemeinsam arbeiten: »Der erste Vortheil, welcher aus dieser Reform hervorgeht, besteht darin, daß die bis dahin einander entgegenstehenden Interessen nun Hand in Hand gehen. Jeder muß sogleich zur Einsicht kommen, daß die dreierlei Antheile, auf welche er hoffen kann, mit dem Gesammtgewinn zu- oder abnehmen müssen; er kann von nun an nicht anders arbeiten, als daß seine Arbeit das gemeinsame Gut und dadurch sein eigenes Interesse äußert.« 84
Nicht nur aber die Interessenidentität und die entsprechende Verwirklichung des Solidaritätsprinzips bzw. des Uniteismus würde durch diese Reform umgesetzt, auch wirtschaftlich hätte dies positive Folgen: In der Landwirtschaft stiege die Produktivität85 genauso wie in der übrigen Wirtschaft. Und das nicht nur durch Arbeitsteilung und höhere Arbeitsmotivation, sondern auch durch den Anstieg der Zahl der Arbeitskräfte, der dadurch zustande komme, dass die häuslichen Arbeiten, die bisher den Frauen anheim fielen, von Gruppen und Serien erledigt würden. Frauen wären so »einer abwechselnden, produktiven Arbeit zurückgegeben.«86 Nicht nur die Produktivität stiege, der industriellen Sektor würde expan dieren und eine Hebung des Lebensstandards ermöglichen. Resultat der beschriebenen Gesellschaftsorganisation sei darüber hinaus eine Demokratisierung. Denn unter dem Gewinn, der in der Phalanx erwirtschaftet wird, versteht Renaud keinen rein pekuniären Wert: 83
Renaud (1855: 60).
84
Ebd.
85
Vgl. Ebd.: 61.
86
Renaud (1855: 62). Diese positive Bewertung weiblicher Erwerbstätigkeit sollte bis in das zweite Drittel des 19. Jahrhunderts eine Randerscheinung bleiben (vgl. Fußnote 8 auf S. 155 dieser Arbeit). In der sozialdemokratischen Bewegung wird sie von August Bebel mit expliziten Bezug auf Charles Fourier wieder aufgegriffen und propagiert (vgl. Bebel [1888] 1978).
140 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Wir kommen nun zu der Frage von der Vertheilung des Gewinnes. Wir haben zu bewei sen, daß die sozietäre Gesellschaftsform so harmonisch ist, daß sie Eintracht selbst da her vorbringt, wo sonst überall alle Individuen in Uneinigkeit leben, und der Egoismus in sei ner ganzen Nacktheit sich zeigt. […] Die Gerechtigkeit verlangt, daß jeder Arbeiter für diese Vertheilung zugezogen werde. Jeden, der Etwas für die Gesellschaft gethan hat, gebührt für die theilweise Leitung dieser Gesellschaft ein dem Werth seiner Arbeit verhältnißmäßiger Einfluß bei der Berathung. Wir wollen also das allgemeine Stimmrecht [Herv. i.O.]!«87
Nicht nur Geld, sondern auch politische Mitsprache sollte der Lohn der Arbeit sein. Neben dieser durch Arbeit erworbenen Berechtigung zur Teilhabe an der Leitung der Gesellschaft findet Demokratisierung aber auch durch den Wechsel der Tätigkeiten statt: »Nimmt der Arbeiter an einer großen Anzahl von Gruppen und Serien Theil, so wird er nicht überall den untersten Rang einnehmen. Hier kann er ein gewöhnlicher Arbeiter sein, dort aber ein Chef und kann Diejenigen unter seiner Leitung haben, welche ihm anderswo voranstehen.« 88 Dabei wird die Position des Chefs demokratisiert, denn »obschon der Antrieb von oben kommt, obschon die Leitung der Gruppen und Serien Führern anvertraut ist; so geben doch diese Führer nur Räthe [Herv. i.O.], keine Befehle [Herv. i.O.], und Jeder kann immer noch handeln, wie er will, auch wenn es gegen ihre Räthe wäre.« 89 Zusammenfassend kann die Renaud vorschwebende Gesellschaft als ein Geflecht sozialer Beziehungen betrachtet werden, das sich an der Befriedigung der Passionen orientiert. Permanente Unterordnung steht zu dieser im Widerspruch. Dies gilt auch für die permanente Gleichheit der Arbeit, woraus ein Plädoyer für eine radikal-demokratische Arbeitsgesellschaft und Befristung der Arbeitszeiten abgeleitet wird. Generell handelt es sich bei der in Die Solidarität vorgestellten Gesellschaft um eine Arbeitsgesellschaft, die zugleich eine Vergnügungsgesellschaft sein soll. Politik spielt in dieser Vorstellung keine Rolle; es geht nicht um Herrschaft, sondern um Verwaltung. Daher wird im Folgenden auch ein, vordergründig, wenig politisches Brüderlichkeits- und Solidaritätskonzept zu rekonstruieren sein.
87
Renaud (1855: 95). Vgl. die ähnliche Argumentation Zetkins, die ebenfalls die produktive Tätigkeit in der Wirtschaft als Basis des Rechts auf politische Teilhabe in der Gesellschaft sieht (vgl. S. 156 dieser Arbeit).
88
Ebd.: 101.
89
Renaud (1855: 114).
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6.5.1 Solidarität Obgleich sich das Wort ›Solidarität‹ im Text nur vier Mal findet, muss ihm für den Text eine konstituierende Bedeutung zugewiesen werden, denn Renaud überschrieb sein Werk mit dem Titel Solidarität. Kurzgefasste Darstellung der Lehre Karl Fourier’s. Das gesamte Buch kann so als eine Explikation des Solidaritätsbegriffs gelesen werden. Dennoch gilt es, die konkreten Textstellen zu untersuchen, an denen von ›Solidarität‹ oder ›Brüderlichkeit‹ die Rede ist, und im Kleinen zu untersuchen, welche Bedeutungen damit verbunden werden. 6.5.1.1 Solidarität als enge Vereinigung und Interessenidentität Die, nach dem Titel, erste Verwendung des Wortes findet sich zu Beginn von Kapitel 3: »Wir sind nur dann glücklich, wenn die Glieder der großen Familie wie zu einem Bündel Stäbe sich vereinigen. Dann herrscht das göttliche Gesetz der Solidarität. Die Solidarität ist eine gerechte und heilige Sache. Das Böse ist gekommen, das Böse wird wieder gehen durch die Vereinigung Aller, durch eine solche Vereinigung, wo Jeder nach Maßgabe seiner Kraft zum Ganzen beiträgt. Es gibt kein Einzelverbrechen, keinen Einzelschmerz, an dem nicht die Gesammtheit Schuld trüge; das Wirken des Einzelnen hängt zum großen Theil von den gesellschaftlichen Verhältnissen hab, die er gezwungen ist an zunehmen, und die ihn verbilden und zum Bösen bestimmen. Wir kommen später auf dieses Gesetz der Solidarität zurück, und wir werden zu zeigen haben, daß die Interessen der Menschen in jedem Punkt streng identisch sind.« 90
Aus den, dieser Textstelle vorhergehenden Zeilen wird deutlich, dass mit »wir« Menschen im Allgemeinen und mit »Familie« die Menschheit gemeint ist. Ins Auge fällt sofort die Rede vom »göttliche[n] Gesetz der Solidarität«, die, wenn wir uns an den eingangs ausgelegten Gottesbegriff erinnern, bedeutet, dass es sich um eine der sozialen Wahrheiten handeln muss, die der Mensch zu entdecken hat, um glücklich zu werden. ›Solidarität‹ bedeutet dann nach den ersten beiden Sätzen dieser Passage: Eine feste Verbindung der Menschen untereinander, die zum Glück Aller führe. Weiter ausgebaut wird diese Bedeutung im folgenden Abschnitt. Die göttliche Natur der ›Solidarität‹ wird mit dem Adjektiv »heilig« hervorgehoben und 90
Ebd.: 34.
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die Verbindung zum Glück durch die Abgrenzung vom Bösen deutlich gemacht. Allerdings wird das feste, statische Bild vom »Bündel Stäbe« durch die Formel aufgelockert, dass »Jeder nach Maßgabe seiner Kraft zum Ganzen beiträgt.« Damit wird eine gewisse Individualität zugelassen, die sich an den Möglichkeiten des Einzelnen orientiert. ›Solidarität‹ scheint aber weniger normativ aufgeladen zu sein als es bisher erscheint: Denn die Klage, dass die Gesamtheit aller an Verbrechen und Schmerzen Schuld trüge, und nie nur einzelne, und die Feststellung, »das Wirken des Einzelnen hängt zum großen Theil von den gesellschaftlichen Verhältnissen« ab, lässt vermuten, dass ›Solidarität‹ lediglich deskriptiv die Abhängigkeit aller untereinander bezeichnet und nicht nur die positiv wirkende, glückbringende Zusammenarbeit, die erst noch herbeigeführt werden muss.91 Diese Interpretation wird auch vom Ende des Zitates gestützt, in dem das ›Gesetz der Solidarität‹ als Interessenidentität aller Menschen gefasst wird. Was das genau bedeutet, wird nicht näher ausgeführt. Es ist dazu, der Ankündigung Renauds folgend, weiter zu lesen (oder an die oben beschriebene Verbindung von Kapital und Arbeit zu erinnern). 6.5.1.2 Solidarität von Gewinn und Verlust Wir werden in Kapitel 4 fündig, in dem Renaud die Erde und ihre Rohstoffe als Gemeingüter beschreibt, die allen gehören und über die »kein Mensch, keine Generation […] rechtmäßiger Weise […] verfügen und andere Menschen, andere Generationen ausschließen«92 könne. Er begründet dies so: »Alle haben gleiche Ansprüche auf den ursprünglichen Boden und dessen Urprodukte. Dieses Recht ist das Recht zu leben, welches Alle erworben haben schon durch ihr Werden.« 93 Dieses allgemeine Eigentum, die Almende, könne nur durch persönliche Arbeit in privates Eigentum umgewandelt werden: »Aber auch der Mensch, dieses Ebenbild Gottes, kann in seinem Bereiche umbilden und erschaffen. Einen undankbaren Boden wandelt er in einen fruchtbaren Acker um; aus ei 91
Im englischen Frühsozialismus vertritt Robert Owen die These, die Umstände prägten die Möglichkeiten des Einzelnen und seiner charakterlichen Entwicklung. So sieht auch er Verbrechen nicht individuell, sondern in falschen gesellschaftlichen Strukturen begründet. Im Gegensatz zu Renaud geht Owen jedoch nicht davon aus, dass der Mensch durch Passionen, die auszuleben sind, geprägt sei; er sieht im Men schen vielmehr ein komplett von den gesellschaftlichen Umständen determiniertes Wesen (vgl. Owen [1816] 1972).
92
Renaud (1855: 106).
93
Ebd.
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nem ungeformten Felsen macht er einen Palast; aus erdigen Massen zieht er Glas, Eisen, Stahl, Gold: kurz er verhundertfacht den Werth von Allem, was er erhalten hat. Was dem Mensch so aus seiner Arbeit zusteht, das gehört ihm als Eigenthum an; er kann darüber verfügen, wie er will; es ist sein Gut, sein Eigenthum; es ist das Recht des Kapitals. Aber Jeder hat ein Anrecht an jedem Gegenstand, welcher von der Hand des Menschen noch nicht vervollkommnet worden ist, also an dem ursprünglichen rohen Werth jeder verarbeiteten Sache. Dieß ist ein Recht Aller; es ist das Recht des Arbeiters.« 94
Renaud beschreibt hier ein keineswegs neues Motiv. Die Idee, dass Grund und Boden sowie Rohstoffe Gemeingüter seien, wurde nicht zuletzt von John Locke begründet.95 Diese Textpassage wäre wenig interessant, wenn sie nicht in folgende Schlussfolgerung münden würde: »Die Rechte des Kapitals und der Arbeit sind jetzt nicht mehr feindlich einander gegenüber; sie sind ausgesöhnt in der Phalanx, sie unterstützen sich gegenseitig, sie entwickeln sich mit einander; sie sind unter einander verbunden durch eine innige Solidarität von Gewinn und Verlust.«96 ›Solidarität‹ scheint hier etwas anderes zu bedeuten als in der oben zitierten Passage. Es geht zwar auch hier um einen enge Verbindung, allerdings nicht zwischen Menschen, sondern zwischen Gewinn und Verlust. Diese Verbindung, die durch die Organisation der Phalanx zustande komme, soll den Ausgleich der, in der bestehenden Gesellschaft feindselig sich gegenüberstehenden, Interessen des Kapitals und der Arbeit bewirken. 6.5.1.3 Solidarität als Metapher für das Werk Die letzte, und augenscheinlichste Bedeutung, die ›Solidarität‹ im Buch erhält, ist die eines Schlagwortes oder einer Metapher für die Grundidee der fourierschen Philosophie. Dieser Sinn kann damit nicht an dieser Stelle expliziert werden, sondern nur durch das Lesen und Verstehen von Die Solidarität bzw. der hier vorgelegten Interpretation. 6.5.2 Brüderlichkeit ›Brüderlichkeit‹ findet sich nur einmal in Renauds Schrift, und zwar im Zusammenhang mit der oben zitierten Beschreibung der unterschiedlichen Gruppen, die sich aufgrund der Passionen bilden: ›Brüderlichkeit‹ sei ein Charakteristikum der »Gruppe der Freundschaft«, »welche gebildet wird, ohne irgend wel94
Ebd.: 106f.
95
Vgl. Locke ([1688] 1999: II, § 25).
96
Renaud (1855: 107).
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che Rücksicht auf natürliche Ungleichheiten; Gruppe, wo Gleichheit und Brüderlichkeit herrscht.«97 Interessant ist hier der positive Bezug zur Gleichheit, die er an anderen Stellen seines Buches prinzipiell ablehnt. 98 ›Brüderlichkeit‹ erscheint als etwas, das zwischen Menschen besteht, die zwar unterschiedlich sein können, aber deren Unterschiedlichkeit in ihrer Beziehung keine Rolle spielt, da sie sich als Gleiche gegenüberstehen. ›Brüderlichkeit‹ könnte als Verhältnis der Gleichheit trotz Unterschiedlichkeit definiert werden. Sehen wir uns die weiteren Beschreibungen der »Gruppe der Freundschaft« an, um zu sehen, was es genauer bedeuten kann, wenn »Gleichheit und Brüderlichkeit« herrschen: Die »Gruppe der Freundschaft« bestehe, weil sich die Mitglieder entweder durch eine der beiden oder beide der folgenden Passionen zueinander hingezogen fühlten: Die »Affinität der Charaktere (geistig)« oder/und die »Affinität der industrielle Interessen (materiell)«. Weiter oben wurde beschrieben, dass die Freundschaft eine Passion sei, die gleichwohl nicht den Männern vorbehalten, so doch bei ihnen stärker als bei den Frauen ausgeprägt, die aber auch in der Chro nologie der Lebensalter die erste, in der Kindheit vorherrschende Passion wäre. Schauen wir uns weitere Charakteristika der Freundschaft an, so finden wird, dass Freundschaft »Herzlichkeit ohne Ansehung des Ranges« und »allgegenseitige Anziehung« bedeutet. Zwar werde auch Kritik geübt, diese jedoch nur »scherzhaft« von der Gruppe am Individuum.99 ›Brüderlichkeit‹ kann, auch wenn dies nur eher aus einer Indizienlage resultiert, als Gefühl gleichheitlicher gegenseitiger Verbundenheit von Menschen gleichen Geschlechts (vorwiegend Männern) beschrieben werden, in dem, trotz anderweitiger (Rang-)Unterschiede, ein egalitäres Verhältnis herrscht.
97
Ebd.: 43.
98
Dabei richtet er sich explizit gegen gleichheitskommunistische Vorstellungen, wie sie am Beispiel des Textes von Étienne Cabet in dieser Arbeit analysiert wurden: »Komme man uns hier nicht von einem Kloster, von einer Kaserne, von einer kommunistischen Anstalt zu reden! Die vorgeschlagenen Einrichtungen sind in jedem Punkte das gerade Gegentheil von einer Gütergemeinschaft. Die ganze Bevölkerung bewohnt wol das nämliche Gebäude; aber Jeder kann darin eine Wohnung ganz nach seinem Geschmacke und nach dem Zins, den er bezahlen will, miethen.« (Renaud 1855: 63) Oder: »Gleichheit und Freiheit können gar nicht neben einander bestehen; Eines schließt das Andere aus; sie sind daher nur als todte Buchstaben in Staatsverfassungen und unklaren Köpfen zu finden.« (ebd.: 111). Oder: »Gleichheit wäre die absolute Negation jeder Freiheit. Wenn die Menschen irgendwo sich der Gleichheit nähern, so ist es im Zuchthaus.« (ebd.: 112).
99
Vgl. ausführliches Zitat auf S. 133 dieser Arbeit.
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6.6 P ÄDAGOGIK 6.6.1 Diagnose und Kritik von Pädagogik Das Postulat von Lern- und Bildungsfähigkeit ist eine Grundvoraussetzung pädagogischen Denkens. Für Renaud ist genau diese Lern- und Bildungsfähigkeit geradezu das Grundmerkmal menschlichen Seins in Abgrenzung zur Tierwelt, die Vernunft ihr Mittel.100 Lernen hat dafür zu sorgen, die Passionen und die ihnen entsprechenden persönlichen und sozialen Ausdrucksformen zu finden. Dem hat sich auch Pädagogik zu fügen: »Die harmonische Erziehung, einheitlich in ihrem Prinzip, weiß sich, wie man nun sehen wird, jedem Karakter anzupassen, jedem Detail, jeder Individualität zu fügen; sie geht allen Fähigkeiten des Menschen nach, sie sucht dieselben auf, um sie harmonisch auszubilden.« 101 Hier wird deutlich, dass der Mensch als fähig betrachtet wird, sich auszubilden und zu entwickeln, gleichsam aber auch die Möglichkeit existiert, ihm dabei von außen zu helfen, bzw. Strukturen bereit zu stellen, die das tun. Die Bildungs- aber auch Erziehungfähigkeit des Menschen wird auch in der Kritik deutlich, die Renaud an der bestehenden Pädagogik übt. Auf sie soll hier nicht zur Gänze eingegangen werden, nur eine symptomatische Passage sei zitiert, die eine gute Kontrastfolie bildet, um die positiv bewerteten pädagogischen Ziel- und Methodenvorstellungen herauszuarbeiten: »Armes Kind! nicht deine Glieder will man üben, nicht deine körperliche Entwicklung will man befördern, nicht einen gesunden, starken, kräftigen, energischen Menschen will man aus dir machen, der fähig wäre, große Dinge zu vollbringen, wie jeder ganze Mensch! Nein, die Neigungen deiner guten Natur, die Triebfedern deines Lebens, welche überströ men, will man einzwängen, man will sie unterdrücken, will sie gar ausmerzen; man will dich zum Studium treiben; man will dich zurechtformen, dich dazu dressiren; man will dir den Kopf mit unsinnigen Wortkram vollstopfen; man will dir Formen geben, für die du keinen Inhalt findest; man will sagen können, wenn du mit dem, was du gelernt hast, Nichts anzufangen weißt: Kind, du vergissest ja Alles! – Das ist die gerühmte zivilisirte [Herv. i.O.] Erziehung!«102
In dramatischem Duktus wird hier vor Augen geführt, dass die Erziehung in der Phalanx nicht Lernsteuerung von außen nach von außen gesteckten Zielen sein 100 Vgl. Renaud (1855: 28) und die Interpretation des Menschenbildes Renauds auf S. 122 dieser Arbeit. 101 Ebd.: 92. 102 Ebd. 85f.
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soll, sondern, dass es darum geht, der Entfaltung der Neigungen eine Bahn zu öffnen, um daraus einen »ganze[n] Menschen« hervorgehen zu lassen. Obwohl die Argumentation in Die Solidarität in Teilen den Schluss nahelegen mag, dieses Ziel könne mechanisch-evolutionär erreicht werden, wird beim näheren Hinsehen deutlich, dass der Mensch nicht nur lern- und bildungsfähig ist, sondern auch – zumindest bis zu dem Punkt, an dem er individuell und als Gattung das Bildungsziel erreicht hat – erziehungsbedürftig ist: Erziehungsbedürftigkeit ist dabei für Renaud etwas, das die Würde des Menschen ausmacht. Sie ist die Angewiesenheit des Menschen auf die Beachtung der göttlichen Fingerzeige im Suchen nach Wahrheit. Erziehungsbedürftig scheint der Mensch aber auch in sozialer Hinsicht zu sein. Zumindest in der Periode der Transformation von der Epoche der ›Zivilisation‹ hin zum ›Garantismus‹ und zur ›Harmonie‹: »Die Verfeinerung der Sinne, verbunden mit der Bildung des Aeußern, wird in die Phalanx eine Einheit im Ton, im Benehmen und in der Sprache bringen, ohne welche die Einigung zwischen den reichern und ärmern Klassen nicht vollständig wäre, denn jene würden sich an den äußern Formen dieser stoßen, obgleich sie im Grunde mit einander sympathisiren würden.«103
An dieser Stelle gibt Renaud ein soziales Argument für Erziehung, es geht nämlich nicht ausschließlich darum, das je Individuelle sich entfalten zu lassen, son dern, wie unverhüllt klar wird, auch darum, eine ›Gleichheit‹ oder ›Einheit‹ in den Formen des gesellschaftlichen Umgangs zu erzeugen, die eine »äußere Form« schafft, in der sich Arme und Reiche vereinigen könnten. 104 Um diese Vereinigung zu erreichen, ist ein methodisches Vorgehen zur Steuerung eben dieser Lernprozesse unumwindbar. Diese Methoden haben zwei Ziele: Erstens den Weg zur Entfaltung der Neigungen zu eröffnen: Durch Übung der Vernunft. Zweitens den Schutz vor negativen Entwicklungen, in dem gesellschaftliche Strukturen geschaffen werden, die das verhindern. Zentrales pädagogisches Element für beide Funktionen ist dabei 103 Ebd.: 93. 104 An Formulierungen wie diesen wird deutlich, dass es Renaud nicht um eine generelle Abschaffung der Klassenunterschiede oder der Vermögensunterschiede geht, sondern, bei Beibehaltung bestimmter Besitz- und Eigentumsstrukturen um eine gemeinsame, ›harmonische‹ Zusammenarbeit zwischen Reichen und Armen, zwischen Kapital und Arbeit. Denn auch wenn er davon spricht, alle würden in der Phalanx Arbeiter und Kapitalisten sein, so wird dies nicht absolut, sondern durchaus mit quantitativen Unterschieden gelten.
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Freiheit, die sowohl die Möglichkeit eröffnen soll, die eigenen Passionen zu verwirklichen als auch als Schutz davor dient, durch externen Zwang auf ›falsche‹ Wege gebracht zu werden. Diese Gedanken sind weiter auszubauen, nachdem zuvor das Ziel der Pädagogik in Die Solidarität rekonstruiert werden muss. 6.6.2 Ziel von Pädagogik Pädagogik hat bei Renaud das Ziel der Entfaltung der individuellen passionellen Natur des Menschen. Warum ist dieses Ziel nun (auch) ein pädagogisches, wurde es doch oben als soziales Ziel beschrieben, das nur zu erreichen ist, wenn die Gesellschaft zur Phalanx reformiert wird? Pädagogisch ist dieses Ziel, da es auf dem Weg der Lernsteuerung erreicht werden soll, die durch Aufklärung und den Appell an die Vernunft zu erreichen erhofft wird, zum anderen aber auch durch soziale Strukturen, die ein entsprechendes Lernen ermöglichen sollen. Nicht zuletzt spielt Gott als universaler Pädagoge eine Rolle, da der Mensch nur durch die göttlich gesteuerte, lernende Selbstverwirklichung seine ihm eigene Dignität entfalten könne. Explizit wird dieses Ziel pädagogischer Einwirkungen, die Renaud »Erziehung« nennt, so beschrieben: »Ihr Zweck ist: die Entwicklung aller körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Kindes zu unterstützen, Nichts aus ihm zu machen, es zu Nichts abzurichten, ihm nur gerade die jenigen Mittel zu verabreichen, welche mit seiner wahren Natur übereinstimmen. Also aus ihm Alles, aber nur Das zu machen, was es sein und werden kann; keine seiner Bestim mungen, keinen köstlichen Keim, welchen Gott seinem Organismus eingepflanzt hat, zu verlieren. Und um dieses Resultat zu erreichen, d.h., um aus dem Kinde ein vollkommenes Wesen zu machen, glaubt die phalansteriane Erziehung kein Recht dazu zu haben, es zu zwingen oder ihm Gewalt anzuthun. Sie überläßt es seinen Passionen, und bietet nur jeder Passion, welche sich bei ihm zeigt, eine nützliche Anwendung, die es befriedigt und ihm keine Zeit läßt, sich in einer falschen Richtung zu bethätigen.« 105
Neben der Ausrichtung der Erziehung am Ziel der freien Betätigung der Passionen und der Entwicklung aller »körperlichen und geistigen Fähigkeiten« des Kindes tauchen erste Andeutungen in Richtung pädagogischer Methode auf: Das Postulat der Abwesenheit von Zwang, das aber seltsam kontrastiert wird von der nebensächlich erscheinenden Bemerkung, dem Kind keine Zeit zu lassen, sich in »einer falschen Richtung« zu betätigen. Ein gewisser Zwang, der mit der Pädagogik der Phalanx verbunden ist, scheint durch. Dieser Spur ist noch nachzugehen. 105 Renaud (1855: 86).
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6.6.3 Methoden der Pädagogik 6.6.3.1 Die Pädagogik Gottes Bei der Darlegung des Gottes-Bildes wurde deutlich, dass nach Renaud Gott dem Menschen Aufgaben (Erkennen der göttlichen Gesetze) und Instrumente zur Bewältigung dieser Aufgaben (die Vernunft) übertragen hat. Aber auch die Einrichtung der Welt sei Erkenntnisgegenstand und -mittel: Die durch das Handeln des Menschen bewirkten Folgen seien eine »indirekte Art der Züchtigung« durch Gott: »Dies indirekte Art der Züchtigung ist allein der unendlichen Güte würdig. Gott straft nicht; der Mensch straft sich selbst und findet in dem Schmerze die heilsame Warnung, die ihn stets seiner wahren, natürlichen Bahn zutreibt.« 106 Gott erscheint als Pädagoge,107 der die Welt eingerichtet hat, um das Lernen des Menschen so zu steuern, dass er das Ziel des Lebens und damit des Lernpro zesses erreicht: Glück durch ein den Passionen entsprechendes Leben. Das Böse ist eine, wie Renaud an einer früheren Textstelle deutlich macht, pädagogische Notwendigkeit, mit deren Hilfe Gott das Lernen seiner menschlichen Geschöpfe steuert: »Wenn der Mensch es verschmäht, von seiner Vernunft Gebrauch zu machen, so stößt er sich ungeschickt an den bewegenden Kräften der Schöpfung, und wenn er in diesem un sinnigen Kampfe sich zerschellt, so liegt der Fehler an ihm allein. Denn der Mensch kann begreifen, er braucht nur zu beobachten; und wenn er begriffen hat, so hört er auf zu leiden. Die Unwissenheit ist das Böse [Herv. i.O.]; mit dem Wissen muß das Böse verschwinden.«108
6.6.3.2 Die soziale Pädagogik der Phalanx Neben dieser göttlichen Pädagogik, die die Menschen auf den Weg zum Glück bringen soll und die sich gleichsam hinter dem Rücken der Individuen vollzieht, wirken auch die gesellschaftlichen Strukturen steuernd auf das Lernen. Solange diese falsch eingerichtet seien, indem sie soziales und individuelles Elend als Warnung hervorbringen, aber auch, sobald sie ›richtig‹ geordnet würden, indem sie dem Menschen den Weg zum Glück öffnen bzw. durch entsprechende Anreizstrukturen den Menschen zum richtigen Handeln motivieren. Pädagogisch wirken die Gruppen und die Serien und dort vor allem die inszenierten Wettbewerbe. Dabei handelt es sich um eine Pädagogik des Sozialen, pädagogische
106 Ebd.: 33. 107 Vgl. zu Ziegenhagens Vorstellung göttlicher Lernsteuerung: S. 49 dieser Arbeit. 108 Renaud (1855: 22).
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Steuerung durch die Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die zum Ziel hat, alle Gesellschaftsmitglieder zur Arbeit anzuhalten.109 6.6.3.3 Explizite pädagogische Methoden Neben den sozialen Strukturen der Phalanx, die implizit pädagogisch wirken, gibt es auch explizit als pädagogisch konzipierte Arrangements, die in Die Solidarität vorgestellt wurde. Zum Beispiel die produktive Arbeit der Kinder in der Phalanx: »So wird also das in die Bande oder in die Horde eingereihte Kind noch in einigen zwan zig häuslichen, landwirthschaftlichen oder industriellen Arbeiten sich bethätigen, und es kann also nicht fehlen, es wird für die vollständige Entwicklung seiner körperlichen Fähigkeiten und für die Befestigung seiner Gesundheit in die allerpassendsten Verhältnisse kommen. […] Was die geistige Entwicklung betrifft, so wird man jetzt schon sehen, das das Kind, welches in einigen zwanzig Arbeitszweigen sich beschäftigt, durch das bloße Zusehen und Arbeiten mehr erhält, als es je in der zivilisirten Erziehung erhalten kann, wo die Theorie dem Kinde in den Kopf gepfropft wird, ohne nur an die Praxis zu denken.« 110
Die später in den Konzepten der Arbeitsschule, aber auch vorher schon bei Pestalozzi111 angeregte Verbindung von theoretischer Belehrung und praktischer Übung unter dem Primat praktischen Tuns, spielt methodisch eine hervorragende Rolle. Dies auch, weil die Passionen sich in praktisches Handeln umzusetzen trachten und so die praktische Betätigung das Testfeld der passionellen Entwicklung darstelle. Neben dem Prinzip der praktischen Ausbildung spielt die schon wiederholt genannte Freiheit auch methodisch eine strukturierende Rolle: »Das Kind wird überdieß nie seines natürlichen Rechtes beraubt sein, sich selbst den Weg zu wählen, den seine Anlagen es gehen heißen. Läßt man ihm seine Freiheit, so wird man auch das Problem gelöst haben, und wird es auf keine andere Weise lösen können, zu ent109 Vgl. ebd.: 104, zitiert auf S. 136 dieser Arbeit. 110 Renaud (1855: 89f.). 111 Die Bedeutung praktischer Arbeit in der Erziehung begründete Pestalozzi damit, dass sich die Kräfte und Fähigkeiten von Kindern »wesentlich nur durch das einfache Mittel ihres Gebrauches naturgemäss« (Pestalozzi [1826] 1976: 60) entfalten würden. In der sozialistischen Pädagogik wird die Verbindung von praktischer Tätigkeit und theoretischer Instruktion ein zentrales Charakteristikum bilden (vgl. Schwarte 1980: 103-108). Eine der in der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung einflussreichsten Konzeptionen legte Robert Seidel 1885 vor.
150 | S OLIDARITÄT B ILDEN scheiden nämlich, wer von beiden, der Vater oder der Staat, Meister über die Jugend sei und die Erziehung zu leiten habe!« 112
Mehr als ein Hauch von Anarchismus liegt in dieser Forderung: Nicht Vater noch Staat sollen darüber bestimmen wie und wozu erzogen wird, sondern das Kind selbst! Dem Kind die Freiheit zu lassen, seine Passionen und Neigungen zu er kennen, ist ein, wenn nicht das zentrale didaktische Prinzip der harmonischen Erziehung. Jedoch ist damit nicht gemeint, dass sich das Individuum in solitärer Selbstbestimmung bildet. Der Prozess der Entfaltung der Passionen ist als ein primär sozialer konzipiert, in dem auch Kritik und Konkurrenz der pädagogischen Beeinflussung dienen. Dies wird vor allem in den hierarchischen Gruppen deutlich, wo es direkt um Kritik geht: »So erhebt sich das Kind von Stufe zu Stufe, gehoben durch die Kinder höherer Gruppen, offen und frischweg getadelt von seinen Kameraden, wenn es Ursache dazu gibt, und ge hätschelt von seinen Eltern, bei welchen es sich wieder glücklich fühlt, weil es bei ihnen Güte, Nachsicht und Liebe findet.« 113
Freilich wird hier als weiteres Element die Behütung und damit der Schutz vor Überanstrengung angesehen; eine Rolle, die die Familie als Rückzugsort annehmen soll. Aber auch Konkurrenz und Wettbewerb sollen als Mittel der Lernmotivation wirken.114 Zuletzt ist die Rolle des Lehrers anzusprechen, die in der Phalanx demokratisiert und entprofessionalisiert wird: »Lehrer wird Jeder sein, wer sich dazu befähigt glaubt, und wäre es für den mindesten Detail der Praxis oder der Theorie. Somit wird auch der Unterricht in viele Zweige zerfallen, deren Lehrer eine sehr zahlreiche Serie bilden. Die Freiheit des Unterrichts kann trotzdem keinen Mißbrauch hervorbringen, weil Jeder genau in dem Maße bezahlt sein wird, wie seine Kurse besucht werden, d.h. im Verhältniß der Zahl seiner Zuhörer.« 115 112 Renaud (1855: 94f.). 113 Ebd.: 88. 114 Das Verhältnis zwischen privater, familiärer Erziehung und öffentlicher, schulischer Erziehung wird, nach einer kurzen radikalen Phase, in der die Idee jeder familiären Erziehung generell kritisch gesehen wird (vgl. die Ausführungen zur Kritik Zetkins an familiärer Erziehung, S. 179 dieser Arbeit), ein Thema bleiben das in der sozialistischen Bildungsdebatte kontrovers behandelt wird, wobei in der Hauptsache familiäre und öffentliche Erziehung als komplementär gefasst werden (vgl. dazu u.a. Zetkin [1905] 1983a; [1906] 1983b). 115 Renaud (1855: 92).
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Lehrer also wird kein separater Beruf sein, wie es überhaupt in der Phalanx keine an Personen gebundenen Berufe geben wird. Die Experten der Theorie und Praxis werden, wenn sie das Verlangen verspüren, als Lehrende arbeiten können und dafür ein Salär erhalten, sofern ein Interesse an ihren Vermittlungsanstrengungen in Form von Teilnahme besteht.
6.7 G ESAMTSCHAU Stellen wir nun, nach der detaillierten Analyse der für uns relevanten Einzelheiten, den Text in den Gesamtzusammenhang der Fragestellung dieser Arbeit. Wir können das Prinzip der ›Solidarität‹ als Bezugspunkt sowohl von Gesellschaftlichkeit als auch von Pädagogik beschreiben. Renaud bezeichnet mit ›Solidarität‹ das Prinzip des wechselseitigen Zusammenhangs in der Gesellschaft, die durch die Grundkraft der Attraktion alle Passionen der Menschen miteinander zu vereinen trachtet. In der sozietären Gesellschaft seien mit den sozialen Formen der Gruppen, der Serien und der Phalanx die Formen gefunden, in denen sich die Passionen miteinander in Verhältnisse setzen und entwickeln könnten. Obgleich auch in der bisherigen Gesellschaft, der ›Zivilisation‹, das Prinzip der wechselseitigen Verbindung herrsche, sei dieses hier an seiner ›richtigen‹, der Entfaltung der Passionen entsprechenden, Ausprägung behindert. Erst die Vereinigung von Kapital und Arbeit in der Form der Phalanx verwirkliche das »Gesetz der Solidarität«116 im positiven Sinne. Pädagogik ist in der Phalanx zwar fast unsichtbar, aber nicht unwirksam: Lernsteuerung findet nur durch Gottes Ratsschluss durch Individuen selbst statt, indem sie ihren Passionen folgen. Diese sind die impliziten Pädagogen; ebenso wie die gesellschaftlichen Strukturen, die den Menschen die Wege eröffnen, ihre Passionen zu entfalten. Auf dem Weg hin zur Phalanx freilich ist bewusste und aktive Pädagogik nötig; denn durch Überzeugung in die Vernunft und Wahrhaftigkeit dieses Konzeptes soll auf reformatorischem Wege langsam die Einsicht bei allen Menschen gebildet werden, dass das sozietäre System der ›Zivilisation‹ überlegen sei. ›Brüderlichkeit‹ hat in der Phalanx eine nicht mit dem Solidaritätsprinzip zu verwechselnde Bedeutung: Sie ist eine Einstellung oder Disposition, die die Menschen, die innerhalb einer »Gruppe der Freundschaft« miteinander verkehren, untereinander üben. ›Brüderlichkeit‹ bedeutet in diesem Zusammenhang Gleichheit unter rangmäßig (nicht zwangsläufig) unterschiedlichen, tendenziell gleichgeschlechtlichen (männlichen) Menschen. Es ist ein Gefühl gegenseitiger,
116 Ebd.: 34.
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egalitärer Verbundenheit. Erziehung in Form von Kritik findet in ihr nur auf dem sanften Weg des Humors statt.
7. Solidarität und Pädagogik im Klassenkampf (Clara Zetkin)
7.1 A UTORIN
UND
T EXT
Clara Zetkin wurde am 5. Juli 1857 im sächsischen Wiederau als Clara Josephine Eißner geboren. Ihre Mutter stand im Kontakt mit der entstehenden bürgerlichen Frauenbewegung, von der auch Clara Zetkin in ihrer Jugend geprägt werden sollte. 1872 zog die Familie nach Leipzig, wo Zetkin eine Ausbildung am Lehrerinnenseminar absolvierte. In Leipzig, damals einer der Hochburgen der deutschen Arbeiter*innenbewegung, trat sie 1878 der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands bei. Nach der Verabschiedung des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie1 lebte sie ab 1882 zunächst in Zürich, später in Paris, wo sie den Namen ihres Mannes, Ossip Zetkin, annahm. Zetkin war wesentlich beteiligt am Gründungskongress der Zweiten Internationale in Paris 1889. In Folge des Kongresses wurde das internationale Frauensekretariat der Sozialistischen Internationale gegründet, dessen Leiterin sie wurde. Nachdem 1890 das Sozialistengesetz gefallen war, kehrte Clara Zetkin nach Deutschland zurück und übernahm ab 1891 die Redaktion der sozialdemokratischen Frauenzeitung Die Gleichheit, von der sie 1917 wegen ihrer vom Parteivorstand abweichenden Positionen bezüglich der deutschen Kriegspolitik abgelöst wurde. Bis zum Bruch mit der Parteiführung im Laufe des Ersten Weltkriegs war Zetkin neben Heinrich Schulz, mit dem sie die bildungspolitischen Leitsätze der Partei entwarf,2 eine der führenden sozialdemokratischen Bildungstheoretiker*innen und -politiker*innen Deutschlands. Während des Krieges engagierte sie sich innerhalb der sozialdemokratischen Linken für eine antimilitaristische 1
Das Gesetz (kurz: Sozialistengesetz), das von 1878 bis 1890 galt, verbot beziehungsweise erschwerte sozialistische und sozialdemokratische politische Tätigkeiten im Deutschen Reich.
2
Vgl. Zetkin/Schulz (1906) 1983.
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sozialistische Politik und wurde aufgrund der Initiierung einer internationalen sozialistischen Frauenkonferenz gegen den Weltkrieg in ›Schutzhaft‹ genommen. Nach der Spaltung der SPD war sie Gründungsmitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und für diese bis 1933 Reichstagsmitglied. Clara Zetkin starb am 20. Juni 1933 in der Nähe von Moskau.3 Bei dem der Interpretation zugrunde liegenden Text handelt es sich um die 1889, als drittes Heft der Berliner Arbeiterbibliothek herausgegebene Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart (im Folgenden mit Frauenfrage abgekürzt). Der Text ist aus der Überarbeitung des Referats Clara Zetkins auf dem Gründungskongress der Zweiten Internationale im Jahr 1889 in Paris hervorgegangen. Dieses Referat diente der Begründung für die Einrichtung des Frauensekretariats der Internationale und legte die politischen Leitlinien der Arbeit des Sekretariats fest. Die Frauenfrage wurde ausgewählt, weil in diesem Text zum einen idealtypisch eine Lesart des Marxismus vertreten wird, wie er für die Radikalisierung der Sozialdemokratie unter dem Sozialistengesetz typisch war. 4 Zum andern hat der Text eine spezifische, marxistische und feministische Argumente verknüpfende Qualität, wie sie in keinem anderen Text des Untersuchungszeitraumes zu finden ist.5 Entsprechend besitzt die Fassung des Verhältnisses zwischen ›Solidarität‹, Gemeinschaft und Pädagogik eine spezifische Originalität. Die Qualifikation des Textes als sozialistisch ergibt sich aus seiner Übereinstimmung mit den Kriterien der oben aufgestellten Sozialismusdefinition, die 3
Die biographischen Angaben dieses Abschnittes sind nach Badia 1994; Hervé 2007; Pieck 1957; Ünlüdağ 2003 zusammengestellt.
4
Diese Entwicklung gipfelte in der Verabschiedung des neuen Parteiprogramms 1891 auf dem Erfurter Parteitag, auf dem sich die vormals ›Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands‹ in ›Sozialdemokratische Partei Deutschlands‹ umbenannte. Hier entfernte sich die Partei nach intensiven Debatten von der, Marx kritisch gegenüberstehenden, Linie Ferdinand Lassalles und legte sich programmatisch auf eine marxistische Gesellschaftsanalyse fest. Das Programm selbst (SPD 1891) aber zerfällt in zwei Teile, einen grundsätzlichen, von Karl Kautsky verfassten und in einem separaten Buch ausführlich kommentierten (Kautsky 1892) und einen politisch-pragmatischen, der von Eduard Bernstein verfasst wurde. Während der erste von marxistischer Phraseologie geprägt ist, lässt sich der zweite durchaus in der Tradition des Reformismus lesen. Der Konflikt zwischen beiden Strömungen sollte wenige Jahre nach der Verabschiedung des Erfurter Programms in der so genannten Revisionismusdebatte wieder aufbrechen (ausführlich zum Revisionsmusstreit: Papcke 1975).
5
Selbst Zetkin widmet sich nach diesem programmatischen Aufsatz nicht mehr in dieser Form dem Zusammenhang von Frauenfrage und Kapitalismus.
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UND
P ÄDAGOGIK
IM
K LASSENKAMPF (C LARA Z ETKIN )
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hier im Vorgriff auf die Textinterpretation zusammengefasst wird: Die Spaltung der analysierten Gesellschaft in Klassen (Proletariat, Kleinbürgertum/Mittelschicht, Bourgeoisie) wird im Text postuliert. Als ursächlich für diese Spaltung wird das kapitalistische Wirtschaftssystem und als wichtiges Mittel zu deren Aufhebung eine auf Gemeineigentum beruhende Wirtschaftsform angesehen. Diese soll auf dem Weg einer revolutionären Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eingerichtet werden. Neben der Verwendung eines typischen pädagogischen Vokabulars im Text (so ist unter anderem von ›Bildung‹, ›Erziehung‹ und ›Lernen‹ die Rede), lassen sich die eingangs aufgestellten Kategorien finden, die ein pädagogisches Konzept im Rahmen dieser Arbeit ausmachen: Es lässt sich sowohl ein, den Menschen als lernfähiges und erziehungsbedürftiges Wesen bestimmendes, Menschenbild identifizieren, wie auch Überlegungen zur Methode und zum Ziel dieser Lernsteuerungsprozesse. Die Kategorie des Sozialen spielt eine hervorragende Rolle. Obgleich das Wort ›Brüderlichkeit‹ im Text nicht auftaucht, finden wir ›Solidarität‹ mehrfach. Zuletzt ist der Text im Untersuchungszeitraum erschienen.
7.2 Ü BERBLICK Die Frauenfrage lässt sich in drei thematisch aufeinander aufbauende Teile gliedern. Der erste Teil behandelt in historischer Perspektive die Stellung der Frau in der Gesellschaft und gegenüber dem Mann »als Folge der wirthschaftlichen Verhältnisse.«6 Schon auf der ersten Seite wird die zentrale Grundannahme formuliert, an der sich die gesamte Argumentation des Textes orientiert: »[D]ie Stellung der Frau entspringt nicht aus gewissen ewig gültigen Ideen, aus einer unabänderlichen Bestimmung für den, von sentimentaler Selbstsucht erfundenen ›natürlichen Beruf des ewig Weiblichen‹, sondern sie ist eine Folge der gesellschaftlichen, auf den Produktionsverhältnissen fußenden Zustände einer gegebenen Zeit.« 7
Zetkin wendet sich damit gegen Motive, die – auch in der sozialistischen Bewegung – von einer ›natürlichen‹ Bestimmung der Frauenrolle (bzw. generell der Geschlechterrollen) ausgingen.8 Das Zitat macht außerdem deutlich, dass sich 6
Zetkin (1889: 3).
7
Ebd.: 3f.
8
So waren vor allem Sozialisten, die sich an den Theorien Ferdinand Lassalles orien tierten, Gegner der Frauenarbeit. »Grundsatz der Lassalleaner war: die Lage der
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Zetkin innerhalb eines Argumentationsmusters bewegt, das zwei Jahre später mit dem Erfurter Programm zur offiziellen Parteidoktrin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erhoben wurde: dem historischen Materialismus. Zetkin beschreibt in diesem ersten Teil ihrer Broschüre die mit der industriellen Revolution einhergehenden wirtschaftlichen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und deren Folgen für die Position der Frauen. Zentral erscheint die »wachsende Loslösung [der Frau, R.P.] von der Familienthätigkeit« 9 und ihr Einbezug in das industrielle Erwerbsleben. Dieser Wandel befreie die Frau tendenziell aus patriarchaler Herrschaft und gäbe ihr »zum ersten Male die Fähigkeit eines vollständig selbstständigen Lebens.«10 Diese Freiheit sei aber nur begrenzt, da an die Stelle der häuslichen Herrschaft des Mannes die gesellschaftliche Herrschaft des Kapitalisten trete. Dennoch würden durch den Einbezug in die industrielle Arbeit Mann und Frau (zumindest im Proletariat) ökonomisch gleichberechtigt, da beide gleichermaßen zum Lebensunterhalt beitrügen. Im zweiten Teil des Textes geht es um die aus den eben beschriebenen ökonomischen Veränderungen folgenden Notwendigkeiten, der Frau auch im »öffentlichen Leben«11 eine entsprechende Stellung anzuweisen, d.h. ihr neben der ökonomischen auch die politische Gleichberechtigung anzuerkennen. Die Frau müsse »auch Einfluß auf das öffentliche Leben und die Politik erstreben« 12, da diese ihr Leben nun immer stärker beeinflussen. Erschwert werde dieser politische Gleichstellungsprozess aber durch die historisch überlieferte untergeordnete Stellung der Frau, die vor allem in einem Mangel an Bildung und politischem Bewusstsein bestünde. Hier sieht Zetkin eine zentrale Aufgabe der Sozialdemokratie: Bildung und Bewusstsein zu heben. Der dritte große Abschnitt der Frauenfrage behandelt, aufbauend auf den beiden vorherigen, die Frage, welche Rolle die Frau für die Erziehung der Kin der spielen könne und solle. Die gesellschaftlichen Bedingungen von Pädagogik Frau kann nur verbessert werden durch die Lage des Mannes« (Losseff 1972: 729). Noch 1872 beschloss der Erfurter Gewerkschaftskongress, gegen jede Form der Lohnarbeit von Frauen vorgehen zu wollen. Noch 1888 wurde einer Arbeiterin die Teilnahme an einem sozialistischen Parteitag verweigert (vgl. Jochimsen 1978: 34). In den folgenden 20 Jahren setzte sich jedoch die Position der proletarischen Frauen durch, so dass seit dem Gewerkschaftskongress 1892 Frauen Vollmitglieder werden durften; in einzelnen Gewerkschaften war das auch schon vorher der Fall (vgl. Losseff 1972: 729). 9
Zetkin (1889: 7).
10
Ebd.: 9.
11
Ebd.: 14.
12
Ebd.
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und die gesellschaftliche Verantwortung zur Erziehung der nachwachsenden Generation stehen im Mittelpunkt der Überlegungen Zetkins, die sich hier nachdrücklich gegen jede Vorstellung vom »natürlichen Berufe« der Frau als Erzieherin wendet.13 Ein Resümee schließt den Text ab, fasst die zentralen politischen Forderungen an die Sozialdemokratie zusammen und betont, dass die »Frage der vollen Emanzipation der Frau […] im innigsten Zusammenhang mit der Arbeiterfrage überhaupt steht und nur im Zusammenhang mit ihr endgültig gelöst werden kann.«14 Politisch bedeutet dies in Abgrenzung von der bürgerlichen Frauenbewegung: »Die Frau hat darum für ihre volle Emanzipation nur von der sozialis tischen Partei etwas zu erwarten.«15 Nachdem die Grundrisse der Frauenfrage skizziert wurden, kann der Zusammenhang von ›Solidarität‹, Gemeinschaft und Pädagogik näher in den Blick genommen werden. Bevor dieser Zusammenhang erhellt werden kann, müssen aber einige Voraussetzungen geklärt werden. Diese betreffen das Menschen- und Frauenbild Zetkins.
13
Vgl. ebd.: 23; 27; 30.
14
Ebd.: 39.
15
Ebd.: 40. Mit dieser definitiven Aussage formulierte Zetkin nicht nur die Aufgabe an die Sozialdemokratie, sich der Frauenfrage anzunehmen, sondern markiert damit auch den Unterschied zur ›bürgerlichen‹ Frauenbewegung jener Zeit, die mit der sozialistischen Frauenbewegung in einem Konkurrenzverhältnis stand. In einer 1896, auf dem Gothaer Parteitag der SPD gehaltenen, Rede machte Zetkin diesen Konflikt und die daraus folgende Unvereinbarkeit von proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung noch deutlicher (vgl. Zetkin 1896). Zwar bezogen sich sozialistische und nicht-sozialistische Frauenbewegungen auf die Zielvorstellung der Emanzipation der Frau; jedoch war für die nicht-sozialistischen Frauenbewegungen dieses Ziel – mehr oder minder – im Rahmen der bestehenden Gesellschaft, bspw. durch Wahlund Eigentumsrechtsreformen möglich; für die Sozialist*innen war die völlige Gleichberechtigung von Mann und Frau nur nach einer Revolution möglich, die nicht nur patriarchale, sondern auch kapitalistische Herrschaftsstrukturen abschafft (vgl. Losseff 1975: 726. Zur Frauenbewegung jener Zeit allgemein vgl.: Hervé 1995).
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7.3 V ORAUSSETZUNGEN 7.3.1 Menschenbild Zetkin gibt in der Frauenfrage keine ausführliche Darstellung ihres Menschenbildes. Aus vereinzelten Äußerungen müssen ihre anthropologischen Grundansichten zusammengetragen werden. Die einzige direkte Aussage zum Menschen findet sich im Rahmen ihrer, später darzustellenden, pädagogischen Auseinandersetzung: »Der moderne Mensch ist aber ein sehr komplizirtes Geschöpf, das sich in Gemäßheit bestimmter Gesetze entwickelt, die in ihm und außer ihm liegen, und die sich untereinander fördern, bekämpfen, aufheben. Das Ziel der Erziehung kann nicht erreicht werden, ohne Kenntniß der physischen (körperlichen) und psychischen (geistigen) Gesetze, welche die Entwicklung des Kindes beherrschen, ohne Verständniß für die natürliche und gesellschaftliche Umgebung, in welcher dieselbe vor sich geht.« 16
Es scheint ein bekanntes Bild auf: Der Mensch als Verhältniswesen. 17 Jedoch findet eine Akzentverschiebung im Vergleich zu Ziegenhagen statt: Zwei grundlegende Gesetze gäbe es, die den Menschen bestimmten, die in ihm liegenden und die außer ihm liegenden. Die ersten spalten sich in die Gesetze körperlicher und geistiger Entwicklung, die zweiten in die Gesetze der Natur und der Gesellschaft. Diese vier Elemente bilden das Ensemble, das bestimmt, was der Mensch sei und zu was er werden könne. 18 Interessant ist der Verweis darauf, dass diese Gesetze »sich untereinander fördern, bekämpfen, aufheben«. Es ist also nicht so wie bei Ziegenhagen oder Renaud, dass es gilt, diese Gesetze zu erkennen und ihnen entsprechend zu handeln, um zu einer harmonischen Gesellschaft zu gelangen. Widerspruch als Triebkraft von Entwicklung bekommt an dieser Stelle seine Bedeutung.19
16
Zetkin (1889: 31).
17
Vgl. die Ausführung zu Franz Heinrich Ziegenhagens Verhältnislehre, S. 47ff. dieser Arbeit.
18
An dieser Stelle ist interessant zu vermerken, dass Zetkin hier über das oft zitierte Diktum von Karl Marx aus der sechsten Feuerbachthese hinausgeht, das den Men schen als »das ensamble [sic!] der gesellschaftlichen Verhältnisse« begreift (Marx [1845] 1978: 6).
19
Später im Text soll ein anderer Widerspruch, der zwischen Ökonomie und Sozialem, bedeutsam werden und das Argument für die Änderung der Gesellschaft abgeben.
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Die vier Elemente der Bestimmung des Menschen werden in der Frauenfrage unterschiedlich gewichtet. Besondere Bedeutung wird der Gesellschaft zugewiesen. Wie bei der Darstellung des Frauenbildes ausführlich gezeigt werden wird, entwickelt sich der Mensch für Zetkin immer in ökonomisch bestimmten, gesellschaftlichen Verhältnissen. Die gesellschaftlichen Zustände einer gegebenen Zeit seien das Primat jeder Diskussion über den Menschen. Nur innerhalb eines gegebenen gesellschaftlichen Rahmens ließe sich die Entwicklung des Menschen nachvollziehen. Der natürlichen Umwelt als weiterem externen Faktor wird im Text keine Aufmerksamkeit geschenkt. Während natürliche und gesellschaftliche Umwelt von außen auf die Entwicklung des Menschen einwirkten, seien die inneren Gesetze der physischen und seelischen Entwicklung diejenigen, nach denen sich die »Anlagen und Fähigkeiten«20 des Menschen entwickeln. Diese Anlagen und Fähigkeiten bilden für Zetkin die »Maßgabe«21 dessen, wozu der Mensch werden kann. 7.3.2 Frauenbild Da es in der Frauenfrage hauptsächlich um Frauen (insbesondere Arbeiterinnen) geht, soll das den Text prägende Frauenbild rekonstruiert werden. Dabei wird der (fast) permanente Status der Frau als Unterdrückte schon im ersten Satz des Textes konstatiert: »Von den Perioden und Völkern abgesehen, wo der Frau das ›Mutterrecht‹[22] eine hervorragende soziale Machtstellung einräumte, war die Lage des weiblichen Geschlechts stets die von Unterdrückten, von Menschen zweiten Grades, Wesen einer untergeordneten Gattung.« 23 Lediglich in der UrGesellschaft und rezenten matriarchalen Gesellschaften sei die Frau nicht unterdrückt (gewesen).24 Die subalterne Position aber entstünde eben nicht natürlicherweise, sondern aus ökonomischen Gründen, und werde im Medium sittlicher und religiöser Diskurse legitimiert: 20
Zetkin (1889: 17).
21
Ebd.
22
Zetkin bezieht sich hier auf die zeitgenössische Diskussion um matriarchale Gesellschaften, die vor allem durch die Publikation von Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur von 1861 geprägt wurde. August Bebel greift den Begriff in seinem in der sozialistischen Bewegung weit verbreiteten Werk Die Frau und der Sozialismus (Bebel [1879] 1973: 46ff.) auf.
23
Zetkin (1889: 3).
24
Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Bebel ([1879] 1973), dessen Werk Zetkin gekannt haben wird.
160 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Sitte und Religion zögerten nicht, das was die Gewalt geschaffen, durch den Schein eines ewigen Rechts zu heiligen. Die Schwäche und Rückständigkeit der Frauen ward im Laufe der Jahrhunderte zu einem gesellschaftlichen Dogma, zu einer unumstößlichen Grundanschauung erhoben, auf der sich ein ganzes System der körperlichen, geistigen und morali sche Unterdrückung aufbaute.« 25
Das »Dogma« der »Schwäche und Rückständigkeit der Frauen« habe aber nicht nur ideologischen Charakter, sondern setze sich in die Realität um: »Seit Jahrhunderten geknechtet und versklavt, systematisch in einem Zustande der Untergeordnetheit gehalten, von Geburt an die Zielscheibe einer systematisch durchgeführten körperlichen und geistigen Verkümmerung, ist die Frau nothwendiger Weise ein unvollkommen und einseitig entwickeltes Wesen.« 26 Klar spricht Zetkin hier den herrschaftlichen Charakter des Patriarchats an: Zweimal spricht sie von der »Systematik«, mit der über die Frau geherrscht wurde und werde, die sie sowohl physisch als auch psychisch an der Entfaltung ihrer Potentiale hindere. Dabei verfällt Zetkin jedoch nie einer personalen Erklärung: Nie seien es konkrete, willentlich handelnde Personen, die die Herrschaft über die Frau aufrichteten und aufrecht erhielten. Sie argumentiert strikt gesellschaftlich. So sei die Frau im Zeitalter des Feudalismus die Haussklavin des Mannes gewesen, jedoch nicht aus boshafter Willkür des Mannes, sondern einzig aufgrund der ökonomischen Struktur der feudalen, agrarischen Gesellschaft: »Der Mann war sozusagen der verantwortliche Familien-Unternehmer, welcher die Ar beitskraft des Weibes um den Preis von dessen lebenslänglicher Erhaltung ausbeutete. So lange die Produktion nun auf die alten, unvollkommenen Arbeitsmittel angewiesen war, konnte die Frau den Kreis ihrer Thätigkeit nicht erweitern. Sie war durch die primitive Theilung der Arbeit an das Haus gefesselt worden, sie blieb durch die Art und Weise der Produktion an dasselbe gefesselt.«27
Grundlegendes Erklärungsmuster bilden die ökonomische Umstände, die Produktionsverhältnisse, wie Zetkin schon einleitend schrieb. Diese aber determinierten nicht kausal die Rolle der Frauen einer bestimmten Zeit. Deren Stellung resultiere vielmehr aus der Vermittlung dieser Verhältnisse mit der herrschenden Ideologie. Denn obgleich die »Zustände, welche der Frau in den verschiedenen Geschichtsperioden aus wirthschaftlichen Nothwendigkeiten eine
25
Zetkin (1889: 4).
26
Ebd.: 34.
27
Ebd.: 5.
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gewisse Stellung anweisen«28 und sie in eine dergestalt gesellschaftlich objektive Lage bringt, »ziehen [diese Notwendigkeiten, R.P.] dann ihrerseits zugleich gewisse Ideen groß über die gesellschaftliche Rolle des weiblichen Geschlechts, Ideen, die einfach den Zweck haben, das tathsächlich Bestehende zu beschönigen, als ewig nothwendig zu erweisen und zum Nutzen derer, denen die herrschenden Verhältnisse zu Guten kommen, aufrecht zu er halten.«29
Das hier ins Spiel kommende Motiv, das der Ideen oder besser: der Ideologien, die die wahren Verhältnisse verschleiern, um die Herrschaft aufrecht zu erhalten,30 wird im Weiteren eine wichtige Rolle in der pädagogischen Diskussion Zetkins spielen. Neben der gesellschaftlich-strukturellen Ebene kommt eine moralische Ebene ins Spiel, wenn Zetkin davon spricht, dass etwas »beschönigt«, also nicht in seiner real ›schlechten‹ Qualität sondern eben euphemisierend dargestellt würde. Beide Ebenen, die der ökonomischen Notwendigkeit der Emanzipation der Frau und die der moralischen Empörung über die Knechtung der Frau, finden sich im Text immer wieder. Die ideologisch abgesicherte gesellschaftliche Stellung der Frau wird von Clara Zetkin als in vorindustrieller Zeit den gegebenen ökonomisch-gesellschaftlichen Realitäten entsprechende analysiert. Nachdem aber durch die Industrialisierung diese Stellung eine andere wurde – sich die Verhältnisse also weiterentwickelten – folgten die Vorstellungen der Wirklichkeit (also die Ideen) dieser Entwicklung nicht. Die Sozialisation der Frau als Unterdrückte erzeugte so eine Persönlichkeitsform, die nach dem Eintreten einer neuen, kapitalistischen, Vergesellschaftung als widersprüchliche bestünde: Gleichberechtigt im ökonomischen Sektor, sei die Frau nicht gleichgestellt im gesellschaftlich-politischen Bereich. Diese Situation begründe, dass die Arbeiterin »in nichts besser, in vielem schlechter daran [ist], wie der moderne Lohnarbeiter. Wie dieser ist sie ausgebeutet und rechtlos, ja in den meisten Fällen doppelt ausgebeutet und doppelt rechtlos.«31 28
Ebd.: 4.
