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German Pages [185] Year 2018
Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer
Sokratische Selbstsorge Ein Beitrag zum guten Leben heute
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ALBER THESEN
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Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer Sokratische Selbstsorge
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Philosophieren als eine bewusste Form zu leben, als das Bewusstsein für ein gutes Leben im Sinn eines erfüllten und gerechten Lebens in unserer Welt, wird an keiner Universität gelehrt. Solch ein Bewusstsein ist auch schwierig zu lehren, da es weder als ein definitives Wissen vorliegt, noch mit Hilfe eines metaphysischen Prinzips einfach zu konstruieren ist. Dieses Bewusstsein ist vielmehr eine Art geistige Übung, die immer wieder zu vollziehen ist und die dazu erzieht, das eigene Denken kritisch zu überprüfen und Rechenschaft für unser Handeln in der Welt einzufordern. Die Sokratische Selbstsorge, so die zentrale These des Autors, liefert nun deshalb einen bedeutsamen Beitrag zum guten Leben heute, weil sie zur Bildung dieses Bewusstseins ganz besonders beiträgt. Denn als Methode zur Formung menschlichen Lebens führt die Sokratische Selbstsorge als Gespräch mit sich selbst, im Sinn eines Reflexionsgeschehens, in einen Prozess von Selbsterkenntnis und dialogisch im Gespräch mit anderen, im Sinn eines dialektischen Philosophierens, in ein gemeinsames Suchen nach einem für uns Menschen möglichst vollkommen und dauerhaft guten Leben. Nach Ansicht des Autors zeichnet sich die Sokratische Selbstsorge dabei vor allem durch die Errichtung einer inneren Wertinstanz aus, die als selbstkritische Prüfungsinstanz wirkt und daher ein zielführender Weg ist, sich selbst auf den zahlreichen Um- und Irrwegen zum guten Leben als Wegweiser kritisch zu bewahren.
Der Autor: Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer, geboren 1968, seit 1983 Ausübung verschiedenster beruflicher Tätigkeiten, überwiegend als Projektmanager im Bankensektor sowie als Mediator, Unternehmensberater und philosophischer Praktiker, 2015 Promotion im Fach Philosophie an der Universität Wien.
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Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer
Sokratische Selbstsorge Ein Beitrag zum guten Leben heute
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Alber-Reihe Thesen Band 68
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48889-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81351-5
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»Wenn hingegen einer, denke ich, gesund mit sich selbst umgeht und besonnen und sich zum Schlaf begibt, nachdem er das Vernünftige in sich aufgeregt hat und mit schönen Reden und Untersuchungen bewirtet und zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist, das Begehrliche aber hat er weder in Mangel gelassen noch überfüllt, damit es sich hübsch ruhig verhalte und dem Besten keine Störung verursache durch Freude oder Schmerz, sondern es gewähren lasse, wenn dieses rein für sich allein betrachtet und verlangt, etwas wahrzunehmen, was es nicht kennt, sei dies nun Geschehenes oder Gegenwärtiges oder Bevorstehendes, und nachdem er ebenso auch das Zornartige besänftigt hat und nicht etwa mit einem zum Unwillen gegen jemand aufgeregten Gemüt einschläft, sondern nachdem er die zwei Triebe beschwichtigt und nur den dritten in Bewegung gesetzt hat, in welchem das Denken einwohnt, so sich zur Ruhe begibt, weißt du wohl, daß er in solchem Zustande mit der Wahrheit vorzüglich Verkehr hat und dann am wenigsten ruchlose Gesichter in Träumen zum Vorschein kommen?« (Politeia 571d–572b)
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 11 18 18 24
I. II.
1.
Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung Zum Begriff von »Philosophie« in der Untersuchung a. Zur wörtlichen Erklärung von »Philosophie« . . . b. Über das sokratisch-platonische Philosophieren . .
. . . .
Selbsterkenntnis als Grundlage der sokratischen Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1 Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen . . . . 1.1.1 Exkurs: Foucaults »Sorge um sich« . . . . 1.2 Die reflexive Beziehung zu sich selbst . . . . . . 1.3 Zur Besonnenheit als guter Verfassung des Selbst
2.
. . . .
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. . . .
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. . . .
Zum elenktischen Verfahren der sokratischen Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.1 Prüfung und Widerlegung scheinbaren Wissens . . . . . 2.2 Die sokratische Grundfrage: Was ist X? . . . . . . . . . 2.3 Zur Auflösung scheinbaren Wissens . . . . . . . . . . .
3.
Über den Beitrag der sokratischen Selbstsorge zum guten Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.1 Sokrates’ gutes Leben als philosophische Lebensform 3.1.1 Exkurs: Aristoteles’ Vorzug der theoretischen Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Sophistische Positionen als Ersatz für das gute Leben? 3.2.1 Kallikles’ Zügellosigkeit . . . . . . . . . . . .
30 30 34 37 42
50 50 53 58
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61 61
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68 74 78
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Inhaltsverzeichnis
3.2.2 Gorgianische Redekunst . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Protagoreische Situationsbewältigung . . . . . . .
83 89
Sokratische Selbstsorge heute . . . . . . . . . . . . . 4.1 Sokratische Selbstführung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Zur Ausübung der sokratischen Selbstreflexion . . 4.1.2 Über das sokratische Gespräch mit sich selbst . . . 4.2 Sokratische Gesprächsführung . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Sokratische Mäeutik als angewandte Mediation? . 4.2.1.1 Exkurs: Theoretische Fundierung und Begriff von Mediation . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Der Philosoph als Mediator? . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Exkurs: Philosophieren als Beruf . . . . . . 4.2.3 Sokratisches Philosophieren im Gespräch mit anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3.1 Der sokratische Philosoph als Vermittler . . 4.2.3.1.1 Exkurs: Platons Überschreitung der Grenzen sokratischer Vermittlung . . . . 4.2.3.2 Zum Inhalt der sokratischen Vermittlung . . 4.2.3.3 Über die Wirkung der sokratischen Vermittlung . . . . . . . . . . . . . . . . .
96 99 99 105 110 112
4.
118 124 128 137 137 143 149 155
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Anhang
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verzeichnis verwendeter Literatur . . . . . . . . . . . . a. Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare . . . . . b. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c. Hilfsmittel, Lexika und Zeitschriften . . . . . . . . . d. Weitere Medien: Radiosendungen, Internet, CD-ROM II. Erläuterungen zur Übersetzung und Zitation . . . . . . III. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Die universitäre Philosophie als wissenschaftlich spezialisierte Disziplin bleibt nach wie vor häufig auf einen philosophischen Diskurs reduziert. Die Sokratische Selbstsorge als philosophische Lebensform erschöpft sich dagegen nicht in Forschung und Lehre. Sie beschäftigt sich auch mit der Praxis des Lebens und ist daher nicht nur eine theoretische, sondern vor allem auch praktische Disziplin. Die Sokratische Selbstsorge versucht Lehre und Leben in Übereinstimmung zu bringen und bewährt sich dann, wenn Menschen durch dieses Philosophieren ihre individuelle Lebenspraxis kritisch zu reflektieren verstehen. Die vorliegende Arbeit, die als Dissertation im Wintersemester 2014/15 vom Institut für Philosophie der Universität Wien angenommen wurde, versucht diesen Nachweis zu erbringen. Dank von ganzem Herzen sage ich meiner Frau, die das wissenschaftliche Vorhaben all die Jahre hindurch mit Geduld und Vertrauen unterstützend begleitet hat sowie meiner Tochter, die zu einer kritischen Auseinandersetzung über das Philosophieren an sich beitrug. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Meinen aufrichtigsten Dank möchte ich Alfred Dunshirn aussprechen, den ich als Betreuer der Arbeit nicht nur mit seinem philosophischen Wissen, sondern auch als Philologe zu Rate ziehen durfte. Er hatte insbesondere die Gabe, mich bei der Durchführung der Untersuchung immer wieder zu motivieren, obwohl deren Entstehung mehrmals von schwierigen Umständen begleitet war. Zu besonderem Dank bin ich auch Stephan Haltmayer als Zweitgutachter der Arbeit verpflichtet, da sich mit ihm anregende Gespräche über die Philosophie entwickeln ließen und er es schaffte, mir die Kunst der philosophischen Dialektik eindrucksvoll zu demonstrieren. Ebenfalls möchte ich Werner Gabriel danken, der mich durch das »Philosophische Cafe« in die Sphäre des praktischen Philosophierens eintreten ließ sowie Helmuth Vetter, der mein wissenschaftliches Bewusstsein zu Beginn der Untersuchung phänomenologisch schärfte. Sokratische Selbstsorge
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Vorwort
Herzlich danken möchte ich auch Lukas Trabert vom Karl Alber Verlag für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe ›Thesen‹. Inka Rupp und Timon Busshardt vom Karl Alber Verlag danke ich für die sorgfältige editorische Arbeit. Wien, im Jänner 2017
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Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer
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Einleitung
I.
Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung
Die Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist, auf Basis der Auseinandersetzung mit dem platonischen Sokrates 1 und seiner Frage, wie man leben soll 2, den möglichen Beitrag der sokratischen Selbstsorge 3 für das gute Leben 4 heute sichtbar zu machen. Diese Frage Der Ausdruck »platonischer Sokrates« hebt hervor, dass es sich dabei um die von Platon in seinen Dialogen dargelegte Figur des Sokrates handelt. Der Versuch einer kritischen Rekonstruktion des historischen Sokrates im Sinn einer vergleichenden Analyse mit weiteren Quellen über Sokrates, wie sie uns insbesondere bei Xenophon, Aristoteles oder Aristophanes begegnen, wird nicht unternommen. Vgl. dazu auch G. Figal, Sokrates, 2006, 11–29, bes. 14–23; C. C. W. Taylor, Sokrates, 1999, 34–56; G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 23–33; E. Martens, Sokrates, 2004, bes. 11–23. 2 Vgl. Gorgias 492d, 500c f., Euthydemos 282a, Politeia 352d. Es ist die von Platon »erstmals gestellte Frage aller Fragen im Bereich der praktischen Philosophie. Soll ich mich den auf mich einströmenden Begierden hingeben und ihnen untertan sein, oder soll ich ein Leben der Selbstbeherrschung führen und frei sein, oder schlicht: Soll ich ein gutes oder schlechtes Leben führen?« (T. Kobusch, Wie man leben soll: Gorgias, 1996, 59 f.) 3 Sokratisches Philosophieren lässt sich schlechthin als »Sorge um sich selbst« bestimmen. Vgl. Apologie 29e f., 36c und Alkibiades I 127e ff. In Form einer Rezeption von Philosophie als Lebenskunst siehe vor allem P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, bes. 23 f., 136 f.; W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 1998, insbes. 239 f., ders., Mit sich selbst befreundet sein, 2004, bes. 67 f. und M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 3, Die Sorge um sich, 1989, insbes. 60 f., ders., Hermeneutik des Subjekts, 2009, bes. 16 f., 53 ff., 93 f., 217 f., 599. Mit Ausweis kritischer Gesichtspunkte dazu vgl. W. Kersting und C. Langbehn (Hg.), Kritik der Lebenskunst, 2007, mit Beiträgen von J. Sellars, Ch. Horn, A. Nehamas, O. Höffe, D. Henrich und anderen Autoren. 4 Mit dem Begriff »gutes Leben« wird die schwierige Wiedergabe des griechischen Wortes eudaimonia zum Ausdruck gebracht. Ohne den Anspruch geltend zu machen, damit die nötige Akribie einer letztlich gültigen Darlegung erbracht zu haben, scheint diese Formulierung, die sich der etymologischen Bedeutung des Wortes annähert, am ehesten trefflich zu sein. Denn »Daimon bedeutet etwa ›Leben‹, ›Lebensgeist‹, und eu ist das Adverb von ›gut‹, eudaimonia demnach ›gute Weise des Lebens‹.« (U. Wolf, 1
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Einleitung
»– verstanden nicht wie heute zumeist als individuell subjektiv empfundenes Glück, sondern als objektiv faßbares, erfülltes Leben – zieht sich wie ein Leitmotiv durch Platons Dialoge, auch wenn es um philosophische, pädagogische und politische Theorie oder naturphilosophische, erkenntnistheoretische oder ontologische Fragen geht.« 5 Sokrates misst dieser Frage große Bedeutung bei: »Denn du siehst, daß davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiß für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts Ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll« 6. Die Aufgabenstellung der Untersuchung nimmt daher ihren Ausgang von Platons frühen Dialogen 7 und darin von der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern über die Frage, worin das gute Leben besteht und wie es zu erreichen ist. Eingeführt wird in die Untersuchung derart, dass zunächst der Frage nach dem Begriff von Philosophie nachgegangen wird, zuerst in Form des Versuchs einer wörtlichen Erklärung von Philosophie und danach durch die Darlegung des sokratisch-platonischen Verständnisses von Philosophie. Dies erfolgt deshalb, um einerseits auf Basis dieser Hintergrundinformationen zu zeigen, dass zunächst immer ein Verständnis von Philosophie darzulegen ist, bevor der Versuch einer Definition dessen, was Philosophie ist, unternommen werDie Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 68 ff.) Ausführliche Erläuterungen zum Begriff des guten Lebens finden sich bei U. Wolf, ebd., 15 f., 67 ff.; dies., Die Suche nach dem guten Leben, 1996, bes. 68 ff. 5 M. Erler, Platon, 2006, 13. 6 Gorgias 500c f. 7 Die sogenannten frühen Schriften Platons, die öfter auch als »sokratische Dialoge« angeführt werden, sind bestimmt durch die Figur des Sokrates und dessen ironischer Haltung. Sie kreisen um die Frage nach dem guten Leben und enden in der Regel aporetisch. Im Rahmen dieser frühen Dialoge wird im Hinblick auf die zu untersuchende Thematik die Aufmerksamkeit vor allem auf die Dialoge Apologie, Alkibiades I, Charmides, Gorgias und Protagoras gerichtet. Allerdings zeigt Ch. Kahn mit seiner »proleptischen Methode«, dass es keine eindeutig abgrenzbare Phase der frühen Dialoge gibt, indem er die fünf sokratischen Dialoge Laches, Charmides, Lysis, Euthyphron und Protagoras hinsichtlich ihrer Entstehung zeitlich nach den Dialog Gorgias reiht und diese weniger als Rückblick auf den historischen Sokrates interpretiert, sondern mehr als Vorausschau auf ihre inhaltliche Entwicklung in späteren Dialogen Platons versteht: »reading them not to find out what Socrates said so long ago but to see how Plato will pursue his paths of inquiry from one dialogue to the next, and ultimately on to the doctrines of the middle dialogues.« (Ch. Kahn, Did Plato Write Socratic Dialogs?, 2006, 117 f.) Hilfreich zur Einteilung der platonischen Werke insgesamt: M. Bordt, Platon, 1999, 33–39, bes. 37–38.
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Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung
den kann. Und andererseits, um das Grundanliegen, welches der platonische Sokrates mit seinem Philosophieren als Lebensform verfolgt, gegen andere Konzepte von Philosophie klar abzugrenzen. Hinsichtlich der Kernthematik, der sokratischen Sorge um sich selbst, orientiert sich die Untersuchung an drei Leitgedanken. Erstens wird nach dem Gegenstand der Selbstsorge gefragt, denn bevor um oder für etwas gesorgt werden kann, muss man sich darüber verständigen, was der Gegenstand dieser Sorge ist. Die Sorge um sich selbst bedingt also zunächst ein Wissen darüber, was das Selbst 8 ist. Dieses Wissen wird in Anlehnung an die delphische Forderung des »Erkenne Dich selbst!« (gnothi seauton) 9 als Selbsterkenntnis gesucht. Sokrates hat dieser Forderung nach Selbsterkenntnis gegenüber allem anderen Wissen einen klaren Vorrang eingeräumt. Das substantivierte Selbst wird dabei nicht als das einzelne Individuum, das empirische Subjekt, sondern gemäß sokratischer Bestimmung als das allgemeine Menschsein, die menschliche Tugend (arete) 10 bestimmt. Sokrates versteht darunter das Streben nach dem spezifischen Gutsein des menschlichen Lebens 11 im Sinn einer Ausrichtung des Menschen Das, was das Selbst ist, wird von Platon vor allem im Alkibiades I (vgl. bes. 128e– 129b) zum Gegenstand des Philosophierens gemacht. Eine im Hinblick auf die Intention der vorliegenden Arbeit treffende Bestimmung vom Selbst bietet W. Schmid: »Jedes Selbst ist ein Mensch, nicht jeder Mensch jedoch ein Selbst, wenn Selbstsein bedeutet, das eigene Leben bewusst führen zu können.« (W. Schmid, Mit sich befreundet sein, 2004, 96 ff.) Vgl. dazu das Kapitel »Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen« in der vorliegenden Untersuchung. 9 Diesen Spruch, den eine Säule im Apollon-Tempel von Delphi als Inschrift getragen haben soll, hat Platon (vgl. Protagoras 343b) als Musterstück der lakonisch gefassten Spruchweisheiten der »Sieben Weisen« gedeutet. Zudem spielt der delphische Spruch in zahlreichen platonischen Dialogen eine bedeutsame Rolle. So beispielsweise im Charmides (vgl. Charmides 164d f.), in welchem die Besonnenheit als Fähigkeit zur Selbsterkenntnis ausgelegt wird, im Phaidros (vgl. Phaidros 229e–230a), in welchem Sokrates der Selbsterkenntnis den Vorrang gegenüber den Mythologemen einräumt oder im Philebos (vgl. Philebos 48c f.), in welchem am Beispiel des Lächerlichen und des Neides das Gegenteil von Selbsterkenntnis erklärt wird. 10 Als menschliche Tugend verstanden, charakterisiert der Begriff arete jene Eigenschaft, die das Lebewesen Mensch dazu befähigt, seine je eigentümlichen Anlagen angemessen, also gut zu verwirklichen. Demnach besitzt der Mensch dann arete, wenn er in der Lage ist, das »Gutsein«, also das, was den Menschen wesentlich zum Menschen macht, zu erfüllen. Vgl. dazu auch U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 33 f.; G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 72 ff. und Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 79 ff. 11 Bei diesem »Gutsein des Menschen« handelt es sich um eine »Ethik der Steigerung«. Es geht also »nicht darum, in irgendeinem Sinne nett, umgänglich, ›human‹ 8
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Einleitung
nach der Wahrheit, so dass der Mensch die ihm zukommende arete nur dann angemessen verwirklicht, wenn er sich um das wahrhaft Gute kümmert und nicht um das nur dem Schein nach Gute. Wie es gelingt, einerseits solch ein Selbst überhaupt als Erkenntnisobjekt einzuführen und andererseits eine inhaltliche Bestimmung dieses Selbst zu liefern, sind grundlegende Aufgabenstellungen im Zuge der Klärung der Frage nach dem Gegenstand der Selbstsorge. Zweitens wird nach dem Verfahren 12 der Selbstsorge gefragt, das als praktizierte Form philosophischer Denk- und Arbeitsweise auszuweisen ist. Es besticht methodisch durch die mündliche Form, ist aber als Praxis einer philosophischen Lebensform nur durch die existentielle Haltung und die ethischen Motive, die dieser Lebensform inhaltlich zugrunde liegen, begreifbar. Sokrates’ dialogisch orientierter Vollzug einer Prüfung des vermeintlichen Wissens seiner Gesprächspartner, das elenktische Verfahren (elenchos), welches in seinem induktiven 13 Fortschreiten nach möglichst sicherer Erkenntnis strebt, meist jedoch aporetisch endet, steht mit seinen pädagogischen Zielsetzungen und therapeutischen Wirkungen dabei im Mittelpunkt. Denn die fortwährende Ausübung des elenchos mit seinen Gesprächspartnern als einer immer wieder zu vollziehenden geistigen Übung 14 unter rationaler Kontrolle, scheint der aussichtsreichste zu sein, sondern es geht darum, möglichst gut, hervorragend zu sein, zu den Aristoi, den besten zu gehören.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 73 f.) 12 Das sokratische Verfahren sollte allerdings nicht auf eine bestimmte Form, einen Dialog zu führen, reduziert werden, wie dies, wenn auch eindrucksvoll, bei L. Nelson geschieht. Vgl. dazu L. Nelson, Die sokratische Methode, 2002, 21 ff. Auch wenig gerechtfertigt ist, die Leistung des sokratischen Verfahrens auf die Entwicklung allgemeiner Definitionen von ethischen Begriffen und das Verfahren der Induktion zu beschränken. Vgl. dazu Aristoteles, Metaphysik, XIII 2b, 1078b17–32 oder in dessen Tradition zum Beispiel R. M. Hare, Platon, 1990, z. B. 14, 30. Treffender, weil wesentlich differenzierter, erscheint dazu die Darlegung von E. Martens, in der sich das sokratische Verfahren gerade durch eine Fülle unterschiedlicher Methoden auszeichnet. Vgl. E. Martens, Sokrates, 2004, 160 ff. 13 Dieses induktive Vorgehen, so G. Raupach-Strey richtig, »impliziert einen Anspruch an die Philosophie: Redliches Philosophieren nimmt die wirklichen Erfahrungen und die Erfahrung der Wirklichkeit ernst; aus Lebenssituationen und der Lebenswelt in ihrer Vielfalt und teilweise Widersprüchlichkeit entspringen die anfänglichen Fragen und Probleme des Philosophierens, […] Philosophieren bedeutet nicht Spekulieren und Theoretisieren in völliger Ablösung von der Wirklichkeit; vielmehr sind Verselbständigung und Hypostasierung philosophischer Gedanken zu vermeiden.« (G. Raupach-Strey, Das sokratische Paradigma und die Diskurstheorie, 2002, 111 f.) 14 Der Begriff »geistige Übung« klingt etwas antiquiert, moderner wäre es wohl den
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Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung
Weg, das menschenmögliche Gutsein als arete im Sinn einer Ausrichtung nach Wahrheit zu bilden und sich als Mensch dem Ideal eines vollkommen und dauerhaft guten Lebens annähern zu können. Unter rationaler Kontrolle wird dabei der Vollzug einer an rationaler Argumentation und Gegenargumentation orientierten Prüfung verstanden, die sich am besten Logos orientiert, also an derjenigen vernünftigen, begründeten Rede, die sich in der Gesprächsführung am besten bewährt, da sie jeder kritischen Auseinandersetzung standhält. Philosophieren wird so zu einer Methode 15 der Formung menschlichen Lebens, die darauf abzielt, die Frage nach dem guten Leben als eine ethische Grundfrage 16 wach zu halten, indem sie dazu erzieht, das eigene Denken, insbesondere die sich darin zeigenden, erstarrten Positionen und die dahinter liegenden Interessen-, Bedürfnis- und Werthorizonte immer wieder von neuem kritisch zu überprüfen. Drittens wird nach dem Beitrag der sokratischen Selbstsorge zum guten Leben gefragt. Dazu wird in Form der philosophischen Lebensweise die sokratische Idee vom guten Leben als das dem Menschen mögliche gute Leben dargelegt und sophistischen Positionen zum Leben, wie dem kallikleischen Hedonismus, der gorgianischen
Begriff »mindness« zu verwenden, im Sinn einer begrifflichen Annäherung an mehr im Trend liegende Termini wie »wellness« oder »selfness«. Auch findet der Begriff »geistige Übung« in der esoterischen Literatur häufig Verwendung, meist als ein praktisch nützliches Wissen im Sinn von individueller Lebenshilfe oder als Ausdruck für mentale Übungen, oft gepaart mit körperlichen Bewegungen. Doch trifft das Wort »geistig« am ehesten die ganzheitliche Perspektive von der menschlichen Lebenswelt, deckt also Aspekte wie Vorstellungskraft, Intuition, Gefühl, Psyche, Körper, Leib, Moral, Ethik, Denken, Intellektualität begrifflich weitgehend ab, während andere mögliche Formulierungen, wie ethische, moralische, seelische, intellektuelle oder praktische Übung dies weniger oder gar nicht vermögen. Eingehend dazu P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 13 f. 15 Als philosophische Unterrichtsmethode betrachtet, hat L. Nelson das Wesen dieser Methode auf den Punkt gebracht: »Die sokratische Methode ist nämlich nicht die Kunst, Philosophie, sondern Philosophieren zu lehren, nicht die Kunst, über Philosophen zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen.« (L. Nelson, Die sokratische Methode, 2002, 21 ff.) 16 Diese ethische Grundfrage des Sokrates verlangt »nicht nur Rechenschaft von uns, ob wir im Leben Gutes tun oder aus unserm Leben das Beste machen, sondern: ob das Leben selbst, das wir leben, gut ist. […] Wir sind nicht gut, insofern wir ein gutes Leben haben, oder, wie man sagt, weil es uns gut geht, sondern unser Leben ist gut, sofern wir gut sind.« (G. B. Achenbach, Gut zu leben – eine Frage der Ethik, 2005, 484 f.) Sokratische Selbstsorge
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Einleitung
Rhetorik sowie der protagoreischen Situationsbewältigung, die auch heute weit verbreitet sind, gegenübergestellt. Schließlich wird gezeigt, wie sich die von Sokrates vollzogene Selbstsorge 17 in unserer heutigen Lebenspraxis bewähren 18 kann. Dazu wird die sokratische Selbstführung als ein Gespräch mit sich selbst in Form der Ausübung von Selbstreflexion und die sokratische Gesprächsführung als ein Gespräch mit anderen, zuerst in Form der Anwendung sokratischer Mäeutik in der Mediation und dann in der Rolle des sokratischen Philosophen als Vermittler, untersucht. Wird bei der sokratischen Selbstführung insbesondere die Fähigkeit zur rationalen Einsicht geübt, um bei sich selbst übermäßige Begierden oder Affekte im Sinn einer inneren Stabilisierung unter Kontrolle zu halten, wird in der sokratischen Gesprächsführung die Kunst der Mäeutik 19 geschult, die anderen Menschen zur geistigen Entbindung ihrer Auch der Begriff »Selbstsorge« wirkt zunächst etwas altmodisch, weniger überholt wäre es wohl, die zweite Silbe des Kompositums, die »Sorge«, durch den englischen Begriff »Management«, welcher der Unternehmensrhetorik entnommen ist, zu ersetzen, also den Begriff »Selbstmanagement« zu wählen. Doch solch eine Übertragung des Modells der Führung eines Unternehmens auf das in der vorliegenden Arbeit zu untersuchende Selbst ist wenig zielführend, weil das Selbst im sokratischen Sinn nicht unter Druck von außen zur Veränderung geführt wird, wie beispielsweise ein Manager ein Unternehmen zu Restrukturierungsmaßnahmen zwingt, sondern das Selbst unter selbständig erworbener Einsicht einen persönlichen Lebenswandel vollzieht. Mit dem Begriff Selbstmanagement würde zwar eine mehr vertraute, weil heute schon geläufigere Begrifflichkeit im Vergleich zum Begriff der Selbstsorge gewählt, doch begrifflich zu wenig scharf zum modernen »Selbstunternehmer der Managementliteratur« abgegrenzt. Denn diesem »werden die Selbstmobilisierungs- und Selbstflexibilisierungsanstrengungen durch den globalen Gang der wirtschaftlichen Dinge abgenötigt. Sein Autonomieprojekt entdeckt sich als aufgenötigtes, von der karrierepolitischen Not diktiertes Anpassungspensum.« (W. Kersting, Die Gegenwart der Lebenskunst, 2007, 64) Daher wurde der Begriff »Selbstsorge« gewählt, auch wenn lapidar formuliert gilt: »Die Sorge um sich und für sich selbst, neudeutsch auch gerne als Selbstmanagement bezeichnet, umfasst alle Aspekte des bewussten Umgangs mit sich selbst«. (M. Niehaus, Management by Sokrates, 2009, 44 f.) 18 Den Sinn einer solchen Bewährung trifft D. Henrich gut, wenn er im Epilog einer »Kritik der Lebenskunst« im Hinblick auf ein philosophisches Erschließen des Lebens resümiert, »daß auch die Philosophie, welche die Lebenssorge des Menschen aufnimmt, ihre Beruhigung zwar nur im Durchgang durch die subtilste Theorie, nicht aber als Theore allein erreicht. Sie muß sich dadurch bewähren, daß sich das bewußte Leben der Menschen in ihr wiedererkennen kann und daß es sie in den jeweils eigenen Vollzug seiner Dynamik aufzunehmen vermag.« (D. Henrich, Sorge um sich oder Kunst des Lebens?, 2007, 359) 19 Die Kunst dieser »mäeutischen Pädagogik« besteht darin, »daß der Lehrer dem Schüler kein Wissen mitteilt, sondern ihm vielmehr bei der Produktion von Wissen 17
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Zielsetzung und Aufgabenstellung der Untersuchung
Gedanken verhilft. Dabei besteht das Kernanliegen der sokratischen Selbst- wie auch Gesprächsführung darin, die Frage nach dem guten Leben als eine zentrale Fragestellung für uns Menschen bewusst zu halten, da gerade diese Frage in der sozialen Praxis unseres Alltags häufig ausgeklammert scheint oder nur dann explizit gestellt wird, wenn unsere Alltagsroutine empfindlich gestört ist. Hinsichtlich der angewandten Methodik in der Untersuchung ist auszuführen, dass mittels hermeneutischer Methoden im weiteren Sinn 20 ein Lösungsansatz zur Beantwortung der jeweiligen Fragestellungen erarbeitet wird. Die gewählte Auslegung im Sinn der Hermeneutik 21 erfolgt dann mittels einer systematischen Begrifflichkeit, meist aus heutiger Vorstellung 22 und zielt darauf ab, die sich zeigenden Fragestellungen durch Systematisierung grundlegender Begriffe sachlich zu klären. Im Hinblick auf die Interpretation der platonischen Schriften 23 wird Anleihe bei solchen Auslegungen genomHebammendienste leistet. Der Vorzug, der mäeutischer Pädagogik gegenüber gewöhnlicher Wissensvermittlung zukommt, bestehe darin, sagt man, daß das Wissen auf diese Weise dem Schüler nicht äußerlich bleibe, sondern als selbstproduziertes seiner Persönlichkeit integriert werde.« (G. Böhme, der Typ Sokrates, 2002, 119 f.) 20 »Die drei auffälligsten Ausformungen dieser alles verstehenden Hermeneutik im weiteren Sinn sind die Dialektik, die Hermeneutik im engeren Sinn als geisteswissenschaftliche Verstehenslehre und die Phänomenologie mit ihrem Versuch, das Sinnverstehen aus den Leistungen des Bewußtseins heraus zu erklären.« (K. Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie, 1987, 103) 21 Hermeneutik verstanden als eine Kunst der Auslegung und Interpretation macht deutlich, »dass nicht ›die Wahrheit des Lebens schlechthin‹ zur Debatte steht. Die Frage nach Sinn, nach Zusammenhängen, nach Bedeutsamkeit, Gewichtigkeit, Unverzichtbarkeit für das Selbst und sein Leben deutend anzugehen, lässt andere Möglichkeiten der Deutung von Grund auf offen.« (W. Schmid, Mit sich selbst befreundet sein, 2004, 20 f.) 22 Dazu gilt festzuhalten: »Aus der Tatsache, dass in den platonischen Dialogen keine dem modernen Verständnis adäquate Begrifflichkeit vorzufinden ist, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass Platon die entsprechenden Sachverhalte überhaupt nicht gekannt haben konnte. Denn das Fehlen eines Begriffs bedeutet nicht notwendig das Fehlen des später mit diesem Begriff bezeichneten Sachverhaltes und der Reflexion über diesen Sachverhalt«. (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 57 f.) 23 Denn die angemessene Methode der Interpretation von Platons Schriften ist »nicht die, sich an den platonischen Begriffsbestimmungen festzuhängen und Platons ›Lehre‹ zu einem einheitlichen System auszubilden, von dem aus die einzelnen Dialoge in dem sachlichen Recht ihrer Aussagen wie in der Schlüssigkeit ihrer Beweislogik zu kritisieren wären, sondern den Gang des Fragens, den der Dialog darstellt, als Fragender nachzugehen und die Richtung zu bezeichnen, in die Platon nur weist, ohne sie zu gehen.« (H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 8–9 f.) Sokratische Selbstsorge
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Einleitung
men, die weniger nach einer durchgehend schlüssig erklärbaren Begrifflichkeit, noch nach einer gezielten Überwindung der dialektischen Vorläufigkeit in den Dialogen suchen, sondern vielmehr eine Klärung der Intention der platonischen Texte versuchen.
II.
Zum Begriff von »Philosophie« in der Untersuchung
Seit ihren Anfängen 24, im Zuge der Klärung ihrer Aufgaben, ist die Philosophie bemüht, eine greifbare Haltung in Bezug auf ihre Tätigkeit zu gewinnen. Auf diese Frage nach einer inneren Grundeinstellung der Philosophie gab es im Laufe der Geschichte von Philosophie auch schon zahlreiche Antworten 25, und doch wird sie von Philosophierenden immer wieder von neuem gestellt. Im Hinblick auf die Frage nach einem Begriff von Philosophie wird nun vorerst eine wörtliche Erklärung von Philosophie versucht und dann das sokratisch-platonische Verständnis von Philosophie skizziert.
a.
Zur wörtlichen Erklärung von »Philosophie«
Der Versuch, ein Verständnis von Philosophie mit Hilfe ihres Namens zu erlangen, scheint vorerst wenig hilfreich, da auch für eine Nominaldefinition 26 letztlich ein Philosophiekonzept 27 die Grundlage In der vorliegenden Arbeit wird dieser Anfang aus sach- und zeitökonomischen Gründen auf die griechische Antike eingeschränkt. Dabei ist mit G. Colli in Erinnerung zu rufen: »Die Ursprünge der griechischen Philosophie und damit des ganzen abendländischen Denkens liegen im Dunkeln.« (G. Colli, Die Geburt der Philosophie, 1990, 13 f.) 25 Gerade im Hinblick auf die griechische Philosophie ist festzustellen: »Erst im Durchgang durch das Denken der Philosophie der Antike gelangt man zu der Einsicht, dass es sich hier nicht um ein durch den Fortschritt der Geschichte überholtes Wissen handelt, sondern um wirkungsmächtige Positionen des menschlichen Geistes, auf die wir nur dann verzichten können, wenn wir uns selbst aufgeben.« (W. Ries, Die Philosophie der Antike, 2005, 9 ff.) 26 Eine reine Nominaldefinition, die ohne Rücksicht auf den speziellen Inhalt des Begriffs eine bloße Worterklärung im Sinn einer Beschreibung der Bedeutung des Wortes liefert, kann den wesentlichen Kern einer Sache nicht treffen. Eine Definition des Wortes »Philosophie« ist jedoch der erste Schritt, nämlich ein akzeptierter Sprachgebrauch, in Richtung der anzustrebenden Bestimmung von wesentlichen Merkmalen der Sache »Philosophie«. So suchte auch Sokrates mit seiner Frage »Was ist X?« viel mehr nach einer Antwort im Sinn einer Realdefinition, die beispielsweise 24
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Zum Begriff von »Philosophie« in der Untersuchung
bilden muss. Das liegt daran, dass selbst das Wort Philosophie ein philosophischer Grundbegriff ist, also keineswegs begrifflich festgelegt ist, was Philosophie ist, sondern Philosophie an sich immer schon ein philosophisches Thema ist. Dies hat zur Folge, dass auch die Bedeutung des Wortes Philosophie in Abhängigkeit vom dahinter liegenden Verständnis von Philosophie differiert und daher über das, was Philosophie ist, uns zahlreiche und immerzu andere Erklärungen begegnen. Wörtlich bedeutet Philosophie (philosophia) 28 so viel wie »Liebe zur Weisheit« oder »Freund der Einsicht«. Betrachtet man zuerst die zweite, ältere Silbe des Kompositums, die sophia, dann wurde ursprünglich damit jede Art von Wissen und Können in irgendeiner praktischen 29 Fertigkeit bezeichnet. Die Bedeutung im erweiterten Sinn von Weisheit, erfährt das Wort sophia dann bei Herodot, wenn er von den »sieben Weisen« 30, die sich durch hervorragende Kenntnis das Wesen der Sache »Philosophie« erklären kann. Siehe dazu auch das Kapitel »Die sokratische Grundfrage: Was ist X?« in der vorliegenden Arbeit. 27 Vgl. dazu auch die gründliche Einleitung von H. Schnädelbach über den Begriff, die Anfänge und die wesentlichen Konzeptionen von Philosophie. (H. Schnädelbach, Philosophie, Band 1, 1991, 37 ff.) 28 Eine allgemein gültige Definition des Wortes Philosophie gibt es nicht. Seinen Ausgang soll das Wort philosophia bei Pythagoras genommen haben, wie Diogenes Laertius berichtet: »Den Namen Philosophie brachte zuerst Pythagoras auf und nannte sich selbst einen Philosophen«. (Diogenes Laertius, I 12) Die erste schriftliche Überlieferung des Wortes philosophos soll bei Heraklit zu finden sein: »Gar vieler Dinge kundig müssen weisheitsliebende Männer sein.« (DK, 22 B 35) Im Sinn eines Strebens nach Wissen, nach Weisheit ist es zuerst wohl bei Herodot zu finden, wenn Kroisos zu Solon spricht: »[E]s heißt, du seist, da du wissbegierig bist, bereits in viele Länder gekommen, um sie zu erforschen.« (vgl. Herodot, Historien, Erstes Buch, 30,2) Und auch bei Thukydides in der Gefallenenrede des Perikles ist nachzulesen: »Wir lieben die Kunst mit maßvoller Zurückhaltung, wir lieben den Geist [philosophoumen] ohne schlaffe Trägheit«. (Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Zweites Buch, 40,1) 29 So charakterisiert Homer den sophos als einen Menschen, der über eine Geschicklichkeit oder eine Kunstfertigkeit verfügt und sich damit im Leben als erfahrener Praktiker erweist. (vgl. Homer, Ilias, 15. Gesang, 411–412) 30 Vgl. Herodot, Historien, Erstes Buch 29,1; 20,1; 27,1; 59,1; 74,2. Namen und Zahl dieser Weisen variieren schon in der Antike. Platon erwähnt sie auch: »Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, unser Solon, Kleobulos von Lindos, Myson von Chenai, und als der siebente wurde zu diesen gezählt der Lakedaimonier Chilon.« (Platon, Protagoras, 343a) Auch wenn spätestens seit Aristoteles Thales von Milet traditionell als erster Philosoph gilt (vgl. Aristoteles, Metaphysik, I 2b, 983b20) soll Dikaiarchos, ein Schüler des Aristoteles, diese Weisen »weder für weise noch für Philosophen, wohl aber für kluge und zur Gesetzgebung befähigte Männer« erklärt Sokratische Selbstsorge
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und Klugheit ausweisen, spricht. Unter dem Einfluss von Platon geht der positive Sinn des Wortes sophistes 31 jedoch verloren. In seinen Dialogen porträtiert er Sokrates als den wahren Philosophen und stellt die Sophisten fast ausnahmslos als geschwätzige Scheingelehrte 32 und spitzfindige Wortverdreher dar. So erscheint Platon der Sophist in sechsfacher Weise, erstens als »reicher Jünglinge wohlbelohnter Nachsteller«, zweitens als »Großhändler in Kenntnissen für die Seele«, drittens als »ein Krämer mit eben diesen«, viertens als »ein Eigenhändler mit Kenntnissen«, fünftens als »ein Kunstfechter im Streitgespräch« und schließlich sechstens als »einer, der von Meinungen, welche in der Seele den Kenntnissen im Weg stehen, reinigt.« 33 Gerade die zwei zuletzt genannten Bestimmungen lassen aber durchaus eine positive Konnotation des Wortes sophistes erkennen. Auch andere platonische Dialogpassagen bestätigen dies, zum Beispiel die, in welcher Sokrates das philosophische Wesen des Gottes Hades schildert: »[S]o vortreffliche Reden, scheint es, weiß Hades ihnen [den Verstorbenen] zu halten, und so wäre, wenigstens wie hieraus folgen würde, dieser Gott ein vollendeter Sophist« 34. Und Sokrates lässt sich mit seiner Kunst der Geburtshilfe, der Mäeutik, und seiner Methodik zur Befreiung von scheinbarem Wissen, der Elenktik, ohnehin als »Reinigungskünstler« 35 par excellence bestimmen. Auf jeden Fall differieren bis heute die philosophischen Fachmeinungen hinsichtlich der Rechtfertigung von Umfang und Schärfe der platonischen Polemik 36 gegenüber den Sophisten, letztlich wohl gerade haben. (Diogenes Laertius, I 40) W. Capelle resümiert dazu, »daß diese ›Weisen‹ Männer des praktischen Lebens gewesen sind, die unter ihren Mitbürgern eine bedeutsame, weit beachtete Tätigkeit entfaltet haben.« (W. Capelle, Die Vorsokratiker,1968, 62 f.) 31 Allerdings tritt die Pejoration der Bezeichnung sophistes, der »Weisheitslehrer«, schon bei Aristophanes auf, der die Sophisten, zu welchen er auch Sokrates zählt, wie folgt porträtiert: »Kurpfuscher, Wahrsager, Tagdiebe sie all, manikürt und frisiert wie die Gecken«. (Aristophanes, Die Wolken, 331–334) 32 Auch Aristoteles galt der Sophist als Mensch, »der mit scheinbarer, nicht wirklicher Weisheit Geschäfte macht.« (Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 1, 165aff.) 33 Sophistes 231d ff. 34 Kratylos 403e. 35 So im Sinn einer Reinigung von Meinungen, welche in der Seele den Weg zur Erkenntnis verstellen (vgl. Sophistes 230c–e) oder in der Art einer Befreiung von falschen Überlegungen, um nach einer begründbaren wahren Vorstellung suchen zu können (vgl. Theaitetos 210a–c). 36 Zum Beispiel hält B. H. F. Taureck in Bezug auf die Vorlage von Aristophanes fest:
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Zum Begriff von »Philosophie« in der Untersuchung
deshalb, weil die Auseinandersetzung 37 mit der Sophistik der platonischen Philosophie ihre Positionierung verschafft. So bringt Platon seine forcierte Differenzierung zwischen Sophisten und Philosophen schon in der Interpretation des Wortes philosophia zum Ausdruck, indem er die erste Silbe des Kompositums, die philia 38, betont. Er legt damit schon im Wort Philosophie den Aspekt einer bewussten Zurückhaltung des Anspruches auf Weisheit beziehungsweise Wissen 39 an. Die damit verbundene, bekannte Haltung des Sokrates ist dann durch ein primäres Bemühen um die sophia ausgezeichnet, durch die bescheidene Rolle eines Freundes, eines Liebhabers der Weisheit 40 charakterisiert. Diogenes Laertius hat die»Platon nutzte die bereits vorhandene pejorative Bedeutung der Bezeichnung, um mit den Sophisten – eigentümlicherweise nach dem Ableben der großen Persönlichkeiten der Sophistik – generell abzurechnen.« (B. H. F. Taureck, Die Sophisten, 1995, 8) C. C. W. Taylor betont hingegen zu Recht, »daß Platon die Persönlichkeiten der Sophisten ebenso differenziert darstellt wie er ihre Lehren behandelt. Ganz sicher werden sie nicht in einem einheitlichen Ton der Feindseligkeit porträtiert.« (C. C. W. Taylor, Sokrates, 90) 37 G. Böhme merkt dazu an: »Hier [zu Beginn des vierten Jahrhunderts vor Christus] entstanden regelrechte sophistische oder Rhetorenschulen, und auch die Schüler des Sokrates, insbesondere Platon, gründeten feste Institutionen […]. In dieser Situation entstand zwischen den Schulen eine institutionelle Konkurrenz. Erst im Zuge dieser Konkurrenz kam es zu einer Sprachregelung, die Philosophen von Sophisten unterschied.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 44) M. Bordt verschärfend dazu: »Platons Akademiegründung läßt sich geradezu als eine Reaktion gegen den Einfluß der Sophisten verstehen.« (M. Bordt, Platon, 1999, 27 f.) Th. Schirren und Th. Zinsmaier folgern schließlich: »Aus dem Konflikt, der sich […] zwischen den aus der Sophistik übernommenen Konzeptionen des Isokrates und Alkidamas und der der Platonischen Akademie entzündete, ging Platon der Sache nach keineswegs als eindeutiger Sieger hervor, wohl aber hat er erreicht, daß der Begriff der ›Philosophie‹ bei der Nachwelt für seine Bildungsauffassung reserviert blieb.« (Th. Schirren, Th. Zinsmaier, Die Sophisten, 2003, 8–9) 38 Für das platonische Motiv zur Betonung der philia ist festzuhalten: »Immer wenn es in der Philosophiegeschichte galt, den philosophischen Gedanken im Widerstand gegen versteinerte Systeme und ihre Machtansprüche erneut zum Leben zu erwecken, hat man sich an Platons philia-Gedanken erinnert und darauf bestanden, daß Philosophie nicht das Haben von Wahrheit, sondern die ständige Bemühung um die Wahrheit sei«. (H. Schnädelbach, Philosophie, Band 1, 1991, 48 f.) 39 So entsteht nach Platon das Philosophieren auch nicht durch ein Wissen, sondern durch eine spezifisch philosophische Erfahrung, das Staunen. Denn dies ist »der Zustand eines gar sehr die Weisheit liebenden Mannes, das Erstaunen; ja es gibt keinen anderen Anfang der Philosophie als diesen«. (Theaitetos 155c–d) Ähnlich Aristoteles: »Denn Verwunderung (thaumazein) veranlaßte zuerst wie noch jetzt die Menschen zum Philosophieren«. (Aristoteles, Metaphysik, I 3a, 982b13–15 f.) 40 Vgl. Euthydemos, 282d, Lysis 218a, Symposion 203c f., Phaidros, 278d. Doch SoSokratische Selbstsorge
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sen Begriffswandel von Weisheit festgehalten: »Ehedem wurde, was jetzt Philosophie heißt, vielmehr Weisheit genannt, und ein Weiser hieß, wer sich mit ihr berufsmäßig beschäftigte, […] während Philosoph nur einen Liebhaber der Weisheit bezeichnet. Die Weisen wurden aber auch Sophisten genannt« 41. Im Hinblick auf die angestrebte Weisheit ist mit C.-F. Geyer allerdings auf folgende Überlegung aufmerksam zu machen: »Wenn der platonische Sokrates von der ›Liebe zur Weisheit‹ (›philosophia‹) spricht, setzt dies die Existenz einer ursprünglichen Weisheit voraus, die man nicht mehr besitzt – sei es, weil man sie verloren oder doch sich von ihr entfernt hat, sei es, daß sich das ›Projekt Weisheit‹ als nicht durchführbar erwies« 42. Dieser Aspekt bringt die Sehnsucht nach einer verlorenen Weisheit zum Ausdruck, die auch schon Platon in literarischer Form durch seine Dialoge wiederzuerlangen suchte. Und C.-F. Geyer folgert wohl richtig daraus: »Alle spätere Philosophie ist die Fortsetzung und Weiterentwicklung jener literarischen Form der Weisheitssehnsucht, die Platon eingeführt hat.« 43 Platon hat in seinen Schriften die Dialogform vermutlich allein deshalb gewählt, weil er sich der Nachteile einer schriftlichen Niederlegung von philosophischen Gedanken bewusst war. Die Dialogform schwächt die schriftliche Fixierung von philosophischen Gedanken nämlich ab und eröffnet zugleich die Möglichkeit, Gedanken mehr neutral zur Diskussion zu stellen, indem das Gesagte den Dialogpartnern zugeschrieben wird und der Autor damit eine Distanz zum Gesagten einnehmen kann. So bieten die meisten platonischen Dialoge hinsichtlich der darin aufgeworfenen Probleme auch keine fertigen Lösungen an, sondern provozieren vielmehr das eigene Denken darüber. So führt Sokrates dazu aus: »Wer also eine Kunst in Schriften hinterläßt, und auch wer sie aufnimmt, in der Meinung, daß etwas Deutliches und Sicheres durch die Buch-
krates ist auch ein »Liebhaber der Logoi«: »Sokrates bringt zwar von sich aus keine Logoi hervor in dem Sinn, dass er Reden hält, aber er hört gerne Reden anderer und zwingt sie dann in Dia-Logoi.« (A. Dunshirn, Sokrates in der Alterität des Logos, 2010, 154) 41 Diogenes Laertius, I 12. 42 C.-F. Geyer, Die Vorsokratiker, 1995, 15 f. Damit greift C.-F. Geyer Gedanken auf, die schon G. Colli zur Diskussion gestellt hat: »Denn Liebe zur Weisheit bedeutet für Platon nicht, nach etwas noch nie Erreichtem zu streben, sondern sie gilt ihm als der Versuch, dasjenige wiederzuerlangen, was schon einmal realisiert und gelebt worden war.« (G. Colli, Die Geburt der Philosophie, 1990, 13–14 f.) 43 C.-F. Geyer, ebd., 15 f.
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staben kommen könne, der ist einfältig genug« 44. Platon war demnach der festen Überzeugung, dass nur das philosophische Gespräch 45 in der Seele eines Menschen Wirkung zeigen könne. Ein philosophisches Traktat reicht nach Platon zur Vermittlung von Philosophie also nicht aus, denn Philosophie ist für ihn insbesondere Praxis, die, gemäß der Tätigkeit seines Lehrers Sokrates 46, darin besteht, philosophische Gespräche zu führen. Die Frage allerdings, warum Platon einerseits die Nachteile der schriftlichen Fixierung philosophischer Gedanken so ausdrücklich betont und andererseits selbst philosophische Schriften verfasst, wird sehr kontrovers 47 abgehandelt. P. Hadot, Phaidros 275c f. Ebd., 276e–277a und 278a–b. So orientieren sich die Vertreter der Tübinger Schule, zu der vor allem H. J. Krämer, K. Gaiser, T. A. Szlezák und G. Reale gehören, weniger an den platonischen Dialogen, als vielmehr an den Quellen seiner Schüler, vor allem an den Werken des Aristoteles (vgl. Aristoteles, Physik IV 2, 209b15). Ausgehend von Platons Schriftkritik (vgl. Phaidros 274b ff., 7. Brief 341b ff.) und der Deutung, dass die platonischen Dialoge als Werbeschriften für Platons Akademie primär in einem protreptischen Sinn zu verstehen sind, basiert ihre Interpretation von Platon auf der Annahme einer »ungeschriebenen Lehre« Platons, die er nur mündlich in seiner Akademie vorgetragen hat und nicht in seinen Dialogen zu finden ist. Für eine Orientierung an der platonischen Dialogform siehe beispielsweise U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 27 f.; W. Wieland, Das sokratische Erbe: Laches, 1996, 8 f.; J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 52 ff.; M. Bordt, Platon, 1999, 41 ff., bes. 45, 49, 51 f. 46 Den Mythos der totalen Agraphie des Sokrates dennoch ein wenig aufzulösen gelingt D. Thiel, indem er mittels Zeugnissen von Platon (vgl. Platon, Menon, 82a–85b; Politeia 509c ff.) und Xenophon (vgl. Xenophon, Erinnerungen, IV 2, 8–20) seine Behauptung, »daß Sokrates doch, trotz allem, schrieb« plausibel zu machen versucht. (D. Thiel, »Sokrates, derjenige, der nicht schreibt.«, 2005, 107 f.) 47 Auch wenn sich die vorliegende Arbeit an der »Dialogtheorie« von Schleiermacher orientiert und die vorhandenen platonischen Dialoge als die wesentliche Grundlage für ein Verständnis von Platon gesehen werden, ist im Hinblick auf die Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bei Platon dennoch ein kritisches Bild zu bewahren: »Gegen die Vorstellung, irgend etwas Wesentliches, oder gar das Ernsthafteste […] könnte der Mündlichkeit und damit nur wenigen privilegierten Hörern vorbehalten gewesen sein, sträubt sich unser modernes liberales und demokratisches Empfinden. Diese Vorstellung aus Platon herauszubekommen, würde ihn uns näher rücken, ihn in höherem Maße zu einem von uns machen – und das ist ein starkes und in gewissen Grenzen auch berechtigtes Bedürfnis der Interpretation.« (T. A. Szlezák, Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹ : Phaidros,116) Und auf die Gefahr einer allzu hemmungslosen Modernisierung von Platon weist H. Krämer hin, wenn er im Hinblick auf »neuere Interpretationen« richtig erkennt, dass Platon damit »oft ungescheut zum Nominalisten stilisiert und seine Intention damit buchstäblich ins Gegenteil verkehrt [wird].« (H. Krämer, Platons Ungeschriebene Lehre, 1996, 268– 269 f.) 44 45
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der sich der zahlreichen Inkohärenzen in den philosophischen Werken der Antike bewusst war, hat als Ergebnis seiner langjährigen Beschäftigung mit den antiken Philosophen den besonderen Charakter antiker Werke schließlich überzeugend so expliziert: »Diese nämlich sind weniger dazu bestimmt, Informationen über abstrakte Theorien zu vermitteln, als dazu, die Seelen der Schüler zu formen. Niemals sind sie von dem im Rahmen einer Schule geführten philosophischen Leben ablösbar. Sie besitzen daher zahlreiche schulische, pädagogische und methodologische Aspekte« 48.
b.
Über das sokratisch-platonische Philosophieren
Allerdings stützte gerade die griechische Philosophie ihre Aussagen von Anfang an auf ein Wissen und schlug durch die Ausrichtung der sophia auf ein theoretisches Wissen die Richtung einer »Philosophie als Wissenschaft« 49 ein. So ist die Philosophie in Europa auch als Wissenschaft entstanden und die unmittelbar daraus gewonnene Haltung durch das wissenschaftliche Wissen und die logische Denkweise charakterisiert. Und darin unterscheidet 50 sich die europäische Philosophie im Vergleich zu den Denkströmungen anderer Kulturen nicht nur, sondern dieser Unterschied räumt ihr zugleich ihre besondere Stellung 51 heute ein. H.-G. Gadamer hat diese herausragende BedeuP. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 9 ff. In dieser Bedeutung will Philosophie »das Allgemeine, Notwendige und Ewig-Unveränderliche des Kosmos im Medium des Begriffes darstellen […]; es heißt auch und vor allem, daß sie Theorie […] zu sein anstrebte, d. h. getreue Wiedergabe dessen, was an sich ist, ohne subjektive Zutat.« (E. Martens, H. Schnädelbach, Philosophie, Band 1, 1991, 32 f.) 50 H. Noack charakterisiert diesen Unterschied treffend, wenn er für die ostasiatische und indische Philosophie feststellt, dass in diesen Denkströmungen »meist andere Züge überwiegen mögen, die man vielleicht als religiöse Ethik, meditative Mystik und Lebensweisheit charakterisieren könnte und als solche sehr bewundern müßte.« (H. Noack, Einführung in die Philosophie, 1991, 17) 51 J. Mader dazu treffend: »Die wissenschaftlich-technische Zivilisation, die von der europäischen Tradition der Wissenschaftsentwicklung ausgehend sich herausgebildet hat, nimmt innerhalb der Hochkulturen eine exzeptionelle Stellung ein. Sie ist diejenige, die weltweit gilt, durch die die Einheit der Welt im Wirtschaftlichen, Wissenschaftlichen und Technischen konstituiert ist.« (J. Mader, Von Parmenides zu Hegel,1992, 15–16 f.) Doch für diese in Europa herausgebildete Rationalitätsstruktur, welche J. Mader wohl richtig als den europäischen »Sonderweg der Rationalität« betitelt, ist gleichzeitig zu resümieren, dass es nicht so aussieht, als wäre mit ihr auch ihr 48 49
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tung der griechischen Philosophie im Hinblick auf die Moderne ganz klar gesehen, wenn er sagt: »[E]s ist kein Zweifel, dass es die Griechen waren, die durch ihr eigenes Denken eine weltgeschichtliche Entscheidung eingeleitet und den Weg der modernen Zivilisation durch die Schaffung der Wissenschaft entschieden haben.« 52 Wenngleich also festzuhalten gilt, dass die griechische Philosophie durch ihre wissenschaftliche Einstellung zu charakterisieren ist, ist im Hinblick auf die sophia 53 als dem nachgefragten Wissen und Können zu differenzieren. Denn dieses angestrebte Wissen zeichnete sich nicht durch eine ausschließlich theoretische, betrachtende Einstellung aus, sondern war auch von praktischen Erkenntnisinteressen geleitet und von einer handlungsorientierten Einstellung geprägt. Mit dieser sophia war also auch ein Wissen angestrebt, das zur richtigen Lebensführung befähigt, ein praktisches Wissen, das zur Bewältigung der im Leben gestellten Aufgaben dient. Die griechische Philosophie war also mehr als ein ausschließlich von Experten vertretener, rein theoretischer Diskurs. Und gerade Platons Philosophieren 54 ist nicht als ein rein nach theoretischer Erkenntnis ausgerichtetes Bemühen zu deuten. Im platonischen Philosophieren lässt sich vielmehr auch eine praktisch-politische Intention 55 erkennen. Die griechische Philoso-
»praktisches Ziel, die mit der Aufklärung und in der Wissenschaft gesuchte Lebensweisheit, erreicht und das ersehnte Glück erlangt worden.« (Ebd., 20) 52 H.-G. Gadamer, Die griechische Philosophie und das moderne Denken, 1978, 200 f. Inwieweit die Globalisierung der europäischen Zivilisation mit ihrer wissenschaftlichtechnisch orientierten Haltung die gegenwärtige ökologische Krise unserer Welt mit zu verantworten hat, sei an dieser Stelle zumindest zur Reflexion gestellt. 53 Diese sophia befand sich im Spannungsfeld zwischen einem von subjektiven Erkenntnisleistungen möglichst unabhängigem Wissensmodell, so letztlich das ontologische Modell der platonischen und aristotelischen Metaphysik, und einem vor allem praktischen Zwecken dienenden, subjektorientierten Wissensmodell, welches die Sophisten vertraten. 54 Th. Schirren und Th. Zinsmeier bieten daher eine zu wenig differenzierte Sicht auf das platonische Philosophieren: »Seit Platon heißt nur das um seiner selbst willen betriebene Streben nach einer von den Schlacken des Interesses und der Perspektivität gereinigten theoretischen Erkenntnis ›Philosophie‹, nicht ein auf praktisch-politische Wirksamkeit angelegtes, an den je bestehenden Werten und Meinungen orientiertes Bildungsbemühen.« (Th. Schirren, Th. Zinsmaier, Die Sophisten, 2003, 9 f.) 55 Ganz klar erkennen diese Intention beispielsweise M. Erler, Platon, 172 ff. oder U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 24, 32 f., 52 f., 94 ff. Und die wohl ganz allgemeine Grundorientierung dazu liefert K. Bayertz: »Manches in den klassischen Texten von Aristoteles, Platon, […] wird heute nur deshalb nicht als ›angewandte Ethik‹ klassifiziert, weil es längst einen kanonischen Stellenwert erlangt hat, der eine Sokratische Selbstsorge
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phie war eben auch die Kunst, auf eine bestimmte Art und Weise im Leben tätig zu sein. W. Wieland äußert dazu: »Die Philosophie glaubt heute eingesehen zu haben, daß sie sich, will sie nicht der Selbsttäuschung zum Opfer fallen, nicht nur als Doktrin, sondern auch als Tätigkeit verstehen muß. Es ist das sokratische Erbe, das es Platon erlaubt, auch dieser Dimension der Tätigkeit gerecht zu werden.« 56 Oder wie es P. Hadot trefflich formuliert: »Die philosophische Tätigkeit erstreckt sich nicht nur auf das Wissen, sondern auf die eigene Person und das Dasein: Sie ist ein Fortschreiten, das unser Sein wachsen läßt und besser macht« 57. Und in dieser Art von Philosophieren hat Sokrates als erster Haltung und Wirkung gezeigt. So ist sokratisches Philosophieren vor allem Praxis einer philosophischen Lebensform 58, ein besonderer Weg zur Weisheit, der sich insbesondere im Gespräch als Wechselspiel von Frage und Antwort dialogisch vollzieht. Sokrates nähert sich also über die sprachliche Auseinandersetzung der sophia, mit einem an rationaler Argumentation und Gegenargumentation orientierten Gesprächsverfahren, dessen inhaltlicher Mittelpunkt die Frage nach dem guten Leben 59 ist. Dabei sucht er nach einer Antwort, welche das zur Realisierung des guten Lebens erforderliche Handeln Schritt für Schritt begründen kann, strebt also nach einem praktischen Wissen. Dazu bringt Sokrates aber keine inhaltliche Konzeption des guten Lebens im Sinn von allgemein verbindlichen, ethischen Werttafeln hervor. Auf die Frage nach dem guten Leben findet sich bei ihm als Antwort weder ein definitives Wissen im Sinn einer rationalen Letztbegründung, noch unternimmt er den Versuch mit Hilfe eines metaphysischen 60 Prinzips eine allgemein verbindliche Antwort zu konstruieren. Vielmehr dürfte es ein erkenntnistheoretischer Ansatz des sokratischen Philosophierens 61 sein, dass eine Erkenntnis, die das diskursive Denken überschreitet, weder begründet werden kann, noch durch Fundierung in solche Einordung als despektierlich erscheinen läßt.« (K. Bayertz, Praktische Philosophie, 1991, 20 f.) 56 W. Wieland, Das sokratische Erbe: Laches, 1996, 24. 57 P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 15 f. 58 Sogar Platon und Xenophon, die sehr unterschiedliche Portraits von Sokrates liefern, stimmen darin überein, dass das sokratische Philosophieren eine bestimmte Form zu leben ist. 59 Vgl. Gorgias 472c f., 500c f., Euthydemos 282a, Politeia 352d. 60 Vgl. Apologie 29a f. 61 G. Figal dazu angemessen: »Die Sokratische Philosophie ist nicht wissenschaftlich; nie ist es ihr um die Erforschung und Bestimmung der Phänomene zu tun.« (G. Figal,
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Zum Begriff von »Philosophie« in der Untersuchung
einem metaphysischen Prinzip zu gewinnen ist. So beruft sich Sokrates im Zweifelsfall einer Erkenntnis auch eher auf die Instanz seines daimonion 62 als einer Art inneren, göttlichen Stimme oder findet die Erkenntnis in Form der Übereinstimmung (symphonein) mit sich selbst 63. Demnach lässt sich sokratisches Philosophieren am ehesten als eine an der Vernunft 64 orientierte Lebensform charakterisieren, die nach jenen philosophischen Lebensregeln auszurichten ist, die sich in der Praxis unseres Lebens auf Basis einer fortwährend zu vollziehenden kritischen Prüfung bewähren und deren Intention es ist, sich dem Ideal eines vollkommen guten Lebens als Mensch annähern zu können. Für die vorliegende Untersuchung liegt somit ein Verständnis von Philosophie 65 vor, welches den wesentlichen Beitrag des PhilosoSokrates, 2006, 79 f.) Und weiter: »Sokratische Philosophie ist in ihrem Wesen dialogisch geworden, weil das forschende Entdecken unmöglich erschien.« (Ebd., 85 f.) 62 Dieses daimonion als eine Art »göttliche Kraft«, eine Art »innere Stimme« widerfährt Sokrates so, dass sie »jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie.« (Apologie 31d f.; vgl. auch Euthyphron 3b) Das Daimonion erteilt also keinen konkreten Rat und steht auch nicht jederzeit zur Verfügung, sondern drängt sich vielmehr unerwartet als eine Art »göttliche Eingebung« auf, um Sokrates von einer Entscheidung oder Handlung abzuhalten. So hält das daimonion Sokrates auch davon ab, sich aktiv in die Politik einzubringen, denn »um es geradeheraus zu sagen, an keinem etwas Gesundes ist von denen, die den Staat bewirtschaften, und kein Verbündeter zu finden, mit dem einer der gerechten Sache beispringen und doch durchkommen könnte«.(Politeia 496c–d f.) Durch das daimonion »geschieht also die Bewahrung der Philosophie; es ist, wenn man so will für Sokrates der Instinkt, seiner philosophischen Sache treu zu bleiben.« (G. Figal, Sokrates, 2006, 33–34) Vgl. dazu auch G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 141–151; Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 164–168. 63 Vgl. Gorgias 482c f. Im Hinblick auf das Motiv der sokratischen Aufklärung passend: »Er [Sokrates] hinterfragt alle Konventionen und traditionellen Werte im Namen einer praktischen Vernunft, die an deren Stelle treten soll, um die Übereinstimmung oder Eintracht (homónoia) der Menschen untereinander und jedes Menschen mit sich selbst zu garantieren.« (Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 106) 64 Eine an der Vernunft orientierte Lebensform lässt sich häufig nur eingeschränkt sozial verwirklichen, bleibt also meist auf einen ausgewählten Personenkreis beschränkt. Dies allein schon deshalb, weil sie aufgrund ihrer kritischen Grundhaltung zu einer Konsensfindung im quantitativ weitreichenden Sinn eher selten geeignet ist. Und da sie nicht unbekümmert von den Ereignissen im sozialpolitischen Umfeld oder dem allgemeinen Weltgeschehen vollzogen wird, repräsentiert sie eine aktive Lebensgestaltung, die ihren möglichen Wirkungsbereich dadurch zu formen sucht, dass sie in Konfrontation mit ihrer sozialen Umwelt tritt. 65 Die Untersuchung zielt also auf ein Philosophieren, das auf die in seinem Vollzug zu behandelnden Fragen, wie zum Beispiel nach der Selbsterkenntnis, dem guten Sokratische Selbstsorge
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Einleitung
phierens weniger in der Konstruktion 66 von absolut begründbaren, idealen Erkenntnissystemen sucht, sondern dem Philosophieren einen Vorrang einräumt, welches vor allem zur Reflexion grundlegender Aufgaben in unserer Gesellschaft beiträgt. Damit soll gemäß Hegels weit gefasster Bestimmung der Aufgabe von Philosophie, dass nämlich auch die Philosophie »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« 67, zum Ausdruck gelangen, dass Philosophie zur Klärung grundlegender Fragestellungen ihrer jeweiligen Epoche beitragen soll, will sie der kaum zu relativierenden und heute häufig geäußerten Kritik an ihrer mangelnden gesellschaftlichen Relevanz auf Dauer standhalten. Doch das gerade unter den Philosophen die Ansichten darüber, was Aufgabe und Gegenstand der Philosophie ist, welche methodischen Zugänge von ihr zu wählen sind, nach wie vor eine umstrittene Angelegenheit sind, lässt sich weniger als substantieller Mangel an Vertrauen in die eigene Profession ausweisen, als viel eher auf die Vielfalt 68 der wesentlichen Aufgabenstellungen in der Philosophie zurückführen. Und das rechte Maß einer Vernetzung von Philosophie mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu finden, ist zweifelsohne schwierig. Denn diese Vernetzung ist meist von einem grundlegenden Konflikt 69 bestimmt: »Es ist der Widerstreit zwischen einem Fragen nach dem Wahren und dem Leben der Vielen in GewohnheiLeben, also auf so wesentliche wie auch umfassende Fragestellungen im Hinblick auf unser menschliches Dasein, keine definitiven Antworten bieten kann, weil wir uns »mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen«. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 2, 1094b10 f.) 66 P. Hadot treffend dazu: »Die antike Philosophie schlägt dem Menschen eine Lebensform vor, die moderne Philosophie dagegen stellt sich vor allem als Konstruktion einer technischen Sprache dar, die Spezialisten vorbehalten bleibt.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 173 f.) 67 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1986, 26. 68 An dieser Stelle soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass auf zahlreiche Fragen der gegenwärtigen Philosophie bereits seit der Antike, ganz im Sinn einer philosophia perennis, Antworten vorliegen und hinsichtlich ihrer Gültigkeit allgemeine Zustimmung finden. 69 Dieser grundlegende Konflikt rührt vom Selbstverständnis der Philosophie her: »Philosophie, die öffentlich begehrt wäre, könnte der Sache nach nicht die sein, die sie ihrem Selbstverständnis nach zu sein beansprucht hatte und zu sein beanspruchen sollte.« (G. B. Achenbach, Philosophische Lebensberatung. Zur Kritik der auxiliaren Vernunft, 1983, 35 f.) Denn eine populäre Philosophie würde wohl »ihr anstößiges, ärgerliches, irritierendes und unbequemes Wesen abtun, um sich dort den Zugang zu verschaffen, wo ein insistierendes und freies Denken nie willkommen war«. (Ebd.)
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ten, die ein solches Fragen darum unterdrücken, weil diese Gewohnheiten von ihm unterbrochen oder sogar zerstört werden.« 70 Da Sokrates’ Art und Weise zu philosophieren, seine Lebensform, das zur Selbstverständlichkeit gewordene Handeln der Vielen auf seine Wahrheit hin überprüft, wird der durch Gewohnheiten abgesicherte Lebensvollzug der Vielen gefährdet. Denn Sokrates, der sich in seinem philosophischen Leben am Guten orientiert, will zum Nutzen der Athener wie ein Sporn wirken, der »von dem Gotte der Stadt beigegeben ist, wie einem großen und edlen Rosse, das aber eben seiner Größe wegen sich zur Trägheit neigt und der Anreizung durch einen Sporn bedarf, wie mich der Gott dem Staat als einen solchen zugelegt zu haben scheint, der ich euch einzeln anzuregen, zu überreden und zu verweisen den ganzen Tag nicht aufhöre, überall euch anliegend.« 71 Doch dieser Sporn des Sokrates, der die Vielen zu einem guten Leben antreiben will, schlägt nicht selten um in Feindseligkeit: »Die unmittelbare Reaktion darauf ist der Angriff, d. h. die Bekämpfung des Philosophen.« 72 Doch klar ist auch, dass sich die Philosophie aus ihrer Verantwortung gegenüber der sozialpolitischen Umwelt nicht selbst entlassen darf. Vor allem dann nicht, wenn sich ihre große Bedeutung für unser Leben darin zeigen soll, so eine Kernthese dieser Untersuchung, dass sie die Frage nach dem guten Leben als zentrale Fragestellung der Menschen nach einem von Sinn erfüllten, glücklichen Leben dadurch wach hält, dass sie Rechenschaft für unser Handeln in der Welt einfordert.
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P. Trawny, Die Fremdheit der Philosophie nach Sokrates, 2010, 251–252 ff. Apologie 30e–31a. P. Trawny, ebd., 259 f.
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1. Selbsterkenntnis als Grundlage der sokratischen Selbstsorge
1.1 Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen Die Intention sokratischen Philosophierens ist bestimmt als ein »sich um sich selbst sorgen« (heautou epimeleisthai). 73 Bevor diese Sorge 74 um sich selbst beginnen kann, muss jedoch Klarheit darüber bestehen, was der Gegenstand 75 dieser Sorge ist. Die Sorge um sich selbst bedingt also zunächst ein Wissen davon, was das Selbst 76 ist. Sokrates Vgl. Apologie 29e f., 36c; Alkibiades I 127e ff. Mit dieser Sorge ist weniger die emotionale Sorge um die eigene Befindlichkeit gemeint, die häufig durch Ängste hervorgerufen wird, als vielmehr die umsichtige Sorge für sich selbst, die bewusst zu wählen ist und auf die vortreffliche Entwicklung des Selbst zielt. Etymologisch prägnant erläutert diese hilfreiche Unterscheidung von »Sorge um« und »Sorge für« etwa G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 49. 75 Vgl. dazu Alkibiades I 128e–129b f. Das »Selbst«, die »Seele« als Objekt dieser Sorge ist nicht in einem gegenständlichen Sinn zu verstehen, nicht als eigene Substanz zu begreifen, um die man sich wie um den eigenen Körper sorgt. Die Sorge um dieses Selbst bedeutet also nicht, »für etwas, das man in irgendeiner Weise hat, zu sorgen, da ja dann dieses Etwas ›Seele‹ von einem Selbst wieder zu unterscheiden wäre.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 52 f.) Und mit J. Karl ist gedanklich zu erweitern: »Die platonische Bestimmung des Selbst des Menschen als seine Seele begrenzt Selbstbestimmung also keineswegs auf die Seele, sondern betrifft den gesamten Menschen.« (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 101 f.) 76 Was unter dem Begriff des Selbst zu verstehen ist, ist schon grundsätzlich keineswegs eindeutig und über die zahlreichen Versuche seiner Definition ist kaum noch ein Überblick zu bewahren. In der vorliegenden Arbeit wird daher auch nicht versucht, sich dem Phänomen »Selbst« im Sinn einer strengen Wissenschaft zu nähern, sondern durch Auslegen, Deuten und Erforschen hermeneutisch Orientierung gesucht, also auf ähnliche Weise ein Zugang zum Selbst gewählt, wie dies M. Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France über die »Hermeneutik des Subjekts« (1981/ 82) vorgeführt hat. Hermeneutische Orientierung meint aber auch, dass in eine Verständigung über unser Selbst, die durch praktische wie kognitive Verfahren vollzogen wird, ein existentielles Interesse einfließen muss. »Es heißt ein Bild seiner selbst gewinnen, das nicht unser Sein reproduziert, sondern in es eingeht und es mit konstituiert.« (E. Angehrn, Selbstsein und Selbstverständigung, 2009, 176 f.) 73 74
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Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen
sucht dieses Wissen in Anlehnung an die Delphische Forderung des »Erkenne Dich selbst« (gnothi seauton) als Selbsterkenntnis. Die Delphische Selbsterkenntnis als göttlicher Auftrag ermahnte das sterbliche Mängelwesen Mensch primär zur Einsicht, sich seiner menschlichen Grenzen bewusst zu werden und diese auch nicht zu überschreiten. Die Delphische Selbsterkenntnis »zielte nicht auf eine positive Bestimmung dessen, was Selbst ist, eher auf eine negative Bestimmung dessen, was es nicht ist: nicht göttlich. […] und so führte der delphische Spruch zu einem demütigen statt auftrumpfenden Selbstverhältnis, zur Einsicht in die Schwäche, Kleinheit und manchmal auch Erbärmlichkeit des Selbst.« 77 Sokrates’ Auslegung der Delphischen Selbsterkenntnis überschreitet diese Grenze insofern, als er den Anspruch erhebt, das, was der Mensch wesentlich ist oder besser, das, was einen Menschen zu einem guten Menschen macht, auch erkennen zu können. Dieses Erkennen ist für Sokrates aber kein definitives Wissen um das Gute an sich 78, was die Grenze des für Menschen möglichen Wissens eindeutig überschreiten würde. Da sich Sokrates in seinem Wissen des Nichtwissens 79 der unüberwindlichen Grenze zwischen menschlichem und göttlichem Wissen bewusst ist, richtet er sein Erkennen auf das dem Menschen mögliche Gute aus. Gerade deshalb, weil »Sokrates die Grenzen des menschlichen Wissens kennt, hat er auch ein Wissen von der Natur der ›größten‹ Dinge. Der Satz vom Wissen des Nichtwissens deutet an, daß sich das bloß menschliche Wissen übersteigen läßt, ohne derart die Weisheit des W. Schmid, Mit sich selbst befreundet sein, 2004, 79 f. Das Gute an sich wird von Sokrates als ein vollkommen und dauerhaft Gutes vorgestellt und zwar mehr im Sinn einer regulativen Leitidee, weniger als ein evidentes Sein im Sinn eines metaphysischen Prinzips. Und da ihm das menschliche Wissen darüber begrenzt und fehlbar scheint, ist es sein Ziel, ein für den Menschen mögliches Gutsein zu erlangen. Doch die Idee vom Guten an sich ist wesentlich, da nach Sokrates das Gutsein des menschlichen Lebens nicht durch einen besonderen Inhalt, als vielmehr durch seine Form bestimmt wird und erst die Idee als formgebende Instanz gewährleistet, dass der Mensch die ihm zukommende arete angemessen verwirklicht, im Hinblick auf das Gute also richtig handelt, weil er versteht, die Tugenden richtig zu gebrauchen. 79 Das sokratische Satz vom Wissen des Nichtwissens »besagt also einerseits etwas sehr Schlichtes und andererseits etwas ungeheuer Anspruchsvolles: Sokrates versteht sich auf nichts, sofern er keine Kunst, kein Handwerk beherrscht; doch er durchschaut so genau, was das Wissen des Handwerkers oder Künstlers ist, daß ihm auch die Vernebelungen, die falschen Übertragungen dieses Wissens in Bereiche, die von höherem Anspruch als die Handwerke sind, nicht verborgen bleiben.« (G. Figal, Sokrates, 2006, 51 f.) 77 78
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Gottes für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Dieser Überstieg ist Philosophie.« 80 Beim sokratischen Wissen 81 handelt es sich ganz im Sinn der von Sokrates vollzogenen Prüfungen des vermeintlichen Wissens seiner Gesprächspartner »um ein Wissen, das jeder zu haben beanspruchen muß, und daher, sofern er es nicht hat, ständig suchen muß. Denn der Anspruch auf dieses Wissen macht die Seinsweise der menschlichen Existenz selbst aus: es ist das Wissen um das Gute, um die Arete.« 82 J. Hardy hält die Bedeutung dieses menschlichen Wissens als Charakterisierung der Philosophierenden treffend fest: »Wenn wir nach Wissen über das Gutsein und das gelingende Leben streben, dann kümmern wir uns Sokrates zufolge darum, ›möglichst gut zu werden‹ und prüfen deshalb nicht lediglich unsere Meinungen über bestimmte Sachverhalte, sondern auch unsere Handlungsmotive.« 83 Doch die mit der Delphischen Selbsterkenntnis verbundene Geringschätzung menschlicher Weisheit im Vergleich zur göttlichen, nämlich »daß die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts« 84, macht für Sokrates auch eine andere Form der Beziehung mit den Göttern erforderlich. »Denn nun zählt alleine die innere Einstellung, mit der man den Göttern begegnet. Zu dieser gehört das delphische ›Erkenne dich selbst‹ als Bewußtsein eigenen Unwissens, […]. Dazu gehört aber auch die Zuversicht, Wissen – wenn auch mit Mühe – erlangen und dem göttlichen Wissen annähern zu können.« 85 Sokrates erkennt das dem Menschen nicht verfügbare Wissen als göttliche Weisheit und hält für seine menschliche Weisheit fest: »[R]edend Meinungen prüfen und begründen, soweit das für ein menschliches Wissen möglich ist; sich auf anderes, Göttliches berufen, wo wir auf die Grenzen menschlichen Wissens stoßen.« 86 G. Figal, Sokrates, 2006, 53. So kann Sokrates zwar gewiss »als der Wissenwollende beschrieben werden, doch haben das Nichtwissen und der explizite Bezug zu ihm in den Gesprächen, denen er vorsteht, nicht nur Platz, sondern sie nehmen bei weitem den meisten Raum ein.« (A. Dunshirn, Sokrates in der Alterität des Logos, 147 f.) 82 H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 41 f. 83 J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 77 f. 84 Apologie 23a; J. Hardy merkt dazu richtig an: »Dennoch ist auch das menschliche Wissen wertvoll, denn es ist dasjenige Wissen, das wir aus eigener Kraft gewinnen und stetig verbessern können.« (J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 77 f.) 85 M. Erler, Platon, 2006, 76. 86 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 40. 80 81
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Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen
Angewandt auf die sokratische Gesprächsführung, resultieren aus diesem sokratischen Wissen um das eigene Nichtwissen zweierlei Gemeinsamkeiten, um es mit H.-G. Gadamer auszudrücken: »die Gemeinsamkeit des Nichtwissens und die Gemeinsamkeit des Wissenmüssens, d. h. die Einsicht in die Notwendigkeit, einen echten, begründbaren Anspruch auf Wissen erheben zu können.« 87 Dieses sokratische Wissen des Nichtwissens in seiner existentiellen Bedeutung deutlich zu machen, gelingt J. Karl: »Weil das Nichtwissen den Bereich der ethischen Frage nach dem Guten betrifft, wir aber ein existentielles Interesse haben, das Gute wirklich zu wissen, müssen wir nach dem Wissen suchen. Gerade weil unser ethisches Wissen ›nichts wert‹ ist, wird es selbst zur treibenden Kraft für die Prüfung bestehender Wissensansprüche und für die Suche nach diesem Wissen selbst – das Philosophieren.« 88 Die Frage nach dem Selbst, dem Objekt der Sorge, stellt Sokrates vorerst weit über die Erkenntnis des einzelnen Selbst hinaus, als Frage nach dem »Selbst selbst« (auto to auto), 89 das er ausdrücklich als etwas Allgemeines 90 begreift und dessen Erkenntnis er zur Bedin-
H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 47 f. J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 130 ff. 89 Vgl. Alkibiades I 128e, 129b, 130d. Wird diese Frage nach dem »Selbst selbst« metaphysisch verstanden, dann führt sie in den Bereich des »wahrhaft Seienden«, des »An sich« (vgl. Phaidon, 75d) und zielt damit auf die platonische Ideenlehre. Und noch weiter: »Die schon im Alkibiadesgespräch auftauchende Frage nach dem Selbst selbst […] begleitet die ganze abendländische Philosophie und tritt schließlich als Identitätsphilosophie des deutschen Idealismus in ihr Äußerstes.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 56) Eine aufschlussreiche Darlegung der Frage nach diesem »Selbst selbst« bietet J. Karl (vgl. Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 90 f.), indem sie auf die in der Forschung unterschiedliche Interpretation des »Selbst selbst« aufmerksam macht. 90 Sokrates geht es bei dieser Erkenntnis des Selbst nicht um die Erkenntnis von individuellen Stärken und Schwächen einer Person, sondern um eine Art anthropologischer Selbsterkenntnis, die als Antwort auf die allgemeine Fragestellung: Was ist der Mensch? (vgl. Alkibiades I 129e) gegeben werden soll. Vgl. dazu auch Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 72 f. Im Alkibiades I weisen vor allem Begriffe wie Weisheit, Wissen, Klugheit oder Vernunft auf dieses Allgemeine hin. (vgl. Alkibiades I 133b–c, 134e– 135a) Bestimmte sich bei Sokrates also »Selbstsorge noch wesentlich durch Kommunikation und durch den Bezug auf Wissen als ein Allgemeines, so konnte sie naturgemäß später [schon in der Spätantike] zu einer Verstärkung individualistischer und subjektivistischer Tendenzen werden.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 57) So sieht J. Karl in dieser Selbsterkenntnis auch zutreffend »zwei Relationen gleichzeitig vorliegen: zwischen zwei Individuen und zwischen diesen auf ein für beide 87 88
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Selbsterkenntnis als Grundlage der sokratischen Selbstsorge
gung für das Erkennen des einzelnen Selbst 91 macht. Außergewöhnlich beim Erkennen des Selbst ist nun der reflexive Erkenntnisvorgang 92, da das erkennende Subjekt für sich selbst zum Objekt wird. Gerade diese reflexive Struktur bestimmt aber das Wissen von sich selbst (heautou episteme), denn das einzelne Selbst ist Gegenstand und zugleich Ausgangspunkt der sokratischen Selbsterkenntnis, da die Erkenntnis vom Selbst ausgeht und auf das Selbst gerichtet ist. Daher soll der Bedeutung dieser reflexiven Struktur des Wissens, der Selbstbezüglichkeit, näher nachgegangen werden. Zuvor allerdings wird eine kurze Erörterung der Frage nach der »Sorge um sich« bei M. Foucault angestellt.
1.1.1
Exkurs: Foucaults »Sorge um sich«
M. Foucault hat in seinem Spätwerk 93 die »Selbstsorge« zum zentralen Thema gemacht und gilt deshalb im allgemeinen auch als der Philosoph des 20. Jahrhunderts, der die »Philosophie als Lebenskunst« rehabilitiert hat. So nimmt M. Foucault mit seiner Konzeption von Selbstsorge auch konkret Bezug auf die sokratisch-platonische Tradition, sieht den Begriff der Selbstsorge 94 auch erstmals bei Sokrates gleich angenommenes Allgemeines«. (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 150 f.) 91 Für das Erkennen des einzelnen Selbst kritisch in Erinnerung zu bewahren ist: »Was wir ›vor uns‹ haben, ist also zunächst immer das ›phänomenale Selbst‹, dasjenige, das sich uns zeigt, so wie es in Erscheinung tritt, sich bemerkbar macht, sichtbar, hörbar wird, aber eben nicht das Selbst ›selbst‹. Was wir darüber hinaus und dahinter an Selbststrukturen postulieren, […] ist jeweils eine Konstruktion, deren Konstruktionsbedingungen wir zu hinterfragen haben.« (R.-P. Warsitz, Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst, 2009, 237 f.) 92 Durch diesen reflexiven Erkenntnisvorgang verschwimmen die Grenzen des Selbst. Der Versuch einer Definition vom Selbst scheint aufgrund des Reflexionsprozesses zu scheitern. Doch bietet sich dagegen ein »naives Selbstverständnis« hilfreich an: »Das Selbst, konzipiert als ein bewusstes cogito, kann, wenn es über sich selbst reflektiert, sich einerseits in Abgrenzung vom Anderen definieren, als der Mensch, die Person, das Individuum, der, die, das es im Vergleich zu anderen Menschen ist. Und es kann sich als denkendes oder empfindendes Selbst gegenüber seinen naturhaften Bedingungen definieren, also als ein seelisches Phänomen, in Abgrenzung zu den physischen Bedingungen der eigenen Existenz.« (J. Küchenhoff, Die Grenzen des Selbst: der Andere und der Körper, 2009, 272 ff.) 93 M. Foucault, Die Sorge um sich, Sexualität und Wahrheit, Dritter Band, 1989. 94 Ders., Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 6. Januar 1982, Erste Stunde, 2009, 25, 26.
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Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen
auftauchen und preist Sokrates geradezu »als Meister der Sorge um sich« 95. Doch unterscheidet sich seine »Ästhetik der Existenz« im Sinn einer Aufforderung des Subjekts, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten, von der »Ethik der Selbstsorge« im sokratisch-platonischen Sinn. So interpretiert M. Foucault die von Sokrates im Alkibiades 96 aufgeworfene Frage nach dem »Selbst selbst« (auto to auto) so: »Diese Frage bezieht sich also nicht auf die Natur des Menschen, sondern darauf, was wir heute die Frage nach dem Subjekt – dieses Wort befindet sich natürlich nicht im Text – nennen würden.« 97 Foucault geht es nicht um die Bestimmung der wesentlichen Merkmale des allgemeinen Menschseins im Sinn der Frage »Was ist also der Mensch?« 98, sondern darum, »das Subjekt in seiner Unhintergehbarkeit hervortreten zu lassen.« 99 Foucault konzentriert sich bei der Frage nach dem »Selbst selbst« auf das Subjekt der Sorge und betont »vor allem die in gewisser Weise einzigartige, transzendente Stellung des Subjekts in Bezug auf das, was es umgibt, in Bezug auf die Gegenstände, über die es verfügen kann, aber auch in Bezug auf die anderen, zu denen es in Beziehung steht, zu seinem Leib und schließlich zu sich selbst.« 100 Doch mit dieser Betonung des Subjekts der Sorge schafft Foucault letztlich eine Form der Selbstbeziehung, in welcher das »einzelne Selbst« 101 als das Selbst des Individuums den Schwerpunkt bildet und somit unser individuelles Selbst 102 als Kunstwerk generiert wird. Bei der sokratisch-platonischen Selbstsorge geht es
Ders., Die Sorge um sich, Sexualität und Wahrheit, Dritter Band, 1989, 61. Vgl. Alkibiades I 129b. 97 M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 6. Januar 1982, 2. Stunde, 2009, 62 f. 98 Alkibiades I 129e. 99 M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 13. Januar 1982, 1. Stunde, 2009, 81 f. 100 M. Foucault, Hermeneutik des Subjekts, Vorlesung vom 13. Januar 1982, 1. Stunde, 2009, 83 f. 101 Vgl. Alkibiades I 130d. 102 J. Karl merkt dazu an, dass Foucault von einem Gegensatz zwischen Individuum und Allgemeinheit ausgeht, der bei Platon so nicht gegeben ist: »Zwar wendet sich auch Platon gegen eine ungeprüfte Übernahme von Meinungen und Ansprüchen anderer und optiert für die Selbstständigkeit der Urteilsbildung des Einzelnen, aber der Selbstbezug des Individuums bedeutet gerade nicht einen Egoismus, der den anderen ausschließt oder sich gegen diesen richtet, sondern bezieht den anderen mit ein, wovon bereits die platonische Selbsterkenntnis ein augenscheinliches Beispiel ist.« (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 157–158) 95 96
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aber »nicht um eine Konstruktion des Ichs im Sinne eines Kunstwerkes, sondern im Gegenteil um ein über sich selbst Hinauswachsen, oder zumindest doch um eine Übung, mit Hilfe derer sich das Ich in der Totalität ansiedelt und als ein Teil derselben fühlt.« 103 M. Foucaults »Ästhetik der Existenz« kümmert sich zu wenig um die anzustrebende Übung in der Weisheit, den wesentlichen Bezug zum guten Leben und beschränkt sich zu sehr auf Praktiken und Techniken zur Kultivierung eines Selbst, dessen Tugendhaftigkeit in einer Art Selbststilisierung liegt. Somit vernachlässigt er in seiner »Selbstkultur« das für die griechische Ethik so bestimmende Vollkommenheitsideal der Weisheit, das allgemeine Gültigkeit beansprucht: »Anstatt deshalb von ›der Kultur des eigenen Ichs‹ (culture de soi) zu sprechen, sollte man eher von einer Transformation des Ichs, von einem ›Über-seine-eigenen-Grenzen-Hinausgehen‹ sprechen. Um diesen Zustand zu beschreiben, kann man den Begriff ›Weisheit‹ nicht umgehen, der bei M. Foucault, wie mir scheint, selten oder gar nicht auftaucht.« 104 Indem M. Foucaults »Ästhetik der Existenz« die ethische Konzeption vom guten Leben nicht genug berücksichtigt, kommt es zu einer Art machttheoretischer »Konstellation, in der ein sich in der Meisterung der Begierden technisch konstituierendes, selbstmächtiges Subjekt gegen Normalisierungsherrschaft antritt, das in der Disziplinargesellschaft eine Enklave der Freiheit bildet, von der aus das Subjekt sein Leben als ästhetisch stilisiertes, durch moralisch-geistige und körperlich-sexuelle Grenzerfahrungen intensiviertes Selbsterweiterungsprogramm entwickeln kann.« 105 Da in der vorliegenden Arbeit die Aufgabe der sokratisch-platonischen Selbstsorge mehr in einer ethischen Selbstformung im Sinn einer möglichst allgemein überprüfbaren Annäherung an ein dem Menschen mögliches gutes Leben gesehen wird, findet Foucaults Konzeption einer ästhetischen Lebensgestaltung, die mittels spezieller Techniken ein vor allem über den eigenen Körper herrschendes Subjekt schaffen will, welches sich auf Basis dieser Selbstbeherrschung dann ganz frei über den ästhetischen Entwurf eines individuellen Lebenswerkes Sorgen macht, keine weitere Betrachtung.
103 104 105
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P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 180. Ebd., 179 f. W. Kersting, Die Gegenwart der Lebenskunst, 2007, 26 f.
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Die reflexive Beziehung zu sich selbst
1.2 Die reflexive Beziehung zu sich selbst Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen bedeutet vor allem, dass das Ich, das in Beziehung zu sich selbst steht, in dieser Selbstbezüglichkeit in gedankliche Distanz zu sich selbst treten kann. Denn die gedankliche »Selbstdistanzierung versetzt uns in die Lage, unsere Urteile und Wünsche aus einer distanzierten Sicht zu prüfen, Variationen durchzuspielen, mögliche Irrtümer zu berücksichtigen und erst dann eine Entscheidung zu treffen, wenn wir uns sicher sind, alle relevanten, vermeidbaren Täuschungsmöglichkeiten erwogen zu haben.« 106 Erst das Schaffen der Möglichkeit, sich selbst aus der Distanz zu betrachten, sich wie von außen 107 zu sehen, erzeugt die erforderliche Differenz zwischen dem Ich und dem Sich, die es dem Selbst erlaubt, sich zu erkennen, von sich zu wissen. Selbsterkenntnis ist demnach nur möglich, wenn das Ich und das Sich nicht identisch ist. Das Ich und das Sich sind zueinander vielmehr in Beziehung zu bringen: »Die Kreisförmigkeit der Bewegung vom Ich zum Sich und vom Sich zurück zum Ich legt eine Rückkehr zum Ausgangspunkt nahe, tatsächlich ist jedoch ein solches In-sich-Kreisen des Selbstbewusstseins kaum vorstellbar, denn die Rückwendung des Selbst auf sich bleibt für das Selbst nicht ohne Folgen: Im selben Maße, wie es von sich weiss, bleibt es nicht dasselbe.« 108 Diese Vorstellung des sokratischen Selbst in Form der Differenzierung in Ich und Sich darf jedoch nicht als willkürliche Verdoppelung, als unnötige Dualstruktur 109 missverstanden werden. Mit dieser Unterscheidung ist keine grundlegende Trennung zwischen Außen und Innen, im Sinn einer polarisierenden Spaltung von beispielsweise Leib und Seele intendiert. Die mit der reflexiven Rückwendung des Selbst auf sich verbundene Divergenz J. Hardy, Jenseits der Täuschungen, 2011, 355 f. Die Reflexion über sich selbst erfordert die Einnahme solch eines externen Standpunktes, ein Heraustreten aus dem jeweiligen Kontext. Deshalb »verweist Platon den Philosophierenden unablässig auf externe Größen, die Ideen, und deshalb heben Reflexion und Philosophie nach Platon an in der Ekstasis«. (Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986 134 f.) 108 W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 1998, 240 f. 109 Die Form dieser Verdoppelung des Selbst ergibt kein Spiegelbild, sondern stellt eine asymmetrische Selbstverdoppelung dar, bei welcher »der innere Andere als überlegender Partner assoziiert ist, einem Genius oder einem Engel vergleichbar, der sich wie ein geistiger Monitor in der Nähe seines Schützlings aufhält und ihm die Gewißheit vermittelt, ständig gesehen, geprüft und streng beurteilt, im Krisenfall jedoch auch unterstützt zu werden.« (P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 363 f.) 106 107
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Selbsterkenntnis als Grundlage der sokratischen Selbstsorge
zwischen dem Ich und dem Sich soll vielmehr die Möglichkeit gewähren, eine verstärkt objektive Sichtweise zu sich selbst einnehmen zu können. Doch worin liegt der Vorteil, eine möglichst objektive Sicht 110 sich selbst gegenüber einzunehmen? Gerade die reflexive Struktur der Selbsterkenntnis scheint dem Anspruch nach objektiver Erkenntnis 111 aber nicht vollends zu genügen. Ob nämlich etwas seine Wirklichkeit nur in Bezug auf sich selbst haben kann, ist zumindest fraglich und ob es ein Wissen geben kann, das sich selbst zum Gegenstand hat, ist im Hinblick auf die mit dem Erkennen geforderte Objektivität, die intersubjektive Überprüfbarkeit der Gültigkeit von Wissen, durchaus problematisch. Dazu kommt, dass im Gegensatz zur Bestimmtheit jedes Wissens, das sich auf einen konkreten Gegenstand bezieht, das selbstbezügliche Wissen sich gerade nicht auf einen konkreten Gegenstand richtet. Das selbstbezügliche Wissen weist also eine andere Struktur als zum Beispiel das Wissen in den Einzelwissenschaften auf. Während das Wissen in den Einzelwissenschaften durchaus im Sinn der griechischen techne 112 zu verstehen ist, lässt sich das selbstbezügliche Wissen nur bedingt im Modell der techne begreifen, da dieses besondere Wissen sein Ziel nicht außer, sondern in sich hat. Diese Frage stellt sich auch Ch. Horn und sieht nach eingehender Abwägung die Aufgabe eines »objektiven und vernünftigen Selbstbeobachters« darin, »alles das als irrational und als inkonsistent zurückzuweisen, was an Motiven, Impulsen und Neigungen mit der Erhaltung und Erweiterung meiner objektiv verstandenen rationalen Handlungsfähigkeit unvereinbar ist.« (Ch. Horn, Wie plausibel ist die antike Konzeption einer Lebenskunst?, 2007, 120) Vgl. ebd., 123, 136 f. 111 Dieser Anspruch nach einer »objektiven Erkenntnis« ist schon grundsätzlich ein wenig zu relativieren, denn »alle Erkenntnis, auch die des Selbst, ist abhängig vom menschlichen Zugriff, von menschengemachten Instrumenten und Methoden, von der Perspektive und Blickrichtung der jeweiligen Forschung, geleitet von Interessen. Ein außermenschlicher Maßstab der Objektivität steht nicht zur Verfügung.« (W. Schmid, Mit sich selbst befreundet sein, 2004, 85 f.) 112 Der Begriff techne bringt ein praktisches Wissen zum Ausdruck. Das ist ein Wissen, »was man mit ›Kunst‹ übersetzen kann, wenn man dabei nicht primär die ›schönen Künste‹, sondern an die Könnerschaft, die Kunstfertigkeit des Zustandebringens denkt«. (G. Figal, Sokrates, 2006, 48 ff.) Denn: »Das techne-Wissen ist jeweils definiert durch eine bestimmte Aufgabe (ergon), es fragt nach den Schritten zur Erreichung eines vorgegebenen Ziels.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 24 f.) Vgl. ebd., 32 ff. sowie dies., Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 36 f. Und es ist ein Wissen, dass »jedes praktische Können in Verbindung mit einem sicheren und regelgeleiteten Wissen betont und deshalb in ihrem Tun begründbar und lehrbar ist.« (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 175) Vgl. ebd., 128. 110
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Die reflexive Beziehung zu sich selbst
In der vorliegenden Untersuchung wird nun die Annahme der Möglichkeit eines selbstbezüglichen Wissens 113 nicht deshalb getroffen, weil dieses Wissen konsistent denkbar oder gar immer sinnvoll wäre, sondern weil uns erst die vermittelte Differenz zwischen dem Ich und dem Sich erlaubt, das Selbst zu einem Objekt zu machen, auf das sich unsere Erkenntnis richten kann. Von ausschlaggebender Bedeutung dabei ist, dass kein direkter Selbstbezug möglich ist. Daher ist auch das Selbst »zugleich identisch und nicht identisch mit sich selbst: nicht identisch mit sich, weil es sich im Gebrauch eines anderen ›veräußerlichen‹ muss, um überhaupt sein zu können, und zugleich identisch, insofern das Selbst nur in dieser Aktivität zur Wirklichkeit kommt.« 114 Erst diese »indirekte bzw. vermittelte Selbstbeziehung« 115 ermöglicht auch die Entstehung des reflexiven Selbst. Das reflexive Selbst, das über die Fähigkeit verfügt, sich aus der Distanz der gewonnenen Differenz zwischen Ich und Sich zu sehen und so in die Lage kommt, seine Bedingungen und Möglichkeiten zu reflektieren, ist daher die bewusste Abkehr vom unreflektierten Selbst, welches sich durch die fraglose Übernahme bereits etablierter Strukturelemente in unserem Leben, wie zum Beispiel traditioneller Wertvorstellungen und gesellschaftlicher Autoritäten, zur Geltung bringt. Von entscheidender Bedeutung dabei ist, dass das Selbst zwar eine immer schon vorhandene Entität darstellt und auch ein Selbstverhältnis existiert, aber erst durch den Akt der Reflexion ein mehr oder weniger unreflektiertes Selbstverhältnis dem Selbst auch bewusst wird und so das reflexive Selbst in einem reflektierten Selbstverhältnis geschaffen wird. J. Karl resümiert dazu trefflich: »Der Unterschied vor und während des Prozesses der Selbstsorge besteht Der platonische Sokrates ist sich der Problematik eines selbstbezüglichen Wissens sehr bewusst und liefert auch zahlreiche Beispiele aus unterschiedlichen Bereichen, wie beispielsweise der sinnlichen Wahrnehmung, welche die Existenz eines selbstbezüglichen Wissens mit überwiegender Gewissheit in Frage stellen (vgl. Charmides 167c f., 168a–e). Auch er selbst sieht sich nicht imstande, über die Möglichkeit eines selbstbezüglichen Wissens eine Entscheidung zu fällen, doch merkt er an, dass ein »großer Mann« dazu gehört, »um im allgemeinen zu entscheiden, ob gar nichts so geartet ist, seine Eigenschaft auf sich selbst zu beziehen«. (Charmides 169a f.) 114 J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 97 f. 115 Ob Platon im Charmides damit die neuzeitliche Problematik des Selbstbewusstseins in der Weise einer »reinen und unmittelbaren Reflexivität« bereits vorwegnimmt, wird in der Forschung diskutiert. (Vgl. J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 145, FN 69 und M. Erler, Hypothese und Aporie: Charmides, 1996, 26, FN 5) 113
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nicht zwischen ›Nicht-Sein‹ und ›Sein‹ des Selbst, sondern qualitativ in der Bewusstheit und Klarheit seiner selbst und damit in einem reflektierten Selbstverhältnis.« 116 Zudem ist festzuhalten, dass der Mensch zwar grundsätzlich zur Reflexion über sich selbst 117 neigt, aber für die meisten Menschen eher kein unmittelbares Motiv zur Selbstreflexion besteht, da für sie ein vorgegebener Sinnhorizont häufig ausreicht, um Orientierung für sich und in der Welt zu finden und dabei ihre Lebenssituation als subjektiv zufriedenen oder gar glücklichen Zustand erfahren. Es scheint generell so, dass die Selbstreflexion allein von solchen Menschen bewusst unternommen wird, denen ihre faktische Erkenntnis von sich und der Welt, in der sie leben, nicht ausreicht, um ihre wesentlichen Fragen 118 zu beantworten. Denn: »Sich über sich verständigen geht nicht in der Feststellung eines Gegebenen auf. Weder seine [des Menschen] Wesensbestimmung noch sein partikulares Sein sind vorgegebene Bestände. Sich über sich verständigen zielt auf eine Selbstfindung, in welcher Erforschung, Selbstbestimmung, Erinnerung und Deutung sich durchdringen.« 119 Aufgrund der Erkenntnis seiner selbst, bleibt das reflexive Selbst also nicht länger dasselbe, sondern nutzt den gewonnenen Spielraum
J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 100 f. Die Reflexion über sich selbst gehört zum Wesen des Menschen. Durch diese grundlegende Reflexivität unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen: »Er [der Mensch] hat ein Verständnis seiner selbst und verständigt sich über sich selbst. Dies bedeutet nicht einfach, dass er über ein bestimmtes Bild seiner selbst, ein Konstrukt des eigenen Selbst verfügt und in der Vermittlung über dieses Bild sein Leben führt. Es geht nicht um die Rückkoppelung in einem Funktionszusammenhang, die über eine Repräsentation oder ein Schema des eigenen Selbst verläuft […] Es geht vielmehr darum, dass eine Frage aufgeworfen wird – eine Frage in erster Person, die das Subjekt aus sich heraus stellt und in der es sich selbst zum Gegenstand wird.« (E. Angehrn, Selbstsein und Selbstverständigung, 2009, 166 ff.) 118 Für G. B. Achenbach liegt solchen Fragen in Erinnerung an A. Schopenhauer ein metaphysisches Bedürfnis des Menschen zugrunde, weshalb solche Fragen »eben nicht in erster Linie eine Antwort finden, indem sie sich in eine Anweisung ans Handeln oder in den Rat, dies oder das zu tun, verwandeln, und sie sind auch nicht durch den Entschluß, sich selber zu verändern, aus der Welt geschafft, sondern es sind Fragen, die eine gründlich philosophische Erörterung, Besinnung und Bedenken, im genauen Sinn: weitere, womöglich noch entschiedenere, weiter vorgetriebene, philosophischere Fragen hören wollen – und zwar, damit der Ernst, der ihnen zukommt, anerkannt ist.« (G. B. Achenbach, Schicksal und Charakter – Für die Philosophische Praxis ist vieles von Schopenhauer zu lernen, 1994, 431 f.) 119 E. Angehrn, Selbstsein und Selbstverständigung, 2009, 169 f. 116 117
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Die reflexive Beziehung zu sich selbst
zwischen dem Ich und dem Sich, um von sich in einem mehr objektiven Sinn zu wissen. Das reflexive Selbst ist sich seiner selbst daher bewusst und Selbsterkenntnis als dieses reflexive Wissen bedeutet demnach Bewusstheit. Wer über diese Art der Selbsterkenntnis verfügt, ist sich in Bezug auf sein Wissen 120 seiner selbst bewusst. Dieses Bewusstsein ist zunächst ein Akt der Aufklärung, insofern das Wissen in Beziehung zum Wissenden gesetzt wird, und ist als dieser Selbstbezug des Subjekts ein Prinzip von Subjektivität. Zugleich aber ist dieses Bewusstsein durch den Bezug auf Wissen immer auch etwas Allgemeines. Durch dieses Bewusstsein wird letztlich ein reflektiertes Verhältnis zu sich selbst geschaffen, das dazu befähigt, sein eigenes Selbst im Sinn der sokratischen Selbstsorge zum Guten zu wandeln. Zu klären bleibt, wie sich Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen in der alltäglichen Praxis unseres Lebens als hilfreich erweist, wenn auch nicht in einem rein utilitaristischen Sinn. Denn unser Alltag scheint durch ein von Experten 121 bestimmtes Wissen charakterisiert zu sein, in dem klare und eindeutige Antworten auf die uns gestellten Fragen gefordert sind. Wie also Bewusstheit im zuvor genannten Sinn, wenn schon nicht in Form eines definitiv verbindlichen Wissens 122, dienlich sein kann oder gar zur grundsätzlichen Orientierung im Leben beiträgt, wäre nachzuweisen. Wenn nämlich Sokrates im Gespräch mit Charmides zwischendurch festhält: »Und dies ist also das Besonnensein und die Besonnenheit und das Sichselbstkennen, zu wissen, was einer weiß und was er nicht weiß.« 123, dann ist zu bemerken, dass mit der Frage, was Daher hat das sokratische Wissen auch »keinen Was-Gehalt und ist auch kein Tatsachenwissen, kann also nicht durch einen daß-Satz wiedergegeben werden. Der ganze Was-Gehalt, auch das Nichtwissen, steckt im Ich.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 112 f.) 121 An dieser Stelle ist mit U. Wolf auf den so wesentlichen Unterschied zwischen »technischem und ethischem Überlegen« aufmerksam zu machen: »Der Experte in einer techne tut Nützliches bezogen auf die Aufgabe seiner techne. Daß aber heißt nicht, daß sein Tun nützlich oder gut im allgemeinen Sinn ist, bezogen auf das gute menschliche Leben im ganzen ist. Die Reflexion ihrer Zwecke ist nicht selbst Sache der techne, sondern der ethischen Überlegung.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 106) 122 Dazu ist anzumerken, dass die für unser Leben nicht gering zu bewertende Sinnfrage als eine an Bewusstheit gekoppelte Einsicht nicht allein durch Wissen zu beantworten ist, sondern auch durch die existentielle Haltung und die ethischen Motive eines Menschen im Leben geprägt wird. 123 Charmides 167a f. 120
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etwas ist 124, nach dem Inhalt dessen, das ist, gefragt wird, also nach der Definition einer Sache oder gemäß Sokrates, nach dem, was den Inhalt einer Sache wesentlich bestimmt. Wie aber leistet die Selbsterkenntnis als ein reflexives Wissen solch eine inhaltliche Bestimmung? Sokrates konstatiert ja scheinbar auch, dass die Selbsterkenntnis aufgrund ihrer reflexiven Struktur das gerade nicht leisten kann, wenn er feststellt, dass die Selbsterkenntnis nicht auf ein was, sondern lediglich auf ein dass des Wissens 125 bezogen ist. Lediglich zu wissen, dass es ein Selbst gibt, reicht jedoch zur inhaltlichen Bestimmung des Selbst nicht aus. So würde die Selbsterkenntnis, in einem ontologisch radikalen Sinn verstanden, auch gar keine Möglichkeit mehr zur Unterscheidung zwischen Sein und Nichtsein bieten. Erkenntnis lässt sich also nur dadurch näher bestimmen, dass man nach dem Inhalt des Erkennens fragt, also danach, wovon sie Erkenntnis ist, nach dem Gegenstand der Erkenntnis. Lediglich zu wissen, dass es ein Selbst gibt, reicht zur Bestimmung des guten Selbst als der menschlichen arete wohl kaum aus.
1.3 Zur Besonnenheit als guter Verfassung des Selbst Für Sokrates zeichnet sich das gute Selbst im Erkennen und Erlangen der spezifischen Tugend der menschlichen Seele (psyche), der arete aus, wobei die der Seele zukommende Tugend dann angemessen verwirklicht ist, wenn Besonnenheit 126 (sophrosyne) ihre Verfassung bestimmt. Sokrates sieht in dieser Besonnenheit mehr als eine klassiMit der Frage, was etwas ist, zum Beispiel der Frage: Was ist Gerechtigkeit?, fragt Sokrates nicht nach der Bedeutung des Wortes Gerechtigkeit. Er fragt also nicht nach einer Definition im Sinn einer Worterklärung und will auch nicht an einzelnen Beispielen erklärt bekommen, was Gerechtigkeit ist. Sokrates fragt vielmehr nach dem Wesen der Gerechtigkeit, nach einer Definition mehr im Sinn einer Sacherklärung, also danach, was einen gerechten Menschen zu einem Gerechten macht beziehungsweise danach, wodurch alle gerechten Menschen gerecht sind. »Die sokratische Frage setzt damit einen Schnitt ins Sein. Es wird Wesentliches und Unwesentliches geschieden: Was etwas ist, das ist sein Wesen.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 109 f.) Und diese Frage nach dem Wesen »wird jeweils dann wach, wenn dasjenige, nach dessen Wesen gefragt wird, sich verdunkelt und verwirrt hat, wenn zugleich der Bezug des Menschen zu dem Befragten schwankend geworden oder gar erschüttert ist.« (M. Heidegger, Was ist das – Die Philosophie?, 2003, 11 f.) 125 Vgl. Charmides 169e–170d. 126 Vgl. Gorgias 507a f. 124
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sche Tugend 127. So bestimmt er die Besonnenheit als Fähigkeit zur Selbstbeherrschung: »[B]esonnen sein und seiner selbst mächtig, die Lüste und Begierden, die jeder in sich hat, beherrschend.« 128 Dies ist einsichtig, da in einem von Affekten und Begierden bestimmten Leben Urteile weder neutral gefällt noch wahrgenommen werden. Und Selbstbeherrschung »ermöglicht nicht nur, dass sich die intellektuellen Vermögen ungestört von den auf das Angenehme ausgerichteten Begierden betätigen können, dass ich meine besten Kräfte auch in Anspruch nehmen kann, sondern die Leitung der Begierden durch die Vernunft ist gleichfalls die Voraussetzung für ein Handeln nach eigenen Einsichten.« 129 Aber Sokrates strebt kein von Begierden und Affekten befreites, asketisches Leben an. Seine Intention ist vielmehr, dass unsere Begierden und Affekte als in unserem Leben existentiell verankerte Komponenten so zu formen sind, dass sie in der Ordnungsstruktur eines reflektierten Lebens einen bestimmten Platz einnehmen und nicht, die Ordnung übergehend, willkürlich zur Wirkung gelangen. Denn wer »gesund mit sich selbst umgeht und besonnen«, schließlich »zum Bewußtsein seiner selbst gekommen ist, das Begehrliche aber hat er weder in Mangel gelassen noch überfüllt«, der hat letztlich »mit der Wahrheit vorzüglich Verkehr« 130. Weiter zeichnet sich für Sokrates die besonnene Seele durch eine bestimmte Ordnung 131 aus. Denn: »Die Tugend eines jeglichen Dinges […] so auch einer Seele und jegliches Lebenden, findet sich nicht von ungefähr aufs schönste herzu, sondern durch Ordnung, richtiges Verhalten und die Kunst, welche eben einem jeden angewiesen ist.« 132 Ist demnach die Struktur der menschlichen Seele geordnet, dann herrscht die Im Hinblick auf den Dialog Charmides zeigt sich das »schon darin, daß sie [die Besonnenheit] als Erfüllung der delphischen Forderung des ›Erkenne-dich-selbst‹ verstanden wird, daß Sophrosyne als reflexives Wissen (episteme epistemes) definiert wird, daß dieses als ein Vermögen der Wissensprüfung bezeichnet wird.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 112 f.) Und er weitet aus: »Bei Sokrates wird die Besonnenheit zum Gutsein schlechthin, weil sie sich als Bewusstsein des Wissens bzw. Nichtwissens erweist.« (Ebd., 113) 128 Gorgias 491d f. 129 J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 207. 130 Politeia 571d f. 131 Diese Ordnung meint den seelischen Zustand eines Menschen und dieser wird »beim gerechten Menschen ein Zustand innerer Ordnung und Harmonie sein, beim ungerechten ein Zustand von Maßlosigkeit und Zerrissenheit.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 104) 132 Gorgias 506d f. 127
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Vernunft über die Begierden und verschafft der Seele »eine Gesundheit und Schönheit und ein Wohlbefinden« 133. Doch auf welche Art und Weise lässt sich diese von der Vernunft beherrschte, geordnete Struktur in der menschlichen Seele schaffen? Nach Sokrates wird diese vernünftige Seelenstruktur durch die kontinuierliche Ausübung einer Reihe von gedanklich abstrahierenden Schritten geschaffen, die nach und nach all das, was für unser Selbst nicht wesentlich ist, von unserem Selbst ablösen, so dass am Ende dieser gedanklichen Reduktionskette die Schritt für Schritt konstituierte Instanz des sokratischen Selbst in Form einer vernünftigen Seelenstruktur geschaffen wird. Jeder gedanklichen Abstraktion liegt dabei die sokratisch grundlegende Unterscheidung zwischen dem Gebrauchenden (chromenos) und dem, was dieser gebraucht (chresthai) 134, zugrunde. Dabei nimmt der Gebrauchende insofern die Vorrangstellung ein, da er über das zu Gebrauchende instrumentell verfügt. Dabei ist das, was für unser Selbst nicht wesentlich ist, zunächst all das, was der Gebrauchende letztlich instrumentell benutzt. So führen die gedanklichen Abstraktionsschritte zum Erkennen einer Struktur der menschlichen Seele in Form instrumenteller Abhängigkeitsverhältnisse und bringen damit eine Art hierarchisches Ordnungssystem 135 hervor, an dessen Ende das Selbst als Instanz einer inneren Herrschaft steht. Diese Erkenntnis einer instrumentellen Verfügung, zum Beispiel der Seele über den Leib, bringt die gewünschte Ordnung in der Seele hervor. Doch das Wissen über die Politeia 444e. Und wenngleich gemäß der sokratisch-thrakischen Heilkunst die Seele gegenüber dem Körper vordringlich zu behandeln ist (vgl. Charmides 157a f.), so muss doch jeder Mensch für ein Gleichgewicht zwischen seelischer und körperlicher Betätigung sorgen, wenn er mit »Fug und Recht den Namen sowohl eines Schönen als eines Guten beanspruchen will.« (Timaios 88c f.) Die sokratisch-platonische Lehre ist daher kein »Dualismus in dem Sinne, daß etwa die Seele gut und der Leib böse ist. Der Körper und seine Begierden bedürfen der Lenkung und Integration durch die Seele. Kommt es zum Aufstand des Körpers gegen die Seele und sucht das Begehren sein Wohl auf eigene Faust, dann ist Zerrüttung die Folge, und auch das losgelassene Begehren wird am Ende das Wohlergehen nicht finden, das es gesucht hatte.« (R. Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, 1997, 43 f.) 134 Vgl. Alkibiades I 129c ff. 135 Die hierarchische Ordnung skizziert W. Wieland verständlich so: »Da nun die Kunst, ein Ding herzustellen, nicht mit der Kunst zusammenfällt, es richtig zu gebrauchen, und da man andererseits bei der kunstgerechten Herstellung eines Dings wiederum von anderen Dingen Gebrauch machen muß, ist es möglich, am Leitfaden der Gebrauchsrelation eine hierarchische Ordnung der einzelnen Künste zu entwerfen.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 177 f.) 133
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instrumentellen Abhängigkeitsverhältnisse ist nicht allein für die geordnete Struktur der menschlichen Seele maßgebend. So unterscheidet Sokrates im Euthydemos zwischen einem Wissen, das etwas hervorbringt, zum Beispiel das Wissen zum Bau einer Flöte und einem Wissen, das sich zum Gebrauch des Hervorgebrachten eignet, zum Beispiel das Wissen zum Spielen einer Flöte. Und zwischen diesen Formen des Wissens besteht eine bedeutsame Relation, die er folgendermaßen formuliert: »Ebensowenig, […] werden die übrigen Erkenntnisse uns zu etwas nutz sein, weder die Erwerbskunst noch die Heilkunst, noch sonst irgendeine, welche etwas hervorzubringen weiß, nicht aber auch das zu gebrauchen, was sie hervorgebracht hat.« 136 Demnach scheint das bedeutsamere Wissen das zu sein, welches den richtigen Gebrauch 137 bestimmter Inhalte ermöglicht und nicht das Wissen, welches bestimmte Inhalte nur hervorbringt. Ist also ein praktisches Wissen, welches den Gebrauch von bereits Vorhandenem ermöglicht, bedeutsamer als ein Wissen, das nur Neues hervorbringt? Auf diese Frage läßt sich mit Sokrates antworten: »Einer solchen Erkenntnis also bedürfen wir, […] in welcher das Hervorbringen und das Gebrauchenwissen des Hervorgebrachten beides zusammenfällt.« 138 Für Sokrates sind also beide Arten von Wissen erforderlich, um zur rechten Erkenntnis im Sinn der Philosophie zu gelangen. Und für die geordnete Struktur der menschlichen Seele bedeutet dies, dass allein der richtige Gebrauch unserer Erkenntnis über die instrumentellen Abhängigkeitsverhältnisse eine vernünftige Seelenstruktur erzeugt. Ist die Struktur der menschlichen Seele hingegen nicht geordnet, unterliegt die Vernunft also den Begierden, dann ist die Struktur der Seele als eine Auflösung von Ordnung zu charakterisieren und ihre Verfassung als »Krankheit und Häßlichkeit und Schwäche« 139 zu bestimmen. »Die Ordnungen aber und Bildungsvorschriften für die Euthydemos 289a f. W. Wieland dazu prägnant: »Der Inhaber des jeweiligen Gebrauchswissen ist es also, dem sich derjenige unterordnen muß, der ein Werkzeug zwar herstellt, aber nicht selbst gebraucht.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 146 f.) Denn im Hinblick auf eine Beurteilung des zu Gebrauchenden ist ganz klar: »Wer eine Sache zu gebrauchen versteht, wird ihr in höherem Maße gerecht, als wer sie nur herstellen kann oder sie gar nur besitzt.« (Ebd., 176 ff.) Vgl. dazu Politeia 601d–602a, Phaidros 274e, Kratylos 390c. 138 Euthydemos 289b f. 139 Politeia 444e. 136 137
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Seele sind […] Gerechtigkeit und Besonnenheit.« 140 Über Besonnenheit zu verfügen meint daher, eine seelische Verfassung zu haben, die ein maßvolles Verhalten ermöglicht, indem wir übermäßige Begierden und Affekte im Griff haben und diese uns nicht einfach und jederzeit aus den geordneten Bahnen unseres Lebens werfen können. Besonnen ist nach Sokrates aber nur der, welcher »sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist« 141. U. Wolf entsprechend dazu: »Die Freundschaft mit sich selbst ist das, worum es Sokrates letztlich geht. Gemeint ist damit die Harmonie der Seele, die Besonnenheit als vernünftiger Umgang mit der Affektivität.« 142 Denn »die Besonnenheit, die sophrosyne, ist in einer ihrer Grundbedeutungen gerade das Bei-Sinnen- oder Bei-Verstand-Sein, das heißt, diejenige ethische arete, die ein ungetrübtes praktisches Urteil ermöglicht.« 143 In diesem Sinn bedeutet Besonnenheit, dass sich unser Handeln nicht allein an einer durch Wissen erworbenen ethischen Erkenntnis orientieren kann, welche letztlich immer nur bedingt seine Gültigkeit besitzt, sondern dass unser Handeln auf einer durch Reflexion gewonnenen ethischen Haltung basieren muss. Diese Haltung ist kein bloßes Wissen darüber, ob ein Handeln ethisch richtig oder falsch ist, also kein primär theoretisches Wissen, sondern ein praktisches Wissen 144, welches sich in der Praxis des Lebens dadurch bewährt, dass unser Handeln im Hinblick auf die laufenden Veränderungen im Leben nicht einfach willkürlich und rein situationsbedingt erfolgt, sondern sich an einer durch Übung 145 gefestigten, inneren Gorgias 504d f. Politeia 443d f. 142 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 135 ff. 143 Ebd., 99 ff. 144 Das praktische Wissen »ist kein Wissen, das beispielsweise der Leser von Platons Schriften oder irgendwelchen anderen Schriften dann erwirbt, wenn er irgendwelche dort mitgeteilte Sätze zur Kenntnis nimmt. Selbst bei der Kenntnis der korrekten Definition einer der Tugenden, gesetzt den Fall, sie wäre gefunden, würde es sich um etwas anderes als um das gesuchte praktische Wissen handeln. Jeder Lehrgehalt, den man aus Platons Dialogen über diese Dinge herauspräparieren kann, ist im günstigsten Fall nur eine Theorie über dieses praktische Wissen, nicht aber dieses praktische Wissen selbst.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 259 f.) 145 P. Sloterdijk hat in Erinnerung an den platonischen Sokrates (vgl. Politeia 431a–b) diese auf Besonnenheit zielende Übung als das Sichtbarwerden eines inneren Gefälles im Menschen charakterisiert und wie folgt richtig festgehalten: »Es gibt offenbar ›im Menschen selbst‹ (en auto to anthrópo) hinsichtlich seiner Seele (peri ten psychèn) ein Besseres und ein Schlechteres. […] Herrscht nun das von Natur aus (physei) Bessere über das Schlechtere, so nennt man das Stärkersein als man selbst oder Über140 141
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Einstellung als einer ethischen Haltung 146 orientiert. Nun wird die Verfassung einer menschlichen Seele aber eher selten von solch einer Besonnenheit bestimmt; viel häufiger befindet sich unsere Seele in einem mehr oder weniger diffusen Zustand oder gar im Chaos. Dieser Seele fehlt dann die entsprechende Verfassung, die nach Sokrates Bedingung ist, um ein gutes Selbst ausbilden zu können. Wie aber ist eine gute Verfassung unseres Selbst, eine Heilung unserer Seele zu erreichen? Die Seele wird von Sokrates als das wahre Selbst des Menschen, als innere Instanz des Menschseins begriffen, welche als ein komplexes System von Meinungen zu verstehen ist, das meine Person wesentlich bestimmt und das im Umgang mit dem logos 147 gebildet wird. »Die menschliche Seele wird also nicht als Objekt einer psychologischen techne verstanden, sondern als dasjenige im Menschen, was wesentlich logoi verstehen kann.« 148 Für die Herausbildung einer seelisch guten Verfassung ist es daher entscheidend, dass unsere Seele den logos auch richtig verstehen und gebrauchen kann. Nach Sokrates ist dazu eine Behandlung der Seele erforderlich und zwar »durch gewisse Besprechungen, und diese Besprechungen wären die schönen Reden [logoi kaloi]. Denn durch solche Reden entstehe in der Seele Besonnenheit« 149. Die arete der menschlichen Seele ist also »nicht legenheit über sich selbst und lobt dieses Verhältnis, wie es sich gehört. Kommt es aber umgekehrt dahin, daß das Schlechtere, das zugleich das Zahlreichere ist, das Bessere, das naturgemäß kleiner ist, überwältigt, so spricht man von Schwächersein als man selbst oder sich selbst unterlegen Sein und tadelt es dementsprechend.« (P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 261 f.) 146 In diesem Sinn ist besonnen »allerdings noch nicht, wer lediglich hin und wieder zur Selbstkontrolle fähig ist. Besonnen ist erst, wem das Sich-selbst-überlegen-sein zu einer Grundhaltung geworden ist: zu einem charakterlichen Können, zu jener Einstellung und Kompetenz, die man sich früher einmal arete, virtus oder sittliche Tugend zu nennen traute.« (O. Höffe, Personale Bedingungen eines sinnerfüllten Lebens, 1992, 414 f.) 147 Diesen logos in seinem Wesen zu charakterisieren gelingt W. Ries: »Der Logos im sokratischen Denken muss in seiner dynamischen Bewegtheit gedacht werden. Das durch ihn Gewonnene kann auch wieder verworfen werden, wenn festgestellt wird, dass es seinen wahren Zweck, die Erkenntnis der inneren Natur der ethischen Sphäre des Handelns, nicht erfüllt.« (W. Ries, Die Philosophie der Antike, 2005, 55) 148 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 98 f. 149 Charmides 157a f. Die Behandlung der Seele ist die elenktische Praxis des Sokrates. Und für den Bereich der Ethik bedeutet diese Behandlung, dass es in keiner Situation für unser Handeln fertige Tafeln ethischer Normen gibt, sondern ethische Vorstellungen durch den elenchos immer wieder neu zu gewinnen sind. Sokratische Selbstsorge
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Selbsterkenntnis als Grundlage der sokratischen Selbstsorge
ohne Weiteres gegeben, sondern die der Seele eigentümliche Ordnung ist ein von uns selbst Hervorzubringendes, wozu es offentsichlich eigener Bemühungen und sogar einer dafür zuständigen τέχνη bedarf.« 150 Doch ist das Erlangen eines richtigen Verständnisses, der richtige Gebrauch des logos für uns Menschen gar nicht vollends möglich, denn der logos »ist die praktische Rede, die sich auf das gute Leben im ganzen bezieht. Dieses Ganze eines guten Lebens aber ist komplex und nicht vollständig in Sätzen formulierbar« 151. Und da unsere Seele zugleich auch Spielwiese unserer Affekte und Begierden ist, gelangt der logos zudem nicht immer zur Deutlichkeit im Sinn sachbezogener Urteile. So gelangt nach Sokrates der logos auch nur auf dem Fundament einer kritischen Selbstprüfung 152 zur Deutlichkeit und führt die Reflexion über den logos nur zu vorläufig richtigen Erkenntnissen über das, was gut ist. Doch mit dem einsetzenden Prozess einer kontinuierlichen Selbstprüfung wird eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Anschauungen entwickelt und damit allmählich die Basis für die seelische Verfassung eines guten Selbst geschaffen. Dabei ist die sokratische Besonnenheit als der zentrale, ethische Leitgedanke zu verstehen und das bislang nicht widerlegte Wissen zu einem Thema dient zur inhaltlichen Orientierung 153 und zwar im Sinn eines widerspruchsfreien Satzzusammenhanges. Doch ist diese Besonnenheit im Hinblick auf die Selbsterkenntnis als ein inhaltliches Wissen zu charakterisieren? Wenngleich Sokrates gelegentlich sogar den Eindruck vermittelt, um die grundlegenden Werte des Lebens zu wissen 154, sein methodisches Suchen mit dem inhaltlichen Finden von Antworten also J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 205 f. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 98 f. 152 Daher erreicht auch die dialogisch praktizierte Elenktik ihr angestrebtes Ziel, nämlich die Ausrichtung des Menschen nach der Wahrheit, am ehesten dann, wenn sie auf eine schon geordnete, weil geprüfte Seelenstruktur des Gesprächspartners trifft. Oder anders formuliert: je geordneter die Seelenstruktur eines Menschen bereits ist, desto leichter gelangt der logos zur Deutlichkeit im Sinn sachbezogener Urteile. 153 Bei dieser Orientierung an den besten Logoi handelt es sich »um ein problematisches, um ein nichtwissendes Wissen des Philosophen, welches allerdings auf der Erfahrung basiert, dass anderslautende Behauptungen offenbar falsch sind.« (P. Trawny, Die Fremdheit der Philosophie nach Sokrates, 2010, 256 f.) Vgl. auch Gorgias 509a. 154 Denn in einigen Dialogen, »insbesondere dem Protagoras und Gorgias, weicht die fragende Einstellung einem bestimmteren Ton.« (C. C. W. Taylor, 1998, 57 ff.) So exemplarisch, wenn Sokrates sich als Experte der wahren Staatskunst ausgibt. (vgl. Gorgias 521d f.) 150 151
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Zur Besonnenheit als guter Verfassung des Selbst
zusammentrifft, fördert sein Philosophieren tatsächlich vielmehr die Einsicht, dass das Wissen vom guten oder richtigen Leben eben kein bestimmtes Wissen, kein bestimmter Inhalt ist, sondern vielmehr Bewusstheit 155. Das liegt daran, dass das Wissen, welches Sokrates für sich beansprucht, eben kein reines Satzwissen im Sinn eines definitorischen Wissens ist, welches vor allem Anleihe beim theoretischen Fachwissen nimmt, sondern vielmehr ein Gebrauchswissen 156, das sich mehr durch menschliche Haltung und Erfahrung auszeichnet und primär in der praktischen Anwendung bewährt. Sokratische Bewusstheit ist daher als Erkenntnis einer fehlenden Ordnung in der eigenen Seele zu verstehen, die Feststellung einer gewissen Willkürlichkeit der Gesetze, nach denen ich handle. Diese Bewusstheit ist für Sokrates weder ein abschließbarer Wissensinhalt, noch durch ein spezifisches Wissen vermittelbar, sondern Reflexion der eigenen Lebenspraxis 157 und als diese Selbstreflexion 158, welche die Person in all ihren Bezügen zum Leben zu berücksichtigen sucht, vor allem methodisch zu steuern. Im elenktischen Verfahren der sokratischen Selbstsorge soll nun gezeigt werden, auf welche Art und Weise Sokrates diese Bewusstheit bei seinen Gesprächspartnern zu generieren und zu steuern suchte.