29
Ebd.
30
Die Isomorphie zu den Überlegungen im Manifest der Kommunistischen Partei (Marx/Engels [1848] 1969: 477f.) scheinen offensichtlich. Die entsprechende marxsche Formulierung aus der Deutschen Ideologie, nach der »die Gedanken der herrschenden Klasse […] in jeder Epoche die herrschenden Gedanken« seien (Marx/Engels [1845/1846] 1978: 46), muss ihr noch unbekannt gewesen sein, das Manuskript wurde erst 1932 veröffentlicht.
31
Zetkin (1889: 3).
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»Doppelt ausgebeutet« bedeutet, dass sie nicht nur als Arbeiterin vom Kapitalisten ausgebeutet werde, sondern auch zu Hause vom Ehemann. Die ›doppelte Rechtlosigkeit‹ bezieht sich auf das Heim, in dem sie gegenüber dem Ehemann aus traditionell-patriarchalen Beweggründen ›rechtlos‹ sei und auf den Klassencharakter des Rechtssystems des Deutschen Reiches jener Zeit. 32 Aber auch im Betrieb erscheint die Frau machtloser als der Mann, denn durch ihre geistige und sittliche Konstitution erwiese sie sich »nicht nur als eine billige, sondern in Folge ihrer geringen Einsicht in die Verhältnisse, des mangelnden Solidaritätsgefühls, des geringen Selbstgefühls, der bisher erduldeten Knechtschaft als eine bequeme und gefügige Arbeitskraft.« 33 Dies müsse sich ändern, denn die Frau könne und müsse aufgrund der neuen gesellschaftlichen Verhältnisse aus dieser Unterdrückung heraus finden. Sie habe sich zu emanzipieren: »Die Frau, die sich gesellschaftlich-produktiv dem Manne ebenbürtig erweist, die sich ökonomisch ganz auf eigene Füße stellen kann, muß auch politisch und rechtlich demselben gleichgestellt werden.«34 Die Frauenfrage ist für Zetkin eine historisch neue Frage, die es unter vor-kapitalistischen Verhältnissen nicht hat geben können: »Die Frauenfrage ist vielmehr wie die moderne Arbeiterfrage ein Kind der durch die Anwendung von mechanischen Werkzeugen, von Dampfkraft und Elektrizität revolutionirten Industrie, der Großproduktion.« 35 32
So herrschten, trotz des allgemeinen, gleichen und freien Wahlrechts, das für die Reichstagswahlen galt, de facto immer noch personale Machtverhältnisse, so in Preußen, wo die Landarbeiter »meist geschlossen zur Wahl geführt [wurden] und […] ihre Stimmzettel lange Zeit offen dem Wahrvorsteher – meist dem Gutsherren selbst – übergeben [mussten]. In den Dörfern ohne unmittelbaren gutsherrlichen Einfluß aber sorgten Lehrer und Pfarrer für eine Stimmabgabe zugunsten der vom Adel beherrschen Konservativen Partei.« (Grebing 1966: 69) Für Arbeiter*innen bestimmten in der Stadt zwar nicht diese Überreste des Feudalismus die Ausübung politischer Rechte, die Fabrikbesitzer*innen waren aber im Sinne ihrer »Herr-imeigenen-Hause«-Politik (ebd.: 73) bestrebt diese ebenfalls politisch zu lenken. So wenn Alfred Krupp 1877 in einer Rede an Arbeiter*innen in einer Mischung aus Paternalismus und unverholener Drohung empfahl: »Aber für die große Landespolitik erspart Euch die Aufregung. Höhre Politik treiben erfordert mehr freie Zeit und Einblick in die Verhältnisse, als dem Arbeiter verliehen ist. Ihr tut Eure Schuldigkeit, wenn Ihr durch Vertrauenspersonen empfohlene Leute wählt. Ihr erreicht aber sicher nichts als Schaden, wenn Ihr eingreifen wollt in das Ruder der gesetzlichen Ordnung.« (zitiert nach Schraepler 1957: 90).
33
Zetkin (1889: 10).
34
Ebd.: 12.
35
Ebd.: 6.
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Ein Element des traditionellen Frauenbildes gegen das sich Zetkin vehement wendet, ist die Vorstellung vom natürlichen Beruf der Frau als Mutter und Erzieherin. So sei die Rede vom »Naturberuf« der Frau als Mutter widersinnig. 36 Generell geht Zetkin von einer gesellschaftlichen Bestimmung der Frau (bzw. des Menschen) aus und wendet sich damit auch gegen eine biologistische Festlegung der Frau auf die Mutterrolle, wenngleich sie diese nicht ausschließt. Fassen wir Zetkins Frauenbild vor dem Hintergrund des vorher entworfenen Menschenbildes zusammen, ergeben sich einige Korrekturen und Konkretisierungen des Menschenbildes: Auf die vier Elemente der psychischen und physischen inneren Prozesse und der natürlichen und gesellschaftlichen äußeren Elemente bezogen, lässt sich die Rede von der Widersprüchlichkeit ihrer Beziehungen besser verstehen. So schreibt Zetkin den Frauen prinzipiell eine »große Bildungsfähigkeit«37 zu, also die Fähigkeit zu lernen. Jedoch werde diese innere Anlage in ihrer Entfaltung begrenzt durch die bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen. Es scheint dabei nicht nur so zu sein, dass die Fähigkeit sich zu bil den und zu lernen nicht angewendet werden kann, sondern sie kann sich gar nicht erst zu ihrem vollen Potential entwickeln (bleibt »verkrüppelt«, wie Zetkin schreibt). Innere Anlage und gesellschaftlicher Rahmen treten in ein widersprüchliches Verhältnis, das die Notwendigkeit der Änderung der gesellschaftlichen Bedingungen zugunsten der Entfaltung der Anlagen der Frauen begründet.
7.4 G ESELLSCHAFT
UND
G EMEINSCHAFT
7.4.1 Diagnose und Kritik der bestehenden Gesellschaft Zur Beschreibung der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse spielt für Zetkin die ökonomische und die gesellschaftliche Ebene eine grundlegende Rolle. Ausschlaggebend ist die nach bestimmten – im Text nicht spezifizierten – Gesetzen ablaufende Entwicklung der Ökonomie: »Die oekonomischen Thatsachen kümmern sich den Teufel um das, was wir wünschen, sie fragen nicht danach, ob Hinz oder Kunz in sentimentaler Verzopftheit die Frau ans Haus gebunden, oekonomisch von sich abhängig, politisch und rechtlich geknechtet wissen will. Die Produktionsbedingungen kennen keine sentimentalen, persönlichen Rücksichten, sie kennen nur ökonomische Nothwendigkeiten, die unabwendbar wie Naturgesetze sind.« 38 36
Zur Begründung dieser Position vgl. S. 159 dieser Arbeit.
37
Zetkin (1889: 22).
38
Ebd.: 11.
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Der sich hier abzeichnende Ökonomismus tritt auch an anderen Stellen zu Tage. Zetkin versucht ihn strikt als analytische Grundlage ihrer Argumentation beizubehalten, kommt jedoch nicht umhin im Subtext der Frauenfrage auch eine moralische Argumentationsgrundlage zu verwenden. Bleiben wir vorerst bei ihrer Gesellschaftsanalyse. Die Basis ihrer Gesellschaftskonstruktion ist die Ökonomie und deren Entwicklung, die »unabwendbar wie Naturgesetze« sei. Die Implikationen dieser Festlegung könnten schwerwiegender nicht sein. Denn, wenn die ökonomische Entwicklung unabwendbar ist, dann ist sie auch unbeeinflussbar und damit auch jeder politischen Einflussnahme entzogen. Zetkin führt aber eine dezidiert politische Argumentation. Worauf bezieht sich nun diese, wenn nicht auf die Ökonomie? Es kommt eine zweite, mit der Ökonomie im Zusammenhang stehende Ebene ins Spiel, die Gesellschaft: »Wie stets, so hinken auch in diesem Falle die gesellschaftlichen Einrichtungen, die Ideen der Menschen weit hinter den neuen ökonomischen Thatsachen hinterher.« 39 Der sozial- und geschichtsphilosophische Hintergrund ihrer Argumentation wird hier sehr deutlich: Die Ökonomie entwickle sich in einer bestimmten Art und Weise und die gesellschaftlichen Einrichtungen und die Ideen der Menschen entwickelten sich ebenfalls – aber: verzögert und in Abhängigkeit von den ökonomischen Entwicklungen. Während die ökonomische Entwicklung gesetzmäßig-zwangsläufig verliefe, sei die gesellschaftliche Entwicklung willentlicher Einflussnahme zugänglich. Prägnant wird dies an folgender Stelle zum Ausdruck gebracht, die die Aufgabe der sozialistischen Partei formuliert: Es komme »darauf an, die Gesellschaftsformen den neuen ökonomischen Zuständen anzupassen.«40 Es gehe nicht darum, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu verändern, sondern die gesellschaftlichen Hindernisse der gesetzmäßigen wirtschaftlichen Entwicklung zu beseitigen. Nicht Revolution der Verhältnisse, vielmehr die Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die neuen ökonomischen Gegebenheiten ist das von Zetkin proklamierte politische Ziel. Dieses aber werde aufgrund der Interessen der gesellschaftlich herrschenden Gruppen verhindert. 41 Die beschriebene Entwicklung sieht Zetkin im Zusammenhang mit den Prozessen der weltweiten Ausdehnung kapitalistischer Produktion, wie sie sie in Anlehnung an Marx beschreibt: »So wie die Entwickelung der neuen Produktionsverhältnisse die wirthschaftlichen Beziehungen der Gesellschaft von kleinen lokalen zu großen nationalen und internationalen machte, mußte auch der Charakter des öffentlichen Lebens dem gleichen Entwicklungs39
Ebd.: 9.
40
Ebd.: 12.
41
Vgl. ebd.: 4.
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gange folgen. […] Das Ziel ist erreicht, soweit es unter der Herrschaft der Klassengegen sätze und des Konkurrenzkampfes möglich ist.« 42
Zetkin spielt hier auf die internationale Vernetzung an, die zu jener Zeit – was die ökonomischen Organisationen der Zivilgesellschaft und die wirtschaftlichen Verflechtungen betrifft – sehr intensiv war. 43 Diese ökonomische Entwicklung erfasse nun auch die Frau: »Die Entwicklung der Produktionsmittel zerstörte also die ökonomische Basis für das Wirken der Frau innerhalb der Familie, zugleich schuf sie aber auch die Bedingungen für die Thätigkeit der Frau in der Gesellschaft.«44 Während die Frau in vor-kapitalistischen Verhältnissen hauswirtschaftlich gebunden gewesen sei, werde häusliche Arbeit durch die industrielle Revolution wesentlich effektiver in der Gesellschaft erledigt; die Frau so von ihrer häuslichen Arbeit entbunden. Das Denken in größeren als den lokalen Maßstäben werde nun auch für die Frau wichtig, ihr Hinaustreten in die Welt. Aber dieser Transformationsprozess sei an sein vorläufiges Ende gekommen: Erst die Abschaffung der Herrschaft der Klassengegensätze und der Konkurrenz könnten auf die nächst höhere Stufe führen. Ihren bis hierher strikt ökonomistisch erscheinenden Standpunkt relativiert Zetkin jedoch: »Die Lebensverhältnisse der Familie wurden nicht mehr überwiegend vom individuellen Willen des Familienoberhaupts bestimmt, sondern in letzter Linie durch die Machtverhältnisse, der der gesammten Wirthschaftslage draußen im sozialen Leben, die ihrerseits von den politischen Ereignissen und Zuständen beeinflußt wurden.« 45 Mehrere Bemerkungen zu dieser Passage erscheinen wichtig. Zum einen die Formel davon, dass die Lebensverhältnisse »in letzter Linie« von Macht- und Wirtschaftsverhältnisse bestimmt seien. Diese Formulierung wurde in ähnlicher Form von Friedrich Engels gebraucht, um deutlich zu machen, dass es eben nicht die ökonomischen Verhältnisse sind, die direkt und unmittelbar auf den Lebens42
Ebd.: 15. Auch hier nimmt Zetkin Motive aus dem Manifest auf (vgl. Marx/Engels [1848] 1960: 463f.)
43
Die wirtschaftliche Dynamik nach der Überwindung der Krise der 1870er Jahre war nicht nur in den europäischen Kernländern der Industrialisierung von hoher Dynamik geprägt, sondern auch nicht zuletzt durch internationale Arbeitsmigration und Handelsbeziehungen von einer starken internationalen Verflechtung: »Erst seit den 1990er Jahren haben internationale Kapitalmärkte wieder eine vergleichbare Integration wie in den Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg erreicht.« (Pfister 2012: 13).
44
Zetkin (1889: 7f.).
45
Ebd.: 17.
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vollzug der Menschen durchschlagen.46 Ohne mit Sicherheit feststellen zu können, ob Zetkin zu jener Zeit diese Passage Engels’ kannte, wird deutlich, dass sie eine analoge Bedeutung im Sinn hat. Zum anderen ist festzuhalten, dass die ökonomischen Verhältnisse als auch von Politik beeinflussbar dargestellt werden, wenn sie schreibt, dass die Wirtschaftslage von den politischen Ereignissen und Zuständen beeinflusst werde. Der Ökonomismus muss also – auch wenn das in der Frauenfrage nicht ausgebreitet wird – als prinzipiell relativer betrachtet werden. Drittes ist zu notieren, dass Zetkin dem individuellen Willen des männlichen Familienoberhauptes eine nicht zu vernachlässigende Bedeutung zuschreibt. Auch wenn dieser Wille nicht überwiegend die familiären Verhältnisse präge, so habe er doch immer noch einen Einfluss. Auf die pädagogischen Implikationen dieser Entwicklung ist später einzugehen. 47 Die, oben nur kurz erwähnte, moralische Argumentationsgrundlage der Frauenfrage erschließt sich aus ihrer Bewertung der bestehenden Gesellschaft und der Stellung der Frau in ihr, die Zetkin als »ausgebeutet«, »rechtlos« oder »abhängig« bezeichnet. Empörend ist das für Zetkin, weil sowohl die inneren Anlagen der Frau als auch die ökonomischen Verhältnisse anderes ermöglichen würden. Zusammenfassend: Für Zetkin bestimmen die ökonomischen Verhältnisse eine Gesellschaft. Gleichzeitig bestünden aber Vorstellungen, die das Erkennen und Verändern dieser Verhältnisse erschweren und ein falsches Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit erzeugen würden. Das Leben der Menschen erscheint in der Frauenfrage als von zwei aufeinander verwiesenen, aber zeitlich asynchronen Sphären geprägt: der ökonomischen und der gesellschaftlichen. Die ökonomische Sphäre entwickle sich gemäß ökonomischer Gesetze, die die Qualität von Naturgesetzen hätten. Die gesellschaftliche Sphäre folge hingegen einer Machtlogik, die darauf aus sei, historisch überkommene Besitzstände und Positionen zu wahren. Hier haben, wie später zu zeigen sein wird, die pädagogischen Bemühungen anzusetzen. Neben dem eben beschriebenen spielt eine weitere so46
Vgl. Engels ([1878] 1975 : 25).
47
An dieser Stelle sind auch erste Verweise auf die pädagogischen Elemente des Gesellschaftlichen angebracht, auch wenn sie erst weiter unten (S. 173-151 dieser Arbeit) zu analysieren sind: »Die materiellen Verhältnisse haben also in den oberen wie den niederen Schichten die gleiche Tendenz bethätigt: sie haben die Erziehung der Kinder der Mutter aus den Händen genommen, die Erziehung ist in der Hauptsache nicht mehr das Werk und die Aufgabe der durch Familienbande verknüpften Perso nen, sondern von außer der Familie Stehenden, auch oft außer ihr Lebenden.« (Zetkin 1889: 25).
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ziale Ebene eine Rolle, die nicht die gesamte Gesellschaft umfasst, sondern nur einen Teil von ihr: die Klasse des Proletariats. In gewisser Weise handelt es sich beim Proletariat um den Dreh- und Angelpunkt der von Zetkin geforderten pädagogischen Bemühungen. 7.4.2 Der Weg in die neue, sozialistische Gesellschaft In der sozialen Theorie der Frauenfrage gilt die Ökonomie als ›in letzter Linie‹ bestimmende Größe des Gesellschaftlichen und des Ideologischen. Sie bestimme auch die Herausbildung von Klassen. Dabei spalte ein vermeintlicher Geschlechtergegensatz das Klassenbewusstsein und damit auch die Arbeiterbewegung. Der Kampf gegen diese ideologisch instrumentalisierte Spaltung steht für Zetkin an vorderster Stelle und müsse von Sozialistinnen und Sozialisten geführt werden. Dieser Kampf zielt aber nicht auf die ökonomische Integration der Frauen (die ja als gegeben angesehen wird), auch nur mittelbar auf die Integration der Frauen in die Gesellschaft, sondern auf die Integration der Frauen des Proletariats in die sozialistische Bewegung. Damit sind zwei Gemeinschaftsebenen angesprochen: Die proletarische und die sozialistische. Beide sind nur partiell deckungsgleich. Die Herausbildung eines sozialistisch-proletarischen Klassenbewusstseins sei die zentrale Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei: Mit Bezug auf – auch sozialistische – Stimmen, die sich gegen Frauenarbeit wenden und dies mit Argumenten unterstützen, die vor allem auf die vermeintliche Natur der Frau aber auch – vorzüglich bei Gewerkschaftern – auf die Lohndrückung durch Frauenarbeit anheben,48 schreibt Zetkin: »Will man den üblen, verhängnißvollen Folgen vorbeugen – oder dieselben wenigstens mildern – von denen die Frauenarbeit in der Gegenwart wie das Licht vom Schatten begleitet ist, so darf man die Interessen der männlichen und weiblichen Arbeit einander nicht feindselig gegenüberstellen, sondern man muß beide mit einander vereinen und in geschlossener Masse, als Arbeiterinteressen überhaupt, den kapitalistischen Interessen ge genüberstellen.«49
Dieses Zitat kann als eine Schlüsselstelle des gesamten Textes angesehen werden. Mehrerlei wird hier deutlich. So spricht Zetkin von den Folgen der Frauenarbeit und meint: Lohndrückung, Arbeitslosigkeit unter Männern etc. Für Zetkin aber sind das keine Tatbestände, die abgeschafft werden könnten, wenn die Frauenarbeit aufhören würde, sondern Folgen einer kapitalistischen Wirtschaft. Das 48
Vgl. Fußnote 8 auf S. 155 dieser Arbeit.
49
Zetkin (1889: 13).
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sei aber nicht auf den ersten Blick so erkennbar. Daher müsse theoretische und praktisch-organisatorische Arbeit geleistet werden, um diesen Zusammenhang einsichtig zu machen und die scheinbaren Gegensätze, Frauenarbeit – Männerarbeit, nicht als unterschiedlichen Interessen dienend, sondern als Gemeinsames den ›kapitalistischen Interessen‹ gegenüber zu stellen. Dazu sei Organisation und Aufklärung nötig: »Soll sich aber die Industrialisirung der Frau nicht in einen feindseligen Gegensatze zu den Interessen des männlichen Proletariats durchsetzen, so ist es von der höchsten Wich tigkeit, daß die Industriearbeiterin organisirt [Herv. i.O.], ökonomisch und politisch aufgeklärt [Herv. i.O.] wird, damit sie sich in klarer Kenntniß der Verhältnisse an das aufstrebende und ringende sozialistische Proletariat anschließt.« 50
Organisation und Aufklärung – auf die pädagogische Bedeutung der Begriffe wird noch einzugehen sein, sind die zentralen Aufgaben – man kann sie als Gemeinschaftsbildung oder Proletariatsbildung zusammenzufassen. Und so taucht bei Zetkin – ohne dass sie es explizit thematisiert – das Problem der ›Klasse an sich‹ und der ›Klasse für sich‹ auf.51 Die Situation des Proletariats charakterisiert Zetkin dabei so: »Das Proletariat ist zwar dem Namen nach, mehr oder weniger unvollkommen, für politisch frei erklärt, aber in der Folge seiner wirthschaftlichen Abhängigkeit entbehrt es der Macht, die gesellschaftlichen Beziehungen nach seinem Interesse zu gestalten.«52 Dem »Namen nach« sei das Proletariat politisch frei, für Zetkin wohl deshalb, weil seit 1869 im Norddeutschen Bund und ab 1871 im Deutschen Reich das allgemeine Wahlrecht für Männer galt. Für Frauen wurde es bekanntlich erst durch die Novemberrevolution 1918 eingeführt. Es ist interessant zu vermerken, dass die Forderung nach dem Frauenwahlrecht an dieser Stelle keine Rolle 50
Ebd.: 14.
51
Auf dieses Problem verweist schon Marx im Elend der Philosophie: »Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Pha sen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen« (Marx [1847] 1960: 180f.). Zetkin folgt dieser Argumentation, indem auch für sie die Arbeiterklasse nicht einfach da ist, sondern sich erst im gesellschaftlichen Kampf herausbildet.
52
Zetkin (1889: 15).
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spielt. Zetkin geht es stattdessen um eine Integrationsleistung für die sozialistische Bewegung: Dieser soll sich die Frau anschließen, da sie »nur von der so zialistischen Partei etwas [für ihre Emanzipation, R.P.] zu erwarten hat.« 53 Das Soziale wird also in der Frauenfrage auf mehreren Ebenen verhandelt: Grundlegend ist dabei die Ebene der Ökonomie, die sich nach quasi-naturgesetzlichen Regeln entwickle. Ihr entspräche die Gesellschaft, deren Strukturen sich nach den Erfordernissen der Ökonomie richteten, in der aber auch andere, nichtökonomische Prozesse und Akteure eine Rolle spielten. Aufgrund der herrschenden kapitalistischen Phase ökonomischer Entwicklung spalte sich die Gesellschaft zunehmend in zwei Klassen, die der Arbeiter und Arbeiterinnen und die der Kapitalisten, während die Spaltung der Gesellschaft in Männer und Frauen, zumindest im Proletariat, durch die Proletarisierung der Frau tendenziell aufgelöst werde. Dennoch bestünden auf der gesellschaftlichen Ebene immer noch Frauen diskriminierende, archaische Strukturen. Da aber die Strukturen der Gesellschaft sich nicht naturgesetzlich entwickeln würden, sondern nur mit Mitteln der politischen Auseinandersetzung zu ändern seien, ist die Gesellschaft für Zetkin das Terrain, auf dem sich die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu bewähren habe. Welche Rolle dabei ›Brüderlichkeit‹ und ›Solidarität‹ spielen, wird im Folgenden diskutiert.
7.5 B RÜDERLICHKEIT
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Das Wort ›Brüderlichkeit‹ findet sich in der Frauenfrage nicht. Zetkin spricht, dem neueren Sprachgebrauch der Sozialist*innen folgend, von ›Solidarität‹. Dabei gibt es drei Facetten der Bedeutung des Wortes in ihrem Text. Erstens taucht ›Solidarität‹ im Umfeld einer emotionalen Bedeutung, zweitens auf einer rationalen, den Verstand adressierenden Ebene auf, drittens wird ihr eine handlungsbezogene Bedeutung zugesprochen. Schon am Beginn ihres Textes spricht Zetkin vom »mangelnden Solidaritätsgefühl«54 der Frauen, welches sie zu leicht ausbeutbaren Arbeiterinnen mache. ›Solidarität‹ als Gefühl meint sie auch, wenn sie von der Notwendigkeit einer neuen emotionalen Orientierung unter den Frauen schreibt: »[…] an die Stelle der einseitigen, engherzigen, tief egoistischen Familienliebe muß das allgemeine Solidaritätsgefühl treten, das der Frau jetzt so sehr mangelt.« 55 Aus dieser kurzen Sequenz lassen sich etliche der Qualitäten, die das Solidaritätsgefühl auszeich53
Ebd.: 40.
54
Ebd.: 10.
55
Ebd.: 21.
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nen soll, gewinnen: So stellt Zetkin die Familienliebe dem Solidaritätsgefühl gegenüber. Beide scheinen sich gegenseitig auszuschließen, denn das Solidaritätsgefühl soll die Familienliebe ersetzen. Die Familienliebe wird als einseitig, engherzig und egoistisch beschrieben, das Solidaritätsgefühl hingegen als allgemein. – Bilden wir in Fortführung des zetkinschen Gedankenganges, der Familienliebe und Solidaritätsgefühl als sich widersprechend betrachtet, Gegensatzpaare zu diesen Adjektiven, kommen wir zur weiteren Qualifikation des Solidaritätsgefühls als mehrseitig (statt einseitig), offenherzig (statt engherzig) und altruistisch/gemeinschaftsbezogen (statt egoistisch). Das Stilmittel der kontrastierenden Gegenüberstellung von ›Familienliebe‹ und ›Solidarität‹ greift sie im Fortgang des Textes auf: »So stark entwickelt bei der Frau die Familienliebe ist, so ärmlich verkümmert erweist sich bei ihr die gesellschaftliche Solidarität.«56 Hier können wir eine weitere Bestimmung des Solidaritätsbegriffs gewinnen: Es handelt sich um etwas, das auf Gesellschaft – im Gegensatz zur Familie gerichtet ist. Die Rede von der Verkümmerung aber lässt sich so interpretieren, dass ›Solidarität‹ eben nicht völlig neu geschöpft, sondern – als zu entwickelnde Anlage – schon vorhanden sei und eben nur entwickelt werden müsse. Der konstruierte Widerspruch aber zwischen Familienliebe und Solidaritätsgefühl muss auch auf einer gemeinsamen Qualität beruhen, sonst könnten sie sich nicht ausschließen. Es muss sich also um unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Modi eines allgemeineren Gefühls handeln. Mit der Vokabel der Liebe spricht Zetkin dies an. Es liegt nahe, dass Liebe hier nicht die romantisch und sexuell aufgeladenen Gefühle zwischen Menschen meint, sondern ein Gefühl der Zuneigung, des Zusammengehörens. Neben dieser, das Emotionale betonenden, Verwendung des Solidaritätsbegriffs findet sich aber auch noch eine zweite, ein wenig anders konnotierte Bedeutungsebene: »Von allen Frauenkreisen zeigen gerade die sogenannten unteren Schichten die relativ höchste moralische Entwicklung im modernen Sinne, sie sind am nächsten daran, den Begriff der Solidarität zu fassen und zu üben sowie alle neuen sozialen Tugenden überhaupt.«57 Hier ist ›Solidarität‹ kein Gefühl, sondern eine soziale Tugend, deren Voraussetzung offensichtlich das Erreichen einer gewissen – »höchsten« – moralischer Entwicklung ist. ›Solidarität‹ als soziale Tugend bedeutet, dass sie eine auf die Gesellschaft gerichtete Tugend ist. Diese Tugend könne begriffen (»den Begriff der Solidarität zu fassen«), also auf einer intellektuellen Ebene verstanden werden. Sie müsse aber auch tätig ausgeführt werden (»zu üben«). Voraussetzung 56
Ebd.: 36.
57
Ebd.
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sowohl des Verstehens wie der Praxis sei eine entsprechende moralische Entwicklung, die Zetkin unter den Frauen vor allem den unteren sozialen Schichten zuerkennt. Soweit zu den unmittelbar im Umfeld des Wortes vorkommenden Bedeutungsgehalten. Stellt man die Frage, wozu ›Solidarität‹ nötig sei, finden sich im Text einige Begründungsstrukturen, die der begrifflichen Fassung der ›Solidarität‹ weitere Bedeutungen hinzufügen können. So fasst Zetkin eine Anforderung sozialistischer politischer und pädagogischer Bestrebungen (in einem oben schon im anderen Zusammenhang verwendeten Zitat) wie folgt zusammen: »Will man den üblen, verhängnißvollen Folgen vorbeugen – oder dieselben wenigstens mildern – von denen die Frauenarbeit in der Gegenwart wie das Licht vom Schatten begleitet ist, so darf man die Interessen der männlichen und weiblichen Arbeit einander nicht feindselig gegenüberstellen, sondern man muß beide mit einander vereinen und in geschlossener Masse, als Arbeiterinteressen überhaupt, den kapitalistischen Interessen ge genüberstellen.«58
Für die Begründung von ›Solidarität‹ bekommt der Interessenbegriff eine konstitutive Bedeutung. Dieser ist durch pädagogische Arbeit ins Bewusstsein zu heben. Es bedürfe einer didaktischen Darstellung, in der die »Interessen der männlichen und weiblichen Arbeit einander nicht feindselig« gegenübergestellt würden. Diese Darstellung müsse das Bewusstsein der gemeinsamen proletarischen Interessen wecken, um sie den kapitalistischen Interessen gegenüber zu stellen. Die Formung eines gemeinsamen Bewusstseins – Identitätsbildung – erscheint nötig: So gäbe es zwar männliche und weibliche Interessen, welche aber – so lässt sich das Zitat interpretieren – nur scheinbar oder vorläufig gegensätzliche Interessen seien, denn sie könnten unter ein Gemeinsames: das ›Arbeiterinteresse‹ subsumiert werden, welches dem kapitalistischen Interesse gegenüber stünde. ›Solidarität‹ kommt hier ins Spiel, sowohl auf der emotionalen Ebene im Hinblick auf das Zusammenhanggefühl im Proletariat als auch auf der kognitiven, als Einsicht in die Zugehörigkeit zum Proletariat und damit zur selben Interessengemeinschaft. Wenig später betont Zetkin dies nochmals: »Soll sich aber die Industrialisirung der Frau nicht in einen feindseligen Gegensatze zu den Interessen des männlichen Proletariats durchsetzen, so ist es von der höchsten Wich tigkeit, daß die Industriearbeiterin organisirt [Herv. i.O.], ökonomisch und politisch aufgeklärt [Herv. i.O.] wird, damit sie sich in klarer Kenntniß der Verhältnisse an das aufstrebende und ringende sozialistische Proletariat anschließt.« 59 58
Ebd.: 13.
59
Ebd.: 14.
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Auch hier wird deutlich: Wenn es nicht zum von Zetkin angemahnten Zu sammenwirken der männlichen wie weiblichen Teile des Proletariats komme, werde sich die Arbeitstätigkeit der Frau »in einem feindseligen Gegensatze« zu den Interessen der Arbeiter umsetzen. Um dies zu verhindern, müsse der Idee vom geschlechterpolitischen Gegensatz die des Gegensatzes von Kapital und Arbeit entgegengesetzt werden; an dieser Konfliktlinie richtet sich ›Solidarität‹ in der Frauenfrage aus. Von Bedeutung für einen systematisch-pädagogischen Zusammenhang ist die Reihenfolge der im Zitat gemachten Aufzählung: zuerst (politische) Organisation, dann (pädagogische) Aufklärung, schließlich (politischer) Anschluss ans kämpfende Proletariat. Erst die Organisation der Arbeiterinnen ermöglicht ihre Schulung. Wobei wir vor das Paradox gestellt werden, dass die Organisation der Arbeiterinnen schon eine Spur eines gemeinsamen Bewusstseins voraussetzt, ohne welches die Organisation nicht möglich wäre. Warum sollten sich die Frauen denn organisieren lassen? Dieser scheinbar noch fehlende Kern kann – zeitgenössisch marxistisch – mit dem ›objektiven‹ Klasseninteresse bezeichnet werden, das auch für Zetkin alle Arbeiterinnen und Arbeiter teilen.60 Aufklärung sei dennoch nötig, um die durch die bürgerliche Gesellschaft geschaffenen Ideologeme aus den Anschauungen der Frauen zu entfernen und sie zur Einsicht in ihre ›wahren‹ Interessen zu bewegen und zum Klassenbewusstsein, aus dem heraus sie sich dem sozialistischen Proletariat anschließen sollten. Aufklärung meint alte Ansichten zu verlernen, nach denen sich Frauen und Männer nicht als Mitglieder der Arbeiterklasse ansehen und eben diese Identitätszuschreibung für sich selbst zu übernehmen. Organisation und Aufklärung seien aber kein Selbstzweck. Sie sind für Zetkin strategisch notwendig: »Eine sozialistische Bewegung, die nicht nur von dem männlichen Proletariat, sondern von den Millionen der Industriearbeiterinnen getragen wird, muß doppelt schnell zum Sieg, zur politischen und wirthschaftlichen Befreiung der gesamten Arbeiterklasse führen.«61 Hier findet sich die letztendlich im politischen und sozialen Interesse der Arbeiterklasse liegende Begründung von ›Solidarität‹: Der Sieg im Klassenkampf. Zusammenfassend kann der Bedeutungsgehalt des in der Frauenfrage vertretenen Solidaritätsbegriffs so beschrieben werden: Der Begriff der ›Solidarität‹ setzt sich aus drei Komponenten zusammen: Er ist Ausdruck einer Gefühlsquali60
Das Interesse der Arbeiter ist in der marxistischen Theorie nicht persönlich begrün det, sondern resultiert, aus der Beziehung zwischen Kapital und Arbeit und der daher den Arbeitern zugewiesenen Position als Verkäufern ihrer Arbeitskraft. (Vgl. u.a. Marx/Engels [1845/1846] 1978: 75; Orth 1982: 341-344).
61
Zetkin (1889: 14).
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tät und eine, aufgrund kognitiver Einsicht in das, aus der sozialen Position resultierende, eigene Interesse und aus dieser begründeter moralischer Entwicklung, tätig ausgeübten Tugend. ›Solidarität‹ richtet sich in Verbundenheit an einen weiteren – gesellschaftlichen bzw. gemeinschaftlichen – Zusammenhang und grenzt sich in diesem Sinne vom nur-familiären Verhältnis ab. Obgleich die Anlage zur ›Solidarität‹ von Zetkin vorausgesetzt wird, könne und müsse sie gefördert werden, da sie wichtiges Mittel zur Bildung eines proletarischen, Männer und Frauen vereinigenden, Bewusstseins des Klasseninteresses der Arbeiter und Arbeiterinnen sei. ›Solidarität‹ solle zum Anschluss der Frauen an die sozialistische Bewegung führen und so deren Sieg im Kampf gegen kapitalistische Interessen beschleunigen.
7.6 P ÄDAGOGIK Pädagogik wird in der Frauenfrage in zwei Perspektiven thematisiert. Ein Fokus richtet sich auf Frauen als Objekte und als Subjekte pädagogischer Bemühungen. Der andere Fokus richtet sich auf Kinder als Adressaten pädagogischen Handelns. Da sich die pädagogischen Vorstellungen, die sich an diesen beiden Gruppen konkretisieren, zum Teil bedeutend unterscheiden, sollen diese beiden Gruppen als Ankerpunkte der Interpretation genutzt werden, um zum Abschluss dieses Kapitels das Gemeinsame der pädagogischen Vorstellungen darlegen zu können. 7.6.1 Diagnose und Kritik von Pädagogik Die Diagnose der pädagogischen Situation findet sich auf zwei Ebenen: Eine bezieht sich auf die Einrichtungen, die explizit zur Steuerung von Lernprozessen etabliert wurden; die andere bezieht sich auf den pädagogischen Charakter der Gesellschaft selbst. Die bestehenden pädagogischen Institutionen klassifiziert Zetkin als Einrichtung zur herrschaftssichernden Lernsteuerung. Sie bestünden, um das Urteil des Arbeiters »über die sozialen Beziehungen zu fälschen, es so zu gestalten, daß es nicht der Wirklich keit und seinem eigenen Interesse entsprach, sondern nur dem Vortheile der bürgerliche Machthaber, der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse. Kirche, Schule, Presse und sonstige sogenannten Bildungsanstalten erwiesen sich in der Hand des Klassenstaats als treffliche Instrumente, das Proletariat zu blenden und zu täuschen.« 62 62
Ebd.: 16.
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Zetkin weist hier auf die pädagogische Funktion von Einrichtungen, die später als ideologische Apparate prominent und ausführlich, beispielsweise von Louis Althusser63, analysiert wurden, aber schon unter den Sozialisten ihrer Zeit Allgemeinplätze waren.64 Kirche, Schule und Presse müssten als das Lernen der Proletarier und Proletarierinnen beeinflussende bzw. steuernde Institutionen kritisiert werden, als pädagogische Institutionen, die zum Ziel hätten, das Erlernen bestimmter Einsichten zu verhindern und dafür andere, ›falsche‹, Ansichten zu erwerben, um so die Vorteile »der bürgerliche[n] Machthaber« zu sichern. Anders als in späteren Texten werden von der Autorin keine Heilserwartungen in die bestehenden pädagogischen Institutionen gelegt. Es sei erst der Klassenstaat abzuschaffen, wenn von den Bildungsinstitutionen etwas erwarten werden solle. Der Begriff des Klassenstaates setzt voraus, dass es zwei Dinge gibt: mehrere Klassen und einen Staat. Nun gäbe es sicher mehrere Definitionsmöglichkeiten, die außen vor gelassen werden können. Zetkin – auch wenn sie den Namen Marx nirgends verwendet – nutzt popularisierte marxsche Kategorien, und in diesem Sinne muss der Begriff des Klassenstaates als Staat, in dem die Bourgeoisie die herrschende Klasse ist, interpretiert werden. Obwohl die von den Institutionen des Klassenstaates geprägten Lernprozesse für Zetkin in eine falsche Richtung gehen, attestiert sie ihm immerhin, dass er basale vor-pädagogische Leistungen böte: »Volkskinderbewahranstalten[ 65] und Volksschulen bieten zwar den Kindern keineswegs, was sie bieten sollten, und sie werden es im Klassenstaate auch nie bieten, allein für die Proletarierin ist schon das eine von Bedeutung: die Aufsicht, behufs Verhütung des gröbsten Schadens.« 66 Ohne dass Zetkin in diesem Text darlegt, was die genannten pädagogischen Einrichtungen »bieten sollten«, aber eben im »Klassenstaat« nicht bieten können, lehnt sie dessen Einrichtungen nicht völlig ab, sondern billigt ihnen in der klassenlosen Gesellschaft durchaus eine Funktion zu. Wie diese – institutionell – 63
Vgl. Althusser (2010: 54f.; 2010: 65f.).
64
So auch in Wilhelm Liebknechts Vortrag Wissen ist Macht – Macht ist Wissen (1872), in dem er aber auch die Kaserne als pädagogische Einrichtung zur ideologi schen Absicherung bürgerlicher Herrschaft betrachtet (vgl. Liebknecht [1872] 1968).
65
›Volkskinderbewahranstalten‹ nannte man im 19. Jahrhundert vorschulische Einrichtungen, die, der Name sagt es, der Betreuung von Kleinkindern lohnarbeitender El tern in den Städten dienten. Sie sind nicht mit den ›Kindergärten‹ nach Friedrich Wilhelm Fröbel zu verwechseln. Arbeitete man in diesen nach Fröbels pädagogischer Konzeption, waren die Bewahranstalten oft von verschiedener, aber generell wenig pädagogischer Professionalität geprägt (vgl. Krecker 1966; Günther/Hofmann/Hohendorf/König/Schuffenhauer 1987: 254f.).
66
Zetkin (1889: 26f.).
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aussehen soll, beschreibt sie zwar nicht, doch finden sich im weiteren Verlauf des Textes Beschreibungen, wie eine sozialistische Pädagogik zu funktionieren habe, genauer: Welche Ziele sie haben und welche Wege sie gehen soll. Bevor darauf eingegangen werden kann, ist das pädagogische Wirken der Gesellschaft selbst zu thematisieren. Neben den pädagogischen Einrichtungen der Gesellschaft nämlich erziehe die Gesellschaft selbst; produziere die ihr notwendigen Erziehungs- und Bildungsformen bzw. lege die Bedingungen von Pädagogik fest. Die ökonomischen Prozesse sind für Zetkin – das ist wenig überraschend – die grundlegenden: »Indem also die neuen Produktionsbedingungen die Produktion der Gebrauchsartikel innerhalb der Familie vernichteten, ward auch der Boden für die Erziehung der Kinder innerhalb der Familie zerstört.« 67 Zetkin sieht in der ökonomischen Entwicklung die Basis der Veränderungen der Grundlagen des Pädagogischen. Vor der industriellen Revolution familienbasierte Ökonomie, also auch innerfamiliäre pädagogische Praxis; durch die industrielle Revolution gesellschaftliche Produktion und – wie im folgenden Zitat deutlich wird – Verlagerung der pädagogischen Praxis in die Gesellschaft: »Die materiellen Verhältnisse haben also in den oberen wie den niederen Schichten die gleiche Tendenz bethätigt: sie haben die Erziehung der Kinder der Mutter aus den Händen genommen, die Erziehung ist in der Hauptsache nicht mehr das Werk und die Aufgabe der durch Familienbande verknüpften Personen, sondern von außer der Familie Stehenden, auch oft außer ihr Lebenden.«68
Durch die gesellschaftlichen Veränderungen in der Produktionsweise, die die Frauen in den Arbeitsmarkt integrierten, würden sich die Voraussetzung der Erziehung gravierend ändern und damit die Form, die Erziehung annehmen könne. Diese unterscheide sich zwischen Proletarierfamilien, bürgerlichen und kleinbürgerlichen Familien beträchtlich: Die »Bourgeoisie-Dame« könne »trefflich ausgebildete Erzieher und Lehrer vom Fach wählen, deren Wirken ihre eigene Leistungsfähigkeit vielleicht weit in den Schatten stellt, die Kinder entwickeln sich unter günstigen Vorbedingungen.«69 Erzieher und Lehrer haben, so scheint es in diesem Zitat, weniger eine pädagogische Aufgabe im Sinne der Steuerung von Lernprozessen, vielmehr sollen sie die günstigen Vorbedingungen der kindlichen Entwicklung sicherstellen, meint: Entfaltung der inneren Anlagen, die die Maßgabe der Entwicklung darstellten. Für die proletarische Frau hingegen wehe ein ganz anderer Wind: »Der Erzieher ihrer Kinder heißt fast unvermeidlich: der 67
Ebd.: 27f.
68
Ebd.: 25.
69
Ebd.
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Zufall, die einzig konsequent auf ihre Entwicklung einwirkende Schule: die Noth.«70 Die Entwicklung des proletarischen Kindes werde von Zufällen bestimmt, planmäßige Einwirkung auf die Entwicklung sei nicht möglich, wodurch sich das Kind nicht so entwickeln könne, wie das bürgerlicher Eltern. Wirtschaftliche und materielle Not auf der anderen Seite wirkten als äußere gesellschaftliche Kraft beständig auf das proletarische Kind ein. Neben diesem Entzug der Kindererziehung aus dem Elternhaus stellten die neuen gesellschaftlichen Bedingungen zusätzlich die Frau selbst vor beachtliche Entwicklungs- bzw. Lernherausforderungen: »Die gesellschaftlichen Beziehungen bürden ihr neue und schwere Lasten auf, treffen sie in ihren innigsten Emp findungen, in ihrem Wünschen und Handeln.« 71 Im einzelnen werden diese neuen – öffentlichen – Beziehungen, die sich auf das Leben und Geistesleben der Frau auswirken, näher beschrieben, ohne dass sie für die Interpretation eine grö ßere Bedeutung hätten. 7.6.2 Ziel von Pädagogik Pädagogik lässt sich ohne Zielvorstellungen, an die das pädagogische Handeln gebunden ist, schwer denken. In der Frauenfrage lassen sich, vor dem Hintergrund der eben skizzierten Kritik an der bestehenden Pädagogik, drei Zieldimensionen identifizieren, die die intendierte Steuerung von Lernprozessen inhaltlich konkretisieren: Eine individuelle, eine politische und eine zeitliche. Das individuelle Bezugssystem pädagogischer Bemühungen sind für Zetkin die »Anlagen und Fähigkeiten«72 der Kinder, nach deren »Maßgabe« 73 diese sich entwickeln sollen. Sie bilden gleichsam den inneren Maßstab pädagogischen Handelns. Wird mit der Rede von individuellen Anlangen äußeren Beeinflussungsversuchen ein Riegel vorgeschoben, formuliert Zetkin an anderer Stelle einen stärker auf die Kinder zugreifenden Anspruch: »Ziel und Zweck der Erziehung ist, die Kinder zu Menschen in der vollen Bedeutung des Wortes zu formen.«74 Mit der Vokabel der Erziehung und dem, was sie an dieser Stelle als Erziehungsziel proklamiert, übersteigt Zetkin die uns methodisch auferlegte Begrenzung von Pädagogik als Steuerung von Lernprozessen; es geht ihr nicht nur darum, das eine oder andere zu lernen: Sie weist Erziehung eine geradezu schöpferische Potenz zu, nicht weniger als »Menschen in der vollen Bedeutung des 70
Ebd.
71
Ebd.: 18.
72
Ebd.: 17.
73
Ebd.
74
Ebd.: 31.
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Wortes« sollen entstehen. Allerdings bleibt unbestimmt, was denn diese Menschen seien. Erinnern wir uns an das oben rekonstruierte Menschenbild, so war der Mensch ein Ensemble aus verschiedenen Kräften, die – jede für sich – doch nur wenig pädagogisch beeinflussbar erschienen. Daher muss man diesen Satz wohl so verstehen, dass die »Formung« eher im Sich-Entwickeln-Lassen der Anlagen besteht. Es kann vermutet werden, dass die ›volle Menschwerdung‹ auch das Erziehungsziel für die Frauenbildung darstellt, doch findet sich ein derartiger Sprachduktus bei der Rede von den Frauen nicht. Hier wird stärker vom Ziel des freiwilligen und bewussten Anschlusses der Frau an das Proletariat gesprochen. Das politische Ziel erhält eine wesentlich stärkere Bedeutung: »Organisation und Schulung der Industriearbeiterinnen sind nicht nur der wichtigste Schritt, die Lage der Frau zu heben, sie sind auch ein bedeutender Faktor für den schnelle ren und stärkeren Fortgang der Arbeiterbewegung überhaupt und dadurch von größtem Einflusse auf eine rasche Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse.« 75
Notwendig erscheint beides: Organisation (als organisatorisch-politische Handlung) und Schulung (als pädagogische Handlung: nämlich externe Lernsteuerung) aus zwei Gründen, die als politische/soziale Zieldimensionen betrachtet werden können: Verbesserung der Situation der Frauen und Stärkung der Arbeiterbewegung mit der, aus dieser folgenden, »rasche[n] Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse.« Sowohl Organisation als auch Schulung können dabei als pädagogische Maßnahmen interpretiert werden: Beide dienen der Lernsteuerung. Organisation als Zusammenfassung von Frauen unter der Ägide der sozialdemokratischen Partei und damit Schaffung eines spezifischen Lernumfeldes. Schulung als systematische Vermittlung bestimmter zu erlernender Inhalte. Während bei der Behandlung der das Kind betreffenden Erziehungsziele dessen Anlangen bzw. ein allgemein-menschliches Ideal als bestimmendes Element erscheinen, finden die Frauen betreffenden pädagogischen Bemühungen ihre Legitimation nur zum Teil im Selbstwert der Frauen (ihre Lage soll freilich gehoben werden). Deren Bildung und Erziehung legitimiert sich hauptsächlich aus der strategischen Bedeutung der Frau für die Fortentwicklung der Arbeiterbewegung. In der Erziehung der Kinder ist dieses dezidiert strategische Motiv nicht impliziert. Vage werden auch die zeitlichen Koordinaten der Erziehung skizziert, ohne dass näher auf die logischen und inhaltlichen Probleme dieser Bestimmung ein75
Ebd.: 40.
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gegangen wird: »Die Kinder müssen für das Morgen, nicht für das Gestern her angebildet werden.«76 Damit ist ein Grundproblem benannt, das für jede Pädagogik in post-traditionalen Gesellschaften relevant und problematisch ist – die Erziehung zur Zukunft durch die Gestrigen. 77 Das Individuum kann und muss erzogen werden und zwar zur qua Definition unbestimmten Zukunft. – Wäre dies, also die unbestimmte Zukunft, auch die für Zetkin relevante Zukunftsvision würde der Satz wenig Sinn machen, denn wenn Erzieher nicht wissen, wie die Zukunft aussieht, könnten sie schlechterdings nicht zu ihr erziehen. Für Zetkin aber ist die Zukunft nicht unbestimmt: Das Bild der Zukunft ist der Sozialismus. Damit wird das pädagogische Ziel der Zukunft teleologisch bestimmt und das Problem einer offenen Zukunft umgangen. Die Zukunft ist der Sozialismus und zu dem hin gilt es zu erziehen. Vermittelt man dies aber mit dem Anspruch, die inneren Anlagen des Kindes seien Maßgabe der Erziehung, so kommen wir zu dem Satz: Erziehung heißt, im Hinblick auf eine Zukunft die inneren Anlagen des Kindes zur Entfaltung zu bringen, da die künftige sozialistische Gesellschaft eben voll entfalteter eigenständiger Personen bedarf.78 76
Ebd.: 38.
77
Im feudalistischen Europa und den entsprechenden, bis in das 19. Jahrhundert wirkenden, an ständischen Gesellschaften orientierten pädagogischen Konzepten spielte Zukunft lediglich eine Rolle als Zeit, in die die Tradition der Vergangenheit weiter zu geben war. Pädagogik hatte die Aufgabe, die nachwachsende Generation in tradierte kulturelle und soziale Muster einzufügen. Immanuel Kant formulierte, auch wenn er an der Erziehungsaufgabe der intergenerationalen Kulturweitergabe festhielt (Kant [1803] 1923: 446), das neue Paradigma, dem hier auch Zetkin folgt, in seiner Schrift Über Pädagogik, als er schrieb: »Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger besserer Zustand dadurch hervorgebracht werde.« (ebd.: 447).
78
Zetkin entwickelt diesen Gedanken später mit Modifikationen weiter. Unter anderem legt sie stärker Wert auf die Erziehung in der Familie, die ihr in der Frauenfrage eher problematisch erscheint und vertritt die Meinung, dass sowohl die familiäre Er ziehung, wie die öffentliche (schulische) Erziehung je spezifische Ziele haben: »Elterliche Erziehung und öffentliche Erziehung lösen einander nicht ab, sondern vervollständigen sich. Wir können der elterlichen Erziehung im Heim nicht entraten, auf daß die Kinder zu starken Persönlichkeiten von ungebrochener Eigenart erwachsen. Wir bedürfen der gemeinsamen Erziehung in öffentlichen Anstalten, damit die Persönlichkeit nicht zum Individualitätsprotzen entartet, damit sie in brüderlicher Empfindung und Gesinnung mit allen, mit der Allgemeinheit verbunden bleibt und alles begreift, was sie ihr verdankt und was sie ihr schuldet.« (Zetkin 1904: 16).
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7.6.3 Methoden der Pädagogik 7.6.3.1 Akteure Neben den Fragen des Wozu? der Pädagogik wird in der Frauenfrage auch die Frage des Wer? der Pädagogik gestellt. Wer handelt pädagogisch und wer ist Adressat dieses Handelns? In diesem Sinne Objekte pädagogischer Bemühungen sind, das wurde oben deutlich: Kinder und Frauen (implizit aber auch Männer). Als pädagogische Subjekte tauchen im Text Frauen, professionelle Pädagogen und Pädagoginnen und die Gesellschaft auf: »Die Mutter ist die ›natürliche‹ (d.h. durch die natürliche Beziehung zwischen sich und dem Kinde bestimmte) Erzieherin und Pflegerin für das Säuglingsalter, die Stillungsperiode; nicht darüber hinaus. Aufgabe der Gesellschaft muß es sein, für diese Periode dem Kinde die Mutter zu erhalten und zu sichern, wie sie demselben schon vor der Geburt, während der Schwangerschaft in Gestalt und durch Vermittlung der Mutter die denkbar günstigsten Entwickelungsbedingungen zu schaffen hat. Hat das Kind aber einmal das Säuglingsalter hinter sich, so ist es für seine weitere Entwickelung an sich durchaus gleichgültig, ob dieselbe von der Mutter oder von einer dritten Person geleitet wird.« 79
Der Mutter werden weniger pädagogische Aufgaben im Sinne der Steuerung der kindlichen Lernprozesse zugeschrieben, sondern vielmehr die Aufgabe der ›Wartung‹ des Kindes im Sinne Kants80, bis es nach dem Abstillen nicht mehr physisch abhängig von seiner Mutter ist. Die Gesellschaft habe Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sie diese Aufgabe bestmöglich wahrnehmen könne. Die an dieser Stelle zum Ausdruck gebrachte Gleichgültigkeit darüber, ob nun die Mutter oder eine dritte Person die »weitere Entwicklung« des Kindes begleitet, entpuppt sich nur als vorbereitende Formulierung, denn wenig später radikalisiert Zetkin diese Behauptung.81 Zentral war der schon benannte Gedankengang, die ökonomische Entwicklung entziehe der Frau die ihr einst zugewiesenen innerfamiliäre pädagogische Funktion. Unabhängig von dieser ökonomischen Argumentation stellt Zetkin in Frage, ob die Frau überhaupt als Pädagogin qualifiziert ist und setzt dabei pole79
Zetkin (1889: 29).
80
Vgl. Kant ([1803] 1923: 441).
81
In den Interpretationen zum Frauenbild wurden schon etliche der im Folgenden zu behandelnden Fragen thematisiert, um Redundanzen vorzubeugen, werden oben schon behandelte Zitate hier nur dann noch einmal bearbeitet, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der pädagogischen Aufgabe der Frau neue Erkenntnisgewinne verheißen.
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misch bei biologistischen Standpunkten an, die die Mutterrolle naturalisieren: »Also die erste beste Gans – man verzeihe den Ausdruck – welche Mutter wird, erhält durch die bloße Geburt die magische Gabe, alle Aufgaben dieses schweren und folgereichen Berufs zu erledigen.«82 Dieser Ausgangspunkt, also die voraussetzungslose Zuschreibung erzieherischer Qualitäten an die Mutter, wird von Zetkin mit ihren Folgen konfrontiert, die die Unzulänglichkeit dieser Auffassung demonstrieren sollen. Diese Ergebnisse seien ein »guter Theil der körperlichen und geistigen Verkrüppelung der Jugend.«83 Die Auffassung von der Frau als natürlicher Erzieherin der Kinder sei daher »ihren Ergebnissen nach geradezu verbrecherisch!« 84 Frauen fielen aber nicht per se als Pädagoginnen aus. Obgleich einzelne Frauen durchaus eine »Begabung für den erzieherischen Beruf« 85 haben könnten, nütze diese doch nichts ohne die entsprechende Ausbildung und die sonst nötige »hohe und vielseitige Entwicklung.«86 Gerade in diesem Bereich aber attestiert Zetkin den Frauen enormen Nachholbedarf. Es gebe aber nicht nur keinen Grund, den Frauen die Erziehungsfunktion bedingungslos zuzuschreiben, sondern auch Gründe, die explizit dagegen sprächen: Diese werden sozialgeschichtlich begründet: Die Geschichte der Frau als Unterdrückte führe, wie eingangs schon beschrieben, dazu, dass die »Frau nothwendiger Weise ein unvollkommen und einseitig entwickeltes Wesen« 87 sei. Das Fehlen einer vollen geistigen Entwicklung sei aber nicht irgendein Defizit, das freilich bedauerlich, aber nicht gefährlich wäre. Für Zetkin ist dieses Defizit eine pädagogische und politische Gefahr. Auf die pädagogische Gefahr wurde oben unter Hinweis auf die oft mangelhaften Ergebnisse der häuslichen Erziehung schon hingewiesen. Die politische Gefahr liege darin, dass die Frau »innerhalb der Familie und Gesellschaft ein reaktionäres Element«88 bilden würde. Reaktionär deshalb, weil ihre moralischen Vorstellungen »noch der Gesellschaftsordnung entsprech[en], in welcher die patriarchalische Familie ihre Berechtigung hatte.« 89 Statt ›Solidarität‹ zu üben – den moralischen Wert, der der neuen Zeit aufgrund ihres gesellschaftlichen Charakters entspricht – werde die Frau von ›Egoismus‹ beherrscht: »Das Weib, welches für die Ihren der größten Aufopferung fähig ist, 82
Zetkin (1889: 32).
83
Ebd.: 33.
84
Ebd.: 32.
85
Ebd.: 31.
86
Ebd.
87
Ebd.: 34.
88
Ebd.: 38.
89
Ebd.: 35.
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erweist sich der Gesellschaft gegenüber von oft geradezu brutalem Egoismus.« 90 Diese Ansichten leitet Zetkin aus den Sozialisationsbedingungen der Frauen ab: »Außerhalb des allgemeinen Lebens stehend, ohne Interesse und Betheiligung an den ge sellschaftlichen Vorgängen, sind ihr die neuen sozialen Tugenden fremd geblieben. So stark entwickelt bei der Frau die Familienliebe ist, so ärmlich verkümmert erweist sich bei ihr die gesellschaftliche Solidarität.«91
Die nicht von den Sozialdemokraten aufgeklärte Frau bilde eine Gefahr für den Klassenkampf und ein soziales Element, welches durch sein Beharren in den alten Denkmustern den gesellschaftlichen Fortschritt bremse. Gerade deshalb sei sie für den pädagogischen Umgang mit der nachwachsenden Generation ungeeignet. Sie würde ihren Kindern Lerninhalte zu vermitteln suchen, die die bestehenden Gesellschaftsstrukturen konservieren und nicht zu deren sozialistischer Veränderung beitragen.92 Mit Blick auf die damalige Lebenswirklichkeit stellt Zetkin fest, dass die wenigsten Frauen denn auch tatsächlich pädagogisch auf ihre Kinder einwirkten. Die Frauen der »oberen Zehntausend« delegierten die Erziehung an professionelle, »trefflich ausgebildete Erzieher und Lehrer vom Fach […], deren Wirken ihre eigene Leistungsfähigkeit vielleicht weit in den Schatten stellt« 93 und übten nur noch in den »seltensten Fällen« einen Einfluss aufs Kind aus. 94 Anders sehe es im Proletariat aus: »Das, was in der Großbourgeoisie der Ueberfluß bewirkt, das bringt in dem Proletariat die Noth zu Stande. Je geringer und unsicherer der Verdienst des Mannes wird, je mehr es ein eisernes Gebot der Nothwendigkeit ist, daß die Frau erwerbend auftritt, um die Existenz kosten der Familie decken zu helfen, um so weniger ist es ihr auch möglich, mit ihren Kindern zu leben, sich mit deren Erziehung zu befassen.« 95 90
Ebd.: 36.
91
Ebd.
92
Der Widerspruch zwischen der Frau als rückständigem Wesen, das durch seine gesellschaftliche Stellung von der Einsicht in die Notwendigkeit gesellschaftlicher Solidarität entfernt ist und der Frau als Wesen, das aufgrund eben dieser Stellung besonders Nahe am Begreifen eben der Notwenigkeit von Solidarität steht, bleibt bei Zetkin offensichtlich unvermittelt. Zetkin löst den Widerspruch in der Frauenfrage nicht auf.
93
Zetkin (1889: 25).
94
Ebd.: 24.
95
Ebd.: 24f.
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Diese Umstände führen dazu, dass für Zetkin die Möglichkeit personaler Erziehungsverhältnisse im Proletariat nicht gegeben ist. Für Bürgerliche und Proletarier gelte aber generell: »Die materiellen Verhältnisse haben also in den oberen wie in den niederen Schichten die gleiche Tendenz bethätigt: sie haben die Erziehung der Kinder der Mutter aus den Händen genommen, die Erziehung ist in der Hauptsache nicht mehr das Werk und die Aufgabe der durch Familienbande verknüpften Personen, sondern von außer der Familie Stehenden, auch oft außer ihr Lebenden.«96
Nachdem Zetkin darstellt, warum die – pädagogisch unausgebildete und politisch ungeschulte – Frau nicht unbefragt eine erzieherische Funktion ausüben könne, stellt sich die Frage nach der Alternative. Hier setzt Zetkin der Auffas sung von der natürlichen Erziehung durch die Mutter die These entgegen, dass »Erziehung ein Beruf wie jeder andere ist.«97 Statt die Erziehung mütterlichen Instinkten zu überlassen, solle »dieselbe zur Sache eines zielbewußten Wissens und Könnens«98 gemacht werden. Dabei gibt sie nur schematisch die Voraussetzungen des Erzieherberufs an: »Wie jeder andere Beruf hat sie [die Erziehung, R.P.] also zur Voraussetzung eines möglichst vollendeten Gelingens, daß der sie Ausübende, der Erzieher, natürliche Begabung für den Beruf, die nöthige technische Ausbildung und eine möglichst hohe und vielseitige Entwicklung überhaupt besitze.«99 Drei Eigenschaften müsse der Pädagoge haben, um die Aufgabe der Erziehung angemessen erfüllen zu können: Begabung zum Beruf, Ausbildung zum Beruf, vielseitig entwickelte Persönlichkeit. Es wird deutlich, dass sich dieser Anforderungskatalog mit der Zetkin’schen Diagnose der Situation der Frauen nicht deckt und Frauen nicht unbesehen Erziehungsaufgaben wahrnehmen sollten. Darüber hinaus müssten die Erzieher aber auch ein entsprechendes Weltbild haben, sie hätten »selbst voll und ganz auf dem Standpunkt der neuen Zeit« 100 zu stehen. Dass dieser Standpunkt der des Sozialismus ist, wurde oben schon erwähnt. Pädagogik ist in der Frauenfrage keine rein individuelle Einzelleistung, sondern ereignet sich in einem historisch gewachsenen, sozioökonomischen Kontext und der von ihm hervorgebrachten Ideenwelt. Die gesellschaftliche Entwicklung 96
Ebd.: 25.
97
Ebd. 30.
98
Ebd.: 33.
99
Ebd.: 30.
100 Ebd.: 38.
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hin zur Freisetzung von Mann und Frau in die Sphäre der gesellschaftlichen Produktion führe zu einer, oben schon beschriebenen, Freisetzung der Erziehung aus der Familie in die Gesellschaft: »Die Kindererziehung wird und muß aus der Familie in die Gesellschaft verlegt werden, sie wird und muß aus den Händen der Mutter in die von Pädagogen im weitesten Sinne des Wortes übergehen.« 101 Argumente, die den Entzug der Erziehungsaufgabe von den Frauen und deren Übergabe an Pädagog legitimieren, wurde an entsprechender Stelle schon benannt. Die oben skizzierte beruflich-professionelle Pädagogenrolle wird an dieser Textstelle aber etwas aufgebrochen, denn zum einen plädiert Zetkin dafür, die Erziehung in die Gesellschaft zu verlegen, zum anderen dafür, sie Pädagogen »im weitesten Sinne des Wortes« zu übergeben. Was bedeutet das? Der beschriebene Prozess vollzieht sich nicht nur, er vollzieht sich zwangsläufig (»wird und muß«). Dennoch bleibt das »muß« zweideutig: Bedeutet es, dass sich der Prozess gesetzmäßig-zwangsläufig vollzieht, oder bedeutet es, dass dieser Prozess normativ geboten fortgeführt werden müsse? Es liegt die Interpretation nahe, dass beides zutrifft: Das Vorhandensein eines, gleichsam bewusstlosen, ökonomischen Prozesses, der bewusst von der Gesellschaft aufgenommen und gestaltet werden müsse. Pädagogen im »weitesten Sinne des Wortes« sind eben nicht nur die unmittelbar auf das Kind erzieherisch einwirkenden Personen, sondern auch die Gestalter des sozialen Umfeldes, der »denkbar günstigen Entwicklungsbedingungen«. Hier kommt Gesellschaft als Pädagogin ins Spiel. Sie bekommt prä- und postnatale pädagogische Funktionen zugeschrieben, immerhin soweit, dass sie dem Kind gute Bedingungen des Aufwachsens garantieren soll. Wie diese Bedingungen im Konkreten inhaltlich auszusehen haben, bleibt im Text unbestimmt. 7.6.3.2 Formen und Methoden der Erziehung In der Frauenfrage tauchen, wie eben beschrieben, zwei sich unterscheidende Formen des Pädagogischen auf. Eine bezieht sich auf die Pädagogik der Kinder, die andere auf die Lernsteuerung der erwachsenen proletarischen Frau. 102 Wenden wir uns zuerst der Frage der auf Kinder bezogenen Pädagogik zu. So schreibt Zetkin: »Hauptsache ist nicht die mütterliche, sondern eine verständige und liebevolle Erziehung […].«103 Dies meint aber nicht, dass lediglich Zuneigung zum Kind die Erziehung lenken soll. Zusätzlich sei für Erziehung wichtig, 101 Ebd.: 28. 102 Die Erziehung proletarischer Männer spielt in Zetkins Text keine Rolle, was aber nicht so ausgelegt werden sollte, dass sie Männern generell die Erziehungsbedürftig keit abspricht. Vielmehr liegt der Schwerpunkt ihres Textes auf Frauen. 103 Zetkin (1889: 29).
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dass sie »sich auf Kenntniß und Beobachtung der Gesetze stützt, welche die Entwicklung des Kindes regeln.«104 Auf dieser rationalen Ebene liegt auch der Schwerpunkt des in der Frauenfrage vertretenen Pädagogikverständnisses.105 Weiter sei Erziehung, so Zetkin, »Sache eines zielbewußten Wissens und Könnens.«106 Dabei sei der Bezug auf der einen Seite auf das Kind wichtig, denn diese sollen sich nach »Maßgabe ihrer Anlagen und Fähigkeiten entwickeln.« 107 Auf der anderen Seite aber wären die äußeren, gesellschaftlichen Bedingungen ebenso wichtig, wie in der oben zitierten Textstelle deutlich wurde, die besagte, die Kinder sollten »für das Morgen, nicht für das Gestern« erzogen werden. Diese Erkenntnisse sind für Zetkin ein gewichtiges Argument gegen den »Naturberuf der Frau als Mutter und Erzieherin« und für die Anerkennung der Erziehungsaufgabe als professionellen und damit zu lernenden Beruf. Im Blick auf die Pädagogik der erwachsenen, proletarischen Frau benutzt Zetkin nicht das Wort »Erziehung«, sondern die Worte »Bildung«, »Aufklärung« und »Schulung«. Womit sie sich von den herrschaftlichen Konnotationen, die dem Erziehungsbegriff inne liegen, distanziert und einen anderen Modus des Pädagogischen adressiert. Dabei wird ein Bruch deutlich: Zu Beginn des Textes schreibt sie, dass »die Industriearbeiterin organisirt, ökonomisch und politisch aufgeklärt wird, damit sie sich in klarer Kenntniß der Verhältnisse an das aufstrebende und ringende sozialistische Proletariat anschließt.« 108 Hier herrscht noch stark ein vom Aufklärungsdenken bestimmter paternalistischer Duktus vor. Zentral erscheint die oben schon beschriebene Reihenfolge: (1.) Organisierung – (2.) Aufklärung – (3.) Anschluss an das sozialistische Proletariat. Fremdgesteuerte Gemeinschaftlichkeit wird als Voraussetzung der Aufklärung gesehen; Aufklärung als Voraussetzung des selbstbestimmten, vernünftigen Eintritts in die Solidargemeinschaft. In diesem kurzen Zitat wird besonders deutlich, dass es Zetkin bei der Pädagogik der Frauen explizit um Lernsteuerung, letztlich Verhaltenssteuerung geht: Die Frauen sollen organisiert werden, also innerhalb der sozialistischen Bewegung zusammengefasst, um ihnen so einen Rahmen zu verschaffen, in dem bestimmte Lernerfahrungen möglich werden. Sodann sollen sie aufgeklärt werden, was nicht viel anderes bedeutet, als ihnen ein bestimmtes, nämlich sozialdemokratisches Deutungswissen über wirtschaftliche und politische Zusammenhänge zu vermitteln. Zuletzt soll das so gelernte Wissen dazu führen, dass sich die Frauen bewusst am Kampf des sozialistischen 104 Ebd. 105 Vgl. auch S. 158f. dieser Arbeit. 106 Zetkin (1889: 33). 107 Ebd.: 17. 108 Ebd.: 14.
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Proletariats beteiligen. Dass Zetkin die Frau dann aber doch nicht gar so passiv vorstellt, wie dies das vorhergehende Zitat vermuten lässt, macht die folgende Textstelle deutlich: »Die politische und ökonomische Schulung kann die Frau nicht durch das Hinter-dem-Ofen-hocken erwerben, sie ist eine Folge der Belehrung, der Erfahrung und Beobachtung, die aus dem Leben gewonnen, und die sich die Frau bei ihrer großen Bildungsfähigkeit leicht aneignen wird.« 109 Zetkin adressiert also nicht nur Schulungen in der Form von Kursen oder Ähnlichem, sondern ein Erfahrungslernen, in welchem die Frau durch das Leben in der Gesellschaft sich selbst das nötige Wissen aneignen wird. Planmäßiger Unterricht scheint zwar nicht überflüssig, aber nebensächlich, da die »große Bildungsfähigkeit« der Frau sie von selbst zu den richtigen Erkenntnissen führen werde. Diesen Lernprozess stelle man sich freilich nicht als einfaches Spiel vor; es ist ein harter, schmerzvoller und gewalttätiger Prozess, wie in folgenden Worten deutlich wird: »Wie die Frauen mit ihrer produktiven Thätigkeit aus der Familie herausgeschleudert worden sind, so müssen sie auch mit ihrem Denken und Empfinden aus dem eng beschränkten Kreis der Häuslichkeit herausgerissen, sie müssen aus der Familie in die Menschheit verpflanzt werden [Herv. i.O.]. Die Frau darf sich nicht länger hinter den häuslichen Herd verkriechen, sie muß in der Gesellschaft leben, an die Stelle der einseitigen, engherzigen, tief egoistischen Familienliebe muß das allgemeine Solidaritätsgefühl treten, das der Frau jetzt so sehr mangelt.«110
Der gewaltförmigen Freisetzung der Frau aus der feudalen Hauswirtschaft in die kapitalistische Lohnarbeit korrespondiert das nicht minder gewaltförmige pädagogisch intendierte Handeln, das die Frau ins Bewusstsein ihrer Lage versetzen soll. Pädagogik im Hinblick auf die Frau hat so eine strukturelle Ähnlichkeit mit einer politischen Aktion, die durch die Konfrontation mit dem Neuen Lernen initiieren und solidaritätsstiftende Bildungserfahrungen ermöglichen soll.
7.7 G ESAMTSCHAU Bei der Zusammenfassung der Analyse der Frauenfrage unter der Perspektive der Fragestellung dieser Arbeit ergeben sich die folgenden Strukturen und Zusammenhänge zwischen ›Solidarität‹, Pädagogik und dem Sozialen: Grundlegend für das gesamte bei Zetkin deutlich werdende System ist die ›in letzter In109 Ebd.: 22. 110 Ebd.: 21.
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stanz‹ ökonomisch bedingte Gesellschaftlichkeit menschlichen Lebens. Da für Zetkin die ökonomische Entwicklung fortschrittlicher ist als die des gesellschaftlichen Lebens, sieht sie die Aufgabe der sozialistischen Bewegung darin, die gesellschaftlichen Zustände dem Stand der ökonomischen Entwicklung anzupassen, d.h. die Vergesellschaftung der Frau in der Produktion auch auf die Vergesellschaftung der Frau im sozialen Leben auszudehnen. Dieses Konzept erhält seine Struktur vor dem Hintergrund einer Gesellschaftsdiagnose, die davon ausgeht, dass es zwei analytisch zu trennende, aber miteinander verbundene Bereiche gibt: Den der Ökonomie und den der Gesellschaft. Während sich die Ökonomie quasi-naturgesetzlich entwickle und einen Status erreicht habe, in dem die große Masse der Menschen in die industrielle Produktion einbezogen sei und damit – gleichberechtigt – ihren Lebensunterhalt selbstständig verdienen könne, sorgten die gesellschaftlichen Verhältnisse dafür, dass diese Möglichkeit nicht realisiert werde. Diejenigen, die traditionell die Machtpositionen in der Gesellschaft inne hatten und die neuen Potentaten des Kapitals nutzen ihre Machtstellung dazu, die Arbeiter und Arbeiterinnen in Abhängigkeit und Elend zu halten. Daher sei es der Arbeiterklasse aufgegeben, diese gesellschaftlichen Strukturen zu überwinden und die durch die Kollektivierung der Arbeit geschaffene individuelle Selbstständigkeit auch auf die Sphäre der Gesellschaft auszudehnen. Die Anpassung der gesellschaftlichen an die ökonomischen Realitäten werde sich nicht automatisch vollziehen, sondern nur im Kampf der Arbeiterklasse, die damit zugleich ihr Interesse nach gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Befreiung verfolgt. Aus der Notwendigkeit dieses Kampfes heraus erhält ›Solidarität‹ ihre Begründung. ›Solidarität‹ wird dabei als Gefühl, als Überzeugung und als soziale Tugend gefasst. Das emotionale Element der ›Solidarität‹ besteht darin, das lediglich auf die Familie bezogene Gefühl der Zusammengehörigkeit durch ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Proletariat zu ersetzen. Damit einher geht die Überzeugung, die eigenen Interessen zu kennen und sie in eins zu setzen mit denen aller anderen Arbeiter und Arbeiterinnen. Das dritte Element des in der Frauenfrage rekonstruierten Solidaritätsbegriff stellt auf ihr Praktischwerden ab. ›Solidarität‹ wird als soziale, auf die Gesellschaft bezogene, Tugend gefasst, die sich inhaltlich an der Ausrichtung am Klassenkampf konkretisiert. Obgleich die Fähigkeit zur ›Solidarität‹ als Anlage im Menschen vorhanden sei und in gewissem Sinne aus der objektiven Klassenposition entspringe, seien Frauen, aufgrund ihrer historisch überkommenen Situation, immer noch in ›reaktionären‹ Gefühlen der Familienliebe befangen, die sie daran hinderten, tatsächlich solidarisch, also auf die Interessen der Arbeiterklasse bezogen, zu fühlen, zu denken und zu handeln.
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Hier kommt Pädagogik ins Spiel. Zetkin weist den Organisationen des sozialistischen Proletariats die dezidierte Aufgabe zu, proletarische Frauen zu organisieren und aufzuklären, um so die Reihen des Proletariats zu stärken und den Sieg im Klassenkampf schneller herbeizuführen. Dieser Sieg ist kein Ziel an sich, sondern wird auch mit den Interessen der Frauen an der Entwicklung ihrer bildsamen Persönlichkeit und mit dem Interesse der Kinder an einer möglichst vollständigen Entfaltung ihrer inneren Anlagen begründet. Die bestehende Klassenherrschaft hindere sie daran und müsse daher abgeschafft werden. Auf die Frauen bezogene Pädagogik zielt darauf, den Frauen Kenntnisse, Ansichten und Fähigkeiten zu vermitteln, um aktiv am Klassenkampf teilzunehmen. Dazu gebracht werden sollen sie nicht nur in kontrollierten Lernsettings (Schulungen), sondern auch durch ihren Einbezug ins gesellschaftliche Leben. Nur so könnten sie entsprechende Lernerfahrungen machen. Die Schulung erscheint als Verstärkerin des vom gesellschaftlichen Leben nahegelegten Erlernens von ›Solidarität‹. Auf der anderen Seite führt die Vergesellschaftung der Produktion und der Individuen (auch der Frauen) dazu, dass auch Erziehung vergesellschaftet wird. Sie werde nicht mehr im ungenügenden privaten Rahmen der – ineffizienten und unqualifizierten – individuellen, weiblich-häuslichen Erziehung verharren, sondern von berufsmäßig professionellen Erzieher und Erzieherinnen durchgeführt werden. Dies sei die Pflicht der Gesellschaft gegenüber dem Individuum, welches durch seine gesellschaftliche Rolle in der Produktion der Gesellschaft seinen Teil beiträgt. Die Frauenfrage ist nicht nur zweifellos ein sozialistischer Text, sie ist geradezu als Klassiker der sozialistischen Literatur nicht nur des 19. Jahrhunderts zu bezeichnen. Mit ihrer an der grundlegenden Kategorie des Ökonomischen und an Marx’schen Argumentationsfiguren orientierten Kritik der damaligen Gesellschaft ist die Frauenfrage ein Musterbeispiel für die um 1890 erfolgte Durchsetzung des Marxismus als grundlegender – dem Selbstverständnis nach wissenschaftlicher – Weltanschauung der Sozialdemokratie. Die Verbindung jener Prämissen mit feministischen Argumenten und deren Radikalisierung macht der Text archetypisch deutlich. Zetkin wird ihre Argumentationsfiguren in den nächsten Jahrzehnten weiterentwickeln, jedoch nicht mehr in dieser Ausführlichkeit darlegen. Dieser Text war in gewisser Weise der ideologische – und systematische – Startschuss für die marxistische, sozialistische Frauenbewegung.111 111 Vgl. allgemein zur proletarischen Frauenbewegung Evans 1997; Richebächer 1982. Zu den zentralen Figuren der proletarischen Frauenbewegung in den letzten Dekaden des 19. und den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zählten unter anderem Ida Altmann (vgl. Nebmaier 2015), Gertrud Guillaume-Schack (vgl. Wischermann 1997), Emma Ihrer (vgl. Gélieu 2007) oder Pauline Staegemann (vgl. Notz 2005).
8. Brüderlichkeit als sozialistisch-bürgerliche Tugend (Robert Seidel)
8.1 A UTOR
UND
T EXT
Robert Seidel wurde am 23. November 1850 im sächsischen Kirchberg geboren. Er arbeitete zunächst als Weber, später als Lehrer und war 1869 Gründungsmitglied der Sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei in Eisenach. 1870 wanderte er in die Schweiz aus. Hier arbeitete er zunächst wieder als Weber, später als Lehrer. Nachdem er sich im Fach Pädagogik habilitiert hatte, wirkte er ab 1905 als Hochschullehrer für Sozial-Pädagogik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule und der Universität Zürich. Er war damit einer der wenigen deutschsprachigen Sozialdemokraten, die um die Jahrhundertwende eine akademische Lehrposition inne hatten. Entsprechend prominent war seine Position in den entsprechenden Debatten. Hermann Schulz sah in ihm gar den ersten genuin sozialistischen Pädagogen,1 der vor allem durch seine Arbeitsschulkonzeption 2 sowohl in die sozialistische Bewegung, wie in die Reformpädagogik hinein wirkte. Seidel arbeitete als Chefredakteur der schweizerischen sozialdemokratischen Zeitung Arbeiterstimme, und erhielt verschiedene Wahlämter im Züricher Stadtrat, im Kantons- und Nationalrat. Bis etwa 1900 dem linken Flügel der sozialdemokratischen Partei der Schweiz zugeneigt, orientierte sich Seidel ab 1904 am rechten Flügel und trat 1916 anlässlich der Abspaltung des Grütlivereins aus der Sozialdemokratischen Partei aus. 3 Dem Austritt vorausgegangen sind die Debatten zwischen einer »evolutionär-demokratische[n] Richtung« 4 und einer »revolutionär-klassenkämpferische[n] Gruppe«5 innerhalb der Partei, in der Seidel 1
Zetkin/Schulz (1906: 342).
2
Seidel 1885; 1901; 1919.
3
Vgl. Bürgi 2011.
4
Greter (2005: 51).
5
Ebd.: 53.
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zu den wichtigsten Exponenten der ersten Richtung gehörte. 6 Im Zuge dieser Debatte entstand auch der im Folgenden zu analysierende Text. Robert Seidel starb am 19. Juli 1933 in Zürich. Der folgenden Interpretation zugrunde liegt Robert Seidels 1917 im Kommissionsverlag der Grütlibuchhandlung erschienene Buch Sozialdemokratie und staatsbürgerliche Erziehung. Oder: Staatsbürger, Weltbürger und Mensch. Geschichtlich, systematisch, kritisch (im Folgenden Staatsbürgererziehung abgekürzt). Bei der Publikation handelt es sich um den zusammenfassenden und teilweise überarbeiteten Wiederabdruck von Artikeln Seidels im Rahmen der, in der schweizerischen Sozialdemokratie geführten, Diskussion um die Einführung staatsbürgerlichen Unterrichts aus dem Jahr 1916 und neu hinzugefügte, aktualisierende Ergänzungen. Die Staatsbürgererziehung wurde für dieses Arbeit aus zwei Gründen ausgewählt: Der erste betrifft ihre Repräsentanz für einen zentralen Konflikt innerhalb der sozialistischen Diskussion am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nämlich des Konfliktes zwischen radikalen, proletarisch-revolutionsorientierten Sozialist*innen und staatsorientierten, reformistischen Sozialist*innen, einer Konfliktlinie, die als ›Revisionismusstreit‹ in die Geschichte des Sozialismus eingegangen ist.7 Dieser Konflikt und die sich an ihm spiegelnden unterschiedlichen Positionen reflektieren sich systematisch in zum Teil grundsätzlich, zum Teil nur tendenziell abweichenden Konzeptionen des Verhältnisses zwischen ›Solidarität‹, Gemeinschaft und Pädagogik. Sie begründet sich zweitens mit der zu erstellenden Systematik. Das Problem der Vermittlung zwischen universaler (Mensch) und partikularer (Staatsbürger vs. Proletarier) Gemeinschaftlichkeit wird in der Staatsbürgererziehung in einem pädagogischen Zusammenhang vor dem Hintergrund der Idee der Nation diskutiert und verspricht daher neue Facetten des Verhältnisses zwischen ›Solidarität‹, Gemeinschaft und Pädagogik zu eröffnen. Jenseits dieser besonderen Gründe 6
Vgl. ausführlich zur Geschichte der schweizerischen Sozialdemokratie Dommer/ Grumer 1988.
7
Die Konfliktlinie ist freilich älter. Sie trat spätestens in den Diskussionen um die Be wegung des ›Jungen Deutschlands‹ in der Schweiz der 1840er Jahre zu Tage, in der sich schon August Becker von nationalistischen Einstellungen abgewandt und in seiner Flugschrift Was wollen die Kommunisten? von 1844 schrieb: »[…] unsere Sache ist keine deutsche, sondern eine menschliche. Die welschen Arbeiter stehen uns näher als der deutsche Bankier, mögen die Wechslerbuden der letzteren auch auf deut schem Boden stehen.« (Becker 1844, zit. nach dem auszugsweisen Wiederabruck in: Kool/Krause 1972: 491). Im der vorliegenden Studie kann Clara Zetkins Text als Beispiel für die proletarisch-revolutionäre Strömung gelesen werden.
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lässt sich die Auswahl des Textes mit dem im Methodenkapitel beschriebenen Raster begründen: Seidel selbst reiht sich und seinen Text explizit in eine sozialistische Tradition ein. Das sagt freilich nicht, dass damit ein Text vorliegt, der der oben aufgestellten Sozialismus-Definition genügt. In der Tat ist es aufgrund der speziellen Fragestellung des Textes nicht einfach, ihn an den aufgestellten Kriterien zu prüfen. Wie aber während der Interpretation zu zeigen sein wird lassen sich die Grundmuster der Ablehnung sozialer Ungleichheit und das Bestreben, diese zu beheben im Text finden. Allerdings wird dies abgemildert durch die zum Ausdruck kommende Überzeugung, in der Schweiz bestünden schon nahezu sozialistische Zustände. Seidel behandelt Ungleichheit weniger ökonomisch, sondern an der Frage der politischen Rechte, deren Ungleichverteilung er in der Schweiz jedoch aufgehoben sieht. Im Gegensatz zu dieser etwas bemüht wirkenden sozialistischen Qualität des Textes ist er unproblematisch als pädagogisch auszuweisen. In der Staatsbürgererziehung werden explizit pädagogische Fragen im Sinne der oben aufgestellten Definition behandelt. Die Elemente der Lern- und Bildungsfähigkeit, der Erziehungsbedürftigkeit sowie Überlegungen zu Ziel und Methode von Lernsteuerung sind aus dem Text zu gewinnen. Diese Überlegungen werden ausschließlich auf der sozialen Ebene verhandelt. Individuelle Lernsteuerung spielt im Text keine Rolle. Von ›Brüderlichkeit‹ ist im Text häufig die Rede, das Wort ›Solidarität‹ taucht sporadisch auf. Mit seinem Erscheinen im Jahr 1917 ist der Text der chronologisch letzte, der im Untersuchungszeitraum erschienen ist.
8.2 Ü BERBLICK Seidels Staatsbürgererziehung ist dem eigenem Anspruch nach ein wissenschaftliches, der Wirkungsabsicht und dem Entstehungskontext nach aber auch ein politisches Werk. Nicht nur geht es ihm darum, eine Idee staatsbürgerlicher Erziehung zu entwickeln und zu begründen. Vielmehr ist sein Anliegen, die Genossen der schweizerischen Sozialdemokratischen Partei von der generellen Notwendigkeit der Einführung staatsbürgerlichen Unterrichts von der Übereinstimmung dieser Position mit sozialistischen Grundsätzen zu überzeugen. Es handelt sich zumindest in Teilen um eine Selbstverteidigungsschrift. Seidels Position in der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz war zu diesem Zeitpunkt nicht unumstritten, es galt, seine Zugehörigkeit und Loyalität zur sozialistischen Bewegung unter Beweis zu stellen, ohne seine Positionen zu widerrufen. Die Staatsbürgererziehung gibt dabei ein Beispiel des, die sozialistische Bewegung Europas an der Wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert hoch brisant
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beschäftigenden, Konflikts um die Frage, wie man es mit der Nation halte. Die linke Position war von einer grundlegenden Ablehnung jedes Nationalismus und dem Postulat eines ›proletarischen Internationalismus‹,8 die rechte Position von der Überzeugung der Notwendigkeit eines nationalen Rahmens auf dem Weg in den Sozialismus getragen. Die letzte Position zu begründen und zu verteidigen ist ein Ziel der Staatsbürgererziehung. Seidel ist davon überzeugt, dass die Staatsbürgererziehung kommen muss, denn sie sei verwurzelt in der Macht der Zukunft, der Sozialdemokratie, und gespeist aus pädagogischen Einsichten: »Aber sie stützt sich in diesem Kampfe [zur Einführung des staatsbürgerlichen Unterrichts, R.P.] immer und überall auf die Geschichte, auf die Grundsätze, auf die Forderungen und Ziele der Sozialdemokratie sowie der echt menschlichen, sozialen und demokratischen Pädagogik.«9 Sein Werk gliedert sich in vier Teile, die zum Teil Zusammenstellungen aus an anderer Stelle schon veröffentlichten Texte Seidels darstellen, die im Rahmen des Wiederabdrucks überarbeitet und vereinheitlicht wurden. Im ersten Teil des Buches, dem Vorwort, wird der politische Hintergrund der Entstehung der Schrift beschrieben und begründet, warum das Buch publiziert wurde. Dabei mischen sich parteipolitische, biographische und systematische Erwägungen und Seidel baut sich selbst als Lehrer des Volkes auf, der treu an der Seite der Demokratie und des schweizerischen Staates steht. 10 Im ersten Teil des Buches legt Seidel die Abhängigkeit der Pädagogik von der Staatsform und die These, dass die »Demokratie […] die Mutter der staatsbürgerlichen Erziehung« 11 sei, dar. Außerdem begründet er den Nutzen jener Erziehung für die Sozialdemokratie und ordnet ihr ihre institutionelle Position im Bildungswesen zu. Er grenzt den »Chauvinismus«, oder »schlechten Nationalismus« vom »guten Nationalismus« ab, der ein wesentliches Ziel staatsbürgerlicher Erziehung sein soll. 12 8
Vgl. zur Begriffsgeschichte des proletarischen Internationalismus Haug/Bensussan/ Labica (1985: 565-571).
9
Seidel (1917: XII).
10
Vgl. beispielsweise Seidels entsprechende Einlassung: »Mit dieser Schrift biete ich dem sozialdemokratischen und dem übrigen Volke der Arbeit ein Aufklärungs- und Bildungsmittel, und wünsche von Herzen, daß es dienen möge zum Segen unseres Volkes, zum Heile unserer Vaterlandes und zur Stärkung des guten Geistes und fes ten Willens für die Erhaltung des sozialen und demokratischen Staates der schweize rischen Eidgenossenschaft als eines würdigen Gliedes des zukünftigen Bundes aller demokratischen Staaten und Völker Europas.« (Seidel 1917: XII).
11
Seidel (1917: 7).
12
Ebd.: 132f.
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Im zweiten Teil fasst Seidel seinen Disput mit einem innerparteilichen Rivalen über den staatsbürgerlichen Unterricht zusammen. Auch wenn in diesem Abschnitt viele, fast alle, der Themen des ersten Abschnittes wieder aufgegriffen werden, liegt hier ein anderer Schwerpunkt: Das, der Erziehung zu Grunde und zum Ziele liegende, Menschenbild. Seidel präsentiert das Motiv einer »allseitig harmonischen Menschenbildung«,13 deren unentbehrlicher Bestandteil die staatsbürgerliche Erziehung sei. Diesen Gedanken baut er im umfassendsten Abschnitt, »Staatsbürger, Weltbürger und Mensch«, weiter aus, indem er die staatsbürgerliche Erziehung mit einem Konzept der Staatsentstehung kombiniert, aber auch die These entfaltet, der Mensch sei natürlicherweise ein Staatsbürger. Nur durch eine, dieses Faktum berücksichtigende, pädagogische Praxis könne der Mensch zum Weltbürger erzogen werden. Dies mag genügen, die Umrisse der Staatsbürgererziehung zu verdeutlichen.
8.3 G ESELLSCHAFT
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G EMEINSCHAFT
Entlang der bisherigen Strukturierung der Analyse der in den Texten zu rekonstruierenden Formen des Sozialen kann die Staatsbürgererziehung nicht interpretiert werden. Bei Seidel gibt es keine Kritik an der bestehenden Gesellschaft, keine Vorstellung einer alternativen Gesellschaft und daher auch keine Überlegungen zum Übergang zwischen den Gesellschaftsformen. Seidel geht in seinem Text von der schweizerische Gesellschaft aus, deren Form er nicht kritisiert, sondern die ihm die Argumentationsgrundlage für sein Plädoyer zur Einführung staatsbürgerlichen Unterrichts bietet. Aus diesem Grund genügt es, Seidels Diagnose der bestehenden Gesellschaft zu rekonstruieren und seine, sich auf die Zukunft beziehenden Bemerkungen zur Weiterentwicklung dieser zu registrieren. Dabei arbeitet Seidel mit verschiedenen Kategorien, die er zum Teil näher bestimmt, zum Teil im Vagen belässt. Seiner Taxonomie folgend ist relevant: ›Volk‹ (von ihm Synonym verwendet mit ›Nation‹), ›Gesellschaft‹, ›Staat‹, ›Weltgesellschaft‹. 8.3.1 Gesellschaft Mit Abstand am schwächsten herausgearbeitet ist ein Konzept von Gesellschaft. Seidel schwankt hier, wie auch bei der Entwicklung anderer sozialer Kategorien zwischen allgemeiner Beschreibung und der ihrer spezifisch schweizerischen Ausprägungen. Ohne folgende Ausführungen auf die spezifisch schweizerischen 13
Ebd.: 50.
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Verhältnisse einzugrenzen, beschreibt er die Gesellschaft wie folgt: »Die Gesellschaft ist heute im wesentlichen eine solidare Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, die mit dem Staate in engster Verbindung steht.« 14 In einer ersten Annäherung kann als ›Gesellschaft‹ bei Seidel als Bereich des Arbeitens und Wirtschaftens beschrieben werden. Bemerkenswert für einen Vertreter der Sozialdemokratie ist die Klassifikation dieser Gesellschaft als einer »solidare[n] […] Gemeinschaft«. War doch die Kritik der Konkurrenzbeziehungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften ein wesentliches Moment sozialistischer Kritik an Arbeit und Wirtschaft, der sich Seidel an anderer Stelle auch anschließt. So spricht er später davon, dass die Gesellschaft »kapitalistisch« 15 und der Kapitalismus verantwortlich für soziale Ungleichheit sei. 16 Wie nun eine Diagnose der Gesellschaft als kapitalistischer, das heißt ungleicher, und gleichzeitig als solidarer Arbeits- und Wirtschaftszusammenhang gedacht werden kann, bleibt offen und ist einer der Widersprüche in Seidels Buch. Wesentlich größere Bedeutung als die Gesellschaft hat für Seidel die Idee des Volkes bzw. der Nation und seine eng mit dieser verknüpfte Konzeption des Staates. 8.3.2 Volk, Nation und Staat Konstitutiv für den Staatsbegriff der Staatsbürgererziehung sind die Begriffe ›Volk‹ und ›Nation‹, die synonym verwendet werden. Der Zusammenhang zwischen Volk und Staat wird in Seidels Theorie der Staatsgenese deutlich: »Aus den blutverwandten Volksstämmen mit gleicher Herkunft, gleicher Sprache, gleichen Sitten, gleicher Wirtschaftsweise erwuchsen die Staaten […] [E]in jeder Staat ging aus einem Stammvolke hervor [Herv. i.O.]. Der Staat ist die politische und soziale Organisation der Nation; die Nation bedarf des Staates als Organ für ihr ganzes Leben und Wirken, für ihre Entwicklung und Entfaltung. Darum sehen wir die Nationen mit Naturnotwendigkeit Staaten bilden, und darum sehen wir die Nationen mit allen Kräften nach eigenen Staaten streben. Der territoriale Staat, der auf ein bestimmtes Gebiet beschränkte Staat, oder das Vaterland, ist der feste Grund und Boden, auf dem sich das einer Nation eigentümliche wirtschaftliche, soziale und politische Wesen betätigen und entfalten kann.« 17
14
Ebd.: 24.
15
Ebd.: 139.
16
Ebd.: 138.
17
Ebd.: 126.
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Diese hier zu Tage tretende Erklärung für die Entstehung von Staaten, die sich gleichwohl der seinerzeit nahezu ubiqitären nationalistischen Phrasen bedient, bringt pointiert Seidels Staatsverständnis zum Ausdruck. Die aus biologischen Verwandtschaftsverhältnissen sich zusammensetzenden »Volksstämme«, die – noch bevor es den Staat gab – »eine gleiche Sprache, Sitte und Wirtschaftsweise« gehabt hätten (und so die »Nation« bildeten), hätten sich zu Staaten zusammengeschlossen, um ihre »Entwicklung und Entfaltung« zu gewährleisten. Erst mit dem Staat, so scheint es nahegelegt, könnten die in den Stammeskultu ren angelegten (»eigentümlichen«) Lebens- und Wirtschaftsweisen sich entwickeln. Aus dieser völkischen Staatsableitung folgert Seidel, dass »[d]ie Sozialisten […] Freunde und Verteidiger des Staates und des Vaterlandes sein [müssen], weil sie nur auf diesem Boden mit Kraft und Erfolg für den Sozialismus, zu Deutsch: für den Gemeinbesitz und die Gemeinwirtschaft wirken können.« 18 So seien denn auch Robert Owen, Charles Fourier, Karl Marx und Friedrich Engels »Freunde und Verteidiger des Staates gewesen und haben durch ihn den Sozialismus verwirklichen wollen.«19 Diese Idee mag vielleicht noch der Tendenz nach für Owen zutreffen, ist in der Hauptsache aber im revisionistischen Flügel der Sozialdemokratie zu finden – und nicht die Position der Sozialisten.20 Aber dieses Zitat verdeutlicht auch die Implikationen eines mit dem Nationalismus verquickten Sozialismus, der später mit der Stalin-Bucharinschen These vom ›Sozialismus in einem Land‹ traurige – und in letzter Konsequenz perspektivlose – Urstände feierte. Für die systematische Bedeutung des Staates und der 18
Ebd.: 126f.
19
Ebd.: 127.
20
Robert Owen sah im Staat tatsächlich zeitweise einen Akteur, der zur Verbesserung der Lage der Arbeiter beitragen könne. So engagierte er sich intensiv bei der Agitation für die Verabschiedung von Fabrik- und Arbeitsschutzgesetzen. Auch bei dem, in dieser Arbeit behandelten, Frühsozialisten Franz Heinrich Ziegenhagen wird der Staat, bzw. die Regierenden, als wichtige Unterstützer sozialer Reformen gesehen. Später vertraten dann vor allem Ferdinand Lassalle und Bernstein, die Überzeugung, der Staat könne ein wichtiger Partner auf dem Weg in den Sozialismus sein (vgl. Bernstein [1899] 1984). Kontroverser Auffassung war der linke Flügel der Sozialdemokratie (vgl. Luxemburg [1898/1899] 1982). Marx und Engels aber, die Seidel hier als Zeugen anruft, standen dem Staat wesentlich skeptischer bis ablehnend gegen über (vgl. Hobsbawm 2014: 39.). Einen dezidiert positiven Zusammenhang zwischen Staat und Sozialismus stellte lediglich Johann Karl Rodbertus-Jagetzow (*1805, †1875) auf, dessen Gedanken »die Entwicklung der Vorstellung von Staatssozialismus beeinflussten, wie Lassalle sie vertrat, zumal beide eine Zeitlang in Kontakt miteinander gestanden hatten.« (ebd.: 53).
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Nation in der Staatsbürgererziehung muss festgehalten werden, dass dem Staat eine zentrale Bedeutung als Arena zum Erringen des Sozialismus zugewiesen wird. Es geht Seidel aber nicht nur um den Staat, sondern um den Nationalstaat, der für den Übergang in den Sozialismus bedeutsam sei. Neben der Verteidigung des Staates sei daher auch die Verteidigung der Nationen und des Nationalismus eine sozialistische Aufgabe: »Die Sozialisten müssen auch Freunde und Verteidiger der Nationen und des guten Nationalismus sein, weil der gute Nationalismus, d.h. die guten Gedanken und Willenskräfte für das eigene Volk etwas Natürliches und Gutes, etwas Sittliches und Soziales sind; weil die Nationen die Träger der nationalen sozialpolitischen Organisationen, d.h. also der Staaten sind, und weil das Recht jeder Nation auf sozialpolitische Freiheit und Selbstbestimmung noch höher steht und für den Aufstieg der Menschheit zum Sozialismus noch wichtiger ist, als das Recht der einzelnen Menschen auf diese idealen Güter. Der Weg zum Sozialismus der Kulturmenschheit geht durch die Nationen, nicht gegen die Nationen oder über ihre Leichen hinweg.«21
Mehrerlei ist an dieser Passage interessant. Zum einen die Rede vom »guten Nationalismus«, den »gute Gefühlen für das eigene Volk«, die eine unablässige Bedingung seien für die Entwicklung des Sozialismus, der sich nur im nationalen Rahmen entwickeln könne. ›Guter Nationalismus‹ ist für Seidel eine Orientierung der in einem bestimmten Land lebenden Menschen auf die ebenfalls da Lebenden und die Identifizierung und Zusammenarbeit mit jenen. – Auch wenn weder die Rede von ›Brüderlichkeit‹ noch von ›Solidarität‹ fällt, wird deutlich, dass hier eine Norm der Gemeinschaftlichkeit an der Kategorie des Volkes konstruiert wird. Zum anderen aber zeigt sich, dass Seidel das Recht des Kollektivs – der ›Nation‹ – als wichtiger und höher einstuft, als das des einzelnen Individuums.22 Drittens, sieht er, das wird auch an anderer Stelle immer wieder deutlich, die Nationen als Keimzellen des Sozialismus an. 23 Neben dieser Keimzellenfunktion sei sie aber auch ein »Werkzeug«, besser eine Arena und ein Mittel in der und mit dem der – sozialdemokratisch befriedete – Klassenkampf ausgetra21
Seidel (1917: 127).
22
Dessen theoretische Vorgänger sich schon in den gleichheitskommunistischen Vorstellungen identifizieren lassen, wie sie beispielsweise anhand des Textes von Étienne Cabet in dieser Arbeit beschrieben werden.
23
Er vertritt damit explizit eine der proletarisch-internationalistischen Fraktion der Sozialdemokratie entgegengesetzte Position, wie sie etwa von Clara Zetkin, Robert Grimm (*1881, †1958) oder dem Franzosen Jean Jaurès (*1859, †1914) vertreten wurde. Letzteren nennt Seidel explizit seinen »Gegner« (Seidel 1917: 129).
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gen werden könne: »Nation und Staat sind nicht zu trennen [Herv. i.O.]. Die Nation braucht den Staat zu ihrem Leben und Gedeihen, und wir Sozialdemokraten brauchen die Nation und den Staat als Arbeitsfeld und Arbeitswerkzeuge für die Verwirklichung der Demokratie und des Sozialismus.« 24 Hier wird die Bedeutung des Staates als Terrain der Auseinandersetzung der Sozialdemokratie für die Verwirklichung des Sozialismus, respektive als Arena politischer Auseinandersetzungen umrissen. Eine Ähnlichkeit zur politischen Argumentation Zetkins wird hier deutlich, wenngleich sich in Zetkins Text eine staatskritischere Position findet.25 Widersprüche treten zu Tage, wenn sich Seidel der schweizerischen Nationalität zuwendet, die anders beschaffen sei als das, was er »natürliche Nationalität« nennt, also die aus der Verbindung von Volk, Boden und Arbeit hervorgegangene in einem Staat zusammengefasste Volkseinheit. Er formuliert hier Gedanken, die durchaus geeignet erscheinen, seine Idee eines »natürlichen Nationalismus« zu überwinden hin zu einer »neuen Idee von Nationalismus«: »Die schweizerische Nationalität ist also keine Nationalität der einheitlichen Abstammung, der einheitlichen Sprache und der einheitlichen Sitten, sondern eine sozialpolitische, eine staatliche Nationalität. Sie ist ein Erzeugnis der gemeinsamen Geschichte; sie ist eine Frucht der gemeinsamen Kämpfe für staatliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, und sie ist ein Werk der gemeinsamen Arbeit für die sozialen und politischen Freiheiten und Rechte des einzelnen wie des Volkes.« 26
Daher auch habe die schweizerische Nationalität einen zukunftsweisenden Charakter: »Das ist eine neue Nationalität, und diese neue Nationalität bringt einen neuen, höheren und besseren Nationalismus hervor. Der Nationalismus dieser geschichtlich gewordenen, freien, internationalen, staatlichen und demokratischen Nationalität trägt sichere Bürgschaften gegen die Nationalüberhebung, den Nationalhaß und Nationalstolz (Chauvinismus) in sich, denn es ist der Nationalismus der gegenseitigen Anerkennung, Duldung, Achtung, Verträglichkeit, Förderung und Solidarität der im gleichen Staate verkörperten Nationen. Es ist der Nationalismus der Freiheit und Gleichheit, der Demokratie und des Sozialismus der Nationen. Es ist der Nationalismus der Zukunft!«27 24
Seidel (1917: 129).
25
Vgl. S. 173 dieser Arbeit.
26
Seidel (1917: 132).
27
Ebd.: 132f.
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Wie Seidel zu dieser Beschreibung der schweizerischen Nation und des schweizerischen Staates kommt, wo er doch die ganze Zeit versucht hat, die biologischorganischen Genese des Staates aus »einem Stammvolke« her abzuleiten, bleibt ungeklärt. Zumal er diese erste These auch damit konterkariert, dass er pädagogisches Einwirken zur Herstellung des Nationalbewusstseins eine besondere Bedeutung beimisst.28 Was den Charakter des Staates betrifft, vertritt Seidel die der proletarischrevolutionären Linken explizit sich widersetzende These vom demokratischen Charakter des – schweizerischen – Staates: »Die Schweiz ist kein Klassenstaat, denn sie kennt keine politisch bevorrechteten Klassen, sondern nur gleichberechtigte Bürger. […] Klassenstaaten sind Staaten, in denen die politischen Rechte abgestuft sind nach Besitzes- und Bildungsklassen, nach Geburts- und Amtsklassen. […] Die Schweiz ist ein Volksstaat, eine wahre Demokratie, und nicht eine sogenannte Demokratie.« 29
Auch sei die Schweiz kein kapitalistischer Staat, »denn sie gewährt den Kapitalisten weder als Einzelnen, noch als Klasse irgendwelche politischen Rechte oder Vorrechte.«30 Vielmehr sei die Schweiz ein demokratischer Staat, und damit »seiner Natur nach ein Feind der sozialen Ungleichheit seiner Bürger, wie sie der Kapitalismus, das heißt, wie sie die privatwirtschaftliche Aristokratie der Kapitalisten schafft.«31 Nicht nur sei aber der demokratische Staat »ein Feind des Kapitalismus«32, er führe auch »naturnotwendig zur wirtschaftlichen Demokratie, das heißt, zum Sozialismus. Das lehrt sowohl die Geschichte wie die Vernunft mit tröstlicher Klarheit.«33
28
Vgl. Ebd.: 39; Vgl. auch: S. 145-151 dieser Arbeit.
29
Seidel (1917: 137). Seidel befindet sich hier auf einer argumentativen Linie mit dem Wortführer des reformistischen Flügels der Sozialdemokratie, Eduard Bernstein, der in Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie schreibt: »Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist.« (Bernstein [1899] 1983: 155).
30
Seidel (1917: 137).
31
Ebd.: 138.
32
Ebd.
33
Ebd.
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8.3.3 Weltgesellschaft Die, neben Volk und Staat, dritte soziale Kategorie in der Staatsbürgererziehung ist die Weltgesellschaft. Seidel gibt jedoch keine konkreten Anhaltspunkte darüber, wie er sich diese vorstellt, über das hinaus, was er als »Völkerverbrüderung« bezeichnet. Sofern diese stattgefunden habe, sei die Einheit des Weltbürger mit dem Menschen erzeugt: »Weltbürger und Mensch sind Begriffe, die übereinstimmen und sich decken.«34 Ein globaler bürgerlicher Staat entstünde, in dem »die Erde als Heimat des Menschen, und alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, Sprache und Nation als seine Brüder und seine Mitbürger, gleich an Rechten, aber auch gleich an Pflichten« 35 betrachtet werden. Die genaue soziale und institutionelle Form dieser Verbrüderung wird von Seidel nicht beschrieben, es kann aber vermutet werden, dass er sie am föderalen Modell der Schweiz orientiert denkt. Diese Interpretation lassen zumindest Formulierungen wie jene zu, in der er den schweizerischen Nationalismus als »Nationalismus der gegenseitigen Anerkennung, Duldung, Achtung, Verträglichkeit, Förderung und Solidarität der im gleichen Staate verkörperten Nationen […,] der Freiheit und Gleichheit, der Demokratie und des Sozialismus der Nationen« 36 bezeichnet; oder wenn er vom »zukünftigen freien Bund aller demokratischen Staaten und Völker Europas«37 schreibt. Bei diesen Andeutungen aber muss es bleiben, denn wie generell die Perspektive des Internationalismus bei Seidel ar gumentativ schwach ausgebaut ist, so ist es auch die Idee einer Weltgesellschaft.
8.4 E XKURS IN SYSTEMATISCHER A BSICHT : M ENSCHENBILD Wurde das Menschenbild in den anderen Kapiteln am Beginn beschrieben, bietet sich bei der Behandlung der Staatsbürgererziehung die Analyse des Menschenbildes erst an dieser Stelle des Kapitels an, da es sich ohne die bisher beschriebe34
Ebd.: 170. Nicht nur an dieser Textstelle wird deutlich, dass sich Seidel bei seiner Argumentation weniger auf marxistische Argumentationsfiguren stützt, sondern sich aus der Philosophiegeschichte der Aufklärung bedient: Der Gedanke, der Mensch würde sich erst als »Weltbürger« entfalten findet sich bei Herder (1774) 1989, Kant 1784 oder Lessing (1780) 2001. In der sozialistischen Theorie aber war der Begriff des ›Weltbürgers‹ weniger stark vertreten.
35
Seidel (1917: 171).
36
Ebd.: 133.
37
Ebd.: XII.
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nen Annahmen über das Soziale nicht verstehen lässt. In der Staatsbürgererziehung wird ein Menschenbild vertreten, das den Menschen als zweifach – gesellschaftlich und staatlich – bestimmt ansieht: »Der Mensch ist von Natur aus ein gesellschaftliches und staatliches Wesen.« 38 Die Setzung der conditio humana als soziale würde verschiedene Ausgestaltungen erlauben. Doch Seidel bedient sich der zu jener Zeit verbreiteten biologisch-organischen Metaphern und eines Sprachgebrauchs, der heute befremdlich – weil im Zuge des deutschen Nationalsozialismus propagandistisch ausgeschlachtet – erscheint. So schreibt Seidel: »Wie die Pflanze, so braucht auch der Mensch zur Entwicklung seines sozialpolitischen Wesens eines natürlichen Bodens und Klimas, und das ist seine Heimat und sein Volk.«39 Und später: »Der Mensch wird als Kind einer Familie geboren. Diese Familie wohnt an einem Orte, der zu einem Lande gehört. Dieses Land wird seit Jahrhunderten von einem Volke bebaut und bewohnt, und darum gehört dieses Land diesem Volke. Dieses Volk hat eine gemein same Sprache, gemeinsame Sitten, gemeinsame Ordnungen und Rechte; es hat einen Staat. Dieser Staat, dieses Land und dieses Volk sind eine Einheit, und das Kind wächst in dieser natürlichen Einheit von Volk, Land und Staat heran.« 40
Auch wenn Seidel hier einer Idee von Sozialisation folgt, so ist der Modus dieser und ihre als natürlich apostrophierte Folgelastigkeit fraglich. Die vermeintlich natürliche Heimatverbundenheit impliziere die Liebe zur Heimat, mithin Patriotismus. Aus dem – trivialen – Faktum, dass der Mensch unter gewissen sozialen, biologischen und räumlichen Bedingungen aufwächst, folgert Seidel die Entstehung eines »von Natur patriotische[n], d.h. des naturgemäß die Heimat und das Vaterland liebende[n] Kind[es].«41 Daher kann Seidel auch behaupten: »Diese natürlichen Verhältnisse und Zustände machen den natürlichen Menschen zu einem natürlichen Staatsbürger [Herv. i.O.].«42 Im Gegensatz zum natürlichen Menschen als Staatsbürger hat aber die Vorstellung des »idealen Menschen« eine eher spekulative Bedeutung: »Der ›Mensch‹ existiert gar nicht von Natur, sondern nur als Begriff, als Gedankending. Von Natur existiert nur der durch Abstammung und Volk, Land und Staat, Religion und 38
Ebd.: 14.
39
Ebd.: 41.
40
Ebd.: 147.
41
Ebd.: 65.
42
Ebd.: 147.
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Sprache bestimmte Mensch, und darum gibt es von Natur nur Deutsche, Franzosen, Engländer, Schweizer usw. Diese durch Natur und Gesellschaft bestimmten Menschen zu idealen Menschen nach dem Begriff des Menschentums zu erziehen und zu bilden – das ist die große und schwierige Aufgabe [Herv. i.O.].«43
Hier kommt der zentrale, das Menschenbild prägende, Gedanke klar zum Ausdruck: Seidel unterscheidet zwischen dem Menschen als Idealkonstrukt, ohne dieses näher zu bestimmen und dem konkreten durch seine Lebenssituation bestimmten Menschen. Nun werden mehrere Probleme deutlich. Denn obgleich die Setzung des Begriffs Mensch als Idealkonstrukt im Vergleich zum, mit diesem nicht identischen konkreten Menschen, durchaus berechtigt ist, erscheint es doch zweifelhaft wie der durch seine jeweiligen Umstände geprägte Mensch als Deutscher, Franzose usw. definiert werden kann, sind das doch auch eher Idealkategorien. Zu Ende gedacht würde Seidels Argumentation bei einem sehr individuellen Menschen ankommen – oder: gesellschaftlich geprägten – was aber nicht zwangsläufig national bedeutet, sondern auch auf eine klassen- oder schichtspezifische Gruppenindividualität hinauslaufen könnte. Das zweite Problem, das im ganzen Werk nicht gelöst wird, ist die begründungslose Setzung des Zieles einen »ideale[n] Mensch[en] nach dem Begriff des Menschentums« zu erziehen. Zum einen, wie oben schon erwähnt, ist das Ziel reichlich unterbestimmt, so dass es fraglich ist, welche Zielbestimmung jenseits einer ideologischen Absicherung es bietet. Zum anderen wird nicht begründet, warum dieser, doch durch seine nationale Umgebung zum nationalen Bürger – Seidel benutzt das Wort noch nicht – ›sozialisierte‹ Mensch nicht ein solcher bleiben kann, sondern zum Weltbürger gemacht werden soll. Es findet sich im ganzen Buch dafür keine Begründung, die aus der Nationalitätsthese resultieren würde.
8.5 B RÜDERLICHKEIT
UND
S OLIDARITÄT
In der Staatsbürgererziehung findet sich sowohl die Rede von ›Solidarität‹ als auch von ›Brüderlichkeit‹. ›Brüderlichkeit‹ oder verwandte Worte wie ›Verbrüderung‹, ›Völkerverbrüderung‹, ›Bruderzwist‹, ›brüderliche Verbindung‹, ›Brüder‹ und ›Weltbrüderschaft‹ kommen aber ungleich häufiger vor als ›Solidarität‹ und das davon abgeleitete Adjektiv ›solidar‹.
43
Ebd.: 172.
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8.5.1 Solidarität In vier Textstellen verwendet Robert Seidel ›Solidarität‹ bzw. ›solidar‹. Die erste wurde schon bei der Beschreibung von Seidels Gesellschaftsdiagnose zitiert. Sie ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, diesmal mit Fokus auf das Adjektiv ›solidar‹: »Die Gesellschaft ist heute im wesentlichen eine solidare Arbeits- und Wirtschaftsgemeinschaft, die mit dem Staate in engster Verbindung steht.« 44 Das Wort ›solidar‹ beschreibt hier die faktische Qualität des durch Arbeit und Wirtschaft verbunden Sozialverbandes, der Gesellschaft. Was das Attribut genau bedeutet, wird auch im Umfeld der zitierten Passage nicht deutlich. Einer Bestimmung kommen wir näher, indem wir uns das entsprechende Substantiv, ›Solidarität‹, ansehen. Von ›Solidarität‹ wird im Text an drei Stellen gesprochen, zuerst auf Seite 116, wo Seidel über sozialistische Gesinnung schreibt: »Die rechte sozialistische Gesinnung kann und darf nicht voll Sinn und Interesse, voll Mitgefühl und Liebe für die Neger, Japaner und Australier, für die Indianer, Russen und Türken sein, und ohne Sinn und Interesse, ohne Mitgefühl, Liebe und Solidarität für die eigene Nation, für das eigenen Volk und den eigenen Volks- und Staatsverband.« 45
›Solidarität‹ wird hier, wie ›solidar‹, im Kontext der Beschreibung einer in einem Staat organisierten Gruppe benutzt; es geht um etwas, das sich auf »die eigenen Nation«, »das eigene Volk« und »den eigenen Volks- und Staatsverband« bezieht. Folgt man der Logik der Aufzählung, so handelt es sich bei ›Solidarität‹ um eine von Seidel positiv bewertete Eigenschaft, die sich als eine Form von Zuneigung (ähnlich der Liebe oder dem Mitgefühl) beschreiben lässt. Interessant ist, dass obwohl Sinn, Interesse, Mitgefühl und Liebe sowohl bei der Beschrei bung der Einstellung gegenüber Menschen, die nicht dem »eigene Volk« zugehören als auch bei der, die sich auf selbiges bezieht, genannt werden, ›Solidarität‹ nur im Bezug auf das »eigene Volk« Verwendung findet. Es scheint eine Gefühlsqualität zu sein, die sich nicht auf andere Völker zu beziehen vermag. Die zweite Stelle in der Staatsbürgererziehung, an der ›Solidarität‹ auftaucht, findet sich an der ebenfalls schon zitierten Textstelle, in der über die Charakteristik des schweizerischen Nationalismus geschrieben wird: »Der Nationalismus dieser geschichtlich gewordenen, freien, internationalen, staatlichen und demokratischen [schweizerischen, R.P.] Nationalität trägt sichere Bürgschaften gegen die Nationalüberhebung, den Nationalhaß und Nationalstolz (Chauvinismus) in sich, denn 44
Ebd.
45
Ebd.: 116.
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es ist der Nationalismus der gegenseitigen Anerkennung, Duldung, Achtung, Verträglichkeit, Förderung und Solidarität der im gleichen Staate verkörperten Nationen.« 46
Auch hier erscheint ›Solidarität‹ wieder im Kontext der Beschreibung von Einstellungen gegenüber dem »eignen Volk« bzw. der »im gleichen Staate verkörperten Nationen.« Diese Einstellung hat eine stark emotionale Qualität, die mit einer Haltung der gegenseitigen Rücksichtnahme aufeinander verbunden ist. Auch an dieser Stelle dient ›Solidarität‹ zur Beschreibung eines vermeintlich faktischen Zustandes, der sich diesmal nicht auf das Verhältnis der Individuen innerhalb einer Gemeinschaft, sondern das Verhältnis von Gemeinschaften innerhalb des schweizerischen Staates zueinander bezieht (und sich auf diesen »gleichen Staate« explizit beschränkt). Zuletzt findet sich ›Solidarität‹ auf Seite 160 der Staatsbürgererziehung: »Will die sozialdemokratische Arbeiterschaft nicht den Boden unter den Füßen verlieren, will sie mit Erfolg und fruchtbringend für wirtschaftliche und politische Demokratie, für soziale und politische Freiheit und Gerechtigkeit, für Völkerverbrüderung und Völkerfrieden kämpfen, so darf sie die Nation und den nationalen Staat nicht verleugnen und verwerfen, sondern sie muß für die hohen und heiligen Ideale der Freiheit und Gleichheit, der Brüderlichkeit und Solidarität aller Menschen den Kampf auf dem festen Grunde der Volks- und Staatsgemeinschaft führen.«47
Hier wird ein leicht verschobener Fokus deutlich. Es geht nicht an erster Stelle um das »eigene Volk« sondern um »Solidarität aller Menschen«. Dabei handele es sich um ein »heiliges Ideal«, das denen der Freiheit, Gleichheit und ›Brüderlichkeit‹ zugeordnet wird. Es scheint, als sei ›Solidarität‹ hier nur als Verstärkung der ›Brüderlichkeit‹ verwendet, gleichsam als ihre Unterstreichung und Verdopplung. Aus dem Kontext des Satzes wirkt sie eher als Parole, weniger wie ein Wort, mit dem tatsächlich etwas gemeint ist. Was bedeutet ›Solidarität‹ in Seidels Staatsbürgererziehung, wenn diese Befunde zusammengefasst werden? ›Solidarität‹ bezieht sich zum ersten auf eine Art Reziprozität innerhalb eines Volkes, zum zweiten auf ein Verhältnis und eine Haltung gegenseitiger Rücksichtnahme unter den verschiedenen Völkern eines Staates. Zum dritten fungiert sie als Parole, eventuell als Synonym für ›Brüderlichkeit‹.