G. Böhme charakterisiert diese Bewusstheit treffend als eine Organisationsform des ganzen Menschen: »In bezug auf die Wissensbestände ist Bewußtheit das Mitwissen um den eigenen Zustand des Wissens oder der Unwissenheit, in bezug auf die Emotionen ist Bewußtheit die Instanz der Selbstbeherrschung, in bezug auf den Körper das Aktzentrum, das ihn zur Einheit zwingt und als Instrument gebraucht.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 124 f.) 156 Dieses Gebrauchswissen ist ein sogenanntes »nichtpropositionales Wissen«, ein Wissen »das in strengem Sinne weder objektivierbar noch mitteilbar ist, das unmittelbar keinen Gegenstand intendiert und daher nicht irrtumsfähig ist, das als Dispositionseigenschaft stets mit der Instanz eines Inhabers verbunden ist und das gerade deshalb seinem Inhaber auf unvertretbare Weise Wirklichkeit erschließt.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 233 f.) 157 Im Laches wird diese Erinnerungsarbeit auch als Besonderheit der sokratischen Gesprächsführung erwähnt. Vgl. Laches 188a f. 158 Daher wird man auch der Tugend der Besonnenheit nicht gerecht, »wenn man in ihr nur eine Eigenschaft sieht, mit der ihr Träger ausgestattet ist. Denn der Besonnenheit ist auch ein Reflexionsmoment eigen. Sie muß stets von einem spezifischen Wissen ihres Trägers getragen sein: Man kann nicht besonnen handeln, ohne sich dessen bewußt zu sein«. (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 262) 155
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2. Zum elenktischen Verfahren der sokratischen Selbstsorge
2.1 Prüfung und Widerlegung scheinbaren Wissens Das elenktische Verfahren der sokratischen Selbstsorge ist insbesondere der dialogisch orientierte Vollzug 159 einer Prüfung des vermeintlichen Wissens seiner Gesprächspartner. Dahinter steht die grundlegende Absicht, anderen bei der geistigen Entbindung ihrer Gedanken zu helfen, weshalb Sokrates sein Philosophieren auch als Mäeutik (Mäeutike), als Hebammenkunst 160 bezeichnet. Sokrates geht bei der Prüfung des vermeintlichen Wissens seiner Gesprächspartner nun so vor, dass er von einzelnen Erfahrungen, Vorstellungen oder Meinungen der Befragten ausgeht, diese durch die Einführung weiterer Begriffe ergänzt und dann, immer mit der Zustimmung der Gesprächspartner, zu verallgemeinern 161 sucht. Bei dieser Verallgemeinerung stellen sich allerdings begriffliche Widersprüche ein, Ein hilfreiches Modell zum Verständnis der einzelnen Phasen in der sokratischen Dialogführung bietet beispielsweise H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 18. 160 Sokrates war der Sohn einer Hebamme, nämlich »einer sehr berühmten und mannhaften, der Phainarete«. (Theaitetos 149a) Und Sokrates hat seine Hebammenkunst auch ausführlich erläutert (vgl. Theaitetos 148e–151d). Die Mäeutik kann demnach als eine Methode der Gesprächsführung charakterisiert werden, die zunächst durch gezielte Fragen, die meist unreflektierten Denkweisen der Gesprächspartner erschüttert und so zur Einsicht der Gesprächspartner in das eigene Nichtwissen führt. Auf Basis dieser Einsicht wird dann durch weiteres Fragen das selbständige Denken beim Gesprächspartner angeregt, so dass dieser letztlich auch selbständig Wissen produzieren und in eigener Verantwortung Erkenntnis erlangen kann. 161 Didaktische Zielsetzung dieser sokratischen Praxis ist: »Sie [die Philosophie] soll beim Einzelfall ansetzen und von da aus induktiv zum Allgemeinen weitergehen – bei Begriffen abstraktiv von der Merkmalsanalyse einzelner Instanzen oder Instanzengruppen zur Definition, bei erkenntnistheoretischen Fragen von der Klärung der Erkenntnismodi beim singulären Urteil zum allgemeinen Prinzip, bei ethischen Problemen von der Kasuistik des Einzelfalls zur allgemeinen Regel.« (D. Birnbacher, Philosophie als sokratische Praxis, 2002, 149 f.) 159
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Prüfung und Widerlegung scheinbaren Wissens
treten Unklarheiten im Hinblick auf das Meinungssystem der Befragten auf. Gerade im Hinweis auf solche Widersprüche, in der Befreiung von falschen Annahmen liegt das besondere Vermögen der sokratischen Prüfung, nicht in der Lösung von konkreten Problemen oder gar im Beweis einer Wahrheit. 162 Dieses Widerlegen geschieht zwar im Nachweis der Überlegenheit des sokratischen Wissens als einem eingestandenen Nichtwissen gegenüber dem scheinbaren Wissen seiner Gesprächspartner, doch hat dieses Widerlegen 163 nicht das Motiv der Bloßstellung, der Demonstration der Unfähigkeit der Gesprächspartner zum erklärten Ziel. Die Haltung des Sokrates beim Vollzug des elenchos besteht vielmehr darin, die Gesprächspartner ihre Unwissenheit über das, worüber sie so sicher und selbstverständlich reden, selbst erfahren zu lassen. Aufgabe der sokratischen Widerlegung ist, die Gesprächspartner zunächst zur Einsicht zu bringen, dass ihr Anspruch auf Wissen deshalb nicht berechtigt ist, weil er der kritischen Überprüfung nicht standhält. Denn bei der Durchführung seiner Prüfung orientiert sich Sokrates am jeweils besten logos 164, also an der sachlichen Argumentation 165, die sich in der Gesprächsführung am besten bewährt, da sie jeder kritischen Prüfung standhält und sich in möglichst allgemeine Definitionen fassen lässt. Damit wird zwar kein absolutes, aber ein vorläufig adäquates Wissen über ein Thema gewonnen, da die Herstellung des widerspruchsfreien logos von falschen Meinungen befreit. Diese Form der Wider-
Vgl. dazu Theaitetos 210b–c, Sophistes 230c–d. Und doch liegt diesem Vorgehen ein Wissen zugrunde: »Denn wer eine These prüfen und auf Widersprüche hinweisen will, muß wissen, daß ein Widerspruch vorliegt und wie man durch Fragen zu diesem Widerspruch hinführen kann.« (M. Erler, Platon, 2006, 105) 163 K. Jaspers dazu prägnant: »Er [Sokrates] bewies nicht und widerlegte nicht, wenigstens war das nicht das ihm Spezifische, wenn er es auch manchmal in sophistischer Weise tat, sondern er leitete mit seiner mäeutischen Kunst an, das Wesen, das Eigentliche, das Substantielle des einzelnen Begriffs zu sehen, diesen dann klar definitorisch zu bestimmen.« (K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, 1994, 214.) 164 Vgl. dazu Kriton 46b f. 165 Diesen Weg des Sokrates beschreibt W. D. Rehfus als »Demonstrationen strenger Argumentation« richtig so: »Leitfaden seiner Fragen ist, auf dem Weg des Logos zu einer Definition der verhandelten Sache zu kommen. […] Da es ihm um das Wesen der Dinge, um die Wahrheit geht, mußte er eine andere, neue Methode entwickeln. Diese ist die strenge Argumentation, die nicht auf den Zuhörer sieht, sondern nur auf die verhandelte Sache.« (W. D. Rehfus, Einführung in das Studium der Philosophie, 1992, 44–45) 162
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legung ist also klar zu unterscheiden von der Eristik (eristike) 166, die von Platon und Aristoteles als angewandtes Argumentationsinstrumentarium der Sophisten begriffen wird. Denn die Absicht der Eristik ist die Widerlegung um ihrer selbst willen. Die Eristik hat die Demonstration der Unterlegenheit des Gesprächspartners zum Ziel, die Tendenz, den Gesprächspartner verstummen zu lassen und die Gesprächsführung einseitig abrupt zu beenden. Sie ist bloße Anwendung von Strategie und Technik im Hinblick auf Erfolg und nicht ein Handeln aus der durch Sokrates bestimmten Haltung. H.-G. Gadamer dazu resümierend: »Noch in anderer Weise aber ist die sokratische Widerlegung positiv, einmal so, daß im Widerlegen das Gesuchte in dem, als was es gesucht wird, freigelegt wird, sodann so, daß sich aus dieser Einsicht eine methodische Geführtheit des Suchens und Fragens selbst ergibt und damit die Stetigkeit fortschreitender Verständigung, die das sokratische Gesprächsverfahren von der eristischen Widerlegungstechnik unterscheidet.« 167 Mit seinem Verfahren versucht Sokrates aber nicht nur die vermeintlich richtigen Meinungen seiner Gesprächspartner zu widerlegen, sondern zielt damit auf seine Forderung, sich selbst gegenüber Rechenschaft 168 ablegen zu können. Sokrates bringt so das Denken seiner Gesprächspartner in Bewegung und macht ihre gedanklich erstarrten Positionen sowie die dahinter liegenden Bedürfnis- und Werthorizonte transparent. Denn im Zuge dieser Bewegung erweist sich das vermeintliche Wissen der sokratischen Gesprächspartner als nicht mehr haltbar, was diese nach und nach selbst zur Einsicht 169 bringt, dass ihr Für die Eristik charakteristisch ist, »daß sie von ihrer sachlichen Absicht, dem Sehenlassen des Gemeinten, abgeschnitten ist, und so sich an die vieldeutigen Möglichkeiten des Gesagten als solchen hält, die die Sache gerade verdecken, und damit echte sachliche Verständigung hintertreiben.« (H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 39) 167 H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 47 f. 168 Rechenschaft über etwas zu geben, ist vordergründig sicherlich das, »wonach Sokrates in seinen ›Was ist … ?‹-Fragen sucht. Wenn wir die Wörter verstehen können, in denen wir die uns beschäftigenden Probleme darlegen, dann können wir für sie im nächsten Schritt begründete Lösungen suchen.« (R. M. Hare, Platon, 1990, 73 f.) Doch das sokratische Sich-Rechenschaft-Geben »geht von Sätzen aus, in denen sich Meinungen ausdrücken, mit denen sich der Partner mehr oder weniger identifiziert hat, und daher eine Selbstbeziehung anzeigen. […] Wenn er [Sokrates] Rechenschaft gibt oder wenn er einen anderen veranlaßt, Rechenschaft zu geben, aktualisiert er stets eine Struktur vom Typus der Selbstbeziehung.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 317–318 f.) 169 Wesentlich also ist, dass die Gesprächspartner selbst zur Einsicht gelangen, nicht 166
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Die sokratische Grundfrage: Was ist X?
jeweiliger Wissensbesitz ein relativer ist und ihre Bereitschaft erhöht, eine Lösung der sokratischen Fragestellungen auf Basis eines überprüften Wissens gemeinsam mit Sokrates zu klären. Das elenktische Verfahren ermöglicht also die Entwicklung eigenständiger Gedanken und regt zur selbständigen Produktion von Wissen an. Und je öfter und intensiver diese Wissensprüfung ausgeübt wird, desto eher ist eine Annäherung an das Gute zu erzielen. Denn auf diese Weise, so U. Wolf treffend: »wird nach und nach eine Ordnung in einem zunächst unorganisierten Feld von Meinungen und Begriffen hergestellt, mittels deren sich eine Person auf das gute Leben bezieht.« 170 Für den Bereich der Ethik bedeutet dies, dass es keine fertigen Tafeln mit ethischen Normen gibt, sondern ethische Vorstellungen 171, die durch den elenchos immer wieder neu zu gewinnen sind. Vor allem aber hat die Tätigkeit des sokratischen Prüfens bewirkt, dass »der Einzelne eine ihn selbst betreffende existentiell wichtige Einsicht gewonnen [hat]: Er hat sich bislang an der Erscheinung eines nur angeblichen Wissens vom Guten orientiert, dieser Schein ist jetzt durchbrochen, weil er seine Meinungen als Meinungen erkannt hat.« 172 Im folgenden Kapitel soll nun der zentralen Fragestellung nachgegangen werden, der sich Sokrates zur Entlarvung des vermeintlichen Wissen seiner Gesprächspartner bedient, der sokratischen Grundfrage »Was ist X?«.
2.2 Die sokratische Grundfrage: Was ist X? Die Absicht der sokratischen Fragestellung »Was ist X?« besteht nicht darin, zu ermitteln, was der spezifische Inhalt eines behaupteten Wissens ist. Sokrates will damit nicht überprüfen, ob der Befragte auch zur Einsicht überredet werden. Denn nur so »werden diejenigen, welche sich mit dir unterhalten, sich selbst die Schuld beimessen an ihrer Verwirrung und Ungewißheit, nicht aber dir, und werden dir nachgeben und dich lieben, sich selbst aber hassen, und von sich entfliehen in die Philosophie, damit sie andere werden«. (Theaitetos 168a–b) 170 U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 39 f. 171 T. Kobusch macht bei seiner Hinführung zum Dialog Gorgias deutlich, »daß der Elenchos als die Bereitschaft, sich widerlegen zu lassen, jene sittliche Haltung ist, die als notwendige Voraussetzung eines Dialogs im Sinne platonischer Dialektik anzusehen ist. Sie entspricht der Bereitschaft, sich einer Bestrafung zu unterziehen, wenn eine reale unsittliche Handlung vorliegt.« (T. Kobusch, Wie soll man leben: Gorgias, 1996, 48 f.) 172 J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 136 f. Sokratische Selbstsorge
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tatsächlich über den Inhalt des vorgegebenen Wissens verfügt. Die Intention dieser sokratischen Frage ist also nicht die, dass Sokrates sich von denen, die sagen, dass sie etwas wissen, nicht erwartet, dass sie auch etwas über ihr Wissen sagen können. Sokrates verlangt von den Wissenden vielmehr, dass sie über ihr Wissen Rechenschaft 173 ablegen, ihr Wissen begründen sollen, indem sie Rede und Antwort stehen über das, was ihr vermeintliches 174 Wissen ist, welches ihren Handlungen zugrunde liegt. Diese so selbstverständlich scheinende Forderung des Sokrates, sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegen zu können, hat H.-G. Gadamer treffend als sokratische Entdeckung 175 bezeichnet. Indem diese Forderung unseren im Alltag vorherrschenden Wertvorstellungen 176 ihre Selbstverständlichkeit nimmt, zeigt sie nicht nur die relative Gültigkeit der von uns vertretenden Werte auf, sondern macht zugleich die Gefahr deutlich, die von einem Relativismus gültiger Begründungen von Wertbegriffen ausgeht. Die Schwierigkeit, die sich bei dieser Forderung aber zeigt, liegt darin, dass der Gefragte eben nicht dazu aufgefordert wird, sein Wissen inhaltlich, also sein Wissen über oder von etwas darzulegen, also zu beschreiben, warum, wieso, woraus etwas so ist, wie es ist, sondern nach dem Wesen (ousia) dessen, was ist, gefragt wird. Was Sokrates unter diesem Wesen versteht, wird beispielhaft in den Dialogen Euthyphron 177
Diese für die Philosophie generell so bedeutsame Forderung nach einer Rechtfertigung unseres Handelns bringen A. Hügli und P. Lübcke gezielt zum Ausdruck: »Philosophie ist von daher gesehen nichts anderes als der permanente Prozeß der Selbstprüfung und des Sich-Rechenschaft-Gebens über die grundlegenden Überzeugungen und fundamentalen Prämissen unseres Daseins, die wir in der Alltagspraxis stillschweigend immer schon als gerechtfertigt voraussetzen.« (A. Hügli, P. Lübcke, Philosophielexikon, 1991, 6 f.) 174 Denn beim Versuch einer Rechtfertigung ihres angeblichen Wissens geraten die Gesprächspartner des Sokrates beinahe immer in eine Art gedanklichen Zirkel mit wenig Hoffnung auf einen Ausweg. Vgl. beispielsweise Laches 194a f., Euthyphron 11b f., 15b f., Menon 80a f., Lysis 218c. 175 H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 42 f. 176 Warum Sokrates nach »eindeutigen Definitionen moralischer Wertmaßstäbe« verlangt, macht D. Frede gut verständlich: »Wenn man wie Sokrates um die Moralvorstellungen der eigenen Zeit besorgt ist, dann muss es einem um die Präzision zu tun sein. Die Unfundiertheit der Moralvorstellungen der führenden Persönlichkeiten des eigenen Staates zu entlarven, von denen doch das Wohl und Wehe der Allgemeinheit abhängt, war Sokrates daher ein wichtiges Anliegen.« (D. Frede, Platons Essentialismus – ein hoffnungsloser Fall von Anachronismus?, 2006, 133 f.) 177 Vgl. Euthyphron 6d–e. 173
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und Menon 178 charakterisiert 179. Der Gesprächspartner von Sokrates wird also um eine Definition 180 dessen, was sein Wissen ist, gebeten. Sokrates fragt dabei aber nicht lediglich nach einer Erklärung von Worten im Sinn einer Nominaldefinition 181, sondern danach, was beispielsweise einen Menschen zu einem gerechten Menschen macht, also nach dem Wesen der Gerechtigkeit im Sinn einer Realdefinition. Sokrates will mit seiner Frage »Was ist X?« den wesentlichen Kern einer Sache treffen, also die Merkmale einer Sache bestimmen, durch die möglichst alle, nicht einzelne Beispiele von vergleichbaren Sachen bestimmbar sind und durch welche die zu definierende Sache sich ganz spezifisch von anderen Sachen unterscheidet. Und die sokratischen Dialoge bieten »zwei verschiedene Anleitungen, eine derartige Frage zu beantworten. Die eine läuft darauf hinaus, daß es ein bestimmtes Aussehen (um mit Platon zu sprechen) oder eine bestimmte Form (um mit Aristoteles zu sprechen) ist, die etwas zu etwas Bestimmten macht […]. Eine andere Version besagt, daß es ein bestimmtes Vermögen oder eine Kraft sei, die etwas zu etwas macht.« 182 Dass solche Versuche einer Definition prinzipiell schwierig sind und dass sie im Sinn der sokratischen Aporie 183 im Regelfall scheiterten, Vgl. Menon 72c. Diese Charakterisierung gibt Ch. Kniest in der Annahme, dass die sokratische Frage »Was ist X?« auf die platonische Idee zielt, treffend wieder: »[S]o geht es Sokrates bei der Definition des ›Wesens‹ als ›Idee‹ darum, die ›eigentümliche Form‹ oder das ›eigentümliche Aussehen‹ der Tugend zu bestimmen.« (Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 83 f.) Vgl. dazu auch E. Martens, Sokrates, 2004, 84 f. sowie 65–79. 180 Für Aristoteles war Sokrates sogar der Erste, der versuchte, über die sittlichen Tugenden allgemeine Begriffe aufzustellen, also eine Art Definition dafür zu finden. Denn Sokrates fragte »nach dem Was (tò tí estin). Denn er suchte Schlüsse zu machen, das Prinzip aber der Schlüsse (ßblockakßsyllogismόsßblockakß) ist das Was.« (Metaphysik, XIII 2b, 1078b17–32) 181 Auch Sokrates hält in Anspielung auf die »sophistischen Heiligtümer« zunächst fest, dass es das erste sein muss, »daß man den richtigen Gebrauch der Worte erlerne«. (Euthydemos 277e f.) Doch lehnt er das »dialektische Spiel« mit der Vieldeutigkeit der Worte im Sinn bloßer Nominaldefinitionen ab. Denn »daß Sokrates nach Wesensdefinitionen, nicht nach rein begrifflichen oder ›analytischen‹ Definitionen sucht, geht aus den Dialogen hervor, in denen Tugend entweder ausdrücklich mit Wissen oder einem anderen kognitiven Zustand identifiziert wird oder diese Identifizierung nahegelegt wird.« (C. C. W. Taylor, Sokrates, 1999, 72 f.) Vgl. dazu bes. die Dialoge Menon, Protagoras, Laches. 182 G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 109 f. Vgl. dazu Menon 72c, Euthyphron 6d–e, Laches 192b. Ganz ähnlich und hilfreich führt auch Ch. Kniest zum Verstehen der Frage »Was ist X?«. Vgl. Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 83 ff. 183 Die Aporie (a-poria), die Auswegslosigkeit, in die Sokrates’ Gesprächspartner 178 179
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ist auch bekannt. So hat Platon dieses Scheitern der Zeitgenossen von Sokrates auch mehrfach demonstriert und zwar in Form jener aporetischen Definitionsdialoge 184, welche entweder die Frage nach einer einzelnen Tugend stellen, wie zum Beispiel die Frage nach der Besonnenheit im Charmides oder der Frömmigkeit im Euthyphron, oder die Frage nach der Tugend schlechthin thematisieren, wie der Dialog Menon. Doch warum wurden diese Fragen nicht verstanden? Die gängige Antwort darauf ist, dass diese Fragen deshalb nicht verstanden wurden, weil es den Befragten nicht darum ging, beispielsweise das Wesen der Besonnenheit oder der Tapferkeit zu bestimmen, sondern darum, wie ein besonnener Mensch für die friedvolle Vermittlung zwischen streitenden Parteien eingesetzt werden kann oder, in Bezug auf die Tapferkeit, auf welche Art und Weise ein mutiger Mensch zur Rettung von in Gefahr befindlichen Mitmenschen beitragen kann. Für die Befragten war demnach der Zweck 185 der sokratischen Fragestellung einfach nicht ersichtlich; sie erkannten keinen unmittelbaren Nutzen in der von Sokrates gestellten Frage »Was ist X?« Welche Absicht also verfolgt Sokrates mit seiner Frage »Was ist X?«? Ist diese Frage nach dem Wesen, nach der sogenannten »Washeit« im Sinn einer Differenzierung zwischen dem, was zu etwas wesentlich und dem, was zu etwas unwesentlich, also zum Beispiel nur zufällig gehört, nicht zwecklos oder gar unsinnig? Warum diese Fragestellung nicht sinnlos ist, lässt sich dann verstehen, wenn man sich auf die Frage in ihrer Radikalität einlässt. Denn die Fragestellung »Was ist X?« dient vor allem dazu, die sokratische Forderung nach häufig geraten, wenn sie versuchen, ihr vermeintliches Wissen hinreichend zu begründen, ist aber »keineswegs das letzte Wort Platons zum jeweiligen Problem. Die Ratlosigkeit am Ende der ›sokratischen‹ Gespräche stellt viemehr eine wichtige Zwischenstation auf der Suche nach dem Verständnis der diskutierten Tugend dar. Ratlosigkeit der Gesprächspartner ist positiv auch Zeichen einer Befreiung von irrigen Meinungen und Offenheit für weitere Suche.« (M. Erler, Paton, 2006, 111–112) 184 Die »aporetischen Definitionsdialoge« zählen zu den frühen Schriften Platons und »enden in der Aporie, in einer Situation, in der konstatiert wird, daß alles vermeintliche Wissen sich als unhaltbar erwiesen hat und positive Antworten auf die Ausgangsfragen nicht absehbar sind.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 26 f.) 185 Denn das »Befremdliche der sokratischen Fragen war ihre Zwecklosigkeit. Im Hintergrund aber steht die Annahme, daß nur der, welcher eine genaue Kenntnis der Dinge hat, auf die sich sein Handeln bezieht, auch richtig handeln könne.« (W. D. Rehfus, Einführung in das Studium der Philosophie, 1992, 44 f.)
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Die sokratische Grundfrage: Was ist X?
Selbsterkenntnis zu erfüllen. Sie verhilft zu einem Wissen von sich selbst, indem sie die Wurzeln des eigenen Wissens oder Nichtwissens freilegt. Die häufig damit in Verbindung gebrachte Fassung des sokratischen Wissens über das eigene Nichtwissen 186 in der Formel »Ich weiß, dass ich nichts weiß« 187 ist allerdings irreführend. Es gilt, dass Sokrates, wenn er etwas nicht wusste, auch nicht glaubte oder meinte etwas zu wissen. Dabei handelt es sich um keine selbstbezügliche Paradoxie, sondern gemäß Delphischer Auszeichnung 188 um den eigentlichen Reichtum des sokratischen Wissens. Im Vergleich zum inhaltlichen Spezialwissen von Fachleuten, erscheint dieses Wissen des eigenen Nichtwissens zunächst eher dürftig. Doch das sokratische Nichtwissen steht nicht im Gegensatz zu solch echtem Wissen, sondern zum vermeintlichen Wissen, das auf bloßen Meinungen beruht. Das sokratische Nichtwissen als Unterscheidung zum vermeintlichen Wissen, hebt die Bedeutung von echtem Wissen also vielmehr hervor. Sokrates dringt darauf, »eigentliches, d. h. ebenso begründetes wie sachgemäß differenziertes Wissen von vermeintlichem Wissen auf allen Irrwegen – auch bezüglich des mit diesem verbundenen und sich von ihm her motivierenden Handeln des Menschen – zu unterscheiden; dieses vermeintliche Wissen hält Sokrates für verderblicher als Nichtwissen.« 189 Und es beruht auf der sokratischen Einsicht 190, dass der Mensch gerade in Bezug auf die wesentlichen Inhalte im Leben, wie beispielsweise das Gerechte, das Gute, das Schöne, meist über ein bloßes Scheinwissen 191 verfügt. Insbesondere jedes vermeintliche Auch wenn es naheliegend scheint, gerade aus dem sokratischen Nichtwissen immerhin ein Wissen darüber, was Wissen ist, als Erkenntnis gewinnen zu können, liefert uns Sokrates keine Theorie dazu. 187 Vgl. Apologie 21d, 22c. 188 Sokrates wird durch das Orakel von Delphi deshalb als der weiseste unter den Menschen ausgezeichnet, weil er um die Unmöglichkeit der Beantwortung seiner Fragen weiß und dieses Wissen seinen Gesprächspartnern voraus hat. (Vgl. Apologie 20e–21a f., 23a f.) 189 E. Heintel, Mündiger Mensch und christlicher Glaube, 2004, 83 f. 190 Denn das sokratische Nichtwissen »enthält die Einsicht, daß das vermeintliche Wissen, das jeder über die wesentlichen Dinge zu haben glaubt, seine Brüchigkeit gerade dann zeigt, wenn es von seinem Träger nicht mehr verteidigt werden kann, sobald es mit Hilfe von Techniken geprüft und in Frage gestellt wird, wie sie Sokrates zu Gebote stehen.« (W. Wieland, Das sokratische Erbe: Laches, 18–19) 191 So hält auch C. C. W. Taylor im Hinblick auf die Sophisten richtig fest, dass die Sophisten vor allem deshalb gefährlich sind, »weil sie sich als Experten für die wichtigste aller Fragen, »Wie soll man leben?«, bezeichnen, ohne wirklich über das erforderliche Wissen zu verfügen.« (C. C. W. Taylor, Sokrates, 1998, 94) 186
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Zum elenktischen Verfahren der sokratischen Selbstsorge
Wissen, das beansprucht, umfassend und letztgültig zu sein, repräsentiert nach Sokrates ein Wissen, welches der Mensch gar nicht besitzen kann. Das eingestandene oder besser, das bewusste Nichtwissen ist für Sokrates letztlich das einzige Wissen, über das der Mensch gewiss verfügt. Und diese Art von Wissen stellt zwangsläufig die Frage 192 vor die Antwort.
2.3 Zur Auflösung scheinbaren Wissens Was bisher feststeht ist, dass mit der sokratischen Frage: »Was ist X?« nicht nach dem konkreten Inhalt eines behaupteten Wissens gefragt wird, sondern nach dem Wesen dessen, was den Inhalt des Wissens ausmacht. So entlarvt Sokrates mit seiner Frage »Was ist X?« das vermeintliche Wissen seiner Gesprächspartner. Allerdings nicht dadurch, dass er selbst ein Experte 193 auf bestimmten Gebieten von Wissen ist, sondern weil er ähnlich der aristotelischen Peirastik 194 vorgeht. Aristoteles führt über das peirastische Vorgehen in der Ausübung der Dialektik aus: »Auch wer von der Sache selbst nichts versteht, kann den Nichtwissenden auf die Probe stellen, da dieser ja auch seine Zugeständnisse nicht vermöge seines Wissens und auf Grund fachwissenschaftlicher Sätze, sondern auf Grund lauter Folgerungen macht, mit denen man bekannt sein kann, ohne etwas von der betreffenden Wissenschaft zu verstehen, aber nicht unbekannt, ohne ihrer unkundig zu sein.« 195 Ähnlich der peirastischen Dialektik zielt die sokratische Frage »Was ist X?« methodisch darauf ab, Scheinwissen zu entlarven. Sie hat propädeutischen Charakter, ist keine inhaltliche Unterweisung, sondern intendiert die Erzeugung eines Bewusstseins über das eigene Nichtwissen. Sie ist daher, wie im Charmides vorgeführt, zugleich eine Übung 196, die auf Sokrates angeDaher wohl auch Aristoteles’ Anmerkung über Sokrates: »Deshalb pflegte ja auch Sokrates nur zu fragen und antwortete nicht (worauf wir uns wohl einüben müssen). Denn es war seine Weise, zu bekennen, daß er die Antwort nicht wisse.« (Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 34, 183b) 193 Eine inhaltliche Wissensprüfung würde nur durch Fachleute in dem zu prüfenden Fachgebiet erfolgen können. Vgl. dazu Charmides 171b–c. 194 Denn die Peirastik »ist eine Art der Dialektik und hat es nicht auf den Wissenden abgesehen, sondern auf den Unwissenden, der sich aber den Schein des Wissens gibt.« (Aristoteles, Sophistische Wiederlegungen, 11, 171bf.) 195 Ebd., 11, 172af. 196 So weist auch Diogenes Laertius, im Zuge seiner Ordnung der platonischen Dia192
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wandt dazu befähigt, sich selbst zu erkennen. In diesem Sinn ist die sokratische Selbsterkenntnis eine Art Wissen darüber, wie Wahrheit entsteht 197, trägt also methodisch zur Erzeugung von menschlicher Weisheit bei. Mit seiner im Hinblick auf den Menschen gestellten Frage: »Was ist der Mensch?« 198 sucht Sokrates daher auch nicht nach einem Wissen, das das menschliche Selbst inhaltlich bestimmt, sondern nach einem von den Schlacken der Meinungen befreiten Wissen, um das menschliche Selbst in seinem Wesen erkennen zu können. Das Ergebnis seiner Suche ist das Wissen um das eigene Nichtwissen als Bewusstheit. G. Böhme bringt dieses sokratische Wissen gekonnt auf den Punkt: »Dieses Wissen ist nicht ein Denken, auch nicht das Denken des Denkens, es hat keinen Gegenstand, sondern es ist eben, wie Sokrates selbst sagt, nur eine Art innerer Helligkeit, ein waches Sich-selbst-Begleiten, Bewußtheit.« 199 Und diese Bewusstheit als »das Wissen um das eigene Wissen bzw. Nichtwissen ist zugleich die Erfüllung der delphischen Forderung des Erkenne-dich-selbst, als deren Auslegung ja Sokrates seine Forderung der Selbstsorge verstand.« 200 Doch entscheidend ist, dass Sokrates damit nicht seine Orientierung nach Wissen aufgibt: »Indem er [Sokrates] auf ein Wissen ausgerichtet ist, ohne es je besitzen zu können, ist sein Leben einer loge, den Charmides der Gruppe der untersuchenden Dialoge zu, genauer noch, den zur Übung bestimmten, die auf das Probieren abzielen. Vgl. Diogenes Laertius, III 49 ff. 197 Sokrates ging es »um das Nicht-Wissen gegenüber allem bestimmten Wissen, um das bewußte Herantragen des Nichts, der Differenz. Das Ergebnis ist nicht eine neue bestimmte Wahrheit, die an die Stelle der alten tritt, sondern das Wissen darum, wie Wahrheit entsteht, was entschieden werden muß, was offenbleibt, was jedes Wissen an Nicht-Wissen beibehält, auf welchen Voraussetzungen Wissen beruht, welche Wege (Methoden) man verwendet, um es zu erreichen.« (W. Berger, P. Heintel, Die Organisation der Philosophen, 1998, 89 f.) Für Sokrates ist Wahrheit »nicht nur ein richtiges prädikatives Urteil über einen ›Gegenstand‹. Die ›wahre‹ Erkenntnis ist vielmehr ein Übergang: von einem minderen in ein volleres Sein. In der ›Wahrheit‹ wird nicht einfach ›Wirklichkeit‹ erkannt, sondern Erkennen bedeutet: wirklicher zu werden.« (R. Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?, 1993, 95 f.) 198 Vgl. Alkibiades I 129e. 199 G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 114 f. 200 Ebd., 115. Diese Erfüllung der »Delphischen Selbsterkenntnis« betont auch K. Gaiser und erhebt damit das sokratische Nichtwissen zugleich zu einer Art Wissen: »Jedenfalls ist das sokratische Nichtwissen, weil sich Sokrates nicht darüber hinwegtäuscht, die Erfüllung der delphischen Mahnung zur Selbsterkenntnis und also doch wieder eine Art Wissen.« (K. Gaiser, Protreptik und Paränese bei Platon, 1959, 99 f.) Sokratische Selbstsorge
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Spannung ausgesetzt, die alle, die sich mit ihm auf ein Gespräch einließen, spürten und die sie als das Spezifische seiner Person, aber auch der Sache, die er vertrat, der Philosophie, empfanden.« 201 Doch in Wirklichkeit stellt Sokrates die Frage »Was ist ein guter Mensch?« und damit die Frage, was einen Menschen zu einem guten Menschen macht. Die grundlegende Ausrichtung seiner Frage »Was ist X?« auf das Gute ist von zentraler Bedeutung, denn damit ist für Sokrates die Aufforderung zur Gestaltung des »X« zum Guten verbunden. Somit impliziert seine Fragestellung die Bemühung 202 um das Schaffen von ethischen Werten. Sokrates bemüht sich dabei aber nicht bloß um ein theoretisches Wissen über ethische Werte, sondern prüft das Wissen der Gesprächspartner auf seine Tauglichkeit für das Handeln in der Praxis. Und ob sich das Wissen als tauglich erweist, hängt immer davon ab, wie der von Sokrates geprüfte Gesprächspartner die im Regelfall sich einstellende Aporie 203 annimmt, als produktive Wende oder kommunikativen Abbruch.
W. H. Pleger, Die Vorsokratiker, 1991, 168 f. Diese Bemühung stellt einen Anspruch an den Menschen, nämlich, um mit M. Heidegger zu fragen: »Wohin anders geht ›die Sorge‹ als in die Richtung, den Menschen wieder in sein Wesen zurückzubringen? Was bedeutet dies anderes, als daß der Mensch (homo) menschlich (humanus) werde? […] denn das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, daß der Mensch menschlich sei und nicht un-menschlich, ›inhuman‹, das heißt außerhalb seines Wesens.« (M. Heidegger, Über den Humanismus, 1991, 11 f.) 203 Dabei zu beachten gilt: »Die Aporie, in die Sokrates seine Partner geraten läßt, verhindert also keineswegs eine Weiterführung der Untersuchung, sondern fordert sie geradezu. Dennoch behauptet sie ihr eigenes Recht, weil sie niemals zu der Annahme Anlaß gibt, diese Untersuchung könnte irgendwann einmal in einer verbalen Formulierung von der Art eines Definitionssatzes an ein unüberholbares Ziel gelangen.« (W. Wieland, Das sokratische Erbe, 1996, 17 f.) 201 202
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3. Über den Beitrag der sokratischen Selbstsorge zum guten Leben
3.1 Sokrates’ gutes Leben als philosophische Lebensform Die Frage nach einem guten Leben im Sinn eines glücklichen, erfüllten Lebens spielt wohl für jeden Menschen eine zentrale Rolle 204, egal ob dieses Leben bewusst reflektiert oder lediglich faktisch vollzogen wird. Wird also davon ausgegangen, dass ein Mensch sein Handeln nach einem Leben ausrichtet, welches er als ein gutes Leben betrachtet, dann wird dieser Mensch es vermutlich auch vermeiden, sich selbst zu schaden 205. Auf Basis dieser Annahme verfolgen die meisten Menschen aber einen ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend angenehmen Lebensstil und nicht ein gutes Leben im sokratischen Sinn. Sokrates stellt mit seiner Frage nach dem guten Leben also nicht die Frage nach einem individuell angenehmen Leben. Seine VorstelGleich zu Beginn des ersten Buches der Nikomachischen Ethik sagt Aristoteles: »Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluß scheint irgendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach alles strebt.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 1, 1094a1 f.) Und damit das Streben nicht unaufhörlich ist, muss es nach Aristoteles auch ein höchstes Gut geben, welches als das oberste Ziel unseres Strebens die Glückseligkeit, die eudaimonia ist (vgl. ebd., I 2, 1095a 13 f.; I 5, 1097a 30 f.). Auch für Platon ist das Gute das oberste Prinzip für ein gelingendes Leben, denn »um des Guten willen müsse man alles tun«. (Gorgias 499e; vgl. auch ebd., 467c–468c) Denn nur derjenige wird glückselig, dem das Gute zuteil geworden ist (vgl. Symposion 204e–205a). G. Vlastos nennt dieses Prinzip das »Eudämonistische Axiom«, das keines weiteren Beweises mehr bedarf: »This is that happiness is desired by all human beings as the ultimate end (telos) of all their rational acts«. (G. Vlastos, Ironist and moral philosopher, 1991, 203 f.) Und es bedarf auch keiner weiteren Fragen mehr, denn: »happiness is the ›question-stopper‹ – the final reason why anything is desired, hence, why pleasure, health, thinking, virtue or anything else is desired.« (Ebd., 208) 205 Die Annahme, dass niemand aus freier Wahl oder in bewusster Absicht ein für sich schlechtes Leben wählt, trifft auch Sokrates. Vgl. Apologie 25d, Protagoras 345d–e, 358b–d. 204
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lung vom guten Leben ist nicht mit so gängigen Attributen wie Reichtum, Berühmtheit, Vergnügen und ähnlichem unmittelbar in Verbindung zu bringen. Ebenso wenig ist seine Idee vom guten Leben die lediglich moralische Alternative zu einem primär hedonistisch ausgerichteten Leben. Sokrates’ Vorstellung vom guten Leben steht auch nicht als ein fertiges Lebenskonzept zur Verfügung, wie das bei einer Vielzahl von Lebensformen esoterischer, religiöser, technokratischer, ökonomischer oder anderer Provenienz häufig der Fall ist. Schließlich ist Sokrates’ philosophische Lebensform auch nicht bloß zu erwerben, denn das gute Leben gründet auf weit mehr als einem fundierten Wissen, einem festen Glauben, ausreichend verfügbarem Geld oder anderen Mitteln. Wodurch zeichnet sich die sokratische Lebensform demnach aus? Sokrates’ philosophische Lebensform zeichnet sich durch die Errichtung einer inneren Wertinstanz aus, nicht in Form einer moralischen Autarkie des Individuums, sondern als selbstkritische Prüfungsinstanz, und ist daher ein durchaus zielführender Weg, um auf den zahlreichen Um- und Irrwegen zum guten Leben sich selbst als Wegweiser kritisch zu bewahren. Denn das sokratisch-platonische Konzept vom Selbst als einer inneren Wertinstanz des allgemeinen Menschseins 206 eignet sich hervorragend dazu, das heute dominierende Konzept vom Selbst als einer äußeren Wertinstanz des individuellen Menschseins 207 in den für ein soziales Miteinander erforderlichen Grenzen zu bewahren. So benötigen die heute bereits unüberschauDas sokratisch-platonische Konzept vom Selbst besticht nämlich durch sein Prinzip der »Universalität«. Denn die Philosophie als »methodische Übung (Askese) des Geistes, der Willenskraft und der Lebenshaltung erforderte […] in der gesamten griechischen Antike nichts Geringeres als eine radikale Änderung der gesamten Lebensweise, die sich im Kontrast zu neoliberalen Modellen nur im Einklang mit Polis und Kosmos, den überindividuellen, umgreifenden Ordnungsstrukturen perfektionieren ließ«. (D. de Sauvage, Krise der Philosophie, 2002, 117 f.) 207 Mit seinem »Philosophischen Individualismus« als einer Spielart der Philosophie als Lebenskunst macht A. Nehamas kritisch auf einen wesentlichen Aspekt aufmerksam, wenn er über die, aus seiner Sicht, sokratische Vorlage behauptet, »daß die philosophischen Individualisten von Sokrates nicht so sehr den Glauben übernehmen, ein vernunftgemäßes Leben sei darum das beste, weil es zur Entdeckung einer bestimmten, an Tugend und Glückseligkeit orientierten Lebensweise führen könne, die für alle die beste sei, sondern ihm vielmehr in dem Gedanken nachfolgen, daß das vernunftbestimmte, intensive und nachhaltige Bemühen, selbst zu ermitteln, welches Leben das beste sein könnte – unabhängig davon, zu welcher bestimmten Lebensweise das dann führen würde –, für sie selbst das beste sei.« (A. Nehamas, Philosophischer Individualismus, 2007, 157 ff.) 206
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bar gewordenen Versionen einer sogenannten erfolgreichen Lebensweise, die nicht selten egoistische Strategien zur individuellen Selbstverwirklichung sind und primär zur Stilisierung der Marke »Ich« beitragen, ein sozial wirksames Korrektiv. Wird nämlich das individuelle mit dem allgemeinen Menschsein derart verknüpft, dass sich so etwas wie Bewusstheit in Bezug auf das Ganze, das Gemeinsame, letztlich das Gute in unserer Welt einstellt, so verkennt das Individuum sein endliches Spezialwissen nicht mehr als Wahrheit und unterlässt die erforderliche Entwicklung seines eigenen Denkens nicht länger, da die eigene Selbstgenügsamkeit als Mangel erkannt wird. Denn die modern gewordene Perspektive, das eigene Leben bis ins Detail nach seinen individuellen Bedürfnissen ausrichten zu können und damit zu glauben, auch das Leben in seiner sozialen Komplexität an sich zu verstehen, eröffnet zwar einen einzigartigen, letztlich aber doch nur eingeschränkten Blick auf das, was unser Leben im Hinblick auf seine soziale Dimension bietet. Vor allem aber reicht diese Perspektive nicht aus, um das Leben des einzelnen Menschen in seiner existentiellen Schicht zu berühren. Denn die Frage nach dem guten Leben in ihrer existentiellen Schicht, wie U. Wolf 208 richtig konstatiert, ist die Sinnfrage. Zwar bildet ein rein nach individuellen Bedürfnissen ausgerichtetes Leben wohl den verlockendsten Rahmen für die mögliche Gestaltung unseres Lebens, doch die Hoffnung auf ein von Sinn geprägtes, gutes Leben erfüllt solch eine Lebensausrichtung kaum. Dies wird nicht zuletzt durch die fortschreitende Sinn- und Orientierungslosigkeit vieler Menschen, hauptsächlich bedingt durch den Zerfall sozialer Wertinstitutionen 209, wie beispielsweise der Familie, der Politik oder der Kirche, klar bezeugt. Die Sinnfrage aber ist ein besonderes Charakteristikum des Menschen und als solche in der Struktur des menschlichen Lebens angelegt. Wenngleich sich nicht jeder Mensch die Sinnfrage stellt und viele Menschen auf diese Frage auch schon eine Antwort vorliegen haben, so traditionell in Form religiöser oder mythischer Anschauungen oder rational in Form von mehr oder weniger stichhaltigen Erklärungen, ist die Sinnfrage in unserem Leben nicht einfach ausblendbar. Denn spätestens dann, U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 19 f. M. Niehaus hält diesen Verlust richtig fest: »Es gibt keine gesellschaftliche Institution mehr, die für die Beantwortung der Frage nach dem gelingenden Leben, nach der richtigen Lebensführung zuständig ist. Das Fehlen eines Leuchtturms, eines zentralen Orientierungspunktes ist wesentliches Merkmal unseres Gesellschaftssystems.« (M. Niehaus, Management by Sokrates, 2009, 40 f.)
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wenn der Glaube an eine Religion, einen Mythos, eine scheinbare Autorität oder an ein vermeintliches Wissen durch Aufklärung schwindet, tritt die Sinnfrage in unser Leben. Die Sinnfrage stellt sich also häufig dann, wenn Situationen im Leben eintreten, die weder mit Hilfe des Glaubens, noch durch ein Wissen oder durch eine sonstige Form von Lebenshilfe bewältigt werden können. Es scheint so, dass erst eine empfindlich gestörte Alltagsroutine, meist durch eine unlösbare Aufgabenstellung charakterisiert und durch ein Eingeständnis persönlicher Hilflosigkeit geprägt, die Frage nach einem sinnvollen Leben explizit ins Bewusstsein des Betroffenen hebt. Demnach neigt der Mensch dazu, sich erst dann mit der Sinnfrage zu beschäftigen, wenn er seine Situation als ausweglos begreift, sich der existentiellen Aporie, in die er geraten ist, bewusst wird. Zur Bewältigung dieser Sinnkrise greift der Mensch dann vorzugsweise auf bereits vorhandene Lebenskonzepte zurück, weil er sich auf diese Art und Weise schnelle und konkrete Hilfe erhofft. Und solange der in einer Sinnkrise Befindliche noch frei wählen kann, kommt es auch vor, dass dieser Mensch auf eine Form der Sinnstiftung gänzlich verzichtet. Dass gerade diese Entscheidung aber nicht einer schlichten Verdrängung der Sinnfrage gleichkommt und einer vernünftig wie auch autonom handelnden Person nicht ihre Würde nimmt, formuliert U. Wolf einsichtig so: »Sonst würden wir gerade die Vernunft oder Autonomie zu etwas Höherem machen, dem eine metaphysische Auszeichnung zukommt. All das heißt nicht, daß wir uns nicht mit der existentiellen Schicht der Frage nach dem guten Leben befassen sollten. Es heißt nur, daß sich ein solcher Ratschlag nicht mit Hilfe der philosophischen Ethik ableiten läßt, sondern eine Sache der Lebensweisheit bleibt.« 210 In der antiken Tradition hätte sich solch ein Ratschlag sehr wohl aus der philosophischen Ethik ableiten lassen. Denn diese Ethik 211 war U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 21 f. In der Tugendethik der griechischen Antike war die Konzeption des guten Lebens grundsätzlich politischer Natur, die soziale Umwelt in seiner Ganzheit also mit eingeschlossen, so dass ein erfolgreiches Streben nach dem glücklichen Leben (eudaimonia) weder im Erlangen von einem individuellen Lebensglück, noch ein bereits erlangtes unabhängig von den sozialpolitischen Ereignissen im Umfeld gesehen wurde. Dies deutet schon der Begriff eudaimonia an: »Er bedeutet, von einer Gottheit (daimon) gut (eu) geleitet zu sein. […] Das volle, runde Glück liegt nicht allein in des Menschen Hand. […] Auch wenn die erste Quelle des Glücks im Menschen, seiner Tugend, liegt, braucht es zusätzlich ein glückliches Geschick, mithin ein Geschenk von außen.« (O. Höffe, Macht Tugend glücklich?, 2007, 352–353 f.)
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mehr ein praktisches Wissen, das sich weniger im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis befand, sondern eher als menschliche Haltung galt und deren Intention in der praktischen Anwendung lag. Der uns heute so vertraute und häufig sehr krass ausgelegte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis 212, existierte damals noch nicht. Dieser Gegensatz manifestierte sich aber spätestens mit Beginn der Neuzeit, der damit einhergehenden Entstehung moderner Naturwissenschaften und der Wandlung des Begriffs der Theorie. Im Zuge dieser neuzeitlichen Entwicklung hörte die philosophische Ethik zunehmend auf, ethische Normen zur Orientierung für das Handeln zu schaffen. Als eine Philosophie der Moral beendete sie ihr Anliegen, eine praktische Ethik zu sein und wandelte sich als moralphilosophische Besinnung, in Abhängigkeit vom wissenschaftlichen Fortschrittsglauben, immer mehr zur bloßen Theorie. Dennoch wurde der Anspruch der Moralphilosophie, von praktischer Relevanz zu sein, nie ganz aufgegeben. Die moralische Bedeutung der Philosophie oder das, was als moralische Erwartung gegenüber der Philosophie blieb, formuliert H.-G. Gadamer richtig so: »Das ist alles, was von der alten Erwartung übrigbleibt, die dem Philosophen entgegengebracht wird, daß er in der moralischen Ratlosigkeit oder Verwirrung des öffentlichen Bewußtseins nicht nur seiner theoretischen Passion folge, sondern die Ethik neu begründe, das heißt, neue verbindliche Werttafeln errichte.« 213 Für den Moment halten wir fest, dass es der Philosophie gegenwärtig kaum gelingt, diese Erwartung zu erfüllen. Ein nun wesentlicher ethischer Leitgedanke, der sich aus der sokratischen Lebensform gewinnen lässt, ist die Ablehnung einer Lebensweise, die sich rein an äußeren Gütern und Werten orientiert 214, Die auch heute geläufige Redensart »Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis« birgt vor allem dann eine große Gefahr in sich, wenn sie »etwas Moralisches (Tugend- oder Rechtspflicht) betrifft […] Denn hier ist es um den Kanon der Vernunft (im Praktischen) zu tun, wo der Wert der Praxis gänzlich auf ihrer Angemessenheit zu der ihr unterlegten Theorie beruht, und Alles verloren ist, wenn die empirischen und daher zufälligen Bedingungen der Ausführung des Gesetzes zu Bedingungen des Gesetzes selbst gemacht und so eine Praxis, welche auf einen nach bisheriger Erfahrung wahrscheinlichen Ausgang berechnet ist, die für sich selbst stehende Theorie zu meistern berechtigt wird.« (I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1985, 120–121 ff.) 213 H.-G. Gadamer, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, 1997, 87 f. 214 So exemplarisch in der Apologie: »[S]chämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangst, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber 212
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sich also ausschließlich um Gelderwerb, Ansehen und Ehre sowie um den Besitz von Macht und Einfluss 215 bemüht. Dies ist insofern nachvollziehbar, da eine solche Lebensweise den Menschen weder in seinen vielfältigen Bezügen zum Leben als Ganzes erfasst, noch ethisch grundlegende Themen, wie beispielsweise das der gerechten Verteilung oder der allgemeinen Würde des Menschen in differenzierter Form behandelt. Vor allem aber misst die an äußeren Gütern und Werten orientierte Lebensweise unserer seelischen Verfassung als einer inneren Wertinstanz 216 zu wenig Bedeutung bei. Denn ohne die innere Stabilität unserer seelischen Verfassung ist uns ein maßvolles Verhalten im Außen nicht möglich, da übermäßige Begierden und Affekte uns jederzeit aus den geordneten Bahnen unseres Lebens werfen können. Die an äußeren Gütern und Werten orientierte Lebensweise suggeriert zwar häufig Schutz vor der Wechselhaftigkeit unseres Lebens, weil sie vorgibt, das Auftreten von Ereignissen wie beispielsweise Armut, Krankheit, Krieg oder Verfolgung durch die Anhäufung äußerer Güter und Werte kontrolliert steuern oder gar vermeiden zu können. Doch zeigt diese Suggestion vor allem bei jenen Menschen Wirkung, die der Überzeugung sind, dass ihre Person gegen die Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit unseres Lebens nichts Positives im Sinn einer Veränderung zum Guten beitragen kann. Entgegen dieser Überzeugung, die letztlich davon ausgehen dürfte, dass eine Person dem Ablauf der Ereignisse in unserer Welt unvermeidlich ausgeliefert bleibt und daher persönliche Anstrengungen gegen dieses Ausgeliefertsein erst gar nicht zu unternehmen braucht, wird in der vorliegenden Arbeit die Ansicht vertreten, dass der Unbeständigkeit und Wechselhaftigkeit unseres Lebens am ehesund Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs beste befinde, sorgst du nicht und hieran willst du nicht denken?« (Apologie 29d–e) 215 Die Ausübung von Macht und Einfluss wird besonders unter den Mächtigen gefährlich, denn »diese begehen vermöge ihrer Macht die größten und unheiligsten Verbrechen.« (Gorgias 525d f.) Zwar finden sich nach Sokrates auch unter den »Mächtigen« rechtschaffende Männer, aber nur sehr wenige, denn »schwer ist es, […] und vieles Lobes wert, bei großer Gewalt zum Unrechttun dennoch gerecht zu leben«. (Ebd. 526a) 216 Einem Konzept des »inneren Glücks« räumt auch Seneca für das Philosophieren den Vorrang ein: »Denn er [der Weise] hängt nicht ab von Dingen, die außer ihm liegen und rechnet nicht mit der Gunst des Schicksals oder eines Menschen. Sein Glück ist ein durchaus inneres. Vom Austreten desselben aus der Seele ist bei ihm ebensowenig die Rede wie vom Eintreten: die Seele ist seine Geburtsstätte.« (Seneca, Brief 72 § 3–5)
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ten dann standzuhalten ist, wenn eine psychische Stabilität in Form einer inneren Wertinstanz geschaffen ist, also eine geordnete Seelenstruktur in der Art der sokratischen Besonnenheit 217 vorliegt. Schließlich versucht die sokratische Lebensform auch nicht durch die philosophische Konzeption einer wahren Staatskunst auf die reale Politik Einfluss zu nehmen. Sie versucht vielmehr auf die wesentliche Bedeutung der sozialpolitischen Verantwortung jedes Einzelnen in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen und liefert so mehr indirekt einen Beitrag zur Gestaltung von Realpolitik im engeren Sinn. Ihre grundlegende Annahme ist, dass jede Form eines individuell gewählten Lebens letztlich der sozialpolitischen Dimension des Lebens unterworfen bleibt und daher soziale Verantwortung gegenüber unseren Mitmenschen notwendig erfolgen muss. Die sokratische Lebensform ist weder apolitisch, noch betreibt sie Philosophie auf einem isolierten Punkt sozialpolitischer Losgelöstheit. Die offenkundige Diskrepanz zwischen der sozialpolitischen Realität unseres Lebens und der an der Philosophie orientierten Lebensform 218 ist ihr bewusst. Aber gerade in diesem Spannungsfeld wird die sozialpolitische Dimension unseres Lebens als Gegenstand philosophischer Reflexion greifbar. So nimmt die sokratische Lebensform Rücksicht auf die vielfältigen Meinungen, die bloßen Ansichten der Menschen, welche die »Philosophen« traditionell eher missachten, indem sie diese in den philosophischen Diskurs einbindet. Denn diese Meinungen, welche die Ungewissheit und Wechselhaftigkeit unserer Welt deutlich zum Ausdruck bringen, zählen zu den elementaren Bausteinen in der Struktur unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Die große Herausforderung der sokratischen Lebensform besteht darin, die allgegenwärtige Spannung zwischen der gewählten philosophischen und der bestehenden sozialpolitischen Dimension unseres Lebens auszuhalten, sich also nicht in einer Dimension bewegend auszuruhen, sondern fähig zu sein, beide Dimensionen als eine Art dialektischen Prozess im Leben zu verstehen und darin zu leben. »Philosophie und Politik gemeinsam ist die Sorge um Ordnung in der Seele Ausführlich dazu das Kapitel »Zur Besonnenheit als guter Verfassung des Selbst« in der vorliegenden Arbeit. 218 Denn der platonische Sokrates »kennt die Schwächen der philosophischen ebenso wie die der rhetorischen Lebensform und die potentielle Lächerlichkeit beider, und er wägt dazwischen ab. Er nimmt das lebensweltliche Scheitern bewusst in Kauf, weil er es für das geringere Übel hält, das ihm der Preis für den Gewinn der Selbststeigerung in der Philosophie ist.« (H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 161 f.) 217
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und in der Gemeinschaft, als Quelle für Gerechtigkeit und damit für individuelles und staatliches Glück. Umkehr des Menschen, Restitution der Ordnung in Seele und Staat: Dies zu befördern ist das Ziel einer Lebensform, in der Philosophie und Politik keine Gegensätze sind und deren herausragender Repräsentant Sokrates ist.« 219
3.1.1
Exkurs: Aristoteles’ Vorzug der theoretischen Lebensform
Aristoteles betrachtet die Philosophie grundsätzlich als »Wissenschaft der Wahrheit« 220, doch ist die Wahrheit als Wissen der Prinzipien (archai) und Gründe (aitia) das Ziel seiner theoretischen Philosophie, während seine praktische Philosophie das Werk (ergon) zum Ziel hat. Im weitesten Sinn kann die aristotelische Philosophie somit in eine theoretische und praktische Wissenschaft 221 eingeteilt werden. Die theoretische Wissenschaft befasst sich mit dem dauernden und vollkommenen Seienden, dem Ewigen und An sich (aition kath’ hauto), untersucht also das, was nicht anders sein kann. Die praktische Wissenschaft dagegen hat das, was auch anders sein kann, also das Relative (pros ti) und Zeitliche (nyn) zum Gegenstand ihrer Betrachtung. Die theoretische Wissenschaft gliedert Aristoteles schließlich in die drei Disziplinen der Mathematik, der Physik und Theologie (theologike) und charakterisiert sie als betrachtende (theoretike) Wissenschaften. Die Mathematik untersucht das, was unveränderlich ist und ohne selbständige Existenz, also nur gedacht ist; die Physik das, was veränderlich ist und selbständig existiert, also real ist; die theologike als »erste Philosophie« 222 (prote philosophia) schließlich das, was unveränderlich ist und selbständig existiert. Da die »ersM. Erler, Platon, 2006, 177 f. Vgl. dazu Gorgias 521d. Aristoteles, Metaphysik, II 1, 993b19–20 f. 221 Eine grundlegende Bedeutung dieser Einteilung trifft wohl H. Schnädelbach: »Wenn Aristoteles zwischen theoretischer und praktischer Philosophie unterscheidet, bedeutet dies zugleich eine Rechtfertigung der Theorie als solcher und eine Befreiung der Praxis und der in ihr enthaltenen Vernünftigkeit von der Diktatur der reinen Theoretiker.« (H. Schnädelbach, Philosophie, Band 1, 1991, 54) 222 Nach weit verbreiteter Ansicht hat Andronikos von Rhodos, der die aristotelischen Schriften im ersten Jahrhundert vor Christus gesammelt und herausgegeben hat, die Schriften der »ersten Philosophie« hinter die Schriften über die »Physik« (meta ta physika) gereiht, weshalb diese Schriften von den Nachfolgern Aristoteles mit dem Titel »Metaphysik« versehen wurden. Allerdings ist umstritten, ob der Titel »Metaphysik« »formell auf die Schriften ›nach den Schriften der Physik‹ hinweist, oder ob 219 220
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te Philosophie« das göttliche Seiende (ta theia) zum Inhalt hat, zeichnet sie sich vor den übrigen theoretischen Wissenschaften aus. Sie ist das Kernstück der aristotelischen theoria, der »Schau des Göttlichen«, die Aristoteles als die höchste Erkenntnis gilt, die einem Menschen in der Rolle eines Betrachters zuteilwerden kann. Und der Mensch, der nach dieser Erkenntnis des höchsten Seienden strebt, sucht diese nicht aufgrund eines praktischen Nutzens, sondern um ihrer selbst willen. 223 Denn »wer das Wissen um seiner selbst willen wählt, der wird die höchste Wissenschaft am meisten wählen, dies ist aber die Wissenschaft des im höchsten Sinn Wißbaren, im höchsten Sinn wißbar aber sind die ersten Prinzipien (protai archai) und die Ursachen (aitia).« 224 In der »Nikomachischen Ethik« führt Aristoteles dann fünf Mittel an, »mit denen die Seele bejahend oder verneinend die Wahrheit trifft […]: Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit, Geist« 225, und weist unter diesen verschiedenen Formen des Wissens die sophia so aus: »So wird denn die Weisheit die genaueste der Wissenschaften sein […]. So wird also die Weisheit Geist und Wissenschaft sein und als Haupt der Wissenschaften die ehrwürdigsten Gegenstände haben.« 226 Daraus zieht er den Schluss: »Darum nennt man auch Anaxagoras, Thales usw. weise, aber nicht klug, da man sieht, wie sie das für sie selbst Zuträgliche nicht erkannt, dagegen Außerordentliches, Erstaunliches, Schwieriges und Göttliches gewußt haben, freilich Unnützes, da sie nicht das menschlich Gute gesucht haben.« 227 Die Weisheit (sophia) als vollendete Kunst (techne) kommt dem Menschen also nur auf göttlichem Wege zu. Da sie jedoch nicht das Menschliche betrifft, liefert sie auch kein Wissen, welches im täglichen Leben unmittelbar von Nutzen ist. »Denn die Weisheit betrachtet keines der
er Fragestellungen anzeigt, welche auf diejenigen der Physik folgen«. (A. Dunshirn, Griechisch für Philosophen, 2007, 106–107 f.) 223 Diese »aristotelische Grundüberzeugung« gibt H. Niehues-Pröbsting prägnant wieder: »Das vollkommenste Lebewesen, das die Natur hervorgebracht hat, ist der Mensch, das Höchste und Vollkommenste im Menschen ist der Geist. Dessen eigentliche Tätigkeit besteht im Denken und Betrachten um ihrer selbst willen, nicht darin, irgendwelche Bedürfnisse zu bedienen.« (H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 167 ff.) 224 Aristoteles, Metaphysik, I 2, 982a30–982b5. 225 Ders., Nikomachische Ethik, VI 3, 1139b15 f. 226 Ebd., VI 7, 1141a16–20. 227 Ebd., VI 7, 1141b4 f. Sokratische Selbstsorge
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Dinge, durch die der Mensch glückselig wird« 228. Zudem gilt für Aristoteles, dass der Mensch »nicht das Beste ist, was es im Kosmos gibt.« 229 Für ihn gibt es Lebewesen, die ihrer Natur nach viel göttlicher sind, weshalb bei ihm nur der Mensch »weise« ist, der nach dem Göttlichen strebt. Aristoteles’ theoretische Lebensform »übersteigt die Weise menschlicher Existenz auf das göttliche Sein hin; in ihr gelangt der Mensch zu jener Selbststeigerung, die Platon gegenüber rhetorischer Selbstbehauptung als den Gewinn der Philosophie mit der Formel homoiosis theo, ›Angleichung an Gott‹, bezeichnet hatte. Sie ist durch die Tätigkeit jenes Vermögens ausgefüllt, das der Mensch mit dem göttlichen Wesen teilt; das ist der Geist (nous), der auf das Ewige und Göttliche gerichtet ist« 230. Aristoteles distanziert somit die Weisheit von den Zwecksetzungen des täglichen Lebens. Er vollzieht eine Art methodische Unterscheidung zwischen der »ersten Philosophie« als der Metaphysik und der Ethik 231 als einer Klärung unserer Vorstellungen von einem guten Leben. Eine strikte Trennung von Ethik und Metaphysik würde die Philosophie im Sinn einer reinen Theorie jedoch in eine prekäre Lage bringen. Denn eine Philosophie, welche die Bereiche des realen Lebens vollends ausblendet, trägt nur wenig zum guten Leben des Menschen bei. Inwieweit also bleibt die Metaphysik mit der Ethik bei Aristoteles verschränkt? Dazu sei nochmals auf die zuvor angeführten fünf Wissensformen verwiesen. Von diesen wurde die Weisheit (sophia) schon bestimmt. Die übrigen vier sind die Kunst, Wissenschaft, Klugheit und der Geist. Die Kunst (techne) nun ist eine auf das Hervorbringen gerichtete Wissenschaft (poietike) und meint das Wissen, das zum Beispiel im Bauwesen zur Errichtung einer Brücke erforderlich ist oder – in seiner Vollkommenheit – einem hervorragenden Bildhauer als Künstler zukommt. Das, was notwendig und deshalb ewig ist, ist für Aristoteles Gegenstand der Wissenschaft Ebd., VI 13, 1143b16–20 f. Ebd., VI 7, 1141a21 f. 230 H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 173–174 f. 231 Aristoteles hat damit »nicht nur die Ethik als eigenständige Disziplin begründet, er hat gleichzeitig eine umfangreiche handlungstheoretische Begrifflichkeit ausgearbeitet, die bis heute in der Ethik bestimmend ist.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 47 ff.) Und darin liegt, »daß die philosophische Reflexion nach Aristoteles für ein praktisch gutes Leben nicht unbedingt erforderlich ist (es sei denn für dasjenige gute Leben, das gerade im Betreiben der Theorie besteht).« (Ebd., 64) 228 229
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(episteme): »Denn alles, was schlechthin aus Notwendigkeit ist, ist ewig, und was ewig ist, ist unentstanden und unvergänglich.« 232 Die auf die Betrachtung ausgerichteten Wissenschaften (theoretikai), die Physik, Mathematik und Theologie, sind durch diese Wissensform charakterisiert. Da für Aristoteles die Wissenschaft weiter »ein Erfassen des Allgemeinen ist und dessen, was aus Notwendigkeit ist, und da es Prinzipien des Beweisbaren und aller Wissenschaft gibt […], so wird es vom Prinzip des Wißbaren keine Wissenschaft geben und keine Kunst oder Klugheit.« 233 Nun handelt für Aristoteles ja überhaupt »jede auf Denken gegründete oder mit dem Denken verbundene Wissenschaft […] von Ursachen und Prinzipien in mehr oder weniger strengem Sinne des Wortes.« 234 Das Denken an sich aber »geht auf das an sich Beste, das höchste Denken auf das Höchste.« 235 Das Höchste jedoch, was gedacht werden kann, ist das Göttliche, die »ewige, unbewegliche, von dem Sinnlichen getrennt selbständig existierende Wesenheit« 236. Da nun der Geist, die Vernunft (nous) »das aufnehmende Vermögen für das Denkbare und die Wesenheit« 237 ist, untersucht auch dieser die Prinzipien (archai) und nicht die Wissenschaft (episteme). Nur der Geist bezieht sich auf das »Prinzip des Wißbaren«. Die Klugheit (phronesis) nun zählt zu den auf das Handeln (praktike) ausgerichteten Wissenschaften. Ihr Ziel ist das gute Handeln selbst und nicht schon das Wissen darüber, was für den Menschen gut oder schlecht ist. Daher »müssen wir die Handlungen prüfen, wie man sie ausführen soll.« 238 Klugheit ist »notwendigerweise ein mit richtiger Vernunft verbundenes handelndes Verhalten im Bezug auf die menschlichen Güter.« 239 Und auch hier führt Aristoteles – analog seiner Nennung der Weisen – einen Vertreter der Klugheit, nämlich den griechischen Staatsmann Perikles, an: »So halten wir auch einen Perikles und ähnliche für klug, weil sie das, was für sie selbst und für die Menschen gut ist, zu erkennen vermögen.« 240 Mittels der Klugheit also, die das Menschliche betrifft, wird die Phi232 233 234 235 236 237 238 239 240
Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI 3, 1139b21–24. Ebd., VI 6, 1140b31–35. Aristoteles, Metaphysik, VI 1, 1025b5 f. Ebd., XII 7, 1072b18 f. Ebd., XII 7, 1073a3–5. Ebd., XII 7, 1072b20–25. Aristoteles, Nikomachische Ethik, II 2, 1103b26 f. Ebd., VI 5, 1140b20 f. Ebd., VI 5, 1140b6–10.
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losophie bei Aristoteles praktisch: »Denn die Klugheit gibt Anweisungen« 241. Im Zuge seiner Konzeptionen für ein glückliches Leben unterscheidet Aristoteles so zwischen einem Leben der Theorie, welches der Philosoph 242 führt und dem ethischen Leben, welches der Politiker 243 wahrnimmt. Zwar sieht Aristoteles im Vollzug des Philosophierens die höchste ethische Lebenskonzeption, doch dieses Philosophieren, worin der Mensch seinen Anteil am Göttlichen 244 gewinnt, ist als »Leben der Betrachtung« für einen Menschen nicht dauernd möglich, denn Dauerhaftigkeit und Beständigkeit kommt nur dem göttlichen Wesen zu, welches die theoria in der Schau des Ewigen und Unvergänglichen vollzieht. In diesem Sinn bleibt das menschliche Philosophieren wohl beständig hinter dem Ideal der göttlichen theoria zurück. Doch »darin liegt die Unsterblichkeit der Sterblichen (ATHANATÍZEIN ›das sterbliche Wesen abtun‹), die ihnen zwar nur für kurze Zeit beschieden ist, darin aber an Kraft und Würde alles andere überragt. Es ist ihr eigenstes Leben, ein Leben reinen Glückes.« 245 Oder wie es Aristoteles’ Appell, das menschliche Wissen zu übersteigen, zum Ausdruck bringt: »Man darf aber nicht auf jene Mahnung hören, die uns anweist, als Menschen nur an Menschliches Ebd., VI 11, 1143a6 f. Doch der Philosoph ist bei Aristoteles kein bloßer Theoretiker: »[A]uch für ihn [Aristoteles] bleibt die Philosophie nicht bei einem Diskurs über die Philosophie oder einer Ansammlung von Kenntnissen stehen, sondern sie verkörpert eine Qualität des Geistes und stellt das Resultat einer inneren Wandlung dar: Aristoteles preist ein Leben an, das ein Leben nach dem Geiste ist«. (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 169) Denn »[w]as einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genußreichste. Für den Menschen ist dies das Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist.« (Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7, 1178a4–8) 243 Die Lebensform des bios politikos richtet sich in seiner ethischen arete aus »auf den altadeligen Wert der time, der Ehre, zu der die Anerkennung der Leistung im öffentlichen Leben zählt. Das politische Leben, das um dieses Wertes wegen gewählt wird, hat seinen Wert nicht in sich selbst.« (W. Ries, Die Philosophie der Antike, 2005, 110) 244 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7, 1177b25–30. Und über dieses Göttliche im Menschen verfügen am ehesten die Philosophierenden: »Denn wenn die Götter, wie man glaubt, um unsere menschlichen Dinge irgendwelche Fürsorge haben, so darf man annehmen, daß sie an dem besten und ihnen verwandtesten Freude haben – und das ist unser Geist – und daß sie denjenigen, die dies am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten […] Es ist aber unverkennbar, daß dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist.« (Ebd., X 9, 1179a24–30) 245 H. Vetter, Die Philosophie der europäischen Antike, II. Teil, 2003, 37. 241 242
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und als Sterbliche nur an Sterbliches zu denken, sondern wir sollen, soweit es möglich ist, uns bemühen, unsterblich zu sein und alles zu tun, um nach dem Besten, was in uns ist, zu leben. Denn mag es auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende.« 246 Während also bei Platon theoretische und praktische Philosophie noch eine Einheit bilden, hat Aristoteles die Ethik als ein praktisches Handeln von der Philosophie im Sinn einer strengen Wissenschaft gelöst. Denn das »praktische Handeln geschieht in einem Bereich, in dem ein beständiges Werden herrscht: manches ist möglich, nichts ist notwendig, in allem gibt es Veränderung. Es bedarf wohl eines Wissens, aber es ist für es eben kein exaktes wissenschaftliches Wissen möglich.« 247 Die Ethik als ein praktisch relevantes Wissen wird von Aristoteles zu einem eigenständigen Wissensbereich erhoben, da es für ihn kein einheitliches Wissen vom Guten gibt. Und da es für ihn auch keine Idee des Guten gibt, »auf die jede Handlung letztlich gerichtet ist, ist für ihn die das Handeln leitende Fähigkeit kein Wissen eines solchen höchsten und unveränderlichen Prinzips, sondern Reflexion über veränderliche allgemeine und individuelle Bedingungen.« 248 Wenngleich Aristoteles »mithin das philosophische Prinzipienwissen pointiert vom Wissen der Ethik unterschieden hat, werden dennoch beide Wissensformen als glücksrelevant aufgefaßt. Philosophisches Wissen bleibt auch bei ihm konstitutiv für einen persönlichen Habitus, und es begründet eine eigene, besonders empfehlenswerte Lebensform.« 249 Denn die philosophische Lebensform, das Leben des bios theoretikos, zeichnet sich durch einen für das Philosophieren bestimmenden Vorrang aus: »[N]ichts genügt einem dem Geist verpflichteten Leben als das zweckfreie Studium der organischen Gesetze in allem Lebendigen und der Aufblick zu den immerwährenden, schön geordneten Gestirnumläufen am Himmel. Die sublunare Welt der Veränderlichkeit und des Todes hingegen ist nur der zweitbesten Betrachtung wert.« 250
246 247 248 249 250
Aristoteles, Nikomachische Ethik, X 7, 1177b30–1178a3. J. Mader, Von Parmenides zu Hegel, 1992, 129. H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 171 f. Ch. Horn, Antike Lebenskunst, 1998, 29 f. W. Ries, Die Philosophie der Antike, 2005, 110.
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3.2 Sophistische Positionen als Ersatz für das gute Leben? Dass die Auseinandersetzung mit der Sophistik 251 gerade der platonischen Philosophie ihre Positionierung verschafft hat, wurde bereits erwähnt. Was aber ist eine sophistische Position? Gibt es denn eindeutige Charakteristika, mit welchen sich die sophistische Bewegung 252 in der griechischen Antike bestimmen lässt? Auch wenn es sich bei den antiken Sophisten um keine einheitliche Strömung handelt, lassen sich gewisse Merkmale für die griechische Sophistik ausweisen, wie beispielsweise ihr allgemeines Desinteresse an der damals vorherrschenden Naturphilosophie, den sogenannten kosmologischen Wissenschaften, ihre eingehende Auseinandersetzung mit den menschlichen Belangen, mit der sie die Wendung zum Menschen 253 als dem entscheidenden Maß, an welchem die Wirklichkeit gemessen und bewertet wird, einleiten, ihre Konstitution eines völlig neuen, an Nutzen und Verwertbarkeit orientierten Wissens und die für sie zentrale Rolle der Rhetorik als wirkungsvolles Instrumentarium zum Erlangen von Einfluss und Macht. Es sind also die griechischen Sophisten 254, die den Mensch und seine Geschichte in den Vordergrund stellen und damit in praktischer wie auch traditionskritischer Hinsicht die Götter und die Natur zurück. Nicht das Erkennen der äußerSiehe dazu insbesondere das Kapitel zur wörtlichen Erklärung von »Philosophie« in der Einleitung, wie auch den »Exkurs über das Philosophieren als Beruf« in der vorliegenden Arbeit. 252 Ohne besondere Differenzierung bezeichnet man als antike »Sophisten« jene Gruppe wandernder Redner und Philosophen, die im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. vor allem als Lehrer für Rhetorik auftraten. In diesem ganz allgemeinen Sinn wird sogar Sokrates gelegentlich zu den Sophisten gerechnet. 253 Diese Wende zum Menschen vollzieht Sokrates noch radikaler als die Sophisten, denn er »untersuchte nämlich nicht, welches das Wesen des von den Sophisten so genannten Kosmos sei […] Zuerst einmal untersuchte er bei ihnen [den Menschen], ob sie im Glauben, über die menschlichen Dinge schon genügend zu wissen, sich um derartiges zu kümmern begännen, oder ob sie das Menschliche vernachlässigten und meinten, mit der Untersuchung des Göttlichen das Richtige zu tun.« (Xenophon, Erinnerungen, I 1, 11–12 f.; vgl. ebd., IV 7, bes. 5–6) Vgl. dazu auch Aristoteles, Metaphysik, I 1b, 987b1 f. 254 W. Capelle dazu: »während das Ur- und Endziel der großen griechischen Denker vor dem Aufkommen der Sophistik die Erkenntnis der reinen ›Wahrheit‹ war, d. h. die Erforschung der wirklichen ursächlichen Zusammenhänge alles Geschehens in Himmel und Natur, ist der Gegenstand aller sophistischen Spekulation der Mensch, als Individuum sowohl wie – und dies noch mehr – als Glied der Gesellschaft, d. h. als soziales Wesen«. (W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, 319 f.) 251
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lichen Wirklichkeit eines göttlichen Naturzusammenhangs erweckt ihr Interesse, sondern ihr Erkennen richtet sich auf uns selbst. Somit nimmt das Erkennen der Sophisten eine reflexive Struktur an und verändert damit das Selbstbild wie die Situation des Erkennenden. Durch diesen Selbstbezug des Subjekts wird das Erkannte in Beziehung zum Erkennenden gesetzt, so dass der Mensch als erkennendes Subjekt gleichsam aufhört ein Gegenstand unter Gegenständen zu sein. Die Sophistik denkt also gerade nicht vom Gegenstand her, sondern favorisiert den Subjektbezug. Und da die Sophisten den Mensch und dessen Vernunft in das Zentrum ihrer Überlegungen rücken, befreien sie das Denken der Menschen von der Herrschaft tradierter Anschauungen und Gebräuche, insbesondere von religiös begründeten Normen und Werten, und vollziehen mit ihrer Suche nach sozialen Begründungen für den gesellschaftlichen Zustand zugleich einen Akt der Aufklärung. 255 Doch ist im Hinblick auf eine Bestimmung von »Sophistik« Th. Buchheim zu folgen, wenn er unter sophistischen Auffassungen nicht die ausschließlich von den griechischen Sophisten vertretenden Positionen versteht, sondern Standpunkte, die mehr ein allgemein gültiges Phänomen menschlicher Verhaltensweisen darstellen: »Für eine bestimmte Haltung: eine gewisse Nachlässigkeit im Umgang mit dem theoretisch Wahren; eine spürbare Vorliebe für momentan Rettung bietende Auswege aus mißlichen Diskussions- und Lebenssituationen; für ausgekochtes Beharren auf dem Wortlaut von Äußerungen zu Ungunsten ihres Sinnes; für eine manchen zur Verzweiflung bringende Unsachlichkeit der Reaktion auf sachliche Vorhaltungen und Anforderung – für alles dieses gebrauchen wir bisweilen auch heute noch den Titel ›sophistisch‹.« 256 Diese Sichtweise der Sophistik rechtfertigt auch den modernen Sprachgebrauch 257, der Grund zur Annahme gibt, dass es eine Art sophistische Haltung nach wie vor gibt. So Diese mit der Sophistik einsetzende »Aufklärung« skizziert E. v. Aster richtig so: »Der Mensch und der Lauf seines Lebens erscheint nicht mehr abhängig von einem über ihm waltenden Schicksal, göttlichen Willen, inneren Kräften der Natur, er empfindet sich auf sich selbst gestellt, von seinem eigenen Charakter, seinen Fähigkeiten, seinem Wollen, seinen Kenntnissen ist sein Verhalten und weitgehend auch sein Erfolg und sein Glück bestimmt.« (E. v. Aster, Geschichte der Philosophie, 1980, 56 f.) 256 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, VII f. 257 Hilfreiche Anmerkungen rund um den modernen Sprachgebrauch des Begriffs »sophistisch« bietet B. H. F. Taureck in seiner Fußnote zur Feststellung, dass »sich das moderne Bedeutungsfeld des Begriffs Sophist zwischen Lügner und innovativem Denkmeister« erstreckt. (B. H. F. Taureck, Die Sophisten, 1995, 8; bes. FN 5, 155–156) 255
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ist auch mit Th. Schirren und Th. Zinsmaier in Bezug auf das Wort »sophistisch« und seinen Entsprechungen in anderen Sprachen festzustellen, dass diese Wörter »heute für ein Höchst- oder Übermaß an ›Künstlichkeit‹, für eine technische Perfektion, die bei den Laien Verblüffung und Bewunderung – oder Unbehagen und Verdacht hervorruft« 258, stehen. Was aber sind nun die speziellen Positionen der Sophistik, welche konkreten Auffassungen wurden von den Sophisten vertreten? Für die praktische Philosophie lassen sich die Bemühungen der Sophisten durchaus als Versuch »einer Beschreibung derjenigen Tugenden deuten, auf deren Grundlage ein demokratisches Gemeinwesen lebensfähig ist.« 259 W. Röd führt dazu den für den damaligen Prozess der Demokratisierung wichtigen Aspekt an: »In der Rechtsphilosophie diskutierten die Sophisten kritisch die Auffassungen von Recht und Staat und eröffneten damit der Rechtspolitik eine realpolitische Perspektive.« 260 Es waren also unmittelbare Reaktionen auf die zeitgenössische Demokratie, die letztlich die Schaffung einer flexiblen Rechtsordnung, welche Recht und wohl auch Gerechtigkeit im laufenden Wandel gesellschaftlicher Normen garantieren sollte, zum Ziel hatten. Im Zentrum dieser demokratiepolitischen Erneuerung steht ein sophistisches Erziehungs- und Bildungsideal, dessen Ziel zwar die Formung des menschlichen Geistes 261 ist, doch richtet sich die sophistische Erziehung auf eine praktische Anwendbarkeit aus. Das sophistische Lehrangebot intendiert zwar Bildung in einem umfassenden Sinn, geht also weit über die Vermittlung von elementaren Kenntnissen in Fächern wie der Mathematik, der Grammatik oder der Musik hinaus und bleibt auch keineswegs auf das sportliche Trainingsangebot der damaligen Gymnasien beschränkt. Doch im Mittelpunkt des sophistischen Lehrprogramms stand eindeutig die Rhetorik, die den Kern der politike techne bildete und mit deren Einsatz Erfolg in allen Bereichen des Lebens verbunden wurde. Sophistische Erziehung vermittelt also vor allem ein Wissen zur erfolgreichen Bewältigung des Lebens, wobei der Wert von Wissen nach seiner NützTh. Schirren, Th. Zinsmaier, Die Sophisten, 2003, 11–12. B. H. F. Taureck, Die Sophisten, 1995, 11. 260 W. Röd, Kleine Geschichte der antiken Philosophie, 1998, 76 f. 261 Nach W. Capelle vollzogen die Sophisten als »Begründer der Erziehungswissenschaft« bewusste Geistesbildung (paideia) und zwar: »auf der einen Seite durch Grammatik, Rhetorik und Dialektik, auf der anderen durch Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik«. (W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, 319 f.) 258 259
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lichkeit und nicht nach seiner Richtigkeit in einem möglichst objektiven Sinn beurteilt wird. Das allgemein erklärte Ziel des sophistischen Unterrichts liegt in der Ausbildung von praktisch nutzbaren Fähigkeiten, die den Schülern ein möglichst erfolgreiches Leben sichern sollen. Th. Buchheim trifft das Wesen der sophistischen Erziehung wohl genau, wenn er feststellt: »Lehren ist im sophistischen Verständnis ein Beibringen, und Lernen nicht eigentlich verstehendes Lernen, sondern ein Geprägt-werden.« 262 Und diese Praxis des sophistischen Lernens vollzieht sich wahrscheinlich schlicht so: »Indem der Sophistenzögling ständig mit einem Artisten des Könnens überhaupt, dem Rede- und Lebe-Meister seiner Schule, zusammen ist, der insofern alles weiß, als er über alles redet, ja insgesamt alles kann, was zum höheren Lebenkönnen gehört, färbt die Übung des Alleskönnens zunehmend auf den Adepten ab, bis er auch soweit ist, als ein pantechnisch durchgeformter Alleswisser und Alleskönner ins öffentliche Leben zu treten.« 263 Protagoras schließlich hat sein Erziehungsprogramm als Erziehung zur arete im Sinn einer Erziehung zum guten Staatsbürger 264 ausgewiesen: »Diese Kenntnis aber ist die Klugheit in seinen eigenen Angelegenheiten, wie er sein Hauswesen am besten verwalten und dann auch in den Angelegenheiten des Staates, wie er am geschicktesten sein wird, diese sowohl zu führen als auch darüber zu reden.« 265 Und diese Behauptung, dass nämlich die arete »die Gerechtigkeit und die Besonnenheit und das Frommsein, und was ich alles in eins zusammengefaßt die Tugend eines Mannes nennen möchte« 266 lehrbar 267 ist, unterscheidet Protagoras wie die Sophisten generell vom platonischen Sokrates. Wenngleich also Platon die grundsätzlichen Fragen, wie die nach einem guten Leben oder nach einer rich-
Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, 1986, 124 f. P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 452 f. 264 Damit grenzt sich Protagoras ganz bewusst von der Fortführung einer Lehre der »Schulkünste« ab, die andere Sophisten, so zum Beispiel Hippias, seiner Ansicht nach vermitteln. (Vgl. Protagoras 318d–e) 265 Protagoras 318e –319a f. 266 Protagoras 325a f. 267 Wenngleich für Sokrates diese Tugend nicht lehrbar scheint (vgl. Protagoras 319b, 320bf.), kritisiert er an den Sophisten insbesondere den Umstand, dass sie »ihren Schülern nicht die Fähigkeit vermitteln, mit den ihnen beigebrachten Kenntnissen auch richtig umzugehen. Hier bleiben die Schüler am Ende doch wieder ganz auf sich selbst angewiesen.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 178–179) 262 263
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tigen Politik, angesichts der radikalen Basisdemokratie in Athen, mit den Sophisten teilt, ihre Auffassungen darüber sind eklatant unterschiedlich ausgefallen, wie die nachfolgenden Kapiteln zeigen.
3.2.1
Kallikles’ Zügellosigkeit
In seiner Konfrontation mit Sokrates steckt Kallikles 268 der Philosophie 269 hinsichtlich ihrer Aufgaben und Bedeutung enge Grenzen. Für ihn dient sie lediglich zur Bildung des jungen Menschen. Wer noch als Erwachsener philosophiert, verdient hingegen Schläge. Denn Philosophieren auf Dauer, so Kallikles vereinfacht, führt weg von Ruhm und Reichtum, macht unerfahren in den weltlichen Angelegenheiten und endet nicht selten in Lächerlichkeit und Einsamkeit. Diese Einschätzung von Philosophie 270 hat sich bei Kritikern bis heute gehalten. Kallikles’ Position zum glücklichen Leben soll nun näher betrachtet werden und zwar abseits ihrer geläufigen Stigmatisierung als bloß radikale Form eines platten Hedonismus. So besteht für Kallikles das gute Leben im bestmöglichen Ausleben der menschlichen Begierden. Nach ihm gilt, dass »wer richtig leben will, seine Begierden muß so groß werden lassen als möglich und sie nicht einzwängen; und diesen, wie groß sie auch sind, muß er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht und befriedigen, worauf seiOb sich hinter der platonischen Dialogfigur des Kallikles eine reale Person verbirgt ist unklar. Kallikles ist auch mehr als Exponent radikaler Sophismen zu sehen und nicht als Sophist im Gewand des Weisheitslehrers. Er vollzieht daher auch keine Dialektik, führt kein Gespräch im dialogischen Sinn, sondern trägt vor, um gezielt zu beeindrucken. Kallikles strebt mit rhetorischen Mitteln nach Macht und Einfluss im Staat. Zur Person des Kallikles vgl. auch K. Hildebrandt, Gorgias, 1989, 149 ff., W. Reese-Schäfer, Antike politische Philosophie, 1998, 53 f. 269 Vgl. Gorgias 485a–485d. 270 Die kallikleische Beurteilung von Philosophie orientiert sich an Werten und Taten, die vor allem das »äußere« Verhalten eines Menschen spiegeln und insbesondere auf ein gesellschaftliches Ansehen ausgerichtet sind. Dagegen berücksichtigt der sokratische Zugang zur Philosophie auch das, was sich im »Inneren« eines Menschen abspielt und beurteilt menschliches Handeln nicht danach, ob es Ansehen verschafft, sondern insbesondere danach, ob es aus einer inneren Übereinstimmung mit sich selbst erfolgt. Mit Marc Aurel betrachtet: »Denn es ist recht wohl möglich, ein göttlicher Mann zu sein und doch von niemanden dafür erkannt zu werden. Dessen sei stets eingedenk, und denke außerdem daran, daß zu einem glückseligen Leben nur sehr wenig erforderlich ist […].« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 67) 268
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ne Begierde jedesmal geht.« 271 Eine Begierde (epithymia) ist für Kallikles also nicht einfach passiv durch die Erfahrung von Sinneslust und Genuss in möglichst großem Ausmaß zu stillen, sondern aktiv mit Hilfe von Einsicht (phronesis), Tapferkeit und Mut (thymos) zu befriedigen. Bei Kallikles geben die Begierden die Zielsetzungen im Leben vor und der Mensch, der richtig leben will, muss genau darüber nachdenken, welche Mittel zur Anhäufung und Steigerung seiner Begierden am besten geeignet sind. Auch hält dieser Mensch sein zahlreiches Begehren tapfer aus und besitzt zugleich den Mut, seine Handlungen immer so zu setzen, dass sie zur Befriedigung der größtmöglichen Begierden beitragen. Diese aktive Konzeption des Lebens kennt keinen wunschlos glücklichen Zustand, sondern nimmt die Grenzenlosigkeit der Begierden an und sucht in der Erfahrung der vollends nie zu stillenden Lust ihre wahre Befriedigung. Letztlich will Kallikles die Lust der Seele befriedigen und dies gelingt seiner Ansicht nach am besten mit Hilfe der Rhetorik, weil sie auf die Lust der Seele zu wirken versteht. Anders als bei Sokrates, ist sein Vorgehen nicht getragen vom Vertrauen in einen widerspruchsfreien Logos 272, dessen innewohnende Vernünftigkeit nach der Wahrheit strebt, sondern durch die Vielzahl der Reden bestimmt, die erforderlich ist, um die Verschiedenheit der Meinungen der Leute gezielt steuern zu können. So richtet sich Kallikles auch in seiner politischen Zielsetzung immer nach der Meinung der Mehrheit aus, weil nur dann Beliebtheit und Erfolg garantiert sind. Nicht das Beherrschen von Begierden, sondern die Beherrschung der Rhetorik ermöglicht für Kallikles das gute Leben. Allerdings gibt es nur wenige Menschen, die in der Lage sind, die Kunst der Rhetorik für sich zu nutzen. Nach Kallikles sind das jene Menschen, die von Natur aus das Gerechte verkörpern (physei dikaion) und sich in den Angelegenheiten des Staates als die Einsichtigeren (phronimoi) erweisen. Diese starken Menschen wählen das Gesetz der Natur (physei), da sie zum Ausleben ihrer Begierden fähig sind und orientieren sich nicht an den Gesetzen (nomoi), die als Erfindung der Schwachen lediglich zu deren Schutz dienen. Denn Gorgias 491e–492a f. Im Hinblick auf die »Bewegung und Führung« des Logos ist wesentlich anzumerken: »Bei allen Erlebnissen mit dem Logos geht es den dialektischen Gesprächsführern, allen voran Sokrates, meist nicht darum, selbst mit ihren Meinungen im Anbranden verschiedener Logoi bestehen zu können, sondern dorthin zu folgen, wohin der Logos führt, und sich darum zu bemühen, dass der Logos voranschreitet.« (A. Dunshirn, Sokrates in der Alterität des Logos, 2010, 153)
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»die die Gesetze geben, das sind die Schwachen und der große Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das, was ihnen nützt, bestimmen sie die Gesetze […] und um kräftigere Menschen, welche mehr haben könnten, in Furcht zu halten« 273. Kallikles’ Vorstellung vom guten Leben ist von einer materialistischen Naturauffassung geprägt, welche dem von Natur aus Stärkeren auch das Recht auf Bestimmung der sozialen Gesetze einräumt. Diese stärkeren Menschen sind aber nicht die physisch Stärkeren, sondern die zur Einsicht in die Angelegenheiten des Staates Fähigen, die zugleich den Mut besitzen, die zur Erreichung ihrer Ziele erforderlichen Handlungen auch umzusetzen. Einsicht in Form des erforderlichen Wissens zur Verwaltung des Staates, sowie Tapferkeit als das Vermögen, die Einrichtung des Staates trotz zu erwartender Widerstände zu wagen, sind die Eigenschaften, welche die von Natur aus Besseren dazu befähigen einen Staat zu regieren. Zur Erreichung des guten Lebens verhelfen also Einsicht und Tapferkeit, und das gute Leben an sich zeichnet aus, so Kallikles pointiert: »Üppigkeit und Ungebundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rückhalt haben, sind eben Tugend und Glückseligkeit« 274. Damit setzt Kallikles das Gute mit dem gemeinhin als angenehm Empfundenen gleich und trifft damit eine wohl bis heute gängige Vorstellung vom glücklichen Leben. Üppigkeit als Reichtum und der damit einher gehende Besitz von Macht und Einfluss sowie Unabhängigkeit als scheinbare Freiheit im Sinn von tun und lassen können, was man will, zählen für die meisten Menschen zu den grundlegenden Voraussetzungen für ein glückliches Leben. Und die Ansicht, dass Freigebigkeit und Ungebundenheit nur auf Basis von materiellem Reichtum realisierbar sind, ist nach wie vor schlagend. Dass ein gutes Leben auch angenehm sein soll, wird wohl der Großteil von Menschen bejahen, genauso wie den Umstand, dass das dauerhafte Fehlen von Annehmlichkeiten eher ein weniger glückliches Leben bedingt. Die kallikleische These einer Identität von gut und angenehm ist aber genauer zu prüfen. Angenehm ist das Leben für Kallikles immer dann, wenn darin die Befriedigung unserer Bedürfnisse unmittelbar zum Ausdruck kommt. Allerdings versteht er das angenehme Leben nicht als einen dauerhaften Zustand erreichter Fülle und Zufriedenheit, sondern macht klar, dass die Quintessenz des glücklichen Lebens, die Lust, 273 274
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nie fehlen darf. Denn wie angenehm, so Kallikles, kann ein Leben schon sein, wenn scheinbar alles erreicht wurde und keinerlei Lust mehr zu gewinnen ist? Also nicht die Menschen, die sich mit dem Vorhandenen begnügen, sei es nun wenig oder viel, führen ein glückliches Leben, sondern die, welche die Befriedigung ihrer Begierden nie vollständig erreichen, weil sie fähig sind, immer neue Begierden zu erzeugen. Doch wie ist der Rückhalt zu verstehen, unter dessen Bedingung Kallikles seine maßgebenden Kriterien für die Glückseligkeit stellt? Damit ist grundsätzlich die Fähigkeit gemeint, die für das glückliche Leben als konstitutiv erklärten Elemente, die Üppigkeit, die Ungebundenheit und die Freigebigkeit im eigenen Leben ausreichend Platz finden zu lassen. Dazu sind generell die zuvor skizzierte Einsicht und Tapferkeit erforderlich und speziell die Fähigkeit, die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse von einer möglichst großen sozialen Einheit erfüllen zu lassen. Denn Kallikles’ Konzeption vom glücklichen Leben ist, ähnlich der Intention von Sokrates, letztlich ein politisches Ideal, kein Ideal des individuellen Lebens. Die politisch radikale Verwirklichung der kallikleischen Konzeption verläuft dann so, dass letztlich ein Tyrann 275 in egoistischer Weise den ganzen Staat für sich in Anspruch nimmt, indem er sich durch die exekutierte Macht seines monokratischen Systems, in welchem die Wenigen, die sogenannten Besseren, Stärkeren oder Tüchtigeren herrschen, den erforderlichen Rückhalt verschafft. So wird nach Vorstellung des Tyrannen zumindest temporär eine sozial weitreichende Dimension seines persönlichen Glücklichseins erzielt. Doch sollte darüber kein Zweifel bestehen, dass ein derartiger Despotismus weder von Dauer ist, noch dem Herrscher in der Tyrannis 276 eine Seelenruhe vergönnt, denn eine Herrschaft auf Basis von Unterdrückung zieht immer Gewalt und Unruhe nach sich. In ihrer sozialpolitischen Dimension liefert die kallikleische Position zum guten Leben also definitiv keinen ernsthaften Beitrag zur Realisierung des glücklichen Lebens. Denn wer sich »zügellos seinen Begierden, Neigungen und partikularen Interessen hingibt, der ist nicht nur von ihnen hin- und hergerissen, Denn ein Tyrann zu sein bedeutet, so Polos, »daß man Macht habe, im Staate was einem gutdünkt auszurichten, zu töten, zu vertreiben und alles zu tun nach eignem Wohlgefallen.« (Gorgias 469c) 276 Der Tyrann ist deshalb »keineswegs glücklich zu preisen, weil er aus Mangel an Einsicht in das Gute aller Wahrscheinlichkeit nach Mittel verwenden wird, die sich letztlich gegen ihn kehren. Er wird, verleitet durch die Macht, alle möglichen Verbrechen begehen«. (G. Böhme, Sokrates, 2002, 97 f.) 275
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also ohne Selbstidentität und insofern unglücklich, sondern er führt darüber hinaus das Leben eines Räubers, denn er ist jeglicher Gemeinschaft und Kommunikation unfähig.« 277 Wird hingegen die bloß individuelle Dimension 278 von Kallikles’ Lebensentwurf gesehen, sein Ansatz also ausschließlich für das gute Leben einer einzelnen Person im Sinn eines möglichst intensiv erfahrbaren Lebens betrachtet, dann kommt dieser Lebenskonzeption wohl gewiss eine Bedeutung zu. Denn eine Person, die sich frei dafür entscheidet, ihre Begierden möglichst groß werden zu lassen, um damit den für sie bestmöglichen Lebensgenuss zu erzielen, kann sich in einem subjektiven Sinn durchaus glücklicher empfinden als eine Person, die sich auf das Gute im sokratischen Sinn ausrichtet, also ein gewissermaßen von Vernunft und Einsicht geleitetes Leben führt. Für eine Gegenüberstellung der Lebenskonzeptionen von Sokrates und Kallikles ist festzuhalten, dass es beiden zwar wesentlich um die politische Dimension des guten Lebens geht, also um Einwirkung auf die Angelegenheiten des Staates in seiner sozialen Ganzheit, doch spielt in beiden Fällen die individuelle Dimension 279 des guten Lebens die entscheidende Rolle. Gemeinsames Ziel der Lebenskonzeptionen von Sokrates und Kallikles ist zwar das Gute (agathon), das Glück (eudaimonia), doch das Verständnis vom Guten differiert offenkundig. Für Kallikles sind die Begierden (epithymiai) das Gute, das unterschiedslose Verfolgen jeder Form von Lust, für Sokrates dagegen ist das Gute die Vernunft (nous), die selbst zu erlangende Einsicht (phronesis). Beide bedienen sich bei der Suche nach dem geeignetsten Mittel zur Erreichung des Guten der Überlegung, des Denkens und finden das geeignetste Mittel in doch sehr unterschiedlichen Methoden, Kallikles in der Rhetorik, Sokrates im Dialog im Sinn eines dialektischen Prozesses. Und auch die persönlichen Fähigkeiten, welche das Setzen von Handlungen zur Erreichung der Ziele ermöglichen sollen, differieren entscheidend. Bei Kallikles zählen dazu die Tapferkeit, der Mut (thymos) als Fähigkeit der von Natur aus besseren Menschen,
T. Kobusch, Wie man leben soll: Gorgias, 1996, 60 f. Zu betonen bleibt, dass Kallikles’ individuelle Lebenskonzeption zugleich sein politisches Ideal ist. 279 Denn, so W. Reese-Schäfer richtig: »Sokrates stellte die Politik des Individuums, das sich auf den direkten Zugang zur Wahrheit berief, unmittelbar gegen die gemeinsame Politik und Gesellschaft, deren Schwächen schonungslos aufgedeckt wurden.« (W. Reese-Schäfer, Antike politische Philosophie, 1998, 58) 277 278
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eben jener, die es wagen vor die Menge zu treten und auch imstande sind eine Rede zu halten, welche die Menschen begeistert. Bei Sokrates hingegen ist es die Bewusstheit als Fähigkeit des Einsichtigen, der im Dialog mit anderen zur Übereinstimmung mit sich selbst zu gelangen sucht. Doch gerade im Gorgias wird deutlich, dass im Diskurs zwischen Sokrates und Kallikles der sokratische Dialog als die an der Sache orientierte und logisch schlüssige Form der Rede gegenüber der, auf das jeweilige Publikum ausgerichteten und mehr psychologisch wirksamen, Rhetorik des Kallikles, nicht immer klar die Oberhand behält. Dabei steht außer Zweifel, dass Kallikles weder eine argumentativ schlüssige Beweisführung liefert, noch um die Schaffung moralisch-ethischer Werte bemüht ist. Doch nicht das Verlangen nach einer fundierten Begründung für unsere moralischen Handlungen begeistert die meisten Menschen, sondern eine überzeugend vorgetragene Rede, da diese nach Gorgias imstande ist »Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren« 280. Und daher bringt Kallikles seine Verwunderung gegenüber Sokrates auch richtig zum Ausdruck: »Denn wenn du es ernstlich meinst und das wahr ist, was du sagst, so wäre ja wohl das menschliche Leben unter uns ganz verkehrt und wir täten in allen Dingen das gerade Gegenteil, wie es scheint, von dem, was wir sollten?« 281
3.2.2
Gorgianische Redekunst
Mit dem Sophisten Gorgias 282 tritt uns eine völlig entzauberte Welt entgegen. Jede metaphysische Überlegung, die eine Erkenntnis der wahren Wirklichkeit oder das Finden und Verkünden eines objektiven Seins zum Ziel hat, wird von ihm rhetorisch ad absurdum geTh. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [8], 1989, 9. 281 Gorgias 481c. 282 Gorgias von Leontinoi beschäftige sich vor allem eingehend mit der Technik des Redens. Vermutlich war Empedokles sein Lehrer (vgl. Diogenes Laertius, VIII 58), den Aristoteles als »ersten Erfinder der Rhetorik« (Diogenes Laertius, VIII 57) bezeichnet haben soll. Gorgias soll zudem hohes Ansehen in der Öffentlichkeit genossen haben, das zeitweilig solch ein Ausmaß angenommen haben soll, »daß Gorgias im Purpurmantel auftrat und schließlich sogar eine goldene Statue seiner Person im Heiligtum von Delphi errichten durfte. Sein Lebenswandel scheint aber ansonsten eher asketisch gewesen zu sein«. (Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, 1989, VIII) 280
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führt. In der Schrift »Über das Nicht-Seiende oder über die Natur« 283 übt Gorgias fundamentale Kritik an den früheren Philosophen, namentlich den Eleaten, die an der Möglichkeit, das Wesen der Wirklichkeit mittels vernünftiger Einsicht erfassen zu können, festhielten. Mit seinem ontologischen Nihilismus und erkenntnistheoretischen Skeptizismus kontrastiert er insbesondere die Parmenideische Ontologie. Dazu stellt er folgende drei Thesen auf: »Er behauptet [1.], daß gar nichts sei; [2.] wenn doch etwas ist, sei es unerkennbar; [3.] wenn aber doch etwas sowohl ist als auch erkennbar ist, sei es jedoch anderen nicht zu verdeutlichen.« 284 Welche Absicht Gorgias mit dem Beweis dieser Thesen verfolgte, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Wird die Annahme getroffen, dass Gorgias damit nicht bloß die Kunst seiner dialektischen Eristik zum Metier des Rhetorikers erklären wollte, also lediglich ein Muster für rhetorisch perfekte Dialektik demonstrierte, dann lässt sich in Gorgias’ ontologischem Traktat, wie W. Capelle ausführt, nicht nur eine nihilistische Spielerei sehen, denn »das wird schon durch den Vergleich mit der Dialektik des Zenon widerlegt, die augenscheinlich die Grundlage der gorgianischen Beweise bildet. Außerdem zeigen Gorgias’ Argumente für seine dritte These, daß er hier an wirkliche Probleme der Erkenntnistheorie (und Sprachphilosophie), an die Frage nach dem Verhältnis des Objektes mit dem denkenden Subjekt, bzw. zum Gedanken, und des Gedankens zu dem ihn ausdrückenden Wort ernsthaft rührt.« 285 Ähnlich dazu auch W. Röd: »Die Schrift ›Über das Nicht-Seiende‹ ist nicht der Niederschlag der Freude an dialektischer Virtuosität, sondern der Versuch einer Überwindung der älteren spekulativen Philosophie.« 286 Folgt man dieser Deutung und versteht Gorgias’ Werk nicht nur als Demonstration einer rhetorischen Spiegelfechterei, dann ist der gorgianischen Beziehung zwischen ontologischem Nihilismus und Rhetorik näher auf den Grund zu gehen. Diese vermutlich früheste Schrift des Gorgias ist nicht selbst, sondern nur in Form von zwei Berichten, nämlich der Schrift eines Anonymus (Pseudo-Aristoteles) »De Melisso Xenophane Gorgia« und dem Referat »Adversus mathematicos« des Sextus Empiricus erhalten. Der pseudo-aristotelische Bericht gilt heute als der zuverlässigere. Vgl. dazu Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, 1989, XVI, 40, 54 sowie B. H. F. Taureck, Die Sophisten, 1995, 16, 85 ff. 284 Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Über das Nichtseiende, Fragment 3 [1], nach dem Anonymus, 1989, 41. 285 W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, 344 f. 286 W. Röd, Kleine Geschichte der antiken Philosophie, 1998, 86 f. 283
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Dazu sollen seine berühmten Schriften »Lobpreis der Helena« 287 und die »Verteidigung des Palamedes«, die beide als rhetorische Übungsreden gelten, herangezogen werden, denn dort erfährt Gorgias’ Nihilismus seine rhetorische Umsetzung. So heißt es zu Beginn der »Helena«: »Zier […] – das ist für eine Stadt die gute Mannschaft, für einen Körper Schönheit, für die Seele Weisheit, für ein Ding Tauglichkeit und für die Rede Wahrheit« 288. Die Wahrheit (aletheia) also schmückt die Rede. Im »Palamedes« wird diese Wahrheit als sicheres, genaues Wissen charakterisiert und der Meinung (doxa) als bloßer Ansicht gegenüberstellt: »Doch darf man weder denen trauen, die eine Ansicht hegen – sondern nur den Wissenden – noch die Ansicht für eher glaubwürdig als die Wahrheit halten – sondern umgekehrt: die Wahrheit eher als die Ansicht.« 289 Auch Parmenides hat die Wahrheit der Meinung, die für das gängige Weltbild eines Menschen steht, dafür, was jemandem alltäglich widerfährt und dieser dann als das wahrhaft Wirkliche, das eigentlich Seiende, versteht, entgegengesetzt. Die philosophische Wahrheit erringt nach Parmenides auch nur der, welcher den bloßen Schein der Meinung als vergänglich durchschaut und nach dem, was ewig Bestand hat, dem Sein der Wahrheit, Ausschau hält. Während aber Parmenides noch an die Menschen zur Suche der Wahrheit appelliert, zeigt Gorgias diesbezüglich keine Bestrebungen mehr, sondern erklärt die Meinung zum elementaren Baustein in der Struktur des menschlichen Geistes. Denn »freilich das Ansichten Hegen ist allen gemein über alles, und um nichts bist du darin weiser als andere« 290. Demzufolge ist den doxai in keiner Weise zu entkommen, da die Meinungen, auch wenn sie zwiespältig und unbeständig sind, die gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen die Menschen zusammenleben, konstituieren. Sie gering zu achten würde schließlich bedeuten, die Realität zu leugnen. Und daher nehmen für Gorgias die Meinungen den Charakter der tatsächGorgias hat die Schrift zwar selbst zu einem »Spiel« der Sprache erklärt (vgl. Lobpreis der Helena, Fragment 11 [21]), doch nur »soweit die Rede verfaßt ist zum Lobpreis Helenas, soweit ist sie für Gorgias Spiel. Kritisiert wird hiermit der ungeheure Ernst des Lobes«. (Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, 173, FN 43) Vgl. ebd. XXIII f. 288 Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [1], 1989, 3. 289 Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Verteidigung des Palamedes, Fragment 11a [24], 1989, 31. 290 Ebd., Fragment 11a [24], 1989, 31. 287
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lichen Wirklichkeit an. Weil die Seele der Menschen weniger von Wissen geschmückt, als eher durch Meinungen bedrückt ist, hält Gorgias fest: »Und daher bestellen die meisten in den meisten Fällen die Ansicht zum Beirat ihrer Seele.« 291 Gorgias’ Erkenntnis scheint zu sein, dass die Wahrheit, angesichts der Allmacht der Meinungen, wie sie uns in den unterschiedlichsten Situationen unseres Lebens als Unsicherheit und Unbeständigkeit widerfahren, hoffnungslos verloren ist. Damit verkommt die Wahrheit zu einer Art Hypothese, die zur Stabilität in unserer Welt kaum noch beiträgt. Deshalb, so könnte man annehmen, versucht Gorgias mit Hilfe der Rede, die Ungewissheit und Wechselhaftigkeit in unserer Welt nur noch unter Kontrolle zu bekommen. Th. Buchheim prägnant dazu: »Denn jenen Vorhang vor der Wahrheit, gebildet aus Reden und Doxai, will er [Gorgias] gar nicht mehr zerreißen, sondern er will ihn als solchen in den Griff bekommen und handhabbar machen« 292. Nach diesen Ausführungen schmückt also weder die Wahrheit die Rede noch die Weisheit die Seele, weshalb die zu Beginn der »Helena« zitierte Passage zunächst wie eine Farce wirkt. Gorgias legt vielmehr dar: »Rede nämlich, die Seele-bekehrende, zwingt stets die, die sie bekehrt, den Worten zu glauben und den Taten zuzustimmen.« 293 Die Menschen erliegen also deshalb der Rede, weil diese kraft ihrer Fähigkeit zur Überredung imstande ist, die Seele zu beeinflussen. Warum die Seele überhaupt beinflussbar ist, erklärt Gorgias im Sinn eines fehlenden Wissens in der Seele so: »Wenn freilich alle an alles Vergangene Erinnerung, in alles Gegenwärtige ›Einsicht‹ und Voraussicht auf alles Kommende hätten, dann wäre die Rede, selbst gleich, nicht in gleicher Weise; dabei steht es jetzt keineswegs gut weder mit dem Erinnern des Vergangenen noch dem Beachten der Gegenwart geschweige denn der Ahnung des Kommenden.« 294 Somit überzeugt die Rede dadurch, dass sie die Seele aufgrund ihrer Unwissenheit täuscht und zwar dann, wenn sie »nach Regeln der Kunst verfaßt, nicht etwa im Blick auf Wahrheit gesprochen ist« 295. Diese Täuschung wird möglich, weil die Unwissenheit der zu Überzeugenden dieselben für fiktionales Wissen empfänglich macht, die von der Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [11], 1989, 9–10. 292 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 21 ff. 293 Ders., Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [12], 1989, 11. 294 Ebd., Fragment 11 [11], 1989, 9. 295 Ebd., Fragment 11 [13], 1989, 11. 291
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Überredung Betroffenen also bereit sind, die durch den logos gebotenen Einbildungen anzunehmen. Damit wendet sich Gorgias gegen das althergebrachte Verständnis vom logos, wonach das Gesagte der Wirklichkeit entsprechen, die Sprache also eine unmittelbare Beziehung zur Realität haben muss. Er lehnt einen semantischen Realismus, der annimmt, dass das Gesprochene der Realität entspricht, ab. Die Bedeutung des Begriffes logos wandelt sich bei Gorgias insoweit, als das, wovon geredet oder das, was gedacht wird, nicht notwendigerweise mehr existieren muss. Der gorgianische logos wird zu einer Art eigenständiger Realität, in der das Sprechen nicht mehr symbolischer Ausdruck für etwas ist, sondern magische Einflussnahme auf die Seele, völlig unabhängig von dem, was wirklich, wahrhaft oder schlechthin ist. Der logos scheint nur noch Rede zu sein, ohne Bezugnahme auf die Welt. Wenngleich die Sprache damit ihrer semiotischen Funktion beraubt wird, ihre Wirkung verliert sie für Gorgias nicht: »Rede ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten« 296. Für Gorgias, wie wohl für die Sophisten generell, scheint demnach die zentrale Bedeutung des logos in der Fähigkeit zur Einflussnahme, der Kunst zur Überredung zu liegen. Platon hat dies Gorgias in seinem gleichnamigen Werk im Hinblick auf das, was das größte Gut ist, so sagen lassen: »Wenn man durch Worte zu überreden imstande ist, sowohl an der Gerichtsstätte die Richter, als in der Ratsversammlung die Ratmänner […] und so in jeder andern Versammlung […] so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein« 297. Die Erfolgskunst der sophistischen Rede wird also offensichtlich mit Macht über die Zuhörer identifiziert. Doch ist diese mit Macht verknüpfte Fähigkeit zur Einflussnahme bloß ein Ausdruck von Machtgier, als leidenschaftlich demagogische Machtausübung der Sophisten generell zu beurteilen? Dass der gorgianische logos kein Verkünder der Wahrheit mehr ist, sondern aktive Suggestion, die manipulativ auf die doxa zu wirken imstande ist, wurde bereits erwähnt. Und auch Gorgias nennt die mit der Rede verbundene, negative Form der Machtausübung: »Wieviele bekehrten und bekehren noch wieviele andere zu wievielem […], indem sie eine irreführende Rede bildeten.« 298 Dennoch ist die Deutung der sophistischen 296 297 298
Ebd., Fragment 11 [8], 1989, 9. Gorgias 452e f. Ebd., Fragment 11 [11], 1989, 9.