46
Ebd.: 132f.
47
Ebd.: 159f.
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8.5.2 Brüderlichkeit Bei der Betrachtung der Rede von ›Brüderlichkeit‹ und deren Umfeld wird eine andere Bedeutungsebene deutlich. Allein die im Vergleich zu ›Solidarität‹ sehr häufige Verwendung (allein zehn Mal ›Brüderlichkeit‹, einundzwanzig Mal, wenn man dessen Abwandlungen wie ›Völkerverbrüderung‹ oder ›Weltbrüderschaft‹ mit zählt) lässt die stärkere Bedeutung des Wortes für den seidelschen Text deutlich werden. Vier Bedeutungen des Brüderlichkeitsbegriffs lassen sich rekonstruieren. 8.5.2.1 Brüderlichkeit als Parole Die erste Form, in der ›Brüderlichkeit‹ den Lesenden entgegen tritt ist die der Parole, oder eines Fahnenworts.48 ›Brüderlichkeit‹ wird dabei meist in Aufzählungen verwendet, die einen appellativen Charakter haben, aber keine weitere inhaltliche Bedeutung transportieren. So an Stellen, an denen von der Wichtigkeit von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« 49 die Rede ist oder der »reiche Schatz der Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit, der freien Wissenschaft und der befreienden Bildung, der Brüderlichkeit und des Menschentums« 50 angerufen wird, den die Arbeiterbewegung von der bürgerlichen Aufklärung übernommen habe. Auch die Berufung auf die »heilige[n] Ideale der Freiheit und Gleichheit, der Brüderlichkeit und Solidarität« 51 muss als Stilmittel gewertet werden, das eher der ideologischen Anrufung, denn als sachlichen Gehalt vermittelnd, interpretiert werden muss. 8.5.2.2 Brüderlichkeit als Norm sozialer Eingliederung Ähnlich scheint die zweite Verwendung des Begriffs, die sich in Passagen findet, in denen Normen und Werte in ihrer Bedeutung hervorgehoben werden. So wenn Seidel die staatsbürgerliche Erziehung als »Erziehung des Menschen zum sozialen und politischen Fühlen und Denken, Wollen und Handeln […] zur Freiheit und Gleichheit, zur Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, zur Wahrhaftigkeit, Liebe und Güte«52 beschreibt, oder wenn er sich über die in seinen Augen schlechte Diskussionskultur innerhalb der Partei beschwert und diese Beschwerde mit dem pathetischen Ruf schließt: »Es lebe die Denk-, Rede- und Schreibfreiheit in unserer Partei! Es lebe die Verträglichkeit und Brüderlichkeit in unseren eigenen 48
Zum Begriff des Fahnenworts vgl.: Panagl 1998.
49
Vgl. Seidel (1917: 10; 98f.).
50
Ebd.: 10.
51
Seidel (1917: 160).
52
Ebd.: 24.
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Reihen!«53 Ein normativer Gehalt wird auch an der folgenden Textstelle deutlich, an der Seidel die Spaltung der Partei beklagt: »Möchte doch der gute Geist der Brüderlichkeit den bösen Geist besiegen, der jetzt in unseren Reihen umgeht und der überall nur Schützengräben zwischen den eigenen Genossen aufwirft, statt Wege und Brücken zu bauen, um sie zu schöpferischer Befreiungsarbeit für das unwissende, arme Volk zusammenzuführen.«54 ›Brüderlichkeit‹, erscheint damit als Einstellung, die, statt zu trennen, hilft, gemeinsam und produktiv innerhalb der Partei zu arbeiten. Bevor auf diesen Aspekt genauer zu sprechen sein wird, ist der engere Bezug des Brüderlichkeitsbegriffs bei Seidel zu benennen. Dieser wird deutlich, wenn er staatsbürgerliche Erziehung definiert als: »die Erziehung des Menschen zum sozialen und politischen Fühlen und Denken, Wollen und Handeln […,] zur Freiheit und Gleichheit, zur Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, zur Wahrhaftigkeit, Liebe und Güte[,] zu einem tüchtigen und guten Gliede der menschlichen Gesellschaft und des Staates. Das Ideal der Bildung – das ist der allseitig und harmonisch entwickelte gute Mensch. Aber dieses Bildungsideal ist nur erreichbar durch Bildung des Menschen für Gesellschaft und Staat, Volk und Menschheit.«55
Wenngleich ›Brüderlichkeit‹ hier nur als ein Wort in einer ganzen Aufreihung unterschiedlicher Attribute auftaucht, erschließt sich aus dem Kontext seiner Verwendung zumindest eine Bedeutungstendenz: Es geht um »soziale[s] und politische[s] Fühlen, Denken, Wollen und Handeln« – so die allgemeine Bestimmung, die dann unter anderem mit ›Brüderlichkeit‹ näher definiert wird. Das Erziehungsziel besteht ferner in der Eingliederung des Menschen in die Gesellschaft und in den Staat – in (sein) Volk und die Menschheit. Ohne diese Einglie derung könne der Mensch nicht »allseitig, harmonisch und gut« sein. Der Eingliederungsgedanke wird auch an anderen Stellen immer wieder deutlich, so wenn Seidel fordert, dass jeder »gute Staatsbürger« »seiner Mitmenschen und besonders seines Volkes Wohl und Wehe wie sein eigenes empfindet und miterlebt, daß er das Wohlsein und Glück seiner Mitmenschen ernstlich will, 53
Ebd.: 53.
54
Ebd.: 67. In diesem und dem vorhergehenden Zitat bezieht sich Seidel auf den Konflikt, der um die Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkrieges die Schweizerische Sozialdemokratie beschäftigte und in dessen Folge sich 1915 Teile der Partei, die dem Grütliverein nahe standen, abspalteten (vgl. Greter 2005: 47-49).
55
Seidel (1917: 24).
206 | S OLIDARITÄT B ILDEN und daß er am Werke der Freiheit und Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit kraftvoll mitarbeitet, und fähig ist, sich dafür sogar hinzugeben. Er muß sich seiner menschlichen, sozialen und politischen Pflichten als notwendige, gerechte, sittliche Folgen seiner Menschen- und Bürgerrechte bewußt sein; er muß die Erkenntnis des unlösbaren Zusammenhangs seines Ichs mit seinem Volke und der Menschheit besitzen; er muß die Einsicht haben, daß er für das Wohl und Wehe der Gesellschaft und des Staates mitverantwortlich ist, und er soll das Bewußsein seines Wertes und seiner Würde haben.«56
Der Mensch habe Pflichten in Folge und als Gegenleistung für seine Menschenund Bürgerrechte.57 Neben den Motiven der Eingliederung und der Reziprozität erscheinen weitere Bedeutungen des Komplexes, in dem ›Brüderlichkeit‹ ihre Rolle spielt. Denn der Mensch soll nicht nur »das Wohl und Wehe« seines Volkes miterleben, also: wahrnehmen und mitfühlen, er soll auch aktiv auf eine Gestaltung zu dessen Wohl hinwirken wollen und sich in diesem Sinne womöglich selbst opfern. ›Emotion‹, ›Wille‹, ›Handeln‹ und das ›Opfer‹ erscheinen so als Dimensionen, die zumindest in einem Nexus mit ›Brüderlichkeit‹ stehen. 8.5.2.3 Brüderlichkeit als Prozess Eine dritte Facette des Begriffs taucht auf, wenn der Blick nicht nur auf das Wort ›Brüderlichkeit‹ gewendet wird, sondern auch auf seine Abwandlungen. So ist mehrfach die Rede von »Verbrüderung« oder »Völkerverbrüderung«. Die Vorsilbe ›ver‹ verweist dabei auf den Prozesscharakter: »Unsere nationale staatsbürgerliche Erziehung muß die Verständigung und Verbrüderung der gleichberechtigten Nationen; sie muß die Internationalität und Menschlichkeit sich zum Ziele setzen.«58 Verständigung und Verbrüderung sind zwar auch erstrebenswerte Endzustände, aber sie sind auch Prozesse, die (noch) nicht abgeschlossen sind. Dass Seidel hier einen Prozess der Verbrüderung im Sinn hat, wird auch in folgender Passage deutlich, in der er dafür wirbt, dass alle »am Werke der Freiheit und Gerechtigkeit, der Gleichheit und Brüderlichkeit kraftvoll mitarbeite[n]« 59 sollen. 56
Ebd.: 46.
57
Diese Ansicht vertritt er auch an anderer Stelle: »Die akademische Jugend soll gelehrt werden, daß der Staat die hohen Schulen aus der Arbeit und aus den Steuern des Volkes errichtet und erhält, und daß es deshalb ihre Pflicht ist, ihr Wissen und ihr Können und sich selbst in den Dienst dieser Volks- und Staatsgemeinschaft zu stellen.« (Seidel 1917: 32).
58
Seidel (1917: 43).
59
Ebd.: 46.
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8.5.2.4 Brüderlichkeit als internationale Vereinigung In der Kombination von ›Brüderlichkeit‹ mit ›Volk‹ wird, viertens, die internationale Ausrichtung des Begriffs deutlich, die Seidel auch explizit formuliert: »Wir wollen eine Internationale der Freiheit und Brüderlichkeit« 60, nicht ohne wenig später zu betonen: »Aber diese Internationale gibt es nicht, ohne freie, selbstständige Nationen; und Völkerverbrüderung gibt es nicht, ohne freie Völker.«61 An anderer Stelle benutzt er das Wort »Weltbrüderschaft« 62, um die entsprechende Zielvorstellung zu beschreiben. Wenn diese Weltbrüderschaft hergestellt sei, werde der Staatsbürger zum Weltbürger, der »die Erde als Heimat des Menschen, und alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, Sprache, Nation als seine Brüder und seine Mitbürger [betrachtet], gleich an Rechten aber auch an Pflichten.«63 Internationalität lässt sich aber nach Seidel nur schaffen durch einen freien Willensakt souveräner Nationen: »Die Internationalität ist der Wille zur freien Vereinigung der Nationalitäten und hat die freien Nationen zur Voraussetzung. Es gibt auch eine Internationalität, die durch gewaltsame Unterjochung der Völker in despotischen Reichen herrscht, aber das ist eine Internationale der Knechtschaft. Wir wollen eine Internationale der Freiheit und Brüderlichkeit. Aber diese Internationale gibt es nicht, ohne freie, selbstständige Nationen; und Völkerverbrüderung gibt es nicht, ohne freie Völker. Die freien Nationen sind die Glieder der Internationale, die freien Völ ker sind die Organe der Menschheit. Eine Internationale ohne freie Nationen als Glieder, und eine Menschheit ohne freie Völker als Organe gibt es nicht und kann es nicht geben. Wer eine Internationale bauen will, durch Zertrümmerung der Nationen, der will einen Tempel bauen, indem er zuerst die Säulen und Bausteine dazu in Stücke schlägt.«64
In dieser längeren Passage tritt nun die zweite Komponente – im Text die dominante – des Brüderlichkeitsbegriffs deutlich hervor: ›Brüderlichkeit‹ als internationale Gesinnung. Diese soll aus freiem Entschluss erfolgen. Warum und wie dieser Entschluss aber zu begründen sei, bleibt im Dunkeln. Die argumentative Unterbestimmung dieses Zusammenschlusses lässt sich wohl daher erklären,
60
Ebd.: 38.
61
Ebd.: 39.
62
Ebd.: 116.
63
Ebd.: 170f.
64
Ebd.: 39.
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dass diese ideologisch als Zielkomponente der sozialdemokratischen Bewegung fest verankert und wenig begründungsbedürftig erscheint. 65
8.6 P ÄDAGOGIK 8.6.1 Diagnose und Kritik von Pädagogik Wird der Text Seidels auf seine pädagogischen Motive befragt und geht man von dem in den bisher analysierten Texten immer wiederkehrenden Darstellungsmuster aus, das eine schlechte aktuelle Pädagogik diagnostizierte, die es zu kritisieren und von der es sich abzuwenden galt, um auf dieser Kontrastfolie eine andere, ›bessere‹ Pädagogik zu entwerfen, wird man in der Staatsbürgererziehung nicht fündig. Lediglich an einer Stelle gibt Seidel einen kritischen Kommentar zur Pädagogik: »Die amtliche Pädagogik freilich war im Zeitalter des Manchestertums und des Individualismus (1830-1860) individualistisch, und sie ist heute noch nicht vom sozialen Geist erfüllt. Es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, ihr diesen sozialen Geist zu geben.« 66 Auch wenn das Fehlen eines »sozialen Geistes« beklagt wird, wird aus diesem Satz nicht deutlich, was es aktuell an der »amtlichen Pädagogik« zu kritisieren gibt: Das »Zeitalter des Manchestertums und des Individualismus« sei seit mehr als 50 Jahren vorbei und die »amtliche Pädagogik« sei damals davon erfüllt gewesen. Wenn sie es war, ist sie es scheinbar nicht mehr. Aber sie sei auch »noch nicht vom sozialen Geist erfüllt«, den ihr die Sozialdemokratie geben müsse. Wessen Geistes Kind also die aktuelle Pädagogik sei, verschweigt Seidel. Auch bleibt unklar, was die »amtliche« Pädagogik sein soll: Die staatlich-offiziellen pädagogischen Programme und Verordnungen, die universitär-akademische Lehrmeinung, die schulpädagogische Praxis? Letztere wohl nicht, denn den praktizierenden Pädagogen, den Lehrern, stellt Seidel ein durchweg positives Zeugnis aus: »Die Lehrerschaft aber ist erfüllt vom Geis65
Es ist irritierend, dass Seidel sich keine der in der sozialistischen Bewegung verbreiteten Argumentationen bedient. Weder die christliche Begründungsfigur weltweiter ›Brüderlichkeit‹ der ›Kinder Gottes‹, auf die sich vor allem frühe Sozialist*innen wie Wilhelm Weitling (1845: 60f.), aber auch Franz Heinrich Ziegenhagen oder Étienne Cabet beziehen, noch die marxistische, nach der durch die ökonomische Entwicklung an »die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit […] ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander [tritt]« (Marx/Engels [1848] 1960: 466) wird von Seidel genutzt. Würde er dies tun, müsste er allerdings sein Nationalitätenkonzept revidieren.
66
Seidel (1917: 12).
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te der modernen Pädagogik, die seit Jahrhunderten grundsätzlich jede Art von Abrichtung zu kirchlichen und parteipolitischen Zwecken ablehnt und freie Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit fordert.« 67 Die freie Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit – das scheint das individualistische Motiv zu sein, über das er noch kurz vorher klagte. Auch in der Ablehnung von »Abrichtung« zu kirchlichen oder parteipolitischen Zwecken klingt der eben noch abgelehnte Liberalismus mit. Seidel verbindet mit seinem Plädoyer für die staatsbürgerliche Erziehung also keine Ablehnung oder Kritik einer bestehenden Pädagogik, sondern will diese nur partiell verbessern, eben durch die Einführung staatsbürgerlichen Unterrichts. 8.6.2 Ziel von Pädagogik Bisher sind schon einige der mit dem staatsbürgerlichen Unterricht verbundenen pädagogischen Zielvorstellungen genannt worden. Nun gilt es, sie systematisch zu ordnen und darzustellen. Auf drei Maßstabsebenen lassen sich die Ziele der Staatsbürgererziehung verorten: Der Mikro-Ebene des einzelnen Menschen, der Meso-Ebene der Nation bzw. des Volkes, bzw. des Staates und der Makro-Ebene der Weltgesellschaft. Auf den einzelnen Mensch bezogen ist für Seidel das Erziehungsziel in der von ihm auf Marx zurückgeführten, jedoch mindestens seit Saint-Simon verwendete Formel der vollseitigen Entwicklung des Menschen bestimmend:68 »Im vollseitig entwickelten Menschen, wie ihn Marx für die Erziehung der Zukunft fordert, sind auch entwickelt und müssen entwickelt sein die staatsbürgerlichen oder sozialen und politischen Anlagen und Fähigkeiten, denn sie sind die besten und nötigsten für den Menschen als eines Gliedes der Gesellschaft und des Staates.« 69
An anderer Stelle spricht er in ähnlicher Weise vom »Bildungsideal der harmonischen Menschenbildung, von welcher die sozialpolitische Bildung nur ein Teil, aber der wichtigste Teil«70 sei; oder vom »Ideal der Bildung – das ist der allseitig und harmonisch entwickelte gute Mensch. Aber dieses Bildungsideal ist nur er reichbar durch Bildung des Menschen für Gesellschaft und Staat, Volk und Menschheit.«71 Mit dem Begriff der Anlagen, die entwickelt werden müssten, impliziert Seidel eine quasi natürliche Bestimmung des Menschen zum Staats67
Ebd.: 22.
68
Vgl. Hobsbawn (2014: 42).
69
Seidel (1917: 13).
70
Ebd.: 23.
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bürger. Er sieht diesen schon im Kern des Menschen und will ihn zum Glied von Staat und Gesellschaft erziehen, weil dieser von Natur aus dazu bestimmt sei. In diesem Sinne habe Pädagogik nur noch das freizusetzen, was im Kern schon im Menschen angelegt sei: »Der Mensch ist von Natur aus ein gesellschaftliches und staatliches Wesen, und er muß zu seinem Glücke und zum Wohl der Ge meinschaft deshalb auch für die Gesellschaft und den Staat unterrichtet, erzogen und gebildet werden.«72 Also: natürliche Bestimmung zur Gesellschaft und zum Staat, daher Erziehung zu Staatsbürgern, um sowohl dem Staat als auch sich selbst zum Glück zu verhelfen. Konkreter werden diese Erziehungsziele von Seidel – im Bezug auf die staatsbürgerliche Erziehung – unter folgender Aufzählung gefasst: »Unter staatsbürgerlicher Erziehung verstehen wir die Erziehung des Menschen zum so zialen und politischen Fühlen und Denken, Wollen und Handeln […,] zur Freiheit und Gleichheit, zur Brüderlichkeit und Gerechtigkeit, zur Wahrhaftigkeit, Liebe und Güte […,] zu einem tüchtigen und guten Gliede der menschlichen Gesellschaft und des Staates.« 73
Diese und ähnliche Formulierungen finden sich auch an anderen Stellen seines Werkes.74 Pädagogik ist das Programm der Steuerung von Lernprozessen, die zur Eingliederung des Individuums in die Gemeinschaft führen sollen. Neben diesen auf den einzelnen Menschen als Glied der Gemeinschaft gerichteten Erziehungszielen stehe Pädagogik auch im Kontext der sozialen Reform: »Die staatsbürgerliche Erziehung muß und wird durch ihre innere Logik zu einer Reform der Schulorganisation, des Unterrichtsbetriebes und der Erziehungsart führen, und diese pädagogische Reform wird und muß der sozialen und politischen Reform dienen, und in erster Linie dem arbeitenden Volke zugute kommen.« 75
71
Ebd.: 24. Ähnliche Formulierungen finden sich an weiteren Stellen der Staatsbürgererziehung: »Unsere Losung war, ist und muß bleiben die allseitige harmonische Menschenbildung, und zu dieser gehört auch staatsbürgerliche Bildung.« (Seidel 1917: 50) Oder: »Die menschliche Erziehung ist also diejenige, welche sowohl die individuellen wie die sozialen und politischen Anlagen und Kräfte des Menschen allseitig harmonisch zur Entwicklung bringt.« (ebd.: 173).
72
Seidel (1917: 14).
73
Ebd.: 24.
74
Vgl. Seidel 46, 46.
75
Ebd.: 2.
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Nicht also, wie wenige Jahre später Siegfried Bernfeld konstatieren wird, folge die Pädagogik den sozialen Bedingungen, 76 sondern sie beeinflusse und verändere »ihrer inneren Logik« nach die Reform. Freilich würde die Einrichtung eines solchen Unterrichts die Form der Erziehung ändern, Seidel geht aber über rein unterrichtsorganisatorische Fragen hinaus, wenn er der staatsbürgerlichen Erziehung eine gesellschaftsverändernde Kraft zubilligt. 77 Denn verbunden mit der Zielvorstellung der sozialen Reform hin zum Sozialismus bestimmt er die Aufgabe des Lernens im Sinne des Erwerbs staatsbürgerlichen Wissens auch als Propädeutikum sozialistischer Erziehung: »Die staatsbürgerliche Erziehung ist kein Gegensatz zur sozialistischen Erziehung, sondern sie ist eine Vorbedingung [Herv. i.O.] zu ihr. Sie vermittelt ja der Jugend Kenntnisse über den Staat, über die Gesellschaft und über die nationale und internationale Volkswirtschaft, und sie regt die Jugend zum Fühlen und Denken, zu Wollen und Handeln für den Staat und für die Gesellschaft, für das Volk und für die Menschheit an. Die staatsbürgerliche Bildung ist deshalb für die sozialistische Bildung ganz unentbehr lich, denn niemand kann ein rechter Sozialist sein, der keine staatsbürgerliche Bildung be sitzt.«78
Hier deutet sich eine andere Bedeutungsebene des Pädagogischen an: Es geht nicht mehr darum, quasi-natürliche Lernprozesse zu ihrer Entfaltung zu bringen, sondern Lernen zu steuern, damit eine sozialistische Bildung möglich wird. Neben der politischen und sozialen Reform bildet Frieden ein weiteres, mit der staatsbürgerlichen Erziehung verbundenes, Erziehungsziel: »Nicht für den Krieg, sondern für den Frieden der verschiedenen Völkergruppen in unserem eigenen Lande, und für den Frieden des Schweizer Volkes mit anderen Völkern wollen wir die staatsbürgerliche Erziehung schaffen und organisieren.« 79 In diesem Zusammenhang sieht Seidel auch die Notwendigkeit der Erziehung hin zu einer internationalen Gesinnung: »Unsere nationale staatsbürgerliche Erziehung muß die Verständigung und Verbrüderung der gleichberechtigten Nationen; sie muß die Internationalität und Menschlichkeit sich zum Ziele setzen.«80 Aus dieser Setzung entstehe dann »die schwierige Frage: Wie kann das von Natur patriotische, d.h. das naturgemäß die Heimat und das Vaterland 76
Vgl. Bernfeld (1925).
77
Die Ambivalenzen eines solchen Konzepts, wie sie in der Sozialdemokratie diskutiert wurden (vgl. Schwarte 1980), lässt Seidel hier außen vor.
78
Seidel (1917: 161).
79
Ebd.: 21.
80
Ebd.: 43.
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liebende Kind, zum Weltbürger erzogen werden? Welche Erziehungsmittel gibt es, um dieses hohe Ziel zu erreichen?« 81 Schwierig sei die Frage, da der Mensch von Natur aus ein ›nationaler Mensch‹ sei, kein ›Weltbürger‹. Jener wäre eher eine künstliche Schöpfung, die eben pädagogisch zu realisieren sei. Die Antwort auf die »schwierige Frage« findet sich prägnant formuliert etliche Seiten später: »Soll aus einem Schweizer Kinde ein Weltbürger werden, so muß es erst mit Absicht und Willen dazu erzogen und gebildet werden.« 82 Diese absichts- und willenvolle Erziehung besteht nun darin, »die Vaterlandsliebe von den Schlacken der nationalen Ueberhebung, des nationalen Egoismus und des Nationalhasses zu befreien, und sie zur schönen Menschlichkeit heranzubilden [Herv. i.O.].«83 Eine edle Aufgabe, doch finden sich in der Staatsbürgererziehung weder Anhaltspunkte, woher diese »Schlacken« kommen, noch wie man sie lösen kann. Diese »schöne Menschlichkeit« zu der heranzubilden sei, ist nun in der Kategorie des Weltbürgers aufgehoben: »Weltbürger und Mensch sind Begriffe, die übereinstimmen und sich decken. Der Welt bürger betrachtet die Erde als Heimat des Menschen, und alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, Sprache und Nation als seine Brüder und seine Mitbürger, gleich an Rechten, aber auch gleich an Pflichten. Die Erziehung zum Menschen ist demnach dieselbe Aufgabe wie die Erziehung zum Weltbürger.«84
Hier taucht das oben schon beschriebene »Gedankending« »Mensch« auf, der »ideale Mensch« oder »Weltbürger«, zu dem hin es zu erziehen gilt. Mit der Erziehung zum »Weltbürger« kommt eine dritte und zu den beiden vorherigen im Widerspruch stehende Ebene des Pädagogischen ins Spiel: Denn das Ziel des Weltstaatsbürgers ist für Seidel keines, das in der Natur des Menschen angelegt ist. Der Mensch muss mehr oder minder zwanghaft dazu gebracht werden. 85 81
Ebd.: 65.
82
Ebd.: 148.
83
Ebd.: 159.
84
Ebd.: 170f.
85
Dieses Motiv ist freilich kein genuin sozialistisches. So lässt sich Seidels Konzept der Erziehung vom natürlichen Patriotismus zum unnatürlich-sittlichen Weltbürger mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Konzept der Erziehung als geistige Wiedergeburt des Menschen vergleichen: »Pädagogik ist die Kunst, den Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich, und zeigt den Weg ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird« (Hegel [1820] 1964: 234). Freilich findet sich
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Die Argumentation Seidels nimmt aber nicht nur Rücksicht auf die Legitimation der eigenen Ansichten, sondern versucht auch mögliche Gegenargumente zu entkräften und alternative pädagogische Zielbestimmungen zu delegitimieren. So entgegnet er der Befürchtung, die staatsbürgerliche Erziehung könne parteipolitisch instrumentalisiert werden, diese Gefahr bestünde nicht, denn »die Interessen der verschiedenen Parteien erfordern schon die parteipolitische Neutralität dieses neuen Unterrichts und dieser erweiterten Bildung.« 86 Dieses Argument erklärt sich aus der Vorstellung von Staat und Gesellschaft, der Seidel anhängt und die oben rekonstruiert wurde. Seidel setzt sich in diesem Punkt mit den Ansichten Robert Grimms auseinander, der »die Erziehung zum Klassenkampf gar als ein neues, höheres Erziehungsziel« ansehe.87 Diese Ansicht müsse nach Seidel »entschieden bekämpft werden, weil sie falsch und verderblich ist, und weil sie nicht vorwärts, sondern rückwärts führt [Herv. i.O.].«88 Zum Verständnis dieser Position lohnt ein längerer Exkurs zum Thema ›Klassenkampf‹ bei Seidel: »Der Klassenkampf besteht seit Jahrtausenden; er besteht, seitdem es Klassen gibt. Die widerstreitenden Interessen der Klassen erzeugen von selbst den Klassenkampf. Aber nicht zum Klassenkampf, sondern nur zur Kenntnis und zum Verständnis des Klassenkampfes als einer Folge der Klassen, als eines Mittels der Klassen ihre Interessen im Staa te zu vertreten, und als eines Faktors vieler geschichtlicher Ereignisse muß der Mensch er zogen werden. Diese Erziehung zur Kenntnis und zum Verständnis des Klassenkampfes bildet aber nur einen sehr kleinen Teil der vollständigen Erziehung des Menschen, und deshalb wäre es eine vernunftwidrige pädagogische Einseitigkeit und eine Versündigung am Menschen, den Klassenkampf als Erziehungsziel aufstellen zu wollen.« 89
Nicht den Klassenkampf zu führen, sondern ihn zu kennen, ist Lernziel.90 Letztendlich qualifiziert Seidel jede Form der Erziehung zum Klassenkampf als nichtsozialistische, schlimmer: als anarchistische Versündigung an der Nation: methodisch in der Staatsbürgererziehung nichts, was diese ›Umwandlung‹ zu erklären vermag. 86
Seidel (1917: 21).
87
Ebd.: 164. Die grundlegenden Positionen Robert Grimms sind in Grimm 1918 dokumentiert.
88
Seidel (1917: 164).
89
Seidel (1917: 164f.).
90
Ohne dass er diesen Punkt ausführt berührt hier Seidel ein zentrales Problem sozia listischer Pädagogik: Die kategoriale Differenz zwischen Pädagogik und Politik (vgl. dazu Winkler/Pfützner/Paul-Siewert 2016).
214 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Den Klassenkampf als Erziehungsziel aufstellen – das kann nur der Anarchist tun, der den Staat verneint, niemals der Sozialist. Kein Sozialist hat es je getan und wird es jemals tun, denn die Nation ist das weit höhere sozialpolitische Gebilde als die Klasse, und nur durch die Nation kann man zur Internationalität und zum Sozialismus kommen [Herv. i.O.].«91
Auf dieses abschließende Zitat ist nicht näher einzugehen, es erklärt sich aus dem bisher gesagten. 8.6.3 Formen und Methoden der Pädagogik Jede Pädagogik impliziert, neben einem Bewusstsein ihrer Ziele, Vorstellungen davon, wie diese Ziele zu erreichen sind, ein methodisches Konzept. Auch Seidel fragt danach, und findet zwei Modi der Erziehung: »Und was ist der Weg zu diesem Ziel? Das ist erstens die unbewußte natürliche Erziehung, die dem heranwachsenden Volksgliede und Staatsbürger durch das Leben in der gegebenen Volks- und Staatsgemeinschaft zuteil wird, und das ist zweitens die bewußte Er ziehung welche die Volks- und Staatsgemeinschaft ihren künftigen Trägern zur Erhaltung, Fortpflanzung und fruchtbaren Entwicklung des Volkes und Staates durch die öffentlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten geben soll.« 92
Die »unbewußte natürliche Erziehung« beschreibt in etwa das, was man heute als (politische) Sozialisation bezeichnet, das zweite die Erziehung in den dafür etablierten Einrichtungen der Gesellschaft. Es fällt auf, dass der familiären Erziehung weder als Sozialisation noch als bewusste Erziehung an dieser Stelle Beachtung geschenkt wird, obwohl diese doch zumindest in der damaligen sozialistischen Erziehungsdebatte intensiv diskutiert wurde – und selbstverständlich Frage des politischen Bewusstseins einbezog.93 Sehen wir uns zuerst Seidels Analyse der (politischen) Sozialisation an, da diese, wie wir später sehen werden, die Grundlage der bewussten Erziehung bildet. Und tatsächlich stoßen wir, aber eher beiläufig, auf die Familie: »Der Mensch wird als Kind einer Familie geboren. Diese Familie wohnt an einem Orte, der zu einem Lande gehört. Dieses Land wird seit Jahrhunderten von einem Volke bebaut 91
Seidel (1917: 165).
92
Ebd.: 174.
93
Vgl. etwa die Überlegungen Zetkins zur Erziehung in der Familie auf S. 180 dieser Arbeit.
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und bewohnt, und darum gehört dieses Land diesem Volke. Dieses Volk hat eine gemein same Sprache, gemeinsame Sitten, gemeinsame Ordnungen und Rechte; es hat einen Staat. Dieser Staat, dieses Land und dieses Volk sind eine Einheit, und das Kind wächst in dieser natürlichen Einheit von Volk, Land und Staat heran.« 94
Und weiter: »Der Mensch wird also nicht als Weltbürger geboren, und von seiner natürlichen Umgebung auch nicht zum Weltbürger gebildet, sondern er wird als ein Kind von Staatsbürgern, Landesbewohnern und Volksgliedern geboren, und er wird durch die Familie, durch die Gemeinde, durch das Volk und den Staat auch zu einem Gliede dieses Volkes und Staates unbewußt erzogen und gebildet.«95
In diesen Textpassagen wird die Grundlage des didaktisch-methodischen Konzepts der Staatsbürgererziehung offen gelegt. Bezogen auf Lernsteuerung wird ein sozial-ökologisches Konzept in dem Sinne deutlich, dass die (un)mittelbare Umwelt des Menschen seine Lern- und Entwicklungsprozesse strukturiert und steuert, mithin dafür verantwortlich ist, wohin und wozu er sich entwickelt. Aus der Prämisse der lokalen bzw. nationalen Einbettung des Kindes entwickelt Seidel seine didaktischen Schlussfolgerungen: »Der Schweizer kann nur durch Benützung der Schweizer Geschichte und Schweizer Geographie, der Schweizer Landeskunde und Schweizer Volkskunde, des schweizerischen Verfassungswesens und Rechtswesens und der schweizerischen wirtschaftlichen und sozialen Zustände und Verhältnisse zum Staatsbürger erzogen werden. Ein anderer Weg der sozialpolitischen Erziehung wäre für den Schweizer unnatürlich, unpsychologisch, unpädagogisch und unmethodisch; ein anderer Weg der staatsbürgerlichen Erziehung als derjeni ge durch die Heimat und durch die eigene Nation des Menschen ist überhaupt unmög lich.«96
An späterer Stelle zitiert Seidel Passagen aus seinen Sozialpädagogischen Streiflichtern über Frankreich und Deutschland von 188797: »Alle Belehrungen müssen also an die engste Heimat des Kindes angeknüpft werden, weil es dieselbe kennt, weil es aus ihr seine Vorstellungen und Begriffe schöpft, weil sie ihm Lust 94
Seidel (1917: 147).
95
Ebd.: 147.
96
Ebd.: 40.
97
Vgl. Seidel 1887.
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und Leid bereitet, ihm Schutz und Schirm bietet – kurz, weil sie seine Welt, ideel wie materiell ist [Herv. i.O.].«98 Seidel folgt hier pädagogischen Vorstellungen, die später in der reformpädagogischen Bewegung eine wichtige Rolle spielen werden und die seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt wurden. Seidel vermittelt dieses Prinzip mit dem pädagogischen Ziel der Volksbildung, der Erziehung zum schweizerischen Staatsbürger. Daher richtet sich seine Erziehung an das gesamte Volk, alle sollen zu Staatsbürgern erzogen werden: »Die Forderung der nationalen und staatsbürgerlichen Erziehung war ein fortschrittlicher Kampfruf. Mit nationaler Erziehung bezeichnet man die Bildung des ganzen Volkes, und nicht nur die Bildung des Adels und der Geistlichkeit. Nationale Erziehung hieß demokratische Volksbildung, im Gegensatz zur aristokratischen Herrscherbildung.«99 Dem Geist der Zeit mag es entspringen, dass Seidel für die im Laufe der bürgerlichen Revolutionen ›frei‹ gewordenen Menschen nun die neue ›Integrationsklammer‹ Nation wählt. Bewusst habe diese Erziehung zum Staatsbürger nun in den pädagogischen Einrichtungen des Staates abzulaufen, vor allem an den öffentlichen Schulen und Hochschulen. Aber auch die politischen Parteien würden zumindest teilweise jene Aufgabe wahrnehmen, jedoch nur in einer verzerrten, eben parteiischen Perspektive. Die Staatsbürgererziehung an öffentlichen Schulen aber würde die Parteien in dieser Hinsicht entlasten. 100 Die »sozialpolitische Erziehung [soll] für die Schüler aller Schulen obligatorisch sein« 101, allerdings habe sie nicht schon in der Volksschule zu beginnen, denn diese habe »Dringen deres zu tun.«102 Vielmehr solle diese Erziehung im Jugendalter ansetzen: »Zur sozialpolitischen Erziehung bedürfen wir der reiferen Jugend vom 15. bis 18. Lebensjahr, noch besser der reifenden Jünglinge und Jungfrauen vom 18. bis 20. Lebensjahr. Und als Bildungsanstalten für diese jungen Leute brauchen wir die Fortbildungsschule bis zum 18. Lebensjahr, oder noch besser, wir brauchen eine Bürgerschule vom 18. bis zum 20. Lebensjahr.«103
Neben diesem Unterricht in den Schulen solle auch an den Universitäten ein derartiger Unterricht eingeführt werden,104 um die Studierenden unter anderem über 98
Seidel (1917: 158).
99
Ebd.: 34.
100 Vgl. ebd.: 19. 101 Ebd.: 27. 102 Ebd.: 28. 103 Ebd. 104 Vgl. ebd.: 32.
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ihre Pflichten gegenüber Staat und Gesellschaft zu instruieren. Ist nach Seidel jedes Kind ein natürlicher Staatsbürger und ein natürlicher Patriot, so müsse es dennoch im Geiste des Internationalismus zum Weltbürger (d.h. Mensch) erzogen werden. Zwischen Staatsbürger und Weltbürger konstruiert Seidel einen scheinbaren Widerspruch, der nicht dadurch gelöst wird, dass der Staatsbürger im Weltbürger aufgehoben wird, sondern darin, dass der Weltbürger zur bloßen Gesinnung verharmlost wird. In diesem Sinne ist der Staatsbürger auch eine methodisch dem Weltbürger vorgeordnete Größe, mit der zu rechnen ist: »Internationalität, deutsch wörtlich: Zwischennationalität, schließt die Nationalität gar nicht aus, sondern hat sie vielmehr zur Voraussetzung.« 105 Die entsprechenden Konstruktionen Seidels wurden bereits im Unterkapitel über den Solidaritätsbegriff behandelt. Dennoch soll hier noch einmal ein längeres Zitat verwendet werden, um deutlich zu machen, dass Seidel hier auch pädagogisch-methodische Perspektiven in den Blick nimmt: »Diese Liebe zum Land und Volk der Heimat, der natürliche Patriotismus oder Nationalis mus ist gut, weil er nicht egoistisch, sondern altruistisch oder gemeinnütz, sozial ist. Wer die Jugend für Staat und Gesellschaft, also sozialpolitisch erziehen will, der muß die sen Patriotismus als eine soziale Tugend erkannt haben; er muß sie achten und benützen für die Erziehung und Bildung des Menschen zum guten Gliede der Volks- und Staatsge meinschaft und zum guten Gliede der Menschen- und Völkergemeinschaft. Also: Der Weg zum hohen Ziele des Internationalismus und des Weltbürgertums geht durch den Nationalismus und das Staatsbürgertum, der Weg zur Völkerverbrüderung geht durch das Volk. Es gibt keinen anderen Weg.«106
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für Seidel jede Erziehung hin zum weltbürgerlichen Bewusstein nur über den Weg der bewussten Erziehung zum Staatsbürger erfolgen kann, die zwar schon unbewusst – im Sinne von Sozialisation als Lernsteuerung durch die sozialen und natürlichen Umstände – stattfindet, aber bewusst und zielgerichtet – aus ungenannt bleibenden Gründen – verstärkt werden müsse. Es bleibt eine gewisse Widersprüchlichkeit.
8.7 G ESAMTSCHAU Wird die Staatsbürgererziehung vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis zwischen ›Solidarität‹, Gemeinschaftlichkeit und Pädagogik betrachtet, 105 Ebd.: 38. 106 Ebd.: 41f.; ähnlich: vgl.: ebd.: 159.
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können die folgenden Beziehungen identifiziert werden: Seidels Grundannahme von der ursprünglichen Existenz verschiedener Völker folgend, kommt diesen sozialen Gruppen eine im mehrfachen Sinne bestimmende Bedeutung zu. Auf der einen Seite sei jedes menschliche Individuum durch seine Geburt in eine spezifische ›Volksgemeinschaft‹ hinein von dieser in der spezifischen Ausformung seiner Person bestimmt, also im Erlernen von Sprache und moralischen Überzeugungen. Auf der anderen Seite bildeten Völker naturgemäß Nationalstaaten, die die Charakteristika des jeweiligen Volkes auf einem bestimmten Territorium gegen äußere Feinde verteidigten, aber auch die Entfaltung der Eigentümlichkeit des Volkes im inneren erst ermöglichen würden. Der Staat als ›Organ‹ der Nation ist ebenso, wie die Nation selbst und der von ihr bewohnte Raum, für die Entwicklung der, in dessen Grenzen lebenden, Menschen bestimmend. Für Seidel ist der Mensch ein von Natur aus gesell schaftliches und staatliches Wesen. Dieses Wesen werde durch das Aufwachsen in einer bestimmten Nation zum spezifisch nationalen Wesen ausgebildet. Mithin finde eine zwar nicht absichtliche, aber unabdingbare Lernsteuerung durch die natürliche und gesellschaftliche Umwelt des Menschen statt. Sozialisation mache den Menschen unabwendbar zum Nationalstaatsbürger. Dennoch scheint Seidel kein vorbehaltloses Vertrauen in die quasi natürlich ablaufenden Sozialistationsprozesse als Lernsteuerungsprozess zu haben. Bewusste Erziehung im Sinne intentionaler Lernsteuerung hat in seinem Konzept so auch eine zentrale Bedeutung. Der Staat benötige eine gemeinsame moralische Einheit, die auch pädagogisch durch aktive Staatsbürgererziehung herangebildet werden müsse. Wichtiges Element dieser moralischen Einheit sei die innerstaatliche bzw. nationale ›Solidarität‹ oder ›Brüderlichkeit‹. Während oben als eine Bedeutung des Solidaritätsbegriffs in der Staatsbürgererziehung die Zusammengehörigkeit in der eigenen Nation gefunden wurde, kommt ›Brüderlichkeit‹ als Norm der reziproken Einordnung in die ›Volksgemeinschaft‹ eine starke Rolle zu. Gleichwohl sie quasi natürlich angelegt sei, müsse zu ihr hin erzogen werden, damit die einzelnen Staatsbürger die Leistungen, die sie von Staat und Nation erhalten hätten, wieder zurück geben würden. Paradox erscheint dabei, dass Seidel das Ziel der freien Entfaltung der Individualität des Menschen gleichzeitig mit der Notwendigkeit seiner Eingliederung in Nation und Staat proklamiert. Dieses scheinbare Dilemma löst sich jedoch dadurch auf, dass Seidel den Menschen als gesellschaftliches und staatliches Wesen konzipiert, das sich eben nur im Rahmen von Staat und Nation zu entwickeln vermag. Staat und Nation erscheinen als zentrale Spielfelder der auf ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ bezogenen Pädagogik, während Gesellschaft, die widersprüchlich als ›solidare
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Gemeinschaft‹ und als kapitalistische beschrieben wird, eine weniger bedeutsame Rolle für die Steuerung des Lernens spielt. Interessant wird es dort, wo Seidel die schweizerische Nationalität behandelt, die er selbst als Ausnahme von der bisher skizzierten Nations- und Staatsidee behandelt. Denn die schweizerische Nationalität wird von Seidel als Vorbild für einen neuen, sozialpolitischen Typus von Nationalität gesehen, die sich eben nicht an Sprache, Herkunft oder dergleichen festschreibt, sondern aufgrund ihres Zusammenwirkens innerhalb ein und desselben Staatsverbandes entstanden sei. Auch hier spricht er von ›Solidarität‹, meint aber nicht mehr den Zusammenhalt innerhalb einer bestimmten Nation, sondern zwischen verschiedenen Nationen, die in einem Staat gemeinsam leben. Hier wird für ihn Pädagogik besonders wichtig, denn die natürliche nationale Ausrichtung der Staatsbürgerschaft müsse zu einer internationalen schweizerischen Staatsbürgerschaftsgesinnung gebildet werden. Es seien Lernprozesse zu gestalten, die aus der gemeinsamen Geschichte der unterschiedlichen Völker im selben Sozialverband (Staat) eine Identifikation mit einem nicht (mehr) nationalen Staatsvolk herbeiführt. Beispielhaft ist diese neue Nationalität für Seidel deshalb, weil sie ein Vorbild für die angestrebte internationale Verbrüderung der Völker der Erde sei. Diese müssten sich ihrer eigenen Eigenschaften als Völker bewusst werden, um dann auch die der anderen anzuerkennen. Dies könne nur als Prozess der Verbrüderung geschehen, der für Seidel ein genuin pädagogischer ist: Die natürlichen Staatsbürger müssten zu Weltbürgern erzogen werden, und blieben beides zugleich, wenn diese Erziehung erfolgreich war. Dann werde ein neuer, ›guten‹ Nationalismus entstanden sein, der nicht die anderen Nationalitäten abqualifiziert, sondern sich ihnen brüderlich verbunden weiß.
Teil B Interpretationen und Entwürfe
9. Sozialistische Pädagogiken der Solidarität?
9.1 P ROBLEMSTRUKTUR : D AS V ERHÄLTNIS VON I NDIVIDUUM UND G ESELLSCHAFT Die eingangs aufgestellte Fragestellung dieser Arbeit, ob und wie im sozialistischen pädagogischen Denken ein Zusammenhang zwischen Pädagogik, Solidarität1 und Gemeinschaft hergestellt wurde, wurde im letzten Kapitel bearbeitet. Durch die Interpretation der fünf Quellentexte konnten (unter Vereinfachung der vielfältigen Solidaritätsbegriffe) fünf unterschiedliche idealtypische Fassungen dieses Verhältnisses rekonstruiert werden. Jenseits der Zuordnung dieser Texte zur ›sozialistischen Tradition‹ stellt sich die Frage nach einem gemeinsamen pädagogischen Motiv dieser Texte; die Frage danach, ob es sich in diesen Texten um eine spezifische – vielleicht sozialistisch zu nennenden – Pädagogik handelt, die sich trotz ihrer Unterschiede durch ein Gemeinsames auszeichnet? Um diese Frage beantworten zu können, müssen die Texte und ihre Interpretationen erneut befragt werden und zwar im Hinblick darauf, ob in ihnen eine übergreifende Problem- und Antwortstruktur deutlich wird: Gibt es ein ihnen gemeinsames Problem, auf das sie sich mit ihren je unterschiedlichen Antworten beziehen? Und wenn ja, was ist dann das Gemeinsame der pädagogischen Lösungsvorstellungen? Die erste Frage soll mit einem vorläufigen ›Ja‹ beantwortet und mit der These verknüpft werden, dass es den Texten um ein Grundproblem des bürgerlichen 1
Im Folgenden wird nur noch von ›Solidarität‹ gesprochen werden, die als ›Brüderlichkeit‹ analysierten Konzepte werden unter den Solidaritätsbegriff subsumiert. Dies begründet sich zum einen darin, dass mit dem Wort ›Brüderlichkeit‹ eine einseitig auf Männlichkeit bezogene Formulierung verwendet werden würde, zum anderen damit, dass die mit ›Brüderlichkeit‹ bezeichneten Sachverhalte nach den vorgelegten Analysen durchaus als Typen von ›Solidarität‹ beschrieben werden können.
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Zeitalters geht: Das Verhältnis zwischen dem formal freien Individuum und der diese Freiheit bedingenden Gemeinschaft. Zugespitzt: Wie kann das Verhältnis zwischen freiem Individuum und Gesellschaft gedacht werden unter der Prämisse, dass das Individuum ohne eine gewisse Einordnung in die Gesellschaft (und damit einer Beschränkung der Freiheit) nicht als freies bestehen kann? Das Problem besteht mit anderen Worten in der Frage, wie ein entsprechendes Passungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft herzustellen ist. Pädagogisch gewendet besteht diese Frage darin, wie die Beziehung zwischen Bildung und Erziehung zu denken und zu realisieren ist. Dieses Thema findet sich in allen fünf Texten. So geht es in Franz Heinrich Ziegenhagens Verhältnislehre gewissermaßen um nichts anderes als die Diskussion der titelgebenden Frage nach dem ›richtigen Verhältnis‹ zwischen Einzelnem und Gesellschaft. Dabei hat Ziegenhagen eine Antwort gefunden, wenn er schreibt: »also beruht das Gluek der Geselschaft, auf dem richtigen Verhaeltnisse der Einzelnen, und Gluek der Einzelnen auf der Uebereinstimmung der Geselschaft«2 und im Laufe seines Buches entfaltet, was er unter dem richtigen Verhältnis versteht, das in einer Gesellschaft bestehen soll, die »die jedem Menschen angeschaffene, aber verlorene menschliche Freiheit wiederherstellen« 3 könne. Étienne Cabet beantwortet die Frage, ohne sie explizit zu stellen. Vielmehr diagnostiziert er einen Zustand der »Unwissenheit, der Unerfahrenheit, der Barbarei des Menschengeschlechts während vieler Jahrhunderte« 4, der nur durch die Einführung streng egalitärer Beziehungen unter den Mitgliedern der Gesellschaft, durch die Gütergemeinschaft, aufgehoben werden könne. Auch hier soll eine Freiheit herrschen, die darin besteht, »alles das zu thun, was nicht durch das Gesetz verboten ist, und nicht alles das zu thun, was nicht durch dasselbe befoh len ist.«5 Dabei wendet er sich ausdrücklich gegen jede Form von Zwang und Gewalt und plädiert für eine demokratische Gesetzgebung. Der Text Hippolyte Renauds sieht in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Individuum und Gesellschaft eine Kernaufgabe, um den als »Elend« 6 charakterisierten gesellschaftlichen Zustand zu überwinden. Den Schlüssel, diese Aufgabe zu lösen, sieht er darin, die »Neigungen oder Passionen zu studiren, um daraus ein Mittel, eine soziale Form [Herv. i.O.] abzuleiten«7, in welcher der 2
Ziegenhagen (1792: 7).
3
Ebd.: 602.
4
Cabet (1850: 15).
5
Ebd.: 36.
6
Renaud (1855: 4).
7
Ebd.: 23.
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Mensch glücklich wird. Es geht mithin darum, die ideale Form der Bildung (als Gesetz der Form individueller, innerer Lernsteuerung) zu finden, und damit Erziehung überflüssig zu machen. Die Form der Gesellschaft soll der Summe der Individualitäten und ihren Bildungsnotwendigkeiten entsprechen. Dabei gehen Individualität und Kollektivität eine sich ergänzende und gesellschaftsbegründende Symbiose ein, da Renaud dem Menschen den Wunsch attestiert, »sich Seinesgleichen zu nähern, mit ihnen Vereinigungen zu bilden« 8 aber gleichzeitig will er ihn vor den normierenden Ansprüchen dieser Vereinigungen in Schutz nehmen indem er »absolute Freiheit für Alle«9 fordert. Auf den ersten Blick scheint in Clara Zetkins Frauenfrage eine andere Problemsituation vorzuliegen als in den bisher behandelten Texten. Es geht vordergründig nicht um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern um das zwischen proletarischer Frau und sozialistischer Bewegung und zwischen proletarischer Frau und proletarischem Mann. Doch wird recht schnell klar, dass diese beiden Fragen nur im Kontext der Diskussion des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft zu klären sind: Letztliches Ziel Zetkins ist die »politische[ ] und wirthschaftliche[ ] Befreiung der gesamten Arbeiterklasse.« 10 Es geht ihr dabei um einen Prozess, der zum einen am Begriff der Gleichberech tigung orientiert ist: Die Geschlechter sollen »politisch und rechtlich […] gleichgestellt werden«11; zum anderen aber auch um den Begriff der Macht, zu der das Proletariat geführt werden soll, um »die gesellschaftlichen Beziehungen nach seinem Interesse zu gestalten.«12 Diese kämpferische Perspektive steht im Horizont des Ziels der Gleichberechtigung, die darin wurzelt, dass sich die Einzelnen »nach Maßgabe ihrer Anlagen und Fähigkeiten entwickeln« 13, also bilden, und zu »Menschen in der vollen Bedeutung des Wortes«14 werden sollen. Anders argumentiert Robert Seidel in der Staatsbürgererziehung, in der er als anthropologisches Faktum festhält: »Wir werden nicht für uns, sondern für die Gesellschaft des Menschengeschlechts geboren.«15 Ähnlich der Perspektive Renauds konstatiert er dabei die gesellschaftliche Natur des Menschen bei gleichzeitiger Forderung der »freie[n] Entwicklung der menschlichen Persön-
8
Ebd.: 41.
9
Ebd.: 115.
10
Zetkin (1889: 14).
11
Ebd.: 12.
12
Ebd.: 15.
13
Ebd.: 17.
14
Ebd.: 31.
15
Seidel (1917: 5).
226 | S OLIDARITÄT B ILDEN
lichkeit.«16 Während aber dieser scheinbare Widerspruch bei Renaud durch das Postulat der Passionen hin zum Individuum aufgelöst wird, wird das Problem bei Seidel zur Seite der gesellschaftlichen Integration des Menschen aufgelöst, wenn er schreibt, dass das »von Natur patriotische, d.h. das naturgemäß die Heimat und das Vaterland liebende Kind, zum Weltbürger erzogen« 17 werden müsse. Die ausgewählten Texte lassen sich also als Antwortversuche auf die Frage nach der Sicherung persönlicher Freiheit (und damit auch individuellen Bildungsmöglichkeiten) unter Bedingungen von Gesellschaftlichkeit (und damit auch der Notwendigkeit von Erziehung) interpretieren. Warum aber stellte sich diese Frage überhaupt? Warum war sie im 19. Jahrhundert so virulent? Schließ lich gab es nicht nur sozialistische Antwortversuche auf diese Frage, sondern auch kirchliche, konservative oder liberale, libertäre. 18 Der Zusammenhang dieser Problemstellung mit dem sozialgeschichtlichen Hintergrund, der sie überhaupt erst auf den Plan rief, soll in einigen Thesen skizziert werden, um dem Verständnis der Texte und ihrer Kontexte einige Facetten hinzuzufügen. Mit dem so geweiteten und geschärften Blick können später die systematischen Gehalte der Texte auf Möglichkeiten ihrer Verwendung und Entwicklung in aktueller und künftiger Theoriebildung befragt werden.
9.2 T HESEN
ZUM HISTORISCHEN
H INTERGRUND
Es mag irritieren, in einer explizit systematisch angelegten Arbeit ein Unterkapitel mit historischen Bezügen zu finden. Doch hat dies systematische Gründe. Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzt sich in gewisser Weise eine Gesellschaft neuen Typs durch, deren Entwicklung zwar schon vorher begonnen hat, deren Entfaltung jedoch erst im Laufe des Jahrhunderts einsetzte. Die Rede ist vom bürgerlich-kapitalistischen Zeitalter, das sich in seiner Struktur und den Anforderungen, die es an die in ihm Lebenden stellte, prinzipiell von vorherigen Epochen unterschied und daher auch einen neuen sozial begründeten Horizont des Denkens öffnete. Auf die Grundstrukturen dieser Entwicklung ist hier einzugehen, da sie die Herausforderung bildeten, die in den Texten diskutiert wurden. Es gibt zahlreiche historische Analysen der Geschichte des 19. Jahrhunderts und ebenso zahlreiche Vorschläge, wie diese Geschichte zu schreiben und zu lesen sei. Einigermaßen unumstritten ist dabei, dass es vier wesentliche Prozesse 16
Ebd.: 22.
17
Ebd.: 65.
18
Zur Verhandlung dieser Frage in den unterschiedlichen sozialistischen und nichtsozialistischen Strömungen der Arbeiterbewegung vgl.: Grebing 1966.
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gab, die die Signatur des 19. Jahrhunderts prägten. Das ist zum einen die Entfaltung der Wissenschaften und die mit ihr einhergehende Säkularisierung sowie die, von Max Weber beschrieben, Rationalisierungsprozesse. 19 Beides hat gleichwohl schon vorher begonnen, erreicht aber im 19. Jahrhundert eine neue, prägende Bedeutung. Mit diesem Prozess einher geht eine sich entfaltende Kritik an Religion, Politik, Wirtschaft und Recht zum Zweck der Emanzipation aus althergebrachten Herrschaftsverhältnissen.20 Diese sekundierten massive soziale und politische Umwälzungen, die als Auflösung feudaler Herrschaftsverhältnisse und der damit einhergehenden Freisetzung des Individuums gefasst werden können. Aus diesem Prozess folgten entsprechende Identitäts- und Orientierungsprobleme.21 Als wirtschaftlicher und sozialer Motor diese Prozesse kann die industrielle Revolution22 angesehen werden, die sowohl Folge, Katalysator als auch Medium jener Veränderungen war. Eng mit diesen Entwicklungen verbunden war die globale Expansion des europäischen Wirtschafts- und Politiksystems in Form des klassischen Imperialismus.23 Neben diesen grundlegenden Phänomenen haben das enorme Bevölkerungswachstum im Laufe des 19. Jahrhunderts und die aus diesem folgende Tendenz zur Verstädterung aber auch zur Auswanderung große Bedeutung für die Umbrüche dieser Epoche. 24 Die hier in aller Kürze beschriebenen Prozesse erst machten die Frage nach der rationalen Rechtfertigung der Stellung des Individuums innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges möglich. In einer statischen Welt der Stände und der ›Gott gegebenen‹ Ordnung gab es diese Frage nicht. In den vorliegenden Texten wird dieser Hintergrund immer wieder deutlich als sozialgeschichtliche Problematik, vor der sich die jeweilige Argumentation entfaltet.25 In den Texten tauchen vor allem vier der genannten Signaturen auf: (1) Das Ende des Feudalismus und Emanzipation des Individuums; (2) die industrielle 19
Vgl. Weber 1989, vgl. auch Bauer (2010: 40ff.); Hellmich 2013; Rosa/Strecker/Kottmann (2013: 59-63); Sackmann 1990: 65-70.
20
Bauer (2010: 52ff.).
21
Ebd.: 62ff.
22
Ebd.: 77ff.
23
Vgl. zur historischen Einordnung: Hobsbawm 2004; einleitend zur systematischen Diskussion des Imperialismusbegriffs: Deppe/Salomon/Solty 2011.
24
Vgl. Osterhammel (2010: 183-252; 1290). Nach Kuczynski migrierten 90% der deutschen Auswandernden in die USA, allein von 1820 bis 1870 wanderten demnach zweieinhalb Millionen Menschen aus (vgl. Kuczynski 1954a: 74, 193).
25
Freilich wird dabei nicht auf alle hier skizzierten Prozesse verwiesen: Die Frage des Bevölkerungswachstums, der Verstädterung und der massenhaften Auswanderung bleibt in den, in dieser Arbeit interpretierten Texten, unterbelichtet.
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Revolution und die damit einhergehende Soziale Frage; Pauperismus und Proletarisierung; (3) die Erosion des Religiösen und die Entfaltung einer szientistischen Orientierung; und (4) der sich entwickelnde Imperialismus als neue Form des Kolonialismus und des Strebens nach der europäischen Welthegemonie. Im Sinne der Interpretation, nicht der je einzelnen Texte, sondern der Texte als spezifisch sozialistischer Form der Antwortversuche auf die sich gesellschaftlich stellenden Fragen, sollen diese Signaturen im Folgenden in den Texten identifiziert werden. Dieses Vorgehen erscheint wichtig, um den gemeinsamen Horizont der Diskussion zu rekonstruieren; aber auch die Unterschiede der Ansätze hervorzuheben und systematische gesellschaftlich-pädagogische Problemstellungen zu verdeutlichen, die in ihrer Struktur auch heute womöglich noch relevant sind. Kurz: Über die sozialhistorische Kontextualisierung soll die Brücke in die Aktualität der Texte geschlagen werden. 9.2.1 Freisetzung des Individuums und neue Identitäten Der sich auf die individuelle Lebensführung vielleicht am stärksten niederschlagende Aspekt, wenn nicht der Aspekt, der der Rede von individueller Lebensführung überhaupt erst einen Sinn verlieh, war die, ideologisch durch die Aufklärung und sozial durch die Abschaffung der ständisch-feudalen Gesellschaftsordnung in Gang gesetzte, Freisetzung des Individuums. 26 War im Feuda26
Als Feudalismus kann dabei eine Gesellschaftsform bezeichnet werden, »in der die Eigentümer an Grund und Boden sich den Teil der Erzeugnisse der bäuerlichen Nichteigentümer, den diese nicht für sich selbst benötigen, durch nichtökonomische Gewalt angeeigneten« (Fülberth 2008: 87). Kapitalismus hingegen »ist die Funktionsweise von Gesellschaften, die auf Erzielung von Gewinn und der Vermehrung […] der hierfür eingesetzten Mittel (=Kapital) durch ›Warenproduktion mittels Waren‹ (Sraffa 1976) sowie durch den Kauf und Verkauf von Waren oder die Erstellung und den Verkauf von Dienstleistungen beruhen.« (Fülberth 2008: 12) Während in der feudalen Gesellschaft personale Abhängigkeitsbeziehungen und eine statische Ständeordnung dominierte, wurden diese beim Übergang in die kapitalistische Gesellschaft von ökonomischen Abhängigkeitsbeziehungen und – dem Prinzip nach – einer meritokratisch legitimierten Gesellschaftsstratifikation abgelöst. Die Transformation vom Feudalismus hin zu einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsform erstreckte sich über mehrere Jahrhunderte, in denen Elemente beider Formationen gleichzeitig bestanden. Dieser Prozess wurde in den deutschen Ländern im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts politisch vorangetrieben mit der Abschaffung der Leibeigenschaft (1807-1810) und der Aufhebung des Zunftzwanges (18071811). Vgl. auch: Kuczynski (1954a: 16); Fülberth (2008: 87-132).
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lismus jede*r durch den Zufall der Geburt an einen festen Platz im sozialen Kosmos gestellt, trat nun eine Dynamisierung der sozialen Beziehungen ein, der die Tendenz der Emanzipation von Herrschaft innelag, die spätestens mit dem Schlachtruf der Französischen Revolution prinzipiell allen galt, real aber nicht für alle sich durchsetzte: »Einige Emanzipationsprozesse waren erfolgreich. Sie führten zu mehr Freiheit und zu Gleichberechtigung, seltener zu tatsächlicher Gleichheit.«27 Die Freisetzung aus der tradierten Sozialordnung brachte massive Orientierungsprobleme mit sich, zumal die gesellschaftlichen Transformationsprozesse eine neue Art von Subjektivität nötig machten; eine neue Art des Verhältnisses der Menschen zu sich selbst und anderen. Es ist Georg Fülberth zuzustimmen, wenn er schreibt, dass zu »den Voraussetzungen und Folgen des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus […] ganz offenbar auch eine Umformung der Menschen selbst [gehörte].« 28 Wie diese Umformung genau geschehen, und welche Formen der ›neue Mensch‹ annehmen sollte, war umstrittenes und intensiv diskutiertes Thema der sich herausbildenden pädagogischen Theoriebildung sowie der politischen und pädagogischen Praxis. Als historische Konkretisierung der Leitkategorie des ›neuen Menschen‹ wurde zuweilen die Figur des Bourgeois beschrieben. 29 Dabei handelt es sich um einen prinzipiell anderen sozialen Typ als beispielsweise die festgelegten sozialen Rollen des Adels in der Ständegesellschaft. Die Grenzen zwischen Bürgertum und anderen Gesellschaftsschichten blieben permeabel, 30 auch wenn große Eintrittsbarrieren ins Bürgertum aufgestellt waren. Ein konstitutives Merkmal des ›neuen Menschen‹ war so auch seine individuelle Unbestimmtheit; auch wenn mit der Rede von ›Begabung‹ oder ›Genie‹ gewisse Determinationen postuliert wurden, wurde in der Kombination des Freiheitsprinzips und des Leistungsprinzips doch überwiegend die demokratische Idee der Offenheit individueller Entwicklung vertreten. Diese Offenheit führte zu zahllosen Versuchen der dann doch festen Bestimmung dessen, was der Mensch als Individuum und Gattung sei. Trotz oder gerade wegen dieser sich oft widersprechenden Versuche blieb letztlich das Individuum und seine persönliche Bestimmung, oder in moderneren Worten: seine Identität, nicht festlegbar. So gilt noch und galt schon mit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters Mollenhausers Vorsicht gegenüber festen Identitätsvorstellungen: »Das Verhältnis, das Identität heißt, besteht also aus der Differenz zwischen dem, was empirisch der Fall ist, und dem, was möglich wäre; die vereinfachende Selektion aus der empirischen 27
Osterhammel (2010: 1297).
28
Fülberth (2008: 122).
29
Vgl. u.a. Sombart 2002 [1913]; Schmaltz/Wallerstein 1995.
30
Vgl. Hobsbawm (1989: 177).
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Vielfalt ist ein zeitlicher Vorgriff auf Zukünftiges ist […] ein Entwurf, aber ein immer riskanter.«31 Daher »gibt es Identität in Fragen der Bildung des Menschen nur als Problem, nicht aber als Tatsache. […] Insofern gibt es, jedenfalls für die pädagogische Theorie, keine Identitäten, sondern nur Identitätsprobleme.« 32 Dass diese Problemstellung auch schon für die pädagogische Theorie des langen 19. Jahrhunderts galt, wurde in den oben vorgenommenen Problembestimmungen deutlich. Damit einher geht auch etwas, was Jürgen Osterhammel als »Spannung zwischen Gleichheit und Hierarchie«33 bezeichnete, um damit das ungleiche Verhältnis zwischen der »Tendenz zur Rechtsgleichheit«, die sich mit »dem Übergang zu Prinzipien sozialer Schichtung« verband, zu beschreiben. 34 Drei Motive der pädagogischen Verhandlung dieses Problems kristallisieren sich dabei in den Texten heraus: Ein Emanzipationsmotiv, im Sinne der Befreiung von als illegitim erachteter Herrschaft; ein Egalitätsmotiv, im Sinne der prinzipiellen Gleichberechtigung aller Menschen und der Entwurf und die Kritik neuer kollektiver Identitätsvorstellungen. Das Motiv der Emanzipation oder Befreiung von als unrechtmäßig, unvernünftig oder anachronistisch angesehener Herrschaft findet sich in allen fünf Texten. So geht es Ziegenhagen darum, durch die Einführung der Verhältnislehre »die jedem Menschen angeschaffene, aber verlorene menschliche Freiheit wiederher[zu]stellen.«35 Cabet will die durch Zwang und Gewalt aufrechterhaltene Ungleichheit unter den Menschen durch eine egalitäre und demokratische Ordnung beseitigen. Renaud fordert »das allgemeine Stimmrecht! [Herv. i.O.]«36 sowie die Befreiung vom Zwang, Dinge tun, ein Leben führen zu müssen, das nicht den eigenen Bedürfnissen entspricht. Clara Zetkin plädiert für die Befreiung der Frau und des Proletariats als Klasse. Bei beiden wird deutlich, dass dafür neue Notwendigkeiten zu lernen auftauchen; nicht nur ist für politische Rechte zu kämpfen, es ist auch zu lernen, diese zu nutzen. Die Befreiung bzw. Gleichberechtigung der Arbeiter ist für Robert Seidel in der Schweiz durch die dort bestehenden demokratische Ordnung schon erreicht; Freiheit daher für ihn nichts (in der Schweiz) noch zu erreichendes, sondern zu bewahrendes, und zwar dadurch, dass die Bürger lernen, besser im demokratischen Staat zu agieren.
31
Mollenhauer (2008: 158).
32
Ebd.: 159.
33
Osterhammel (2010: 1295).
34
Ebd.
35
Ziegenhagen (1792: 602).
36
Renaud (1855: 95).
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Vielleicht stärker noch als die Forderung nach Befreiung aus Herrschaftsverhältnissen erscheint die Vorstellung eines egalitären, gleichberechtigten Verhältnisses zwischen den Menschen als Grundmotiv aller fünf Texte. Ziegenhagen beschreibt seine ideale künftige Gesellschaft so, dass in ihr das »Guetervermoegen« nicht mehr »unverhaeltnismaeßig« 37 verteilt sei und dadurch in ihr »alle gegenseitige Gehuelfen, Mitglieder eines geselschaftlichen Bands« 38 seien und auch Mädchen und Jungen nach »einerlei Grundsaezzen gebildet« 39 würden. Auch für Cabet soll die neue Gesellschaft gleichheitlich organisiert sein, »gleichheitlich, d.h. gegründet auf die Gleichheit in allem: Gleichheit in Erziehung, Gleichheit in Arbeit, Gleichheit in Genüssen.« 40 Dies erstreckt sich auch auf das Verhältnis zwischen Frauen und Männern, die »gleichstehend in Ansprüchen und Rechten«41 seien. Neben Gleichberechtigung ist in der Sittenverbesserung aber auch Gleichverpflichtung ein wichtiges Motiv, so wenn von der Pflicht zu Arbeiten gesprochen wird, deren Nichtbefolgung »ein Diebstahl sein würde und ihn [den nicht Arbeitenden] gerechterweise aussetzt, aus der Gemeinschaft gestoßen zu werden.«42 Zwar polemisiert Renaud in Die Solidarität gegen den Begriff der Gleichheit, und vertritt statt dessen ein, dem Ziegenhagens nicht unähnliches, Konzept von »Proportionalität oder richtige[m] Verhältniß [Herv. i.O.].«43 Doch auch dieses Verhältnis könne sich nur im Rahmen einer prinzipiellen Gleichheit aller Gesellschaftsmitglieder realisieren, die eben das Recht hätten, sich zueinander ins ›richtige‹ Verhältnis zu setzen. Dieses Recht proklamiert er für alle Menschen und verknüpft es mit einem, allen zukommenden Anspruch auf die Almende, auf »den ursprünglichen Boden und dessen Urprodukte.« 44 Dass sich auf dieser prinzipiellen Gleichheit die, für Renaud viel bedeutendere, Vielfalt zu entfalten mag, ändert nichts an der grundlegenden Bedeutung des Gleichheitspostulats. Offensichtlich im Vordergrund steht Gleichheit bei Clara Zetkin, die in der Frauenfrage ein Plädoyer dafür hält, dass die »Frau, die sich gesellschaftlichproduktiv dem Manne ebenbürtig erweist […] auch politisch und rechtlich dem37
Ziegenhagen (1792: 186).
38
Ebd.: 271.
39
Ziegenhagen (1792: 162f.).
40
Cabet (1850: 11).
41
Ebd.: 51.
42
Ebd.: 73.
43
Renaud (1855:110).
44
Ebd.: 106. Vgl. ausführlicher zu diesem Motiv: Fußnote 43 auf S. 54 dieser Arbeit. Zur aktuellen Diskussion des Almende-Gedankens vgl. Helfrich/Heinrich-Böll-Stiftung 2012.
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selben gleichgestellt werden [muß].« 45 Sie bleibt nicht bei dieser geschlechterpolitischen Forderung stehen, sondern sieht die Gleichstellung auch als ein Mittel, durch das die sozialistische Bewegung schneller siegreich im Klassenkampf sein könne. Ob aus diesem Sieg dann eine an Gleichheit orientierte Gesellschaft hervorgehen soll, wird im Text nicht explizit. Bei Robert Seidel wird nicht ganz deutlich, welchen Stellenwert die Idee der Gleichheit für seinen Text hat. Er schreibt zwar davon, dass in der Schweiz politische Gleichberechtigung herrsche; jedoch insistiert er stark auf der Unterschiedlichkeit der verschiedenen ›Nationen‹ und der pädagogischen Bedeutung der Achtung dieser Unterschiede. Die im Horizont seines Textes aufscheinende ›Weltbürgerbildung‹ fußt auf (und bewahrt trotz der global-gleichheitlichen Konnotationen) Individualität der unterschiedlichen Nationalitäten; die er gleichwohl als gleichberechtigt ansieht; weswegen sich bei ihm die Forderung auf Gleichheit vordergründig auf den innerstaatlichen Rahmen begrenzt. Pädagogisch reflektiert sich die Idee der Gleichheit der Antwort, die schon Comenius auf die Frage was für wen zu lernen ist gegeben hat: Allen alles. 46 Gleichheit aber besteht nicht in den sich industrialisierenden Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Vielmehr bilden sich unterschiedliche neue Sozialtypen heraus, die die gesellschaftliche Ungleichheit reflektieren. Die Auflösung der ständischen Gesellschaft und ihre Transformation in eine neue Gesellschaft, deren Form und Inhalt zu Beginn dieses Prozesses noch im Dunkeln lag, brachte neue gesellschaftliche Rollenbilder und mit diesen einhergehende Identitätsvorstellungen hervor. Gleichzeitig bestehen vorindustrielle Ideale weiterhin. Diese idealen Entwürfe oder faktischen Rollenanforderungen werden in den Texten in unterschiedlicher Art und Weise reflektiert. Als positive Bezugsfiguren erscheinen die Idee des ›Menschen‹, die Idee des ›Arbeiters‹ und ›Proletariers‹ bzw. der ›Arbeiterin‹ und ›Proletarierin‹, das Bild des ›Staatsbürgers‹ bzw. das Konzept einer national(-staatlich)en Identität und Figuren, denen zuweilen affirmativ bis Hilfe suchend, zuweilen feindlich gegenübergestanden wird: ›Bürger‹, ›Kapitalist‹, ›Reicher‹ oder aristokratischer Herrscher. Letzter findet sich nur in der Verhältnislehre Ziegenhagens und auch dort eher als Ornament ohne systematische Bedeutung. Daher kann auf die Analyse dieses Typus verzichtet werden. 9.2.1.1 Proletarier und Proletarierinnen Die Figur des Arbeiters bzw. der Proletarierin findet sich in in allen vorliegenden Texten, außer in der Verhältnislehre Ziegenhagens. Im Sprachgebrauch Ziegenhagens spiegelt sich die Zeitenwende, zu der er sein Buch verfasste. Er nutzt 45
Zetkin (1889: 12).
46
Vgl. S. 247 dieser Arbeit.
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noch überwiegend soziale Bezeichnungen, die aus der vorindustriellen Zeit stammen; so wenn er schreibt, dass es zwar noch »Knecht und Magd, und Herr, und Gebieterin, Gehuelfe und Erbbesizzer, Arme und Reiche« gäbe, diese aber, sobald die ›Verhältnislehre‹ eingeführt sei, verschwinden würden.47 Von Arbeitern oder Proletariern spricht er nicht, sondern nur von »Armen« oder von »Gehuelfen«.48 Bei Ètienne Cabet hingegen finden sich sowohl die Begriffe des Arbeiters wie des Proletariers; wobei er die Proletarier als Mitglieder der »ärmsten Volksklasse«49 bezeichnet; die nicht nur arm, sondern auch ungebildet seien. 50 Eine später vor allem in der marxistischen Literatur auftretende Verklärung des Arbeiters zeigt sich schon bei Cabet, der zu Beginn seines Buches schreibt: »Ich bewundere und liebe die Tugenden des Arbeiters, weil sie ihm gehören, und ich bin voll Nachsicht für seine Fehler, die das Werk der Gesellschaft sind.« 51 Auch Renaud nutzt beide Begriffe, so stellt er »Reiche« und »Besitzende« dem »Arme[n]« und »Proletarier« gegenüber. 52 Für ihn zeichnet sich der Proletarier durch Besitzlosigkeit aus. Arbeiter werden als Menschen beschrieben, die durch ihre Arbeit den gesellschaftlichen Reichtum schöpfen, aber unter den Arbeitsbedingungen in der bestehenden Industrie verkümmern – ihrer Bildungsmöglichkeiten beraubt werden.53 Nicht mehr nur von Arbeitern oder Proletariern im Einzelnen, sondern im Kollektivsingular als Klasse, »das Proletariat« spricht Zetkin in der Frauenfrage; wobei sie einen Zusammenhang herstellt zwischen der Industrialisierung und der 47
Ziegenhagen (1792: 271). Der Begriff des Proletariers lässt sich bis ins fünfte vorchristliche Jahrhundert zurückverfolgen und bezeichnete dort die Besitzlosen und Unbewaffneten, die ›proletarii‹ (vgl. Conze 1984: 27). Schon im zweiten Jahrhundert vor Christus wurde der Begriff nur noch wenig verwendet und wurde erst im 16. Jahrhundert wieder im Lateinischen und später im Englischen verwendet. In Deutschland »wo das lateinische Wort bis zum 18. Jahrhundert offenbar noch nicht verdeutscht worden ist, kam ›proletarius‹ in der Gelehrtensprache nicht über die geschichtliche Erinnerung an seine römische Bedeutung hinaus.« (Conze 1984: 29) Erst in den 1830er Jahren wurde er vor allem durch Publikationen Friedrich Bühlaus (1834), Franz von Baaders (1835) und Robert Mohls (1835) in die deutsche Debatte eingeführt. Zur Entwicklungsgeschichte des Begriffs vgl. Conze 1984.
48
Vgl. ebd.: 1; 95; 177; 178; 186; 270; 271.
49
Cabet (1850: 52).
50
Vgl. ebd.: 21.
51
Ebd.: 6.
52
Renaud (1855: 106).
53
Ebd.: 65.
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Entstehung des Proletariats,54 das »zwar dem Namen nach, mehr oder weniger unvollkommen, für politisch frei erklärt [ist], aber in Folge seiner wirthschaftlichen Abhängigkeit entbehrt es der Macht, die gesellschaftlichen Beziehungen nach seinem Interesse zu gestalten.« 55 In diesem Sinne stellt Zetkin die Arbeiterklasse in eine antagonistische Frontstellung gegen das kapitalistische Bürgertum bzw. den Kapitalismus als Gesellschaftssystem. Die Idee der Gleichheit wird von der Realität gebrochen und Solidarität erscheint als erzieherisch zu vermittelnde Notwendigkeit. Anders sieht das Robert Seidel, der sich explizit gegen jede Klassenkampfrhetorik wehrt und dabei die Arbeiterbewegung als Erbin des Bürgertums fasst: »Die Arbeiterklasse ist die treueste Bewahrerin, Kämpferin und Fortbildnerin dieser bürgerlichen Ideale gewesen.« 56 Womit die nächsten Sozialfigur angesprochen ist: der Bürger. 9.2.1.2 Bürger und Bürgerinnen: Bourgeois und Citoyen Die Figur des Bürgers taucht in den Texten in zwei Varianten auf, dem ›Bourgeois‹ und dem ›Citoyen‹.57 Der ›Bourgeois-Bürger‹, der Prototyp des kapitalistischen Unternehmers, erscheint schon in der Verhältnislehre. Ziegenhagen kritisiert eine Entwicklung, nach der sich der Kaufmannsstand in den Städten erheben würde; manche gar zu »Kapitalisten« 58 würden und Millionenvermögen anhäuften, während andere der Bedürftigkeit verfielen. 59 Er nimmt damit präzise die Anfänge einer gesellschaftlichen Entwicklung wahr, die sich durch die nächsten Dekaden ziehen sollte.60 54
Zetkin (1889: 6).
55
Ebd.: 15.
56
Seidel (1917: 10).
57
Der Begriff des ›Citoyen‹ bezieht sich auf die Rolle des, mit Rechten und Pflichten ausgestatteten, politisch aktiven Staatsbürgers (vgl. Frank 2004: 15), während sich ›Bourgeois‹ stärker auf das Bild des Besitz- bzw. Wirtschaftsbürgers (vgl. Sombart [1913] 2002) bezieht, ohne die abschätzigen Konnotationen, die mit dem Begriff zu weilen verbunden werden, hier teilen zu wollen.
58
Ziegenhagen (1792: 108).
59
Ebd.: 109.
60
»Das 18. und das 19. Jahrhundert sind durch extreme Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung gekennzeichnet, die bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs eher zu- als abnehmen. So entfallen etwa in Frankreich 1910 auf die zehn Prozent mit den höchsten Vermögen […] fast 90 Prozent des Gesamtvermögens, in Großbritannien sind es sogar mehr als 90 Prozent. Die untere Hälfte der Bevölkerung verfügt über knapp fünf Prozent, ein erheblicher Teil der unteren Hälfte ist
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In Cabets Sittenverbesserung gibt es lediglich die Kritik am ›Reichen‹. Die Figur des ›Kapitalisten‹ taucht nicht auf, im Gegensatz zu Hippolyte Renaud, der nur zwei gesellschaftliche Kategorien kennt: ›Arbeiter‹ und ›Kapitalisten‹. In der ihm vorschwebenden harmonischen Gesellschaft strebt er die Aufhebung des Unterschieds zwischen beiden an.61 Clara Zetkin hat, wie oben schon angemerkt, ein klar polares Gesellschaftsbild, in dem dem Proletarier die »Großbourgeoisie«, die im »Ueberfluß« 62 lebt bzw. die »Kapitalisten«63 gegenüberstehen. Zwischen Arbeitern und Kapitalisten bestünde zwar noch die Klasse der mittelständischen Kleinbürger 64, diese aber löse sich von den Rändern hin zu beiden auf. Während Zetkin die Dominanz der Position der Kapitalisten nicht nur im Bereich der Wirtschaft, sondern gerade im politischen Feld sieht, grenzt Robert Seidel deren Bedeutung ganz klar auf die Ökonomie ein, und verweigert sich eine Klassifikation des schweizerischen Staates als kapitalistisch: »Unser Vaterland ist kein kapitalistischer Staat, sondern ein demokratischer Staat. Der demokratische Staat aber ist seiner Natur nach ein Feind der sozialen Ungleichheit seiner Bürger, wie sie der Kapitalismus, das heißt, wie sie die privatwirtschaftliche Aristokratie der Kapitalisten schafft.«65 Der Aristokratie der Kapitalisten werde durch den demokratischen Charakter des schweizerischen Staates entgegengewirkt. Der Bürger als ›Citoyen‹ findet sich implizit bei Ziegenhagen, wenn er für ein, an der antiken Polis orientiertes, demokratisches Regierungssystem plädiert, in dem zwar als Wahlvolk alle teilhaben, es jedoch eine kleine Gruppe auserlesener Aktivbürger gibt. Ganz anders ist dies bei Étienne Cabet, der klar für »politische Gleichheit […] unter allen Bürgern […] hinsichtlich ihrer politischen Rechte, z.B. Wähler, wählbar, Bürgergardisten u.s.w.« 66 zu sein plädiert. Der Citoyen ist für ihn Ziel jeder Erziehung und Bedingung des neuen Gemeinwesens: ohne jedes Vermögen. Nicht ganz so krass sieht es bei den Einkommen aus, erhebliche Ungleichheit gibt es aber auch hier: Im Frankreich von 1910 beansprucht das oberste Perzentil der Einkommensbezieher gut 20 Prozent des Nationaleinkommens, in Großbritannien sind es 22 Prozent, die USA und Deutschland liegen etwas dar unter.« (Kalmbach 2015: 306f.). 61
Vgl. Renaud (1855: 102).
62
Zetkin (1889: 24).
63
Ebd.: 25.
64
Zetkin schreibt vom »Mittelstand« (Zetkin 1889: 8), wenn sie diese soziale Gruppe beschreibt. Sie spielt bei ihr aber nur eine marginale Rolle, und kann daher in der Interpretation des Textes beiseite gelassen werden.
65
Seidel (1917: 138).
66
Cabet (1850: 15).
236 | S OLIDARITÄT B ILDEN »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Erziehung sich vorzugsweise damit beschäftigt: Bürger zu bilden und Allen alle nöthigen Kenntnisse, um die Gesetzgebung und die öffentliche Verwaltung verstehen zu können, gewährt. Man überzeugt sich selbst, ehe ein junger Man auf das bürgerliche Register eingeschrieben, daß er wirklich den hinlänglichen Unterricht erhalten hat.« 67
Die Idee des Citoyen scheint Renaud hingegen fremd zu sein. Nur in einer Fußnote taucht der Begriff des »Bürgersinns« auf, den er auf einen »erhabene[n] Trieb der allgemeinen Uebereinstimmung, der Einheit, des universalen Wohlseins, Zunft- oder Korporationsgeist im edlern Sinne des Wortes« zurückführt und ihn »Bürgersinn, Vaterlandsliebe!« nennt. 68 Damit ist aber wohl etwas umrissen, das man eher als ›Patriot‹ zu bezeichnen gewohnt ist, denn als Citoyen, der allerdings dort aufscheint, wo Renaud das in der Arbeit aller begründete »allgemeine Stimmrecht« fordert.69 In der Frauenfrage sind die um politische Partizipation ringenden Arbeiter und Arbeiterinnen offensichtlich eine Variante der Figur des Citoyen, des politischen Aktivbürgers. Hier in einer Form, die politische Teilhabe mit ökonomischer Beteiligung an der Wertschöpfung einer Gesellschaft begründet. Der politische Bürger wird bei Robert Seidel mit der Idee der Nation und des Nationalstaats verknüpft. Für ihn machen die »natürlichen Verhältnisse und Zustände […] den natürlichen Menschen zu einem natürlichen Staatsbürger [Herv. i.O.]«70; was für ihn soviel bedeutet wie Angehöriger einer in einem Staat organisierten Nation zu sein und politisch aktiv im Sinne dieses Staates zu werden. 71 In pädagogischer Perspektive geht die Orientierung an der Figur des Citoyen, wie deutlich geworden ist, mit neuen Lernaufforderungen einher: Politische Freiheit ist nicht nur politisch zu erringen, ihre Nutzung und Gestaltung ist auch päd67
Ebd.: 47.
68
Renaud (1855: 45).
69
Ebd.: 95.
70
Seidel (1917: 147).
71
Interessanterweise bildet Ziegenhagen dazu einen extremen Kontrast. Er sieht schon vor der Durchsetzung der Idee der Nation, die für Seidel fraglos ist, jene als hochgefährlich an und bezeichnet sie als »herzvergiftenden Furien: Nazionalhas und Volk spatriotismus.« (Ziegenhagen 1792: 628f.). Auch wenn spätere Sozialist*innen nicht mehr von »herzvergiftend« gesprochen haben, zeigt sich in dieser Formulierung Ziegenhagens ein Pol der Diskussion der Nationalismusfrage: Die am proletarisch-revolutionären Internationalismus orientierten Sozialist*innen verwarfen diese Idee, während sie in den rechten Flügeln der Bewegung durchaus positiv aufgenommen wurde; bzw. ohne explizit diskutiert zu werden übernommen wurde.
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agogisch abzusichern: Erziehung zur Achtung (staats-)bürgerlicher Pflichten und Bildung zur Fähigkeit, selbstbestimmt politische und gesellschaftliche Recht wahrzunehmen, markieren die Eckpunkte der Debatte. 9.2.1.3 Menschen Eine weitere, wenngleich nicht neue, Projektionsfläche für Identitätsvorstellungen bildet der Begriff des Menschen; auf ihn wird sich bezogen, wenn von der Gesellschaft, in der es keine Herrschaft, keine Ungleichheit und keine Unterdrückung geben soll, gesprochen wird – Gleichheit ist hier die zentrale Bezugsnorm. Daher bezieht sich die Rede vom ›Menschen‹ besonders auf die Idee der Gleichheit. Ziegenhagen spricht davon, dass die »Sekten- oder Abschnittsnamen« und die »parteiischen Benennungen«72, die Menschen voneinander trennen würden: »Wir nennen uns Menschen; – Menschen! – Dieser Name faßt ja alle Pflichten unter sich, welche der Schoepfer von uns verlangen kann.« 73 Freilich müssen Zweifel bleiben, ob Ziegenhages emphatischer Ruf nach ›dem Menschen‹ auf einer egalitären Fassung aller Menschen ruht oder ob er dann doch Unterschiede macht.74 Cabet schreibt davon, dass die bestehende Form der Organisation der Gesellschaft »der Satan [ist,] der die Menschheit verderbt; sie ist der Teufel von dem man das Menschengeschlecht befreien muß.« 75 In der neuen, gleichheitlichen und brüderlichen Gesellschaft würde sich »das Menschengeschlecht wie eine einzige Familie [Herv. i.O.] […] und die Menschen als Brüder [Herv. i.O.]«76 ansehen. Auch sein ideologischer Rivale Renaud strebt mit anderen Mitteln das selbe Ziel an. Er will durch die ungehinderte Entfaltung der Passionen »aus der Menschheit ein einziges Ganzes«77 entstehen lassen. Zetkin hingegen hält sich weniger an der Idee der Menschheit auf, da bei ihr das zentrale Identitätsmoment das der proletarischen Klassenzugehörigkeit ist. Dennoch spricht sie zumindest an einer Stelle davon, die Frauen müssten mit »ihrem Denken und Empfinden aus dem eng beschränkten Kreis der Häuslichkeit herausgerissen« und »aus der Familie in die Menschheit verpflanzt werden.«78 Einen interessanten Menschenbegriff vertritt Robert Seidel, der behauptet: »Wir werden nicht für uns, sondern für die Gesellschaft des Menschen72
Ebd.: 292.
73
Ebd.: 293.
74
Vgl. auch: S. 244 und insbesondere Fußnote 116 auf S. 244 dieser Arbeit.
75
Cabet (1850: 6).
76
Ebd.: 12.
77
Renaud (1855: 51).
78
Zetkin (1889: 21).
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geschlechts geboren«79; um dann die These zu verfolgen, der Mensch werde nicht als Mensch »im idealen Sinne des Wortes« geboren, sondern als Staatsbürger und dieser müsse erst zum »Weltbürger« erzogen werden, wobei »Weltbürger und Mensch […] Begriffe [sind], die übereinstimmen und sich decken. Der Weltbürger betrachtet die Erde als Heimat des Menschen, und alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, Sprache und Nation als seine Brüder und seine Mitbürger, gleich an Rechten, aber auch gleich an Pflichten. Die Erziehung zum Menschen ist dem nach dieselbe Aufgabe wie die Erziehung zum Weltbürger.« 80
Damit hat Seidel in gewissem Maße eine Sonderposition, da für ihn der Mensch nicht biologischer oder theologischer Bezugspunkt ist, sondern erst zu schaffender Zielpunkt politischen und vor allem pädagogischen Handelns. 9.2.2 Industrielle Revolution und soziale Frage Die Herausforderung, neue Identitätsformen zu finden, war kein Prozess, der sich im luftleeren Raum entfaltete, er war eingebettet in die Entwicklung der industriellen Produktion, die mit der Schaffung einer neuen Sozialstruktur und überhaupt der Sozialen Frage einher ging, die auch eine pädagogische und politische Frage war und auch als solche behandelt wurde.81 Die, die Lebenswirklichkeit der Menschen radikal verändernden, Prozesse der Industrialisierung und die damit einhergehende Landflucht, die Konzentration von Arbeiter*innen in erbärmlichsten Elendsquartieren kann als bekannt vorausgesetzt werden, mindestens seit 1845 als Friedrich Engels seine faktenreiche und schockierende Darstellung der Lage der arbeitenden Klasse in England veröffentlichte.82 Auch wenn die dort beschriebenen Zustände in Deutschland erst allmählich um sich griffen und erst in den 1870er und 80er Jahren einen ähnlichen Stand erreichten, können sie als typisch für die Zeit der Industrialisierung gelten. Beide Themen, Industrialisierung und soziale Frage, lassen sich in den Texten finden. Es wird Position gegenüber der Entwicklung der »großen Industrie« 83 79
Seidel (1917: 5).
80
Ebd.: 170f.
81
In der deutschsprachigen Debatte lässt sich der Begriff der ›sozialen Frage‹ erstmals 1840 nachweisen (vgl. Pankoke 1970: 49).
82
Vgl. Engels [1845] 1972. Vgl. zur Beschreibung der Lebenssituation der Arbeiter*innen im Deutschland des 19. Jahrhunderts, nebst der Angabe zahlreicher zeitgenössischer Quellen auch Kuczynski (1954a: 77-149; 196-236; 1954b: 89-160).
83
Marx ([1867] 1962: 391).
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bezogen: Diese wird entweder als positiv begrüßt, oder aber als verwerflich abgelehnt. Zwar war im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts von ›großer Industrie‹ noch nicht viel zu beobachten, doch hatte Ziegenhagen ein waches Auge für die Vereinseitigungen der menschlichen Lebensführung, die mit industrieller Arbeit einher gingen. Auch wenn er nicht alle Errungenschaften städtischen Wirtschaftens grundweg verwirft, so sieht er den »Stand eines Landwirtschafters« als den »einzige[n], in welchem der Mensch im richtigen Verhaeltnisse seiner Kraefte mit den Kraeften der leblosen und lebendigen Scho epfung leben, und das unverkennbar wahre Gluek des Lebens geniessen kann.« 84 Nur in der Landwirtschaft würden alle körperlichen und geistigen Kräfte derart gefördert und genutzt, dass sie nicht verkümmerten. Ganz anders sieht das Hippolyte Renaud, der zwar in der derzeit praktizierten Form industriellen Arbeitens ein »traurige[s] Uebel«, nämlich die »Verkümmerung des Arbeiters«85 sieht. Prinzipiell aber plädiert er für eine »[g]rößtmögliche Theilung der Arbeit, kurze und abwechselnde Arbeitszeiten [Herv. i.O.]«86 bei einer als anziehend gestalteten Arbeit, die diese zum Vergnügen macht. Renaud geht so weit, diese gesamtgesellschaftliche Arbeitsteilung zur Begründung einer gesamtgesellschaftlichen Demokratisierung zu nutzen, denn: »Jeden, der Etwas für die Gesellschaft gethan hat, gebührt dadurch für die theilweise Leitung dieser Gesellschaft ein dem Werth seiner Arbeit verhältnißmäßiger Einfluß bei der Berathung.«87 Ebenfalls positiv bewertet Clara Zetkin in der Frauenfrage Industrialisierung und technischen Fortschritt, beides hätte »der Frau bereits einen großen Theil der Küchenarbeit abgenommen oder können ihr denselben wenigstens abnehmen, und die Errichtung großer gemeinsamer Dampfküchen, die Einführung der Zentralheizung und Zentralbeleuchtung wird die angebahnte Emanzipation vom Kochtopfe zu Ende führen.« 88 Gleichwohl sieht sie die elenden Arbeitsbedingungen der Arbeiter*innen in den Industriebetrieben; aber ganz im Sinne eines marxistischen Fortschrittsoptimismus’ sieht sie dies als notwendiges Durchgangsstadium an. Bei Cabet und Seidel finden sich keine Bewertungen der Arbeit in der Industrie. 84
Ziegenhagen (1792: 96).
85
Renaud (1855: 65).
86
Ebd.: 69.
87
Ebd.: 95.
88
Zetkin (1889: 7). Ein Motiv, das wohl zuerst von Charles Fourier aufgestellt und durch August Bebels Fourier-Biographie ([1888] 1978), vor allem aber durch seine Ausführungen in Die Frau und der Sozialismus ([1879] 1910: 469-471) popularisiert wurde.
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Industrialisierung und soziale Frage spielen für die Reflexion pädagogischer Fragen in den Texten insofern eine Rolle, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen unter diesen Bedingungen die Grenzen und Möglichkeiten von Bildung und Erziehung bestimmen und so als Grundlagen des Nachdenkens über Pädagogik Relevanz besitzen.89 9.2.3 Religion und Wissenschaft Das lange 19. Jahrhundert kann und muss als Epoche begriffen werden, deren ideologische und geistesgeschichtliche Strukturen aus dem Denken der Aufklärung resultierten und dieses fortentwickelten. Gelegentlich wird gar vom »Zeitalter des Szientismus«90 gesprochen. Dabei war der Abbau religiös-mythischer Vorstellungen ein wichtiges Element, das gleichwohl mit dem Aufbau eines neuen, rationalistisch-wissenschaftsoptimistischen Mythos einher ging. 91 Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den Texten, in denen vor allem die chronologisch späteren, also die Frauenfrage und die Staatsbürgererziehung, einen vollkommenen Atheismus repräsentieren, während die früheren Texte immer noch Bezug zu Gott, einem göttlichen Wesen oder Prinzip herstellen, in ihrer Argumentation aber betont rationalistisch und szientistisch sind und oft mit radikaler Kritik an institutionalisierten Religionspraktiken operieren. Schon der sozialistische Spätaufklärer Ziegenhagen bewirbt seine Verhältnislehre damit, dass sie »unverkennbare Vorzuege vor den gewoenlichen Religionen«92 habe. Denn er beschreibe in ihr das Prinzip, das alle »Kraefte der Schoepfung […] nach nothwendig bestimmten, unumstoeslichen Gesezzen der Ordnung und des richtigen Verhaeltnisses unwandelbar fort [wirken].« 93 Nur wenn man sein Leben nach diesen »einzig begluekkenden, aber unwandelbaren Gesezzen der Schoepfung«94 ausrichte, würde man zum glücklichen Leben kommen. Diese Gesetze seien die Grundlage einer vernünftigen, rationalen Weltsicht, die die Religion nicht böte: Denn »schon die mehrere Zahl, ›Religionen‹ und die wuerkliche Abteilung der Menschen, die doch im Ganzen volkommen aehnliche Geschoepfe sind, in verschiedene Religionssekten und Religionsuntersekten ist dem Wesen des wahren Gluekks und dem einzigen Mittel, 89
Vgl. dazu auch S. 268ff. und S. 288ff. dieser Arbeit.
90
Schnerb (1983: 196).
91
Vgl. Horkheimer/Adorno ([1969] 2008: 3f.).
92
Ziegenhagen (1792: ohne Seite).
93
Ebd.: 3.
94
Ebd.: 5.
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dieses zu erreichen; ist einem algemeinfreundlichen Umgang’, ist der Menschenliebe ganz und gar zuwider.«95
Weswegen für Ziegenhagen gilt, dass »[a]usnahmslosvermeidlich […] alles wahre, jetzt unvermeidliche Uebel [enden wird], wann die Religionen abgeschaft sind, und die Lehre des richtigen Verhaeltnisses oder der Schoepfungsmaeßigkeit oeffentlich eingefuert ist.«96 Nachdem er im zweiten Teil seines Buches eine minutiöse Geschichte der Verfehlungen des Christentums aufgezählt hat, formuliert er es noch drastischer und spricht gar vom »menschenfressende Ungeheuer, religio.«97 Auch wenn Ziegenhagen die etablierte Form der miteinander konkurrierenden Religionen verwirft, so nimmt er doch immer wieder Bezug auf einen ›Schöpfer‹ oder ›Gott‹ und versucht so im immer noch weitgehend religiös geprägten Diskursraum des ausgehenden 18. Jahrhunderts anschlussfähig zu bleiben. Étienne Cabet plädiert ebenfalls für das Nutzen der Vernunft um »dem Willen der Natur nachzukommen«98, nach deren Gesetzen man sich zu richten habe. Er bezieht sich dabei aber weniger auf naturgesetzliche Analogien, wie sie Ziegenhagen formulierte, sondern bettet seine Überzeugungen in den Kontext eines spezifischen Verständnisses des Christentums ein. Für ihn ist die Gütergemeinschaft »die Verwirklichung der Grundsätze des Christenthums.« 99 Gleichwohl distanziert er sich vom Klerus und der institutionalisierten Religion: »[H]at man nicht zu allen Zeiten und in allen Ländern, so wie bei allen Völkern gesehen, daß die Aristokraten und Priester sich des Monopols der Erziehung bemeistern und sie dem Volke versagen, um es in der Verthiertheit und Dummheit, in dem Elende und der Sklaverei zu halten?«100 Wieder näher an Ziegenhagen ist die Argumentation Renauds, der ebenfalls einen wissensoptimistischen Ansatz hat, und davon ausgeht, dass die »Grundpfeiler der ewigen sozialen Wahrheit […] endlich aufgefunden [sind].« 101 Diese Grundpfeiler lägen in der Wissenschaft, die das »Gesetz der sozialen Bewegungen [Herv. i.O.]«102 erforschen könnten. Man müsse verstehen, so Renaud, dass diese Gesetze analog den Naturgesetzen funktionieren: »Begreife man doch, daß 95
Ebd.: 45.
96
Ebd.: 73.
97
Ebd.: 628f.
98
Cabet (1850: 22).
99
Ebd.: 114.
100 Cabet (1850: 68). 101 Renaud (1855: VIII). 102 Ebd.: 9.
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die moralische Welt durch Gesetze regirt wird, die sich so bestimmt erweisen, als die Gesetze der materiellen Welt.«103 Zetkin und Seidel weisen in ihren Texten keinen positiven Gottes- oder Religionsbezug auf. Der von ihnen vertretene Sozialismus hat sich säkularisiert; nicht ohne aber eine künftige Erlösungshoffnung in sich zu tragen. Zetkin polemisiert in ihrem Text an mehreren Stellen gegen religiöse Ansichten, denen sie eine Herrschaft absichernde Funktion zuweist: »Sitte und Religion zögerten nicht, das was die Gewalt geschaffen, durch den Schein eines ewigen Rechts zu heiligen.«104 Oder: »Kirche, Schule, Presse und sonstige sogenannte Bildungsanstalten erwiesen sich in der Hand des Klassenstaats als treffliche Instrumente, das Proletariat zu blenden und zu täuschen.« 105 Robert Seidel steht der Kirche toleranter gegenüber, vor allem verknüpft er sie nicht mit dem Staat, den er, zumindest im Rahmen der schweizerischen Verhältnisse, für neutral hält. Dennoch hat für ihn der »Geiste der modernen Pädagogik […] jede Art von Abrichtung zu kirchlichen […] Zwecken« abzulehnen. 106 Statt auf Vorsehung und gottgebene Ordnung berufen sich beide auf Gesetzmäßigkeiten, die das gesellschaftliche Leben steuern und im zugrunde liegen. So spricht Zetkin von »ökonomische[n] Nothwendigkeiten, die unabwendbar sind, wie Naturgesetze.« 107 Bei Seidel lassen sich keine Anhaltspunkte für ein derart szientistisches Weltbild finden, er argumentiert eher politisch-pragmatisch, was dafür spricht, dass er sich, 1917, schon im Aufzug einer Epoche befindet, in der der Rationalismus und Szientismus ihre Dominanz und Überzeugungskraft eingebüßt haben. 9.2.4 Imperialismus, Kolonialismus und Weltbürgertum Gleichwohl die europäische Expansion und der Kolonialismus in der außereuropäischen Welt schon weit vor dem 19. Jahrhundert begann, steht dieses Streben in Form des Imperialismus im 19. Jahrhundert in einer traurigen Blüte. Die im vermeintlichen Zentrum der bürgerlichen Welt proklamierten Menschenrechte und ihre Parole der ›Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit‹ wurden außerhalb Europas (aber auch im Hinblick auf die innereuropäischen Subalternen 108) mit Füßen getreten. Dies ließ die Frage der Gleichberechtigung aller Menschen hervortreten (so auch die im amerikanischen Bürgerkrieg virulente Frage der Sklaven103 Ebd.: 23. 104 Zetkin (1889: 4). 105 Ebd.: 16. 106 Seidel (1917: 22). 107 Zetkin (1889: 11). 108 Vgl. Conrad (2012: 70).
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befreiung). Unterdrückung und Sklaverei entfalteten sich im Zuge imperialistischen Strebens der europäischen Mächte weltweit; in Schlachten, Kriegen und Massakern wurde indigener Widerstand gebrochen und mit den imperialistischen Konkurrenzmächten um Einflusssphären gerungen: »Das 19. Jahrhundert kann man als das Jahrhundert der Kolonialkriege bezeichnen. Man kann vielleicht sogar sagen, daß kein Jahr verging, ohne daß Europäer an irgendeinem Ort auf einem anderen Kontinent Kampfhandlungen durchgeführt hätten.« 109 Die Eingangs skizzierte Gleichheitstendenz wurde hier in krasser Art gebrochen. Osterhammel bemerkt dazu lakonisch: »Die Anhänglichkeit des Westens an den eigenen Gleichheitsgedanken war freilich begrenzt. Dem Gleichheitsprinzip standen neue Hierarchisierungen gegenüber.«110 Ähnliches trifft auch auf die in der vorliegenden Arbeit analysierten Texte zu, in denen zwischen einer bewussten und radikalen Ablehnung globaler Ungleichheiten und dem Beharren auf eurozentrischen Überlegenheitsvorstellungen geschwankt wird; oft findet sich beides nebeneinander. Der Fokus der Texte ging zumeist über den deutschen oder europäischen Kontinentalrand hinaus: Schon Ziegenhagen geht zwar davon aus, dass erste Versuche der Einrichtung einer verhältnismäßigen Gesellschaft in regionalen Zusammenhängen geschaffen werden können; entwirft aber eine Hoffnung auf künftige, globale Ausbreitung dieser Gesellschaft: »Aber gluekliche – dreimal gluekliche Zeiten! welche einst alle Bewohner dieser schoenen Erde, in einem richtigen Verhaeltniss’ und der besten Uebereinstimmung antreffen werden!« 111 Als ambivalent erscheint dabei sein Verhältnis zu außereuropäischen Völkern und Kulturen. So geißelt er die Sklaverei, durch welche der Europäer sich seinen Reichtum erwerbe, der »auf Kosten der Gesundheit seiner Mitbrueder« gehe. 112 Stattdessen solle eine »algemeine Weltvaterlandsliebe« gestiftet werden, durch die sich »alle Bewohner der schoenen Erde Gottes zu einem großen, gleichdenkenden und gleichhandelnden Volke vereinen« 113, in der »algemeine Weltvaterlandsliebe und algemeine Weltoekonomie, statt Nazionen- und Sektenpatriotismus und ihre Folgen, Krieg, Sklavenleben, Leibeigenschaft, Menschenhandel und Despotismus«114 herrschen würden. Das Gleichheitsmotiv erscheint hier im globalen Kontext und in Abgrenzung von Kolonialismus und Sklaverei. Auf der anderen Seite bedient sich Ziegenhagen durchaus etablierter Figuren (ähnlich 109 Schnerb (1983: 343). 110 Osterhammel (2010: 1296). 111 Ziegenhagen (1792: 7). 112 Ebd.: 110. 113 Ebd.: 294. 114 Ebd.: 377.
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wie der pastoral wirkende Lehrer in der Kolonie), so wenn er Missionare als Lehrer »einst zu fernen Nazionen« segeln lassen will »um auch ihnen die sinnlichanschaulichen Wissenschaften und friedlichen Kuenste des richtigen Verhaeltnisses zu verkuenden.«115 Kann hier noch das egalitäre Motiv gesehen werden, so wird es bei der folgenden Textstelle schwierig: »Hat auch der Schoepfer allen die sich von Zeltischer Abkunft herschreiben, auf der Stuffenleiter seiner zahllosen erschaffenen Wesen, einen hoeheren Stand der Aufklaerung angewiesen, als dem Stamm’ unserer Mitmenschen, die man Mongolen nennt und zu denen jene Neger gehoeren: so koennen diese Aufgeklaertern gewis keinen dankbarern Gebrauch ihrer bessern Aufklaerung machen, als wenn sie diese Voelker durch freundliche und ge linde Behandlung sittlicher, sanfter und umgaenglicher machen, und durch ihr gutes Bei spiel zu guten Handlungen ermuntern.«116
Hier kommt nun doch eine überlegene, rassistisch-paternalistische Attitüde zum Ausdruck, die es doch so erscheinen lässt, als würde Ziegenhagen denen, die nicht von »zeltischer Abkunft« sind, geringere Fähigkeiten und Kräfte zuweisen, die zwar nicht legitimieren, sie auszubeuten und zu unterdrücken, die aber doch die pädagogische Behandlung jeder Völker notwendig macht. Weniger ausführlich widmen sich Cabet, Renaud und Seidel dem Thema. Cabet umreißt einen globalen Horizont nur in zwei Bemerkungen, in dem er sich darauf bezieht, dass »[a]lle Philosophen, zu allen Zeiten und in allen Ländern, […] das Menschengeschlecht wie eine einzige Familie [Herv. i.O.] angesehen [haben], und die Menschen als Brüder [Herv. i.O.]«117 und dass die Natur »ihre Kinder nicht in Stämme, Klassen oder Kasten getheilt« 118 habe. Renaud spricht gelegentlich von der Menschheit, und bezeichnet Fourier als Erfinder des neuen sozialen Systems, als »Retter der Menschheit.«119 Das Wort wird auch von Zetkin benutzt, wenn sie schreibt, die Frauen »müssen aus der Familie in die Menschheit verpflanzt werden.«120 Bei diesen kurzen Hinweisen bleibt es jedoch.
115 Ebd.: 283. 116 Ebd.: 285. »Zeltisch« meint: ›keltisch‹. Ziegenhagen bezieht sich hier auf die Rassentheorie des Göttinger Philosophen Christoph Meiners (1785; auch: 1813), dessen Ansichten schon von Georg Forster kritisch diskutiert wurden (vgl. Forster 1958: XXXVIf.) (vgl Steiner 1962: 170). 117 Cabet (1850: 12). 118 Ebd.: 14. 119 Renaud (1855: 119). 120 Zetkin (1889: 21).
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Anders sieht das bei Robert Seidel aus, der den Begriff des Weltbürgers ja schon im Titel seines Buches führt. Er fasst die »hohen Ziele des Internationalismus und des Weltbürgertums«121 sowohl als pädagogische wie politische Zielvorstellung auf. Wobei für ihn der Weltbürger ein Mensch ist, der eine globale und egalitäre Weltsicht hat: »Der Weltbürger betrachtet die Erde als Heimat des Menschen, und alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, Sprache und Nation als seine Brüder und seine Mitbürger, gleich an Rechten, aber auch gleich an Pflichten.«122 Kolonialistische Ansichten finden sich bei Seidel nicht, vielmehr soll die Schweiz durch Vorbild ähnliches im weltweiten Maßstab inspirieren.
9.3 S OZIALISTISCHE L ÖSUNGSVORSCHLÄGE : P ÄDAGOGIKEN DER S OLIDARITÄT Nachdem herausgearbeitet werden konnte, dass sich die Problemstellung der Texte mit den historisch sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts systematisch stellenden Fragen erklären lässt, ist nun noch einmal ein aktualisierender und zusammenfassender Blick auf die Interpretationen zu werfen und darauf zu fokussieren, welche spezifischen pädagogischen Antworten gegeben und welche gemeinsamen oder differenten Bedeutungs- und Argumentationsstrukturen darin deutlich geworden sind. Dabei helfen sowohl die im letzten Kapitel rekonstruierten Texte als auch die, in diesem Kapitel vorgenommene sozialgeschichtliche Rahmung, in der schon gelegentliche Verweise auf pädagogische Zusammenhänge gemacht wurden. Der Schwerpunkt der folgenden Seiten wird auf dem Herausarbeiten der Differenzen zwischen den Texten liegen, die oftmals offensichtlich sind, an anderen Stellen aber auch als Differenzen verdeckende Homologien erscheinen. Gleichzeitig werden die Antwortversuche thesenhaft in den Kontext der pädagogischen Ideengeschichte verortet; denn diese bietet – das wird in der Analyse deutlich werden – den Rahmen dessen, was als pädagogische Antwortversuche auf die beschriebenen sozialen Phänomene gedacht werden konnte. Zumindest bildet sie das Fundament, von dem sich die Autor*innen zuweilen erhoben und entfernten, auf dem sie aber auch verharrten; oder das sie angreifen, bearbeiten und schleifen wollten. Zu Beginn der Arbeit wurden als Bestandteile eines pädagogischen Konzeptes die These der Lern- und Bildungsfähigkeit, der Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, Überlegungen zur Steuerung (individueller) Lernprozesse (Erziehung 121 Seidel (1917: 42). 122 Ebd.: 170f.
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als eher von außen initiierte; Bildung als eher binnenorientierte Steuerung), Überlegungen zur Methode und den Zielen dieser Steuerungsbemühungen benannt. Diese Punkte wurden in den einzelnen Textanalysen herausgearbeitet. Sie sollen hier nicht noch einmal im einzelnen wiederholt und gegenüber gestellt werden, sondern zu den eben beschrieben systematischen Problemen ins Verhältnis gesetzt werden. Welche pädagogischen Antworten werden auf die Herausforderungen der Freisetzung des Individuums, der industriellen Revolution, der Säkularisierung und des Imperialismus vorgeschlagen und in welches Verhältnis werden dabei Soziales und Solidarität zur Pädagogik gestellt? Dreh- und Angelpunkt ist die erste, oben dargestellte Grundtendenz des Zeitalters, die Freisetzung des Individuums in einer neuen, sich konstituierenden Gesellschaftsform. Dabei gilt es die schon 1933 von Hildegard Reisig auf sozialistisches pädagogisches Denken bezogene Beobachtung, dass »[w]ollte man die geistige Herkunft der Bildungsideen im einzelnen nachgehen, so würde man zumeist eine sehr geringe Originalität der Arbeiterbewegung anmerken müssen« 123 im Hinterkopf zu halten. Wenngleich diese Beobachtung durchaus stimmt, so weist doch die Kombination unterschiedlicher Ideen sowie zuweilen deren Radikalisierung in der sozialistischen Theorie spezifische Eigenheiten, mithin Originalität auf. Diese gilt es herauszuarbeiten. 9.3.1 Pädagogik als Humanisierungsprogramm Die erste und offensichtlich in allen fünf dargestellten sozialistischen Konzepten vorhandene Perspektive auf Pädagogik ist die eines Humanisierungsprogramms. Die, durch eine mangelhafte gesellschaftliche, politische und/oder ökonomische Ordnung bzw. durch mangelhafte Pädagogik an der Erlangung ihrer vollen Menschlichkeit behinderten Menschen sollen diese Menschlichkeit (wieder) erhalten. Dies ist ein allen vorgestellten Konzepten inhärenter universalistischhumanistischer Zug. Dieses Programm wurzelt in der Überzeugung, dass der Mensch ein lern- und entwicklungsfähiges Wesen ist, das gleichwohl erziehungsbedürftig ist. Nun wird dieses Bedürfnis unterschiedlich gefasst: Bei Ziegenhagen, Zetkin oder Renaud wird pädagogische Einwirkung im Sinne von Lernsteuerung nötig, um die gesellschaftlich angerichteten Schäden zu kompensieren, bzw. diese Schädigungen zu verhindern, wobei von einer prinzipiell guten Natur des Menschen ausgegangen wird. Dieses rousseausche Motiv wird von Seidel und Cabet nur zum Teil geteilt. Sie zielen mit ihren pädagogischen Interventionen viel stärker darauf ab, den Menschen in Gesellschaft zu integrieren und ihn zum – gemeinschaftsfähigen – Mitbürger oder Mitmenschen zu machen. Lern123 Reisig (1933: 12).
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steuerung zielt hier nicht auf die Ermöglichung der Entfaltung gleichsam des ›inneren Menschen‹, sondern auf äußerliche Aneignung von Tugenden, die es benötigt, um in Gesellschaft als Mensch mit anderen Menschen zu leben. Einigendes Motiv dieser unterschiedlichen Lösungsversuche ist das der Humanisierung: Alle Menschen sollen das Recht und die Möglichkeit erhalten, als Menschen zu leben und sich als solche zu entwickeln. Daher geht es in der Zieldimension immer darum, einen Zustand, der als menschenunwürdig oder menschenwürdiges Leben verhindernd, beurteilt wird abzulösen durch einen, in dem der Mensch als Mensch leben kann. 124 Möglich wird dies aber nicht ausschließlich durch pädagogische Praxis, sondern, und zum Teil vorrangig, durch soziale Reformen, die die Gesellschaft grundlegend ändern. In diesem Sinne erscheint sozialistische Pädagogik hier als »radikaler Humanismus« 125, der seine humanistische Orientierung nicht an den Grenzen des Bestehenden enden lässt, sondern sich durch einen radikalen, zuweilen utopischen Überschuss auszeichnet, dessen Primat die grundlegende Gleichheit aller Menschen ist. Das Motiv einer humanisierenden Pädagogik ist aber keines, das sich auf sozialistische Texte des 19. Jahrhunderts beschränken ließe. Im Denkhorizont der in der Tradition pädagogischen Denkens bewanderten Zeitgenoss*innen müsste dies bewusst gewesen sein. In diesem Sinne bricht der Humanisierungsdiskurs kein neues Feld, das zu bearbeiten ist, sondern schließt an tradierte Debatten an. Stichwortgeber einer solchen Pädagogik der Menschheit war für die neuzeitliche Pädagogik Johann Amos Comenius, der in seiner Didactica magna nicht nur den Anspruch erhob, allen müsse alles allumfänglich vermittelt werden, sondern der darüber hinaus ein entsprechendes pädagogisches Programm vorlegte, dessen Ambitionen bis heute nicht eingeholt wurden.126 124 Die Frage, was der Slogan vom ›Mensch als Mensch‹ inhaltlich konkret bedeuten soll, kann hier nicht diskutiert werden, er soll vielmehr darauf hinweisen, dass die Sozialist*innen in der bestehenden Gesellschaft es als nicht möglich ansahen, ein ihrem Menschenbild entsprechendes leben zu führen. Dass diese Zielvorstellung zuweilen durch zeitgenössische Vorurteile und Deutungsmuster gebrochen wird, ohne dass dies in den Texten reflektiert, mithin den Autor*innen bewusst wird, ist hier einschränkend einzuwenden. Auf diese Zusammenhänge wird in Kapitel 6 näher einzugehen sein. 125 Autorenkollektiv TH Darmstadt (1973: 338). 126 Vgl. Comenius (1657) 2000; Schadel 2011. Auf den revolutionär-humanistischen Kern der Überlegungen Comenius’ weist u.a. Heinz-Joachim Heydorn wiederholt hin, so wenn er den Grundgedanken eines weiteren Hauptwerkes Comenius’, der Pampaedia, so zusammenfasst: »Wo Gott keine Unterschiede macht, soll der Mensch keine Schranken aufrichten; Gott hat keine Unterschiede gemacht.« (Hey-
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Die Aufklärungspädagogik trug das Ideal eines solchen Humanismus zwar in sich, begrenzte es jedoch auf die bestehende soziale Ordnung, in der ein*e jede*r an ihrem*seinem Platz sich einzufinden hatte. Mit diesem sozial stratifizierten Humanismus brach in Deutschland publikumswirksam die literarische Strömung des Sturm und Drang und die mit ihm beginnende literarischen Klassik, in der der »Gedanke einer allgemein-menschlichen und allseitigen Bildung« beherrschend, jedoch nicht unbedingt gesellschaftlich breitenwirksam war. 127 Von den Sozialist*innen wurde dieses Motiv vor allem in Reaktion auf zwei soziale Tatsachen aufgegriffen: zum einen die beschriebene Freisetzung des Individuums und der entsprechenden Suche nach neuen Identitätsformen, zum andern als Reaktion auf die, als unerhört wahrgenommenen, sozialen Folgen der Industrialisierung. Kolonialkritische Perspektiven spielten lediglich bei Franz Heinrich Ziegenhagen eine Rolle, der jedoch den eher spätfeudalen Sklavenhandel im Blick hatte, als die Verbrechen des europäischen Kolonialismus des späten 19. Jahrhunderts. Was aber bedeutet nun sozialistische Pädagogik als Humanisierungsprogramm als gemeinsames Motiv der Texte, bezogen auf das fokussierte Verhältnis zwischen Pädagogik, Solidarität und Gemeinschaft? Solidarität steht als Ziel pädagogischen Wirkens im Fokus. Die Menschen sollen lernen, sich solidarisch zu verhalten, um eine neue Gesellschaft zu ermöglichen, in der niemand davon abgehalten wird, seine humanen Potentiale voll zu entfalten, mit Zetkin zum »Menschen in der vollen Bedeutung des Wortes« 128 zu werden. ›Solidarität‹ bedeutet dabei unterschiedliches: Bei Zetkin meint der Begriff eine sozialistisch-proletarische Gemeinschaftsorientierung, die für den Sieg im Klassenkampf notwendig sei: Nur dieser könne die Spaltung der Menschheit in unterschiedliche Klassen beenden und so humane Lebensbedingungen schaffen. Bei ihrem Zeitgenossen Robert Seidel bezeichnet ›Solidarität‹ die loyale Integration in den Nationalstaatsverband als Bedingung menschlicher Entwicklung überhaupt und der Ausbildung einer friedlich-demokratischen Gesinnung gegenüber anderen Nationalstaaten in Form einer Orientierung am Ideal des Weltbürgers, der für Seidel das Ziel jeder Menschwerdung ist. Solidarität als Zieldimension von Pädagogik wird durch die Texte Cabets, Ziegenhagens und Renauds um eine weitere Komponente ergänzt: solidarische Gesellschaftsstrukturen als Medium der Lernsteuerung. Indem die Gesellschaft so eingerichtet ist, dass ihre Mitglieder nicht in Konkurrenz zueinander stehen dorn 1980: 211) Dieser Gedanke findet sich so oder ähnlich als eine Kernvorstellung bei Ziegenhagen, Renaud und Cabet. 127 Rebele (2004: 182). 128 Zetkin (1889: 31).