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Rede allein als Mittel zur Machtausübung nicht zufriedenstellend, da die sophistische Rhetorik 299 dem Gespräch an sich neue Impulse gibt. Für Gorgias ruft die Rede beim Zuhörer eine bestimmte Wirkung hervor: »[S]o auch erregen unter den Reden die einen Leid, die andern Genuß, und dritte Furcht, und wieder andere versetzen die Hörer in zuversichtliche Stimmung, und noch andere berauschen und bezaubern die Seele mit einer üblen Bekehrung.« 300 Solch eine Wirkung kommt jedoch nicht notwendigerweise deswegen zustande, weil die Rede über etwas Trauriges, Erfreuliches, Erschreckendes oder Erbauliches berichtet, also Ausdruck für etwas anderes ist, sondern auch deshalb, weil die Rede selbst so gestaltet ist beziehungsweise gestaltet werden kann. Im Hinblick auf den referentiellen Bedeutungshorizont des sophistischen logos ist daher festzuhalten, dass die Beziehung zwischen der sophistischen Rede als dem sprachlichen Zeichen und ihrem Referenten als dem durch die Rede bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt in der außersprachlichen Wirklichkeit nur von geringer Bedeutung ist. Die sophistische Rede nämlich wirkt primär als sie selbst, bildet weniger unsere gegenständliche Welt symbolisch ab. Der sophistische Logos darf also nicht allein in seiner referentiellen Bedeutung beleuchtet werden. Auf diesen Umstand weist Th. Buchheim deutlich hin, wenn er schreibt, dass »der sophistische Logos nicht panisch fixiert auf die durch Referenz konstituierte Wahrheit« 301 ist. Die Wahrheit, die aletheia, spielt für die Rede kaum noch eine Rolle, die von Gorgias zur Wahrheit erhobene doxa hingegen die tragende, auch wenn sie denjenigen Mensch, »der sich ihrer bedient, mit trügerischen und unsicheren Geschicken« 302 umgibt. Es scheint also eine grundlegende Erkenntnis der Sophisten zu sein, dass die Meinungen, wie sie uns alltäglich widerfahren, zur Stabilität in unserer Welt weit mehr als die Wahrheit beitragen. Und daher erklären sie auch die Meinungen zu den elementaren BausteiRhetorik betreibt auch Sokrates: »Gorgias’ Lob der Macht der Worte und Sokrates’ Suche nach dem besten ›logos‹ sind parallele Erscheinungen.« (W. H. Pleger, Die Vorsokratiker, 1991, 173) Doch während sich Sokrates’ Rhetorik inhaltlich orientiert, also auf die Sache ausgerichtet ist und sich bemüht, logisch schlüssig zu sein, orientiert sich die sophistische Rhetorik am Publikum, ist auf die Meinung der Mehrheit ausgerichtet und will Wohlgefallen erregen. 300 Th. Buchheim, Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [14], 1989, 11 und 13. 301 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 30 ff. 302 Ders., Gorgias von Leontinoi, Lobpreis der Helena, Fragment 11 [11], 1989, 11. 299
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nen in der Struktur des menschlichen Geistes. Nach Ansicht der Sophisten und der wohl unbestrittenen Tatsache, dass die Meinungen zur Konstitution der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen wir zusammenleben, beitragen, bedarf die Rhetorik 303, im Gegensatz zur Elenktik, auch keiner Vermittlung durch Einsicht und Vernunft, sondern wirkt als Form der Überredung unmittelbar auf die Seele eines Menschen ein. Die Annahme der Sophisten scheint zu sein, dass es eine Schicht in der Seelenstruktur des Menschen gibt, die schon grundsätzlich zu Schwankungen neigt und mittels Rhetorik gezielt zu beeinflussen ist, weshalb die Wirkung der Rhetorik auf die Seele eines Menschen lediglich vom Grad der Überredungskunst abhängig ist. Dass mit Hilfe einer überzeugend vorgetragenen Rede die Steuerung eines Gesprächsverlaufs sehr häufig und relativ rasch gelingt, während ein auf inhaltliche Einsicht abzielendes Gespräch im Regelfall eher langwierig verläuft und viel schwieriger zu steuern ist, muss nicht erst erläutert werden. Doch genauso einsichtig ist, dass mit rein rhetorischen Mitteln nicht auf jede, inhaltlich noch so schwierige Situation im Leben, adäquat reagiert werden kann oder gar die existentielle Schicht unserer Bedürfnisse nach beispielsweise sozialer Sicherung oder Zuversicht nachhaltig erfasst wird und wohl kaum der richtige Umgang mit so grundlegenden Werten 304, wie zum Beispiel der Gerechtigkeit, der Besonnenheit praktiziert wird.
3.2.3
Protagoreische Situationsbewältigung
»Unbekümmert um den Sinn hielt er sich im Wortgefecht nur an die Worte und wurde der Schöpfer der jetzt zur allgemeinen Mode gewordenen Eristik.« 305 So schildert Diogenes Laertius Protagoras als Bei den antiken Sophisten lieferte der politische Alltag genügend Anlässe, die Rhetorik als wirkungsvolles Mittel zu qualifizieren. Aufgrund der radikalen Basisdemokratie in den meisten griechischen Städten, waren die Bürger nämlich zur aktiven Teilnahme am öffentlichen wie politischen Leben verpflichtet. Die Nachfrage und Hervorhebung eines Wissens, welches die Kunst der Rede als Technik der Meinungsbeeinflussung betonte, ist unter diesem Gesichtspunkt verständlich. 304 So stellt für C. C. W. Taylor der Dialog Gorgias auch »nicht die Kritik eines unbegründeten Anspruchs auf Expertentum, sondern einer fehlgeleiteten Praxis (in Platons Augen charakteristisch für die Athenische Demokratie) dar, die der Technik der Überredung die Aufgabe zuschreibt, die eigentlich der philosophischen Suche zukommt, – das Auffinden der grundlegenden Werte.« (C. C. W. Taylor, Sokrates, 1998, 95) 305 Diogenes Laertius, IX 52 f. 303
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jemanden, der seinen Gesprächspartnern gerne mit Sophismen aufwartete. Protagoras wohl bekannteste These lautet: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind.« 306 Wenngleich schon die Antike verschiedene Formen der Interpretation dieses Satzes 307 lieferte und die heutige Forschung 308 dies ohnehin bietet, so scheint dieser Satz unmittelbar zum Ausdruck zu bringen, dass der Mensch als eine Art anthropologisches Kriterium die Relativität alles Wissens von dem, was ist, bedingt. Wird jedoch der Mensch als entscheidendes Maß 309 zur BemesEbd., 51. Diesen berühmten Satz zu thematisieren ist angesichts der zahlreichen Varianten, die hinsichtlich seiner Interpretation vorliegen, ein wohl ziemlich gewagtes Unternehmen, weshalb an dieser Stelle festzuhalten gilt, dass primär nach einem im Kontext der vorliegenden Arbeit zielführenden Verständnis dieses Satzes gesucht wird. Oder forscher formuliert: Wer »sophistisches Denken verständlich machen will, darf es sich nicht ersparen, diesen schlimmsten aller sophistischen Gedankenfetzen in seine Interpretationen einzubeziehen.« (Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 43 ff.) 307 B. H. F. Taureck, der einen kurzen aber gehaltvollen Überblick zur Lage der unterschiedlichen Möglichkeiten einer Interpretation des »Homo-mensura-Satzes« verschafft, macht die Schwierigkeiten der Deutung dieses Satzes klar, wenn er schreibt: »Es sind vor allem drei große Fragenkomplexe, die bei der Beschäftigung mit M [Homo-mensura-Satz] zur Sprache kommen müssen: erstens die Frage nach den Wortbedeutungen, zweitens das Problem des Wissens und Erkennens und drittens die Frage nach der Ontologie, d. h. den Seinsbestimmungen.« (B. H. F. Taureck, Die Sophisten, 1995, 107 f.) 308 Th. Buchheim, der den Denkhorizont des homo-mensura-Satzes ausführlich beleuchtet und eine profunde Analyse des Satzes selbst bietet, skizziert die gängigen Interpretationen, die einen Subjektivismus, Relativismus oder Korrelativismus konstatieren, in kritischer Absicht so: »Erst das Subjekt setzt, was ist, und ohne Subjekt ist es nicht (Subjektivismus); der Mensch steht in Beziehung zum Sein, und nur insofern ist, was sonst nicht wäre (Relativismus); die und nur die Zustände herrschen im Sein, die auch im Menschen herrschen, unter Ausschluß alles weiteren (Korrelativismus).« (Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 44 ff.) 309 Das Wort Maß (metron) bringt die gesellschaftlichen Veränderungen, die mit den Sophisten einsetzen, gut zum Ausdruck. Denn während der Perserkriege in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr., im Zuge der fortschreitenden Demokratisierung Athens, erwacht das Bedürfnis nach einem völlig neuen Bildungsideal, einer Erziehung und Bildung, die auf die Fragen der neuen gesellschaftlichen Situation Antworten weiß. Der durch Geburt legitimierte Adel konnte mit seinen traditionellen Maßstäben auf die veränderten Bedürfnisse, insbesondere die der Jugend, nur unzureichend reagieren. Es sind die neuen Lehrer der Weisheit, die Sophisten, die dieses Bedürfnis befriedigen, welche, so W. Capelle, »von nah und fern in Athen, der Hauptstadt des attischen Reiches, zusammenströmen, so daß Athen nun zum Brennpunkt auch der mächtigen geistigen Bewegung wird, die in der heranwachsenden Jugend der 306
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sungsgrundlage von Erkenntnis schlechthin, bestimmen also ausschließlich seine Erkenntnisleistungen, was Gegenstand der Erkenntnis ist und was nicht, dann erfolgt damit eine Art perspektivische Einschränkung des Erkenntnisvermögens. Ob diese Einschränkung von Protagoras als Kritik gegenüber dem Mensch als Erkenntnisquelle aufzufassen ist, wird zwar auch diskutiert, die meisten Interpreten aber unterstellen Protagoras eine positive Sicht dieser Einschränkung und kritisieren diese. Als eher sicher hingegen gilt, dass wir nach Protagoras’ Ansicht ausschließlich über das, was uns erscheint, etwas wissen. Von dem, was uns nicht erscheint, können wir weder wissen, ob es überhaupt existiert, noch wie es aussieht oder beschaffen ist. Damit aber setzt Protagoras letztlich Erscheinen und Sein gleich. Und diese Gleichsetzung kritisiert Platon, wenn er Sokrates den homo-mensura-Satz wie folgt vorbringen lässt: »Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.« 310 Zugleich sagt dieser Satz aus, dass jeder Mensch, jedes Subjekt die Fähigkeit besitzt, etwas als wahr oder falsch zu beurteilen. Denn falls die Dinge so sind, wie sie einem bestimmten Menschen erscheinen, so weiß dieser Mensch auch, wie sie sind. Wenn also einer Person eine bestimmte Situation als ungerecht erscheint und einer anderen Person dieselbe Situation als gerecht, dann macht es wenig Sinn, sich darüber zu streiten 311, wer recht hat. Denn beide haben recht, die eine Person, weil sie weiß oder zu wissen glaubt, dass die Situation ungerecht ist gesellschaftlichen Oberschicht des perikleischen Athens eine geradezu enthusiatische Aufnahme finden sollte.« (W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, 318 f.) 310 Theaitetos 152c. 311 Subjektivistische Urteile spielen beispielsweise im Kontext von Konflikten eine zentrale Rolle. So zählt ihre Anerkennung zu den grundlegenden Voraussetzungen, um in Konflikten überhaupt vermitteln zu können. Und diese Anerkennung gelangt durch die »neutrale Haltung« des Vermittlers, der durch seine »Allparteilichkeit« für alle, also jeden Konfliktpartner Partei ergreift, zum Ausdruck (vgl. dazu auch das Kapitel »Sokratische Mäeutik als angewandte Mediation?« in der vorliegenden Arbeit). G. B. Achenbach geht dabei noch einen wesentlichen Schritt weiter, wenn er in Würdigung von A. Schopenhauer denkt: »Wir haben es in der Philosophischen Praxis nicht nur mit dem Denken, dem Urteilen, Meinen oder den Ansichten eines Menschen zu tun, sondern in erster Linie mit diesem Menschen selbst, und das heißt: mit einem bestimmten Charakter oder einem besonderen Willen, der eine Anerkennung abverlangende Wirklichkeit ist. […] Und die allein angemessene Einstellung dazu ist, daß wir diesen besonderen Charakter anerkennen und als die Grundlage aller weiteren gemeinsamen Unternehmen würdigen – denn: er ist die Grundlage.« (G. B. Achenbach, Schicksal und Charakter – Für die Philosophische Praxis ist vieles von Schopenhauer zu lernen, 1994, 434 f.) Sokratische Selbstsorge
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und die andere Person, weil sie weiß oder zu wissen glaubt, dass die Situation gerecht ist. Platon hat gegenüber diesem epistemischen Relativismus 312 eingebracht, dass Wissen schon deshalb nicht dasselbe wie Wahrnehmung sein kann, weil Wahrnehmungen als solche gar kein Wissen enthalten. Seiner Behauptung nach nehmen wir zwar durch die Sinnesorgane wahr, aber diese Wahrnehmungen werden immer schon auf eine bestimmte Art und Weise durch unsere Sinne aufgenommen, nämlich strukturiert. Diese Struktur stammt nun aber nicht aus den Sinneseindrücken selbst, sondern aus der Seele. Die Seele nämlich verfügt nach Platon über ein Wissen a priori, welches unsere Sinneseindrücke aktiv verarbeitet, aber nicht aus der Sinneserfahrung stammt. Da Platon die Unsterblichkeit der Seele annimmt 313, erklärt er das Wissen der Seele mit dem Mythos der Wiedererinnerung, der anamnesis. Seiner Vorstellung der anamnesis zufolge wird das apriorische Wissen der Seele nicht zu Lebzeiten erworben, sondern dieses Wissen existiert schon vor unserer Geburt und wir erinnern uns lediglich daran. Die Anamnesislehre dient Platon also zur Argumentation für die Unsterblichkeit der Seele. Insofern ist unser Lernen 314 nichts anderes »als Wiedererinnerung und daß wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt haben müßten, wessen wir uns wiedererinnern, und daß dies unmöglich wäre, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese menschliche GeDie Frage, ob Protagoras möglicherweise keinen platten Subjektivismus vertreten hat, wirft berechtigter Weise W. Röd auf: »Protagoras dürfte – wie sich Andeutungen Platos entnehmen läßt – den Umstand, daß gewisse Sätze allgemeine Geltung haben, durchaus berücksichtigt und zu erklären gesucht haben; anders als Plato berief er sich aber zu diesem Zweck nicht auf Einsichten in allgemeine Sachverhalte (»Ideen«), sondern auf den Konsens der Urteilenden.« (W. Röd, Kleine Geschichte der antiken Philosophie, 1998, 82 f.) Vgl. dazu Theaitetos 172a. 313 Vgl. dazu Menon 86b, Phaidros 245c f., Phaidon 80a f. 314 Die bedeutsame Beziehung, die zwischen dem Lehren und dem Lernen besteht, wird in Platons Dialog Menon im Hinblick auf die Lösung eines mathematischen Problems beispielhaft deutlich. Denn das mathematische Resultat ist »ebenso als Konsequenz des Prozesses, der sich Argument für Argument als problemadäquate Entfaltung der Anamnesis versteht, wie ineins damit auch als Leistung – in diesem Sinne auch: als Konstruktion –, die der Lernende, vom Lehrer durch mehr nicht als ›durch bloßes Fragen‹ unterstützt, ›aus sich selbst heraus‹ als ›Wissen gewinnt‹ ; bzw. in anderer Perspektive: sie ist für den Lernenden beides erst als Ergebnis desjenigen unausgesetzten Bemühtseins, das sich dank der Sokratischen Hebammenkunst der unbequemen Einsicht in das eigene Nichtwissen gestellt und sich erst so für die (wahre) Freude am gleichwohl anstrengend bleibenden Forschen fähig gemacht hat.« (St. Haltmayer, Für die freie Bildung, 2000, 98 f.) 312
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stalt kam.« 315 Nach diesem Verständnis sind Erkenntnis und Wissen, die sich nach Platon immer auf die Wahrheit 316 beziehen, auch nicht mit Hilfe der Wahrnehmung adäquat zu fassen, sondern in der Seele zu erwecken. Und da für Platon die Seele der Sitz der Wahrheit ist, leitet er daraus auch die Unsterblichkeit der Seele ab: »Wenn die Seele Wahrheiten besitzt, die sie nicht zu einem früheren Zeitpunkt in diesem Leben gelernt hat, die aber zum Bewußtsein wiedererweckt werden können, so bedeutet dies, daß die Seele sie von jeher zu eigen gehabt hat.« 317 Nun haben die Sophisten aus der von ihnen häufig vertretenden Einschränkung unserer Erkenntnis auf die Welt der Erscheinung, zumeist auch die Konsequenz gezogen, diese Welt allein unter dem Gesichtspunkt einer Nützlichkeit 318 zu betrachten. Im Horizont menschlicher Interessen haben sie damit ihrer prinzipiellen Skepsis gegenüber metaphysischen oder theologischen Aussagen gezielt Ausdruck verliehen, doch hatte dies entscheidende Folgen. So bleiben für Protagoras die Götter dem Menschen verborgen: »Von den Göttern weiß ich nicht, weder daß sie sind noch daß sie nicht sind; denn vieles hemmt uns in dieser Erkenntnis, sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens.« 319 Doch mit diesem bewussPhaidon 72e. Die Wahrheit spielt auch im homo-mensura-Satz eine sehr bedeutsame Rolle. Denn die »ganze Wahrheit […] ist durch den homo-mensura-Satz ins Blickfeld des Menschen, jedes Menschen gerückt. […] Das Entfernte, nur schwer Erreichbare im Charakter der Wahrheit, wie es viele Vorgänger des Protagoras hervorkehrten, wird im HMS [homo-mensura-Satz] ausdrücklich zum Naheliegenden und Selbstverständlichen erklärt.« (Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 47 ff.) 317 G. Reale, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, 78 f. Im Hinblick auf die Quellen der »Wiedererinnerungslehre« macht G. Reale zugleich auf einen interessanten Aspekt aufmerksam: »Sokrates behauptet, die Wahrheit aus der Seele seines Unterredners hervorzuholen. Diese Wahrheit muß also in gewisser Weise Erbteil der Seele sein, um auf mäeutischem Wege aus ihr entspringen zu können. Die Lehre von der Wiedererinnerung stellt sich so als eine Art Bewährung und Bewahrheitung, nämlich als systematische Rechtfertigung eben der Sokratischen Mäeutik, dar.« (Ebd., 79–80) 318 Entscheidend dabei ist der Bezugspunkt der Nützlichkeit. Dieser ist für Protagoras »die soteria, die Selbsterhaltung, das Überleben, also ein bestimmtes inhaltliches Ziel, dessen Realisierungsbedingungen wir kennen. Für Sokrates bzw. Platon ist er das gute menschliche Leben, dessen Inhalt offen ist.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 118 f.) 319 Diogenes Laertius, IX 51–52. Die Formulierung »weder daß sie sind noch daß sie nicht sind« »verweist in der unentscheidbaren Duplizität der Aussage auf die sophis315 316
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ten Verzicht einer Erkenntnis über Gott, geht Gott als eine über die Situation des Menschen hinausragende, externe Größe verloren. Für Protagoras scheint es nicht mehr erforderlich, einen externen Standpunkt zur Orientierung wählen zu müssen, um die menschliche Situation erfassen zu können. Denn: »Götter sind nicht situationsfähig, d. h. sie bestätigen weder […] noch widerlegen […] ihre Qualität (Gott-sein) in Situationen.« 320 Nach Protagoras ist vielmehr alles in menschlicher Reichweite, so auch die Wahrheit. Der Mensch gestaltet all seine Situationen aktiv mit und kann diese entscheidend verändern. So ist der Mensch aber zugleich den Situationen verhaftet, kann diesen nicht einfach mehr entgehen. Indem Protagoras auf jede Form einer außerhalb der menschlichen Situation befindlichen Norm verzichtet, verliert er auch jeden externen Halt, den eine solche Norm im Sinn der platonischen Idee bietet. Denn die Gestaltung einer menschlichen Situation gelingt besser dann, wenn das Gestalten auf Basis einer Reflexion von außen kontrolliert stattfinden kann und weniger, wenn der Mensch zur Bewältigung einer Situation mehr gezwungen wird, weil er unmittelbar dadurch von ihr betroffen ist, dass er Maß und Gemessenes zugleich in der Situation ist. Die protagoreische Intention ist »Situationen zu gestalten und umzugestalten, um die Menschen in ihnen (per definitionem) zu gestalten, um Situationen zu gestalten und so fort […] ein ganz und gar maßloser Prozeß, weil das Maß […] ihm ganz und gar intern ist.« 321 Bedeutsam ist daher, wie Platon in seinem Spätwerk eine Art theologische Wandlung des homo- in einen deus-mensura-Satz vornimmt. Dort heißt es: »Der Gott aber möchte uns wohl am meisten als das Maß aller Dinge sein, und das weit mehr als, wie sie sagen, irgendein Mensch.« 322 Mit dieser inhaltlichen Veränderung des Satzes von Protagoras wendet sich Platon gegen Protagoras’ Behauptung, dass Gott als das vollkommene Seiende nicht erkennbar ist. Wenn Gott das Maß aller Dinge ist, so Platon, muss dieser als das ganz und gar Seiende auch erkennbar tische Lehre, daß über jeden Gegenstand zwei einander widersprechende Urteile gefällt werden können.« (W. Ries, Die Philosophie der Antike, 2005, 49) Und Protagoras soll diese Lehre zuerst aufgebracht haben (vgl. Diogenes Laertius, IX 51). Zudem geriet Protagoras mit dieser Aussage rasch in Konflikt mit der traditionellen Herrschaft in Religion und Sitte, was zu seiner Anklage und in Folge Verbannung geführt haben soll. 320 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 78. 321 Ebd., 79. 322 Nomoi 716c.
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Sophistische Positionen als Ersatz für das gute Leben?
sein, denn Erkenntnis ist grundsätzlich dem Seienden zugeordnet. Die meisten Menschen allerdings sind unfähig das göttliche Sein zu erkennen, da sie träumend leben. Denn: »Das Träumen, besteht das nicht darin, wenn jemand, […] etwa einem Ähnliches nicht für ähnlich, sondern für jenes selbst hält, dem es gleicht?« 323 Nach Platon verstellt sich der Großteil der Menschen den Weg zur göttlichen Erkenntnis nämlich selbst, weil sie sich bereits mit der Vorstellung von Erkenntnis begnügen, also schon zufrieden sind, wenn sie meinen 324 etwas zu erkennen. Nur die Philosophen, die Wenigen, welche wach sind, sind fähig das Wahre zu erkennen, da deren Gedanken durch reflektierte Einsichten und nicht von Meinungen bestimmt sind. Doch zu einer reflektierten Einsicht über etwas gelangt nur, wer in der Lage ist, einen externen Standpunkt gegenüber diesem etwas einzunehmen. Also die Fähigkeit, aus dem jeweiligen Kontext einer Situation heraustreten zu können, ist gefordert. Die Sophisten aber können gerade »nicht aus Kontexten heraustreten, folglich keine externen Standpunkte gewinnen, folglich nicht reflektieren« 325. So ist sophistisches Denken in der Ausrichtung seines Handelns der Bewältigung einer konkreten Situation zutiefst verhaftet, während nach sokratischer Überzeugung unser Handeln sich an einem absoluten Maß im Sinn der Idee des Guten orientieren muss, einem Maß, welches die jeweilige Situation durch Reflexion überragt.
Politeia 476c f. Doch »die jegliches Seiende selbst Liebenden muß man weisheitsliebend und Philosophen nennen, nicht aber meinungsliebend.« (Politeia 480a f.) Lediglich meinungsliebend dagegen sind die Sophisten, die die Erkenntnis des wahren Seins leugnen und sich an der Meinung, der doxa als einem Schein orientieren. 325 Th. Buchheim, Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, 1986, 134 f. 323 324
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4. Sokratische Selbstsorge heute
Gegenwärtig stellen wir fest, dass Philosophie insbesondere im Spannungsfeld von Wissenschaft und Lebensweisheit steht. Einer Philosophie als wissenschaftlich spezialisierter Disziplin 326, die fast ausschließlich an akademischen Institutionen gelehrt wird, steht eine auf die Fragen nach einem erfüllten, glücklichen Leben Antworten suchende Philosophie 327, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise in unser Leben tritt, gegenüber. Die Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten philosophischen Ethik, die sich auch praktisch dauerhaft bewährt, scheint bisher nicht möglich. Ein Großteil der philosophischen Fachliteratur sowie die Einrichtung der Philosophie an den Hochschulen weist die Philosophie als Wissenschaft aus. Die Frage, welche spezielle wissenschaftliche Erkenntnis die Philosophie hervorbringt, wird allerdings sehr unterschiedlich beantwortet. Da sich ihre Aufgabe nur schwer als eine spezialisierte Leistung gegenüber anderen Wissenschaften darstellen lässt, wird der Philosophie als der historischen Mutter zahlreicher Wissenschaften von vielen fachwissenschaftlichen Disziplinen der Rang als eigenständige Wissenschaft streitig gemacht. Denn ihre Kinder haben sich heute fast alle zu autonomen, spezialisierten Wissenschaftsdisziplinen entwickelt, die ihre Ergebnisse meist schneller und exakter liefern. Beispielsweise findet die Logik ihre Entwicklung im Kontext der Mathematik und Informatik, die Ästhetik in der Kunstwissenschaft und den angewandten Künsten, die Ethik in den Human- und Sozialwissenschaften und die Erkenntnistheorie wird durch die Wissenschaftstheorie ersetzt. 327 Philosophie als eine nicht rein wissenschaftliche Disziplin erschöpft sich nicht in Forschung und Lehre. Sie beschäftigt sich auch mit der Praxis des Lebens und ist daher nicht nur eine theoretische, sondern insbesondere auch praktische Disziplin. Sie ist häufig Ausdruck einer Philosophie als Lebensform, versucht also Lehre und Leben in Übereinstimmung zu bringen und zeichnet sich durch ihr Interesse an Fragen aus dem alltäglichen Leben der Menschen aus. Sokrates war bekanntlich der Prototyp dieser Philosophie: »Denn nicht nach dem Sein und dem Nichts fragte Sokrates, sondern nach der Tugend, dem Glück und der Wahrheit. […] Er befragte die Staatsmänner, die Dichter und die Handwerker […] alle waren mehr oder weniger erfolgreich in ihren Berufen, verfügten über das einschlägige Fachwissen, aber die für die richtige Lebensführung nützliche schlichte Menschenweisheit besaßen sie nicht.« (W. Kersting, Die Gegenwart der Lebenskunst, 2007, 68 f.) 326
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Sokratisches Philosophieren als Lebensform legt nun nicht normativ fest, was die richtige Lebensweise ist und trägt auch nicht zur vergleichenden Analyse bereits bekannter Lebenskonzeptionen bei. Vielmehr führt diese Lebensform im Sinn der sokratischen Selbstsorge bestimmte Faktoren im Leben eines Menschen ein, wie die eigene Bereitschaft zur Selbstreflexion und die Übernahme der Verantwortung zur Gesprächsführung, so dass Bewusstheit im Sinn der Fähigkeit zu Einsicht und Vernunft geschaffen wird. Auf diese Weise erzielt Philosophie ihre moralisch therapeutische Wirkung, die einem Menschen zur Orientierung im Leben dienen kann. Denn der Prozess einer kontinuierlichen Selbstreflexion kann einen Menschen letztlich zur sokratischen Übereinstimmung mit sich selbst 328 führen, die Stiftung einer inneren Harmonie 329, die Bejahung der eigenen Person hervorrufen und damit das Individuum die Erfahrung eines erfüllten, glücklichen Lebens machen lassen. Diese bejahende Lebensauffassung des Einzelnen ist jedoch nie völlig unabhängig von dessen sozialpolitischer Umwelt. Daher geht es in der sokratischen Selbstsorge auch niemals allein um das gute Leben des Einzelnen, sondern letztlich immer um das gute Leben im Ganzen, also auch um positive Einwirkung auf andere Menschen, auf den Staat in seiner sozialen Ganzheit. Diesen so wichtigen Aspekt der sokratischen Selbstsorge erfasst W. Schmid genau: »Seit Sokrates ist die Sorge um sich auch eine Sorge um die Gesellschaft, in deren Rahmen das Selbst sich nicht nur entfalten kann und zu deren guter Verfassung das Selbst eben durch seine Sorge um sich am meisten beizutragen vermag, nicht zuletzt aufgrund der Mäßigung der Machtausübung, deren Grundlage die Selbstsorge ist, denn durch die Sorge um sich erlangt das Selbst Selbstmächtigkeit und wird fähig zur Mäßigung Anderer und seiner selbst.« 330 Deshalb spielt auch die Verantwortung zur Dialogführung Diese Übereinstimmung mit sich selbst zielt schließlich in Richtung einer Übereinstimmung mit dem Anderen und ist zugleich deren Voraussetzung. Und »Platons Philosophie zeigt die Kunst, zur Übereinstimmung mit sich selbst zu gelangen. Damit trägt sie bei zur Eindämmung der Verfeindungsenergien [zwischen dem Anderen, dem Fremden und mir selbst].« (R. Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, 1997, 132 f.) 329 Die kontinuierlich ausgeübte Selbstreflexion erhöht im Laufe der Zeit die Übereinstimmung mit sich selbst und damit wächst auch das Gefühl einer inneren Harmonie, das Gefühl gut, ja glücklich zu sein. Ganz im Sinn der Betrachtung von Marc Aurel: »Arbeite an deinem Innern, da ist die Quelle des Guten, eine unversiegbare Quelle, wenn du nur immer nachgräbst.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 59) 330 W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst, 1998, 248 f. 328
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eine so wesentliche Rolle, denn die Wahrheit 331 spiegelt sich nicht in einer von ihrer sozialen Umwelt vermeintlich absolut unabhängigen Übereinstimmung des Individuums mit sich selbst. Nachfolgend werden nun zwei mögliche Anwendungsbereiche der sokratischen Selbstsorge im Sinn eines Beitrages zum guten Leben heute dargelegt. Erstens, die sokratische Selbstführung als Selbstreflexion in Form des Gesprächs mit sich selbst und zweitens die sokratische Gesprächsführung als mäeutische Vermittlung 332 in Form des Gesprächs mit anderen. Dabei wird die sokratische Selbstführung als eine Fähigkeit begriffen, über die eine Person autonom verfügen kann und die ihr insbesondere hilft, sich selbst besser verstehen zu lernen und mit sich selbst in unterschiedlichen Lebenssituationen besser umgehen zu können. Die sokratische Gesprächsführung, welche die Fähigkeit zur Selbstführung voraussetzt 333, wird so vollzogen, dass der philosophische Praktiker die inhaltlichen Anliegen seiner Gesprächspartner durch methodische Interventionen im Sinn der sokratischen Mäeutik zunächst transparent macht und danach diese Anliegen von den Gesprächspartnern möglichst eigenständig und dauerhaft durch Überprüfung an ethischen Leitgedanken zum Guten transformieren lässt.
Wahrheit ist immer auf ein »Allgemeines« ausgerichtet, findet sich also nie und nimmer in den heute so vielfältig in Erscheinung tretenden, zum Teil prophetisch verkündeten Lehren von Eingeweihten oder esoterischen Zirkeln, welche ihrem auserwählten Kreis von Anhängern ihr besonderes, nicht selten vermeintliches Wissen als Wahrheit verkünden. 332 Im sokratischen Gespräch geht es nicht um eine Beratung, nicht um die Vermittlung konkreter Inhalte, sondern vielmehr »ist auch die Funktion des Mäeutikers qua praktischer Philosoph beschränkt auf eine besondere Reflexions- und Fragehartnäckigkeit und auf die spezifisch sokratische Sichtbarmachung und Verständlichmachung eines zuvor Unverstandenen […], der jedwedes Spezialistengepräge fehlt, da es allein um Korrektur und Modifikation eines verfestigten und untauglich gewordenen lebenspraktischen Wissens geht«. (R. Driever, Heilung, Glück und Heil, 1992, 389 f.) 333 Die Annahme, dass die Fähigkeit zur Selbstführung Voraussetzung dafür ist, andere Menschen führen zu können, wird gemäß folgender Fragestellung geteilt: »Denn wie kann man andere führen, wenn man nicht weiß, wer oder was einen selbst leitet, wenn man nicht weiß, wer man ist und welche Ziele man im eigenen Leben verfolgt?« (M. Niehaus, Management by Sokrates, 2009, 37 f.) 331
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4.1 Sokratische Selbstführung Die sokratische Selbstführung ist eine Kunst, die dazu befähigt, sich selbst in Ausrichtung auf ein gutes Leben zu führen und zwar möglichst dauerhaft, ja sogar ein Leben lang. Führung meint dabei weniger eine strenge Vorgabe von Regeln oder dergleichen, zum Beispiel so, dass genau festzulegen ist, wann und wie etwas im Leben geschehen muss, sondern diese Führung hat mehr die Aufgabe einer wachsamen Begleitung im Sinn des Bewusstseins, dass der Lauf des Lebens zum Guten hin erfolgen soll. Und möglichst dauerhaft meint, dass diese Kunst hinsichtlich ihrer Ausübung eben nie zu Ende geht, sich also ein Leben lang fort entwickeln soll und keine bloße Technik ist, deren Erfolg abhängig von der Situation ihres Gebrauches bleibt. Allerdings setzt die sokratische Selbstführung einen gewissen geistigen Reifegrad der Person 334 voraus, die sich selbst führen will. Letztlich muss diese Person auch geistig in der Lage sein, sich von alltäglichen Ärgernissen lösen zu können, sich Distanz zu unangenehmen Situationen verschaffen können, von allzu großen Begierden und Leidenschaften befreit sein und zur Zurücknahme persönlicher Eitelkeiten fähig, um beispielsweise Aspekte wie Relativierung und Vergänglichkeit im eigenen Leben bewusst integrieren zu können. Zur Erreichung dieses geistigen Reifegrades verhilft die Ausübung der Selbstreflexion. »Selbstreflexion bedeutet innezuhalten im täglichen Einerlei, Heraustreten aus dem Strom der Ereignisse und Aktivitäten. In der Selbstreflexion schaut man von einer anderen Perspektive auf die Dinge und sein eigenes Leben.« 335
4.1.1
Zur Ausübung der sokratischen Selbstreflexion
Die Ausübung der sokratischen Selbstreflexion erfolgt nach Möglichkeit täglich 336 und ein von Zeit zu Zeit bewusster Rückzug 337 aus dem Der erforderliche Reifegrad wird allerdings nicht allein dadurch erreicht, dass sich eine Person als besonders begabt für das Philosophieren zeigt, sondern ist »auch Übungssache. Sie ist als ›Sich-verstehen-auf-etwas‹ nicht nur ein theoretisches Wissen, sondern auch ein praktisches Können.« (E. Martens, Sokrates, 2004,125 f.) 335 M. Niehaus, R. Wisniewski, Management by Sokrates, 2009, 53 f. 336 Auch Sokrates hebt dies hervor, wenn er sagt, »daß ja eben dies das größte Gut für den Menschen ist, täglich über die Tugend sich zu unterhalten«. (Apologie 38a.) 337 Im Hinblick auf die Staatsgeschäfte führt Sokrates dazu aus: »[N]otwendig muß, 334
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Alltag ist für die Selbstreflexion nicht nur hilfreich, sondern wohl auch unerlässlich. Bei der sokratischen Selbstreflexion geht es darum, den Vollzug des eigenen Lebens 338 reflektieren zu lernen. Dabei gefordert ist, die im Zuge von bewussten Erinnerungen 339 zu gewinnenden Erkenntnisse als sorgsam abzuwägende Erfahrungen in aktuelle Lebenssituationen einfließen zu lassen. Damit soll ermöglicht werden, sich vergangene Situationen bewusst vor Augen führen zu können, um diese gegenwärtig 340 gedanklich zufriedenstellender bearbeiten zu können, so dass in Folge die Bewältigung bevorstehender Situationen besser gelingt. Damit die Ausübung der Selbstreflexion auch gelingt, sollten zumindest zwei grundlegende Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss der Ausübende über die prinzipielle Bereitschaft 341 zur kontinuwer in der Tat für die Gerechtigkeit streiten will, auch wenn er sich nur kurze Zeit erhalten soll, ein zurückgezogenes Leben führen, nicht ein öffentliches.« (Apologie 31e–32a f.) Und dass Sokrates seine Gespräche nicht ausschließlich am überfüllten Marktplatz führte, legt auch Kallikles’ Schilderung nahe, wenn er im Angriff auf Sokrates feststellt, dass dieser unmännlich geworden ist, weil er »das Innere der Stadt und die öffentlichen Orte flieht […] und daß er versteckt in einem Winkel mit drei bis vier Knaben flüsternd sein übriges Leben hinbringt, ohne je edel, groß und tüchtig herauszureden.« (Gorgias 485d f.) 338 Das eigene Leben, also grob gefasst, mein Handeln, meine Erfahrung, ganz im Sinn der meiner Person zur Verfügung stehenden Lebensgeschichte, sind zu reflektieren und zwar so, dass sie in eine richtige, nämlich gute Form gebracht werden. Die gute Form, an der sich meine Person bei der Reflexion der eigenen Lebensinhalte orientiert, ist die Idee des dauerhaft guten Lebens im sokratischen Sinn. Die ideale Instanz des dauerhaft Guten ist somit der inhaltliche Maßstab für die auszuübende Selbstreflexion und das nach Möglichkeit Gute dauerhaft zu erreichen, das gedankliche Ziel der Selbstreflexion. 339 Wenngleich gerade E. Martens die Vielzahl der »Methoden sokratischen Philosophierens« hervorhebt, begreift er die Praxis der Wiedererinnerung als die entscheidende Methode: »Inhalt des sokratischen Philosophierens ist also die eigene Lebenspraxis, die Methode ist die vorterminologisch verstandene (Anamnesis) oder Erinnerungsarbeit«. (E. Martens, Sokrates, 2004, 163 f.) 340 Im Hinblick auf die Gegenwart sei an dieser Stelle mit A. Schopenhauer an eine wichtige Lebensweisheit ermahnt: »Die Gegenwart allein ist wahr und wirklich: sie ist die real erfüllte Zeit, und ausschließlich in ihr liegt unser Daseyn. Daher sollten wir sie stets einer heiteren Aufnahme würdigen, folglich jede erträgliche und von unmittelbaren Widerwärtigkeiten, oder Schmerzen, freie Stunde mit Bewußtseyn als solche genießen, d. h. sie nicht trüben durch verdrießliche Gesichter über verfehlte Hoffnungen in der Vergangenheit, oder Besorgnisse für die Zukunft.« (A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 2016, 124 f.) 341 Ist der Ausübende von der Durchführung der Selbstreflexion zu Beginn noch eher weniger fest überzeugt, identifiziert er sich mit ihr mit zunehmender Praxis.
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ierlichen Ausübung der Selbstreflexion verfügen und zweitens muss die zur Reflexion erforderliche Muße 342 möglich sein. Die Selbstreflexion wird also insbesondere dann fruchtbar sein, wenn man die Muße hat dauerhaft zu üben, denn nur so wird man allmählich in die Lage versetzt, auf sich selbst hören zu können, mit sich selbst ein Gespräch führen zu lernen. Neben diesen zwei grundlegenden Bedingungen 343, die es für die Ausübung der Selbstreflexion zu schaffen gilt, sind dann im Verlauf der Selbstreflexion insbesondere zwei wesentliche Prüfungen zu vollziehen. Diese sind einerseits die kritische Prüfung der Inhalte der Selbstreflexion durch Orientierung am widerspruchsfreien logos und andererseits die existentielle Prüfung der ethischen Motive zur Selbstreflexion durch Klärung der Übereinstimmung von Denken und Handeln bei sich selbst. Damit eine kritische Prüfung der Inhalte der Selbstreflexion möglich wird, ist es erforderlich, das selbst Gedachte und damit sich selbst zu einem Gegenstand der Betrachtung 344 zu machen, also eine Art objektiven Standpunkt gegenüber den eigenen Meinungen einzunehmen, um sich zum Beispiel unhaltbare Argumente schließlich Um diese Muße erfahren zu können, sind oft äußere Rahmenbedingungen, wie -vereinfacht dargestellt – ein strukturierter Tagesablauf oder das Vorhandensein eines Refugiums sehr hilfreich. Dabei sollte das Refugium als Ort des Rückzugs im Alltag leicht erreichbar sein, also keineswegs weitab jeglicher Zivilisation liegen und auch weniger als Zufluchtsort persönlicher Ruhe gesehen werden. Auch wenn jemand zum Beispiel regelmäßig spazieren geht, joggt oder ein Fitnesscenter aufsucht, kann er sich den notwendigen Raum zur Ausübung des Gesprächs mit sich selbst verschaffen. Denn gerade Bewegung schlägt durch die Einbeziehung des Körpers eine wohltuende Brücke zur Selbstreflexion als einer mehr geistigen Meditation. Diese Verbindung von Körper und Geist im Sinn einer ganzheitlichen Übung hat bereits der Kyniker Diogenes von Sinope formuliert: »Die Übung […] ist eine doppelte, einerseits eine geistige, anderseits jene körperliche, bei deren regelmäßigem Betrieb sich eine Denkweise bildet, die dem tugendhaften Handeln Vorschub leistet. Zur vollkommenen Bildung sei die eine so unentbehrlich wie die andere«. (Diogenes Laertius, VI 70–71) Marc Aurel betrachtet die Einbeziehung des Körpers ähnlich: »Auch der Körper muß eine feste Haltung haben und darf weder in der Bewegung noch in der Ruhe diese Festigkeit verlieren. Denn wie sich das Innere [die Seele] in deinen Gesichtszügen ausprägt und Nachdenken und Ehrbarkeit darin sich zeigt, so läßt sich etwas Ähnliches vom ganzen Körper fordern.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 60) 343 Zwar gilt es anzumerken, dass nicht selten weder die erforderliche Muße noch die nötige Überzeugung zur Ausübung der Selbstreflexion vorhanden sind, doch drängt sich das Bedürfnis nach Selbstreflexion auch spontan auf, häufig ausgelöst durch eine Krisen- oder Umbruchsituation im eigenen Leben. 344 Siehe dazu auch das Kapitel »Die reflexive Beziehung zu sich selbst« in der vorliegenden Arbeit. 342
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auch aufrichtig eingestehen zu können. Erst in der Distanz zu sich selbst wird es möglich, eine Perspektive einzunehmen, welche es erlaubt, das eigene Denken im Vergleich mit anderen Denkpositionen zu prüfen. Dabei wird das eigene Wissen anhand des zur Verfügung stehenden bestmöglichen Logos als Maßstab auf seine Haltbarkeit hin überprüft und so allmählich das vorhandene, subjektiv gefärbte Wissen durch ein möglichst objektiv verbindliches Wissen gereinigt. Natürlich zeigt sich dieser bestmögliche Logos auch bei fortschreitender Prüfung nur als relativ gültig, da wir letztlich kaum in der Lage sind, einen fraglos gültigen Maßstab als absolute Orientierung zu gewinnen. Doch mit diesem Prozess der kritischen Prüfung der Inhalte unserer Selbstreflexion nähern wir uns auf vernünftige Weise nach und nach einer zunehmend objektiven Sichtweise uns selbst gegenüber an. Die existentielle Prüfung der ethischen Motive zur Selbstreflexion dient der Vergewisserung, ob sich die Motive meines Handelns mit meinem Denken als der dahinter liegenden ethischen Absicht im Einklang befinden. Dabei wird überprüft, inwieweit mein Handeln zur Verwirklichung des Guten aufrichtig und ehrlich erfolgt, ob es getragen ist von der inneren Übereinstimmung 345 meiner Person mit sich selbst oder ob es nur getrieben ist von äußerlichen Motiven, mehr orientiert am Beifall und der Anerkennung durch meine Mitmenschen. Dabei geht es vor allem darum, sich konzentrieren 346 zu lernen, um sich selbst eine erhöhte Aufmerksamkeit schenken zu können, damit letztlich ein Leben zur Gestaltung gelangt, welches So prüfe ich meine während eines Tages erfolgten Handlungen, Gedanken und Gefühle, indem ich zu erkennen versuche, in welchen Situationen ich mich nicht aufrichtig verhalte oder bewusst anders handle, um einer für mich schwierigen Situation gezielt auszuweichen. Zugleich halte ich jene positiven Situationen für mich fest, in welchen sich eine klare Übereinstimmung zwischen meinem Handeln und Denken gezeigt hat. Ich resümiere schließlich, unter welchen Bedingungen in einer bestimmten Situation meiner Person diese Übereinstimmung mit sich selbst gelingt und präge mir für die als schwierig erfahrenen Situationen Grundsätze ein, die mein Handeln im Sinn einer besseren Bewältigung solch problematischer Situationen leiten sollen. Diese Grundsätze als eine Art sprachlich verkürzter Lebensregeln müssen einfacher Natur sein, damit sie leicht merkbar und somit jederzeit abrufbar sind und sollten appellierenden Charakter besitzen, wie beispielsweise der delphische Orakelspruch: »Erkenne Dich selbst«. 346 Diese Fähigkeit zur geistigen Konzentration sieht P. Hadot bei Sokrates durch Platon (vgl. Symposion 174d, 175b, 220c–d) und andere eindeutig belegt: »Er [Sokrates] wird uns als zu außerordentlicher geistiger Konzentration fähig geschildert.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 25 f.) 345
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unmittelbar im Einflussbereich der eigenen Person 347 liegt und damit auch konkret zum Guten verändert werden kann. Ziel der sokratischen Selbstreflexion ist demnach die sukzessive Transformation der eigenen Denk- und Seinsweise und zwar im Hinblick auf den Vollzug eines ethisch verantwortungsvollen Lebens. Diese Zielsetzung geht davon aus, dass die Frage nach dem guten Leben schon in der geistigen Struktur des Menschen 348 angelegt ist und wir als Menschen vor jeder Transformation unseres Lebens über ein nur mangelhaftes, vorläufiges Bewusstsein 349 vom eigenen Leben verfügen. Daher geht mit der Ausübung der Selbstreflexion immer auch eine geistige Stabilisierung des eigenen Lebens einher, weil existentielle Krisen, hervorgerufen durch Armut, Leid, Tod und dergleichen, gedanklich leichter vorweggenommen werden können und solche Ereignisse in unserem Leben daher besser zu bewältigen sind. Letztlich lehrt diese Transformation das Sterben lernen 350, die Fähigkeit zu erkennen, worin ein erfülltes, glückliches Leben besteht und dass an dessen Ende nicht der zu fürchtende Tod steht. Die sokratische Selbstreflexion dient also nicht einfach dazu, empirische Erkenntnisse über sich selbst zu gewinnen, also insbesondere Stärken und Schwächen Die entscheidende Erklärung dazu, die auch plausibel scheint, liefert U. Wolf: »Das eigene Gutsein ist etwas, was die Person selbst in der Hand hat, während sie äußerem Wechsel ausgeliefert ist. Die von Sokrates empfohlene Lebensform, die beständige Ausübung der arete, erlaubt es daher, dem unvermeidlichen Ausgeliefertsein an den Zufall etwas entgegenzusetzen.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 34 f.) 348 Wenngleich nicht jeden Augenblick im Gedanken, ist die Frage nach dem guten Leben doch jederzeit gedanklich abrufbar. 349 In diesem Zusammenhang wesentlich bleibt, dass der Mensch wohl zu keinem Zeitpunkt an ein Ende seines Bewusstseins vom eigenen Leben gelangen kann. So ist auch W. Schmid zu folgen, wenn er im Hinblick auf das richtige Maß von Selbsterkenntnis schreibt: »Grenzen findet die Selbsterkenntnis nur in ihrer Lebbarkeit, denn es gibt nicht nur ein Zuwenig, sondern auch ein Zuviel an Wissen oder vermeintlichem Wissen über das Selbst. […] Bei der Analyse und Übersetzung in Diskurs ein Maß zu beachten erscheint sinnvoll, um das Selbst nicht zu einer ›austherapierten‹ Gestalt werden zu lassen, die zur Synthese, zu irgendwelcher Kohärenz nicht mehr finden kann.« (W. Schmid, Mit sich befreundet sein, 2004, 89 f.) 350 Vgl. Phaidon 67e, Apologie 28b–30b. Dieses platonische »Sterben lernen«, so P. Hadot, kann man sich als »geistige Übung besser vorstellen, wenn man sie als Bemühung versteht, die darauf abzielt, sich vom parteiischen, leidenschaftsbedingten, an den Körper und die Sinne gebundenen Gesichtspunkt frei zu machen und sich zu einem universalen und normativen Gesichtspunkt des Denkens aufzuschwingen, um sich den Forderungen des Logos und der Norm des Guten zu unterwerfen.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1999, 30 f.) 347
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der eigenen Persönlichkeit zu identifizieren, sondern sieht ihren Zweck in der Schaffung eines Bewusstseins, eines Zustandes 351, der sich auch als Wachhalten der Sorge um sich selbst beschreiben lässt. Denn aufgrund unserer Vereinnahmung durch die Anforderungen des Alltags neigen wir als Menschen 352 sehr schnell und häufig dazu, von einer Art Wach- in einen Schlafzustand zu wechseln. Solange wir Menschen es schaffen, den Prozess der Selbstreflexion aufrecht zu erhalten und die damit verbundene, sich immer wieder neu einstellende geistige Anstrengung nicht meiden, bleiben wir wach. Schlaf als der bewusst gewählte Ausweg vor einer Konfrontation mit sich selbst, ist hingegen fragwürdig. Was mit diesem Wachhalten in Bezug auf die Philosophie an sich gemeint ist, lässt sich mit Heraklits Unterscheidung zwischen den »Vielen« und dem »Philosophen« gezielt zum Ausdruck bringen. Denn für Heraklit erhebt sich der Philosoph über die gängige Meinung, da dieser, im Gegensatz zu den Vielen als den Schlafenden, wach ist und deshalb auch fähig, auf den logos 353 als die Einheit zu hören, also versteht, dass die Gegensätze 354 in Wahrheit zusammengehören. Da der Philosoph auf den logos hört, diesen im Nachvollzug eigens versteht, weiß er, was er tut. Aufgrund dieser Einsicht ist der Philosoph weise, sophos. Nur wer aufwacht, sich gemäß Heraklits Worten »selbst durchforscht« 355, also die Frage nach sich selbst stellt, vollzieht den Durchbruch zum logos 356 und wird so Dieser Zustand ist als eine Art Gewissen zu charakterisieren, welches ermöglicht, sich selbst gegenüber aufrichtiger, ehrlicher zu werden und dient zur Vergewisserung der meiner Person immanenten Wahrheit. Ähnlich dem sokratischen Daimonion als Bewusstheit des göttlichen Auftrags, das weniger einen bestimmten Rat erteilt, sondern mehr davon abhält etwas Bestimmtes zu tun. Vgl. Apologie 31d f. 352 Angesprochen sind die Menschen, die über eine Wahlmöglichkeit zwischen Wachund Schlafzustand verfügen und ganz bewusst den Schlafzustand wählen. Nicht angesprochen ist die Vielzahl der Menschen, welchen allein aufgrund soziographischer, sozialpolitischer oder ähnlicher Faktoren diese Wahlmöglichkeit von vornherein genommen ist. 353 In diesem Zusammenhang als »Einheit« im Sinn der »Sammlung« von Gegensätzen zu deuten. 354 Heraklit erblickt die ganze Wirklichkeit in Gegensätzen, wie beispielsweise Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Friede, wobei der Kern seiner Einsicht darin liegt, dass diese Gegensätze sich fortwährend ineinander wandeln, also der Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag wird und damit keine starren Polaritäten darstellen, sondern wesenhaft zusammengehören. So stellt sich ihm die gesamte Welt als ein einziger Kreislauf dieser Wandlungen dar. 355 DK, 22 B 101. Vgl. auch Apologie 38a. 356 Dieser Durchbruch ist eine ethische Unterscheidung und zeigt »den Unterschied 351
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ein die Weisheit liebender, ein philosophos. Und wer aufgewacht ist, versteht es, auf sich selbst zu hören, hat gelernt, ein Gespräch mit sich selbst zu führen.
4.1.2
Über das sokratische Gespräch mit sich selbst
Das sokratische Gespräch mit sich selbst ist nicht als eine rein psychagogische 357 Methode der verbalen Selbstbeeinflussung zu verstehen, die durch das Erlernen bestimmter Maximen und Sentenzen in der Art sprachlich verkürzter Lebensregeln ausgeübt wird, wie dies vor allem in den hellenistischen und römischen Philosophenschulen 358 praktiziert wurde. Auf diesen bedeutsamen Unterschied 359, der zwischen dem Selbstgespräch im psychagogischen Zeitalter des Hellenismus und der Spätantike einerseits und der sokratisch-platonischen Philosophie andererseits besteht, ist aufmerksam zu machen. Denn beim platonischen Sokrates ist das Gespräch mit sich selbst mehr ein Vorgang schweigenden Nachdenkens, ein Akt des Überlegens, der sich schließlich als bestimmte Vorstellung manifestieren kann, weshalb Sokrates sagt: »[D]as Vorstellen ist ein Reden, und die
zwischen den Denkenden, genauer: den auf den Logos Aufmerkenden, und den anderen, den Unaufmerksamen«. (P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 259 f.) Diese ethische Unterscheidung als der entscheidende Schritt ins übende Leben »vollzieht, wer es wagt oder wem es zufällt, aus dem Lebensstrom zu steigen und das Ufer als Aufenthaltsort zu wählen. Der Herausgestiegene pflegt eine kampfbereite Aufmerksamkeit für das eigene Innere und bewahrt einen feindseligen Argwohn gegen das neue Außen, das bis dahin die tragende Welt schlechthin bedeutet hatte.« (Ebd., 338 f.) Denn in das »ethische Denken eintreten heißt mit dem ganzen eigenen Dasein einen Unterschied machen, den zuvor niemand vollzog.« (Ebd., 342 f.) 357 Dieser Begriff wird in Anlehnung an P. Rabbow gebraucht, der die Bezeichnung Psychagogik 1954 in seinem Werk »Seelenführung« zur Beschreibung des antiken Systems der Seelenleitung verwendete, um damit jene Methodik von Exerzitien zu charakterisieren, wie sie in der Epoche des Hellenismus, vor allem in der geistigen Bewegung der Stoa und dem »Garten« Epikurs, in Erscheinung trat. Vgl. P. Rabbow, Seelenführung, 1954, 15 ff., 301. 358 P. Hadot versucht die Idee der Seelenleitung sogar als wesentlichen Ausdruck der lebenspraktischen Orientierung der antiken Philosophie insgesamt zu deuten. (Vgl. P. Hadot, Die Philosophie als Lebensform, 1991, bes. 9 ff., 38 f., 45, 164, 172 f.) Ch. Horn hat Hadots These schließlich auf kritische Art und Weise differenziert, aber nicht widerlegt. Vgl. Ch. Horn, Antike Lebenskunst, 1998, 15 ff., 31. 359 Auf diesen Unterschied macht schon P. Rabbow explizit aufmerksam. (Vgl. P. Rabbow, Seelenführung, 1954, 139 f., 190 f., 207 f.) Sokratische Selbstsorge
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Vorstellung ist eine gesprochene Rede, nicht zu einem andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst.« 360 Der sokratischen Auffassung entsprechend, wird das Gespräch mit sich selbst als ein innerer Denkvorgang vorgestellt, der dadurch zustande kommt, dass man sich selbst Fragen stellt und Antworten gibt, meist ohne Stimme und auf sich selbst gerichtet. Gegenstand des Gesprächs ist letztlich immer die eigene Person. Der innere Denkprozess, der dabei stattfindet, ist als ein Abwägen von Bejahung und Verneinung in Bezug auf das Wechselspiel von Frage und Antwort zu verstehen und zunächst immer eine Art gedanklicher Schwebezustand. Zu einem vorläufigen Abschluss gelangt das Gespräch mit sich selbst, wenn die vollzogenen Gedanken über sich selbst immer wieder zur gleichen Feststellung führen und die Zweifel über das Ergebnis der angestellten Überlegungen verschwunden sind. Dieser Zustand tritt allerdings nur dann ein, wenn sich die vollendeten Gedanken zur überprüften Meinung manifestiert haben. Und eine überprüfte Meinung liegt schließlich erst dann vor, wenn die eigenen Gedanken einer Reihe von strengen Prüfungen anhand des besten Logos unterzogen wurden. Das Gespräch mit sich selbst, dieser innere Dialog, vollzieht sich demnach ohne andere Menschen und ist als Erkenntnisvollzug ein Prozess des Nachdenkens, des Überlegens über sich selbst. Aber ist für die authentische Begegnung mit sich selbst nicht auch das Gespräch mit anderen Menschen im Sinn einer dialogischen Kontrolle der eigenen Gedanken konstitutiv und daher immer wieder aktiv zu suchen? Genügt es denn, sich monologisch auf sich selbst zu konzentrieren und allein mit sich selbst 361 in Dialog zu treten, um wahre Erkenntnis von sich selbst zu erlangen? Für Sokrates steht zumindest fest, dass er der Übereinstimmung (symphonein) mit der eigenen Person gegenüber der Konsensfindung mit anderen Personen Theaitetos 189e f. Vgl. auch Sophistes 263e f., Philebos 38e. Wenngleich der Mensch wohl von Natur aus ein geselliges Wesen ist, »muß man auch dazu die Fähigkeit besitzen, dass man sich selbst genügt, nur mit sich selbst zusammen ist.« (Epiktet, Vom Verlassensein [III, 13], 1992, 93 f.) Die tiefere Bedeutung dieses »Sich selber genügen« macht A. Schopenhauer in Bezug auf die Freiheit klar: »Ganz er selbst seyn darf Jeder nur so lange er allein ist: wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit: denn nur wann man allein ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Individualität ist.« (A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 2016, 129 f.)
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den Vorzug gibt, wenn er darlegt, »daß eher die meisten Menschen nicht mit mir übereinstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als daß ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir widersprechen müßte.« 362 Damit bringt Sokrates allerdings nicht zum Ausdruck, dass die Übereinstimmung mit sich selbst völlig unabhängig von der Übereinstimmung mit anderen Personen 363 ist. Das zum Erlangen einer Übereinstimmung mit sich selbst auch andere Menschen beitragen, ist außer Zweifel zu stellen, nur notwendig 364 scheint es nach Sokrates nicht. Erforderlich für Sokrates hingegen ist, dass er in seinem Leben immer auf ein Wissen vertrauen kann, welches seinen strengen Prüfungen anhand des besten Logos 365 standhält und nicht dem Wissen, das zwar viele Menschen aufgrund gängiger Meinungen vertreten, aber keineswegs geprüft 366 ist. So gilt Sokrates eine als Wissen vertretene Meinung so lange als richtig, bis diese durch fortwährende Prüfung widerlegt wird. Diese hypothetische Methode beschreibt er so: »[I]ndem ich jedesmal den Gedanken zugrunde lege, den ich für den stärksten halte: so setze ich, was mir scheint mit diesem übereinzustimmen, als wahr, es mag nun von Ursachen die Rede sein oder
Gorgias 482c f. Vgl. ebd. 526d. K. Hildebrandt prägnant dazu: »Die Dialektik, die Übereinstimmung mit dem Partner durch Frage und Antwort, ist ein wichtiges Mittel, nicht das einzige, noch weniger Selbstzweck. Entscheidend ist die Übereinstimmung mit sich selbst, mit dem eigenen Daimon, die Eudaimonie, die Harmonie.« (K. Hildebrandt, Gorgias, 2003, 151 f.) 364 Ähnlich dazu auch U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 146–147 f. 365 Dazu ist mit T. Borsche bedeutsam anzumerken: »Selbst der beste λόγος stellt das Wissen nicht nur nicht vollständig, sondern weder für alle noch jederzeit zwingend dar. Denn er muß sich bestimmter überlieferter Namen bedienen, die zwar immer mit einer Bedeutung versehen verwendet werden, niemals aber aus sich heraus sicherstellen können, daß sie nicht in anderer Bedeutung verstanden werden.« (T. Borsche, Die Notwendigkeit der Ideen: Politeia, 1996, 112) 366 Richtiges, weil annähernd wahres Wissen, ist unabhängig von einem Konsens mit anderen Personen zu gewinnen. Für ein der Wahrheit sich annäherndes Wissen ist vielmehr die Prüfung der anderen Personen und ihrer Meinungen wesentlich. Den bedeutsamen Aspekt dieser Prüfung macht Marc Aurel klar: »Prüfe beständig, wer diejenigen sind, nach deren Billigung dich verlangt und welche leitenden Grundsätze sie haben. Denn als dann wirst du weder über ihre unvorsätzlichen Fehltritte zürnen noch ihren Beifall begehren, wenn du auf die Quellen ihrer Meinungen und Triebe siehst.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 62) Und weiter: »Dringe in das Innere der Menschenseelen ein, und du wirst sehen, vor was für Richtern du dich fürchtest und was für Richter sie über sich selbst sind.« (Ebd., IX, 18) 362 363
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von was nur sonst, was aber nicht, als nicht wahr.« 367 Eine nicht widerlegte Meinung fungiert demnach als vorläufig richtiges Wissen, da es von vielen falschen Meinungen schon befreit ist und auf einem widerspruchsfreien Satzzusammenhang basiert. Denn ein Leben ohne Selbstprüfung 368 erscheint Sokrates wertlos. Nun geht es Sokrates aber nicht nur darum, ein geprüftes Leben auf Basis eines widerspruchsfreien Wissens zu führen, sondern auch um das Erreichen einer möglichst großen Übereinstimmung mit sich selbst als einer Art inneren Zustimmung. Und das Erlangen dieser Übereinstimmung mit sich selbst bedeutet Freundschaft 369 mit sich selbst schließen und zielt letztlich auf das Gutsein der eigenen Person ab. Wenn auch gerade die Freundschaft 370 mit sich selbst als das Gutsein der eigenen Person für Sokrates die Voraussetzung für das gute Leben im Ganzen schafft, so betont er immer wieder, dass Philosophieren als Selbstsorge insbesondere die Kunst 371 ist, ein Gespräch zu führen. Und zwar im Sinn eines dialektischen Prozesses (dialektike techne) als dem Wechselspiel von Frage und Antwort, in dem sich der Fragende hinsichtlich des Gesagten ständig der Nachvollziehbarkeit durch den Antwortenden vergewissert. Demzufolge ist für Sokrates die Selbstsorge auch kein reflexiver Akt in Einsamkeit, sondern nur dialogisch in Form der intersubjektiven Beziehung zu einem anderen Menschen zu gewinnen. Denn »[d]ie dialektische Struktur des (inneren) Denkens spiegelt sich im (äußeren) Dialog (und umgekehrt), doch im äußeren διαλέγεσθαι kommt noch etwas hinzu, was für das eigene Denken unentbehrlich ist, das zweifelnde, korrigierende, fragende und zustimmende Mitdenken des anderen.« 372 Und wenngleich Sokrates Gespräche mit sich allein geführt haben mag, dann hat er diese weniger in Form eines bewusst gewählten meditativen Rückzugs 373 vollzogen, sondern als ein Ereignis erlebt, das eher plötzlich und mehr unerwartet in sein Leben trat. 374 Phaidon 100a. Vgl. Apologie 38a. 369 Vgl. Lysis 214c f., Politeia 443d f. 370 Auch Aristoteles hebt die Bedeutung der Freundschaft mit sich selbst für die Beziehung mit anderen Menschen hervor. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX 8, 1168b5 f. 371 Vgl. Menon 75d, Sophistes 253e. 372 R. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion, 1996, 91 f. 373 Ähnlich G. Böhme, wenn er schreibt, dass »Meditation bei Sokrates eigentlich nicht eine Praxis oder Übung ist, sondern vielmehr, wie das Daimonion, über ihn kommt.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 149) 367 368
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So ist das sokratische Gespräch mit sich selbst im Sinn der Reflexion der eigenen Lebenspraxis zwar als dauerhafte Prüfung des eigenen Wissens und als erstrebte Übereinstimmung mit sich selbst zu charakterisieren, doch ist die Auffassung zu vertreten, dass für sich allein genommen, weder das mit sich selbst noch das mit anderen Menschen geführte Gespräch unserer Selbstsorge genügt. Vielmehr besteht ein inniges Verhältnis 375 zwischen dem Gespräch mit sich selbst und Anderen. Doch ohne Besinnung auf sich selbst, ohne kontinuierliche Übung des Zwiegesprächs mit sich selbst 376, lässt sich kein umsichtiges, vernünftiges Verhalten zu sich selbst und Anderen gewinnen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass jedem ernsthaft zu führenden Dialog schon die geschulte Übung eines Gesprächs mit sich selbst vorauseilen muss. Es besagt aber, dass die Ausübung des Gespräches mit sich selbst nicht ausbleiben darf und schließt zugleich ein, dass erst das Gespräch mit einem Anderen überhaupt zum Anlass für das Gespräch mit sich selbst werden kann. Da aber ein ausschließlich mit sich selbst geführtes Gespräch auf Dauer Gefahr läuft, zu einer selbstgefälligen Erbauung zu verkommen, muss die Kommunikation mit Anderen im Sinn der sokratischen Gesprächsführung immer wieder aktiv gesucht werden. Um mit W. Schmid zu resümieren: »Selbstkenntnis ist eine Voraussetzung dafür, andere und die Welt kennen zu lernen; die Erfahrung des Eigenen verleiht Sensibilität für andere und Anderes und ermutigt zur Offenheit. Umgekehrt befördert die Menschen- und Weltkenntnis wiederum die Selbstkenntnis, denn in der Begegnung mit anderen und Anderem lernt das Selbst sich als ähnlich oder unterschiedlich kennen.« 377
Solche Ereignisse dürften Sokrates öfter widerfahren und seiner Umwelt durchaus vertraut gewesen sein: »Denn er hat das so in der Gewohnheit, bisweilen hält er an, wo es sich eben trifft, und bleibt stehen.« (Symposion 175b) Vgl. ebd. 174d, 220c–d. 375 Diese unmittelbare Verbindung betont auch P. Hadot, wenn er ausführt: »Nur derjenige, der einer echten Begegnung mit dem anderen fähig ist, ist einer authentischen Begegnung mit sich selbst fähig, und das Umgekehrte ist gleichfalls wahr.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 26 f.) 376 W. Schmid macht dies verständlich: »Die Kommunikation mit sich dient letztlich der Klärung dessen, was das Selbst ist und sein soll. Diese intrasubjektive Selbstverständigung ist unabdingbar und beansprucht im Zweifelsfall den Primat vor jeder intersubjektiven Kommunikation […] Wie sollte eine aufmerksame Kommunikation mit anderen auch möglich sein, wenn das Ich mit sich selbst nicht zu kommunizieren weiß?« (W. Schmid, Mit sich selbst befreundet sein, 2004, 77 f.) 377 Ebd., 94 f. 374
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4.2 Sokratische Gesprächsführung Sokratische Gesprächsführung im engeren Sinn des Wortes bringt zwar das Gespräch mit Anderen zum Ausdruck, doch gehört das Gespräch mit sich selbst als wesentlicher Bestandteil der sokratischen Selbstsorge dazu. Die Sokratische Gesprächsführung 378 hat die Ausrichtung des Menschen auf das Gute zum Ziel und dieses Ziel wird dann erreicht, wenn sich der Gesprächspartner letztlich selbst, also ganz im mäeutischen Sinn so zu formen versteht, dass er in der Ausrichtung auf das möglichst dauerhaft Gute im Sinn einer allgemeinen Norm eine Übereinstimmung mit sich selbst erzielt. Denn ein aus eigener Kraft geformtes 379, wenngleich auch einzelnes, gutes Selbst, so die Annahme, vermag dann auch auf andere Menschen im Sinn einer Veränderung zum Guten einzuwirken. Auch Sokrates’ Verständnis dürfte es gewesen sein, dass sich die sozialpolitische Realisierung des Guten in der Welt nur dann erreichen lässt, wenn auch die einzelnen Individuen in dieser Welt gut sind. Das Gutsein der eigenen Person wird so zur Bedingung für das Gutsein im Ganzen. Im Rahmen der sokratischen Gesprächsführung ist die wesentliche Methode zur Ausrichtung des Selbst auf das Gute die Mäeutik. Zwar wird ein Selbst letztlich nur durch sich selbst 380 gut, doch der Auf eine Darlegung der zahlreich angewandten Varianten der sokratischen Gesprächsführung im Rahmen psychosozialer Therapie- und Beratungsformen sowie auf die unterschiedlichen Ansätze einer möglichen Anwendung in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie wird in der vorliegenden Arbeit nicht eingegangen, weil dies den Rahmen der Untersuchung weitaus sprengen würde. Hinsichtlich der Anwendung im Rahmen psychosozialer Therapie- und Beratungsformen sei insbesondere auf H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007 verwiesen und im Hinblick auf die möglichen Anwendungen in der Bildungs- und Erziehungsphilosophie auf D. Birnbacher, D. Krohn, Das sokratische Gespräch, 2002 aufmerksam gemacht. 379 Dabei geht es darum, durch Übung ein Subjekt zu formen, welches »an einem Programm zur Entpassivierung seiner selbst teilnimmt und vom bloßen Geformtsein auf die Seite des Formenden übertritt. Der ganze Komplex, den man Ethik nennt, entspringt aus der Geste der Konversion zum Können.« (P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 306) 380 Diese scheinbare Paradoxie macht die schwierige Aufgabe der Mäeutik im Sinn einer Pädagogik deutlich: »Ist das Ziel der Erziehung vernünftige Selbstbestimmung, d. h. ein Zustand, in dem der Mensch sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen läßt, vielmehr aus eigener Einsicht urteilt und handelt – so entsteht die Frage, wie es möglich ist, durch äußere Einwirkung einen Menschen zu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen.« (L. Nelson, Die sokratische Methode, 2002, 44 f.) 378
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Andere ist für diese Entwicklung unabdinglich. Denn jedes Selbst verkümmert ohne Dialog, da der allgemeine Inhalt der Sorge um sich selbst nach Mitteilung drängt, nach Austausch mit dem Anderen. Vor allem bedarf es eines Anderen, der sein Selbst, wie Sokrates, bereits konstituiert hat, also schon über ein gutes Selbst verfügt. Im Gespräch mit solch einem konstituierten Selbst, wird die Reflexion um das eigene Selbst erweitert und abhängig vom Grad der Konstitution des eigenen Selbst auch korrigiert. Die Person, welche sein Selbst bereits konstituiert hat, wird dabei zum Psychagogen 381, wie Sokrates in den platonischen Dialogen 382. Denn die Gesprächspartner des Sokrates verfügen in der Regel über kein Selbst, das als Maßstab zur Selbstsorge im Sinn einer Ausrichtung auf das Gute dienlich wäre. Die sokratischen Dialogpartner orientieren sich weniger am Ideal des wahrhaft Guten, sondern mehr an äußerlichen Maßstäben rund um das scheinbar Gute 383, wie beispielsweise Ruhm, Reichtum oder Macht. In den nachfolgenden Kapiteln soll nun die mäeutische Vermittlung in der sokratischen Gesprächsführung untersucht werden und zugleich als mögliche Form angewandter Mediation geprüft werden.
Mit dieser Rolle sind wesentliche, therapeutische Anforderungen an den sokratischen Philosophen verknüpft. Er sollte nämlich in der Lage sein und den Willen haben »die Gleichwertigkeit verschiedener »Erkenntnisse« und »Wahrheiten« zu tolerieren. Dies verlangt die Einsicht, Bereitschaft und Fähigkeit, andere Lebensphilosophien, Moralvorstellungen und Wertmaßstäbe neben den eigenen, selbst bevorzugten als gleichwertig zu akzeptieren und jede Form missionarischen Wirkens zu unterlassen. […] Seine eigene Lebensphilosophie, seine »Vernunft« und seine »Wahrheiten« haben dabei außen vor zu bleiben und sollten weder implizit noch explizit »wohlmeinend« auf den Patienten [Gesprächspartner] übertragen werden.« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 103) 382 G. Böhme im Hinblick auf den Dialog Alkibiades I: »Denn für den einen, den Schüler Alkibiades, soll sich so etwas wie ein Selbst oder eine Seele ja erst in der Auseinandersetzung mit dem anderen, dem Lehrer Sokrates, bilden.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 56) 383 Auch Sokrates ist klar, »daß von Gerechtem und Schönem viele nur, was so scheint, wenn es das auch nicht ist, tun und haben wollen und dafür angesehen sein.« (Politeia 505d f.) Demnach genügt es den meisten Menschen, bloß gerecht zu scheinen, ohne es wirklich zu sein. 381
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4.2.1
Sokratische Mäeutik als angewandte Mediation?
Die Anwendung der sokratischen Mäeutik in der Mediation 384 bringt die zur Handlung anleitende Funktion der Philosophie für das menschliche Leben beispielhaft zum Ausdruck. In der Mediation wird also in mehrfacher Hinsicht Anleihe bei der sokratischen Mäeutik genommen. E. Wolz-Gottwald 385 beschreibt diese Parallele zwischen Mäeutik und Mediation aus Erfahrung treffend so: »Ganz im Sinne sokratisch-platonischer Mäeutik geht es auch der Mediation nicht um die Vermittlung von fertigen Lösungen. Durch geeignetes Fragen sind die Klienten auf den Weg der eigenen Lösungsmöglichkeiten zu bringen. Ein mit der Kunst der Elenktik vergleichbares Fragen mag die geistige Erstarrung des Gesprächspartners lösen und ihn in einen Prozess gemeinsamen, kreativen Suchens führen.« 386 Betrachtet man die Parallelen zwischen Mediation und Mäeutik näher, so lassen sich mit E. Martens folgende Gemeinsamkeiten zielführend bestimmen: »die Methode der professionellen Hilfe zur Selbsthilfe, das Ziel der gemeinsamen Problemklärung, der Inhalt der Sinnfindung, die Legitimation durch Selbstbestimmung sowie die Entstehung in einer Krisen- oder Umbruchsituation.« 387 Die methodische »Hilfe zur Selbsthilfe« bringt ganz klar die mäeutische Rolle des Mediators zum Ausdruck, der nicht als inhaltlicher Berater sein Wissen vermitEine Definition von »Mediation« erscheint am ehesten auf Basis der praktizierten Mediationsform sinnvoll. Eine zielführende Definition für eine sehr häufig angewandte Form von Mediation, nämlich der, welche sich auf die Interessen der Konfliktparteien konzentriert, bietet D. Strempel. Mediation ist demnach »die Vermittlung in einem Konflikt verschiedener Parteien mit dem Ziel einer Einigung, deren Besonderheit darin besteht, dass die Parteien freiwillig eine faire und rechtsverbindliche Lösung mit Unterstützung eines Mediators auf der Grundlage der rechtlichen, wirtschaftlichen, persönlichen und sozialen Gegebenheiten und Interessen selbstverantwortlich erarbeiten.« (D. Strempel, Mediation in Rechtspflege und Gesellschaft, 1998, 12 f.) Eine kürzere, doch allgemein zutreffende Definition bietet G. Falk: »Mediation ist freiwillige Selbstregulierung von Konflikten unter Mitwirkung allparteilicher Dritter ohne Entscheidungsgewalt.« (G. Falk, Mediation, Kompetenzen, 1998, 289.) Einen hilfreichen Überblick zur Definition von Mediation bietet N. Alexander, Wirtschaftmediation in Theorie und Praxis, 1999, 42–46. Ebenso gibt sie einen guten Einblick in die unterschiedlichen Formen von Mediation. Vgl. ebd., 33–35. 385 E. Wolz-Gottwald ist Dozent für Philosophie in Münster und Mediator in eigener Praxis. 386 E. Wolz-Gottwald, Mediation. Ein neues Feld philosophischer Praxis, 2001, in: Information Philosophie (1) 2001, 78–83. 387 E. Martens, Sokratische Mäeutik und Mediation heute, 2001, URL: s. Anhang Id. 384
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telt, sondern davon ausgeht, dass das zur Hilfestellung benötigte Wissen bei seinen Gesprächspartnern bereits vorhanden 388 ist, die Gesprächspartner also primär dabei unterstützt, ihr eigenes Wissen hervortreten zu lassen. Also ganz ähnlich der Rolle des Sokrates bei der Ausübung seiner Hebammenkunst 389, die zudem ermöglicht »zu prüfen, ob die Seele des Jünglings ein Trugbild und Falschheit zu gebären im Begriff ist oder Fruchtbares und Echtes.« 390 Dies bedeutet aber nicht, dass Sokrates zur Unterscheidung zwischen richtig oder falsch imstande ist, sondern dass allein seine Gesprächspartner diese Unterscheidung treffen können. Denn, so K. Jaspers treffend: »Sokrates gibt nicht, sondern läßt den Anderen hervorbringen. Wenn er dem scheinbar Wissenden sein Nichtwissen zum Bewußtsein bringt und dadurch das echte Wissen ihn selber finden läßt, so gewinnt der Mensch aus einer wundersamen Tiefe, was er eigentlich schon wußte, aber ohne es schon wissend zu wissen. Damit wird gesagt: Erkenntnis muß jeder aus sich selbst finden, sie ist nicht wie eine Ware zu übertragen, sondern nur zu erwecken.« 391 In diesem Prozess der Hilfe zur Selbsthilfe geht es also nicht um die Vermittlung von inhaltlichem Wissen, sondern um das Setzen von Handlungen, welche der nach Hilfe suchenden Person zur Reflexion der eigenen Lebenspraxis dienen. Die sokratische Pädagogik der Vermittlung einer Hilfe zur Selbsthilfe ist also von einer handlungsorientierten Einstellung 392 geAuch in der Systemtheorie, die zu den Quellgebieten der Mediationstheorie zählt, findet sich dieser zentrale Gedanke der sokratischen Mäeutik wieder: »Die Systemtheorie schließt sich dem sokratischen Menschenbild an, indem es davon ausgeht, dass das Wissen im System vorhanden ist und von einem neutralen Berater nur unterstützt werden muss, um hervorzutreten.« (C. Achouri, Der Philosoph in der Wirtschaft, 2001, URL: s. Anhang Id) 389 Denn auch Sokrates geht es nicht »um Wissensvermittlung, sondern vielmehr um die Wiedergewinnung des bereits Gewussten, des verschütteten Wissens.« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 16 f.) Und dazu liegt Sokrates folgende Einsicht zugrunde: »Ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. […] Daher bin ich selbst keineswegs etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele.« (Theaitetos 150c–d f.) 390 Theaitetos 150c f. 391 K. Jaspers, Die maßgebenden Menschen, 2004, 13 f. 392 So ist auch die »wahre Selbsthilfe« »die Gerechtigkeit, die ›Übereinstimmung mit sich selbst‹, die Identität nicht der physischen, sondern der sittlichen Existenz, die gegebenenfalls auch den Tod aushalten kann.« (T. Kobusch, Wie man leben soll: Gorgias, 1996, 62) 388
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prägt, ist praktische Philosophie 393, mit dem Ziel, das eigene Handeln hinsichtlich seiner Richtigkeit hinterfragen zu lernen. Betrachtet man die zweite Gemeinsamkeit zwischen Mediation und Mäeutik, das »Ziel der gemeinsamen Problemklärung«, dann ist im Hinblick auf die sokratischen Dialoge zunächst festzustellen, dass Sokrates seine Gesprächspartner selten danach fragte, ob sie ein Gespräch mit ihm führen möchten. Vielmehr wurden seine Gesprächspartner eher unfreiwillig 394 in ein Gespräch verwickelt. Dennoch verfolgt auch Sokrates mit seiner Mäeutik das Ziel, ein Problem gemeinsam zu klären, wenngleich die sokratische Ausgangssituation wohl schwieriger war als jene in der heutigen Mediationspraxis. Denn im Prozess der Mediation ist die Freiwilligkeit zur Gesprächsführung 395 eine grundlegende Bedingung. Während also in der Mediation die Gesprächspartner sich schon zu Beginn des Verfahrens freiwillig bereit erklären müssen, zur gemeinsamen Problemklärung beizutragen 396, musste Sokrates seine Gesprächspartner vom Sinn G. B. Achenbach hat in dieser Beziehung für seine »Philosophische Praxis« (vgl. dazu auch den Exkurs »Philosophieren als Beruf« in der vorliegenden Arbeit) einen einfachen, angemessenen Grundsatz für ein philosophisch orientiertes Gespräch mit Anderen formuliert: »Wolle den Besucher, der um deinen Rat nachsucht, nicht verändern!« (G. B. Achenbach, Zur Mitte der Philosophischen Praxis, 1996, 99 f.) Dieser Grundsatz fordert nämlich richtig dazu auf, »das Gespräch von jedem Zweck und aller Absicht freizuhalten: Es ist das Vorrecht Ihres Gastes, Ihrer Unterredung einen Zweck zu setzen und einen Sinn darin zu finden.« (Ebd.) Zudem gilt: »Auch aller, selbst noch so wohlgemeinter, korrektioneller (zurechtweisender) Bemerkungen soll man, im Gespräche, sich enthalten: denn die Leute zu kränken ist leicht; sie zu bessern schwer, wo nicht unmöglich.« (A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 2016, 182) 394 H.-G. Gadamer formuliert es richtig so: »Er [Sokrates] zwingt den Gegner, ein einheitliches Woraufhin des Daseinsverständnisses, einen Begriff des Guten aufzustellen und macht an dem, was so als das Gute behauptet wird, deutlich, was mit dem Begriff des Guten notwendig gegeben ist.« (H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 48 f.) 395 Die Freiwilligkeit zählt zu den sogenannten »Mediationsregeln«, die als wesentliche Elemente für eine erfolgreiche Mediation zu betrachten sind. Nina L. Dulabaum zählt zu diesen elementaren Regeln ganz richtig weiter auch Respekt und Toleranz, Kooperationsbereitschaft und Eigenverantwortlichkeit, Vertraulichkeit und Verschwiegenheit, Offenheit und Ehrlichkeit, Zuhören, Fairness, keine Beleidigungen oder Handgreiflichkeiten sowie Zeitmanagement. Und »Freiwilligkeit« formuliert sie kurz und verständlich so: »Die Konfliktparteien erklären sich bereit, an der Mediation teilzunehmen und zusammenzuarbeiten.« (N. L. Dulabaum, Mediation: Das ABC, 1998, 59) 396 Anzumerken gilt, dass in der Mediation Klienten ihren Willen zur gemeinsamen Problemklärung gelegentlich auch nur vortäuschen, um dadurch mehr Informationen 393
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einer gemeinsamen Problemklärung erst überzeugen 397. Auch der philosophische Praktiker wird versuchen, solch eine Freiwilligkeit zur gemeinsamen Problemklärung beim Gesprächspartner zu erzeugen, um für seine mäeutische Hilfestellung eine gute Gesprächsbasis zu schaffen. Dabei wird es von großer Bedeutung sein, sich wie Sokrates sehr geschickt auf die individuelle Persönlichkeit seiner Gesprächspartner einzustellen. 398 An der dritten Gemeinsamkeit von Mediation und Mäeutik, dem »Inhalt der Sinnfindung«, lässt sich zugleich ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Verfahren demonstrieren: »Auf eine Formel gebracht, liegen sie [die Unterschiede] in der Radikalität des Vorgehens. Das Spezifische der sokratischen Mäeutik liegt darin, daß sie radikal ist, im wörtlichen Sinne die Probleme bei der Wurzel anpackt.« 399 Denn einen methodischen Tiefgang dieser radikalen Art verfolgen nur wenige Mediatoren, weil abgesehen von Ressourcen wie Zeit und Geld 400, solch ein Tiefgang in vielen Mediationsfällen auch gar nicht zielführend ist und zudem die methodische wie auch therapeutische Kompetenz vieler Mediatoren dabei sehr rasch ihre Grenze erreichen würde. Die zentrale Aufgabe der heute wohl am häufigsten praktizierten Form von Mediation 401 liegt primär im Suüber ihren Konfliktpartner zu erhalten und diese Informationen nach Abbruch einer erfolglosen Mediation zum Nachteil ihres Konfliktpartners vor Gericht verwenden. 397 Dass Sokrates seine Gesprächspartner nicht immer überzeugen konnte, ist wohl hinlänglich bekannt, doch sollte auch der Umstand erwähnt sein, dass bis heute die sokratische Gesprächsführung ihre deklarierten Gegner hat. Denn »wer lässt auch schon gern eigene Einstellungen und Konzepte als unlogisch, untauglich und unhaltbar entlarven, wer mag schon der inkonsequenten, nicht zielorientierten Lebensweise überführt werden, wer lässt sich schon gern nachweisen, widersprüchlich zu den eigenen, eigentlich verfolgten Werten und Normen zu leben?« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung, 2007, 12) 398 Zur Fähigkeit, sich bewusst auf das individuelle Niveau seiner Gesprächspartner einzustellen, siehe auch das Kapitel »Über die Wirkung der sokratischen Vermittlung« in der vorliegenden Arbeit. 399 E. Martens, Sokratische Mäeutik und Mediation heute, 2001, URL: s. Anhang Id. 400 Ein vermehrter Zeitaufwand für den Mediator und die damit verbundenen, erhöhten Kosten für den Klienten können den Einsatz der mäeutischen Methode in der Mediation also erschweren: »Da der Patient [Gesprächspartner] selbst reflektieren muss, erstrecken sich sokratische Dialoge häufig über mehrere Sitzungen […], so dass der Therapeut sich wegen des begrenzten Therapiekontingents auf die wesentlichen Themen beschränken sollte.« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 99) 401 Eine gute Übersicht zu den möglichen Aufgaben von Mediation gibt N. Alexander in ihrer Einleitung zur »Theorie der Mediation«. (Vgl. N. Alexander, WirtschaftsSokratische Selbstsorge
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chen nach einer für alle Konfliktpartner annehmbaren und praktisch möglichen Lösung. Dabei prüft zwar auch die Mediation die von den einzelnen Konfliktträgern eingebrachten Lösungsvorschläge, doch nicht am Maßstab des sokratischen Logos, sondern im Hinblick darauf, ob diese Vorschläge einer für alle Konfliktpartner annehmbaren Lösung 402 dienlich sein können. Dass beim Auffinden solcher Lösungen auch die Sinnfrage eine wesentliche Rolle spielt, bringt bereits der Umstand mit sich, dass die Beständigkeit einer erzielten Konfliktlösung ganz entscheidend davon abhängt, wie sehr der einem Konflikt zugrunde liegende, tiefere Sinn von den Konfliktträgern bearbeitet wurde oder nicht. Das Ergebnis einer Konfliktlösung auf Dauer hat also wesentlich mit der Transformation 403 des Bewusstseins der Konfliktparteien zu tun. Nur dann nämlich, wenn Konflikte von den Konfliktpartnern als veränderbare Chance wahrgenommen werden, ist eine Situation geschaffen, die es auch ermöglicht, die Fähigkeit der Konfliktpartner zur selbständigen Lösung des Konfliktes zu fördern und im besten Fall den Konflikt in einen kreativen Prozess zu wandeln. Solch ein Bewusstseinswandel der Konfliktpartner wird allerdings nur dann eintreten, wenn die vierte Gemeinsamkeit zwischen Mäeutik und Mediation, die »Legitimation durch Selbstbestimmung« im Sinn einer Kompetenz zur Autonomie 404 bei den Konfliktpartnern vorliegt. Ob diese Kompetenz zur Autonomie vorliegt, überprüft der Mediator insofern, als er gleich einem praktischen Arzt, der aufgrund mediation in Theorie und Praxis, 1999, 33 ff.) Und sie macht, ganz unabhängig von den unterschiedlichen Formen, Eigenschaften und Definitionen von Mediation, zugleich eine grundlegende Aufgabe des Mediators deutlich: »Die Denkweise der Parteien über die Bedeutung und die Assoziationen von Konflikt zu erweitern.« (Ebd. 51) 402 Mit der Orientierung an einer für die jeweilige Situation hilfreichen Lösung, scheint die Mediation, vordergründig gesehen, der »Sophistik« einen Augenblick näher zu sein als der sokratischen Mäeutik, doch diese Nähe entschwindet sofort, tritt die Absicht der Lösung in den Vordergrund, die in der Mediation durch die Hilfestellung, in der Sophistik durch die Machtstellung charakterisiert ist. 403 Solch eine Transformation wird in der Regel ausschließlich in der »Therapeutischen Mediation« angestrebt, welche auch bekannt ist als »Aussöhnungs- (reconciliation) oder Umwandlungsmediation (transformative). Das Hauptziel dieses Mediationsmodells besteht darin, die Ursachen eines Problems zu behandeln, um die Beziehung zwischen den Parteien zu verbessern, so daß eine größere Chance für eine wirkliche Lösung des Konflikts geschaffen wird.« (N. Alexander, Wirtschaftsmediation in Theorie und Praxis, 1999, 35) 404 Mit dieser Kompetenz zur Autonomie wird die Fähigkeit eines Menschen verstanden, selbständig rationale und faire Lösungen zu erarbeiten.
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seiner Diagnose erkennt, ob der Patient weiter von ihm oder von einem Facharzt zu behandeln ist, möglichst früh feststellt, ob die ihn aufsuchenden Konfliktpartner aufgrund ihrer dargelegten Sachverhalte, von ihm selbst oder besser einem anderen Fachmann, beispielsweise einem Psychotherapeuten, zu betreuen sind. Auch der sokratische Mäeutiker in seiner philosophischen Praxis muss in der Lage sein, insbesondere im Hinblick auf psychische Krankheiten, »Besucher, die der Sache nach als ›Patienten‹ anzusehen sind, als solche auch zu erkennen und ggf. an fachkundige Betreuer weiter zu verweisen. Es handelt sich hier um eine für Philosophen bisher noch unbekannte, höchst nötige Wahrnehmung von ›Grenzen‹, die zumal der philosophische Praktiker kennen muß, um im Rahmen der eigenen Möglichkeiten verantwortlich wirken zu können.« 405 Liegt die Kompetenz zum autonomen Handeln nämlich nicht vor, ist die Möglichkeit für eine dauerhafte Konfliktlösung von vornherein eingeschränkt. Ist die Kompetenz hingegen gegeben, besteht die Chance sie zu fördern und als Einsicht zur Konfliktbewältigung für die Konfliktparteien nutzbar zu machen. Diese an die Bewusstheit gekoppelte Einsicht stellt ein existentielles Phänomen dar und ist das Vermögen, die besondere Lebenssituation in der Krise, im Konflikt als für sich bedeutungsvoll, also mit Sinn behaftet zu erfassen. Diese Einsicht zur Konfliktbewältigung als ein Interesse am Existentiellen bei den Konfliktpartnern wachzurufen, ist die Aufgabe des Mediators. Die fünfte Gemeinsamkeit zwischen Mäeutik und Mediation, dass nämlich die »sokratisch-platonische Mäeutik« in der griechischen Antike zu einer Zeit entsteht, die durch äußere Krisen beziehungsweise geistige Umbrüche gezeichnet ist, zeigt exemplarisch, dass immer dann, wenn der Mensch in eine persönliche Krise gerät, unabhängig davon, ob die Ursachen hierfür durch äußere oder innere Einflüsse bestimmt sind, die Bereitschaft zur Reflexion über sich selbst und die eigene Situation wächst und das Verlangen nach einer Veränderung im Sinn eines besseren, konfliktfreien Lebens groß wird. Schließlich eröffnen Mäeutik wie auch Mediation den Weg zur Suche nach Selbsterkenntnis und im Rahmen beider Verfahren ist dieser Weg von den Suchenden letztlich selbst zu beschreiten. Doch der mäeutische Weg ist radikaler, da im Stil der sokratischen Selbst(G. B. Achenbach, Grundzüge eines Curriculums für die Philosophische Praxis, 2005, 283)
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erkenntnis der Gesprächspartner vom Mäeutiker zunächst ganz bewusst in die sokratische Aporie geführt wird und erst dann, auf Basis der Einsicht des Gesprächspartners in die eigene Ratlosigkeit, von Mäeutiker und Gesprächspartner gemeinsam nach einem Ausweg aus der aporetischen Situation gesucht wird. Dagegen ist der Weg der Mediation sanfter, da in der Mediation weder das bewusste Erzeugen einer Aporie beim Gesprächspartner, noch die Umkehr der Persönlichkeit des Gesprächspartners im Regelfall ein Anliegen ist. Sokratische Mäeutik daher als angewandte Mediation zu verstehen, scheint wenig sinnvoll, da Mediation im geläufigen Sinn weder den methodischen Tiefgang der Mäeutik pflegt, noch die in der Mäeutik angestrebte Umkehr der Persönlichkeit des Gesprächspartners anstrebt. Hingegen scheint die methodische Anwendung der sokratischen Mäeutik in der Mediation, insbesondere in einer an den Interessen der Konfliktparteien orientierten Form, in welcher der Mediator mehr als Prozessexperte fungiert und nicht als inhaltlicher Experte oder in einer an den Ursachen eines Konflikts orientierten Form, in welcher der Mediator auch die Wurzeln des Konflikts beleuchtet, durchaus angebracht. Bevor nun der Frage nachgegangen wird, ob sich der Philosoph als ein geeigneter Mediator erweist, soll noch kurz eine Erörterung zur theoretischen Fundierung von Mediation angestellt sein sowie eine begriffliche Annäherung an die Mediation versucht werden.
4.2.1.1 Exkurs: Theoretische Fundierung und Begriff von Mediation Einen theoretisch fundierten Zugang zur Mediation zu finden, ist eine besondere Herausforderung. Der entscheidende Grund dafür liegt in der Vielfältigkeit der Mediationspraxis. Denn das, was von den verschiedenen Professionen unter dem Titel Mediation 406 betrieben wird, hat seine theoretischen Wurzeln in zahlreichen, zum Teil sehr unterschiedlichen Wissenschaften. So führt R. Proksch im Hinblick auf eine theoretische Fundierung von Mediation richtig an: »Für
Mediation wird in sehr unterschiedlichem Kontext praktiziert. Im Rahmen einer österreichischen Demographie sind insbesondere die gerichtsnahe Mediation, der außergerichtliche Tatausgleich (ATA), die Mediation in Wirtschaft und Arbeitswelt, die Mediation im psychosozialen Umfeld, die Umweltmediation sowie die Mediation in der Schule als Anwendungsbereiche hervorzuheben.
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die Mediation bietet sich an, sich insbes. an Theorien anzulehnen, die ihre Orientierungen vorwiegend finden in den Grundlagen der humanistischen Psychologie, der Existenzphilosophie, des kooperativen, sozial bezogenen Gesprächs, den verfassungsrechtlichen Grundrechten der Würde des Menschen, der Privatautonomie, der Freiheit und Eigenverantwortlichkeit unseres Grundgesetzes.« 407 Zudem ist von einer nicht geringen Anzahl praktizierender Mediatoren auszugehen, die eine theoretische Begründung ihrer Mediationspraxis in den Hintergrund stellen oder gar außer Acht lassen. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch die Ansicht vertreten, dass jede Form einer bewährten Mediationspraxis auf einer theoretischen Grundlage basieren muss. Denn nur auf Basis einer theoretischen Betrachtung wird auch die Möglichkeit zur Überprüfung und Bewertung der Mediationspraxis geboten. Zudem schafft die Entwicklung einer Theorie zur Mediation die erforderliche Transparenz für eine entwicklungsfähige Praxis von Mediation und gewährleistet den bewussten Umgang mit bereits erfolgreichen Theoriekonzepten in der Mediation. Während vor knapp zwei Jahrzehnten der Versuch einer theoretischen Fundierung einer Mediationspraxis noch eine Art Initialakt war, weil Theorie und Theoriebildung als Grundlage der Mediation noch stark im Hintergrund einer Entwicklung von praktischen Leitfäden, Regeln und Trainingsmodellen für die Mediation lag, ist heute beinahe jede Form der Mediationspraxis um eine theoretische Rechtfertigung und Begründung ihrer Arbeit bemüht. Diese Bemühungen resultieren nicht zuletzt auch daraus, dass bislang fast alle Professionen, die sich mit dem Thema oder gar nur mit dem Begriff der Mediation in irgendeiner Form in Zusammenhang bringen konnten, dies auch taten, wenn dies zum Vorteil ihrer eigenen Profession gereichte. Eine Folge dieser allgemeinen Identifikation mit dem Thema von Mediation war zum Beispiel der regelrechte Mediationsboom um das Jahr Zweitausend in Österreich. Der damals geläufige Slogan zahlreicher Professionen in Bezug auf die nahezu modisch wirkende Erscheinung Mediation lautete: »Mediation betreiben wir seit eh und je«. Solchen oder ähnlichen, an der Oberfläche einer Bestimmung orientierten Standpunkten, versucht der vorliegende Exkurs jedoch bewusst entgegenzuwirken. R. Proksch, Zeitschrift für Konflikt-Management, 2000, 31. Vgl. dazu auch das Kapitel »Theorie der Mediation« von N. Alexander, Wirtschaftsmediation in Theorie und Praxis, 1999, 31–97, bes. 31.
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Mit einer theoretischen Fundierung von Mediation wird also ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung für die Mediationspraxis geschaffen. Denn erst auf der Grundlage einer theoretisch nachvollziehbaren Konzeption kann das Handeln und Verhalten im Kontext der Mediation auch reflektiert werden und so die im Zuge des Verfahrens der Mediation gesetzten Interventionen auf ihre Tauglichkeit hin überprüft und verbessert werden. Auf diese Weise wird die berufliche Befähigung und Identität von Mediatoren auch weniger durch einmalige Erfolgsrezepte gesteuert, sondern die Erkenntnis- und Handlungsgrundlagen der Mediationsarbeit werden auf der Grundlage einer nachvollziehbaren, nach Möglichkeit sogar wissenschaftlich anerkannten, theoretischen Konzeption erworben. Heute beruht der Großteil der theoretischen Fundierung der Mediationspraxis entweder auf der Niederlegung einfacher Methoden und Verfahren, die aus der erfolgreichen Praxis einzelner Mediatoren stammen oder auf der aus einer bestimmten Wissenschaft abgeleiteten und im Hinblick auf die Mediation adaptierten Erkenntnis. Für eine theoretisch noch mehr fundierte Mediationspraxis wird es jedoch zielführend sein, Mediation nicht allein auf Basis situativ wirksamer Einzelrezepte und vereinzelnd anwendbarer Methoden aus einschlägigen Fachwissenschaften zu fundieren, sondern mehr im Sinn einer wissenschaftlich allgemein überprüfbaren Rezeptur, welche die interdisziplinäre Vorgehensweise in der Mediation nicht nur berücksichtigt, sondern auch wissenschaftlich weiter entfaltet. Da die Mediation als ein interdiziplinäres Berufsfeld zu sehen ist, nutzen einige Vertreter der Mediation genau diesen interdisziplinären Spielraum und reizen ihn zugunsten einer speziellen Fachdisziplin aus. Das Ergebnis ist eine häufig einseitige Bevorzugung bestimmter Merkmale von Mediation, die der Sicht einer bestimmten Fachdisziplin im Sinn einer kohärenten Theoriebildung zwar am weitesten entgegenkommt, aber der Entwicklung von Mediation als interdisziplinärer Profession mehr entgegenwirkt. Soweit Vertreter einschlägiger Professionen beispielsweise juristische, psychologische oder wirtschaftliche Gesichtspunkte in den Vordergrund ihrer Mediationspraxis heben, ist das noch ein legitimer Akt. Wird jedoch der Versuch unternommen, Mediation als lediglich verwertbaren Anhang zur eigenen Profession zu definieren, wird damit nicht nur der originäre Ansatz der Mediation, nämlich verschiedenste fachliche Disziplinen zu übergreifen, verfehlt, sondern auch die Möglichkeit genommen, Mediation als eine eigenständige Profession zu verankern. 120
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Was aber bedeutet Mediation eigentlich? Eine Bestimmung von Mediation lässt sich insbesondere aus der wörtlichen Erklärung sowie dem etymologischen Kontext des Wortes »vermitteln« gut finden. So kann Mediation als ein Vermitteln zwischen zwei oder mehreren Personen in einem Konflikt verstanden werden. Der interpersonelle Konflikt von Konfliktparteien ist dabei angesprochen. Der Mediator tritt bildlich gesprochen zwischen die Konfliktparteien. Bei der Regelung des interpersonellen Konfliktes liegt die Aufgabe des Mediators darin, die zwischen den Konfliktparteien 408 ablaufenden Interaktionen durch gezielte Interventionen zu steuern. Für solche Interventionen muss der Mediator die Techniken der Verhandlung und Kommunikation in Konflikten, also bewährte Methoden der Konfliktdeeskalation, erfolgreich zum Einsatz bringen. Sind diese Interventionen fruchtbar, ist die Steuerung des Konfliktes unter Kontrolle und der Konflikt kann über eine fortschreitende Analyse zu einer für die Konfliktparteien annehmbaren Lösung geführt werden. Die Regelung solch interpersoneller Konflikte stellt das klassische Aufgabenfeld eines Mediators dar. Eine weitere, wesentliche Form der Auslegung von Mediation im Kontext der Vermittlung ist, dass Mediation auch im Sinn einer Vermittlung von etwas für jemanden ausgelegt werden kann. Damit ist die Vermittlung einer spezifischen Haltung des Mediators gegenüber den Konfliktträgern gemeint, das allparteiliche, insbesondere von Respekt, Toleranz und Offenheit gegenüber den Konfliktparteien geprägte Verhalten des Mediators. Dieses Verhalten muss authentisch und für die Konfliktparteien annehmbar sein. Der intrapersonale Konflikt 409, den der einzelne Konfliktträger häufig in sich trägt, wird Gerade in den ersten Sitzungen eines Mediationsverfahrens wird der Mediator versuchen, die zwischen den Konfliktparteien ablaufenden Interaktionen gering zu halten und die Konfliktparteien dazu anhalten, ihre jeweils persönliche Sicht des Konfliktes direkt an ihn zu kommunizieren und nicht an den Konfliktpartner. Dabei lernt nicht nur der Mediator den Konflikt aus dem Blickwinkel der jeweiligen Konfliktpartei zu verstehen, sondern jede Konfliktpartei gewinnt ohne direkte Konfrontation mit der anderen Konfliktpartei Einsicht in die Denk- und Sichtweise der jeweils anderen Konfliktpartei. 409 Diesen inneren Konflikt, der in uns selbst wirkt, gilt es zu besiegen, denn sich selbst zu besiegen, ist »vor allen Siegen der erste und vorzüglichste, sich selbst zu unterliegen aber, vor allem andern das Schimpflichste und Schlimmste.« (Nomoi 626e) Doch dieser Sieg ist nur schwer zu erringen, denn jeder von uns hat »in sich selbst zwei sich widersprechende, unverständige Ratgeber«. (Ebd., 644c) In diesem Zusammenhang ist an den Aspekt der »Selbstbeherrschung« zu erinnern, der in der 408
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damit angesprochen. Denn erst durch die Vermittlung einer für den jeweiligen Konfliktträger vertrauensvollen Haltung, schafft der Mediator die erforderliche Atmosphäre, um die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zielführend steuern zu können. Der Mediator tritt bildlich gesprochen an die Seite einer jeden Konfliktpartei, indem er für jede Konfliktpartei Stellung bezieht und damit die Anerkennung seiner Haltung, seines Verhaltens bei jeder Konfliktpartei erwirkt. Der Mediator versucht damit, jeder Konfliktpartei die Gewissheit zu vermitteln, dass ihre Sicht des Konflikts 410 Anerkennung und Bestätigung bei ihm findet. Die während des Mediationsprozesses von den Konfliktparteien eingenommene Haltung wird also, so die getroffene Annahme, wesentlich vom Verhalten des Mediators geprägt. Bewirkt der Mediator durch seine Haltung eine Atmosphäre der Sicherheit, des Vertrauens, der Ruhe, wird es ihm auch gelingen, die im Verlauf einer Mediation immer wieder auftretenden Eskalationen des Konfliktes besser zu meistern. Der Mediator kann durch dieses Verhalten ein konstruktives wie auch effektives Kommunizieren zwischen den Konfliktparteien fördern und hinsichtlich möglicher Lösungen im Konflikt, die Konfliktparteien zur Erreichung neuer Sinnhorizonte wie auch zur Entwicklung kreativer Denkansätze leichter animieren. Die empathischen Fähigkeiten des Mediators, die durch Akzeptanz und Anerkennung der unterschiedlichen Positionen und Interessen der Konfliktparteien ihren Ausdruck finden, bewirken also häufig eine Identifikation der Konfliktparteien mit dem Mediator beziehungsweise dessen Haltung. Eine solche Identifikation kann die Auflösung des intrapersonalen Konflikts beim Konfliktträger sowie den Dialog der Verständigung zwischen den Konfliktträgern einleiten. In dieser Form der Vermittlung liegt auch der mögliche Weg zur Transformation des Bewusstseins der Konfliktparteien verborgen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein professionell agierender Mediator immer beide der hier skizzierten Aspekte der Vervorliegenden Arbeit im Kapitel »Zur Besonnenheit als guter Verfassung des Selbst« ausführlich behandelt wird. 410 Dabei gilt es, sich mit K. Jaspers immer wieder einer Art grundlegenden Maxime zu vergewissern: »In jedem Konflikt begreifen wir die Quelle einer eigentümlichen Unwahrheit. Diese wird klar, wenn wir die Konsequenzen der Verabsolutierung eines jeden Wahrheitssinns vergegenwärtigen. Denn jeder Wahrheitssinn hat in sich die Tendenz, die anderen unter seine Bedingung zu stellen, sich selbst den Vorrang zu geben und daher in sich das letzte Kriterium für die Wahrheit in allen anderen Weisen des Wahrheitssinns zu beanspruchen.« (K. Jaspers, Von der Wahrheit, 1991, 655 f.)
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mittlung praktiziert. Im Grunde ist eine Trennung der beiden Vermittlungsaspekte auch gar nicht möglich. Denn verzichtet der Mediator beispielsweise auf die Vermittlung einer für die Konfliktparteien annehmbaren Haltung, gestaltet sich seine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien als eher schwierig oder kommt überhaupt nicht zustande. Damit ist zugleich ausgesagt, dass die vom Mediator während des gesamten Mediationsprozesses immer wieder neu zu belebende Vermittlung einer Haltung gegenüber den Konfliktparteien eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Vermittlung zwischen den Konfliktparteien ist. Die Mediation wird jedoch auch dann fruchtlos sein, wenn der Mediator über die Vermittlung einer Haltung nicht hinausgelangt, also die Vermittlung zwischen den Konfliktparteien einfach nicht in Bewegung kommt. Dies tritt nämlich dann ein, wenn die Transformation des Konfliktes lediglich auf der Vermittlungsebene zwischen Mediator und jeweiligem Konfliktträger stattfindet und sich nicht auf die Vermittlungsebene zwischen den einzelnen Konfliktträgern fortträgt. Dies bedeutet, dass eine positive Verständigung über den Konflikt im Regelfall zuerst zwischen Mediator und jeweiligem Konfliktträger gelingt und erst danach die Verständigung zwischen einzelnen Konfliktträgern passiert. Dass Mediation häufig aus Zeitgründen und damit mehr oder weniger ursächlich verbunden aus finanziellen Gründen, auf die Form einer Vermittlung zwischen den Konfliktparteien beschränkt bleibt, mag eine Tatsache 411 sein. Wird die Form der Vermittlung einer Haltung jedoch vollends außer Acht gelassen, also die zur Lösung des intrapersonalen Konfliktpotentials erforderliche Atmosphäre nie vermittelt, dann besteht die große Gefahr, dass die Gründe und Ursachen des Konfliktes im Konfliktträger unberührt bleiben und jederzeit zu einem neuen Konflikt zwischen den Konfliktparteien führen können. Somit ist festgehalten, dass der Mediator in seiner Vermittlung zwischen den Konfliktparteien primär auf die Lösung des konkreten Konfliktes gerichtet ist und die dem Konflikt zugrundeliegenden Ursachen nur insoweit berührt, als diese zur Lösung des konkreten Konfliktes beitragen können. Dagegen zielt die Vermittlung einer Haltung des Mediators auf eine möglichst dauerhafte Wandlung, Transformation des Konfliktverhaltens der Konfliktträger ab, Diese Tatsache ist in der Regel damit zu erklären, dass eine Mediation ohne die Vermittlung einer spezifischen Haltung des Mediators, viel rascher zu Lösungen für den konkreten Konfliktfall kommt.
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indem versucht wird, den Ursachen des Konflikts nachzuspüren, um eine Konfliktlösung dauerhaften Charakters herbeiführen zu können. In der vorliegenden Arbeit wird daher der Standpunkt vertreten, dass der Konflikttransformation als Mediationsform ein Vorzug einzuräumen ist, da diese Form der Mediation auch einer Vermittlung der spezifischen Haltung des Mediators genügend Zeit einräumt. Die Konflikttransformation ist somit als ein ganzheitlich orientierter Mediationsansatz zu verstehen, der langfristig am ehesten zur Zufriedenheit aller vom Konflikt Betroffenen zu wirken verspricht. Eine rein lösungsorientierte Mediation, die sich nur auf eine Vermittlung zwischen den Konfliktparteien konzentriert, suggeriert zwar rasch Erfolg und damit zeitlich wie ökonomisch gesehen Ersparnis, wird den Konfliktparteien den erhofften Frieden meist aber nur kurzfristig gewähren.
4.2.2
Der Philosoph als Mediator?
Die Frage, ob bereits der akademische Abschluss eines Philosophiestudiums zur Ausübung von Mediation 412 befähigt, muss mit einem klaren »Nein« beantwortet werden. Zwar bietet das Studium der Philosophie eine Reihe von geeigneten Ausbildungsfächern, die einerseits ein zur Ausübung von Mediation hilfreiches Grundwissen liefern und andererseits das aus der Praxis von Mediation gewonnene Wissen auf eine theoretisch reflektierte Basis stellen können, doch In Österreich wurde 2003 das Bundesgesetz über Mediation in Zivilrechtssachen (Zivilrechts-Mediations-Gesetz – ZivMediatG) erlassen, das in erster Linie die fachliche Qualifikation, die Aus- und Fortbildung sowie die allgemeinen Rechte und Pflichten der beim Bundesministerium für Justiz in eine Liste eingetragenen Mediatoren regelt. So gibt es auf Basis dieser gesetzlichen Richtlinien zwar ausgebildete Mediatoren, doch praktiziert wird Mediation auch von einer Vielzahl von Personen, die keine spezielle Ausbildung zur Mediation im Sinn des Zivilrechts-Mediations-Gesetzes absolviert haben. Daran ist zu erkennen, dass in Österreich zwar klare Richtlinien zur Aus- und Weiterbildung von Mediatoren geschaffen wurden, aber die Ausübung von Mediation nicht klar geregelt ist, da beispielsweise weder eine bestimmte Gewerbeberechtigung, noch ein spezieller Nachweis zur Ausübung von Mediation erforderlich ist. In der Praxis allerdings wird Mediation nicht selten im Rahmen klar reglementierter Gewerbe, zum Beispiel der Lebens- u. Sozialberatung, der Unternehmensberatung einschließlich der Unternehmensorganisation oder von Vertretern spezieller Berufsgruppen, zum Beispiel den Rechtsanwälten, den Psychotherapeuten, den Wirtschaftstreuhändern, ausgeübt.
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ist grundsätzlich festzuhalten, dass das Erlangen einer geeigneten Befähigung zur Ausübung von Mediation nicht allein durch den Abschluss eines Studiums, welcher Fachrichtung auch immer, sichergestellt wird. Das liegt vor allem darin begründet, dass die Mediation ein interdisziplinäres Forschungs- und Berufsfeld darstellt, auch wenn gerade die Philosophie im Vergleich zur Vielzahl einschlägiger Studienrichtungen am ehesten Interdisziplinarität für sich in Anspruch nehmen kann. Zieht man den »Beruf des Philosophen« in Vergleich mit jenen Berufsgruppen, die in der Ausübung von Mediation häufig vertreten sind, wie Familientherapeuten, Lebens- und Sozialberater, Psychologen und Psychotherapeuten (Psychosoziales Umfeld), Juristen (Rechtliches Umfeld) sowie mit Vertretern von beratenden Berufen, wie beispielsweise den Unternehmensberatern (Beratungs-Umfeld), dann ist gemäß der gebräuchlichen Definition und Handhabung von Mediation festzustellen, dass ein ausgebildeter Philosoph 413 sogar ein hohes Potential an geeigneten Voraussetzungen zur Ausübung von Mediation mitbringen kann. Eine spezielle Aus- und Weiterbildung im Bereich der Mediation ist für die Ausübung von Mediation allerdings unumgänglich. Es wird also die Ansicht vertreten, dass die Profession des Philosophen eine gute Basis dafür bilden kann, in zahlreichen Anwendungsbereichen der Mediation erfolgreich tätig zu werden. Und dies wird auch damit begründet, dass sich die Philosophie wie auch die Mediation schon ihrer grundsätzlichen Bestimmung nach durch Interdiziplinarität auszeichnen. Dass interdisziplinäres Arbeiten heute von allen Wissenschaften, die der Mediation thematisch nahe stehen, in Anspruch genommen wird, ist wohl eine Tatsache, doch zeichnen sich die konkreten Berufsausbildungen beispielsweise eines Juristen oder Psychologen gegenüber der eines Philosophen viel mehr durch die fachlich einschlägige Profession aus. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass weder die Mediation noch die Philosophie von einem thematisch klar abgrenzbaren Gegenstand in ihrer Beschäftigung ausgehen können und damit auch keine fachliche Perspektive im Zugang zu ihrer Tätigkeit bevorzugen. Ein Jurist läuft im Hinblick auf die geäußerten Betrachtungen der Konfliktparteien vermutlich schneller Gefahr, diese mehr im Hinblick auf das geltende Recht zu Die innerhalb des Faches Philosophie gewählte »Spezialisierung« spielt dabei auch eine Rolle. Denn es macht einen Unterschied, ob der Schwerpunkt des Interesses in der Logik oder Ethik liegt.
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prüfen und weniger in Bezug auf den dahinter liegenden Bedürfnishorizont zu erörtern. Ähnlich wird ein Psychologe vermutlich rascher zur psychologischen Analyse der Persönlichkeitsstruktur der Konfliktparteien neigen, auch wenn diese sich nicht als von einer psychischen Beeinträchtigung zu Heilende, sondern mehr als Hilfe suchende, gesunde Klienten verstehen. Die berufliche Befangenheit, bedingt durch eine fachlich bestimmte Haltung im Sinn eines eingeübten Rollenspiels zwischen Sachverständigem und Laien, kann der Mediation also hinderlich sein. Durch solch eine berufliche Befangenheit verliert der Mediator viel leichter seine fachlich neutrale Stellung 414 gegenüber den Konfliktparteien. So positioniert zum Beispiel G. Falk die Rolle des Mediators überzeugend wie folgt: »Der Mediator fungiert nicht als Sachexperte, sondern ist die strukturelle, lenkende, überwachende ›Prozessautorität‹. Die inhaltliche Lösungskompetenz wird an den Ort mit dem größten Lösungspotential, an die Konfliktbetroffenen selbst, redelegiert.« 415 Damit soll nun weniger der fachlichen Unbefangenheit der Philosophie als Profession das Wort geredet sein, aber fachlich eingeschränkten Vorstellungen hinsichtlich der beruflichen Vor- und Ausbildung in Bezug auf eine Mediationsausübung eine klare Absage erteilt sein. Denn eher bei den fachlich einschlägigen Bereichen wird man das Gefühl nicht los, dass im Hinblick auf die Ausübung von Mediation immer wieder Versuche der Verankerung eines exklusiven Rechts zur Ausübung von Mediation für die eigene Profession unternommen werden. Was damit in Bezug auf die Profession der Philosophie zum Ausdruck gebracht werden soll, macht C. Achouri deutlich: »Anders als […] etwa die Berufszweige der Psychologen und Pädagogen [,] verstanden und verstehen es die Philosophen mitunter schlecht, ihr Wissen und ihre Profession zu vermarkten. […] Die Philosophen müssen ihre Scheu überwinden, sich in aktuellen Gesellschaftsfragen nützlich zu erweisen. Die Gesellschaft hat verlernt, in der Philosophie einen Nutzen zu sehen und die Philosophen haben verlernt sich als nützlich zu erweisen, vielleicht auch aus der unbeDiese fachlich neutrale Stellung spiegelt auch den grundlegenden Gedanken der »Allparteilichkeit« des Mediators wieder. Ein Gedanke, der sich beispielsweise in einem Rechtsverfahren, das mittels Beweisführung und strategischer Argumentation für ausschließlich eine Konfliktpartei die gewünschte Lösung herbeiführt oder in einem psychologischen Vorgehen, das sich ganz und gar auf die individuelle Heilung des einzelnen Patienten konzentriert, schwer wiederfinden kann. 415 G. Falk, Die Welt der Mediation, Einleitung, 1998, 14 f. 414
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gründeten Angst heraus, damit den Anspruch auf Wahrheit zu verkaufen.« 416 Diese Nützlichkeit meint allerdings nicht, dass endlich auch der »Philosoph« ein nützliches Glied unserer Gesellschaft werden soll, indem er seine Nützlichkeit im Sinn von Gewinn bringend für die Ökonomie lediglich unter Beweis stellt, sondern sich im Bewusstsein der Zielsetzung, die ökonomischen Zusammenhänge 417 in Ausrichtung auf das Gute möglichst dauerhaft zu durchschauen, als geistig eigenständiger Mensch in der Gesellschaft bewahrt und so auch am ehesten in der Lage bleibt, sich selbst zu regieren. Denn die für einen philosophierenden Menschen wohl größte Strafe ist, »von Schlechteren regiert zu werden, wenn einer nicht selbst regieren will« 418. Wenngleich also der akademisch ausgebildete Philosoph mit seiner Profession nicht zugleich ein Mediator im zuvor dargelegten Sinn ist, kann er doch grundlegende Voraussetzungen zur Ausübung von Mediation erfüllen. Warum aber gerade der sokratische Philosoph ein Vermittler ist, was er insbesondere im Gespräch mit anderen zeigt, soll in den nachfolgenden Kapiteln dargelegt werden. Zuvor allerdings versucht der folgende Exkurs im Rückblick auf die Anfänge der europäischen Philosophie zu zeigen, dass es für Philosophierende immer wieder schwierig ist, für die Profession des Philosophierens Geld zu verdienen, ohne dabei in Verdacht zu geraten, damit den Anspruch auf Wahrheit zu verkaufen.