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bzw. gemeinsam miteinander arbeiten, soll Humanität in Cabets und Ziegenhagens pädagogischen Kolonien erzeugt werden. Bei Renaud sind es die göttlichnatürlichen Strukturen und Gesetze, nach denen die Welt funktioniert, die als ›Solidarität‹ bezeichnet werden und durch entsprechende gesellschaftliche Einrichtungen ergänzt und verbessert werden sollen. Gemeinsam ist Cabet, Ziegenhagen und Renaud, dass sie soziale Regelungen und Institutionen vorschlagen, die die Menschen zu einem solidarischen Miteinander und zum humanen Umgang miteinander anzuhalten, der von ihnen zwar als natürlich veranlagt, aber durch falsche gesellschaftliche Einrichtungen verhindert angesehen wird. Drittens wird Solidarität als argumentative Grundlage für eine Pädagogik und eine soziale Reform benutzt, die die – natürlich, göttlich, oder aus der glei chen Interessenlage resultierende – Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit der Menschen wieder herstellen soll. Denn nur die falschen Gesellschaftsstrukturen oder Prinzipien hätten dieses Verhältnis zerstört (Renaud/Cabet/Ziegenhagen). ›Brüderlichkeit‹ als Gleichberechtigung aller begründende Zugehörigkeit zur menschlichen ›Familie‹ ist damit die Grundlage von Humanisierung als Reanimierung des Menschen. In der am Klassenkampf orientierten Konzeption Zetkins ist dieses Reanimationsmotiv nicht zu finden, sondern der Grund der Solidarität wird in der ökonomisch begründeten Homologie der Interessen der Mitglieder der Arbeiterklasse gelegt. Gerade hier wird wieder ein gewisses Paradox sichtbar: Solidarität, zu der erzogen werden soll, wird zumindest als Spur im Bewusstsein schon vorausgesetzt. Die Pädagogik der Solidarität als Humanisierungsprogramm hat das zum Ziel, was sie als Grundlage annimmt, das aber durch ›falsche‹ Gesellschaft und/oder ›falsche‹ Pädagogik verhindert wurde. 9.3.2 Pädagogik als Individualisierungsprogramm Der zweite Typ pädagogischer Verarbeitung der oben beschriebenen historischen Tendenzen steht im engen Zusammenhang mit diesem universalistisch-humanistischem Programm. Er findet sich aber nicht in allen Texten derart prominent und lässt sich als Pädagogik der Individualisierung beschreiben; ihr geht es darum, das Subjekt zur Individualität zu führen. Aufbauend auf einer egalitären Grundlage, die keine prinzipiellen Unterschiede unter den Menschen anerkennt, werden graduelle Unterschiede betrachtet, die zur Geltung zu bringen sind, soll sich der Mensch als Individuum und die Menschheit als Gattung zur vollen Blüte entfalten. Bildungsfähigkeit ist für dieses Programm ebenso Voraussetzung wie Erziehungsbedürftigkeit, die daher begründet wird, dass durch gesellschaftliche Anreize ›falsche‹, nicht der ›wahren‹ Individualität entsprechende Entwicklungen angestoßen werden können. Damit wird ein Schutz- und Korrekturraum nö-
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tig, in dessen Rahmen dann die je individuelle Entwicklung, das je individuelle und individualisierende Lernen stattfinden kann. Bei Zetkin und Ziegenhagen erscheint das erst in der neuen (sozialistischen) Gesellschaft möglich; bei Renaud und Cabet in Ansätzen schon in der bestehenden, aber voll doch erst in der neuen Gesellschaft. Robert Seidels Text ist der einzige, der die Entfaltung des Individuums schon in der bestehenden Gesellschaft für möglich hält. Aus dieser Perspektive ziehen die Programme (außer bei Seidel) ihr revolutionäres Potential: Die Bildung des Individuums – begründet aus der Natur des Menschen oder schlichtweg begründungslos gesetzt – ist unter bestehenden Bedingungen nicht möglich, weswegen die Veränderung der Gesellschaft eine pädagogische Notwendigkeit ist. Auch wenn dieses Motiv in allen Texten vorkommt, ist es bei Renaud mit Abstand am stärksten ausgeprägt. Seine Theorie gewinnt gerade durch die Betonung des individuellen Eigenrechts, bis hin zum absoluten Recht des Kindes, seine, das Bestehende kritisierende, Kraft. Nun scheint auch die Perspektive der Individualisierung keine spezifisch sozialistische zu sein; sie gehört vielmehr zum klassischen Inventar neuzeitlicher pädagogischer Forderungen und Normen, die sich ideen- und wirkungsgeschichtlich mindestens zu Jean-Jaques Rousseau und John Locke zurückführen lassen. Lockes Forderung, »[e]ines jeden Kindes natürliche Anlage sollte soweit gefördert werden, wie es möglich ist. Aber den Versuch zu unternehmen, ihm eine andere beizubringen, wird vergebliche Bemühung sein« 129 erinnert dabei an ähnliche Formulierungen Renauds. Auch die Ideale des Sturm und Drang, für den der humanistische Anspruch mit dem Anspruch auf Individualität einher ging,130 kommen hier, wie Friedrich Fröbels Idee von Bildung als organische Entfaltung von Individualität und andere romantische Vorstellungen zum Tragen.131 Die Forderung einer die individuellen Qualitäten der Person fördernden Pädagogik bezieht sich aber nicht nur auf die geistige Tradition (auch wenn sich in den Texten zum Teil explizit darauf bezogen wird), sondern auch auf die historisch sich stellenden Problemkontexte. So wird es in einer Gesellschaft, die Menschen nicht mehr primär nach dem Stand und den in diesem vorgegebenen Identitätsmustern, nämlich im Sinne der Identität zwischen diesen Rollenbildern und den entsprechend persönlichen Ausfüllen dieser beurteilt, sondern die Freiheit des Einzelnen advoziert, geradezu unumgänglich eine Notwendigkeit die Entwicklung des Individuums zu ermöglichen. Wenn der*die Einzelne sein soll, so muss er*sie zum Einzelnen begabt werden. Diese Begabung zum*zur Einzel129 Locke ([1693] 1967: 47f.). 130 Rebele (2004: 175f.). 131 Ebd.: 181.
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nen kommt dann in den Blick, wenn man die Universalisierung der Entindividualiserung der proletarischen Massen betrachtet, die zur immer gleichen elenden Arbeit in den Fabriken gezwungen waren; mithin keine Möglichkeit zu Individualität hatten. War die Forderung nach Individualität zuerst die revolutionäre Forderung des sich konstituierende Bürgertums im 17. und 18. Jahrhundert, so war es später die revolutionäre Forderung des Proletariats im 19. Jahrhundert. Aber auch die mit der Säkularisierung einhergehende rationalistisch-positivistische Grundströmung spiegelt sich hier wider: Denn die Entfaltung des Individuums wurde durchaus auch als Mittel gesehen, die gesellschaftliche Produktivität und Wohlfahrt zu steigern. Für sozialistische Pädagogik kommt Gemeinschaft eine Individualität bedingende Funktion zu: Gemeinschaft ermöglicht oder behindert individuelle Entfaltung. Daher muss Gemeinschaft auch demokratisch organisiert sein. Nur so können die Individuen ihre Interessen und Standpunkte einbringen. Nur so können sie sich individuell entfalten in dem Sinne, dass sie ihr Lernen selbst steuern und nicht zwangsweise fremdgesteuert werden. Dieser demokratische Standpunkt wird nicht in allen Texten expliziert: Weniger Bedeutung hat er in Ziegenhagens Verhältnislehre (an der antiken Polis orientierte Rätedemokratie nach einer gerontogratischen Übergangsphase) und bei Renaud (egalitäre Basisdemokratie). Robert Seidel sieht in der (parlamentarischen) Demokratie den einzigen Weg einer die Individualität bewahrenden Gemeinschaftsform. Bei Cabet wird ein Problem deutlich, das auch in den anderen Konzepten vorhanden ist (außer bei Renaud), nämlich, dass die demokratischen Prozeduren immer auch Minderheiten hervorbringen, die sich dann – Cabet sagt es explizit – der Mehrheitsmeinung zu unterwerfen haben.132 Solidarität hat hier den Status der Grundlage von Individualität, in dem sie entweder, wie bei Renaud, als ein Gesetz gefasst wird, dass, wenn es befolgt wird, Individualität überhaupt erst ermöglicht. Die Texte Cabets, Zetkins, Seidels und Ziegenhagens repräsentieren eher eine Gesinnung, Tugend oder Ethik der Solidarität, die den Subjekten aufgibt, die sozialen Grundlagen der Individualität zu schützt. Darüber hinaus kann ›Solidarität‹ die Bedeutung einer transformatorisch notwendigen Zumutung haben. Sie ist, so bei Zetkin, nötig, um den Kampf des Proletariats gegen den Kapitalismus führen zu können und in diesem Kampf zu siegen. Welche soziale Form nach der Ablösung des Kapitalismus kommt, bleibt offen. Aber: Sie soll der Entfaltung der individuellen Anlagen dienen. Freilich wird das Plädoyer für Individualität immer wieder gebrochen oder scheint anderen, kollektiven, Kategorien untergeordnet werden zu müssen, so der Klasse oder der Nation. Diese Brüche weisen auf eine dritte Lesart der Entwürfe hin. 132 Vgl. Cabet (1850: 38), zitiert auf S. 159 dieser Arbeit.
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9.3.3 Pädagogik als Vergemeinschaftungsprogramm Das dritte Modell, das aus den Texten zu entwickeln ist, steht auf den ersten Blick im Widerspruch zur eben beschriebenen, individualisierenden Perspektive: Pädagogik als vergemeinschaftendes Programm. In den Interpretationen konnten zwei Typen dieses Programms illustriert werden: Vergemeinschaftung, die sich auf eine spezifisch ausweisbare Gruppe begrenzt (so schwerpunktmäßig bei Zetkin: Proletariat; bei Seidel: Nation) und Vergemeinschaftung, die keine Grenzen jenseits der Menschheit anerkennt (so bei Ziegenhagen, Renaud und Cabet). Beides sind wieder abstrahierende Idealformen, die eher in Mischformen in den Texten auftauchen. Pädagogik erscheint in dieser Lesart als Projekt der Integration der Einzelnen in einen sozialen Zusammenhang, eine Gruppe, ein Kollektiv. Es geht dabei um ein Lernen der Normen, Verhaltensweisen und Gefühle, die zur Integration in die Gemeinschaft notwendig sind, und die gegebenenfalls mit Unterordnung und Disziplinierung einhergehen. Solidarität ist hier an erster Stelle ein Lernziel, das mit Homogenisierungen verknüpft ist. Auf den ersten Blick scheint sich Reisigs These der geringen Originalität der Ansätze zu bestätigen: Der Ansatz einer Pädagogik der Integration in Gemeinschaft erscheint geradezu vormodern-reaktionär. Soll tatsächlich die bürgerliche, neu gewonnene Freiheit wieder geopfert werden? Die Frage kann nur gestellt werden, nachdem es diese Selbstvertsändlichkeit nicht mehr gibt, und ist daher durchaus modern; und sie ist eng mit dem bürgerlichen Zeitalter verbunden. Der Pietismus als bedeutende pädagogische Bewegung des 18. Jahrhunderts hat den Boden für ein solches pädagogisches Denken bereitet, das dann von den Sozialist*innen, in zum Teil säkularisierter Form, wieder aufgegriffen wurde. Für die Pietisten war die Eingliederung des Individuums in den Sozialverband unumgänglich; wozu, mit August Hermann Francke zu sprechen, es auch legitim war, den Willen des Kindes zu brechen.133 Francke als wohl bekanntestes Vertreter des Pietismus war aber bei weitem nicht der einzige, der solche Forderungen hoffähig machte. Auch in den Schriften Hegels finden sich ähnlich rabiate Formulierungen, etwa wenn er schreibt: »Ein Hauptmoment der Erziehung ist die Zucht, welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde.« 134 Statt dessen müsse Sittlichkeit (bei Hegel: »Pädagogik ist die Kunst den Menschen sittlich zu machen« 135) oder Gottesfürchtigkeit (bei Francke) Einzug ins Kind halten: beides Motive, die auf Vergesellschaftung verweisen. Vergesellschaftung bedeutet dann Unterordnung 133 Vgl. Francke (1957: 15). 134 Hegel ([1820] 2006: 252). 135 Ebd.: 243.
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unter einen bestehenden Sozialverband. Stärker auf Gegenseitigkeit hin ausgerichtet ist die Argumentation Rousseaus im Emil: »Lebt der Mensch isoliert außerhalb der Gesellschaft, so ist er niemandem verpflichtet und hat das Recht zu leben, wie es ihm gefällt; innerhalb der Gesellschaft aber, wo er notwendigerweise auf Kosten der anderen lebt, schuldet er ihnen durch seine Arbeit den Preis für seinen Unterhalt – da gibt es keine Ausnahme. Die Arbeit ist also eine unerläßliche Verpflichtung für den Menschen, der innerhalb der Gesellschaft lebt.« 136
Damit hat Rousseau auf den zentralen Modus der Vergesellschaftung in der bürgerlichen Epoche hingewiesen: Arbeit. Die Pietisten brachten diese Erkenntnis zum Ausdruck, indem bei ihnen die Erziehung zur ›Industriösität‹ an einer der vordersten Stellen der Erziehungsziele stand. 137 Die Verbindung zwischen Pädagogik und Arbeit war nicht mehr zu trennen; was sowohl Kant 138 als auch Fichte139 in ihren Reflexionen über Pädagogik beachteten. Für die sozialistische Tradition besonders bedeutsam wurde der Gedanke der, auf die Arbeitswelt bezogenen, polytechnischen Erziehung, der auch in den bürgerlichen Programmen des 19. Jahrhunderts vor allem im Bezug auf die Realschulen gewichtigen Einfluss hatte. Dennoch übernahmen die Sozialist*innen nicht einfach vorliegende Konzepte. Eigene Akzente wurden in den Formen, in denen sich sowohl Arbeit in der Gesellschaft realisieren soll als auch in denen sich das Verhältnis zwischen Arbeit und Pädagogik bewegt, deutlich. Man denke beispielsweise an Renauds Organisation der Arbeit oder an Zetkins Verkopplung von Arbeit, Politik und Geschlechterfrage. Arbeit ist dort nicht nur eine materielle Notwendigkeit, sondern gleichzeitig Methode der Lernsteuerung zur sozialen Integration in die Gemeinschaft. Es ist im bis hierher geschriebenen schon deutlich geworden, inwiefern das Programm von Pädagogik als Vergemeinschaftung auf die Großprobleme des 19. Jahrhunderts sich beziehen lässt. Der Mensch wurde als in Gesellschaft lebend betrachtet, die Legitimität der Einbindung in diese aber problematisch; wollte man nicht auf vormoderne Figuren, wie Gottgegebenheit oder schlichte Machtlo136 Rousseau ([1762] 1998: 193). 137 Vgl. zum Aspekt der Industrieschulpädagogik und der Erziehung zur wirtschaftlichen Brauchbarkeit die Studien Gernot Koneffkes zu Sextro, Campe, Lachmann und Wagner in Heydorn/Koneffke 1973. 138 So schreibt Kant in Über Pädagogik es sei »von höchster Wichtigkeit, daß Kinder arbeiten lernen. Der Mensch ist das einzige Tier, das arbeiten muß.« (Kant [1803] 1923: 471). 139 Vgl. Rebele (2004: 206).
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gik sich begrenzen, waren andere Lösungsmodelle nötig, denn Tendenzen der Säkularisierung und Rationalisierung verbauten diesen Weg. Die real sich abzeichnenden Neukonfigurationen des Sozialen hin von der Stände- zur Klassengesellschaft und ihrer sozialen Polarisierung im Spannungsverhälnis zur Individualitätsforderung machte dies umso brisanter. Dieses Spannungsverhältnis reflektiert sich sich in den vorliegenden Entwürfen: Wie oben schon erwähnt, finden sich zwei Zieldimensionen der Lernsteuerung zur Vergemeinschaftung: Eine auf eine begrenzte soziale Gruppe bezogene und eine nur die Menschheit als Ganze im Blick habende. Die Gemeinschaftsvorstellungen der ersten Kategorie beziehen sich dementsprechend auch auf eine irgendwie umgrenzte Gruppe. Bei Zetkin ist es die Arbeiterklasse, bei Seidel die Nation und bei den anderen Autoren ist es eine Kolonie (Ziegenhagen/Renaud) oder ideologische Gemeinschaft (Cabet/Zetkin). Dabei liegen unterschiedliche Begründungsmuster zugrunde: Die Arbeiterklasse wird aus der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft erklärt; die Nation als natürliche Gegebenheit; die Kolonie und die Gesinnungsgemeinschaft als pragmatische Notwendigkeit und Vehikel der Gesellschaftsreform. In der zuletzt genannten Form ist dann aber auch der Übergang zur anderen Gemeinschaftsform offen: Nämlich der Weltgesellschaft als Sozialform; auf diese weisen in der Zieldimension die Entwürfe Ziegenhagens, Renaud und Cabets hin – in der Konsequenz aber auch (wenngleich schwach thematisiert) die Entwürfe Seidels und Zetkins. Entsprechend sind die aufgeworfenen Sozialformen als verflochten anzusehen; die umgrenzte Gruppe als Bedingung der Bildung der Menschheit. Dies wird auf der einen Seite pädagogisch begründet; mithin die Gruppe als Schutz- und Aufwuchsraum konstruiert (Cabet, Seidel, Renaud, Ziegenhagen) oder aber politisch begründet im Sinne einer Überzeugungs- (Cabet) und/oder Kampf-(Zetkin)gemeinschaft, die das Ziel hat, sich selbst letztendlich überflüssig zu machen und in der neuen (sozialistischen ) Weltgesellschaft aufzuheben. Dem korrespondieren die entsprechenden Solidaritätsbegriffe. Bei Zetkin tritt ein Typus von Solidarität hervor, der auf eine Gruppe begrenzt ist (und der doch die Aufhebung dieser Grenzen impliziert), nämlich die Arbeiter (in die die Frauen eingeschlossen werden sollen) und der auf einen gemeinsamen Kampf im Bewusstsein gemeinsamer Interessen ausgerichtet ist. Anders ist dies bei Cabet, bei dem Solidarität in der Gruppe der Kommunisten nötig ist, damit sie zusammenhalten, aber auch, und vielleicht viel wichtiger, weil sie als Beispiel der Tugenden einer kommenden Gesellschaft dienen sollen. Bei Ziegenhagen ist Solidarität innerhalb der Gruppe nötig, um eine Gleichheit zu erzeugen, auf deren Basis erst Pädagogik möglich wird. Er verweist darüber hinaus auf eine globale Solidarität aller Menschen untereinander, die auch
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bei Renaud und Cabet das Ziel markiert. Auch bei Seidel taucht diese Facette des Solidaritätsbegriffs, trotz seiner vordergründigen Verteidigung des Nationalismus als Solidarität der nationalstaatlich umfassten Gemeinschaft, auf. Eine solche Solidarität hat nichts mehr von einer Kampf- oder Überzeugungsfunktion: Sie markiert vielmehr einen nahezu utopischen Zustand des weltweiten Friedens, der Gleichheit und Gerechtigkeit. Beim Lesen dieses und des vorherigen Unterkapitels wird die Trennung zwischen Pädagogik als Individualisierung und Pädagogik als Kollektivierung etwas künstlich angemutet haben. Zu Recht. Diese analytische Trennung ist in den Texten selbst in Reinform nicht zu finden, in allen spielt beides – in je unterschiedlicher Gewichtung – seine Rolle. Sie sind als Tendenzen in den Texten zu finden, der Klarheit wegen bis hier her aber als Idealtypen dargestellt worden. 9.3.4 Pädagogik als individualisierende Vergemeinschaftung Idealtypischerweise besteht ein Widerspruch zwischen einer individualistischen und einer kollektivistischen Orientierung. Dieser wird so auch in der Polemik Renauds gegen die Gleichheitskommunisten cabetscher Prägung formuliert. 140 Doch wird beim zweiten Blick auf die Konzepte deutlich, dass der bemühte Widerspruch sich in einem Verhältnis auflöst oder gar ein nur scheinbarer ist. Er löst sich auf, weil es zwischen den beiden Polen relative Verschiebungen geben kann, so dass ein Mehr an Individualität durchaus zu einem Weniger an Kollektivität führen mag (und vice versa). Scheinbar ist der Widerspruch, weil es möglich ist, Vergemeinschaftung und Individualisierung als dialektisch aufeinander verwiesene Zusammenhänge zu denken. Die erste Perspektive kann beiseite gelassen werden; sie verspricht theoretisch wenig und ist eher zu politisch-polemischen Zwecken zu gebrauchen. Die zweite Perspektive aber rückt das produktive Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft in den Fokus und ist es daher wert, weiter analysiert zu werden. In ihm kann Pädagogik als Programm individualisierender Vergemeinschaftung bezeichnet werden. Sie lässt sich in allen Texten darstellen, da in keinem der Texte explizit die Bildung des Menschen als Individuum ausgeschlossen wird; sie wird sogar als zentrales pädagogisches Ziel hervorgehoben (lediglich in der Verhältnislehre ist dieses Moment sehr schwach ausgeprägt, sogar noch schwächer als bei Cabet, der den Schwerpunkt, wie Ziegenhagen, auf Gleichheit legt). Das pädagogische und anthropologische Ziel der Entfaltung und Entwicklung menschlicher Individualität aber, so die These der Autor*innen, ist unmöglich ohne die Einbindung des Menschen in eine Gemeinschaft, die ihm diese Entfaltung erst ermöglicht. Beides ist nicht 140 Vgl. Renaud (1855: 110-112).
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voneinander zu trennen: Einbindung in die Gemeinschaft, die auch mit Verpflichtungen gegenüber jener bzw. den in ihr Zusammengeschlossenen einher geht und eine Form dieser Gemeinschaft, die individuelle Entfaltung ermöglicht. Die Einschränkung dieser zweiten Bedingung lässt sich zwar in den Texten immer wieder finden, jedoch immer aus Gründen, die sie ermöglichen wollen: So bei Zetkin die Einordnung in die sozialistische Arbeiterbewegung, um den Kapitalismus abzulösen und dann eine Gesellschaft zu ermöglichen, in der die Freiheit aller möglich ist, oder bei Ziegenhagen, der in der vollendet verhältnismäßi gen Gesellschaft eine vollkommene Demokratie haben will, die aber für eine Übergangszeit noch eingeschränkt wird, da die Menschen erst dazu erzogen werden müssen, das Leben in der Gemeinschaft und die entsprechenden Pflichten anzuerkennen, die dann Individualität ermöglichen. Fast polar gegenüber stehen sich der Fourierist Renaud und der Gleichheitskommunist Cabet: Einordnung in den Sozialverband erscheint beiden als unabdingbare Notwendigkeit. Während Cabet dies jedoch mit der Pflicht verknüpft, unter der Androhung des Ausschlusses Leistungen für die Gemeinschaft zu erbringen, legt Renaud den Schwerpunkt auf die Gemeinschaft, die das Individuum zu unterstützen hat. Wenngleich auch bei ihm Arbeit als Bedingung der Gemeinschaft konzipiert ist, besteht doch keine Pflicht zu arbeiten. Das Kollektiv ist bei ihm Träger von Individualisierungsprozessen, es liefert erst die sozialen Strukturen, die Individualität ermöglichen. Auch hier könnte die Frage der Originalität oder des spezifischen Beitrages sozialistischer Theoriebildung für Pädagogik relativiert werden. Es handelt sich um Argumentationsfiguren, die das Gesellschaftliche mit dem Individuellen verbinden, in der Bildungsphilosophie eines Wilhelm von Humboldt und eines Friedrich Schleiermacher. Während letzter davon sprach, der Mensch könne sich nur zur Individualität bilden, wenn sich das ›Du‹ zum ›Wir‹ hin öffne,141 legte Humboldt Überlegungen vor, in denen die Bildung der individuellen Person nur in der Verbindung mit der Welt und der sozialen Gemeinschaft möglich ist: »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unseres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freisten Wechselwirkung.« 142
141 Vgl. Rebele (2004: 211). 142 Humboldt ([1792/1793] 1980: 235f.).
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Ein Verweis auf diese Klassiker der Pädagogik kann aber nicht die Leistung der sozialistischen Denker*innen relativieren. Dies zum einen, da nicht vorausgesetzt werden kann, dass sie die entsprechenden Schriften kannten, also in gewisser Weise von einer eigenständigen Entwicklung ausgegangen werden kann. Dies zum andern, weil die Sozialist*innen ihre Pädagogik ausdrücklich mit Argumenationsfiguren in Verbindung bringen, die mit einer radikalen Kritik an Staat und Gesellschaft und der Überzeugung einer sozialen (also nicht nur politischen) Reform oder Revolution operieren.143 Einiges wurde nun schon zum Gemeinschaftsverständnis in dieser Lesart gesagt; nun ist das Verhältnis zwischen Gemeinschaft, Solidarität und Pädagogik in den Blick zu nehme: Gemeinschaft wird verstanden als Basis, auf der sich Individualität entwickeln, oder besser: als Medium, in dem sich Individualität entwickeln kann. Dies kann bei Seidel mit der starken Bezugnahme auf den Begriff der Nation illustriert werden; bei Renaud mit seinem Konzept der Phalanx. Für Seidel ist die nationale Gemeinschaft, die er als Heimat konstruiert, der Grund der Identitätsbildung, aus dem ›Schatz‹ der Traditionen und der lokalen Gegebenheiten wächst die jeweilige Eigenart, die sich von anderen daher unterscheidet, dass sie eben aus einer anderen natürlichen und kulturellen Umgebung kommt. Individualität wird bei ihm sowohl innerhalb dieser Kollektividentitäten möglich als auch als Verhältnis zwischen diesen. Anders konzipiert das Renaud, der Gemeinschaft nicht nur als soziale und ökonomische Basis, sondern auch als Medium der Individualisierung sieht: Durch die Organisation der Gesellschaft in Gruppen, Serien und Phalanxen, die den je individuellen Passionen der Mitglieder entsprechen, will er maximale Entfaltung von Individualität mit maximaler Entfaltung der gesellschaftlichen Organisation vermitteln. Die Gesellschaft bietet jedem die maximalen Möglichkeiten sich zu entfalten und erhält dafür ein Maximum an Leistung von den Individuen. Die sozialistische Kampfgemeinschaft Zetkins in transformatorischer Absicht wurde schon erwähnt; die Konzepte Ziegenhagens und Cabets tendieren eher in die Richtung Kollektivierung, auch wenn sie Elemente der Individualisierung aufweisen. Die Reichweiten dieser Gemeinschaften unterscheiden sich. Während Seidel und Zetkin – freilich im Horizont der Menschheit – begrenzten Gruppen (Nation, Proletariat) als Basis oder Vehikel der Individualisierung beschreiben, ist für Renaud (aber tendenziell auch für Ziegenhagen und Cabet) zwar für experimen143 In Anlehnung an Otto Bauer kann die politische Revolution als die plötzliche Veränderung der politischen Herrschaftsform bezeichnet werden, bspw. die Absetzung eines Monarchen und die Einrichtung einer parlamentarischen Demokratie, dabei bleiben aber die wirtschaftlichen und die Eigentumsverhältnisse unangetastet. Die Veränderung dieser kann als soziale Revolution bezeichnet werden (vgl. Bauer 1919).
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telle Zwecke die Begrenzung der Gemeinschaft (auf den Rahmen einer Kolonie) zweckdienlich, letztlich aber kann sie nur auf die Menschheit als Ganze bezogen werden, in der es dann auch keine sozialen oder anderweitigen (bspw. geschlechtlichen) Unterschiede im Einschluss in die Gemeinschaft geben kann. Solidarität erscheint in zwei möglichen Formen: Während das Modell Renauds ›Solidarität als Gesetz‹, als Verhältnis des sozialen Zusammenhangs formuliert, welches dafür steht, dass alle mit allen zusammenhängen und so aus den Einzelpersonen die Gemeinschaft der Phalanx entstehen lässt, ist Zetkins Solidarität eine, in Kenntnis eigener Interessen wurzelnde und gefühlsmäßig gefärbte, Handlungsorientierung, die gleichsam nur vorläufig notwendig ist; nämlich solange bis das Ende der in Klassen gespaltenen Gesellschaft erreicht ist. Anders ist dies bei Seidel, für den Solidarität eine internationale Gesinnung ist, die Verbundenheit gegenüber Mitgliedern einer anderen Gruppe (bei ihm: einer anderen Nationalität) ausdrückt; sie ist nicht in der Organisation der Gesellschaft oder in den Notwendigkeiten des Klassenkampfes begründet, sondern eine moralische Forderung. Pädagogik erhält in diesen Konzepten eine zweifache Funktion: Zum einen soll sie Menschen zu verantwortungsbewussten und tüchtigen Mitgliedern der Gemeinschaft machen (in diesem Sinne werden die Motive genutzt, die unter Pädagogik als Programm der Vergemeinschaftung thematisiert wurden). Auf der anderen Seite soll sie Räume öffnen, in denen sich die jeweilige Individualität der Gesellschaftsmitglieder entfalten kann; Erziehung zur Solidarität mit den anderen zur Sicherung der Gemeinschaft als Grundlage für die eigene Individualität und die der anderen könnte man das Lernsteuerungsziel zusammenfassen. Zentrale Methode ist die Gemeinschaft selbst, die durch ihre Organisation beides ermöglicht und ein Abweichen verhindern (Renaud) bzw. die durch das aktive Leben in ihr das eigene Interesse an Solidarität (Zetkin) wecken soll. Es zeigt sich ein weiteres Problem: Es wird vorausgesetzt, was das Ziel ist: Das solidarische Miteinander in der Gemeinschaft. Darauf wird im folgenden Kapitel zurück zu kommen sein. In gewisser Weise schließt sich hier aber der Kreis der sozialistischen Pädagogik; denn diese Perspektive lässt sich – als einzige sinnvoll in die oben umrissene Humanisierungsperspektive einordnen; reine Individualisierung oder reine Vergemeinschaftung würden dieser letztlich widersprechen.
10. Pädagogik und Solidarität: Kritik problematischer Verhältnisse
10.1 S TANDORT
UND
B EGRIFF
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K RITIK
Während bisher versucht wurde, die Texte in der Perspektive auf das in ihnen zur Geltung kommende Verhältnis zwischen Solidarität, Pädagogik und Gemeinschaftlichkeit verstehend zu interpretieren, werden in diesem Kapitel diese Interpretationen und die in ihnen entworfenen Verhältnisse der Kritik unterzogen. Nur so lässt sich die Forschungsfrage nach Möglichkeiten der Fassung des Verhältnisses zwischen den drei zentralen Kategorien jenseits einer Registratur historischer Konzepte weiter denken. Das Vorgehen in diesem Kapitel ist dabei transparent zu machen, indem das Verhältnis zwischen Verstehen und Kritik zu problematisieren und der Begriff der Kritik sowie die Perspektive, aus der Kritik geübt wird, deutlich zu machen ist. Es kann an dieser Stelle nicht auf die Debatte zwischen Hans-Georg Gadamer und Jürgen Habermas eingegangen werden, in der intensiv über das Verhältnis zwischen Hermeneutik und Kritik diskutiert wurde. 1 Auch der Vorschlag einer (kritischen) Hermeneutik des Verdachts, wie sie von Paul Ricœur 2 vorgelegt wurde, soll nicht entfaltet werden.3 Für den Rahmen dieser Arbeit gilt die Annah1
Vgl. Apel 1971.
2
Vgl. Ricœr 1965.
3
Denn sowohl das gadamersche Konzept einer an der Würdigung der Tradition ausgerichteten Interpretation, noch die von Habermas proklamierte Frontstellung zwischen Hermeneutik und Kritik kann für die Fragestellung Resultate bieten. Auch Ricœurs Hermeneutik ist hier methodisch unangemessen, da sie zwar die prinzipielle Fraglichkeit jeden Verstehens im Bewusstsein hält und damit ein Element kritischen Verstehens sein kann, letztlich aber dadurch, dass sie »jeden Bewusstseinsinhalt mit dem Index der Fraglichkeit« (Figal 2009: 344) versieht, Verstehen im Sinne der Fragestellung verunmöglicht.
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me, das Verstehen und Kritiküben in einem symbiotischen Verhältnis stehen; da ein – zumal historischer – Text sich nie ganz aus sich selbst erklärt; und daher der*die Interpret*in immer kritisch nicht zuletzt zur eigenen Interpretation sich zu verhalten hat, aber auch der Bezug zwischen Historizität des Textes und Gegenwärtigkeit des*der Interpret*in (und des*der Rezipient*innen) einer Kritik bedarf. Der Begriff der Kritik scheint ein schillernder zu sein, mit dem sich nicht nur die Wissenschaftstraditionen der Kritischen Theorie oder des Kritischen Rationalismus schmücken, sondern unter dessen Signum auch etliche, nicht selten politisch besetzte, akademische Studien- und Forschungszusammenhänge ihre wissenschaftliche oder gesellschaftliche Relevanz zu belegen suchen. Ohne hier auf die lange Begriffsgeschichte eingehen zu wollen, ist der im Folgenden verwendete Kritik-Begriff kurz zu umreißen: Er hat zwei Elemente, ein deskriptivanalytisches und ein normatives. Beide lassen sich aus der antiken Bedeutung des griechischen Verbs ›κρίνειν‹/›krínein‹, das soviel bedeutet wie »scheiden, trennen« aber auch »entscheiden, urteilen, anklagen, streiten« ableiten. 4 In analytischer Hinsicht bedeutet Kritik dabei »gleichzeitig Dissoziation wie Assoziation [Herv. i.O.]. Sie unterscheidet, trennt und distanziert sich; und sie verbindet, setzt in Beziehung, stellt Zusammenhänge her.« 5 In normativer Hinsicht bewertet sie und fällt Urteile. Folgt man diesem Kritikbegriff, so war alles, was bisher in dieser Arbeit geschah, Kritik im analytischen Sinne des Wortes; es war die Distanzierung von den Texten und die Herstellung von Zusammenhängen zum Zwecke ihres angemessenen Verständnisses. Im Folgenden soll, wenigstens in Ansätzen, ein weiterer Schritt der Kritik getan werden: Indem die Texte und ihre Motive unter bestimmten normativen Prämissen einer Kritik unterzogen werden sollen, d.h. gefragt wird, inwieweit sie mit einem, dem Autor dieser Zeilen bedeutsam erscheinenden, Horizont pädagogischer Ethik vereinbar sind oder wo sie diesen vielleicht in Frage stellen können. Die Assoziationen, die hergestellt werden, sollen dies im Sinne einer Verortung der Texte in einem zeitgemäßen Rahmen Allgemeiner Pädagogik tun. In der Auseinandersetzung mit Adornos Gebot, Kritik solle nicht das benennen, was ihr Bezugspunkt ist, formuliert Rüdiger Bittner, es gäbe »dafür, sich dem Bilderverbot zu unterwerfen, […] keinen Grund.« 6 Kritik sei aber auch nicht verpflichtet, ihre Maßstäbe offen zu legen: »Gewiss, sie braucht nicht angeben, womit sie etwas vergleicht, aber es hängt auch nichts davon ab, dass sie
4
Röttgers (2010: 1317).
5
Jaeggi/Wesche (2009: 8).
6
Bittner (2009: 146).
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PROBLEMATISCHER
V ERHÄLTNISSE
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es nicht tut. Es spart bloß Zeit, es nicht zu tun.« 7 Freilich mag eine solche Haltung gegenüber Kritik intellektuell redlich sein, sofern es darum geht, an einer Sache oder einem Text um der Kritik willen Kritik zu üben. Hier geht es aber nicht um Kritik um ihrer selbst willen, sondern um eine Kritik um des Verstehens willen. Daher wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Kritik einer Sache, »einen Maßstab, an dem sie sich Orientieren kann, der also ein grundlegendes Maß darstellt, an dem der zu beurteilende Sachverhalt gemessen werden kann« braucht.8 Ein solcher Maßstab der Kritik ist auszuweisen, um nachvollziehbar zu machen, warum bestimmte Urteile getroffen werden konnten. In diesem Sinne ist die im Folgenden zu formulierende Kritik sowohl analytisch als auch normativ. Ihre Perspektive ist aus einem emanzipatorischen Interesse, einem diesem entsprechenden Menschenbild und einer pädagogischen Ethik legitimiert. Dass sich die Angemessenheit der Kritik an den Texten und den interpretierend rekonstruierten Sachverhalten zu beweisen hat, bleibt unbenommen. Eine Pädagogik ohne ein ihr zugrunde liegendes Menschenbild ist schwer denkbar.9 Geht es Pädagogik doch immer um den Menschen und dessen Beeinflussung, die oben als Lernsteuerung gefasst wurde. Selbst vermeintlich unreflektierte Praxis und schwache Theorie ist auf ein Menschenbild angewiesen, um ihr Tun bzw. ihre Konzepte zu motivieren beziehungsweise zu begründen. Explizit zu machen ist es, wenn es als Maßstab von Kritik dienen soll. Karl Marx bezeichnete in der sechsten Feuerbachthese das menschliche Wesen als »das ensemble [sic.] der gesellschaftlichen Verhältnisse.« 10 Er wies sich damit als Vertreter eines sowohl säkularen als auch naturalistischen Verkürzungen kritisch gegenüberstehenden Menschenbildes aus. Der Mensch kann weder als göttlich noch als natürlich determiniertes Lebewesen gefasst werden. Er ist vielmehr von den gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt. Gleichwohl darf dies nicht deterministisch fehlinterpretiert werden, sondern muss von der Einsicht ergänzt werden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nichts abstraktes, dem Individuum äußerliches sind, sondern die Individuen zwar in die Gesellschaft hineingeboren werden, aber erst durch »ihr individuelles Tun und Treiben im Zusammenhang mit den anderen Individuen das ausmach[en], was wir Gesellschaft nennen, denn es gibt auch keine Gesellschaft jenseits und unabhängig der Praxis der Individuen.«11 Der Mensch ist ein gesellschaftlich bedingtes und zur Gesellschaftlichkeit gezwungenes Lebewesen, das zwar in gewissen Einzelfällen in der 7
Ebd.: 147.
8
Stederoth (2011: 1352).
9
Vgl. u.a. Wulf/Zirfas 1994.
10
Marx ([1845] 1969: 6).
11
Schmied-Kowarzik (1988: 109).
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Isolation, als Eremit, jedoch in der Regel nicht ohne eine mindestens basale gesellschaftliche Integration leben kann.12 Nicht nur als Verdacht gilt diesem Menschenbild die Einsicht, dass der Mensch ein evolutionär auf Kooperation angelegtes Wesen ist, das seine Entwicklungsmöglichkeiten nur in Kooperation mit anderen auszuleben in der Lage ist.13 Diese Annahmen sind nicht als biologische oder faktische Konstanten menschlicher Natur zu verstehen, sondern als Annahmen über die Rahmenbedingungen menschlicher – im Sinne von Individual- und Gattungsgenese – Entwicklung. Anthropologische Studien belegen die enorme Plastizität der menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten;14 so dass dies eine zentrale Grundlage eines pädagogischen Menschenbildes sein muss. Wenn aber die Natur des Menschen nicht festgelegt ist, und nicht im Vorhinein zu sagen ist, wozu der*die Einzelne werden kann, ist jedem Zwang, der dies – also die Entfaltung von Vielfalt – verhindert, zu entsagen. Dieses Menschenbild geht einher mit einem spezifischen, auf Abbau von Herrschaft des Menschen über den Menschen abzielenden Interesse. Im Zentrum des hier vertretenen Kritik-Verständnisses steht der von Marx als Lehre aus der Kritik der Religion formulierte »categorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen [Herv. i.O.], in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« 15 Freilich unterliegt dieser Imperativ einer Schwierigkeit: Er ist im Prinzip ein negativer Vorsatz, er ist destruktiv; ihm fehlt eine produktive Komponente. Emanzipation aber verweist an erster Stelle eben auf dieses: Die Abschaffung von Herrschaft und Knechtschaft. Was an deren Stelle tritt, bleibt ungewiss. Dies ergibt sich schon aus dem etymologischen Ursprung des Wortes im römischen Recht ›emanzipatio‹ als Entlassung eines Sohnes oder Sklaven in die Freiheit. Dies hatte zwar noch eine paternalistische Konnotation, da es nicht der Sohn oder Sklave selbst war, der sich in Freiheit begab, sondern der Herr, der ihm diese aus Gnade schenkte. Im Laufe der Zeit erhielt dieser passivische Begriff stärkere Akzente auf der Bedeutung des sich ›selbst aus Herrschaft befreien‹. Vor allem ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde diese Bedeutung gebräuchlich. 16 Damit wandelte er sich vom Rechtsbegriff 17 hin zu einem politischen Begriff mit
12
Vgl. Pagel 2012.
13
Pagel 2012 und Tomasello 2012 diskutieren dies unter evolutions- bzw. entwicklungsbiologischer Perspektive, Bauer 2005; 2008 aus neurobiologischer Sicht.
14
Vgl. u.a.: Schiemann 2012; Wulf 2004.
15
Marx ([1844] 2009: 177).
16
Blasche (2005: 312).
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dem aktivieren Sinn einer individuellen oder kollektiven »Selbstbefreiung« 18, wie er auch im Folgenden vertreten wird. Emanzipatorisches Interesse als Standpunkt der Kritik im Rahmen dieser Arbeit bedeutet, dass die in den Texten dargelegten Sachverhalte dahingehend zu untersuchen sind, inwiefern sie Argumentationen bedienen oder ermöglichen, die eben »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«19 legitimieren oder delegitimieren. Auf Pädagogik bezogen meint dies: Es sind Konzepte zu kritisieren, die darauf bezogen sind, die Entfaltung potentiell vielfältiger individueller Eigenarten zu blockieren oder aber die Lernen so steuern wollen, dass Ausbeutung und unaufgeklärte Fremdbestimmung über Einzelne oder Gruppen bestehen bleibt. Derartige Argumentationsfiguren gilt es zu erkennen, um ihre Fraglichkeit für künftige Theoriebildung zu zeigen. Da es sich bei dieser Arbeit um eine Reflexion pädagogischer Fragen handelt, sind die beiden eben umrissenen normativen Prämissen auf das pädagogische Feld zu beziehen bzw. zu konkretisieren. Der Ausgangspunkt dieser normativen Selbstvergewisserung bildet der von Michael Winkler zum Abschluss seiner Kritik der Pädagogik vorgelegte Katalog von fünfzehn »pragmatische Normen« der Erziehung.20 Zwar sind diese Normen auf unterschiedlichen Abstaktionsniveaus und in unterschiedlichen Sachdomänen angesiedelt, aber sie repräsentieren eine pädagogisch-ethische Grundeinstellung, die für den in dieser Arbeit verhandelten Sachverhalt überzeugend und angemessen erscheint. Drei dieser Normen sind für eine allgemeinpädagogische Reflexion pädagogischer Ethik im Hinblick auf eine ›Pädagogik der Solidarität‹ und im Anschluss an das eben skizzierte Menschenbild und Emanzipationsverständnis relevant und zu diskutieren: (a) das Gebot der Humanität, das mit einer Orientierung der Universalität und Offenheit einhergeht, (b) das Gebot der Individualität, (c) das Gebot der Aktivität und Wechselseitigkeit. Ergänzt werden diese drei Normen um (d) das Gebot der Autonomie und Mündigkeit. Die für Winkler »erste Grundnorm«, »dass es in jeglichem pädagogischen Geschehen um den Menschen als Menschen« gehen muss, wirkt zwar phrasenhaft. Aber anders lassen sich ethische Grundsätze wohl nicht formulieren – ohne17
Nach Siegfried Blasche wurde Emanzipation noch in der Encyclopédie von Diderot/d'Alembert als »reiner Rechtsterminus behandelt« (Blasche 2005: 312f.).
18
Greiffenhagen (1972: 448).
19
Diese Formel geht auf die Saint-Simonist*innen zurück, und wurde später in ähnlicher Form auch im marxistischen Sozialismus verwendet, wenn die Rede davon war, von der ›Herrschaft über Menschen‹ zur ›Verwaltung von Dingen‹ überzugehen (vgl. Hobsbawm 2014: 42).
20
Winkler (2006: 270-283).
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hin ist der Forderung zuzustimmen. 21 Es wäre demnach fraglich (unbenommen davon, dass dies ständig geschieht) andere Normen, als die der Humanität an den Menschen zu legen. Dass dieses Merkmal allen zukommen muss, mithin alle Menschen gleichen Anspruch auf Achtung und Wahrung ihrer Humanität haben, hat schon der böhmische Pädagoge Comenius pointiert vertreten. Dass damit eine universalistische Komponente angesprochen wird, die »jenseits allen Personseins […] allen zugehört, […] von allen erfahren werden kann, von ihnen getragen und mitgelitten wird«22 weist auf einen grundlegenden Gleichheitsanspruch hin, den Pädagogik nicht unterbieten darf. Damit einher geht aber auch die letztendliche Unbestimmtheit eben dessen, was der Mensch ist. Eine Einsicht aus der heraus Heinz-Joachim Heydorn forderte, es »muß jede Kristallisation einer Form um des Menschen willen wieder vernichtet werden, es geht immer wieder darum, den Weg in das Unbekannte zu öffnen«23 und das Bewusstsein für das »Noch-nicht-Abgeschlossensein des Menschen«24 wach zu halten. Dieser universalistischen Perspektive ist eine zweite, ebenfalls von Winkler aufgezählte, als Ergänzung beizufügen. Dies ist die Norm, »das individuelle Subjekt in seiner individuellen Subjektivität, als ein sich selbst entwickelndes, seine Bildung aktiv gestaltendes und passiv erleidendes menschliches Wesen« zu begreifen.25 Ohne die Akzeptanz der (wenn auch nur potentiellen) Individualität derer, mit der es Pädagog*innen zu tun haben, kann es keine humane Pädagogik geben. Die Akzeptanz der Individualität speist sich aus dem Ungewissen über die Natur der Gattung und jedes Exemplars; sie speist sich aber auch aus dem emanzipatorischen Interesse, das ja gerade darauf ausgeht, die Möglichkeiten der Entwicklung offen zu halten. Damit zusammenhängend ist eine dritte Norm hervorzuheben (Winklers Nummer elf), nämlich, dass innerhalb pädagogischer Beziehungen »Handlungen möglich sein müssen, in welchen sich die Subjekte des Entwicklungs- und Bil dungsganges ihre Existenz praktisch und folgenreich beweisen.« 26 Ähnlich formuliert es Hans-Jochen Gamm, der Pädagogik die Aufgabe stellt, »den Menschen instandzusetzen, sich als Mitverursacher seiner Verhältnisse zu verstehen.«27 Diese Forderung lässt sich nicht nur als Konsequenz des bisher Gesagten
21
Ebd.: 271.
22
Heydorn (1980a: 41).
23
Ebd.
24
Heydorn (1980b: 65).
25
Winkler (2006: 271).
26
Ebd.: 279.
27
Gamm (1988:161).
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ableiten oder lerntheoretisch begründen, 28 sie findet sich schon in Humboldts klassischem Text.29 Nicht zuletzt hat der brasilianische Reformpädagoge Paulo Freire ein ganzes didaktisches Konzept um diese Erkenntnis herum entwickelt. 30 Die normative Fassung des pädagogischen Verhältnisses als eines der Wechselseitigkeit impliziert direkt das nächste und letzte – im Rahmen dieser Arbeit – zu benennende Element einer pädagogischen Ethik: Das Postulat der Autonomie des anderen. Teilt man die bis hierher aufgestellten Prämissen, so kommt man konsequenterweise zu einer weiteren, die spätestens seit Kant zu den Grundforderungen aufgeklärter Pädagogik zählt: der Forderung nach Autonomie und Mündigkeit. Diese Forderung ist freilich keine unproblematische, wie schon Kant, der gewisse zwanghafte Momente in der Erziehung für nötig erachtete, also Autonomie und Mündigkeit nicht als Voraussetzung sondern als Ziel pädagogischen Handelns, sah.31 Das Problem wurde seitdem vielfach in der Pädagogik diskutiert, ohne dass die entsprechende Debatten hier resümiert werden könnten. Mündigkeit muss unterstellt werden, soll sie sich im Subjekt herausbilden. Wird dem Individuum nicht die Möglichkeit gegeben, in Schlüsselsituation selbst zu entscheiden, selbst Verantwortung zuerst für sich und später auch für andere zu erleben und zu erlernen, kann es sich nicht entwickeln und statt mündiger Autonomie bliebe unmündige Fremdbestimmung. Theodor W. Adorno formulierte es in einem seiner bekannten Radiogespräche mit Hellmut Becker so: »Es läuft darauf hinaus, daß die Perpetuierung der Barbarei in der Erziehung wesentlich durch das Autoritätsprinzip vermittelt wird, das in dieser Kultur selber liegt. […] Deshalb ist der Abbau jeglicher Art von unerhellter Autorität vor allem in der frühkindlichen Erziehung eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine Entbarbarisierung.«32 Zu beachten ist an dieser Aussage das, dem Autoritätsbegriff voran gestellte, Attribut »unerhellt«. Damit setzt Adorno einen – auch entwicklungspsychologisch bedeutsamen – Akzent, der Autorität nicht grundweg zum Hindernis von 28
Vgl. Holzkamp 1995.
29
Vgl. Humboldt (1792/1793) 1980.
30
Vgl. Freire 1972.
31
»Ich soll meinen Zögling gewöhnen, einen Zwang seiner Freiheit zu dulden, und soll ihn selbst zugleich anführen, seine Freiheit gut zu gebrauchen. Ohne dies ist alles bloßer Mechanismus, und der der Erziehung Entlassene weiß sich seiner Freiheit nicht zu bedienen. Er muß früh den unvermeidlichen Widerstand der Gesellschaft fühlen, um die Schwierigkeit, sich selbst zu erhalten, zu entbehren und zu erwerben, um unabhängig zu sein, kennen zu lernen.« (Kant [1803] 1923: 453).
32
Adorno (1970a: 137f.).
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Mündigkeit stigmatisiert, sondern ihr für die Gewinnung von Mündigkeit eine Funktion zuspricht. Auch an anderer Stelle unterstreicht er dies: »Das Moment der Autorität ist, meine ich, als ein genetisches Moment von dem Prozeß der Mündigwerdung vorausgesetzt. Das aber wiederum darf um keinen Preis dazu mißbraucht werden, nun diese Stufe zu verherrlichen und festzuhalten, sondern wenn es dabei bleibt, dann resultieren nicht nur psychologische Verkrüppelungen, sondern eben jene Phänomene der Unmündigkeit im Sinne der synthetischen Verdummung, die wir heute an allen Ecken und Enden zu konstatieren haben.«33
Als Kritik-Maßstab soll daher nicht gelten, inwiefern Autorität völlig verworfen wird, sondern inwiefern dieses Problem reflektiert wird und ob ein entsprechendes Konzept in Richtung Mündigkeit und Autonomiegewinn weist oder in die entgegengesetzte Richtung. Aus diesen vier normativen Setzungen leiten sich die Grenzen ab, an denen die in Teil A dieser Arbeit interpretierten Texte, ihre Argumente und Denkfiguren kritisch reflektiert werden sollen. Zu prüfen ist, inwiefern die rekonstruierten Verhältnisse zwischen Pädagogik, Solidarität und Gemeinschaft vor dem hier umrissenen Horizont einer pädagogischen Ethik Bestand haben und so für künftige Theoriebildung im Sinne einer zeitgemäßen ›Pädagogik der Solidarität‹ Nutzen verheißen. Dabei kann es nicht um eine alle Facetten der Texte umfassende Kritik gehen. Vielmehr sollen drei zentrale Problemkomplexe diskutiert werden, die sich nicht auf konkrete Einzeltexte beziehen, sondern als generelle Probleme des Verhältnisses zwischen Pädagogik und Solidarität gelten können.
10.2 S PANNUNGEN , W IDERSPRÜCHE UND H ERAUSFORDERUNGEN Bisher wurde sowohl in den unmittelbaren Textinterpretationen als auch bei der Erarbeitung der gemeinsamen Motive sozialistischer Pädagogik und der Varianten des Solidaritätsbegriffs immer wieder auf Probleme verwiesen, die sich aus den Texten ergeben. Vor dem Hintergrund des eben skizzierten Kritik- und Pädagogikverständnisses sind nun einigen dieser Probleme ausführlicher zu diskutieren. Dabei gibt es drei Problemkomplexe, die für Pädagogik im Allgemeinen, für ein Nachdenken über eine Pädagogik der Solidarität aber besonders relevant sind, da sie mehrere Schlüsselprobleme in sich vereinen: (1) Das Verhältnis von Selbstbestimmung und Zwang, (2) die Frage nach dem tatsächlich pädagogi33
Adorno (1970b: 147f.).
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schen Charakter solidarischer Normen und Praktiken und (3) das Problem der Reichweite bzw. Inklusivität von Solidarität. 10.2.1 Selbstbestimmung oder Zwang zur Solidarität? In den Textanalysen ist deutlich geworden, dass die Einordnung in die Gemeinschaft und die Übernahme von Pflichten gegenüber jener, wenn nicht als Voraussetzung, so als Gleichzeitigkeit mit der (selbstbestimmten) Entfaltung individueller Persönlichkeit gedacht wurde. Das erste zu verhandelnde Problem siedelt sich hier an und kann als Spannungsverhältnis zwischen individueller Selbstbestimmung und Entfaltung als Ziel von Pädagogik und der notwendigen Einordnung in das Kollektiv, ohne die diese Entfaltung nicht möglich ist, beschrieben werden. Dieses Verhältnis ist eine grundlegende Antinomie (nicht nur sozialistischer) Pädagogik. Die Einordnung in kollektive Strukturen und damit auch die gegebenenfalls notwendig werdende Unterordnung unter soziale Regeln und Normen, die nicht oder nur zum Teil der aktiven Zustimmung des*der Einzelnen unterliegen, ist ein Grundproblem, das für die Theorie und erst recht für die Praxis der Pädagogik stets brisant ist und auf das nicht widerspruchsfreie Verhältnis zwischen Erziehung als äußerer Lernsteuerung und Bildung innerer, persönlicher Lernsteuerung verweist. In allen Texten, außer bei Ziegenhagen, kommt dieses Problem zu Ausdruck, da die Entfaltung der individuellen Person als Globalziel von Pädagogik gesetzt wird, dafür aber Vergemeinschaftung als Voraussetzung angesehen wird; sei es in der Phalanx (Renaud), im Ikarischen Kommunismus (Cabet), in der sozialistischen Arbeiter*innenbewegung (Zetkin) oder in der Nation (Seidel). Freilich bleibt der Widerspruch nicht unerkannt; Renaud löst ihn vermeintlich in Rich tung individueller Selbstständigkeit auf; Zetkin verschiebt die Lösung des Problems in die Zukunft; lediglich Seidel und Cabet scheinen für den Widerspruch wenig sensibel zu sein, und tendieren in Richtung kollektivistischer Lösungen des Problems. Die Forderung nach Eingliederung in eine Gemeinschaft scheint dem Ziel der Emanzipation von Herrschaft und dem der Autonomie zu widersprechen. Auch die anthropologische Prämisse der Universalität und Offenheit des Menschen scheint in Frage gestellt; geht mit der Eingliederung in eine Gruppe die Konstitution einer anderen Gruppe einher (womit Universalität suspendiert ist); und begrenzt dies doch die Offenheit der Möglichkeiten menschlicher Entwicklung auf einen Ausschnitt dieser Möglichkeiten und damit der Möglichkeiten, eine je eigene Individualität auszubilden. Zuletzt widerspricht die Eingliederungsforderung der pädagogischen Norm der Wechselseitigkeit, die damit eine
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tendenziell einseitige Beschränkung erhält: Die pädagogischer Einwirkung Ausgesetzten haben zu lernen sich einzugliedern, ohne die Möglichkeit, aktiv über die Normen und Formen der Gruppe und der entsprechen Eingliederungsprozesse mitzubestimmen. Dieser Widerspruch wird in den Texten in zwei Richtungen versucht, zu lösen; zum ersten, indem das Modell einer künftigen (utopischen) Gesellschaft entworfen wird, in der, wie bei Renaud, die Freiheit des Einzelnen gewährleistet ist. Zum Zweiten, indem aus der Feststellung der Inkongruenz ein Reform- oder Revolutionsprogramm entworfen wird (so bei Zetkin), in dem Eingliederung als temporäre Notwendigkeit zum Erreichen der Befreiung ausgegeben wird. Doch selbst in Die Solidarität, mit ihrem an Fourier orientieren Konzept der freien Entwicklung der Triebe wird ein soziales und pädagogisches Programm vorlegt, das sich – vermeintlich – fern jeder Zwangsstrukturen bewegt, in der sich aber doch Strukturen zeigen, in denen die Notwendigkeit der Beschränkung eigener Freiheitspotentiale deutlich wird. Dies wird offensichtlich im Zwang zur Arbeit, der diejenigen, die sich diesem nicht beugen als krank disqualifiziert. 34 Dieser Widerspruch ist systematisch relevant, solange es eine Gesellschaft gibt, die die Freiheit des Einzelnen nicht gewährleistet oder ermöglicht. – Das Reform- oder Revolutionsmotiv erscheint als Vorschlag der historischen Lösung dieses systematischen Problems. Doch stellt sich die Frage, wie die Menschen zur Veränderung der Gesellschaft motiviert werden können: Hier erhalten die zuweilen autoritär wirkenden Erziehungskonzepte, die nicht das Lernen zur Einsicht in bestimmte soziale Notwendigkeiten hin leiten wollen, sondern unter Androhung von Zwang die Befolgung jener erzwingen, ihre Legitimation. – Gelöst ist das Problem damit keinesfalls. 10.2.2 Pädagogik der Solidarität als politische Praxis? Die Feststellung, der Mensch sei ein soziales Wesen, dessen volle Entfaltung von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt, die nicht bestehen, da sie von materieller, politischer, rechtlicher Ungleichheit oder eine Ungleichheit im Zugang zu Bildung und Erziehung geprägt sind, wird in allen Texten, außer Robert Seidels Staatsbürgererziehung geteilt. Aus dieser Diagnose erwächst das soziale Reform- oder Revolutionsmotiv, nach dem eine Gesellschaft zu schaffen ist, die die Bildung des*der Einzelnen ermöglicht. Damit wird auf den Zusammenhang von Pädagogik und Gesellschaft und auf einen vor-pädagogischen Bereich verwie34
Diese Schwierigkeit scheint auch dort auf, wo Renaud unterschiedliche Höhen der Intelligenz postuliert und daraus Führungs- und Gefolgschaftsverhältnisse ableitet (vgl. Renaud 1855: 6).