C. Achouri, Der Philosoph in der Wirtschaft, 2001, URL: s. Anhang Id. Dabei ist sicherlich richtig zu fragen, »ob die Wirtschaft mit einem Sinn für Zusammenhänge, der den Sinn für Profit weit überschreitet, viel Freude hätte.« (W. Gabriel, Besitz oder Bildung, 2000, 93 f.) Doch gerade dann, wenn der sich zeigende Machtkampf zwischen dem Geld als der herrschenden und der Bildung als der immer wieder aufbegehrenden Macht aussichtslos scheint, fragt es sich, ob es letztlich genügt, im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Bildung und Geld in unserer Gesellschaft zu resümieren: »Was das Verhältnis zur offiziellen und öffentlichen Gesellschaft betrifft, wäre eine Haltung gebildeten Spottes angemessen, der gegenüber einer im Geld verblödeten Menschheit wohl am angebrachtesten wäre.« (Ebd. 95) Die Philosophie ist im Hinblick auf die Wirtschaft viel mehr dazu berufen »Besonnenheit und Nachdenklichkeit zu befördern, wo sonst besinnungslos gemanagt wird. Und Verantwortung plausibel zu machen, wo sonst der Trend ist, sich den Zwängen und Mächten zu überlassen.« (G. B. Achenbach, Die Philosophische Praxis als Beraterin der Wirtschaft, 2003, 475) 418 Politeia 347c f. 416 417
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4.2.2.1 Exkurs: Philosophieren als Beruf Dass gerade die Sophisten die »Philosophie« zum Beruf machten und die Weitergabe ihres Wissens mit ökonomischen wie auch politischen Interessen verknüpften, wird ihnen bis heute zum Vorwurf gemacht. Im weitesten Sinn steckt hinter diesem Vorwurf die praktisch wohl schon längst überholte Forderung 419, dass die Wissenschaft an sich frei sein, der Bereich der Forschung und Lehre also rein wissenschaftlichen Zwecken 420 dienen soll. So hat zum Beispiel Xenophon die Dienste der Sophisten mit dem Gewerbe der Hurerei verglichen, indem er Sokrates die, »welche ihre Weisheit jedem beliebigen um Geld verkaufen, als Sophisten« 421 bezeichnen ließ. Lehre gegen Bezahlung zu vermitteln war aber keine ausschließlich von den Sophisten geübte Praxis, obschon ihnen bereits Diogenes Laertius die vorrangige Rolle darin einräumt, wenn er über Protagoras schreibt: »Er war der erste, der sich seinen Unterricht mit hundert Minen bezahlen ließ« 422. Auch Aristippos 423, ein Schüler des Sokrates soll gegen Bezahlung unterrichtet haben. Als ihm dies als Sokratiker zum Vorwurf gemacht wurde, soll er geantwortet haben: »[N]ahm doch auch Sokrates, wenn man ihm Brot und Wein zuschickte, einiges davon an, […] denn seine Wirtschaftsverwalter waren die ersten Männer von Athen, während mein Wirtschaftsführer nur der Sklave Eutychides ist, den ich für Geld gekauft habe.« 424 Auch Platon wies auf die monetäre Art der Vermittlung von Weisheit hin, als er festhielt, dass durch den Umgang mit dem Philosophen Zenon von Elea folgende Athener weise Gemäß dieser Forderung wäre, radikal gesehen, jede wissenschaftliche Tätigkeit, die aufgrund monetärer Überlegungen bestimmte Zielsetzungen verfolgt, nicht frei. 420 Dazu ist im Hinblick auf die Gefahr einer zu starken Monopolisierung von Wissen mit W. Reese-Schäfer kritisch anzumerken: »Trotz aller platonisch-sokratischen Kritik an der Käuflichkeit des Wissens wird man festhalten müssen, daß die privatwirtschaftliche Organisation und Finanzierung der Wissenschaft statt ihrer Monopolisierung bei einer Bürokratie oder Priesterkaste ungeheure Freiräume eröffnete.« (W. Reese-Schäfer, Antike politische Philosophie, 1998, 16 f.) 421 Xenophon, Erinnerungen, I 6, 13. 422 Diogenes Laertius, IX 52. 423 Aristippos aus Kyrene gilt als Gründer der sokratischen Schule der »Kyrenaiker«. Er war »der erste unter den Sokratikern, der für seine philosophische Lehrtätigkeit Bezahlung forderte und seinem Lehrer [Sokrates] Geld zuschickte.« (Diogenes Laertius, II 65.) Sokrates sandte ihm das Geld wieder zurück, mit der Versicherung »das Dämonium verbiete ihm die Annahme.« (Ebd.) 424 Diogenes Laertius, II 74. 419
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und berühmt geworden sind: »Pythodoros, der Sohn des Isolochos, und Kallias, der Sohn des Kalliades, die jeder dem Zenon hundert Minen bezahlt haben« 425. Oder wenn Sokrates über die Weisheit der Sophisten berichtet: »Denn ich weiß, daß der einzige Protagoras mit dieser Weisheit mehr Geld erworben hat als Pheidias, der doch so ausgezeichnet schöne Werke verfertigte, und noch zehn andere Bildhauer dazu.« 426 Die Sophisten hat Platon wegen ihrer Geldannahme für die Bildung vehement getadelt und seine Ablehnung im Hinblick auf die von den Sophisten beanspruchte Rolle als Lehrer der Tugend auch klar zum Ausdruck gebracht: »In dieser Angelegenheit aber, auf welche Weise wohl jemand möglichst gut werden könnte […], darin wird es für schändlich angenommen, wenn jemand seinen Rat versagen wollte, sofern man ihm nicht Geld dafür gäbe.« 427 Auch Aristoteles hält für die auf der Tugend beruhende Freundschaft, das Philosophieren, fest: »Denn da läßt sich der Wert nicht in Geld berechnen, und an eine angemessene Ehre ist auch nicht zu denken, sondern es muß wohl da, wie bei den Göttern und den Eltern, genügen, was man eben vermag.« 428 Werden solche Positionen im Sinn des bios theoretikos 429 allerdings radikalisiert, ist folgende Bemerkung kritisch hinzuzufügen: »Dieses »theoretische« Leben setzt voraus, frei, d. h. von den Bedürfnissen des Alltags entlastet zu sein. Das ist ebenso eine tiefe Einsicht wie vielleicht die Hypothek der klassischen griechischen Philosophie (und deren Nachfolge): der Vorgriff auf ein Vollkommenheitsideal, das den von Arbeit und Mühe geprägten Alltag den Nichtphilosophen (namentlich den Frauen und Sklaven und überhaupt allen Unfreien) überläßt.« 430 Alkibiades I 119a. Menon 91d. 427 Gorgias 520e. 428 Aristoteles, Nikomachische Ethik, IX 1, 1164a19. 429 Vgl. dazu Aristoteles, Nikomachische Ethik, I 3, 1095b14 f. Die Lebensform des bios theoretikos ist für Aristoteles die philosophische Lebensform, die in der Betrachtung des Göttlichen, des Ewigen und Dauerhaften besteht und als Tätigkeit, die um ihrer selbst willen ausgeübt wird, Muße voraussetzt. Diese Lebensform ist »für Aristoteles die höchste und der politisch-praktischen vorzuziehen, weil sie in vollkommenster Weise das realisiert, was das Ziel des menschlichen Lebens ist, die Glückseligkeit.« (H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 173 f.) Siehe dazu auch den Exkurs »Aristoteles’ Vorzug der theoretischen Lebensform« in der vorliegenden Arbeit. 430 H. Vetter, Die Philosophie der europäischen Antike, I. Teil, 2003, 19–20. Der Besitz von »freier Muße« ist aber »nicht nur dem gewöhnlichen Schicksal, sondern auch 425 426
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Dass die Sophisten die Philosophie zum Beruf wählten, war vor allem eine unmittelbare Reaktion auf die damalige Polis-Demokratie, denn die demokratische Verfassung der meisten griechischen Städte verpflichtete die Bürger zur aktiven Teilnahme am öffentlichen wie politischen Leben. Wer zum Beispiel einen Rechtsstreit gewinnen oder politische Entscheidungen zu seinen Gunsten herbeiführen wollte, der musste die Fähigkeit besitzen, vor dem Richter oder der Volksversammlung 431 zu überzeugen. In einem derartig gestalteten Gesellschaftsumfeld reichte es nicht aus, etwas in wahrhafter Absicht zu sagen, sondern das Gesagte musste überzeugen. Und die Sophisten erkannten, dass die Meinungen, die Ansichten (doxai) der Menschen das in einem gesellschaftlichen System wirksame Recht häufig weit mehr zu beeinflussen verstehen, als eine an der göttlichen Wahrheit (aletheia) orientierte, nicht immer ausreichend begründbare Rede. Aus diesen Gründen war die Nachfrage nach einem Wissen groß, welches die Kunst der Rede als Technik der Meinungsbeeinflussung betonte. So verfassten die Sophisten gegen Bezahlung Reden für ihre Klienten oder sie bildeten diese selbst im geschickten Reden aus. Platon hat die Bedeutung der Überredungskunst im Kontext der zeitgenössischen Demokratie auf den Punkt gebracht, wenn Kallikles zu Sokrates spricht: »Und wenn du dann vor Gericht kämest und auch nur einen ganz gemeinen und erbärmlichen Menschen zum Ankläger hättest: So würdest du sterben müssen, wenn es ihm einfiele, auf die Todesstrafe anzutragen.« 432 Dass sich die Sophisten im Zuge ihrer Argumentationen angesichts der radikalen Spielart dieser Demokratie,
der gewöhnlichen Natur des Menschen fremd: denn seine natürliche Bestimmung ist, daß er seine Zeit mit Herbeischaffung des zu seiner und seiner Familie Existenz Nothwendigen zubringe. Er ist ein Sohn der Noth, nicht eine freie Intelligenz. Dem entsprechend, wird freie Muße dem gewöhnlichen Menschen bald zur Last, ja, endlich zur Quaal, wenn er sie nicht, mittelst allerlei erkünstelter und fingirter Zwecke, durch Spiel, Zeitvertreib und Steckenpferde jeder Gestalt auszufüllen vermag: auch bringt sie ihm, aus dem selben Grunde, Gefahr, da es mit Recht heißt difficilis in otio quies (Gefährlich ist Ruhe in der Muße).« (A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 2016, 34–35) 431 Die Beschlüsse der Volksversammlungen waren Mehrheitsbeschlüsse und jeder Stimmberechtigte besaß das gleiche Stimmrecht. Zudem verfügten die als Richter, Rechts- oder Staatsanwälte eingesetzten Personen, sofern es diese Berufsrollen überhaupt gab, nicht immer über eine spezifische Berufsausbildung, sondern bekleideten ihre Ämter häufig auf Basis loser Entscheidungen. 432 Gorgias 486b.
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an einem logos 433 orientierten, der ihnen in der jeweiligen Situation am ehesten zum gewünschten Erfolg verhalf, ist insofern nachvollziehbar, bringt man die sicherlich nicht geringe Anzahl der Denunzianten ins Spiel, die als gewerbsmäßige Sykophanten ihrer Profession nachgingen. Dass damit aber zugleich der Demagogie der Weg bereitet wurde, belegen sowohl die Verurteilung des Sokrates, als auch die Fälle anderer prominenter Opfer der attischen Demokratie, wie der des Philosophen Anaxagoras oder des Bildhauers Phidias. Dass die Sophisten schließlich auch bereit waren, dem schwächeren Argument zum Sieg zu verhelfen, unabhängig davon, ob dies einer ungerechten oder gerechten Sache diente, hängt offensichtlich mit dem in der Sophistik vertretenden ethischen Relativismus zusammen. Dieser ist allerdings weniger durch eine einheitliche Theorie der Sophisten fundiert, als vielmehr durch Positionen, die ganz allgemein immer dann auftreten, wenn das Selbstbewusstsein einer Kultur schwindet. Denn der Verlust des hergebrachten Selbstverständnisses der griechischen Kultur war bei den Sophisten auf ihre neu gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen, die sie auf ihren Reisen von anderen Kulturen erworben hatten, zurückzuführen. Sie vertraten also Auffassungen, die von prinzipieller Skepsis geprägt waren und zumeist in Form von relativistischen, pragmatischen und konventionellen Ansätzen an den Tag kamen. Dieses von den Sophisten neu erworbene Wissen konnte »sich nicht mehr auf eine Tradition berufen (wie der Mythos) oder durch ein Prinzip etablieren (wie in der frühen Philosophie durch die Frage nach der arché)« 434, sondern wird mit der Kunst der Rhetorik vermittelt. Ontologisch gesehen ist die für die Sophistik bestimmende Tendenz zur Relativierung damit zu erklären, dass in Bezug auf das Erkennen und Handeln an keine letzte und absolut sichere Begründung mehr geglaubt wird. Die Möglichkeit zur Einsicht in die eine unteilbare Wahrheit als der wahren Wirklichkeit, die im Sinn des platonisch-aristotelischen Modells der Metaphysik hinter den erfahrbaren Dingen liegt, ist nach Ansicht der Sophisten nicht gegeben. Soziologisch gedeutet betont die Sophistik die Vielzahl von Meinungen und Wertungen und damit verbunden von Lebensformen und Lebensdeutungen, erkennt die Heterogenität und Autonomie der gesellschaftlichen Formen und wie bedingt und endlich die Möglichkeiten des Individuums in der von der Gesell433 434
An dieser Stelle im Sinn von »Argument« zu deuten. H. Vetter, Die Philosophie der europäischen Antike, I. Teil, 2003, 74.
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schaft geprägten sozialen Praxis sind. Der Relativismus der Sophisten trug demnach den sozialen Veränderungen der Zeit Rechnung und war durch Zuwendung zu einer Art exoterischen Weisheit 435 charakterisiert. Die sophistische Zielsetzung dabei war keine Gesamtdeutung des Lebens, sondern die im Zuge einer Demokratisierung von Wissen eingeleitete Vermittlung praktisch brauchbaren Wissens für den immer weiter werdenden Kreis aktiv am gesellschaftlichen Prozess einer sozialen Veränderung mitwirkenden Menschen. Im Prozess dieser sophistischen Vermittlung gewinnt der Philosoph eine neue soziale Position, in welcher er die zentrale Aufgabe wahrnimmt, das bislang in Schulen und elitären Institutionen erarbeitete Wissen dem politisch tätigen und freien Bürger öffentlich zugänglich zu machen. W. Capelle konstatiert, »daß unter den Ursachen zur Entstehung der Sophistik den wahrhaft entscheidenden Anstoß das praktische Bedürfnis der athenischen Demokratie nach einer völlig neuen Art von Bildung und Erziehung gegeben hat, da die alte Adelszeit den seit dem Ausgange der Perserkriege völlig veränderten Ansprüchen des Lebens nicht mehr genügte.« 436 Dabei sehen die Sophisten die Sprache sowie das Denken als instrumentelle Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen an. Über die öffentliche Wirksamkeit der Sophisten lässt sich bei Thukydides dazu kritisch nachlesen: »[W] as zu tun noch aussteht, beurteilt ihr nach einer guten Rede als möglich, was bereits vollbracht ist – bei einem Tatbestand verlasst ihr euch weniger auf eure Augen als auf eure Ohren – nach schön klingenden Scheltreden. […] kurz und gut, der Hörlust (akoes hedone) erlegen, gleicht ihr mehr herumlungernden Bewunderern von Wanderrednern (sophiston) als Männern, die für eine Stadt zu sorgen haben.« 437 Thukydides wirft so den Athenern vor, dass sie die Aufgaben des politischen Alltags mit ästhetischer Lust verknüpfen, weil sie die Kunst der sophistischen Darbietungen als Zuhörer lustvoll verfolgen und ihr Urteil in Abhängigkeit dieser mehr oder weniger erfolgreich geführten Reden stellen. Im Hintergrund gilt die Kritik jedoch den Sophisten, weil sie als Überredungskünstler diese Verbindung von Politik und Ästhetik überhaupt erst stiften. Den Sophisten wird unDiese Weisheit war für die breite Öffentlichkeit bestimmt, allgemein verständlich und zielte auf die Bedürfnisse und Interessen der philosophisch »Nichteingeweihten«, die sich, bedingt durch ihre zunehmende Orientierungslosigkeit in der damaligen Gesellschaft, von dieser Weisheit Aufklärung, wenn nicht Heil erhofften. 436 W. Capelle, Die Vorsokratiker, 1968, 318 f. 437 Thukydides, Drittes Buch, 38, 4–7. 435
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terstellt, dass ihre Bemühungen rein rhetorischer Natur sind und dass sie ihre Kunst, wie auf der Bühne eines Theaters, nur zum Wohlgefallen des athenischen Publikums zur Schau stellen. Dass die Beziehung der Sophisten zu ihrer sozialen Umwelt durch Aspekte wie »Lehre gegen Bezahlung«, »Macht oder Einfluss durch Rede« geprägt war, wurde also bereits von den antiken Zeitgenossen als verwerfliche Einbeziehung des Konglomerats von Geld und Macht in die Philosophie kritisiert. Die damals grundlegende Kritik gegen die Praxis der Geldannahme für Unterricht, vermag heute allerdings kaum noch zu überzeugen, denn schon längst gilt, wie W. Röd sagt, »daß Philosophen nicht nur für die Philosophie, sondern auch von der Philosophie leben.« 438 So ist die Etablierung der Philosophie als Beruf auch am Arbeitsmarkt 439 voranzutreiben, denn akademisch ausgebildete Philosophen 440 finden noch immer viel zu wenig institutionalisierte Formen für ihre Profession vor, sieht man von der geringen Anzahl jener, die als Lehrende an den Universitäten forschen, ab. Viel zu häufig arbeitet der zum »Philosophen« ausgebildete Akademiker auch heute noch, zumeist unfreiwillig, berufsfremd. Und gelingt es einem ausW. Röd, Kleine Geschichte der antiken Philosophie, 1998, 75 f. Und wenngleich es die Voraussetzungen und Folgen des Philosophierens zu bedenken gilt, so wohl doch nicht mehr um den Preis, den Epiktet schildert: »Du [der Philosophierende] mußt auf Schlaf verzichten, hart arbeiten, deine Angehörigen verlassen, von einem armseligen Sklaven dich verachten und von jedem, der daherkommt, verspotten lassen, bei allem den kürzeren ziehen, bei Ehren und Ämtern, vor Gericht und bei jedem noch so belanglosen Geschäft.« (Epiktet, Handbüchlein der Moral (29), 2006, 43) 439 So wird im Berufslexikon für »Akademische Berufe« der Beruf »PhilosophIn« mit seinen Aufgaben, Tätigkeiten, beruflichen Anforderungen, Beschäftigungsfeldern und Entwicklungsmöglichkeiten zwar konkret dargelegt, doch seit der ersten Auflage im Jahr 1997 wird zugleich folgender, die berufliche Realität gut wiedergebende Satz abgedruckt: »Da es außerhalb der universitären Forschung und Lehre de facto keine unmittelbaren Arbeitsbereiche für PhilosophInnen gibt, bestimmen Zusatzkenntnisse sowie weitere Qualifikationen weitgehend die beruflichen Möglichkeiten.« (Arbeitsmarktservice Österreich, Akademische Berufe, Berufslexikon, Band 4, 1997 (1. Auflage); Band 3, 2003/2004 (5., aktualisierte Auflage); Band 3, 2012/2013 (9., aktualisierte Auflage)) 440 Wenngleich das im Studium der Philosophie vermittelte Wissen zum eigenständigen Philosophieren im Regelfall mehr anregt denn befähigt, kann das Studium doch ein hilfreiches Fundament zum Philosophieren bilden. Aber die Befähigung zum eigenständigen Philosophieren wird nicht durch Auswendiglernen und Weitergabe von philosophischem Wissen erworben, sondern dadurch erlangt, dass man sich ganz bewusst auf den fortwährenden Prozess philosophischer Denkbewegungen einlässt, indem man das Philosophieren sorgsam übt und pflegt. 438
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gebildeten Philosophen auch außerhalb der universitären Landschaft mit dem Philosophieren Erfolg 441 zu haben oder gar damit sein Leben zu verdienen, gerät er nicht selten gerade bei Vertretern der etablierten Universitätsphilosophie 442 in Misskredit, da sie in dieser Form der philosophischen Vermittlung sehr rasch das Fehlen einer ernsthaften philosophischen Theoriebildung vermuten und nicht zuletzt wohl auch das Erwachsen einer Konkurrenz erblicken. Insofern besitzen die Sophisten für das, was sich mittlerweile seit über drei Jahrzehnten als »Philosophische Praxis« 443 mehr und weniger erfolgreich in unserer Berufswelt manifestiert, gewissermaßen eine Vorbildwirkung. Die Sophisten waren demnach die Ersten, die Auch wenn das Philosophieren als ein Beruf ausgeübt wird, muss dies nicht damit enden, dass »dein Haus armselig, leer und öde steht.« (Gorgias 486c f.) So liest man von Philosophieprofessoren, die nicht ausschließlich im universitären Elfenbeinturm leben, dass sie viel Geld verdienen können. So war in einem österreichischen Magazin zu lesen, dass der Philosophieprofessor Tom Morris, »der vorzugsweise Konzernmanagern und Geschäftsleuten in Seminaren ›die besten Ideen der besten Denker aller Zeiten‹ näher bringt […] als der wohl bestbezahlte Philosoph der Welt gilt (Stundenhonorar: bis zu 20.000 Dollar!)«. (J. Kercselics, Good Life, Editorial, 2005) 442 Im Hinblick auf die an den Universitäten gelehrte »Philosophie«, die nicht selten auf einen philosophischen Diskurs reduziert bleibt, ist mit P. Hadot kritisch festzuhalten: »Die moderne universitäre Philosophie ist selbstverständlich keine Lebensweise, keine Lebensform mehr, es sei denn, sie sei der persönliche Lebensstil des Philosophieprofessors. Das staatliche Unterrichtswesen ist ihr Element, ihr Lebensraum, was übrigens immer eine Bedrohung für die Unabhängigkeit der Philosophie dargestellt hat und vermutlich auch weiterhin darstellen wird.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 172 f.) 443 Die »Philosophische Praxis« wurde als institutionelle Form der philosophischen Beratung Anfang der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts von G. B. Achenbach ins Leben gerufen. P. Heintel und T. H. Macho liefern dazu die wesentliche Bestimmung: »Als Kompetenz-Erwartungen in Philosophischer Praxis hingegen treten neben das ›Satzwissen‹ ein ›Gebrauchswissen‹ […], philosophische Haltung und Erfahrung – in älterer Terminologie: Weisheit. Heute kann solche ›Weisheit‹ freilich nicht auf differenzierte Kenntnisse und Erfahrungen von der faktischen Komplexität unserer Lebenswelt verzichten; […] Philosophische Praxis ist (wenn auch nicht expressis verbis) philosophisches Anliegen seit der Antike.« (P. Heintel, T. H. Macho, Kurze Beantwortung der Frage: Was ist Philosophische Praxis, 1989, 1 f.) Für G. B. Achenbach geht es in der Philosophischen Praxis nicht darum, »andere philosophisch zu belehren, sondern als Philosoph in der Lage zu sein, Geschichten, Verstrickungen, Schicksale, sei es Unglücks-, sei es Glückskonstellationen, oder das Ensemble der Widerfahrnisse, Ereignisse und Umstände philosophisch zu verstehen und dann lebensförderlich, lebensführungsdienlich zu verarbeiten.« (G. B. Achenbach, Grundzüge eines Curriculums für die Philosophische Praxis, 2005, 270) Und was den philosophischen Praktiker in seiner Praxis nicht selten erwartet, schildert er eindrucksvoll anhand einer kleinen Auswahl von eher ernüchternden Beispielen. Vgl. ebd., 267–268. 441
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die »Philosophie« zum Beruf machten und haben mit ihrem Auftritt vermutlich auch eine Art Demokratisierung der Philosophie eingeleitet. Denn die von den Philosophen bis dahin praktizierte Form einer Wissensvermittlung, die auch von Platon betrieben wurde, hatte nicht die Schaffung eines egalitären Schulbetriebs zum Ziel, in welchem die Lehrer ihren Schülern speziell praktisch verwertbares Wissen vermitteln, sondern war vielmehr eine Weisheitslehre, die eine den Menschen im Ganzen betreffende Wahrheit im Auge hatte. Die Lehre der Sophisten war vor allem professionelle Lehr- und Vortragstätigkeit, die sich weniger an eingeweihte Freunde und Anhänger richtete, als vielmehr an zahlende Kunden, denn im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Philosophen, die sich als Angehörige der aristokratischen Schicht ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen mussten, lebten die meisten Sophisten von ihrer Lehre. Da sich aber die philosophische Lehre der Sophisten durch Ausrichtung auf praktische Anwendung in den unterschiedlichsten Situationen bewähren musste, wurde sie zwangsläufig einem allgemein gültigen Wahrheitsanspruch nur selten gerecht. Bleibt im Hinblick auf eine Rechtfertigung von philosophischer Praxis mit Gerd B. Achenbach in Anspielung auf die »Überwindung der Sophistik durch die Philosophie« kritisch zu fragen: »Entscheidet die Wahrheitsnähe bzw. der Erwerb »wahrer« Einsichten über die Legitimität philosophischer Beratung, oder rechtfertigt sie sich – wie die Mehrzahl der wahrheits-ignoranten, dafür aber wirksamkeitsambitionierten Psychotherapien – durch den Erfolg, gemessen an interessegeleiteten Zwecken?« 444 Die sophia der antiken Sophisten ist geistige Erkenntnis mit praktischem Bezug und stellt als dieses praktisch anwendbare Wissen einen sozial relevanten Faktor dar. Im Vergleich zu der als Beruf aufgefassten Weisheit der Sophisten zeichnet sich die sophia der PhilosoG. B. Achenbach, Grundzüge eines Curriculums für die Philosophische Praxis, 2005, 274. Für P. Sloterdijk hat die Philosophie auch »den größten Teil ihrer virtuellen Klientel an die psychotherapeutischen Subkulturen verloren, in denen neue lebbare Stilisierungen des Verhältnisses von Wachheit und Wissen entstanden sind, nicht selten zum Mißfallen der verbeamteten Theoriepfleger.« (P. Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, 2009, 274) Denn seiner Ansicht nach hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts letztlich vor dem »Imperativ der Wachheitskultur« (vgl. ebd., bes. 270–275) versagt, da sie nicht imstande war, den markanten Gegensatz zwischen den Ethiken des Westens, die primär ein wissenschaftlich orientiertes Denken ohne Wachen sind und den Ethiken des Ostens, die eher ein Erleuchtungen anstrebendes Wachen ohne Wissenschaft sind, in Anlehnung an die vorsokratische Einheit von »Denken und Wachen« im Sinn einer lebbaren Form zu überbrücken.
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phen in der Antike als Berufung durch eine verstärkte Abkehr von der Welt und somit Vernachlässigung der praktischen Lebensangelegenheiten aus. Sie ist durch zunehmende Betonung der geistigen Erkenntnis, also Hervorhebung der Denktätigkeit gegenüber praktischen Fertigkeiten charakterisiert. Die sophia der Philosophen ist göttliches Wissen, welches zu erlangen die Nähe zu Gott und damit eine gewisse Distanz zur menschlichen Welt bedingt. Anders die sophia der Sophisten, die insbesondere Tüchtigkeit (arete) ist, die es zu erlernen gilt und die jeder Mensch erlernen kann, unabhängig von seiner Herkunft. Mit dem Anspruch, diese Tüchtigkeit lehren zu können und der in Folge geübten Praxis, diese Lehre gegen Bezahlung zu vermitteln, wurden die Sophisten aber rasch zur Zielscheibe der ihrer Tradition verhafteten Zeitgenossen und auch der Philosophen. So beispielsweise für die Adeligen, weil bis dahin ganz allgemein geglaubt wurde, dass die arete allein ein angeborenes Privileg der Aristokraten sei und für die Philosophen, die eine umfassendere Wahrheit anstrebten. Warfen die Philosophen den Sophisten vor, »dass ihre, auf Situationen bezogene – und damit praktische Anwendung – Weisheit keinen allgemein gültigen Wahrheitsanspruch vertreten könne« 445, so sahen die traditionalistischen Kräfte sich ihrer bis dahin ausschließlichen Machtbefugnisse beraubt. Doch ungeachtet dessen schließlich, ob beruflich 446 oder durch Berufung philosophiert wird, gilt mit M. Bordt zu appellieren: »Um ›Philosoph‹ genannt zu werden, muß sich das Interesse an der Weisheit auf eine intensive, auffällige, bemerkenswerte und ungewöhnliche Art ausdrücken, die sein Leben prägt und von vielen Menschen I. C. Klammer, S. Bauer, Denken entlang des Herzens, 2003, 233 f. Kritisch dazu festzuhalten gilt: »Wenn es denn schon im akademischen Milieu guter Brauch ist, sich erst einmal eingehend der Sache kundig zu machen, mit der man sich auseinandersetzen möchte, so gilt dieser Anspruch um so mehr dort, wo Philosophie praktisch werden will. Keinesfalls darf sie sich durch den vermeintlichen Primat eines Handelnmüssens in der Praxis die intensive theoretische Auseinandersetzung ersparen mit dem, was sie zu tun im Begriff ist.« (M. Winkler-Calaminus, Ist ein Philosophischer Praktiker Philosoph?, 1989, 5) Und bedeutsam zu ergänzen ist: »[S]o ist auch ein Denken, das sich an einer Bewährung in der Praxis desinteressiert zeigt und womöglich, von der akademischen Burg herab, verächtlich auf die Philosophische Praxis sieht, die in die Niederungen des Alltags hinabgestiegen ist, auf seine Weise lächerlich und ohne Bewußtsein über die belanglos komische Seite, die dem philosophiewissenschaftlichen Universitätsbetrieb anhaftet.« (G. B. Achenbach, Zur Herausforderung der akademischen Philosophie durch die Philosophische Praxis, 1984, 199–200 f.)
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durchaus als übertrieben angesehen wird. Ein Philosoph genannt zu werden bedeutet nicht nur, ein Interesse an Weisheit zu haben, sondern eine bestimmte Lebensform zu wählen, in der diese Liebe zur Weisheit zum Ausdruck gelangt.« 447
4.2.3
Sokratisches Philosophieren im Gespräch mit anderen
4.2.3.1 Der sokratische Philosoph als Vermittler P. Hadot scheint der platonische Sokrates »ein Mittler zwischen dem transzendentalen Ideal der Weisheit und der konkreten menschlichen Realität zu sein.« 448 Sokrates, der über ein reflektiertes Bewusstsein vom Guten verfügt, agiert demnach als ein Vermittler zwischen dem idealen Sein, das als eine dem Menschen übergeordnete Instanz das dauerhaft wie vollkommen Gute symbolisiert, und dem menschlichen Sein, das mehr als Manifestation geläufiger Meinungen über das Gute zu verstehen ist. Dabei ist Sokrates gewissermaßen immer unterwegs zur Weisheit und sein Philosophieren als eine Lebensform zu charakterisieren, welche auf ein gutes Leben ausgerichtet ist. Und dieses gute Leben »ist wesentlich ein gerechtes. Wer die Gerechtigkeit und damit das gute Leben für das reine Überleben preisgibt, handelt aus Furcht vor dem Tod; sie [die Furcht] ist mit der Gier nach Macht Motiv für die rhetorische Lebensform.« 449 Denn für »die Vielen, die das bloße Leben, d. h. den sozialen Erfolg, zur ultima ratio erheben, ist der Tod der größte Schrecken. Sie verraten im Ernstfall alles, sich selbst, das Gute, das Gerechte, den Anderen, um das bloße Leben zu erhalten.« 450 In Abgrenzung zur rhetorischen Lebensform der Vielen, die auf »Selbsterhaltung und Selbstbehauptung um jeden Preis« abzielt, betont die sokratische Lebensform die »Ungebundenheit und Selbstbestimmung des Freien.« 451 Es ist die »Möglichkeit der Freiwilligkeit«, welche die sokratische Lebensform auszeichnet und den guten Mensch im Wesentlichen charakterisiert. Denn der gute Mensch unterscheidet sich vom Schlechten dadurch, dass »er überhaupt han-
447 448 449 450 451
M. Bordt, Platon, 1999, 47 f. P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 147 ff. H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 158 f. P. Trawny, Die Fremdheit der Philosophie nach Sokrates, 2010, 261. Vgl. H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie, 2004, 158–159 f.
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deln kann und nicht bloß getrieben ist, sei es durch Furcht oder auch durch Ehrgeiz.« 452 Die von Sokrates in seinem Lebensvollzug angestrebte Weisheit wird jedoch zu einem Ideal, das für den Menschen 453 unerreichbar scheint. Da der Besitz von Weisheit ein Vorzug der Götter ist, distanziert sich der platonische Sokrates vom Anspruch, ein Wissender oder Weiser, also ein Sophist zu sein: »Jemand einen Weisen zu nennen, o Phaidros, dünkt mich etwas Großes zu sein und Gott allein zu gebühren; aber einen Freund der Weisheit oder dergleichen etwas möchte ihm selbst angemessener sein und auch an sich schicklicher.« 454 Doch strebt nicht ein jeder Mensch nach dieser Weisheit, denn »ebensowenig philosophieren auch die Unverständigen oder bestreben sich, weise zu werden. Denn das ist eben das Arge am Unverstande, daß er, ohne schön und gut und vernünftig zu sein, doch sich selbst ganz genug zu sein dünkt.« 455 Also weder die Götter, die ja schon weise sind, noch die Unverständigen, denen es erst gar nicht in den Sinn kommt nach Weisheit zu streben, philosophieren. Die Weisen philosophieren also ebenso wenig wie diejenigen, welche sich ihres Mangels an Weisheit und Wissen nicht bewusst 456 sind. Wer also sind die Philosophierenden nach Platon? Nach Platons Verständnis sind es diejenigen, »welche jenes Übel zwar haben, den Unverstand, noch nicht aber dadurch unverständig und ungelehrig geworden, sondern noch der Meinung sind, sie wüßten das nicht, was sie wirklich nicht wissen.« 457 Demnach findet sich der Philosoph zwischen den Weisen und Unverständigen, nimmt also G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 221. Ontologisch prägnant die entsprechende Formulierung von K. Jaspers dazu: »Ich bin das Sein, das sich um sich bekümmert und im Sichverhalten noch entscheidet, was es ist.« (K. Jaspers, Philosophie, Band II: Existenzerhellung, 1973, 35 f.) 453 M. Erler dazu treffend: »Philosophie als Liebe zu und Verlangen nach Weisheit wird für Platon geradezu zum ›Markenzeichen‹ des Menschen als ›geistigem‹ Mängelwesen.« (M. Erler, Platon, 2006, 63 f.) 454 Phaidros 278d. 455 Symposion 204a. 456 Den Philosophierenden zeichnet auch weniger sein Mangel an Weisheit und Wissen aus, als vielmehr seine Bewusstheit über diesen Mangel: »Dieses Bewusstsein zu wecken ist der Hauptzweck der sokratisch-platonischen Elenktik, jener Methode, die darauf abzielt, durch die Destruktion eines bloß eingebildeten Wissens das Wissen um die eigene Unwissenheit zu erreichen und damit das Streben nach wirklichem Wissen zu ermöglichen.« (R. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion, 1996, 88 f.) 457 Lysis 218a–b. 452
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eine Stellung zwischen den Göttern und Unwissenden ein. In dieser Position wird der Philosoph »ständig hin- und hergerissen zwischen seinem philosophischen und seinem nicht-philosophischen Leben, zwischen dem Bereich des Gewöhnlichen und Alltäglichen und dem Bereich des Bewußtseins und der Klarsichtigkeit« 458. Diese Zwischenstellung des Philosophen bringt Platon durch seine Charakterisierung des Eros 459 auf den Punkt: »Denn die Weisheit gehört zu dem Schönsten und Eros ist Liebe zu dem Schönen, so daß Eros notwendig weisheitsliebend ist und also als philosophisch zwischen den Weisen und den Unverständigen mitteninne steht.« 460 Der platonische Philosoph schlägt also gleichsam eine Brücke zum Göttlichen 461, indem er zwischen den weisen Göttern und den unwissenden Menschen, gleich dem philosophischen Eros, agiert, dessen Tätigkeit es ist, [z]u verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt« 462. Doch ist dieses betonte Streben nach Weisheit, diese angestrebte »Verähnlichung mit
P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 40 f. Ergänzend zu der von Hadot ausgewiesenen Anmerkung, dass nämlich »[d]ie Analysen Heideggers bezüglich der eigentlichen und uneigentlichen Modalitäten des Daseins« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 191, FN 165) dabei helfen können, diese Zwischenposition des Philosophen zu verstehen, sei angemerkt, dass K. Jaspers Analysen zum Dasein und sein Konzept der Existenzerhellung dies ausgezeichnet vermögen. Vgl. dazu vor allem K. Jaspers, Philosophie, 1973, Band I: Philosophische Weltorientierung, insb. Einleitung, Kapitel 1, 5 u. 6; Band II: Existenzerhellung, insb. Kapitel 1–3, 6 u. 7 sowie Band III: Metaphysik, Kapitel 1 u. 4. 459 Eros nämlich ist der »Natur seiner Mutter [Penia: Mangel] gemäß immer der Dürftigkeit Genosse. Und nach seinem Vater [Poros: Durchkommen] wiederum stellt er dem Guten und Schönen nach, ist […] nach Einsicht strebend, sinnreich, sein ganzes Leben lang philosophierend […] [und befindet sich] […] zwischen Weisheit und Unverstand immer in der Mitte«. (Symposion 203d–e) Für J. Karl im Hinblick auf das Wesen des Eros daher konstitutiv: »Eros begehrt immer das, dessen er ermangelt, jedes Streben ist intentional auf etwas außer ihm selbst Liegendes gerichtet, jedem Begehren liegt notwendig ein Über-sich-Hinausgehen zugrunde.« (J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 107 f.) 460 Symposion 204b. 461 H. Vetter dazu treffend: »Platons Philosophie ist der in verschiedenen Richtungen unternommene Versuch, eine Brücke zum Göttlichen zu errichten. Man kann ohne Verfälschung von einem theologischen Grundzug seines Denkens sprechen, wenn auch von einer philosophischen Theologie.« (H. Vetter, Die Philosophie der europäischen Antike, I. Teil, 2003, 96) 462 Symposion 202e. 458
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Gott so weit als möglich« 463 als ein unaufhörlicher, nicht abschließbarer Prozess des platonischen Philosophen zu deuten? Platon bestimmt in seinen Dialogen den Philosophen ganz klar als denjenigen, der die Weisheit oder Wahrheit liebt und sich als dieser Liebender durch ein fortwährendes Streben nach der sophia, nicht durch deren Besitz auszeichnet: »Demgemäß könnten wir daher auch sagen, daß die schon Weisen nicht mehr Weisheitsfreunde sind, seien dies nun Götter oder Menschen« 464. Oder: »[N]och auch, wenn sonst jemand weise ist, philosophiert dieser.« 465 Allerdings gibt es auch Passagen, die nahe legen, dass der philosophos letztlich zum sophos werden kann, das Streben nach Weisheit im Erlangen von Weisheit sein Ziel erreicht. So im Dialog Euthydemos, in welchem die Philosophie als »Besitz einer Erkenntnis« 466 ausgewiesen wird. Oder im Dialog Theaitetos 467, in welchem Sokrates die Erkenntnis mit der Wissenschaft identifiziert. Auch im Zuge der platonischen Bestimmung des wahrhaften Philosophen finden sich Anzeichen dafür, dass die philosophia mit der sophia schließlich zusammenfällt: »[W]ahrhaft leben und sich nähren und so seiner Schmerzen Ende finden, eher aber nicht.« 468 Denn der Philosoph, der »mit dem Göttlichen und Geregelten umgeht, wird auch geregelt und göttlich, soweit es nur den Menschen möglich ist.« 469 Insofern liegt es nahe, dass Philosophen weise werden können, was sie sind, so die Annahme, wenn sie das göttliche Wissen annähernd erlangt haben und nicht sind, weil sie, wie die platonisch empfundenen Sophisten »[e]ine scheinbare Erkenntnis also von allen Dingen, nicht aber die Wahrheit« 470 besitzen. Damit wäre der Philosoph allerdings zum wahren Weisen geworden. An bestimmten Stellen der Politeia kommt auch zum Ausdruck, dass es die Philosophen sind, »welche das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können« 471. So wird der Philosoph schließlich als derjenige bestimmt, der die Ideen 472 erkennen kann, also weiß, Theaitetos 176b f. Lysis 218a–b. 465 Symposion 204a f. Vgl. auch Euthydemos 282c–d, Phaidros 278d. 466 Euthydemos 288d f. 467 Vgl. Theaitetos 145e. 468 Politeia 490b. 469 Ebd., 500c–d. 470 Sophistes 233c. 471 Politeia 484b f. 472 Für Platon ist Philosophie die Erkenntnis des Ewigen, des Unveränderlichen. Dieses Unvergängliche gilt ihm als das Einzige, dem »wahre« Wirklichkeit zukommt. 463 464
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was das Gute ist. Entscheidend dabei ist, worauf J. Karl hinweist, dass nämlich »sowohl die Idee des Guten als auch die Ideen selbst nicht durch uns im Erkenntnisprozess hervorgebracht werden. Sie sind uns aber auch nicht vorgegeben, sondern vielmehr aufgegeben, und zwar in dem Sinn, dass es für uns gilt, durch anspruchsvolle geistige Arbeit die Strukturen des Seins in ihrer je besten Ausprägung zu finden.« 473 Und da die Ideen die Botschaft des Göttlichen verkünden, bewahren sie zugleich die Verbindung zum Göttlichen. So findet gleichsam ein Austausch, eine Vermittlung zwischen den Göttern und Menschen statt. Im Euthyphron, dem frühen Zeugnis der Ideen, wo die Idee, das Wesen der »Frömmigkeit« diskutiert wird, hält Sokrates diese Vermittlung als eine Art Handelsgeschäft fest: »So wäre also, o Euthyphron, die Frömmigkeit eine Kunst des Handelns zwischen Menschen und Göttern?« 474 Ideen werden auf diese Weise »zu Orientierungspunkten für ein gelungenes Leben, wie es paradigmatisch der Protophilosoph Sokrates […] vorführt.« 475 Und dabei spielt das Maß (metron) »für die Frage, wie man richtig lebt und glücklich wird, eine entscheidende Rolle« 476. Eine Perfektionierung unseres Lebens im Sinn einer idealen Lebensführung ist also nicht nur kaum zu erreichen, sondern auch bewusst im Maß zu halten. Denn wäre eine Idee im Sinn eines vollends glücklichen Lebens realisierbar, »käme es zum
Und diese wahre Wirklichkeit sind die »Ideen«, die ideai bzw. eide, die außerhalb von Raum und Zeit liegen. Sie sind das Ziel, der Zweck, der hinter den Dingen der »Erscheinungswelt«, also dem, was in Raum und Zeit gegeben ist, steht. Eine »Idee« liegt für Platon nun allem, was ist, zugrunde, wobei innerhalb dessen, was ist, unterschieden wird zwischen dem sinnlich Wahrnehmbaren, dem aistheton, und dem vernünftig Denkbaren, dem noeton. Die Erkenntnis der Ideen gelingt allerdings weder durch sinnliche Wahrnehmung, noch durch rationalen Zugriff, sondern nur durch eine Art geistiges Schauen. Dieses »geistige Schauen« der Ideen ist das philosophische Erkenntnisziel Platons, wobei er das Göttliche als das höchste Erkenntnisziel mit der »Idee aller Ideen«, der »Idee des Guten« gleichsetzt. Dieses Philosophieren »war kein bloß dialektisch-abstraktes Modell, um die äußere Wahrnehmungswelt mit der inneren Vorstellung davon durch die erhellende »Idee« zu versöhnen. Als »Schau« beinhaltete diese »theoretische« Haltung vielmehr das Ziel, an Irrtum und Leidenschaft gebundene Ein-Bildungen auf deren lebbaren (Logos-)Sinn hin für sich und andere – das heißt als Ethik, Religion, Pädagogik, Seelenheilkunde und Politik – auszurichten.« (R. Kühn, Sinn – Sein – Sollen, 1991, 31 f.) 473 J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 314 f. 474 Euthyphron 14e. 475 M. Erler, Platon, 2006, 13 f. 476 Ebd., 207 f. Sokratische Selbstsorge
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Stillstand des Lebens in seiner Vollendung.« 477 Nicht das Göttliche an sich ist das Ziel, sondern »diesem ähnlich werden zu wollen – um seiner selbst willen. Im Umgang mit dem Göttlichen als einem Sichgleich-Bleibenden kommt es zur Ausbildung der eigenen Beständigkeit und einer Stabilität der eigenen Identität.« 478 Mit dieser Angleichung an das Göttliche vermag sich der sokratische Philosoph schließlich »eine stabile seelische Disposition und eine dementsprechende Identität auszubilden […], sodass sich sagen lässt: In der beständigen Identität des Individuums realisiert sich das gute Leben des Einzelnen.« 479 Doch zur Vermittlung der Glückseligkeit, die sich bei Sokrates letztlich immer auf das gute Leben der Allgemeinheit, auf die Sozietät bezieht, ist eine besondere Kunst 480 notwendig, ein ernsthaftes Tun des Philosophen erforderlich, welches darin besteht, dass »jemand nach den Vorschriften der dialektischen Kunst, eine gehörige Seele dazu wählend, mit Einsicht Reden säet und pflanzt, welche sich selbst und dem, der sie gepflanzt, zu helfen imstande und nicht unfruchtbar sind, sondern einen Samen tragen, vermittels dessen einige in diesen, andere in anderen Seelen gedeihend, eben dieses unsterblich zu erhalten vermögen und den, der sie besitzt, so glückselig machen, als einem Menschen nur möglich ist.« 481 Sich selbst und anderen Glückseligkeit zu vermitteln, gelingt dem sokratischen Philosophen 482 nur dadurch, dass er die Kunst der Dialektik 483 anwendet, inW. Schmid, Mit sich selbst befreundet sein, 2004, 87 ff. J. Karl, Selbstbestimmung und Individualität bei Platon, 2010, 318 ff. 479 Ebd., 319 f. 480 Mit J. Sellars ist daran zu erinnern, dass Sokrates sein Philosophieren durchaus im Sinn der etymologischen Bedeutung von »Philosophie« betreibt: »Für Sokrates ist die Philosophie eine Kunst, die auf die Ausbildung von Vortrefflichkeit (aretê) zielt und nicht mit der Vortrefflichkeit selbst gleichgesetzt werden sollte. Philosophie als Kunst strebt nach Vortrefflichkeit und Weisheit;« (J. Sellars, Zur stoischen Konzeption von Kunst und Leben, 2007, 113 f.) 481 Phaidros 276e–277a. 482 Der »sokratische Philosoph« zeichnet sich als der wahre Philosoph aus, da er über die Begabung verfügt, andere Menschen die Kunst der Dialektik lehren zu können. Denn »sehr wohl begabt muß der sein, der dies soll begreifen können, dass eine Gattung jedes einzelnen ist und ein Wesen an sich; noch vortrefflicher aber der, welcher es ausfindet und dies alles gehörig auseinandersetzend auch andere lehren kann.« (Parmenides 135a) 483 Die Stellung und Aufgabe dieser Kunst macht Platon deutlich: »[W]er nicht imstande ist, die Idee des Guten von allem andern absondernd durch Erklärung zu bestimmen, und wer nicht, wie im Gefecht durch alle Angriffe sich durchschlagend, sie nicht nach dem Schein, sondern nach dem Sein zu verfechten suchend, durch dies 477 478
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dem er einem geeigneten Partner im Gespräch mittels logoi Einsichten vermittelt, welche nicht ohne Wirkung bleiben, sondern dem Einsichtigen wie auch dem Vermittler der Einsichten helfen, den Prozess der Vermittlung im Hinblick auf die anzustrebende Glückseligkeit in Gang zu halten. 4.2.3.1.1 Exkurs: Platons Überschreitung der Grenzen sokratischer Vermittlung Der sokratischen Vermittlung 484 sind jedoch Grenzen gesetzt. Denn nach Sokrates 485 reicht das menschliche Wissen zur Erkenntnis des wahrhaft Seienden, der Idee des Guten 486 nicht aus. Für ihn eignet sich das menschliche Wissen 487 zwar zur Prüfung von Meinungen sowie zur Bildung reflektierter und wohl auch berechtigter Meinungen alles mit einer unüberwindlichen Erklärung durchkommt, von dem wirst du auch weder, daß er das Gute selbst erkenne, behaupten wollen, wenn es sich so mit ihm verhält, noch auch irgendein anderes Gutes; sondern wenn er irgendein Bild davon trifft, daß er es durch Meinung, nicht durch Wissenschaft treffe, und daß er, in diesem Leben träumend und schlummernd, ehe er hier erwacht ist, in die Unterwelt kommt und vollkommen in den tiefsten Schlaf versinkt.« (Politeia 534b–d) 484 An dieser Stelle ist in Erinnerung zu rufen, dass sich die vorliegende Untersuchung auf die von Platon in seinen Dialogen dargelegte Figur des Sokrates konzentriert und der Versuch einer kritischen Rekonstruktion des historischen Sokrates nicht unternommen wird. Entscheidend aber ist, dass mit der Bezeichnung »sokratische Vermittlung« in Abgrenzung zu Platons späterer Philosophie, die sich mehr durch die Konstruktion einer metaphysischen Ideenwelt auszeichnet, die Kunst der sokratischen Gesprächsführung in unserer empirischen, alltäglichen Welt gemeint ist. 485 Die Auffassungen von Sokrates in Platons Schriften sind nicht durchgehend einheitlich, sondern nach inhaltlichen Gesichtspunkten lassen sich zumindest zwei Stränge unterscheiden. Erstens der Strang, welcher vermutlich die Auffassung des historischen Sokrates wiedergibt und durch die früheren Dialoge Platons gebildet wird, sowie zweitens der Strang, welcher wahrscheinlich Platons eigene Auffassung wiedergibt und durch seine mittleren und späten Dialoge hervorgebracht wird. Daher wird in diesem Exkurs in der Annahme, dass eine Unterscheidung zwischen den zuvor genannten zwei Strängen möglich ist, der Name Sokrates stellvertretend für die Auffassung des historischen Sokrates und der Name Platon stellvertretend für Platons eigene Auffassung verwendet. Ausführlich dazu J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 32–34. 486 Die Idee des Guten ist für Sokrates deshalb kein bestimmbarer Gegenstand menschlichen Wissens, weil sie auf eine höhere Seinsebene verweist. Denn die »Ideen und das Gute sind wahrhaft Seiendes, das sich auf einer anderen ontologischen Ebene als die empirischen Dinge befindet.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 45) 487 Das menschliche Wissen, welches Sokrates für sich in Anspruch nimmt (vgl. Apologie 20d–e) und welches ihm ermöglicht, die Meinungen seiner Gesprächspartner zu Sokratische Selbstsorge
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über das Gute, doch über das, was das vollkommen und dauerhaft gute Leben an sich ist, vermag sich nach Ansicht von Sokrates der Mensch nur ein indirektes Wissen 488 in Form eines reflektierten Bewusstseins vom Guten zu erwerben. So bleibt Sokrates der menschlichen Seinsebene letztlich verhaftet, betont das menschliche Nichtwissen und trifft keine Annahme über die reale Existenz der Idee des Guten 489. Platon hingegen überschreitet diese menschliche Seinsebene, indem er die reale Existenz der Idee des Guten annimmt 490, also ein Modell des metaphysischen Seins im Sinn einer höheren Seinsebene 491 entwirft und den Philosophen, wenn auch nur in seltenen Augenblicken, das wahrhaft Seiende darin erblicken lässt. Während also Sokrates durch seine Gesprächsführung sich selbst und andere Menschen im Hinblick auf die Verwirklichung des guten Lebens dauerhaft prüft 492, um letztlich ein reflektiertes Bewusstsein vom Guten prüfen (vgl. Apologie 21c–23b; Theaitetos 150b–c f.) wird im nächsten Kapitel »Zum Inhalt der sokratischen Vermittlung« näher bestimmt. 488 Das menschliche Nichtwissen in Bezug auf die Idee des Guten wird daher zu einem »vermittelten Unternehmen«. Denn die »Frage, wie wir als Menschen gut leben können, verlangt eine Erkenntnis dessen, was wir sind, und diese Selbsterkenntnis ist wegen der Offenheit des Weltbezugs [des menschlichen Lebens] nicht als direkte möglich, sondern die menschliche Selbstreflexion kann sich […] nur indirekt und durch Vorgriff auf das unbekannte Gute vollziehen.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 41) Vgl. dies., Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 47 f. 489 Dass Sokrates die reale Existenz der Ideen nicht angenommen haben soll, wird traditionell mit Aristoteles bezeugt. Vgl. Aristoteles, Metaphysik, XIII 2c, 1078b30– 32; XIII 2b, 1086b2–10. 490 Für Platon ist eine Idee »ein real existierendes Objekt mit einer freilich besonders ausgezeichneten Existenz.« (M. Erler, Platon, 2006, 144 f.) Die Idee ist Voraussetzung für ein wirkliches Wissen, Bedingung für die rationale Erklärung der Wirklichkeit, denn »Erkenntnis zielt nach Platon auf Wirkliches.« (Ebd., 149 f.) In epistemologischer Hinsicht sind Ideen nach Platon »allgemeine Sachverhalte und in dieser Eigenschaft die Gegenstände von Wissen.« (J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 69) 491 Indem Platon eine eigene Welt der Ideen etabliert, welche abgetrennt von unserer Welt der Wahrnehmung existiert, legt er den Grundstein zur Metaphysik in Europa. Zudem räumt er der metaphysischen Ideenwelt einen klaren Vorrang gegenüber unserer Welt der Wahrnehmung ein und zwar in ontologischer wie auch erkenntnistheoretischer Hinsicht, da er annimmt, dass »die Ideen realer und wirklicher als die Gegenstände in unserer Erfahrungswelt sind, ja, daß unsere Erfahrungswelt überhaupt nur dadurch möglich ist, daß es Ideen gibt, an denen die Gegenstände in unserer Welt teilhaben.« (M. Bordt, Platon, 1999, 101–102 ff.) Ganz ähnlich dazu M. Erler, Platon, 2006, 148. 492 Diese Prüfung kann auch als dialektische Wissenssuche bestimmt werden und ist
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zu erzeugen, versucht der Philosoph nach Platon »die Welt gut einzurichten, sie in Nachahmung der Ideenordnung zu einem Kosmos zu gestalten.« 493 So haben sich Sokrates wie auch Platon die Verwirklichung des guten Lebens für alle Menschen zum Ziel gesetzt, doch im Vorgehen zur Erreichung dieses Ziels liegt der bedeutsame Unterschied zwischen ihnen. Er besteht darin, dass »Sokrates die Änderung der Polis in kleinen Schritten von unten, durch Änderung der Seele der einzelnen Bürger, versucht, während Platon eine Änderung des Ganzen durch Änderung der Einrichtung [des politischen Systems] im Auge hat.« 494 Sokrates unternimmt also keine mehr herrliche, erste Fahrt im Sinn der Konstruktion einer politischen Utopie, in welcher die platonischen Philosophenkönige 495 die Einheit von Politik und Metaphysik wahren, sondern wählt die weniger glatte, zweite Fahrt 496, in welcher der sokratische Philosoph ethische Überlegungen und philosophische Reflexionen durch Zuflucht in die Reden (logoi) als Einheit zu wahren versucht. Mit dieser Flucht in die logoi verschafft sich Sokrates seinen Zugang zu den Ideen, denn Sokrates ist »ohne Ideenlehre nicht zu begreifen.« 497 Die Frage, die Sokrates auf seinem Weg zu den Ideen immer wieder stellt, ist seine Grundfrage »Was ist X?« 498. Diese Frage zielt jeals eine Methode der Rechenschaftsgabe über Meinungen (vgl. Politeia 534b–d) zu charakterisieren. Die Methode besteht darin, eine angenommene Definition im elenktischen Wechselspiel von Frage und Antwort zu rechtfertigen. Auf diese Weise wird zwar kein abschließendes Wissen über die Idee des Guten erlangt, doch »führt die dialektische Prüfung zu einer stetigen Verbesserung der epistemischen Qualität der wahren Meinungen, die ganz bestimmten Widerlegungsversuchen standhalten.« (J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 84) 493 U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 42. 494 Ebd., 42–43. 495 Es ist die Aufgabe der Philosophenkönige, nach der ihnen möglichen Schau der Ideen, die Welt des wahrhaft Seienden mit unserer empirischen Welt zu verbinden. Und das Fruchtbare dieser Verbindung besteht darin, »es [das Geschaute] in dem Material der empirischen Welt nachzuahmen, es also auf eine andere Ebene zu transformieren und gemäß deren Gegebenheiten zu gestalten.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 46) 496 Vgl. Phaidon 99d f. 497 G. Figal, Sokrates, 2006, 75 f. 498 Aufgabe und Ziel dieser sokratischen Frage wird ausführlich in den Kapiteln »Die sokratische Grundfrage: Was ist X?« und »Zur Auflösung scheinbaren Wissens« der vorliegenden Arbeit behandelt. Sokratische Selbstsorge
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doch nicht auf eine Definition 499, sondern auf das Wesen (ousia) von zum Beispiel Wertbegriffen, wie der Gerechtigkeit, der Besonnenheit oder auch von Dingen, wie dem Tisch, dem Schuh. Sokrates will mit dieser Fragestellung die Gestalt, die Form (eidos), eben die Idee 500 einer ethischen Tugend oder von Dingen bestimmen. Daher schreitet er zur Bestimmung dessen, was gerecht ist, über die Aufzählung einzelner Beispiele für gerechtes Handeln hinaus, um letztlich das Gemeinsame aller gerechten Handlungen, nämlich die Gerechtigkeit als die Sache selbst zu bestimmen. Maßgeblich dabei ist, dass die Idee einer ethischen Tugend nicht dadurch bestimmt wird, dass eine möglichst schlüssige, begriffliche Definition für diese ethische Tugend 501 gefunden wird. Die sokratische Frage »Was ist X?« ist vielmehr durch ein Wissen um die Idee einer ethischen Tugend zu beantworten. Und dieses Ideenwissen des Sokrates zeichnet sich dadurch aus, dass es »sich im Vollzug – sei es des Herstellens, sei es des Handelns – erweist und nicht propositional, in der sprachlichen Feststellung von Sachverhalten.« 502 Das sokratische Wissen einer Idee 503 ist demnach ein Wissen, welches uns beim Vollzug von Handlungen leitet, also dazu bePlatons aporetische Definitionsdialoge zeigen sehr deutlich, dass Versuche einer Bestimmung von »X« im Sinn einer allgemeinen Definition von Begriffen wie beispielsweise der »Besonnenheit« im Charmides oder der »Frömmigkeit« im Euthyphron scheitern. Auf den für die Frage »Was ist X?« so bedeutsamen Unterschied zwischen Nominal- und Realdefinitionen macht das Kapitel »Die sokratische Grundfrage: Was ist X?« aufmerksam. 500 So zielt die sokratische Frage »Was ist X?« zwar von Anfang an auf eine Bestimmung der Idee von »X«, aber nicht unbedingt im Sinn der platonischen Ideenmetaphysik. Denn diese Frage des Sokrates nach dem Allgemeinen ergibt »auch ohne die Annahme abgetrennter, für sich existierender Ideen einen Sinn«. (E. Martens, Sokrates, 2004, 84–85 f.) Ähnlich dazu auch Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 82–84. 501 Nach Aristoteles hat ja Sokrates zuerst allgemeine Begriffe über sittliche Tugenden aufzustellen versucht (vgl. Aristoteles, Metaphysik, XIII 2b, 1078b17 f.). Sokrates hat die Tugenden auch für Wissen gehalten, doch hat er die bloße Definition ethischer Begriffe nicht bereits als ausreichende Bedingung für ein tugendhaftes Handeln verstanden. Für fragwürdig ist daher zu halten, was Aristoteles genauso feststellt: »Sokrates meinte nun, die Tugenden seien Begriffe«. (Aristoteles, Nikomachische Ethik, VI 13, 1044b28) Diese aristotelische Feststellung wird auch von anderen Autoren in Frage gestellt. Beispielsweise von G. Figal, Sokrates, 2006, 67; E. Martens, Sokrates, 2004, 71–72; G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 80. 502 G. Figal, Sokrates, 2006, 79 f. 503 Das sokratische Wissen einer Idee beruht weder auf der Evidenz rationaler Beweise, noch ist es durch metaphysische Beweise zu erbringen. Es ist viel eher als eine unbedingte Forderung nach dem Guten zu verstehen, die sich letztlich in der Lebensführung praktisch zu bewähren hat. 499
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fähigt, richtigen Gebrauch von beispielsweise den ethischen Tugenden zu machen. Als ein auf Tätigkeit bezogenes Wissen hebt es sich mehr durch menschliche Haltung aus Erfahrung hervor, bewährt sich also primär in der praktischen Anwendung und kann seine Ergebnisse daher nur schwer in allgemeingültiger Form darstellen und mitteilen. Das Ideenwissen des Sokrates dient somit zur Orientierung für eine gute Lebensführung. Dabei spielt die Idee des Guten die entscheidende Rolle. Denn die Idee des Guten ist die größte Einsicht »durch welche erst das Gerechte und alles was sonst Gebrauch von ihr macht, nützlich und heilsam wird.« 504 Deshalb wird »mit der Frage nach dem Guten eigentlich nach einer Einheit des Lebens gefragt, die als solche weder im Handeln verfügbar ist noch aus unbeteiligtem Abstand erfahren und beurteilt werden kann.« 505 Aus diesem Grund ist für Sokrates auch die Tugend, die er für ein Wissen hält, nicht lehrbar 506. Denn Sokrates orientiert sich beim Wissen an der techne 507, die als ein praktisches Wissen zu charakterisieren ist, welches auf ein vorgegebenes Ziel ausgerichtet ist und dazu befähigt, die geeigneten Mittel im Sinn der richtigen Kenntnis einer Sache 508 zur Erreichung des Ziels zu ergreifen. Doch welche geeigneten Mittel wären im Hinblick auf die Idee des Guten, die größte Einsicht zu ergreifen? Sokrates sind die Grenzen des Wissens im Sinn der techne 509 in Politeia 505a. G. Figal, Sokrates, 2006, 71 f. 506 Vgl. Protagoras 319b, 320b f. Sokrates grenzt also das Tugendwissen »gegen die technê ab, indem er die Lehrbarkeit des Tugendwissens bestreitet. Das hat seinen Grund darin, daß jedes Tugendwissen nur so genannt zu werden verdient, sofern es im Lichte des Guten steht.« (G. Figal, Sokrates, 2006, 76) 507 Es sind die technai der Handwerker (vgl. Apologie 22c–d), an denen sich Sokrates bei seiner Konzeption von Wissen orientiert. Denn die Handwerker, wie auch die Ärzte und Turnmeister (vgl. Gorgias 503d–504a) haben bei der Ausübung ihrer Tätigkeit immer schon ein bestimmtes Ziel im Sinn einer Idee vor Augen. Wer eine techne beherrscht, handelt nicht aufs Geratewohl, sondern ist bestrebt, dass »das, was er ausarbeitet, eine gewisse bestimmte Gestalt bekomme.« (Gorgias 503e) Diese Gestalt ist die Idee, über welche beispielsweise der Tischler schon vor der Herstellung des Tisches verfügt und die ihn bei der Herstellung leitet. Vgl. dazu Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 79–88; G. Figal, Sokrates, 2006, 76–78. 508 U. Wolf dazu passend: »Dieses Wissen könnte man als definitorisches Wissen bezeichnen, allerdings nicht im Sinn einer Wortdefinition, sondern im Sinn einer Kenntnis der wesentlichen Beschaffenheit der Sache.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 35 f.) 509 Denn das »techne-Können ist zweiseitig; ob es eingesetzt wird oder nicht, ob es zu ethisch guten oder schlechten Zwecken eingesetzt wird, hängt vom Wollen der handelnden Person ab. […] Die techne ist angewiesen auf ein anderes Wissen, das Wissen 504 505
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Bezug auf die Idee des Guten bewusst geworden. Deshalb hat er Zuflucht in der dialogischen Rede genommen. Denn eine mögliche Bestimmung der Idee des Guten mit Hilfe der techne würde letztlich bedeuten, ein definitorisches Wissen über sie erlangen zu können und somit über ein Wissen zu verfügen, welches uns die erforderlichen Schritte zur Realisierung des Guten konkret erklärt. Solch ein techne-Wissen schien Sokrates zur Annäherung an die Idee des Guten, als der entscheidenden Ursache 510 für sein Handeln, nicht möglich. Sokrates wählte mit seinem elenktischen Verfahren daher den umgekehrten Weg: »Dort [beim techne-Wissen] gehen wir von einem einzelnen umgrenzten ergon aus und leiten aus ihm die nötigen Schritte ab. Hier [beim Verfahren des elenchos] haben wir ein nicht klar umgrenztes, vorgegebenes Ziel, sondern ein vages, weites Feld aus Phänomenen, Vormeinungen, gängigen Definitionen usw., und was wir tun, ist gerade, daß wir nach und nach, gleichsam ›von unten‹ dieses unbestimmte Feld durchgehen und methodisch ordnen, also Einheiten und Grenzen durch den elenchos allererst herstellen« 511. Die gewählte zweite Fahrt, sich durch Flucht in die Reden dialogisch im Gespräch mit anderen der Idee des Guten anzunähern, schien ihm eher realisierbar. Sokrates versucht nämlich in der dialogischen Rede 512 die Idee des Guten verständlich darzustellen. Denn »das Verstehen in den Darstellungen der Rede hat den unüberschätzbaren Vorteil der Flexibilität; es kann gelenkt, korrigiert und verbessert werden. Es gehört zum Wesen der Rede, daß sie Anrede ist und derart ihr Korrektiv im Verständnis des Angeredeten hat; wo dieser nicht folgen kann, muß man sich anders zu artikulieren versuchen. Die Redavon, welche Ziele wir verfolgen wollen, wie und wozu wir unsere Fähigkeiten einsetzen sollen, auf das Wissen also, wie zu handeln und zu leben gut ist.« (Ebd., 65–66) 510 Da Sokrates mit dem Wissen der techne das Gute als Ursache für sein Handeln selbst nicht finden konnte und auch der Naturforscher Anaxagoras, der annahm »daß die Vernunft von allem die Ursache ist« (Phaidon 97c), keine Begründung für das Gute liefern konnte, hat sich Sokrates vom Verfahren der Naturforschung im Sinn einer Ursachenforschung abgewandt. 511 U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 65. Siehe dazu auch das Kapitel »Zum elenktischen Verfahren der sokratischen Selbstsorge«. 512 Für den dialogischen Charakter des sokratischen Philosophierens ergänzend festzuhalten ist: »Dieses Philosophieren ist von Anfang an erzieherisch, therapeutisch, auf Prozesse des Bewußtseinswandels hin angelegt. Es zielt auf die Selbstläuterung des ›Vordenkers‹ Sokrates und gleichzeitig auf die der ›Mitdenkenden‹, die der sokratische Dialog in einen Prozeß der Bewußtseinsbildung verstrickt.« (D. Birnbacher, Philosophie als sokratische Praxis, 2002, 144)
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de ist wesentlich Dialog und als solcher lebendige Darstellung, die nicht einem allein glücken, die nicht einer allein bewerkstelligen kann.« 513 Und diese Kunst der dialogischen Rede als ein mündliches Philosophieren ist zugleich dialektisches Philosophieren 514.