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sen, der gesichert sein muss, soll Pädagogik mit der Zielrichtung individueller Entfaltung möglich werden.35 Diese Problemlage reflektierend, bekommt der Zusammenhang von Pädagogik und Solidarität eine prä-pädagogische Funktion als Erziehung zu einem Zusammenschluss, der für diese andere Gesellschaft eintritt: Ist dies bei Cabet milde-reformatorisch als kommunistische Gesinnungsgemeinschaft, die auf dem Wege des Werbens und Überzeugens dieses Ziel erreichen will gefasst, tritt sie bei Zetkin als kämpferische, proletarisch-sozialistische Kampfsolidarität auf, die das Bindemittel unter den, für die Überwindung des Kapitalismus kämpfenden, Arbeitern und Arbeiterinnen sein soll. Lernen wird durch die politische Bewegung gesteuert, um zunächst ein anderes Lernen als außerhalb dieser Bewegung zu ermöglichen und dieses dann für alle verfügbar zu machen. Erscheint die cabetsche Methode der mühsamen, aber gewaltlosen Überzeugungsarbeit (die sich ähnlich bei Ziegenhagen und Renaud findet, auch wenn diese mehr auf die Genialität eines Mannes – Ziegenhagen: sich selbst; Renaud: Fourier – sich beziehen) vor dem Hintergrund des dargelegten pädagogisch-ethischen Kanons unproblematisch; aber dessen soziale Wirksamkeit gerade daher wenig überzeugend (denn Pädagogik darf demnach nicht über die Machtmittel des Politischen verfügen), scheint Zetkins Ansatz der Eingliederung der Einzelnen in die Reihen der ihrer selbst bewussten Arbeiterklasse zwar vor dem Hintergrund der pädagogischen Ethik unhaltbar, aber in Anbetracht der Zieldimension des sozialen Wandels erfolgversprechender, da in der Gesellschaft eben keine Logik des Pädagogischen herrscht, in der es lediglich um Lernsteuerung geht, sondern eine Logik des Politischen. In dieser geht es um Macht und Interessendurchsetzung. Auch wenn Lernsteuerung im Politischen durchaus eine Rolle spielt, befindet sich diese doch nicht im Zentrum politischer Logik. 36 Aus einer rein pädagogischen Perspektive ist Zetkins Klassenkampfsolidarität zu verwerfen, denn sie widerspricht zentralen Prinzipien pädagogischer Ethik, indem ein fixes Lernziel vorgegeben wird, das in der kollektivistischen Einordnung in eine Gemeinschaft besteht. Diese Aspekte müssen berücksichtigt werden, denn sie dequalifizieren den Ansatz in unmittelbar pädagogischer Hinsicht. Jedoch kann er damit nicht abgetan werden, denn aus einer anderen Perspektive betrachtet erscheint er durchaus mit diesen Prinzipien konform: Es geht darum, diesen Prinzipien zu künftiger Realität zu verhelfen. Kant stellte die Frage, wie 35
Vgl. Winkler (2006: 183-195).
36
Während in dieser Arbeit das Pädagogische konstitutiv mit einem Konzept von Lernsteuerung verknüpft wird, werden für das Politische die Kategorien der Interessendurchsetzung, der Macht- und der Konflikthaftigkeit menschlichen Lebens als bestimmend gefasst (vgl. Mouffe 2007: 16).
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zur Freiheit unter Zwang zu erziehen ist. Das ist auch die zentrale Frage, die sich jene Pädagogik gefallen lassen muss, die sich an einer ›Solidarität des Klassenkampfs‹ orientiert. Auch in dieser geht es um eine Opferung aktueller Freiheiten zugunsten einer noch zu erringenden Freiheit. In der sozialistischen Tradition wird das Dilemma dadurch gelöst, dass es an der gegenwärtigen Freiheit offensichtlich mangelt und die bürgerliche als illusorische Freiheit, die dem Zwang des Kapitals unterliegt, desillusioniert wird. Doch ist dieses Argument auch in pädagogischen Interaktionen tragfähig? Solidarität erscheint hier als vor- oder prä-pädagogisches Konzept. Prä-Pädagogik bedeutet dann eine soziale Praxis, die aus pädagogischen Gründen darauf aus ist mit nicht-pädagogischen Mitteln Bedingungen für Pädagogik zu schaffen. Bildungspolitik wäre womöglich die Form, die diese Praxis in der gegenwärtigen Gesellschaft annimmt. Der Appell an Solidarität als transitorisches Phänomen findet sich aber nicht nur in Konzepten klassenkämpferisch-revolutionärer Art; gerade die reformistisch orientieren Ansätze sind stark auf eine solche Solidarität angewiesen, wenn auch auf einen sozial umfassenderen Kreis als beispielsweise das ›Proletariat‹ oder eine vermeintlich revolutionäre Avantgarde bezogen. Während es für den, am Beispiel von Zetkin illustrierten, proletarisch-revolutionären Rahmen genügt, die Arbeiterklasse zur starken, ihrer selbst bewussten und daher solidarischen Gemeinschaft zu formen, sind reformistische Konzepte, wie die Ziegenhagens oder Renauds darauf angewiesen, dass es eine, jenseits der als unterdrückt und/oder arm konstatierten Gruppen, situierte, übergreifende Solidarität gibt, die es ermöglicht, gemeinsam mit denen, denen es besser geht, für eine neue Gesellschaft einzutreten. Ohne deren Solidarität im Sinne von Unterstützung wären die Reformen nicht durchführbar. Schon der kurze Verweis auf Kant zeigte, dass das Problem keineswegs ein neues für die Pädagogik ist. Selbst wenn es in der sozialistischen Pädagogik insbesondere thematisiert wurde. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde es von Siegfried Bernfeld aufgenommen. Er hat 1925 in Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung37 darauf hingewiesen, dass sich pädagogische Verhältnisse entsprechend der Veränderung der sozialen Verhältnisse modifizieren und argumentierte gegen einen naiven pädagogischen Reformglauben, der hoffte, durch Erziehung die Welt zu einer besseren verändern zu können. Rufen wir uns diese Mahnung Bernfelds in Erinnerung, so muss diese selbstverständlich auch auf das Verhältnis zwischen Solidarität, Gemeinschaft und Pädagogik bezogen werden. Während die anderen Autoren eher der Idee einer pädagogischen Reform der Gesellschaft anhingen, finden wir bei Zetkin durchaus Momente der Vorwegnahme der bernfeldschen These. 37
Vgl. Bernfeld (1925) 1973.
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Letztlich verweist diese Überlegung darauf, dass Solidarität wohl als pädagogisches Element in pädagogischen Prozessen relevant sein, aber nicht als pädagogisches Moment in politischen Prozessen überhöht werden kann, soll es nicht um eine ideologisierende Konzeption gehen. Pädagogisch relevant wird dieses Problem dann, wenn man einen prinzipiellen, kategorischen Unterschied zwischen der Logik des Politischen und der Logik des Pädagogischen anerkennt. Nun wird Pädagogik im Sinne von Lernsteuerung durchaus als Medium politischen Handelns genutzt; doch handelt es sich dann um politische oder besser: politisierte Pädagogik; die auf die Durchsetzung von Machtinteressen zielt. Auf der anderen Seite ist von Bedeutung, dass die Bedingungen des Pädagogischen unter Umständen nicht pädagogisch hergestellt oder gesichert werden können, sondern nur sozial oder politisch. Damit wird der gesellschaftlich vermittelte Zusammenhang zwischen Pädagogik und Solidarität deutlich. 10.2.3 Reichweiten von Solidarität Sowohl für den Solidaritätsbegriff selbst als auch für jede an einem spezifischen Solidaritätsbegriff ausgerichtete Pädagogik stellt sich die Frage der Reichweite der Solidarität. Welches ist die soziologisch-deskriptiv zu beschreibende Gruppe, die sie umfassen soll? Oder ist eine solche empirische Beschreibung gar nicht möglich, weil es sich um einen spekulativen Solidaritätsbegriff handelt, der auch künftige Generationen oder fiktive Wesen einbezieht? Daran anschließend stellt sich die Frage des Verhältnisses, das zu denen einzunehmen ist, die außerhalb der Reichweite der Solidarität liegen. Sind es Feinde, Freunde, neutrale Wesen? Das erste Problem tauchte schon oben auf, als die Humanisierungsidee mit der Perspektive eines begrenzten Solidaritätsprojektes konfrontiert wurde. Wie kann eine prinzipiell alle mitdenkende Humanisierungsabsicht in Einklang gebracht werden mit der Begrenzung auf eine Gruppe? In den Texten erscheint meist eine pragmatische Perspektive: Da die Verhältnisse nun mal nicht so seien, dass sie die Humanisierung aller jetzt zuließen, müsse das Projekt vorerst auf eine reformatorisch bzw. revolutionär wirkende Gruppe beschränkt werden. Innerhalb der Texte finden sich Trennungen, die im Widerspruch zur Humanisierungsthese stehen: Ausschlussprozesse, die sich an den Kategorien des Geschlechts, der Generation, der Klasse, der Gesinnungsgemeinschaft, der Leistungsfähigkeit, der ›Rasse‹ und der Nation orientieren. Diese Kategorien sind aus der oben entworfenen ethischen Perspektive auf ihren Bestand im Rahmen einer Pädagogik der Solidarität zu prüfen. Dabei ist zuerst zu rekapitulieren, warum diese Kategorien in den Texten wichtig sind; und zum zweiten, ob sie der kritischen Diskussion stand halten.
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10.2.3.1 Geschlecht ›Brüderlichkeit‹ als mit ›Solidarität‹ verwandter und zum Teil synonym gebrauchter Begriff weist auf eine Problemdimension hin, die sich auch bei der Entfaltung des Solidaritätsbegriffs immer wieder bemerkbar machte. Das Problem stand bei Clara Zetkin im Zentrum der Diskussion: Solidarität im Geschlechterverhältnis. Ihr ging es um die Frage, wie die Frau in das um seine Befreiung ringende sozialistische Proletariat eingegliedert werden kann. Im Hintergrund ihrer Forderung stand die Annahme der prinzipiellen Gleichheit der Geschlechter. Diese habe sich aber faktisch – aufgrund der politischen, sozialen und pädagogischen Verhältnisse – nicht realisieren können. Weshalb die Frau bei ihr sowohl als Objekt sozialistischer Erziehungsbemühungen, aber auch als Subjekt der Selbsterziehung gefasst wird. Während das Problem bei Zetkin explizit als geschlechterpolitisches und pädagogisches Problem diskutiert wird, findet sich in den anderen Texten eine derartige bewusste Auseinandersetzung nicht. Interessant bei Renaud ist, dass er überwiegend von ›Menschen‹, nicht von ›Männern‹ oder ›Frauen‹ schreibt. Eine Trennung der Geschlechter führt er an der Stelle ein, wo er drei prinzipielle Ungleichheiten unter den Menschen diskutiert, die bei den Gruppenbildungsprozessen Berücksichtigung zu finden haben. Eine dieser Ungleichheit ist die der Geschlechter. 38 Bei den Gruppenbildungen spielt der Geschlechterunterschied aber nur in einer Gruppe eine Rolle, nämlich in der »welche sich durch die Strebung der verschiedenen Einzelwesen bildet, sich geschlechtlich zu lieben und sich zu vereinigen: Gruppe der Geschlechtsliebe [Herv. i.O.].«39 »Geschlechtsliebe« wird bei im polar, als »zweigeschlechtliche Affektion« gefasst; im Gegensatz zu »eingeschlechtlichen Affektion« die er als »Freundschaft« begreift.40 Diese Geschlechterdifferenz fungiert bei ihm als ein Unterschied unter Menschen, der Anziehungskräfte frei setze, die zu Gruppenbildungen führten. Wie Zetkin wendet er sich gegen die Vorstellung einer natürlichen Mutterrolle der Frau. Stattdessen solle die Gesellschaft dafür Sorge tragen, dass das Kind gut erzogen wird und die Mütter, »ganz ruhig die Arbeiten derjenigen Gruppen mitmachen können, zu welchen sie sich hingezogen fühlen.«41 Cabet widmet einen ganzen Brief der Stellung ›des Weibes‹ sowohl in der bestehenden, wie in der Ikarischen Gemeinschaft. Dabei fällt eine merkwürdige Widersprüchlichkeit und Vagheit auf. So beschreibt er die Frauen als geradezu zu vergötternde Wesen. Die Männer werden verfassungsmäßig gezwungen ihnen 38
Renaud (1855: 43).
39
Ebd.
40
Ebd.: 48.
41
Ebd.: 77.
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»Erkenntlichkeit, Ehrfurcht, Aufopferung, Hingebung, Schutz, Pflege und Achtung«42 zu geben. So soll der Mann »sein Glück in das Weib [setzen], und beschäftigt sich unaufhörlich damit, es zu verherrlichen, es zu vervollkommnen und es glücklich zu machen.« 43 Immer wieder wird in diesem Brief die Frau als besonders und anders als der Mann beschrieben – und als Objekt paternalistischer Zuwendung; gleichzeitig aber auch das Prinzip der Gleichheit auf sie bezogen, so wenn Cabet die Frau als »dem Manne […] gleichstehend in Ansprüchen und Rechten«44 beschreibt. Die Gleichheit besteht scheinbar auch in ihrer Pflicht zu arbeiten, jedoch sind die Arbeiten kurz und leicht zu halten. 45 Es ist aber zu bemerken, dass die Frauen den Männern nicht gleich an Pflichten sind. In den gesetzgebenden Versammlungen sollen sich die »Vertreter des Volkes« zuerst »mit den Gesetzen und Maßregeln beschäftigen […], welche die Frauen angehen.«46 – Ob Frauen selbst diesen Versammlungen angehören, wird nicht deutlich. Es müsste aber aus der postulierten Gleichheit an Rechten folgen. Zwar spricht Cabet von der »Bruderliebe zwischen Mann und Frau« 47, so dass diese Rede der ›Bruderliebe‹ vielleicht als ›Geschwisterliebe‹ gedeutet werden könnte; der Rest des Textes gibt für diese Lesart aber keine Anhaltspunkte; vielmehr deutet die Herausgliederung der Behandlung der Rolle der Frauen in der Gemeinschaft auf eine Sonderposition hin, die sie eben nicht als gleichberechtigt und gleichverpflichtet in die Gemeinschaft integriert, sondern als Objekte der Fürsorge behandelt. Ziegenhagen will seine Erziehungskolonie mit acht Kindern begründen, die »wenn es nicht in der Folge ihnen und ihren Eltern anders gefaellt« so füreinander gebildet werden sollen, »daß sie sich zur rechten Zeit, als vier eheliche Paar verbinden, und den Grund zu einer kleinen Kolonie legen koennen.« 48 Weitere Kinder sollen als »Landwirtschaftsgehuelfen und Gehuelfinnen« eingestellt werden.49 Er plädiert in der Verhältnislehre für die völlige Gleichheit der Geschlechter. Doch konstatiert er einen Unterschied zwischen Mann und Frau, so wenn er als Folge des städtischen Lebens kritisiert, »[d]er menschliche Koerper wurde immer mehr verweichliget; die maennliche Staerke und wahre Schoenheit gieng groestenteils verloren. Jezt suchte man die Schoenheit im aeußern Anstrich, und 42
Cabet (1850: 60).
43
Ebd.: 61.
44
Ebd.: 51.
45
Ebd.: 62.
46
Ebd.: 61.
47
Ebd.: 60.
48
Ziegenhagen (1792: 95).
49
Ebd.
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Maenner wurden Weibern an Schwaeche gleich; man hielt Krank- und Schwachseyn fuer ehrenvol.«50 Diese Ungleichheit zwischen Mann und Frau benennt er ein zweites Mal, um sie aber sofort zu relativieren und zu betonen, dass »[a]lle guten Absichten […] groeßtenteils scheitern [wuerden], wenn Knaben und Maedchen nicht nach einerlei Grundsaezzen gebildet wuerden, und nicht einst als gleichjaehrige und gleichdenkende Paare mit einander umgehen koennten.« 51 Gleichheit soll in der Erziehung von Knabe und Mädchen bestehen, um Gleichheit in der Beziehung zwischen Mann und Frau zu ermöglichen. Eine unterschiedliche Behandlung der Geschlechter (außer eine marginale, vorübergehende, aus den Fehlern der bisherigen resultierende) findet sich nicht. Im Widerspruch dazu steht nun eine dritte Passage in der er – entgegen seines Gleich heitspostulats – im Bezug auf das Arbeitsleben wieder eine Differenz markiert. Er schreibt, dass kein Beruf, keine Arbeitstätigkeit ungetan bleiben wird, »da keines die maennlich Kraft hoehnt, und an sich der Gesundheit nachteilig werden kann; denn solche sind teils, so wie das Haarkraeuseln und Bartscheeren, aus der Geselschaft ganz verbannt; teils, wie das Kochen und Schneidern dem Frauenzimmer ueberlassen; teils, wie die sizzenden Arbeiten ueberhaupt, mit gesundern vereinigt.«52 Das ist frappierend; hier wird die Frau aus der Gemeinschaft der Gleichheit explizit ausgeschlossen und zur Erledigerin unliebsamer Arbeiten abgestellt. Für diese klischeehafte Zuweisung findet sich keine systematische Erklärung in der Argumentation Ziegenhagens; sie zeigt die Beharrungskraft des Ressentiments. Bei Robert Seidel taucht die Geschlechterfrage gar nicht auf, er spricht nur von Männern. Mit Bezug auf die oben aufgestellten Kritik-Kriterien lässt sich fragen, wie die Modifizierung von Solidarität im Verhältnis zur Kategorie Geschlecht zu bewerten ist. Generell stellten wir oben die Forderung auf, Pädagogik habe dem Ziel der Emanzipation zu folgen. Inwieweit kann die Trennung der Geschlechter und die, dieser folgenden, geschlechtliche Relativierung einer Pädagogik der Solidarität mit dem Ziel der Emanzipation im Einklang oder im Konflikt stehen? In den Texten wurden zwei Grundtypen des Umgangs mit der Kategorie ›Geschlecht‹ im Hinblick auf Solidarität deutlich: Zum einen die faktisch unterschiedliche Lebenssituation von Frauen und Männern (Zetkin), aus der sich aber keine prinzipielle Unterschiedlichkeit ableitet, sondern vor dem Hintergrund eines Gleichberechtigungsanspruches der Frauen die Forderung nach Gleichstellung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen resultiert. In diesem Sinne 50
Ebd.: 106.
51
Ebd.: 162f.
52
Ebd.: 272.
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geht es um die Befreiung von Frauen aus als illegitim wahrgenommener Herrschaft. Zetkin geht sogar so weit, die generelle Befreiung von Menschen (Männern und Frauen) aus Herrschaft sei nur durch die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen am Befreiungskampf möglich. Die analytische Trennung der Geschlechter dient lediglich der Beschreibung eines Ist-Zustandes und reflektiert sich nicht (mehr) im zu erreichenden Ziel. Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist Stein des Anstoßes für Emanzipation. In einer solchen Konzeption kommt auch die Prämisse der Universalität und Offenheit menschlicher Entwicklung zum Tragen, da keine partikularen Unterschiede zwischen Männern und Frauen anerkannt werden. Frauen wird Individualität zugesprochen; die Fähigkeit sich aktiv in Bildungs- und politische Prozesse einzubringen und mündig (also begründet) über gesellschaftliche Fragen urteilen zu können. Die Prämissen der Wechselseitigkeit und der Autonomie im pädagogische Verhältnis jedoch bleibt in dieser Perspektive unterbelichtet, denn die Frauen sollen nicht selbstständig agieren (genauso wenig wie Männer) sondern im Rahmen der sozialistischen Partei. Damit geht ein gewisser Zwangscharakter einher, der auch dadurch schwer zu relativieren ist, dass er sich auf die Abschaffung von Zwang generell richtet. Die Perspektive Renauds auf die Geschlechter lässt sich leicht in Übereinstimmung mit dem Kriterienkatalog bringen. Problematisch aber wird es bei Ziegenhagen und Cabet, die zwar die Erleichterung der Frau von patriarchalen Zwängen und harter Arbeit propagieren, dabei jedoch ein Frauenbild vertreten, das in der Frau ein prinzipiell (und nicht aus historisch-gesellschaftlichen Gründen, wie bei Zetkin) dem Mann an Stärke unterlegenes Wesen sieht. Das spiegelt sich nicht nur in den genannten Textstellen wieder, sondern auch im zuweilen paternalistischen Duktus der Texte, der Frauen eher als Objekte denn Subjekte von Pädagogik und Solidarität begreifen lässt. Auch wenn in der Verhältnislehre und Die Solidarität die Gleichheit aller Menschen gefordert wird, zeigt sich doch, dass für sie einige gleicher sind als andere. 10.2.3.2 Generationen Konstitutiv für Pädagogik ist die zeitliche Dimension. Pädagogik gewinnt ihre Bedeutung auch durch ihre Funktion der Verkopplung der Generationen untereinander.53 Wie verhält es sich mit Solidarität in diesem Zusammenhang: Wer hat zu welcher Zeit Solidarität mit wem in oder für welche Zeit zu üben? Dieses Problem taucht in allen Texten auf, da es in ihnen immer auch um die Erziehung von Kindern für die zukünftige Gesellschaft geht. Darüber hinaus bringt das in 53
Klassisch wird das Thema unter anderem bei Schleiermacher (1826) 1966; Kant (1803) 1923 oder Dilthey (1875) 1964 behandelt.
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allen Texten grundlegende Reform- bzw. Revolutionsmotiv eine weitere temporale Dimension ins Spiel: Reform bezieht sich auf eine allmähliche Änderung des gesellschaftlichen Status quo hin zu einem anderen, ›besseren‹; Revolution mehr oder weniger auf ein plötzliches Umschlagen von einem auf einen anderen Zustand. Solidarität erscheint bei allen, außer Seidel (für den die zeitgenössische schweizerische Gesellschaft nicht geändert werden muss) und Renaud (für ihn ist sie ein soziales Gesetz) als notwendige Tugend, die erlernt sein will, um fähig zu sein, eine gesellschaftliche Reform oder Revolution durchzuführen. Freilich in unterschiedlichen Ausprägungen: Kampfsolidarität bei Zetkin; Solidarität als Zusammenstehen in der Gesinnungsgemeinschaft der Ikarischen Kommunisten und als Nächstenliebe bei Cabet; ähnlich bei Ziegenhagen. Diese Solidarität richtet sich auf eine Zukunft, in der Kinder oder künftige Generationen ein anderes, ein besseres Leben führen können sollen. An mehreren Stellen ist so auch die Rede davon, dass die Gesellschaft den Kindern bzw. im Allgemeinen ihren Mitgliedern Solidarität und Unterstützung schuldet. Aber das Verhältnis kann und muss auch reziprok gefasst werden, denn die von der Gesellschaft unterstützten oder überhaupt: erst ermöglichten Subjekte sind ihrerseits wieder aufgerufen, jener später etwas zurück zu geben. Womit eine intergenerationelle Beziehung hergestellt ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Aus- oder Einschluss von Kindern in den Solidaritätsbegriff. Sie sind Teil der bestehenden, aber auch Teil der künftigen Generation(en) und haben daher eine Bindegliedfunktion. Wie lässt sich nun der Ein- oder Ausschluss künftiger (und vergangener) Generationen in oder aus einer Pädagogik der Solidarität bewerten? So mag es die Emanzipation der Einzelnen durchaus konterkarieren, in ihrem Denken und Handeln Dinge zu berücksichtigen, die sich gegen vergangene oder künftige, mithin: nicht präsente, Zustände richten. Auf der anderen Seite ist es nur so möglich, auch künftigen Generationen die Möglichkeiten auf Emanzipation, bzw. die Grundlagen von Freiheit zu sichern. Dies alles betrachtend kommt das Gesetz der Pfadabhängigkeit ins Spiel; vergangene Prozesse beeinflussen gegenwärtige und die wiederum künftige. Aus diesen Abhängigkeiten gibt es kein Entrinnen. Solidarität wird so durch die Verkettung der Generationen getragen. Gerade im Hinblick auf künftige Generationen lässt sie sich nicht nur mit dem Impetus der Sicherung der Freiheit begründen, sondern auch mit der Schaffung, Sicherung oder Bewahrung von Verhältnissen, die universell allen zukommen sollten (man kann die These vertreten, dass der Begriff der Universalität der Menschheit alle Menschen in allen Zeiten einschließt) und die Möglichkeiten unterschiedlicher Entwicklungen bewahren. Individualität muss das nicht ausschließen, ebenso wenig wie Aktivität und Wechselseitigkeit: Indem die Jetzigen
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den Künftigen Dinge ermöglichen und bewahren, tragen diese das Erbe jener fort. Autonomie wird damit begrenzt, zugunsten von etwas, das man gebundene Autonomie nennen könnte, Mündigkeit auf etwas festgelegt, dass man auch denen, die noch nicht sind, zubilligt. Der gar nicht so moderne Gedanke der Nachhaltigkeit erscheint am Horizont. Der Gedanke einer intergenerationalen Solidarität wäre dann sowohl ein Lernziel, aber auch ein Prinzip, das lernsteuernd wirkt und zwar dadurch, dass die Reflexion der Lerninhalte durch eine nicht nur auf die Gegenwart begrenzte Perspektive erfolgt. 10.2.3.3 Klasse Die Trennung der Gesellschaft in, aufgrund ihres sozialen und/oder ökonomischen Status’, unterschiedliche Gruppen, findet sich als Figur der Kritik an allen Texten. Den Begriff der Klasse zu verwenden, scheint dabei womöglich unangemessen; er meint jedenfalls nicht im marxschen Sinne eine gesellschaftliche Gruppe, die sich aus ihrer Stellung bzw. aus ihren Eigentumsbeziehung zu den Produktionsmitteln ergibt. Lediglich in Zetkins Text findet sich die Rede von der ›Arbeiterklasse‹ in diesem marxistischen Sinne. Jenseits dieses sehr spezifischen Begriffs sehen auch die anderen Autoren (außer Seidel) eine Trennung der Menschen in ›Reiche und Arme‹ (Ziegenhagen) bzw. ›Arbeiter und Kapitalisten‹ (Cabet) ›Wohlhabende und Arme‹ (Renaud). – Seidel wendet sich explizit gegen eine derartige Kategorisierung im Modus pädagogischer Reflexion, da damit eine unproduktive Spaltung zwischen den Menschen einherginge, die die Basis der (demokratischen) Nation (Schweiz) unterminieren würde. Während sich bei Ziegenhagen, Renaud und Cabet die Figur der unterschiedlich begüterten Menschen in einem Programm materiellen Ausgleichs niederschlägt, indem am Ende alle arbeitend und alle wohlhabend sein sollen – und sich daher auch Solidarität nicht nur auf eine der Gruppen beschränkt, sondern gerade (besonders stark bei Ziegenhagen) die Solidarität der Reichen mit den Armen angerufen wird, zumindest aber Solidarität nicht begrenzt wird. Bei Zetkin ist das anders: Die Arbeiterklasse ist der empirische Rahmen, auf den sich die Bemühungen zur Ausbildung sozialistischer (Binnen-)Solidarität zu fokussieren hat. Die Klassengesellschaft erscheint bei ihr als empirisch begründete Grenze der Solidarität und deshalb als Grund der Notwendigkeit dieser, um jene Gesellschaft zu überwinden. Welche Probleme bringt uns nun die Einführung der Kategorie der Klasse für die Diskussion einer Pädagogik der Solidarität? Die Kategorie der sozialen Klasse erscheint in allen Texten prinzipiell als negativ bewertete. Klassen sind der Kritik unterworfen, weil sie ungleiche Entwicklungs- und Lebensmöglichkeiten der Menschen prägen. Sie begrenzen die die Inhalte und Wege des Lernens und
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der Bildung. Daher streben alle Entwürfe eine klassenlose Gesellschaft an. Da es aber Klassen gäbe, reflektiert sich die Pädagogik der Solidarität an diesen Klassengrenzen. Für Zetkin beschränkt sich Solidarität auf die Arbeiterklasse, um sie zur Befreiung zu führen: Solidarität unter Arbeitern und Arbeiterinnen ist bei ihr sowohl Lernziel als auch Methode der Lernsteuerung. Lässt man die zeitliche Zieldimension aus, der freilich ein universalistisches Motiv zu unterstellen ist, muss eine derart begrenzte Solidarität pädagogisch kritisiert werden: Sie schließt andere, die nicht ›der Klasse‹ zugerechnet werden, aus und verstößt dabei gegen das Universalitätsgebot; sie ist nicht offen für plurale Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, sondern beschränkt sich auf eine Pädagogik der ›Solidarität des Klassenkampfs‹. Dass damit Autonomie und Mündigkeit nur begrenzt einhergehen, auch wenn die Binnensolidarität der Arbeiterklasse auf Ermächtigung abzielt, versteht sich von selbst. Dieses Problem stellt sich in den anderen Konzepte nicht. Sie gehen von einem zu schaffenden freundschaftlichen Umgang zwischen den Klassen aus, der letztlich auf die Abschaffung der Klassen hinausläuft. Begründet wird diese (trans-soziale) Solidarität mit einer ›natürlichen‹ oder ›göttlichen‹ Geschwisterlichkeit aller Menschen. Die Einsicht in diese sei zu Lernen, um dann friedlich und wohlhabend miteinander leben zu können. 10.2.3.4 Arbeit und Leistungsfähigkeit Ein weiteres Problem wurde an den unterschiedlichen Bedeutungen der Arbeit deutlich, wie sie im Vergleich der Sittenverbesserung und Die Solidarität in Erscheinung trat. So fordert Cabet die Pflicht zur Arbeit. Werde dieser nicht genüge getan, sei die Strafe der Ausstoß aus der Gemeinschaft, da die Verweigerung zu arbeiten »ein Diebstahl sein würde und ihn [den Nichtarbeitenden, R.P.] gerechterweise aussetzt, aus der Gemeinschaft gestoßen zu werden.« 54 Renaud hingegen nahm das Recht auf Faulheit55 in gewisser Weise vorweg, da er ein ›Minimum‹, als ein – in heutigen Worten – bedingungsloses Grundeinkommen für alle unabhängig von ihrer Arbeitsleistung befürwortete. 56 Auch diejenigen, die nicht arbeiten, sollten das Recht auf Subsistenz durch die Gemeinschaft haben. Gleichwohl bleibt seine Pathologisierung derer, die nicht arbeiten wollen problematisch, denn sie Fixiert eine Anthropologie der Arbeit und marginalisiert so andere mögliche Formen menschlicher Lebensführung.
54
Cabet (1850: 73).
55
Vgl. Lessenich/Lafargue (1883) 2014.
56
Vgl. aktuelle Diskussion zum Thema u.a. Liebermann 2015; Osterkamp 2015; Sheahen 2012.
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Bei Ziegenhagen spielt Arbeit insofern eine Rolle, da sie zur ›verhältnismäßigen‹ Bildung der Individuen beizutragen hat. Landwirtschaftlicher, handwerklicher und intellektueller Arbeit wird ihre soziale und pädagogische Funktion zugewiesen. Die Frage des Verhältnisses von Arbeitenden zu nicht Arbeitenden wird nur vor diesem Hintergrund diskutiert, Berechtigungen oder Entrechtungen werden damit nicht verknüpft. Anders sieht das in der Frauenfrage aus, in der Arbeit die zentrale Begründungsinstanz für die Anerkennung politischer Rechte der Frauen ist. Da sie arbeiten und dadurch »gesellschaftlich-produktiv dem Manne ebenbürtig«57 seien, müssten sie ihm zwangsläufig auch politisch gleichgestellt werden. Der Konflikt, der sich hier in Keimform zeigt, birgt, denkt man ihn weiter, beträchtlichen Sprengstoff für eine Gesellschaft und für den Gedanken der Solidarität. Bedeutet Solidarität: Wechselseitigkeit zu üben mit denen, die sich den selben Pflichten unterwerfen wie die anderen? Oder bedeutet Solidarität: Subsistenzsicherung für alle Gemeinschaftsmitglieder, unabhängig von ihrem leistungsmäßigen Beitrag für die Gesamtheit? Bekommt man erst politische Rechte zur Mitbestimmung in Gesellschaft, wenn man arbeitend an ihr teilnimmt? Während sich erstes utilitaristisch begründen ließe, wird für das zweite Solidaritätsverständnis ein anderer Begründungsmodus nötig, der entweder auf einer Ethik der Pflicht zur Fürsorge gründet oder aber aus einer solchen Fürsorge einen Nutzen für die Gemeinschaft schließt. Außerdem wird ein quantitatives Problem deutlich, nämlich die Frage, bis wann es der Gemeinschaft möglich ist, nicht Arbeitende zu unterstützen, wenn die Zahl derer mit der Zahl jener, die arbeiten in ein Missverhältnis rutscht. Mit der Kategorie der (Arbeits-)Leistung liegt wohl eine der schwierigsten Kategorien, an der sich Solidarität brechen kann, vor. Die Kopplung von Solidarität an wechselseitige Leistung erscheint ebenso fragwürdig, wie die völlige Lösung dieses Verhältnisses. Bei Zetkin ist die Beteiligung am Arbeitsleben der argumentative Grund dafür, politische Rechte zu erhalten und aufgrund der durch Arbeit geeinten Interesse solidarisch miteinander zu sein. In der im Aufzug begriffenen Arbeitsgesellschaft stellt sich die Frage danach, was geschieht, wenn jemand nicht arbeiten will, für sie nicht. Doch zeigt der Vergleich zwischen Renaud und Cabet die Brisanz des Problems in aller Schärfe: Die von Cabet geforderte Erziehung zur Arbeit und die hinter dieser lauernden Drohung des Ausschlusses aus der Gesellschaft und damit aus der Reichweite der Solidarität ist vor dem Hintergrund des oben entworfenen pädagogisch-normativen Rasters hochproblematisch: Emanzipation im Sinne der Befreiung von Herrschaft ist das nicht. Es waltet Zwang. Erziehung zur Solidarität ist Unterwerfung unter kollek57
Zetkin (1889: 12).
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tive Normen. Freilich, arbeiten müssen alle, daher ist der Universalitätsforderung genüge getan. Allerdings wird die Offenheit menschlicher Entwicklung arg begrenzt, indem sie Arbeit als obligatorische menschliche Qualität festschreibt. Individualität und Autonomie selbst darüber entscheiden zu können, ob man durch Arbeit einen Beitrag zu Gesellschaft leisten möchte, wird so verhindert. Wobei sich generell die Frage stellt, ob der Mensch der Gesellschaft nur durch Arbeit (und was Arbeit dann bedeutet) Leistungen zu erbringen vermag. Renaud fasst den Zwang zur Arbeit weicher. Auf den ersten Blick kann man in seinem Konzept gar nicht vom Zwang zur Arbeit sprechen, denn durch die passionelle Gestaltung der Gesellschaft fühlen sich alle geradezu zur Arbeit hingetrieben, die bei ihm schon quasi anthropologische Qualität besitzt. Und auch der Fakt, dass diejenigen, die nicht arbeiten wollen oder können, von der Gesellschaft unterhalten werden, lässt sein Konzept als eines erscheinen, in dem die völlige Freiheit individueller Entfaltung bestehen könnte. Doch werden bei ihm diejenigen, die nicht arbeiten wollen als »Irre« 58 pathologisiert. Den – selbstbestimmt – nicht Arbeitenden wird so der volle Subjektstatuts aberkannt; sie werden zu Objekten der Gesellschaft deklassiert. Unabhängig davon stellt sich die grundsätzliche Frage, wie eine Gesellschaft pragmatisch existieren soll, wenn in ihr nicht – prinzipiell alle, die das können – durch Arbeit an der Unterhaltung und Subsistenz der Gesellschaft teilhaben. Eine Erziehung hin zur Bildung eines gewissen Arbeitsbewusstseins erscheint nahezu eine Grundforderung einer Pädagogik der Solidarität: Solidarität in Gegenseitigkeit muss praktisch sein; in Gesellschaft scheint dies die Form der Arbeit zu sein.59
58 59
Renaud (1855: 104), vgl. S. 136 dieser Arbeit. Der hier benutze Begriff der Arbeit beschränkt sich nicht im engen Sinn auf ›Lohnarbeit‹, sondern eher auf etwas, das mit Marx als »Bildnerin von Gebrauchswerten« und damit »eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also menschliches Leben zu verwirklichen« (Marx [1867] 1962: 57) zu be zeichnen ist. Allerdings kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden, inwieweit diese »ewige Naturnotwendigkeit« doch gar nicht so »ewig« ist. Immerhin wird das Ende der Arbeitsgesellschaft unter dem Eindruck der Weiterentwicklung von Automatisierung, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz in Industrie und Gesellschaft inzwischen häufiger ausgerufen. Ob damit aber Arbeit als gesellschaftliche Notwendigkeit verschwindet ist fraglich.
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10.2.3.5 Gesinnungsgemeinschaft Eine weitere kollektive Kategorie, an der sich Solidarität in den Texten bricht, ist die der Gesinnungsgemeinschaft. Ganz offensichtlich wird dies in der Sittenverbesserung und der Frauenfrage. Bei Cabet ist es die Gemeinschaft der Kommunisten, bei Zetkin die der sozialistischen Proletarier und Proletarierinnen. Bei beiden hat Solidarität einen unterschiedliche Stellenwert. Für die cabetsche Kommunistengemeinschaft ist Solidarität ein Wert, den sie nach innen und außen zu leben haben. Sie sollen innerlich zusammenstehen, gleich und ›brüderlich‹ miteinander umgehen, um so ein Vorbild für die zum Kommunismus zu bekehrende Außenwelt abzugeben. Auch mit dieser sollen sie sich – eben aus propagandistisch-reformerischen Absichten solidarisch verhalten, um die Überlegenheit der Lehre der Gütergemeinschaft zu demonstrieren. Im Widerspruch zu diesem volkspädagogischen Ansatz steht das Solidaritätsverständnis Zetkins: Sie will Solidarität als Gesinnung und Praxis verstanden wissen, die sich nur auf sozialistische Arbeiter und Arbeiterinnen bezieht und die in der Einheit im Kampf gegen den Kapitalismus besteht. Solidarität ist hier ein »Kampfbegriff«60, der sich positiv nur nach innen richtet, um gegen ein Äußeres anzugehen. Während bei Cabet noch die starke Nachwirkung eines christlichen Brüderlichkeits- und Nächstenliebebegriffs deutlich wird, fehlt dies bei Zetkin völlig. Bei ihr herrscht eine antagonistische Moral, die sich an einem politischen Machtbegriff orientiert. Eine ähnlich explizite Diskussion von Solidarität im Bezug auf eine Gesinnungsgemeinschaft findet sich bei Ziegenhagen, Renaud und Seidel nicht. Im Gegensatz zu den anderen bisher behandelten Kollektivkategorien erscheint die der Gesinnungsgemeinschaft vor dem Hintergrund der oben beschriebene pädagogischen Ethik unproblematisch. Lediglich Zetkins Verstellungen, die die sozialistische Gesinnungsgemeinschaft mit der soziologisch-deskriptiven Kategorie der Klasse koppelt, birgt Schwierigkeiten, auf die oben schon eingegangen wurde. Die an religiöse Bruderschaften erinnernde kommunistische Gesinnungsgemeinschaft bei Cabet und die ebenfalls missionarischen, aber weniger als Überzeugungsgemeinschaft konzipierten, Vorstellungen Renauds und Ziegenhagens sind von einer prinzipiellen Ethik der Gewaltlosigkeit und einer pädagogischen Logik getragen und durchaus emanzipatorisch zu verstehen. Auch wenn sie ihre Ansicht doch als die ›einzig Wahre‹ oder ›Richtige‹ ansehen, wollen sie diese niemandem aufzwingen, sondern durch ›Argument‹ oder ›Beispiel‹ ›überzeugen‹. Die Prämissen der Universalität aller Menschen liegt dem zugrunde, nämlich, dass alle verstehen können und allen die Teilhabe an der ›Wahrheit‹ glei60
Bayertz (1998: 40).
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chermaßen zukommt. Auch wenn der Anspruch, selbst die Wahrheit zu vertreten mit der Idee der Offenheit im Widerspruch steht, wird doch anerkannt, dass andere anders denken und ihnen das Eigene nicht aufzuzwingen ist; daher bleibt das Prinzip der Offenheit gewahrt. Da es sich um eine Überzeugungsgemeinschaft handelt, zu der niemand gezwungen wird, werden auch die Prinzipien der Individualität und Autonomie beachtet; Mündigkeit wird geradezu vorausgesetzt sowohl bei den Mitgliedern der Gemeinschaft als auch bei denen, die noch überzeugt werden sollen. Solidarität als Zusammenhalt innerhalb einer Überzeugungsgemeinschaft hebt also stark auf Bildung als innere Lernsteuerung ab, die lediglich von außen angeregt werden soll. In diesem Sinne konstituiert sich auch ein gewisses Verhältnis der Wechselseitigkeit, in dem aufeinander eingegangen wird. 10.2.3.6 ›Rasse‹ Die Trennung in menschliche ›Rassen‹, wie sie bei Ziegenhagen diskutiert wird, ist hinfällig. Sie ist, nicht zuletzt aufgrund des deterministischen Menschenbildes mit den skizzierten Prinzipien einer pädagogischen Ethik nicht vereinbar. Darüber hinaus und grundlegender ist die Unhaltbarkeit der biologistischen Kategorie ›Rasse‹ unstrittig.61 10.2.3.7 Nation Ein weiteres Problem, das bei Ziegenhagen und Seidel auftaucht, aber auch in den anderen Texten impliziert ist, besteht in der Übertragbarkeit bzw. Ausdehnbarkeit eines Begriffs von Solidarität auf andere Kulturen, Länder, Staaten, Nationen. So will Ziegenhagen die richtige Verhältnislehre mithilfe pädagogischer Missionare anderen Völkern beibringen und sie so in das Reich der Verhältnismäßigkeit eingliedern. Gleichwohl sieht er eine Differenz, da den Anderen vernunftmäßig eine nicht so hohe Stufe zugewiesen worden sei, wie den Europäern.62 Der ziegenhagensche Verbreitungsmodus ist einer der globalen Homogeni61
Vgl. u.a. Geulen 2007; Stingelin 2003; Zerger 1997. Unabhängig von dieser auf einen biologistischen Rassenbegriff zielenden Kritik wird in der aktuellen postkolonialen und rassismuskritischen Diskussion durchaus der Begriff ›race‹ als konstruierte soziale Differenzkatagorie genutzt. Damit wird aber keine Zuschreibung bestimmter Eigenschaften an Menschen oder Gruppen verbunden, sondern die Frage der gesellschaftlichen Produktion von Ungleichheits- und Differenzstrukturen, die als Rassismus wirken. Daher wird in diesen Diskussionen der Begriff als »Analysewerkzeug für rassistische Diskriminierung« (Winker/Degele 2009: 47) verwendet.
62
Vgl. Ziegenhagens diesbezügliche Formulierungen über »zeltische« Völker auf S. 244 dieser Arbeit bzw. die Bemerkung zur Kategorie ›Rasse‹ oben.
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sierung, der dennoch Unterscheide proklamiert, die in einer gewissen (rassistischen) Hierarchie münden. Ein anderes Bild zeigt, auf dem unbedingten Eingenrecht der Nationen bestehend, Robert Seidel. Für ihn gibt es diese Gleichheit nicht, sondern eine durch die Existenz und den Eigenwert der Nationen geprägte Pluralität der Völker, Lebensweisen und Identitäten. Diese zu vereinheitlichen, wie er an der Bildungzum-Klassenkampf-Rhetorik seiner Genossen befürchtet, ist für ihn undenkbar. Ein friedlicher Zustand der Menschheit sei gekoppelt an das Bestehen der Nationen, die sich aus freiem Willen vereinigen aber dabei ihre Individualität behalten. Bei Zetkin, gegen deren Klassenkampf-Konzept der seidelsche Text Position bezieht, finden sich keine expliziten Auseinandersetzungen mit der internationalen Dimension von Solidarität, wohingegen bei Cabet und Renaud der Konflikt zwischen den Texten Seidels und Ziegenhagens implizit angelegt ist. So schwebt Cabet, trotz aller Forderung nach demokratischer Reform und Volksherrschaft, im Prinzip eine Homogenisierung vor, während Renaud für die unbedingte Akzeptanz der Pluralität der Triebe plädiert und jede Homogenisierung ablehnt. Überträgt man diese Motive auf die Frage unterschiedlicher Kulturen, wird deutlich, dass mit Cabet diese wohl über kurz oder lang homogenisiert würden, während sie bei Renaud bestehen bleiben könnten. Wobei dies so nicht richtig ist: Denn er geht davon aus, dass mit Fourier die wahre Natur des Menschen gefunden ist und diese fasst er – obwohl er die soziale Natur des Menschen anerkennt – dann doch hochgradig individualistisch; so dass das Konzept mehrerer Kulturen vor Renaud eigentlich nicht bestehen kann. Für ihn kann es nur eine, die Pluralität der Einzelindividuen akzeptierende, Kultur, nämlich die ›Harmonie‹ geben. Das Konzept des ›Volkes‹ oder der ›Nation‹ erscheint also in zwei Varianten: Bei Ziegenhagen in einer, dem rassistischen Ressentiment entspringenden, Hierarchie zwischen denen, ›die der Sittlichkeit näher stehenden‹ und den ›auf einer niederen Stufte stehenden‹ Völkern. Seidel vertritt ein Konzept, das die Gleichberechtigung aller Völker zumindest nicht ausschließt: So ist für Seidel die Nation eine Bedingung der Bildung des Einzelnen: Sie dient als Habitat, das sich durch seine qualitative Eigenart von anderen Nationen unterscheidet, aber deswegen nicht höher- oder minderwertig ist. Vielmehr ist die ›Nation‹ die Umgebung, die gemeinschaftliche Lernprozesse modelliert und so innerhalb einer ›Nation‹ eine gewisse Homogenität, zwischen den ›Nationen‹ eine gewisse Pluralität hervorbringe. Da jedoch die Eingliederung in diese nationale Gemeinschaft mit zwanghaften Momenten einhergeht, liegt die Einschränkung eines emanzipatorischen Motivs nahe; Universalität und Offenheit werden offensichtlich begrenzt, denn das Ziel Seidels ist
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der ›nationale Staatsbürger‹. Autonomie und Mündigkeit erhalten auch in diesem Kontext eine Einschränkung, die Zugehörigkeit zur nationalen Volksgemeinschaft umgrenzt die Entfaltung dieser Potentiale. Kommen wir zurück auf das Verhältnis von Nation bzw. Nationalstaat zu Emanzipation, so wird im Falle Seidels deutlich, dass er einen Nationalstaatsbegriff in emanzipatorischer Absicht verfolgt: Denn es liegt ihm die multinationale (besser: transnationale) schweizerische Staatsangehörigkeit zugrunde, die darüber hinaus noch demokratisch verfasst ist. 10.2.4 Die Dialektik von Ein- und Ausschluss Fassen wir diese Probleme verallgemeinernd zusammen, werden zwei zentrale ethische Konflikte einer Pädagogik der Solidarität deutlich: Zum ersten der Konflikt zwischen einer auf die Gegenwart gerichteten Pädagogik und einer auf die Ermöglichung auch künftiger solidarischer Verhältnisse gerichteten Praxis, die sich nur als prä-pädagogisch beschreiben lässt. Zum zweiten die soziologische Frage (die aber für Identitätsbildungsprozesse höchste Relevanz hat) nach den Möglichkeiten der Bildung des Selbst, der dafür unabdingbaren Abgrenzung nach Außen und der damit implizierten Gestaltung des Verhältnisses zwischen den abgegrenzten Gruppen in Ignoranz, Neutralität, Freundschaft, Gegnerschaft oder Feindschaft (um mögliche Formen zu nennen, nicht Anspruch auf systematische Kohärenz zu erheben). Es dürfte deutlich geworden sein, dass es schwer ist, eine klare Zuordnung der Kategorie der Solidarität zur Pädagogik zu fassen; vielmehr handelt es sich um eine hybride Kategorie, die sowohl in einer Logik des Pädagogischen als auch in der des Sozialen und Politischen wurzelt. Es ist mithin nicht möglich, auf den Begriff der Solidarität Bezug zu nehmen und nur pädagogisch, nur politisch oder nur sozial zu argumentieren. Der oben angeführte Begriff des PräPädagogischen soll auf diese Hybridstruktur aufmerksam machen. Es geht bei dieser Erkenntnis aber nicht nur um den Zusammenhang von Solidarität und Pä dagogik. Vielmehr reflektiert sich in dieser Situation nur die, jede Pädagogik im Allgemeinen betreffende, sozio-politische Situiertheit von Pädagogik. Ein weiteres offen bleibendes Problem oder Spannungsverhältnis betrifft das Verhältnis des Solidaritätsbegriffs zu kollektiven Identitäten. Zwar findet sich in den Texten auch ein universaler Solidaritätsbegriff, der alle Menschen einschließt, und ein Solidaritätsbegriff, der die Gesetzmäßigkeit des allgemeinen gesellschaftlichen Zusammenhangs beschreibt. Doch wurden auf den letzten Seiten die kollektivistischen Brechungen der Solidarität besprochen, die unter der Polarität Solidarität der Gleichen vs. Solidarität mit den Anderen ausgedrückt
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werden können; gleichsam als Symbiose gibt es die Form, die ebenfalls diskutiertet wurde, eine enge, verbindende Solidarität der Gleichen und eine weite, gewinnende, transformative Solidarität mit den Anderen. Relevant werden die, diesen Formen folgenden Ein- und Ausschlüsse, wenn sie pädagogisch wirksam werden; wenn sich Lernsteuerung darauf bezieht oder aus ihnen ergibt, sich Solidarität als zu erlernende Tugend nur auf die vermeintlich eigene Gruppen bezieht; bzw. wenn mit anderen Solidarität geübt werden muss: Wie lassen sich diese Prozesse begründen und wie das Verhältnis zu den Andern fassen? Aber auch, drittens, wenn als Grundlage von Pädagogik nur eine bestimmte, begrenzte Solidarität angesehen wird: Welche unterschiedlichen pädagogischen oder politisch-sozialen Praxen gegenüber den nicht mit Solidarität zu bedenkenden Menschen folgen daraus? Ist es der Klassenkampf, wie bei Zetkin, oder die friedlich-aufklärerische Missionierung, wie bei Cabet? Diese bisher mehr oder weniger eng an den Quelltexten diskutierten Fragen sollen im folgenden Kapitel im Hinblick auf ihre Aktualisierung noch einmal aufgegriffen werden. Dabei wird nur noch gelegentlich auf die vorgelegten Interpretationen verwiesen, denn im Fokus soll die Exploration von Möglichkeiten einer, von der Auseinandersetzung mit den ausgelegten Theorien inspirierten aber nicht strikt an sie gebundenen, Theorie der Pädagogik der Solidarität stehen.
11. Was bleibt? Konturen (k)einer Theorie solidarischer Pädagogik
Der kritische Durchgang durch die rekonstruierten Konzepte von Pädagogiken der Solidarität mag den Eindruck hinterlassen, das Buch sei schließen und das Nachdenken über den Zusammenhang von Pädagogik, Solidarität und Gemeinschaft zu lediglich als Beitrag zu einer Ideengeschichte sozialistischer Pädagogik zu betrachten. – Zu viele Schwächen, zu viele Probleme bergen die Konzepte. Doch ganz so ist dem nicht: Aus den kritisierten Figuren schälen sich neue Motive heraus, die zwar nicht abschließend über eine Pädagogik der Solidarität befinden, aber Ansatzpunkte für weiteres Nachdenken über den Zusammenhang geben können. In diesem letzten Kapitel soll es um solche Punkte gehen. Dieses Kapitel wird keine Zusammenfassung der interpretierten Konzepte und ihrer Kritik geben. Die Ansätze Ziegenhagens, Cabets, Renauds, Zetkins und Seidels können je für sich stehen; die gemeinsamen Strukturen wurden in Kapitel 5 ak zentuiert. Stattdessen soll der etwas gewagte Versuch unternommen werden, von den interpretierten Texten ausgehend und im Blick auf verallgemeinerbare Überlegungen, auf ausgewählte theoretisch interessante Aspekte einzugehen und die Umrisse einer künftig auszubauenden Theorie der Pädagogik der Solidarität zu skizzieren. Dabei werden Solidarität als Fundament und Medium pädagogischen Handelns, Solidarität als Ziel pädagogischen Handelns und Solidarität als normativen Grund pädagogisch motivierter Sozialkritik zu diskutieren sein. Streng methodisch ist dieses Kapitel dabei nicht aufgebaut: Es rezipiert aktuelle sozialwissenschaftliche Forschungen ebenso wie anthropologische Theorien; greift auf die im ersten Teil der Arbeit erarbeiteten Kategorien zurück und wird nicht ohne Ausflüge ins Utopische auskommen; neben analytischen Passagen werden sich präskriptive Setzungen finden. Es mag dieser Synkretismus willkürlich erscheinen, doch hat er an dieser Stelle der Arbeit einen ihm gebührenden Platz, um nicht nur die Ergebnisse der Textanalysen zu präsentieren, sondern die Möglichkeiten einer davon inspirierten Theorie einer Pädagogik der Solidarität
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zu diskutieren. Dabei werden mehrere unterschiedliche Solidaritäten in den Blick kommen. Inkonsistenzen werden nicht ausbleiben und sind als Ideensteinbruch auch gar nicht unerwünscht. Eine systematische Ausarbeitung müsste später erfolgen.
11.1 S OLIDARITÄT
ALS FEHLENDES PÄDAGOGISCHEN H ANDELNS
F UNDAMENT
Michael Winkler spricht bei der Schilderung seiner »Theorie des dritten Faktors« von den gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen gelingenden Aufwachsens, die gesichert sein müssten, um überhaupt erst pädagogisches Handeln zu ermöglichen.1 Diese Einsicht wurde auch in den analysierten sozialistischen Texten vertreten. Dort wurde nicht nur eine als ›falsch‹ bewertete pädagogische Praxis kritisiert, sondern vor allem eine Gesellschaft, deren Formen und Prinzipien eine als vernünftig zu bezeichnende pädagogische Praxis nicht möglich erscheinen lies. Solidarität wurde als Fehlendes beschrieben, dessen Dasein aber die Bedingung einer wirklichen menschlichen Bildung wäre: Étienne Cabet legt in der Sittenverbesserung eine dezidierte Kritik der frühbürgerlichen Gesellschaft vor, die er durch eine brüderlich-gleichheitliche ersetzt wissen will. Die bestehenden Formen der Ungleichheit würden sowohl die Potentiale der Gesellschaft als auch des Einzelnen sich nicht vollends entfalten lassen. Ähnlich sieht das Ziegenhagen, der durch die Einführung von Gleichheit an Eigentum und Freiheit soziale Verhältnisse schaffen will, in denen ein brüderlicher Umgang herrscht, was bei ihm soviel bedeutet wie weitestgehend herrschafts- und diskriminierungsfreie Verhältnisse zu etablieren. Renaud und Zetkin kritisieren die Gesellschaft aus ähnlichen Gründen, auch wenn bei ihnen die Lösung nicht im moralisch begründeten Volunatrismus besteht, sondern sie die Defizite der bestehenden Gesellschaft und die dadurch behinderte Entfaltung einer sinnvollen Pädagogik als gesetzmäßig in der entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklungsstufe begründet sehen: Der Übergang in die nächste Stufe würde die Defizite abschaffen und soziale Bedingen schaffen, die es ermöglichen, die Entfaltung der menschlichen Anlagen (Bildung) mit den Erfordernissen gesellschaftlichen Zusammenlebens (und entsprechenden Erziehungsprozessen) zu vereinigen. Einzig in Robert Seidels Staatsbürgererziehung findet sich keine Kritik an der Gesellschaft. Die schweizerische Gesellschaft, in dessen Rahmen er argumentiert, wird von ihm als ›ideal‹ für die Bildung der Individuen angesehen. Parlamentarische Demokratie und die institutionalisierten Rechte der Meinungs- und Pressefreiheit 1
Vgl. Winkler (2006: 183-195; 272f.).
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sowie die ›solidare Wirtschaftsgemeinschaft‹ stellt für ihn eine hinreichende Grundlage dar. Wollen wir nun danach sehen, inwiefern nicht die historische Form bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sondern die aktuelle Gesellschaftsform eine Kultur des Aufwachsens gewährleistet oder verhindert, so lassen sich mindestens drei soziologische Diagnosen zitieren, die die Grundlagen von ›guter‹ Pädagogik im Sinne des oben beschriebenen Wertekanons untergraben. Diese können hier in ihrem Verhältnis zu Pädagogik und Solidarität nur in Ansätzen analysiert werden, verweisen aber generell auf die Erkenntnisse Renauds, im Sinne von Solidarität als sozialer Zusammenhang, oder auf das, was Ziegenhagen als Verhältnismäßigkeit beschrieben hat: Die Interdependenz von sozialer und materialer Welt. 11.1.1 Thesen zur gegenwärtigen sozialen Situation Analog zum Vorgehen in Kapitel 9, in dem mit der Skizzierung des Entstehungshintergrundes versucht wurde, dem Verstehen der Texte durch die Beschreibung der spezifischen sozialen und pädagogischen Problemsituation eine weitere hermeneutische Tiefendimension zu erschließen, sollen an dieser Stelle die Umrisse einer, für das Verständnis der Idee von Solidarität als Grundlage pädagogischen Handelns relevanten, Gegenwartsdiagnose gezeichnet werden. In aktuellen soziologischen Debatten und in der öffentlichen Diskussion ist die Diagnose einer wachsenden Fragmentierung der Gesellschaft und einer Polarisierung zwischen Arm und Reich beinahe unumstritten.2 Einige Soziolog*innen gehen so weit, die »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit« als »ein Hauptmerkmal gesellschaftlicher Entwicklung« zu bezeichnen. 3 Nach Castel liegt diese Wiederkehr der Unsicherheit darin begründet, dass die kollektiven Sicherungsstrukturen des westlichen Wohlfahrtsstaates in den letzten Jahrzehnten systematisch geschwächt wurden, »während die Aufforderung, sich als Individuum zu verhalten, sich verallgemeinert.«4 Dabei ist ein Widerspruch zu beobachten zwischen dieser Aufforderung ein Individuum zu sein und der ungleicher werdenden Verteilung der sozialen und ökonomischen Ressourcen, die es erst ermöglichen sich als solches zu verhalten. Diese Unsicherheit betrifft nicht nur die »soziale Unterschicht« sondern greift tief in die Mitte der Gesellschaft.
2
Vgl. OECD 2008; OECD 2011; Schmid/Stein 2013; Schmid/Spannagel (2015: 257); Horn et al. 2014.
3
Castel (2009: 22).
4
Ebd.: 26; Dörre (2009: 35).
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Klaus Dörre und seine Kolleg*innen haben in zahlreichen Studien 5 die disziplinierenden und subjektivierenden Effekte aufgewiesen, die sich mit dieser Entwicklung vollziehen.6 In diesem Kontext müssen die so genannten Hartz-Reformen gesehen werden, die Dörre als »ein Klassenprojekt von oben« beschreibt, dessen politische Logik darauf hinaus läuft, »dass die Mittelschichten und die in den Arbeitsmarkt integrierten Lohnabhängigen ihre Solidarität mit den prekarisierten und ausgegrenzten Gruppen aufkündigen.« 7 Er fasst zusammen: »Prekarität in reichen Gesellschaften wie der Bundesrepublik ist daher nicht nur eine soziale Lage oder eine vorübergehende Pathologie. Es handelt sich um ein Kontroll- und Disziplinierungsregime, das die Arbeitsgesellschaft insgesamt verändert.«8 Neben diesen sozio-ökonomischen Analysen muss der Blick auch auf die genderrelevanten Ungleichheitsstrukturen gelenkt werden. So konstatieren die Vereinten Nationen in ihrem aktuellen Weltentwicklungsbericht: »Obwohl Frauen weltweit mehr als die Hälfte der Arbeitsbelastungen auf sich nehmen, sind sie in der Arbeitswelt benachteiligt – sowohl bei der bezahlten als auch bei der unbe zahlten Arbeit. Frauen verrichten weniger Lohnarbeit, verdienen weniger als Männer, blei ben in gehobenen, entscheidungsrelevanten Positionen unterrepräsentiert, stoßen auf grö ßere Hürden bei der Gründung von Unternehmen und sind in vielen Ländern mit größerer Wahrscheinlichkeit prekär beschäftigt.« 9
Frauen verdienen im globalen Durchschnitt 24 Prozent weniger als Männer. 10 Notwendig wäre auch eine Analyse der Ungleichheitsstrukturen im Bezug auf rassistische Diskriminierung. Diese zeigt sich statistisch allein schon darin, »dass Schüler_innen of Color bessere Leistungen als ihre weiß-deutschen Mitschüler_innen erbringen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen.«11 Gewalterfahrungen, Lohnungleichheit und anderen, auf rassistische Gesellschaftsstukturen und Mentalitäten zurückgehende Phänomene ergänzen das Bild. Eine auch diesen Aspekt intensiv zu diskutierende Analyse würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen.12 5
Vgl. u.a. Brinkmann et al 2006; Dörre et al. 2013; Dörre 2013; Dörre/Happ/Matu schek 2013; Dörre 2015.
6
Vgl. u.a.: Dörre (2014: 8).
7
Ebd.: 30.
8
Ebd.: 33.
9
Vereinte Nationen (2015: 130).
10
Vgl. ebd.
11
Asensio (2014: 6); vgl. auch: Gomolla/Radtke 2007; Baur 2010.
12
Vgl. auch: Karakayali/zur Nieden 2011; Bilstein/Ecarius/Keiner 2011.
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Die oben beschriebene liberale Anrufung, sich als autonomes Individuum zu verstehen, besitzt, folgt man den Arbeiten Stephan Lessenichs, nicht nur einen individualistischen Kern, sondern weist mit einem Vektor auch auf Gesellschaft: »Die neue Rationalität wohlfahrtsstaatlichen Handelns realisiert sich in der sozialpolitischen Konstruktion doppelt [Herv. i.O.] verantwortungsbewusster, nämlich nicht allein sich selbst, sondern auch ›der Gesellschaft‹ gegenüber verantwortlicher Subjekte.«13 Das Diktum vom ›Fördern und Fordern‹ verweist darauf. Der Anspruch auf Unterstützung durch das Sozialsystem wird in Frage gestellt, zeitlich limitiert und von Gegenleitungen abhängig gemacht. Der*die Einzelne wird unter diesen Bedingungen gezwungen, zum aktiven ›unternehmerischen Selbst‹ zu werden, das alle Risiken tendenziell selbst trägt.14 Die Möglichkeit, aus dem Rahmen des Existenzminimums zu fallen, steht als Drohung im Schatten. Arbeitsleistung kann so (zumindest kurz- und mittelfristig) optimiert und gesteigert werden. Ist die oben beschriebene Angst vor materiellem Abstieg ein sozialer Unsicherheitsfaktor, so ist das angerufene Selbstbild des Ich-Unternehmers, der in die Person inkorporierte psychischer Unsicherheitsfaktor, der die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaft ins Subjekt verlegt.15 Mit dieser Facette neuer Subjektivierung einher gehen die von Hartmut Rosa16 herausgearbeiteten Beschleunigungsprozesse moderner Gesellschaften. Ohne die gesamte Theorie Rosas hier darlegen zu können, ist eine Facette des Beschleunigungsregimes, die für unseren Zusammenhang relevant ist, die »Beschleunigung des Lebenstempos«17, die Rosa definiert als »Steigerung der Zahl an Handlungs- oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit [Herv. i.O.] und [die] als solche die Folge eines Wunsches oder gefühlten Bedürfnisses, mehr in weniger Zeit zu tun [Herv. i.O.] [ist].«18 Beschleunigung und Aktivierung unter Bedingungen sozialer Unsicherheit gehen mit neuen Formen der Identität einher.19 Rosa spricht in diesem Zusammenhang von »situative[n] Identität[en]«, »die den vorübergehenden Charakter aller Selbstverständnisse und Identitätsparameter anerkennen und nicht länger einem Lebensplan, sondern dem Modell des ›Wellenreitens‹ zu folgen versuchen: Wann immer sich eine neue attraktive Gelegenheit ergibt, muß man 13
Lessenich (2009: 163).
14
Vgl. Bröckling 2007.
15
Zu den psychischen Folgen dieser Entwicklung vgl. u.a. Ehrenberg 2004; Schmiede 2011; Neckel/Wagner 2013.
16
Vgl. Rosa 2005.
17
Rosa (2013: 26).
18
Ebd.: 27.
19
Vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2009.
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bereit zum Sprung sein.« 20 Er beschreibt – und das wird für Pädagogik relevant – das daraus folgende Phänomen als Entfremdung, die er als einen Zustand definiert, »in welchem Subjekte Ziele verfolgen oder Praktiken ausüben, die ihnen einerseits nicht von anderen Akteuren oder äußeren Faktoren aufgezwungen wurden – sie verfügen durchaus über praktikable alternative Handlungsmöglichkeiten –, welche sie aber andererseits nicht ›wirklich‹ wollen oder unterstützen.«21 Funktionale Lernsteuerung, die scheinbar ohne Zwang dann doch zwangsläufig Resultate hervorbringt, die bewusst keine*r gewollt hat, die aber für den bestehenden Modus gesellschaftlicher Reproduktion hochfunktional sind. Als Folge des hinter diesen Prozessen liegenden ideologischen Paradigmas einer Gesellschaft, die sich optimal nur in der Organisationsform der Konkurrenz zu entwickeln vermag, diagnostiziert Richard Sennett: »Die moderne Gesellschaft führt zu einer ›Dequalifizierung‹ im Blick auf die Kooperation.« 22 In seinem Buch Zusammenarbeit beschreibt er aus soziologischer Perspektive, welche Formen der Kooperation warum für den Menschen und seine Entwicklung bedeutsam sind, und welche Gefahren mit dem Abbau eben dieser Formen verbunden sind. Er kommt zu der Einschätzung: »Das autonome Individuum erscheint als frei. Doch aus der Sicht anderer Kulturen erscheint ein Mensch, der stolz darauf ist, andere nicht um Hilfe zu bitten, als eine zutiefst geschädigte Per son, weil die Angst vor sozialer Einbindung sein Leben beherrscht.« 23 Das dritte Element, dessen Entwicklung die Grundlagen von Pädagogik und Leben überhaupt in Frage stellt, ist die ökologische Dimension. Seit den Berich ten des Club of Rome 24 ist deutlich geworden, wie die ökologischen Grundlagen menschlichen Lebens verzehrt werden. Inzwischen muss selbst die Weltbank konstatieren: »Wider environmental sustainability concerns are a major challange throughout the world, in regard to climate change and its impact on the natural resources upon which many of the poores depend, such as water.« 25 Insbesondere für die Lebensmittelsicherheit, nicht nur in den so genannten Entwicklungsländern, stellt der Klimawandel eine ernsthafte Bedrohung dar. 26 20
Ebd.: 63.
21
Ebd.: 120. Mit dem Konzept der Resonanz hat Rosa, ein auch auf Pädagogik verweisendes Konzept vorgelegt, auf das aber hier nicht Bezug genommen werden kann (vgl. Rosa/Endres 2016).
22
Sennett (2012: 22).
23
Ebd.: 185.
24
Vgl. Meadows et al. 1972.
25
Weltbank (2016a: XV).
26
Vgl. Weltbank (2016b: 49-78).
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Die Folgen des Klimawandels sind noch nicht absehbar, sie werden aber zu substantiellen Änderungen der Parameter, unter denen die Menschheit leben muss, führen. Neben dieser Großherausforderung bleiben kleinere, weil lokale oder regionale, dort aber nicht weniger bedeutende Probleme, wie der Umgang mit der Atomenergie oder den Altlasten der chemischen Industrie. Die Degrowth-Bewegung, ein Hybrid aus wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen, legt aktuelle Alternativen vor.27 Das von zahlreichen Intellektuellen getragene Konvivialistische Manifest28, das unter anderem auf die wachstums- und technikkritischen Ideen Ivan Illichs 29 und Marcel Mauss’ ›Sozialphilosophie der Gabe‹30 zurück geht, gibt Ausblicke auf Alternativen. Auch die Debatten um eine Postwachstumsgesellschaft mit ihrer Kritik an der auf Wachstum gestellten Gesellschaft und ihren Gegenentwürfen lohnt es zur Kenntnis zu nehmen, ohne dass hier darauf eingegangen werden kann. 31 Diese kurzen Bemerkungen sollten genügen, um sich der wandelnden ökologischen Bedingungen, unter denen Pädagogik stattfindet, zu erinnern. 11.1.2 Gesellschaft, Solidarität & die Grundlagen der Pädagogik Was aber haben die drei beschriebenen Prozesse mit Pädagogik und Solidarität zu tun? Ganz basal bedeuten die geschilderten Strukturen, dass »6,3 million children under the age of 5 died in 2013 from causes that are mostly preventable« und dass »one in four children are still short for their age – a sign of chronic deficiency in essental nutrients.«32 Zynisch könnte man sagen, die sozialen Verhältnisse machen Pädagogik für diese Kinder überflüssig: sie sind schlichtweg nicht mehr da, um mit ihnen in pädagogische Beziehungen treten zu können. Für die Überlebenden, die unter den soeben skizzierten Bedingungen ein Leben zu führen haben, stellen sich nicht nur Herausforderungen, die sich aus der kompetitiven Logik einer kapitalistischen Gesellschaft ergeben. Auf der sozialen Ebene ist es schwierig, Strukturen zu identifizieren, die ein solidarisches Miteinander ermöglichen, oder diesem zumindest nicht entgegenwirken. Marktgesteuerte Sozialität unterbindet sie, lässt sie nur in Nischen zu, oder dort, wo es – wie in der post-industriell sich verbreitenden projektorientierten Teamarbeit – taktisch nütz27
Einführend: Jackson 2013; Seidl/Zahrnt 2010; Lessenich 2014; Weidenhaus 2015; Koepp et al. 2015.
28
Vgl. Les Convivialistes 2014.
29
Vgl. Illich 1975.
30
Vgl. Mauss 1924.
31
Zur Kritik der Kernargumente der Wachstumskritiker*innen vgl.: Funke et al 2015.
32
Unesco (2015: XII).
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lich erscheint. Es ist offensichtlich, dass eine solche gesellschaftliche Verfassung Bildung als selbstbewussten und selbst gesteuerten – vielleicht widerständigen 33 – Lernprozess tendenziell unmöglich macht. Wird das oben umschriebene normative Pädagogik-Konzept zu Grunde gelegt, und die dortigen Bestimmungen mit den eben umschriebenen Diagnosen abgeglichen, wird deutlich, inwiefern die aktuellen gesellschaftlichen Zustände einer solchen Pädagogik unterstützend wirken oder ihr den Boden entziehen: Emanzipation als Befreiung von Zwang und Herrschaft scheint unter diesen Rahmenbedingen als etwas utopisches. Vielmehr hat pädagogische Praxis aktiv Teil an der Reproduktion sozialer Ungleichheiten. 34 Der Zwang, die eigenen Überlebensgrundlagen und gegebenenfalls die der – amtlich zur ›Bedarfsgemeinschaft‹ zusammengeschweißten – Familie zu sichern, lassen augenscheinlich wenig Raum für emanzipatorische Lernprozesse. Der »Sound des Sachzwangs«35 ist die Musik, zu der die Einzelnen zu tanzen gezwungen sind. Die Verhältnisse sprechen einem gleichermaßen offenen und universalistischen Menschenbild Hohn: Nicht gewählte (es sei an die Utopie Renauds erinnert), sondern aufgezwungene Ungleichheit begrenzt die Entwicklungsmöglichkeiten der Einzelnen und prädeterminiert sie, wenngleich Einzelnen der meritokratische Aufstieg gelingen mag, der ihnen anderes möglich macht. Individualität, Aktivität und Wechselseitigkeit im pädagogischen Verhältnis können unter diesen Verhältnissen freilich eine bedeutende Rolle spielen. Vor allem Aktivität wird hochgeschätzt, individuelle Performanz muss demonstriert werden; doch erschöpft sie sich im Rahmen fremdgesetzter Vorgaben, auf deren subjektive Ausführung sich auch die Wechselseitigkeit beschränkt. Autonomie und Mündigkeit können freilich trotz dieser Verhältnisse als pädagogische Zieldimensionen verfolgt werden, doch bleibt die Mündigkeit am Ende selbst unmündig und inkompetent zurück, in einer Welt, in der ökonomische Sachzwänge hinter den Kulissen der Politik walten. Postdemokratie 36 lässt nicht nur die formalen Institutionen der Demokratie zur leeren Form degenerieren, sie zieht Mündigkeit mit sich. Diese Negativ-Analyse weist auf die Notwenigkeit einer alternativen Wertorientierung und sozialen Praxis hin, um Pädagogik überhaupt erst ihre Möglichkeit zu erhalten oder besser: zu schaffen. Denn nur so können Räume geöffnet werden, in denen Bildung als persönlich gestalteter Lernprozess gegen die ver33
Vgl. Roeger 2016a; 2016b.
34
Vgl. u.a. Krüger/Rabe-Kleberg/Kramer/Budde 2011; Ditton 2004; Maaz/Baumert/ Trautwein 2009.
35
Vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik 2006.
36
Vgl. Crouch 2008.
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objektivierten Lernzwänge der sozialen Verhältnisse möglich ist. Solidarität bleibt nötig zur Sicherung der Bedingungen des Aufwachsens und der Bildung der individuellen Person. Sie muss als Reflexionsfigur bewusst bleiben und Versuche ihrer Verwirklichung dürfen nicht ausbleiben, andernfalls degradiert sich Pädagogik vollends zu dem, was sie wohl hauptsächlich immer war und ist: ReProduktion des gesellschaftlichen Status quo. Diesen Zusammenhang brachte schon Heinz-Joachim Heydorn auf den Punkt, als er schrieb, »[e]in Bildungskonzept ist nur so weit progressiv, als die Kräfte, die es vertreten, zugleich einen direkten politischen Kampf um die Veränderung der Gesellschaft führen.« 37 In diesem Sinne weist die Idee der Solidarität auf die Notwendigkeit einer prä-pädagogischen Praxis. Eine weiter zu denkende Konnotation eines Solidaritätsbegriffs könnte nun zusammengefasst werden als normative Orientierung und soziale oder politische Praxis, die bestrebt ist, die gesellschaftlichen Bedingungen von Pädagogik überhaupt erst hervorzubringen und abzusichern und dies im Hinblick auf die ökonomischen, ökologischen, sozialen und persönlichen Grundlagen menschlichen Lebens und Lernens.
11.2 S OLIDARITÄT
ALS M EDIUM PÄDAGOGISCHEN H ANDELNS
In der Interpretation der Texte stellte sich eine weitere Möglichkeit dar, das Verhältnis zwischen Solidarität, Gemeinschaft und Pädagogik zu fassen: Die solidarisch verfasste Gemeinschaft als Medium des Pädagogischen. Besonders in Ziegenhagens Verhältnislehre und Renauds Die Solidarität, in denen sich in der wechselseitigen Verbundenheit aller Menschen und den entsprechenden Rückwirkungen ein pädagogisch wirksames Weltgefüge konstituiert. Dies ist nur als pädagogisch zu denken vor dem Hintergrund der Postulierung der Existenz Gottes, der die Verhältnisse eben so einrichtete, um sie pädagogisch wirken zu lassen. Anders sieht das bei Cabet, Seidel und Zetkin aus. Während bei Cabet das solidarische Handeln innerhalb der kommunistischen Gemeinschaft eine pädagogische – sowohl erziehende, vor allem aber bildende – Wirkung entfalten soll, die die kommunistische Gemeinschaft zu einer vorbildlichen macht, die dann wiederum durch ihr solidarisches Vorbild andere dazu gewinnt, sich der Gütergemeinschaft anzuschließen, wird bei Zetkin die solidarische Beteiligung der Frauen im Klassenkampf (die gleichzeitig Ziel von Pädagogik ist) als einzige Möglichkeit gesehen, Bildung zu erlangen. Diese könne nämlich nicht »Hinter-dem-
37
Heydorn (1972: 31).
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Ofen-hocken[d]«38 erworben werden. In der Staatsbürgererziehung Robert Seidels kommt der ›nationalen Gemeinschaft‹ die Funktion eines pädagogischen Binnenraums zu, in dem sich Subjektbildung vollziehen kann. Abstrahiert man von den spezifischen Ausformungen des Solidaritätsbegriffs in den jeweiligen Texten, erscheint das Konzept eines sozialen Verhältnisses, das durch ein bestimmtes affirmatives und kollaboratives Aufeinander-bezogen-sein der in diesem Verhältnis stehenden Individuen gekennzeichnet ist. Dass solche Verhältnisse untereinander zentral für pädagogische, zumal Bildungsprozesse sind, haben nicht nur die Sozialist*innen erkannt. Mit Wilhelm von Humboldt hat einer der zentralen Protagonisten bürgerlich-liberaler Bildungsreform nicht zuletzt in seinem Fragment zur Theorie der Bildung des Menschen diesen Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, der Bildung als »Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung« 39 begreift. Seither könnte es – würde es nicht scheinbar doch immer wieder vergessen – zu den Grundeinsichten pädagogischen Denkens zählen, dass Bildung »sich nicht als individueller Akt [vollzieht]; sie ist gesellschaftlicher Austausch und Teilhabe an produktiver Arbeit.« 40 Gesellschaftlicher Austausch kann sich in vielerlei Formen ausdrücken, mit Solidarität kommt aber eine Form des Austausches in den Blick, die ein Gegenbild zur bürgerlich-kapitalistischen Konkurrenzlogik entstehen lässt. Den Zusammenhang zwischen der – auch in der Pädagogik virulenten – Fetischisierung und Naturalisierung der Konkurrenz mit der Gefahr und Wirklichkeit gesellschaftlicher Barbarei haben schon Hellmut Becker und Theodor W. Adorno in ihrem Gespräch über eine Erziehung zur Entbarbarisierung hervorgehoben. Becker stellt darin, »Wettbewerb, jedenfalls wenn er nicht nur in sehr lockeren und schnell wieder endenden Formen stattfindet« als »ein Element der Erziehung zur Barbarei« dar. 41 In diesem Sinne ist es immer wieder nötig, an die Potentiale einer humanisierten Pädagogik zu erinnern, die womöglich im Medium eines solidarischen pädagogischen Binnenverhältnisses funktioniert. Die Ausschaltung von Konkurrenz als scheinbar objektive, zwangsmäßige außengesteuerte Methode der Lernsteuerung könnte dann Freiräume für individuelle Lernprozesse und gemeinsam ausgehandelte Regeln des Miteinanderlernens schaffen. Psychologische und anthropologische Forschungen könnten einen solchen Zugang, der Solidarität als ein notwendiges Medium einer ›guten‹ Pädagogik im 38
Zetkin (1889: 22), vgl. die entsprechende, ausführlich auf S. 185 dieser Arbeit zitierte Passage.
39
Humboldt ([1792/1793] 1980: 235f.).
40
Gamm (1988:161).
41
Adorno (1970a: 132).
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oben umrissenen normativen Sinne versteht, stützen. So spielen in der von Klaus Holzkamp begründeten Kritischen Psychologie Überlegungen zur konstitutiven Bedeutung solidarisch-kooperativer Lernformen eine zentrale Rolle. Vor dem Hintergrund der Kritik an einer normativen Pädagogik, wird davon ausgegangen, dass »Freiheit und Emanzipation […] nicht als fremdgesetzte Norm oder Normierung gedacht werden [können],«42 sondern sich Emanzipation aus einem in bestimmter Form gestalteten pädagogischen Verhältnis ergeben kann: »Befreiung bedarf keiner geistig-moralischen Führung; sie ersetzt diese in solidarischem Handeln – auch zwischen Erzieher/inne/n und Zöglingen. Unter dieser Perspektive löst sich Erziehung auf in gemeinsamen Lern- und Veränderungsprozessen.« 43 Nun hat Markard völlig recht damit, dass Emanzipation nicht verordnet werden kann. Diese Erkenntnis muss gegen Zetkins proletarische Erziehungskonzeption (Schulung – Aufklärung – Anschluss an die sozialistische Bewegung) wach gehalten werden. Jedoch erscheint die These der Auflösung von Erziehung in »gemeinsamen Lern- und Veränderungsprozessen« ambivalent. Denn Erziehung findet gleichwohl auch in egalitär-kooperativen Verhältnissen statt, nur eben (tendenziell) weniger durch die Autorität von Personen, dafür umso mehr durch die Autorität von Strukturen und Regeln, auch wenn sich auf diese gemeinsam geeinigt wurde. In aktuellen anthropologischen Forschungszusammenhängen, wie dem von Michael Tomasello, wird die Bedeutung gemeinschaftlichen Lernens hervorgehoben.44 Gleichwohl will Tomasello Altruismus nicht als »universelle Eigenschaft« verstanden wissen, sondern geht davon aus, »daß Menschen in verschiedenen Bereichen und unter spezifischen Bedingungen mehr oder wenig altruistisch handeln.«45 Jedoch, so Tomasello mit Bezug auf eigene Studien und die Forschungsergebnisse anderer: »Es gibt kaum Beweise dafür, daß der in diesen drei Fällen – Helfen, Informieren und Teilen – von Kindern gezeigter Altruismus das Ergebnis von kultureller Prägung, elterlichem Einfluß oder irgendeiner anderen Art von Sozialisierung ist. Die Sozialisierung spielt jedoch ganz offensichtlich eine kritische Rolle, wenn die Kinder älter werden.« 46 Lernen und die Erfahrungen, die in diesen Lernverhältnissen gemacht werden, spielen bei der Ausprägung von Kooperationsfähigkeit eine zentrale Rolle. Die Relevanz und Problematik dieser Forschungen kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Aber sie verweisen darauf, dass solidarische Verhältnisse 42
Markard (2009: 243).
43
Ebd.: 244.
44
Vgl. Tomasello (2012: 19).
45
Ebd.: 20.
46
Ebd.: 36.
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durchaus als bedeutsam für pädagogische Prozesse, für Erziehung und Bildung angesehen werden können. Auf den ersten Blick scheint offensichtlich, dass die Idee von solidarischer Gemeinschaftlichkeit als Methode zur Steuerung von Lernprozessen in einem Spannungsverhältnis zu den aufgestellten normativen Prämissen steht. Förderung von Individualität, Offenheit der Entwicklung und Autonomie scheinen unter einer sich an gemeinschaftlichen Lernen orientierten Pädagogik, wenn nicht ganz beiseite, so doch mindestens nicht im Zentrum zu stehen. Individuelle Emanzipation scheint von Gemeinschaftlichkeit eingehegt. Lediglich die Normen der Aktivität und Wechselseitigkeit des pädagogischen Verhältnisses werden von einer gemeinschaftlichen Lernform nicht negativ beeinflusst. Erinnern wir uns aber der verschiedenen Fassungen des Solidaritätsbegriffs in unseren Texten, so können wir das Diskussionsfeld etwas weiten und die scheinbar polare Gegenüberstellung einer kollektiven und einer individualistischen Pädagogik in Frage stellen. An erster Stelle kann auf den Solidaritätsbegriff Renauds zurückgegriffen werden, nach dem eine solidarisch verbundene Gruppe Lernender, wenn sie in ihrer Komposition die Bedürfnisse und Neigungen der Einzelnen zur Grundlage nimmt, die umfänglichste Entfaltung der Individuen gewährleisten kann; freilich: eine nicht diesen Neigungen entsprechende Komposition kann auch repressiv wirken. Mit Renaud kann ein dialektisches Verhältnis zwischen Lernsteuerung durch Gruppenprozesse und individueller Lernsteuerung zur Entfaltung je eigener Subjektivität gedacht werden. – Ganz anders als in Cabets Sittenverbesserung, deren homogenisierende Implikationen tatsächlich vor allem dem individuellen und emanzipatorischen Motiven von Pädagogik entgegensteht. Es muss an dieser Stelle bei der Skizze dieser beiden Extrema bleiben; das Verhältnis ist weiter zu erforschen. Bezieht man diese Überlegungen auf den Lernraum der Moderne, die Schule, so wird deutlich, wie sehr schulische Lehr-Lern-Arrangements beide Richtungen, die libertäre Konzeption Renauds und die totalitäre Cabets, blockieren. Konkurrenz um Noten deformiert die, doch nur qualitativ zu begreifenden, Lernerfahrungen der Schüler*innen zu quantitativen Wertgrößen, mit denen auf dem Arbeitsmarkt um die raren Plätze zu konkurrieren ist, und prägen Bildungserfahrungen den Warencharakter 47 auf. Dass Pädagogik dabei 47
Warencharakter meint, dass der Gebrauchswert (also die Fähigkeit »menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art [zu] befriedig[en]« (Marx [1867] 1962: 49) von Bildung (hier verkürzt als individuelle Wissensbestände und die Fähigkeit das Lernen neuen Wissens zielgerichtet steuern zu können verstanden) immer stärker von etwas, das als Tauschwert erscheint, ergänzt wird bzw. der vermeintliche Tauschwert zum Gebrauchswert der Bildung wird. Es wäre interessant diesen Gedanken weiter zu den-
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tiefgreifende Transformationen erfährt, ist so offensichtlich, wie theoretisch nicht ausreichend aufgeklärt.48 Nun scheint es aber heute doch Konzepte zu geben, die genau diesen Anspruch auffangen: Gemeinsamen Lernen wird eine zentrale Bedeutung beigemessen; doch erscheint dies, wird es unter Training von Teamfähigkeit gefasst, nur als Abrichtung zum Kampf Rudel gegen Rudel. Was nicht an den subjektiven Motivationen der Lehrer*innen liegt, wozu die objektiven, Konkurrenz als Lebens- und Arbeitsform vorgebenden gesellschaftlichen Strukturen es dann aber doch machen. Diese Gedanken verweisen auf weiter nötige Theoriearbeit, die erforscht, inwieweit und wie Solidarität als soziales Verhältnis aufgefasst werden könnte, das pädagogisch also: lernsteuernd wirkt. Als Hypothese könnte Solidarität als soziales, Lernen ermöglichendes und unterstützendes, also pädagogisches Verhältnis beschrieben werden, das gemeinsame Lernerfahrungen ermöglicht, die außerhalb dieses Verhältnisses nicht möglich wären. Warum diese bedeutsam sein könnten, wäre an anderer Stelle ausführlicher zu begründen.
11.3 S OLIDARITÄT
ALS Z IEL PÄDAGOGISCHEN H ANDELNS
Fasst man Solidarität als gesellschaftliche, vor-pädagogische Grundlage von Pädagogik und als mögliches Medium einer anderen Pädagogik, so kommen zwei Fragen ins Blickfeld: Zum Einen die soziale und politische Frage nach den Möglichkeiten der Schaffung solidarischer Verhältnisse und zum Anderen die pädagogische Frage nach den Möglichkeiten, Solidarität als Einstellung, Gefühl oder Handlungsweise zu lernen. In den Diskussionen der Sozialist*innen spielte das Lernziel Solidarität49 nicht überall eine gleich starke Rolle. Bei Robert Seidel war Solidarität eine internationale Gesinnung (unter dem Schlagwort ›Brüderlichkeit‹), doch erschien internationale Verbrüderung bei ihm als begründungslos gesetzte Norm. Solidarität innerhalb der Nation als Ziel von Pädagogik hingegen begründete er sehr stark, als nahezu anthropologische Notwendigkeit, wobei er ken und zu analysieren, inwieweit diese Formänderung von Bildung mit der Änderung ihrer Inhalte korrespondiert. 48
Aktuelle Versuche die entsprechenden Veränderungsprozesse zu analysieren wurden unter anderem von Krautz 2007; Liessmann 2008; Lohmann/Rilling 2002 vorgelegt. Auffällig ist dabei vor allem bei Krautz und Liesmann eine gewisse Romantisierung vermeintlich klassischer Bildungsvorstellungen, die nun ökonomisiert würden.
49
Vgl. Richter 1974.
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nicht zu erklären vermochte, warum, »das von Natur patriotische […] Kind« 50 auch noch zum Staatsbürger erzogen werden sollte. Die vier anderen Autor*innen vertraten zwar je unterschiedliche aber textimmanent stark begründete Vorstellungen von Solidarität als Lernziel. Dabei ergab sich das Motiv zuweilen aus einer dezidiert pädagogischen Argumentation, also im Hinblick auf die Gestaltung von Lernsteuerung. Andernfalls wurden aber auch Begründungen aufgestellt, die sich außerhalb spezifisch pädagogischer Motive befanden. Beide Formen der Begründung sind zu diskutieren. Fasst man Solidarität als extern gesetztes Lernziel, wäre man im Bereich normativer Pädagogik. Mit den vorherigen Argumentationsschritten ist aber versucht wurden, Solidarität als Pädagogik immanentes Prinzip zu entfalten. Daher soll hier an erster Stelle versucht werden, Solidarität als immanent pädagogische Zieldimension zu entfalten. Hans-Jochen Gamm versuchte dies in seiner Pädagogischen Ethik, in der er Solidarität als Teil pädagogisch zu gewinnender Tugenden beschreibt: »Auf jeden Fall lassen sich gemeinsame Zugänge im Gegenstandsbereich als Probe jeder möglichen Solidarität verstehen, wenn Lernen nicht gegeneinander erfolgt, Erkenntnis sich als sozialer Vorgang darbietet.« 51 Auch wenn Solidarität hier als Methode gemeinsamen und kooperativen Lernens erscheint, gelingt es Gamm nicht, diese Solidarität im Lernprozess ausschließlich pädagogisch zu begründen. Er verweist immer noch auf Gesellschaft als Externes: »Solidarität in der Schule zu üben, bleibt gleichwohl pädagogischer Imperativ, denn gesellschaftliche Solidarität setzt sie voraus. Wie sich die politischen Verhältnisse ihrerseits verändern, steht dahin.« 52 Gamms Konzeption von Schule erscheint hier etwas verkürzt; sollte Schule denn etwas außerhalb der Gesellschaft liegendes sein und auf etwas vorbereiten können, für dessen Realisierung sich die gesellschaftlichen Verhältnisse erst ändern müssen? Gamm mystifiziert Solidarität geradezu, dabei aber gleichwohl die Herausforderungen an Solidarität, in einer unsolidarischen Gesellschaft aufgreifend: »Wer sich zu weltweiter Solidarität entschließt, erreicht eine Tugend höheren Grades, da sie gegen selbstsüchtige Motive erhärtet werden muß.« 53 Nun könnte man Gamm derart lesen, dass Solidarität tatsächlich als pädagogisches Ziel gesetzt wird, das zu erreichen ist, um damit auch ein anderes Ziel, nämlich das der Ausbildung einer »Tu gend höheren Grades« zu erreichen. Letztlich erhofft Gamm durch eine Erziehung zur Solidarität nicht nur einen lernförderlichen Umgang der Schüler*innen miteinander, sondern eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, deren 50
Seidel (1917: 65); zitiert auf S. 211 dieser Arbeit.
51
Gamm (1988: 95).
52
Ebd.: 95.
53
Ebd.: 149.
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Voraussetzung pädagogische Solidarität sein soll. Damit bleibt er nicht bei einer binnenpädagogischen Begründung. Auch wenn Solidarität als Lernziel sich pädagogisch begründen lässt, wenn man, wie dies Gamm macht, Solidarität als Medium von Pädagogik begreift und wenn gilt, dass in solidarischen Verhältnissen eine ›bessere‹ Pädagogik möglich ist, als in unsolidarischen. Dann wird Solidarität nahezu unumgänglich zu einem pädagogisch notwendigen Lernziel, sie wird quasi Ermöglichungsbedingung von Pädagogik. Dieses Argument fanden wir in den Texten Renauds, Ziegenhagens und Cabets, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen: Sie konzipierten den Menschen als ein Wesen, das am besten in Gemeinschaft und im Austausch mit anderen lernt. Bleibt dieser aus oder findet er nicht in der je als brüderlich oder solidarisch beschrieben Form kollaborativen Lernens und gegenseitiger Kritik statt, bleibt das Lernen des Menschen hinter seinen Möglichkeiten zurück. Solidarität als Lernziel pädagogisch zu begründen hieße einen Begriff von Solidarität zu haben, der auf eine gemeinsame kollaborative Arbeitsweise abzielt, die auch Kritik im Hinblick auf Inhalte und Methoden des Lernens mit dem Ziel eines möglichst umfänglichen Lernens erlaubt. Solidarität in diesem Sinne hieße gegenseitige Unterstützung bei der Lernsteuerung, oder etwas empathischer und weniger technizistisch: bei der Welt- und Selbsterschließung. Das Lernziel Solidarität lässt sich aber nicht nur immanent begründen, sondern, wie die Analyse der Quelltexte in Teil A dieser Arbeit und die kurze Diskussion des Gamm’schen Konzeptes verdeutlichten, auch mit Bezug auf außerpädagogische Kategorien oder Verhältnisse. Besonders prägnant formulierte das Clara Zetkin in ihrer Forderung, Arbeiterinnen zu organisieren und aufzuklären, damit sie sich im Bewusstsein ihrer Klassenlage an das sozialistische Proletariat anschließen. Solidarität war für sie ein nicht zu hinterfragendes Ziel sozialistischer Pädagogik, das nötig war, um im Klassenkampf »doppelt schnell zum Sieg« zu kommen.54 Solidarität wurde in ihrem Projekt einer normativen, politischen Pädagogik extern gesetzt. Lediglich im Bezug auf die Entwicklung der Kinder, die unter kapitalistischen Bedingungen nicht möglich sei, lässt sich die Andeutung einer pädagogisch-immanent begründeten Solidarität finden. Mit einer außerhalb rein pädagogischer Legitimation begründeten Forderung nach dem Pädagogikziel Solidarität wird der Bereich normativer Pädagogik betreten. Spätestens aber seit Rousseau müssen die Probleme, die extern an Pädagogik herangetragene Zielvorstellungen und eine entsprechend instrumentell verstandene Pädagogik implizieren, mit gedacht werden, insofern man solchen Zielen Legitimation verleiht: Der Zögling würde lediglich als Mittel zu einem anderen Zweck als seiner eigenen Bildung gebraucht. An der ethischen Fraglichkeit 54
Zetkin (1889: 14), zitiert auf S. 172 dieser Arbeit.
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einer solchen Perspektive ändert sich auch nichts, wenn der Zweck der Benutzung des Zöglings die Humanisierung der Welt ist, die vermeintlich in seinem eigenen Interesse liegt. Doch macht man es sich zu leicht, zu denken, man könne sich deshalb in einen gleichsam binnenpädagogischen Schutzraum zurückziehen und pädagogisches Handeln ausschließlich an genuin pädagogischen Kriterien orientieren. Nicht zuletzt Siegfried Bernfeld hat in Sisyphos. Oder die Grenzen der Erziehung beschrieben, wie Pädagogik ein mehr oder weniger komplizierter Reflex der sozialen – außerpädagogischen – Verhältnisse ist. 55 Pädagogik entfaltet sich immer in einem Spannungsfeld auch zur Gesellschaft. Klassisch stehen dafür die Ansätze Schleichermachers und Herberts. Während erster die Pädagogik im Spannungsfeld von Ethik und Politik verortete, brachte zweiter Ethik und Psychologie als Konstitutiva ins Spiel.56 Solidarität als Ziel von Pädagogik lässt sich an erster Stelle den Domänen der Politik und der Ethik zuordnen, aber – zu erinnern ist an die Überlegungen Ziegenhagens, der Lernen als brüderlich-gemeinschaftlichen Prozess vorstellte – auch zur Psychologie können Verbindungen gezogen werden. Entlang dieser Verbindungslinien können außerpädagogische Motive und Zielvorstellungen in den Raum des Pädagogischen gelangen und durchaus als legitime – normative – Zielvorstellungen pädagogischer Prozesse firmieren. In den Interpretationen der Quelltexte wurden dabei neben psychologischen Überlegungen (die hier als Lernsteuerung betreffend klassifiziert wurden und daher als inner-pädagogisch zu begreifen sind) politische, soziale, ökonomische und ökologische Motive vertreten, die als externe Begründungen von Solidarität als Lernziel dienten. Dabei sollen nicht alle diese Elemente einzeln entfaltet, sondern die These vertreten werden, dass externe Begründungen für Solidarität sinnvoll nur unter dem Begriff der Nachhaltigkeit subsumiert werden können. Obwohl Nachhaltigkeit ein politischer Modebegriff ist, der zuweilen mehr als Marketing-Gag zur Begleitung der Transformation kapitalistischer Wirtschaftsweise vom fossilen zum ›grünen Kapitalismus‹ erscheinen mag, denn als theoretisch gehaltvoller Begriff, weist das Konzept doch auf zentrale Prinzipien hin, die in der bestehenden Gesellschaft missachtet wurden und werden. Folgt man der Definition der Brundtland-Kommission, so kann als Nachhaltigkeit das Handeln bezeichnet werden, das sicherstellt, »that it meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.«57 Nachhaltigkeit verweist damit auf eine Handlungskomponente und eine Zeitkomponente, die die Gegenwart und Zukunft betrachtet. In, 55
Vgl. Bernfeld (1925) 1973.
56
Vgl. Gamm (1988: 14-18.)
57
Vereinten Nationen 1987, zitiert nach: Hardtke/Prehn (2001: 58).
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auf praktische Wirksamkeit hin angelegten, Politikkonzepten werden meist drei Dimension von Nachhaltigkeit thematisiert: eine ökonomische, eine soziale und eine ökologische. In allen drei Dimensionen geht es darum, durch Handeln im Heute nicht die Möglichkeiten künftiger Generationen zu beschränken. Doch sollte nicht nur diese Zeit-Dimension in den Fokus rücken, sondern auch eine geographische, die den Imperativ nach sich ziehen müsste, dass die Befriedigung von Bedürfnissen an einem Ort der Erde nicht die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung an anderen Orten der Erde beschränken darf. – Was dabei ein Bedürfnis ist, ein legitimes allzumal oder ein illegitimes, und was Einschränkung bedeutet, soll und kann hier nicht diskutiert werden. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass für ein solches Konzept Solidarität als Erziehungsziel, vor allem in Hinblick auf die am Beginn dieses Kapitels skizzierte Gegenwartsdiagnose, relevant wird. Legt man diese Nachhaltigkeitsdefinition zugrunde ist Solidarität als außerpädagogisch begründetes Lernziel eine rational begründete Haltung, die sich in einem Ethos der Mitverantwortung für die Erhaltung und Pflege (auch der Rekonstruktion) der Grundlagen ›guten Lebens‹ für aktuelle und künftige Generationen und entsprechenden Handlungen ausdrückt. Diese Haltung gründet in einer Dezentrierung der Perspektive vom nur eigenen Ich hin zu der Verbindung zwischen Ich und (gegenwärtiger und künftiger) Welt. Offensichtlich geht mit der Festlegung auf das oben beschriebene Solidaritätsverständnis im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit eine Beschränkung einher. In gewisser Weise haben sich die Gegenwärtigen den Künftigen zu unterwerfen, bzw. sich aufgrund der (vermeintlichen) Interessen künftiger Generationen zu beschränken. Daher erscheint es fragwürdig, ob der Gedanke der Nachhaltigkeit mit einem emanzipatorischen Pädagogikverständnis vereinbar ist. Denn die Norm der Nachhaltigkeit würde von außen als zu lernende Norm an die Lernenden herangetragen. Freilich, universalistisch wäre ein solches Lernziel, weil es prinzipiell alle Menschen einbezöge, offen wäre es, weil es die Möglichkeiten künftiger Menschen erhalten will. Es ist aber auch beschränkt und kann an autoritäre Konzepte anknüpfen, da Nachhaltigkeit nur dann Sinn macht, wenn es eine quantitative Norm gibt, deren Einhaltung ein bestimmtes Verhalten als nachhaltig ausweist. In diesem Sinne wird individuelle Urteilskraft beschränkt und einer Sachzwanglogik unterworfen. Autonomie und Mündigkeit scheinen suspendiert. Auf der anderen Seite wäre es durchaus ein zu verfolgender Gedanke, die Idee der Nachhaltigkeit tatsächlich als emanzipatorisch und mit der Autonomie des Subjekts in Einklang stehend auszuweisen. Entsprechende Argumentationen könnten auf den Begriff der Vernunft rekurieren; an Ethik-Konzeptionen im Anschluss an Kant anknüpfen oder sich auch der in dieser Arbeit ausgelegten sozia-
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listischen Schriften erinnern. So ließe sich mit der Idee der ›Verhältnismäßigkeit‹ von Ziegenhagen durchaus ein Pädagogikkonzept begründen, dass sowohl die umrissenen normativen Prämissen befolgt als auch mit der Idee einer Solidarität als Nachhaltigkeit verbunden ist. Dennoch, es bleiben Spannungen zwischen den Konzepten einer emanzipatorischen Pädagogik und der Nachhaltigkeit, die weiter zu verfolgen wären. Nun stößt diese Tugend der Solidarität zu der hin zu erziehen sein soll und zu der sich jede*r zu bilden hat, aber an Grenzen in einer Gesellschaft, in der de facto Konkurrenz das vergesellschaftende Prinzip ist und in der Solidarität nur noch in der zum ideologischen Fetisch geronnenen Idee der (Klein-)Familie 58 zu haben sein scheint. Ein gleichsam amputiertes Solidaritätsverständnis feiert hier fröhliche Urstände. Ein weiteres Problem schließt sich an: wenn man anerkennt, dass die bestehende kapitalistische Konkurrenzgesellschaft nicht die optimalen pädagogischen Rahmenbedingungen liefert, aber gleichzeitig auch anerkennen muss, dass Kinder nicht, wie Zetkin das formuliert hat »für das Morgen« 59 zu erziehen sind, sondern – um ihrer Selbst willen – befähigt werden müssen, in einer, wie defizitär auch immer zu bewertenden, Gegenwart zurecht zu kommen – entsteht ein Dilemma: Indem die Kindern eben nicht zu Kämpfer*innen für die bessere – sozialistische – Zukunft zu erziehen sind, leisten Pädagog*innen, aus ethisch nachvollziehbaren Gründen, ihren Anteil zur Stabilisierung der Verhältnisse, wie sie sind. Aus diesem Dilemma praktischer Pädagogik gibt es kein Entkommen. Es lässt sich nur durch Politik lösen, damit aber verlassen wir die Do mäne des Pädagogischen.
11.4 S OLIDARITÄT
ALS G RUND PÄDAGOGISCH MOTIVIERTER G ESELLSCHAFTSKRITIK
Die am Ende dieses Kapitels auszuführende Idee ist in gewisser Weise lediglich eine Aktualisierung dessen, was am Beginn des Kapitels geschrieben wurde. Es soll vor dem Hintergrund der in den beiden letzten Unterkapiteln entwickelten Argumente aktualisiert und vertieft werden. Wenn Solidarität als soziales Strukturprinzip als Grundlage einer gelingenden Pädagogik und Solidarität darüber hinaus als Medium von Pädagogik und als sowohl pädagogisch als auch außerpädagogisch begründbares Ziel von Lernen betrachtet wird, kommen nicht nur unterschiedliche Solidaritätsbegriffe ins Spiel. Das Konzept der Solidarität erhält auch eine Kontur, die über den Bereich des Pädagogischen hinausgreift. Wenn 58
Zur Kritik des Familismus vgl. Notz 2015.
59
Zetkin (1889: 38).
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nämlich Solidarität als Grundlage pädagogischen Handelns und überhaupt als Grundlage der Möglichkeit pädagogischen Handelns begriffen wird, wird Solidarität zur Grundfigur einer normativen Kritik an sozialen Verhältnissen, die Pädagogik in einem gehaltvollen Sinne behindern bzw. verunmöglichen. Ein pädagogisch und (damit unweigerlich) anthropologisch begründeter Solidaritätsbegriff kann somit als ein Element von Gesellschaftskritik dienen, deren Ziel freilich nicht die Schaffung einer idealen pädagogischen Provinz sein kann; die aber aufzuzeigen vermag, dass und wie die bestehende Gesellschaft die Bildung des Menschen in einem empathischen Sinne verhindert. Nun kann man einer derartigen Kritik völlig zu Recht vorwerfen, sie sei idealistisch, denn sie gehe nicht von der Analyse der Gesellschaft aus, wie sie ist, sondern stellt ein utopisches Poten tial (also wozu eine ›ideale Pädagogik‹ in einer ›idealen Gesellschaft‹ womöglich in der Lage wäre) als Grundlage der Kritik auf60 – jedoch: Pädagogisch Handeln und Denken muss, wie oben gezeigt wurde, eben immer auch mit derartigen utopischen Annahmen operieren, will es seine Aufgabe, nämlich Lernsteuerung mit dem Ziel von Personwerdung unter der Perspektive von Emanzipation, Mündigkeit und Autonomie ermöglichen. Allein dadurch, dass »[d]ie Erkenntnis, daß sich alle Individuen in Abhängigkeit voneinander befinden, […] unvermeidlich« 61 ist, verfügt Pädagogik grundsätzlich über einen Vektor in Richtung Gesellschaft und verweist damit auf jenseits ihrer selbst liegendes. Das analytische Überschreiten der Problematisierung rein pädagogischer Binnenverhältnisse (die es als solche ja auch gar nicht, sondern nur als Abstraktion, gibt) ist unumgänglich, weil sich »das erzieherische Tun nicht aus den Umständen ablösen läßt, in die es eingebettet ist.« 62 Der Status der Pädagogik als zwischen Individuum und außerindividueller Umwelt situiert macht es geradezu zwingend, beim Nachdenken über Pädagogik den Blick über sie hinaus zu richten, da das, was Pädagogik tut, nur aus ihrer Einbettung in die konkrete soziale Wirklichkeit verständlich wird. Konfrontiert man diese Wirklichkeit mit dem, was als pädagogisch wünschenswert oder gar notwendig erscheint, tritt die Berechtigung und die Funktion einer pädagogisch motivierten Kritik an sozialen Verhältnissen deutlicher hervor. Wenngleich diese pädagogische Kritik an sozialen Verhältnissen nicht allein stehen kann. Sie muss vielmehr als eine Brille verstanden werden, durch die man Gesellschaft einer Kritik unterziehen kann. Maßstab dieser pädagogischen Kritik an sozialen Verhältnissen wäre das Ermöglichen einer am Gelingen nicht struk60
Vgl. etwa Marx’ Kritik an solch einem Vorgehen (Marx/Engels [1845/1846] 1978, insbesondere: 274f.).
61
Heydorn (1980a: 47).
62
Heydorn (1980b: 65).
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turell behinderten Pädagogik. Das sagt noch nicht, dass damit Verhältnisse advoziert werden sollen, die eine Garantie für gelingende Pädagogik geben könnten – diese ist nie möglich; selbst unter den besten Bedingungen kann Pädagogik scheitern. Auch kann Pädagogik nicht die alleinige Perspektive sein, aus der Gesellschaftskritik geübt wird: Ökonomische, politische, ökologische, soziale Perspektiven aber können von ihr ergänzt werden. In diesem Sinne ist die pädagogische Kritik sozialer Verhältnisse nur eine Facette, eine verkürzte zumal, und eine mit idealistischer Schlagseite, deshalb aber keine unnötige: Sie weist auf die kritikwürdigen Elemente der bestehenden Gesellschaft hin und warnt Pädagog*innen vor allzu selbstgewissen Verstrickungen in eine Inhumanität perpetuierende Praxis. Solidarität als normativer Grund pädagogischer Kritik an Gesellschaft kann dann eine ethische und moralische Orientierung sein, wenn sie im Hinblick auf das Offenhalten von Möglichkeiten individueller und gemeinschaftlicher Entwicklung Gesellschaft dort kritisiert, wo diese Möglichkeiten für Einzelne und/ oder Gruppen begrenzt werden.
12. Schluss
Zum Abschluss sind die unterschiedlichen Diskussionsstränge und die mäandrierenden Wege, die durch die Quellentexte und ihre Bezüge gegangen wurden, wieder zusammenzuführen und im Hinblick auf die beiden in der Einleitung formulierten Fragestellungen zusammenzufassen und zu reflektieren. Darüber hinaus ist ein Ausblick zu geben auf neue Forschungsfelder, die im Kontext der diskutierten Sachverhalte erschlossen werden könnten. In Teil A dieser Arbeit ist der Frage nachgegangen worden, welche Konzeptualisierungen des Verhältnisses zwischen Solidarität/Brüderlichkeit, Pädagogik und dem Sozialen sich in der sozialistischen Diskussion des langen 19. Jahrhunderts finden lassen würden. Dabei wurden nicht nur die Verhältnisse zwischen den Begriffen analysiert, sondern auch eine Vielfalt an Solidaritäts- und Brüderlichkeitsbegriffen identifiziert. Ohne hier die unterschiedlichen Brüderlichkeits- und Solidaritätsbegriffe erneut zu beschreiben (vgl. dazu die jeweiligen Unterkapitel von Kapitel 4) können fünf Grundmuster des Nachdenkens über das infrage stehende Verhältnisses genannt werden: •
•
›Brüderlichkeit‹ als gemeinsames Verwandtschaftsverhältnis aller Menschen und als auf diesem gründende moralische Verhaltensaufforderung, zu deren Erkenntnis Pädagogik hin zu führen hat, um eine der ›Natur‹ und ›Gottes Willen‹ entsprechende ›verhältnismäßige‹ Gesellschaft schaffen zu können, in der alle ›glücklich‹ sind. (Franz Heinrich Ziegenhagen) ›Solidarität‹ als durch Erziehung zu vermittelnde soziale Pflicht, sich gemeinsam mit anderen für die Belange der Gemeinschaft einzusetzen, indem der (ökonomischen) Pflicht zu Arbeiten und der (politischen) Pflicht, sich Mehrheitsentscheidungen unterzuordnen gehorcht wird. ›Brüderlichkeit‹ meint in diesem Kontext vor allem, bestimmte Gefühle der Gleichberechtigung, Mäßigung und des Wohlwollens anderen gegenüber zu erwerben. (Étienne Cabet)
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•
•
›Solidarität‹ als (Natur-)Gesetz des Sozialen, demzufolge das Wohlergehen aller sich dann verwirklicht, wenn jedem und jeder die Möglichkeit gegeben wird, seine und ihre ›Passionen‹ vollumfänglich auszuleben. Die Gesellschaft ist so einzurichten, dass sie dies ermöglicht und hat erst dann ihren ›wahren Zweck‹ erfüllt. ›Brüderlichkeit‹ ist in dieser ›harmonischen‹ Gesellschaft ein Gefühl gegenseitiger Verbundenheit und milder gegenseitiger Erziehung innerhalb kleinerer Gruppen. (Hippolyte Renaud) Vor dem Hintergrund eines antagonistischen Gesellschaftsverständnisses, das von zwei sich gegenüberstehenden Klassen (›Proletariat‹ und ›Bourgeoisie‹) ausgeht, ›Solidarität‹ als im Interesse des Proletariats liegende handlungsleitende Tugend, die mit dem Wissen über die Notwendigkeit eines gemeinsamen proletarischen Kampfes für bessere Lebensbedingungen einhergeht. Die Einsicht in die Notwendigkeit von ›Solidarität‹ muss aber innerhalb der sozialistischen Bewegung organisatorisch und erzieherisch gegen die Bildungsinstitutionen der bestehenden Gesellschaft vermittelt werden. (Clara Zetkin) ›Solidarität‹ als wechselseitiger Zusammenhang der in einem Staat lebenden und wirtschaftenden Bürger und Identifikation mit der den Staat bildenden ›Nation‹. Die ›Nation‹ und ihr Zusammenhalt sind die Grundlage und das Ziel erzieherischer Bemühungen, ebenso wie eine als Tugend zu verstehende ›Brüderlichkeit‹, die darin besteht, trotz der Identifikation mit der ›eigenen‹ ›Nation‹ freundschaftliche Gefühle gegenüber anderen ›Völkern‹ und ›Nationen‹ zu empfinden. (Robert Seidel)
Dass die beschrieben Varianten von ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ als Reaktion auf eine sich wandelnde gesellschaftliche Situation, nämlich die Transformation von der feudalen zur industrie-kapitalistischen Gesellschaft, und damit einhergehenden pädagogischen Herausforderungen entwickelt wurden, konnte in Kapitel 5 gezeigt werden. Vier, das lange 19. Jahrhundert prägende Themen: Freisetzung des Individuums; industrielle Revolution und soziale Frage; Erosion religiöser Gewissheiten und Aufstieg szientistischen Denkens sowie die mit Imperialismus und Kolonialismus verknüpfte Dimension der Internationalisierung bildeten den sozial-geschichtlichen Hintergrund, vor dem die Frage nach der pädagogischen Vermittlung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft diskutiert wurde. Solidarität beziehungsweise Brüderlichkeit hatte für die sozialistischen Antworten auf diese Frage eine konstitutive Bedeutung, die sich in unterschiedlicher Weise in den vier Idealtypen sozialistischer ›Pädagogik der Solidarität‹ als Programm der Humanisierung, der Individualisierung, der Vergemeinschaftung und der individualisierenden Vergemeinschaftung reflektierte.
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Zwar wurde schon während der Interpretation der Quellentexte auf textimmanente Argumentationsprobleme hingewiesen. Diese mussten aber vor dem Hintergrund der zweiten in dieser Arbeit verfolgten Fragestellung, inwieweit die rekonstruierten Vorschläge Konzepte und Argumentationsstrukturen liefern könnten, mit denen auch ein aktuelles Theorieprojekt zur systematischen Fassung des Verhältnisses zwischen Solidarität, Pädagogik und Sozialem zu verfolgen ist, einer weitergehenden Kritik unterzogen werden. Diese, von einem emanzipatorischen Grundverständnis und einer jenem folgenden pädagogischen Ethik getragene, Kritik erfolgte in Kapitel 6. Hier konnten drei grundlegende Probleme diskutiert werden: Das Spannungsverhältnis zwischen freiwilliger Solidaritätsausübung und dem Zwang zur Solidarität, die Frage danach, ob Solidarität überhaupt als pädagogische Kategorie zu verstehen ist und das Problem der sozialen Reichweite von Solidarität. Aufbauend auf den in den Kapiteln 4, 5 und 6 vorgelegten Interpretationen und Analysen und bezogen auf eine thesenhaft umrissene Gegenwartsdiagnose bot Kapitel 7 den Raum, um die Konturen eines pädagogischen Solidaritätsbegriffs zu zeichnen und dessen Potentiale für die weiterführende Theoretisierung einer ›Pädagogik der Solidarität‹ auszuloten. An den in diesem Kapitel diskutierten Möglichkeiten, Solidarität als Fundament, als Medium und als Ziel pädagogischen Handelns zu fassen sowie an der Frage, inwiefern der Solidaritätsbegriff als normative Grundlage einer pädagogisch motivierten Gesellschaftskritik zu verwenden ist, muss an anderer Stelle weiter gearbeitet werden. Deutlich wurde, dass sich die Begriffe ›Solidarität‹ und ›Brüderlichkeit‹ durch eine Vieldeutigkeit auszeichnen, die eine eindeutige Verwendung für pädagogische Theoriebildung schwierig macht. Dies würde noch stärker deutlich, wenn nicht nur die sozialistischen Versionen, sondern auch die Verwendung der Begriffe in liberalen, christlichen, republikanischen oder konservativen Diskussionszusammenhängen analysiert werden würden. Dies nicht nur wegen ihrer inhaltlichen Polyvalenz, sondern auch wegen eines kategorialen Problems: Der (sozialistische) Solidaritätsbegriff bewegt sich in einem Bedeutungsraum, der sich zwischen pädagogischem und politischem Denken aufspannt. Ebenso verhält es sich mit sozialistischem Denken über Pädagogik, das immer zwischen noch-pädagogischen Motiven, im Sinne von Lernsteuerung des Einzelnen oder von Gruppen, und schon-politischen Motiven von Gesellschaftsveränderung durch Lernsteuerung changiert. Nur kann man dies sozialistischer Pädagogik nicht vorwerfen: Das an den Analysen und Interpretationen der Texte Ziegenhagens, Cabets, Renauds, Zetkins und Seidels deutlich werdende Problem ist vielmehr eines, das sich in jedem pädagogischen Konzept findet: Immer ist die Frage zu stellen, in welchem
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weltanschaulich-politischen Kontext es steht. Selbst sich als naturwissenschaftlich verstehende Pädagogische Psychologie oder einen rein deskriptiven Anspruch tragende Empirische Bildungsforschung ist immer auch politisch, wenigstens in der Auswahl ihrer Forschungsgegenstände und in den praktischen Folgen, die ihre Forschungen zuweilen zeitigen. Sozialistische Pädagogik und der Begriff der Solidarität sind lediglich offensichtlicher politisch kontaminiert, weil sie in Opposition zum Status quo standen und stehen. Die Stellung eines bestimmten Solidaritätsbegriffs für pädagogische Theoriebildung konnte und sollte in dieser Arbeit nicht bestimmt werden. Die Beschreibung der unterschiedlichen pädagogischen Systematiken und der korrespondierenden Solidaritäts- und Brüderlichkeitsbegriffe machte deutlich, dass bei jeder Verwendung genau festzulegen ist, was gemeint ist, wenn von ›Solidarität‹ gesprochen wird. Eine Theorie einer Pädagogik der Solidarität hätte entsprechende Festlegungen und deren Begründung zu leisten. Möglichkeiten, wie das Verhältnis zwischen Solidarität, Pädagogik und Gesellschaft zu denken sind, wurden mit der Analyse der sozialistischen Quellentexten und den Überlegungen in Kapitel 7 aufgezeigt. Sie mögen künftig weiter gedacht werden. Forschungsbedarf bestünde auch im Rahmen einer ideen- oder begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion der Entwicklung des Solidaritäts- und Brüderlichkeitsbegriffs in der sozialistischen Pädagogik. In dieser Arbeit konnten nur Eckpunkte eines Diskursraumes abgesteckt werden, innerhalb dessen sich thematisch Solidarität bewegt. Wie sie sich zeitlich, in Verbindung mit anderen pädagogischen Vorstellungen entwickelte, muss offen bleiben. Ebenso muss die in dieser Arbeit nur als These bestehende Definition von ›sozialistischer Pädagogik‹ weiter behandelt werden: Gibt es etwas spezifisch sozialistisches an eben jener Pädagogik oder besteht sie nur in einer spezifischen Rekombination allgemeiner pädagogischer Motive?1 Nicht zuletzt würden weitere werkbiographische Forschungen zu (nicht nur) den in dieser Arbeit behandelten Autor*innen Erkenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen sozialistischer Bewegung und anderen politischen Bewegungen sowie der (außersozialistischen) pädagogischen Fachdiskussion im Rahmen historischer Netzwerkforschung versprechen. In diesem Sinne kann die vorliegende Arbeit als ein Aufschlag gesehen werden, der die Möglichkeiten sowohl von bildungsgeschichtlicher Forschung im Bezug auf sozialistische Pädagogik illustriert; aber auch für die Potentiale sozialistischen pädagogischen Denkens für aktuelle Theoriebildung plädiert.
1
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Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis August 2016, 248 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.) Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2822-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1
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Pädagogik Tobias Leonhard, Christine Schlickum (Hg.) Wie Lehrer_innen und Schüler_innen im Unterricht miteinander umgehen Wiederentdeckungen jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzorientierung 2014, 208 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2909-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2909-9
Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.) Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen Juli 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3315-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7
Inga Eremjan Transkulturelle Kunstvermittlung Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen Juni 2016, 448 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3519-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3519-9
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