4.2.3.2 Zum Inhalt der sokratischen Vermittlung Die sokratische Einsicht in die Idee des Guten 515 ist also weder eine Kunst der intuitiven Schau eines metaphysischen Prinzips, noch ein definitives Wissen, welches uns erkennen lässt, was die Idee des Guten ist. Die Idee des Guten als eine Art regulative Leitidee, die das dauerhaft und vollkommen Gute symbolisiert, ist also kein eindeutig bestimmbarer Gegenstand 516 menschlichen Wissens. Für das »menschliche Wissen« 517, welches Sokrates für sich in Anspruch nimmt und nach J. Hardy in den Dialogen Apologie und Symposium als eine von drei kognitiven Ebenen in Abgrenzung einerseits zum »göttlichen Wissen« 518 und andererseits zum »scheinbaren Wissen« 519 von Sokrates charakterisiert wird, ist festzuhalten: »Das menschliche Wissen bewegt sich auf einer mittleren epistemischen Ebene und es enthält auch das Wissen um den Unterschied der drei genannten epistemischen Stufen: Wenn jemand über das menschliche Wissen verfügt, ist er sich über den epistemischen Status seines WisG. Figal, Sokrates, 2006, 89–90. Vgl. Phaidros 266b–c; Sophistes 253d–e. 515 Gleich zu Beginn dieses Kapitels ist festzustellen: »Was die Idee des Guten ihrem Inhalt nach ist, wird bei Platon nirgends in einem Satz oder gar in einem System von Sätzen ausformuliert. Auch Sokrates ist nicht im Besitz einer begründeten Theorie über die Idee des Guten.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 160 ff.) Und erst recht »kann die gleichnishafte und indirekte Rede von der Idee des Guten […] das nicht vermitteln, was nur die Idee des Guten selbst und die Einsicht in sie leisten kann.« (Ebd., 164 ff.) 516 Denn die »philosophische Idee des Guten« formuliert »einen Anspruch, der auf inhaltliche Festsetzungen gar nicht aus sein kann. Man hat ihr daher von Platon bis Kant immer wieder Abstraktheit, Formalismus, Inhaltsleere vorgeworfen, dabei aber nicht verstanden, daß man damit dieser Idee eigentlich höchstes Lob ausspricht. Denn hier hat die Philosophie ihre priesterliche Rolle aufgegeben und sich nicht als Moraloder Sittenlehre verstehen wollen.« (W. Berger, P. Heintel, Die Organisation der Philosophen, 1998, 242 f.) 517 Vgl. Symposion 202a–b, 204a–b. 518 Vgl. Apologie 23a f. 519 Ebd., 21c–d. 513 514
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sens im klaren« 520. Und da die Idee des Guten auf eine ideelle Ebene verweist, führt sie zugleich die Ebene menschlichen Nichtwissens ein. So ist auch bekanntlich das einzige Wissen, um das Sokrates weiß, gerade das, dass er nichts weiß. 521 Solch ein Wissen scheint vordergründig weder eine bedeutsame Erkenntnis, noch von sozialer Relevanz zu sein, außer vielleicht in der negativen Erscheinung eines Mangels. 522 Dieses Wissen entspricht bei Sokrates 523 auch vielmehr der Einsicht, über ein reflektiertes Bewusstsein vom Guten zu verfügen und ist in einem praktischen Sinn zu verstehen. Der praktische Sinn liegt darin, dass der Mensch die ihm zukommende arete 524 angemessen verwirklicht, im Hinblick auf das Gute also richtig handelt, weil er versteht, die Tugenden richtig zu gebrauJ. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 77–78 ff. 521 Nach Gadamer hat uns Platon diese sokratische Weisheit gezeigt, die im Wissen um das Nichtwissen liegt: »Es ist diese unbestechliche Weise, in der wir Menschen das Andere, das Unbekannte, […] dieses Nichtwissen des Menschen um seine eigene Weltstellung, zu begreifen suchen – in der kurzen Lebensspanne, die durch den Tod beendet wird.« (H.-G. Gadamer, Vom Wort zum Begriff, 1997, 101) 522 Sokrates, nur in Bezug auf sein Nichtwissen wissend, vermochte seinen Gesprächspartnern zwar ihr eingeschränktes Wissen bewusst zu machen, doch »[d]as Wissen selbst oder die mit ihm konvertiblen sittlichen Vollkommenheiten, die Tugenden, in ihrer Reinheit konnten nicht gewußt werden, da nur dies gewußt werden konnte, daß das Wissen als solches nicht gewußt werden konnte.« (B. Mojsisch, »Dialektik« und »Dialog«: Politeia, Theaitetos, Sophistes, 1996, 169 ff.) 523 Für das Wissen des Sokrates charakteristisch sind »praktische Grunderfahrungen aus dem Zusammenleben, moralische Überzeugungen und eschatologische Hoffnungen. An keiner Stelle dagegen beansprucht er ein theoretisches, allein auf Vernunftsgründen beruhendes Wissen. Das Nicht-Satz-, Nicht-Konvention- und Nicht-Evidenz-Wissen ist also durchaus mit einem vorläufigen, ständig überprüfungsbedürftigen Wissen vereinbar und sogar als Abgrenzung darauf angewiesen.« (E. Martens, Sokrates, 2004, 136) 524 So erlangt für Sokrates der Mensch nur dann seine arete, wenn er sich um das Gutsein des eigenen Lebens kümmert. Das eigene Leben wird aber nicht dadurch gut, dass man sein Verhalten den Normen der jeweils gültigen Moral bestens anpasst und sich so nur um das dem Schein nach Gute kümmert, sondern dadurch, dass man sich um das wahrhaft Gute kümmert. Sokrates zufolge strebt auch kein Mensch nach dem scheinbar Guten: »Gutes aber genügt niemandem nur scheinbares zu haben, sondern jeder sucht, was gut ist, und den Schein verachtet hierbei schon jeder.« (Politeia 505d f.) Nach U. Wolf will Platon Folgendes damit sagen: »Es kann uns im Grunde gleichgültig sein, ob unsere Meinungen wirklich oder scheinbar wahr sind. Aber was uns nicht genügen kann, ist eine nur scheinbare eudaimonia, die jeden Moment zusammenbrechen kann.« (U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 36) 520
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chen, also den richtigen Umgang, beispielsweise mit der Gerechtigkeit, der Besonnenheit, erlernt. Das reine Erkennen der dem Menschen zukommenden arete, im Sinn eines bloßen Wissens 525 vom richtigen Umgang mit den Tugenden, ist damit aber nicht gemeint. Denn ein definitives Wissen, das sich im Sinn der techne 526 als Modell des Wissens immer auf einen eindeutig bestimmbaren Gegenstand bezieht, liegt im Hinblick auf die Idee des Guten nicht vor. Der Mensch kann sich kein abschließendes Wissen von der Idee des Guten 527 erwerben, sondern sich ihr nur wissentlich annähern. 528 »Wenn das Gute [als Idee] kein Sein ist, nicht in der bestehenden Wirklichkeit so ohne weiteres vorfindbar, so ist es eben ein ewiges Sollen, eine Zielsetzung, der man sich asymptotisch annähern könne. Zwar gibt es sicher Wertsetzungen, Imperative, die zu befolgen man aufgefordert werden kann. Die transzendentale Reflexion auf das Gute und das Glück bewegt sich aber auf einer ganz anderen Ebene. […] Das Gute liegt also in einem Reflexionsgeschehen, nicht im Suchen nach einem Sein.« 529 Soll das Wissen von der Idee des Guten dennoch charakterisiert werden, dann wohl geeignet mit den Worten allgemein, normativ, praktisch und somit ethisch. Allgemein, weil es sich auf ein allen Menschen Gemeinsames bezieht, normativ, weil es eine Orientierung Denn Tugenden wie die Gerechtigkeit oder Besonnenheit werden als ein ethisches Wissen nicht einfach erworben und wie anderes Wissen lediglich bei Bedarf abgerufen, sondern in die eigene Seele aufgenommen (vgl. Protagoras 314b). Man wird also »durch ethische Belehrungen eine andere Person, die Seele wird umgewendet.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 115 f.) 526 Zum Begriff der techne im Sinn eines Modells für ein begründetes praktisches Wissen siehe die Ausführungen in Kapitel 1.2 der vorliegenden Arbeit. 527 Das auf »die Idee des Guten bezogene Wissen erfüllt mithin die Funktion eines obersten Gebrauchswissen. […] Denn Gebrauchswissen bezieht sich gar nicht in dem Sinn auf ein Objekt, in dem sich die gegenständlichen Formen des kognitiven Wissens auf ein Objekt beziehen. Es ist ein Wissen, das stattdessen die Funktion hat, bestimmte Tätigkeiten zu motivieren und zu regulieren. Weil es ein tätigkeitsbezogenes Wissen ist, kann es auch seine Resultate nicht in allgemeingültiger Form darstellen und mitteilen. Denn jedes Gebrauchswissen hat sich stets an individuellen Instanzen der Anwendung zu bewähren.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 180 ff.) 528 Platon beschreibt diese Logik einer Annäherung an die Idee des Guten im Sinn der Selbsterfahrung so: »[L]äßt es sich doch in keiner Weise, wie andere Kenntnisse, in Worte fassen, sondern indem es, vermöge der langen Beschäftigung mit dem Gegenstande und dem Sichhineinleben, wie ein durch einen abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung erhält.« (7. Brief 341c–d) 529 W. Berger, P. Heintel, Die Organisation der Philosophen, 1998, 243 f. 525
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für das Leben des Menschen bietet und praktisch, weil es auf den realen Vollzug im menschlichen Leben ausgerichtet ist. Für Sokrates ist das menschliche Wissen 530 vom guten Leben aber begrenzt und fehlbar. Der Mensch vermag sich über das, was das vollkommen und dauerhaft gute Leben ist, eben nur eine Art indirektes Wissen in Form eines reflektierten Bewusstseins vom Guten 531 zu erwerben. Und da sich auf die Frage nach dem Inhalt des guten Lebens letztlich keine abschließende Antwort findet, gerät der Weg zum guten Leben als die Frage, auf welche Weise der Mensch ein möglichst gutes Leben führen kann, umso mehr ins Blickfeld. Dieser Weg wird von Sokrates als die Aufgabe gesehen, sich um das eigene Selbst auf eine Weise zu sorgen, die eine ideale Disposition des Selbst im Sinn der menschlichen arete ermöglicht. Wesentlich dabei ist, dass das Selbst als Gegenstand der Selbstsorge als eine innere Instanz 532, als eine Art seelische 533 Verfassung des Menschen und zugleich als allgemeines 534 Menschsein verstanden wird. Der Weg zum guten LeJ. Hardy hinzuziehend: »Das ›menschliche‹, philosophische Wissen ist ein Wissen zweiter Ordnung, mit dessen Hilfe eine Person ihre Meinungen prüft und sich […] in jedem Fall reflektierte und in einigen Fällen auch gerechtfertigte (und gleichwohl fallible) Meinungen bildet. Die Wissenssuche, die das menschliche, philosophische Wissen auszeichnet, ist eine insgesamt reflektierte Einstellung gegenüber der eigenen Person.« (J. Hardy, Jenseits der Täuschungen – Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung mit Sokrates, 2011, 80 f.) 531 Denn »Sokrates besitzt keinerlei System, das er lehren könnte. Seine Philosophie ist ganz und gar geistige Übung, neue Lebensweise, aktives Nachdenken und lebendiges Bewußtsein.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 147 f.) 532 Die Sorge um sich, so G. Böhme, »zielt auf die Herausbildung einer Instanz, die dann Seele oder der Mensch selbst genannt wird. Psyche ist dasjenige am Menschen, das allem anderen an ihm, insbesondere dem Leib, aber sogar der Sprache als das Gebrauchende gegenüber tritt und dieses andere gebraucht. Die Bemühung um dieses Gebrauchende [die Seele, das Selbst], seine Pflege und Ausbildung, schafft eine Innerlichkeit, der gegenüber alles andere, die Sprache, die Taten, der Leib, das Aussehen, der Besitz und das gesellschaftliche Ansehen, zum bloß äußeren Menschen wird.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 220–221) 533 Der Begriff »Seele« wird von Sokrates häufig synonym mit dem Begriff »Selbst« verwendet. Vgl. Apologie 29e f., Gorgias 501b ff., Phaidon 82d ff., 107c. Doch auch der Begriff des »Sich-selbst-Bewegen« hat dasselbe Wesen. (Vgl. Nomoi 896a f.) 534 Bei der sokratischen Selbstsorge handelt es sich weder um die Sorge der eigenen Seele im Sinn einer Sorge um die individuelle psychische Befindlichkeit, wie dies möglicherweise eine christliche Interpretation nahelegt, noch um die häufig geübte Praxis in der hellenistischen Philosophie, sich »durch Rückzug auf sich selbst zu bewahren.« (G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 48 ff.) Die Seele repräsentiert vielmehr »das ›Objektive‹ und deshalb Gehaltvolle und das eigentlich Welthaltige. […] Wenn wir uns also in unsere Seele zurückziehen, werden wir nicht etwa weltlos, sondern es 530
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ben ersetzt aber nicht dessen Inhalt 535, sondern führt in Form der sokratischen Elenktik als kritischer Prüfung der inhaltlichen Überlegungen zum guten Leben nach und nach näher an den gesuchten Inhalt heran. Dabei ist festzustellen, dass aus den geprüften Überlegungen zum guten Leben nicht nur vorläufig richtige Erkenntnisse, sondern zugleich auch Lebensregeln, Lehrmeinungen als ethische Inhalte zu gewinnen sind, weshalb sich die sokratische Selbstsorge in Bezug auf bestimmte Lebenssituationen immer auch als spezieller Ratgeber 536 in praktischen Lebensfragen erweist. Wenngleich also gerade in Bezug auf das gute Leben eine allgemein inhaltliche Konzeption nicht möglich ist, bleibt eine inhaltliche Bestimmung des guten Lebens dennoch nicht völlig aus 537, da man sich im Zuge der Selbstreflexion oder des Gesprächs mit anderen inhaltlich an ethischen Leitgedanken orientiert, welche als geprüfte, vorläufig richtige Erkenntnisse über das, was gut ist, zur inhaltlichen Konzeption des guten Lebens beitragen. Zum Inhalt der sokratischen Vermittlung gehört auch die vorbildliche Wirkung 538 des sokratischen Philosophen, da er vorlebt, wie ist genau umgekehrt: erst wenn wir uns in unserer Seele sammlen, kommen wir richtig zur Welt, kommen wir in die richtige Welt.« (R. Safranski, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch?, 1993, 99 f.) 535 Da ohne Inhalt nur mühsam ein kritischer Diskurs gelingt, sollte auch die Frage nach dem guten Leben nicht ohne den Versuch einer inhaltlichen Bestimmung dessen, was das gute Leben ist, gestellt werden, weil sonst Aussagen gegen jedes Argument inhaltlich immunisiert werden. 536 Xenophon schildert die sokratische Tätigkeit in seinen »Erinnerungen an Sokrates« grundsätzlich so. Und U. Wolf vertritt die naheliegende These, »daß wir Platon zufolge durchaus herausfinden können, wie in konkreten Situationen gut zu handeln ist und was in dieser oder jener konkreten Hinsicht zum guten Leben einer bestimmten Person beiträgt«. (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 28 f.) 537 Die »sokratische Vermittlung« bringt zwar keine allgemein anerkannten, widerspruchsfreien Erkenntnisse im Sinn inhaltlicher Wahrheiten hervor, doch kann sie »dazu dienen, eigenverantwortlich mit der erkannten Ungewissheit umgehen zu lernen und weniger wahrscheinlich irgendwelchen Heilsversprechen Glauben zu schenken oder obskuren Propheten nachzujagen, sondern ethisch-moralische Lebensregeln selbstverantwortlich festzulegen.« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 53 f.) 538 Auf diesen Aspekt macht auch U. Wolf im Kontext der »Apologie« aufmerksam, da sie wohl richtig vermutet, »daß Sokrates selbst die Verkörperung des Lebens der Selbstprüfung ist, daß seine kontinuierliche Betätigung eine Art Vorbild abgibt und daß diese Vorbildfunktion zusammenbrechen würde, wenn Sokrates in seiner Tätigkeit nicht bis zuletzt standhalten [würde]«. (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 50) Der Vollzug der sokratischen Selbstprüfung soll zur Nachahmung anSokratische Selbstsorge
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er seine Aufgabe als Mensch gut erfüllt. Denn Sokrates’ Lehre, so Ch. Kniest treffsicher, »liegt genau in dem, was er tut, wenn er seine Gesprächspartner am handwerklichen ›téchne‹-Paradigma des Wissens einer doppelten Denkbewegung aussetzt. Auf der einen Seite destruiert er ihre Bindungen an alle ethischen Inhalte, an die sie sich […] klammern. Auf der anderen Seite zielt diese riskante Operation darauf, dass sie nun die ›sophía‹ begehren, ›richtigen Gebrauch‹ von ihnen [den ethischen Inhalten] zu machen.« 539 Gerd B. Achenbach hat diese Lehre des Sokrates, mit welcher er so überzeugend auf seine Gesprächspartner wirkte, als eine Art »Lebenskönnerschaft« begrifflich auf den Punkt gebracht: »Die Schüler des Sokrates machten eine Erfahrung, an einem beeindruckenden, lebenden Beispiel sahen und erlebten sie, was Lebenskönnerschaft ist, sie erlebten es mit, und das blieb nicht ohne Wirkung.« 540 Auf diese Weise lebt der sokratische Philosoph seinen Gesprächspartnern ein reflektiertes Bewusstsein vom Guten vor und diese vorbildliche Wirkung 541, die Sokrates nach einer göttlichen Anweisung 542 beispielhaft erfüllt, lässt die sokratische Annahme erkennen, dass das Gutsein der eigenen Person die wesentliche Voraussetzung für das gute Leben im Ganzen ist. Doch welche Wirkung erzielt der sokratische Philosoph bei seiner Vermittlung eines reflektierten Bewusstseins vom Guten?
regen, jedoch nicht in Bezug auf konkrete Inhalte, sondern im Hinblick auf die Haltung, die Einstellung des zum Vorbild gewordenen Menschen. Doch in kritischer Absicht zu betonen bleibt auch: »Sokrates weist es von sich, Prophet zu sein, er hat auch nicht Schüler als Anhänger und Nachbeter, er weist es von sich, Vorbild zu sein.« (K. Jaspers, Einsamkeit, 1996, 23–24 f.) 539 Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 88. 540 G. B. Achenbach, Philosophische Praxis führt die »Lebenskönnerschaft« im Schilde, 2001, 111–112. 541 Der vorbildlichen Wirkung des Sokrates verdankt auch Antisthenes, der als Begründer der sokratischen Schule der »Kyniker« gilt, »jene Beharrungskraft und jene Reinigung der Seele von aller Leidenschaft, womit er den Grund zur kynischen Schule legte.« (Diogenes Laertius, VI 2) 542 Denn der Gott macht Sokrates zum Vorbild für die anderen Menschen: »Unter Euch, ihr Menschen, ist der Weiseste, der wie Sokrates einsieht, daß er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt.« (Apologie 23b)
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4.2.3.3 Über die Wirkung der sokratischen Vermittlung Sokrates nimmt bei seinen Gesprächen gezielt Einfluss auf die seelische Verfassung des Gesprächspartners. Diese Einflussnahme erfolgt so, dass er letztlich die Person in den Mittelpunkt des Gesprächs stellt und nicht die Sache 543. Zwar wird zunächst immer die Meinung des Gesprächspartners 544 über eine bestimmte Sache geprüft und nicht der Gesprächspartner selbst, doch sobald der Gesprächspartner eine Meinung vertritt, die er selbst für wahr hält oder die er für seine Lebensführung als wichtig erachtet, wird auch er selbst, die Person des Gesprächspartners geprüft. Der sokratische Philosoph lässt sich also ganz bewusst auf das geistige Niveau 545 seiner Gesprächspartner ein, weil er einerseits deren Sichtweise auf eine bestimmte Sache besser verstehen 546 lernen will und andererseits, weil er auf deren Seele gezielt Einfluss nehmen 547 möchte. Sein Ziel ist, mit der psychischen Bei der Sache als dem Inhalt des Gesprächs ist in bewusster Unterscheidung zur Wirkung der sophistischen Vermittlung, die auf rhetorische Überlegenheit in der Situation, nicht auf Wahrheit zielt, die grundlegende Intention des sokratischen Philosophierens in Erinnerung zu rufen: »Worauf er [Sokrates] achtet und was für ihn allein zählt, ist, ob das, was gesagt wird, wahr ist oder falsch; denn der Philosophie geht es um die jeweils zur Diskussion stehende Sache, nicht um die Form, in der über eine Sache gesprochen wird«. (R. Rehn, Der entzauberte Eros: Symposion, 1996, 83 f.) 544 In diesem Zusammenhang sind »zwei bedeutsame Implikationen« zu beachten: »Erstens ist die Wahrheit oder Falschheit einer Meinung […] davon unabhängig, wer sie äußert und wer sie für wahr hält. Zweitens ist gewiss nicht jede Meinung, deren Wahrheit man prüfen möchte, für die eigene Lebensführung von Bedeutung.« (J. Hardy, Jenseits der Täuschungen, 2011, 63 f.) 545 So deutet U. Wolf für die platonischen Dialoge generell an: »Die unterschiedliche Ausprägung des Dialogcharakters in der frühen, mittleren und späten Phase des Werks könnte man durch die Beschaffenheit der Dialogpartner erklären, von deren Niveau aus Sokrates das Gespräch jeweils in Gang setzt«. (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 29 f.) 546 Nach R. M. Hare hat Platon uns diese wertvolle Einsicht vermittelt: »Könnten wir die Probleme vollständig verstehen, und das bedeutete, zuallererst die Worte, mittels deren sie formuliert sind, und dann – was noch schwieriger ist – die Situationen und die Menschen, die diese Probleme hervorbringen, zu verstehen, dann wären wir auf dem richtigen Weg, um sie zu lösen. Das ist auf jeden Fall aussichtsreicher, als sie der menschlichen Bosheit, die man niemals überwinden kann, zuzuschreiben. Selbst mit den Schlechten kann man sich auseinandersetzen, wenn wir verstehen, was sie zu ihrem Tun bewog.« (R. M. Hare, Platon, 1990, 130) 547 Solch ein Verstehen und Einfluss wird vor allem dann möglich sein, wenn man folgende Maxime beachtet: »Gewöhne dich auf die Rede eines andern genau zu achten und versetze dich soviel wie möglich in die Seele des Redenden.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VI, 53) Die Bedeutung dieser Maxime bringt G. B. Achenbach mit 543
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Struktur seiner Gesprächspartner vertraut zu sein, mit der »Seele Natur bekannt [zu sein], die einer jeden angemessene Art der Rede herauszufinden versteht, und sie dann so ordnet und ausschmückt, dass er bunten Seelen auch bunte und wohllautreiche Reden gibt, einfachen aber einfache« 548. Mit dieser Gesprächsstrategie 549 nimmt der sokratische Philosoph eine psychologische Haltung 550 ein, die letztlich darauf abzielt, beim Gesprächspartner die Bereitschaft zur Veränderung der eigenen Person und zwar zum Guten bewirken zu können. Diese Bereitschaft zur Veränderung im Sinn einer persönlichen Ergriffenheit löst Sokrates durch eine Art unwiderstehliche Macht in seiner Rede aus. So pocht nicht nur Alkibiades heftig das Herz, wenn er Sokrates reden hört und nicht allein ihm werden Tränen ausgepresst, sondern vielen anderen Menschen ergeht es ebenso. 551 Denn von Sokrates »bin ich oft so bewegt worden, dass ich glaubte, es lohnseinem Begriff der »Gesprächskönnerschaft« klar zum Ausdruck, wenn er unter dem Leitsatz »Zuhören ist die Seele des Gesprächs« feststellt: »Die Gesprächskönnerschaft beginnt damit, daß ich begriffen habe, wie schwer, außerordentlich selten, also eigentlich unwahrscheinlich wirkliches Verstehen ist. Wer das jedoch verstanden hat, verlegt sich eben deshalb zuerst einmal darauf, gut und aufmerksam zuzuhören.« (G. B. Achenbach, Gesprächskönnerschaft, 2005, 118 f.) 548 Phaidros 277b–c. 549 Diese Gesprächsstrategie ist von der Rhetorik des Sophisten deutlich abzugrenzen. Denn der Sophist »nimmt Denkweisen, Kategorien, Methoden ohne Ausnahmen auf, aber nur als Redeform, nicht als gehaltvolle Bewegung des Erkennens. Er denkt in syllogistischer Konsequenz, um mit logischen Mitteln einen Augenblickserfolg zu erzielen, bedient sich der Dialektik, um in Gegensätzen, was auch immer gesagt wird, geistreich umzuwenden, geht auf Anschauung und Beispiel, ohne je einer Sache nahe zu sein, auf die platte Verständlichkeit, denn er ist rhetorisch um Wirkung, nicht um Einsicht bekümmert.« (K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, 1979, 157 f.) 550 Diese psychologische Haltung basiert auf der Bereitschaft, den Gesprächspartner im Prozess seiner Veränderung zum Guten hin aktiv zu unterstützen und beruht auf der Annahme, dass eine Seele »stets gegen ihren Willen der Wahrheit beraubt [wird]. Daher also auch der Gerechtigkeit, der Selbstbeherrschung, des Wohlwollens und jeder anderen Tugend.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, VII, 63) Der sokratische Philosoph »enthält sich jeglicher Form sophistischer Belehrung, vermeidet Statements, bewertende Äußerungen und die Darlegung eigener Normen und Sichtweisen. Sein Augenmerk ist ausschließlich darauf gerichtet, dass der Patient [der Gesprächspartner] seine dysfunktionale Behauptung oder Norm durch eine selbst gefundene andere ersetzt, die widerspruchsfrei, inhaltlich logisch abgeleitet und auf die persönlichen (Lebens-)Ziele ausgerichtet ist und seinen übergeordneten Normen und Moralvorstellungen entspricht.« (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 81 f.) 551 Vgl. Symposion 215d–e f. Denn im Vergleich zu den Reden anderer, vortrefflicher Redner, wie dem Perikles, bewirkt die Rede des Sokrates, dass Alkibiades’ Seele in
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te nicht zu leben, wenn ich so bliebe, wie ich wäre.« 552 Um diese Bereitschaft zur Veränderung beim Gesprächspartner erzielen zu können, müssen die Gesprächspartner jedoch das Gefühl besitzen, das sagen zu können, was sie wirklich denken. Und darin »liegt die alles entscheidende Grundlage für die Wirkung des sokratischen ›élenchos‹, die er nicht zuletzt deshalb immer zu sichern mag, weil er [Sokrates] vorgibt, nur vom anderen lernen zu wollen.« 553 Denn mit seinem ironischen Verhalten macht Sokrates seinen Gesprächspartnern Schritt für Schritt ihre Selbsttäuschung bewusst und erzeugt in ihnen das Bedürfnis, sich selbst verändern zu wollen. Bei der sokratischen Vermittlung geht es zwar immer auch um das Wissen des Befragten, doch zielt die Wirkung der Vermittlung auf die Person 554 des Befragten. Im Zuge der Prüfung des vermeintlichen Wissens seiner Mitbürger entlarvt Sokrates nämlich nicht nur deren Scheinwissen, sondern auch diese selbst. Denn Sokrates setzt seine Fragen mit der befragten Person unmittelbar in Beziehung und rückt somit den Befragten und dessen Vernunft ins Zentrum der Prüfung. Im Gespräch mit Sokrates wird klar, dass jede Behandlung eines Wissens auch die Behandlung des Trägers dieses Wissens betrifft. Daher geht es in jedem von Sokrates geführten Gespräch letztlich um den Gesprächspartner selbst, darüber, »daß er Rede stehen muß über sich selbst, auf welche Weise er jetzt lebt und auf welche er das vorige Leben gelebt hat« 555. Die im Zuge der sokratischen Vermittlung einsetzende Auflösung von scheinbarem Wissen ist bedeutsam, doch entscheidend im Prozess dieser Auflösung ist der Effekt der Aporie. 556 Unruhe gerät und »in Unwillen, daß ich mich in einem knechtischen Zustande befände.« (Symposion 215e) 552 Symposion 215e–216a f. 553 Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 105 f. 554 Daher gilt die Vermittlung im sokratischen Gespräch »nicht bereits dann als gelungen, wenn man zu einem Konsens betreffs irgendwelcher technischer Problemlösungen vorgedrungen ist, sondern nur bei der Herstellung philosophisch orientierter Gesprächspartner, die sowohl hinsichtlich des vergangenen und gegenwärtigen als auch des antizipierten Handelns jederzeit zur philosophischen Wissensbildung im Gespräch bereit und fähig sind.« (D. de Sauvage, Krise der Philosophie, 2002, 125 f.) 555 Laches 187e–188a f. 556 Allerdings ist es wenig plausibel, den möglichen Grund für die Entstehung der Aporien darin zu sehen, »daß Platon bestimmte Argumentationsfehler unterlaufen, auf die er selbst nicht hinreichend aufmerksam geworden ist.« (M. Bordt, Platon, 1999, 159) Viel einleuchtender erscheint es, die Ursache der Aporien in Sokrates’ Vorgehen zu suchen, nämlich darin, dem Gesprächspartner »den richtigen Weg nur anzudeuten, ihn aber nicht belehrend auf den Weg zur richtigen Erkenntnis zu fühSokratische Selbstsorge
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Denn erst die Aporie vermag den Umschwung auszulösen, der eine Person zur Einsicht befähigt, überhaupt neue Sichtweisen gewinnen zu können. Diese Art von Einsicht charakterisiert W. Wieland trefflich so: »Die Einsichten, auf deren Erwerb ein sokratisches Gespräch zielt, sind nicht mehr auf der Ebene der Sätze dingfest zu machen, weil es Einsichten sind, die gar nicht dem propositionalen Typus angehören. Es sind Einsichten von der Art dispositioneller Fähigkeiten, die demjenigen der über sie verfügt, jeweils ein bestimmtes Wissensfeld erschließen, aber keine einzelnen Gegenstände oder Sachverhalte vorstellig machen.« 557 Stellt sich bei den von Sokrates Befragten nämlich Ratlosigkeit ein, dann löst dies zumindest Verlegenheit, häufig sogar Verwirrung aus, weil offenbar das Selbstverständliche in Form grundlegender Vorstellungen und elementarer Überzeugungen 558, die in der Alltagssituation der Befragten immer schon als gesichert gelten, plötzlich zweifelhaft und fragwürdig wird. In der von Sokrates praktizierten Vermittlung werden eben keine von der Person des Befragten einfach lösbaren Meinungen geprüft, sondern die-
ren«. (M. Erler, Hypothese und Aporie: Charmides, 1996, 32 ff.) Und auch darin, »daß wir als Menschen das Gute im allgemeinen nicht wissen, sondern uns ihm nur dialogisch annähern können.« (U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 29) Anregung zum eigenständigen Denken und Reinigung von inhaltlich falschen Vorstellungen lassen sich demnach als bewußte Zielsetzungen in dem von Sokrates praktizierten Vorgehen deuten. Und die wohl anzuerkennende »Fehlerhaftigkeit der platonischen Logik« ist mit H.-G. Gadamer daher so zu beurteilen: »[S]okratische Fangschlüsse wollen nicht Handgriffe eines virtuosen Technikers sein, die einfach angewendet werden, wo sie Erfolg versprechen, sondern lebendige Formen einer Verständigung, der die Sache selbst ständig vor Augen steht und die ihren Maßstab lediglich von da nimmt, daß es ihr gelingt, diesen Blick für die Sache auszubilden.« (H.-G. Gadamer, Platos dialektische Ethik, 1983, 46 f.) 557 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 323 f. 558 Sokratisches Philosophieren nimmt den Dingen des Alltags ihre Selbstverständlichkeit, indem es von den im Alltag gängigen Deutungen und Wertungen der Dinge Abstand nimmt. Allerdings nicht dadurch, dass gezielt anders gedacht wird, sondern aufgrund einer neuen Sicht auf diese Dinge, die infolge einer spezifisch philosophischen Erfahrung, dem Staunen, zutage tritt. (Vgl. Theaitetos, 155c–d) Bei diesem Staunen, so Ch. Kniest treffend, handelt es »sich um kein naives Erstaunen über die Wunder dieser Welt, sondern im Gegenteil um eine mit höchster Kunstfertigkeit herbeigeführte Beunruhigung, in der vormalige Gewissheiten und vertraute Sinnzusammenhänge zusammenbrechen.« (Ch. Kniest, Sokrates, 2003, 103 f.) Denn »das schönste Staunen geht los, wenn es einer dahin gebracht hat, sich darüber zu wundern, was er selbst so zufällig denkt und meint und urteilt und empfindet.« (G. B. Achenbach, Die Grundregel philosophischer Praxis, 1988, 88)
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jenigen Meinungen, mit der sich die Person identifiziert 559. Was diese Prüfung bewirkt, so U. Wolf treffend, »bleibt der Person nicht äußerlich, da Meinungen mit Affekten, Wünschen usw. verknüpft sind und so tief in der Person verankert sein können.« 560 Letztlich geraten die Gesprächspartner des Sokrates in eine Situation, aus der sie keinen Ausweg mehr wissen, weil ihnen die Unmöglichkeit der Beantwortung seiner Fragen bewusst wird. Während also seine Gesprächspartner anfangs glauben, über das, was sie von Sokrates gefragt werden, Bescheid zu wissen, gelangen sie im Verlauf des Dialogs immer mehr zur Einsicht, es doch nicht zu wissen. Die Fähigkeit zur Einsicht 561, dass die eigene Meinung nicht länger aufrecht zu erhalten ist und neue Ansichten, Überzeugungen Platz greifen sollen, ist wesentlich für die erfolgreiche Wirkung der sokratischen Vermittlung. Denn dieses »Prinzip der Revisionsbereitschaft, wonach jeder Standpunkt insofern als ›hypothetisch‹ anzusehen ist, bis er geprüft und bis auf weiteres nicht widerlegt ist, bildet eine Voraussetzung sokratisch-platonischer Wahrheitssuche.« 562 Doch worin liegt der spezifische Wert dieser dialogisch 563 orientierten Vermittlung, wenn vordergründig gesehen der Befragte damit weder ein sicheres Wissen erwirbt, noch eine klare Orientierung für sein Leben gewinnt. Den möglichen Wert, der zunächst so negativ in den Vordergrund tritt, beschreibt G. Böhme als den entscheidenden Effekt der Aporie so: »Es ist die Blamage, das Scheitern an sich selbst, es ist die Demütigung, die Kränkung, was das zwanglose Selbstvertrauen bricht, den unmittelbaren Ausdruck der Gefühle hemmt, dem Sichausleben der Triebe Einhalt gebietet, das naive Äußern von Ansichten beendet, das forsche Draufloshandeln zum Stehen bringen und das satte BescheidDaher führt der sokratische Elenchos auch »nicht nur zu einer Widerlegung von Meinungen, sondern zugleich auch zu einer Erschütterung von Identifizierungen.« (W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 317 f.) 560 U. Wolf, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, 1999, 39 f. 561 Diese Fähigkeit zur Einsicht im Sinn einer Bereitschaft zur Änderung der eigenen Meinung sollte »immer von der Überzeugung, daß sie gerecht oder gemeinnützig oder dergleichen sei, einzig und allein ausgehen, keineswegs aber davon, daß wir darin Annehmlichkeit oder Ruhm erblicken.« (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, IV, 12) 562 M. Erler, Platon, 2006, 102. 563 Die zentrale Aufgabe des sokratischen Dialogs besteht darin, »die Grenzen der Sprache aufzuzeigen, die Unmöglichkeit, sprachlich eine moralische und existentielle Erfahrung mitzuteilen. Aber schon der Dialog als Ereignis an sich, als geistige Übung, stellt eine moralische und existentielle Erfahrung dar.« (P. Hadot, Philosophie als Lebenskunst, 1991, 155 f.) 559
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wissen verstummen läßt.« 564 Ist nämlich die geistige Entbindung durch Sokrates erfolgreich 565, dann erfährt der Entbundene einen inneren Wandel, der durch die Aporie als vordergründiges Scheitern eingeleitet und als gewählte Bewusstheit fortgesetzt wird. Diese Bewusstheit meint, dass sich der Entbundene seiner selbst bewusst wird, zu reflektieren beginnt, weil er den Unterschied zwischen dem Meinen als dem vermeintlichen Wissen und dem Wissen im Sinn des sokratischen Nichtwissens begriffen hat. Ruft die Aporie beim Gesprächspartner zunächst eine Art Initialzündung hervor, indem sie die Reflexion eines Menschen auf sich selbst überhaupt erst in Bewegung bringt, erweckt sie in Folge das eigene Denken und macht der betroffenen Person die Aporie als ein fruchtbares Scheitern 566 bewusst. Denn die sich einstellende Bewusstheit vermag das bisherige Leben 567 auf den Kopf zu stellen, indem sie bislang gültige Wertvorstellungen 568 haltlos macht, weil diese nicht mehr begründbar sind und G. Böhme, Der Typ Sokrates, 2002, 122 f. Erfolgreich meint, dass Sokrates bei seinen Gesprächspartnern bewirkt, dass diese im Hinblick auf das gute Leben nicht länger nur glücklich scheinen, sondern auch sind. (Vgl. Apologie 36d f.) Diese Wirkung erzielt Sokrates in seiner Vermittlung durch folgende inhaltliche Ausrichtung: »Denn nichts anderes tue ich, als daß ich umhergehe, um jung und alt unter euch zu überreden, ja nicht für den Leib und für das Vermögen zuvor noch überhaupt so sehr zu sorgen wie für die Seele, daß diese aufs beste gedeihe, indem ich zeige, dass nicht aus dem Reichtum die Tugend entsteht, sondern aus der Tugend der Reichtum und alle andern menschlichen Güter insgesamt, eigentümliche und gemeinschaftliche.« (Apologie 30a f.) 566 Die persönliche Erfahrung dieses Scheiterns ist insofern fruchtbar, als sie zu einer Art Bedingung für die Wandlung der eigenen Person wird. Denn der Betroffene »kommt in der Fraglichkeit der Selbstreflexion im konkreten Augenblick sich selbst aus seinem Grunde entgegen. Aus aller Reflexion geht er wieder eigentlich selbst hervor, wenn er auch Zerrissenheit, Ungewißheit, Ratlosigkeit durchschreiten muß.« (K. Jaspers, Philosophie II, 1973, 44 f.) 567 Mit der sich einstellenden Bewusstheit wird das bisher geführte Leben möglicherweise als wenig sinnvoll erfahren oder im extremen Fall sogar eine persönliche Krise ausgelöst. Doch hat sich die betroffene Person durch ihre selbst erarbeitete Einsicht bewusst dazu entschieden, ihren Lebensvollzug zu ändern. So kann zwar ein subjektiv durchaus glücklich empfundenes Leben vorerst verloren gehen, aber nur aufgrund der persönlichen Einsicht, letztlich ein für sich noch besseres Leben wählen zu können. Und in diesem Zusammenhang positiv festzuhalten gilt: »Die Alltagserfahrung sowie diverse (insbesondere sozialpsychologische) Untersuchungen zeigen jedoch, dass selbsterarbeitete Erkenntnisse weitaus glaubwürdiger sind und damit wirksamer, dauerhafter und änderungsresistenter«. (H. H. Stavemann, Sokratische Gesprächsführung, 2007, 90) 568 Das durch die Aporie ausgelöste Bewusstsein kehrt bestehende Werte nämlich 564 565
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ruft als das sokratisch-platonische Wissen um die arete die Bereitschaft hervor, das eigene Leben zum Guten zu verändern. Dass nicht jeder Mensch zu jeder Zeit für diese Veränderung bereit ist, ist ebenso einsichtig, denn das »Zugeben des eigenen Nichtwissens und die Abkehr vom Scheinwissen verlangen ja etwas ganz anderes und viel mehr als gewöhnlich technisches Lernen: das Aufgeben der Selbstsicherheit, die Umstellung des Lebens, also ein Wagnis, dem sich nicht jeder ausliefern will und dem nicht jeder gewachsen ist. Weil die sokratische Selbsterkenntnis mit Notwendigkeit über das ganze Leben entscheidet, deshalb ist man dazu nie zu alt.« 569 Auf diese Weise ermöglicht sokratisches Philosophieren die radikale 570 Umkehr 571 (periagoge) des eigenen Lebens und liefert damit seinen Beitrag zum Aufbruch in ein gutes, durch die Einsicht in die Idee des Guten geprägtes Leben. Diese Einsicht in die Idee des Guten »ist keine Einsicht, die irgendeinen Gegenstand in dieser Welt träfe. Trotzdem bleibt sie auf diese Welt bezogen. Denn sie verleiht ihrem Inhaber die Fähigkeit, dieser Welt und sich selbst in ihr gerecht zu werden.« 572
häufig schlichtweg um. Und diese nicht selten radikale »Umkehrung der Werte« formuliert P. Hadot recht knapp und asketisch so: »Wer sich um seine Seele kümmert, findet das Wesentliche nicht in der äußeren Erscheinung, in der Kleidung oder in der Behaglichkeit, sondern in der Freiheit.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 153 f.) 569 K. Gaiser, Protreptik und Paränese bei Platon, 1959, 119–120. 570 Radikal einfach deshalb, weil sie im wörtlichen Sinn die geistigen Wurzeln zur Veränderung freilegt. 571 Vgl. Politeia 518c–d, 525c, 532b. Diese Bekehrung, so P. Hadot im Hinblick auf die philosophische Tätigkeit in der Antike generell, führt »aus dem Zustand eines unechten, von Unbewußtheit verdunkelten und von Sorgen aufgezehrten Lebens zum Zustand eines echten Lebens, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst, die wahre Sicht der Welt, den Frieden und die innere Freiheit erlangt.« (P. Hadot, Philosophie als Lebensform, 1991, 15 ff.) 572 W. Wieland, Platon und die Formen des Wissens, 1999, 185. Diesen notwendigen Bezug zur Welt und unser erforderliches Handeln darin macht auch K. Jaspers deutlich: »Wir müssen zwar, um zu leben, nach unserem eudämonistischen Idealzustand trachten, aber dieses Trachten und relative Verwirklichen ist selbst nur ein Existieren, welches als Zeitdasein scheiternd sich gewiß werden kann, jedoch in dem Scheitern, welches unbedingte und grenzenlose Verwirklichung in der Daseinsobjektivität voraussetzt.« (K. Jaspers, Philosophie II, 1973, 369 f.) Sokratische Selbstsorge
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Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung war, auf Basis der Auseinandersetzung mit dem platonischen Sokrates und seiner Frage, wie man leben soll, den möglichen Beitrag der sokratischen Selbstsorge für das gute Leben heute sichtbar zu machen. Dazu nahm die Untersuchung ihren Ausgang von Platons frühen Dialogen und darin von der Auseinandersetzung zwischen Sokrates und seinen Gesprächspartnern über die Frage, worin das gute Leben besteht und wie es zu erreichen ist. Dabei wurde rasch klar, dass eine ausschließliche Betrachtung der sogenannten sokratischen Dialoge als den früheren Schriften Platons der Untersuchung eine gelegentlich mehr willkürliche als immer sinnvolle Grenze setzt. Daher wurde immer dann, wenn es in einem frühen Dialog angebracht erschien, eine Vorausschau auf die inhaltliche Entwicklung in Platons späteren Dialogen gewagt. Der Versuch einer kritischen Rekonstruktion des historischen Sokrates wurde nicht unternommen, da sich die Untersuchung auf die von Platon in seinen Dialogen dargelegte Figur des Sokrates konzentriert. Eingeführt wurde in die Untersuchung derart, dass zunächst der Frage nach dem Begriff von Philosophie nachgegangen wurde, zuerst in Form einer wörtlichen Erklärung von Philosophie und danach mittels einer Darlegung des sokratisch-platonischen Verständnisses von Philosophie. Auf Basis dieser Hintergrundinformationen wurde einerseits gezeigt, dass zunächst immer ein Verständnis von Philosophie darzulegen ist, bevor der Versuch einer Definition dessen, was Philosophie ist, unternommen werden kann. Und andererseits wurde damit das Grundanliegen, welches der platonische Sokrates mit seinem Philosophieren als Lebensform verfolgt, gegen andere Konzepte von Philosophie klar abgegrenzt. Hinsichtlich der Kernthematik, der sokratischen Sorge um sich selbst, orientierte sich die Untersuchung an drei Leitgedanken. Erstens wurde nach dem Gegenstand der Selbstsorge gefragt, denn bevor 162
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um oder für etwas gesorgt werden kann, muss man sich darüber verständigen, was der Gegenstand dieser Sorge ist. Die Sorge um sich selbst bedingt also zunächst ein Wissen darüber, was das Selbst ist. Dieses Wissen wurde in Anlehnung an die delphische Forderung nach Selbsterkenntnis gesucht. Sokrates hat dieser Forderung gegenüber allem anderen Wissen einen klaren Vorrang eingeräumt. Das substantivierte Selbst wurde dabei nicht als das einzelne Individuum, das empirische Subjekt, sondern gemäß sokratischer Bestimmung als das allgemeine Menschsein, die menschliche Tugend (arete) bestimmt. Sokrates versteht diese menschliche Tugend als ein Streben nach dem spezifischen Gutsein des menschlichen Lebens im Sinn einer Ausrichtung des Menschen nach der Wahrheit, sodass der Mensch die ihm zukommende arete nur dann angemessen verwirklicht, wenn er sich um das wahrhaft Gute kümmert und nicht um das nur dem Schein nach Gute. Selbsterkenntnis erwies sich schließlich als ein reflexives Wissen, in dessen Struktur eine inhaltliche Bestimmung des Selbst nicht möglich ist, da selbstbezügliches Wissen anhand des Modells der griechischen techne nicht zu begreifen ist. Selbsterkenntnis zeigte sich vielmehr in der Ordnungsstruktur eines reflektierten Lebens als eine Art Bewusstheit im Sinn eines Gebrauchswissens, das sich mehr durch menschliche Haltung und Erfahrung auszeichnet und primär in der praktischen Anwendung bewährt. Zweitens wurde nach dem Verfahren der Selbstsorge gefragt, das als praktizierte Form philosophischer Denk- und Arbeitsweise auszuweisen ist. Es besticht methodisch durch die mündliche Form, ist aber als Praxis einer philosophischen Lebensweise nur durch die existentielle Haltung und die ethischen Motive, die dieser Lebensform als Inhalt zugrunde liegen, begreifbar. Sokrates’ dialogisch orientierter Vollzug einer Prüfung des vermeintlichen Wissens seiner Gesprächspartner, das elenktische Verfahren (elenchos), bildete mit seinen pädagogischen Zielsetzungen und therapeutischen Wirkungen dazu den Mittelpunkt. Dabei stellte sich die fortwährende Ausübung des elenchos als einer immer wieder zu vollziehenden geistigen Übung unter rationaler Kontrolle als der aussichtsreichste Weg heraus, das menschenmögliche Gutsein als arete im Sinn einer Ausrichtung nach Wahrheit zu bilden und sich als Mensch dem Ideal eines vollkommen und dauerhaft guten Lebens annähern zu können. Auf diese Weise wurde sokratisches Philosophieren letztlich als eine Methode der Formung menschlichen Lebens charakterisiert, die darauf abzielt, die Sokratische Selbstsorge
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Frage nach dem guten Leben als eine ethische Grundfrage wach zu halten, indem sie dazu erzieht, das eigene Denken immer wieder von neuem kritisch zu überprüfen. Drittens wurde nach dem Beitrag der sokratischen Selbstsorge zum guten Leben gefragt. Dazu wurde in Form der philosophischen Lebensweise die sokratische Idee vom guten Leben als das dem Menschen mögliche gute Leben dargelegt und sophistischen Positionen zum Leben, wie dem kallikleischen Hedonismus, der gorgianischen Rhetorik sowie der protagoreischen Situationsbewältigung, die auch heute weit verbreitet sind, gegenübergestellt. Bei dieser Gegenüberstellung bewahrheitete sich das sokratisch-platonische Konzept vom Selbst als einer inneren Wertinstanz des allgemeinen Menschseins, da es sich als ein sozial wirksames Korrektiv gut eignet, das heute dominierende Konzept vom Selbst als einer äußeren Wertinstanz des individuellen Menschseins, in den für ein soziales Miteinander erforderlichen Grenzen zu bewahren. Denn mittels einer geistigen Verknüpfung des individuellen mit dem allgemeinen Menschsein, stellt sich Bewusstheit in Bezug auf das Ganze, das Gemeinsame, letztlich das Gute in unserer Welt ein. Schließlich wurde gezeigt, wie sich die von Sokrates vollzogene Selbstsorge in unserer heutigen Lebenspraxis bewährt. Dazu wurde die sokratische Selbstführung als ein Gespräch mit sich selbst in Form der Ausübung von Selbstreflexion und die sokratische Gesprächsführung als ein Gespräch mit anderen, zuerst in Form der Anwendung sokratischer Mäeutik in der Mediation und dann in der Rolle des sokratischen Philosophen als Vermittler, untersucht. Die sokratische Selbstführung als eine kontinuierliche Ausübung des Gesprächs mit sich selbst trat dabei als sukzessive Transformation der eigenen Denk- und Seinsweise hervor und zwar im Hinblick auf den Vollzug eines ethisch verantwortungsvollen Lebens. Es wurde deutlich, dass ein dauerhaft und kritisch ausgeübtes Gespräch mit sich selbst eine geistige Stabilisierung des eigenen Lebens bewirkt und insbesondere die Fähigkeit zur rationalen Einsicht fördert, sodass beispielsweise übermäßige Begierden oder Affekte leichter unter Kontrolle zu halten sind und existentielle Krisen durch eine gedankliche Vorwegnahme besser zu bewältigen sind. Die sokratische Gesprächsführung, die als dialogische Kunst mäeutischer Vermittlung begriffen wird, wies zwar klare Parallelen zur Mediation auf und ist insbesondere methodisch als hilfreich in der Ausübung von Mediation anzusehen, doch ist die mäeutische Ver164
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mittlung im Vergleich zu den gängigen Formen der Vermittlung in der Mediation schon grundsätzlich radikaler, da sie den Gesprächspartner ganz bewusst in die Aporie führt, während beim Verfahren der Mediation das bewusste Erzeugen einer Aporie beim Gesprächspartner im Regelfall nicht angestrebt wird. Die sokratische Mäeutik ist auch nicht auf ein methodisches Verfahren in der Mediation zu reduzieren, da Mediation in der geläufigen Bedeutung weder den methodischen Tiefgang der Mäeutik pflegt, noch eine Umkehr der Persönlichkeit des Gesprächspartners im Sinn der Mäeutik anstrebt. Und wenngleich gerade der zum »Philosophen« Ausgebildete grundlegende Voraussetzungen im Hinblick auf die Ausübung von Mediation zu erfüllen verspricht, ist eine spezielle Aus- und Weiterbildung im Bereich der Mediation für jede Profession in der Regel unumgänglich. Der sokratische Philosoph, der über ein reflektiertes Bewusstsein vom Guten verfügt, agiert hingegen als ein Vermittler zwischen dem idealen Sein, das als eine dem Menschen übergeordnete Instanz das dauerhaft wie vollkommen Gute symbolisiert, und dem menschlichen Sein, das mehr als Manifestation geläufiger Meinungen über das Gute zu verstehen ist. Da aber das vom sokratischen Philosophen in seiner Vermittlung angestrebte dauerhaft Gute ein Ideal ist, welches für den Menschen unerreichbar ist, schlägt er gleichsam eine Brücke zum vollkommen Guten, indem er es ermöglicht, dass sich die im Hinblick auf das Gute unwissenden Menschen am dauerhaft wie vollkommen Guten orientieren können. Die Idee vom dauerhaft wie vollkommen Guten wird auf diese Weise zum Orientierungspunkt für ein dem Menschen mögliches gutes Leben und der sokratische Philosoph mit seiner Lebensform zum lebendigen Vorbild dafür. So vermittelt der sokratische Philosoph einen Einblick in sein philosophisches Leben, welches, orientiert am Guten, ein Leben in Bewusstheit und Klarsichtigkeit ist und eröffnet seinen Gesprächspartnern damit einen Ausblick auf ein zwar nicht gewöhnliches, doch von Glückseligkeit geprägtes Leben. Zur Vermittlung von Glückseligkeit, die sich bei Sokrates letztlich immer auf das gute Leben der Allgemeinheit, auf die Sozietät bezieht, reicht aber ein vorbildliches Leben allein nicht aus. Dazu ist noch eine besondere Kunst notwendig, ein ernsthaftes Tun des sokratischen Philosophen erforderlich, welches darin besteht, dem Gesprächspartner mittels logoi Einsichten zu vermitteln, welche nicht ohne Wirkung bleiben, sondern dem Einsichtigen wie auch dem Vermittler der Einsichten helfen, den Prozess der Vermittlung im Hinblick auf die anzustrebende Glückseligkeit in Sokratische Selbstsorge
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Gang zu halten. Es ist die Begabung des sokratischen Philosophen andere Menschen die Kunst der philosophischen Dialektik lehren zu können, deren inhaltliches Kernanliegen darin besteht, die Frage nach dem guten Leben als die wesentliche Fragestellung für uns Menschen bewusst zu halten.
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Anhang
I.
Verzeichnis verwendeter Literatur
a.
Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare
Aristophanes, Die Wolken. Übersetzung, Nachwort und Anmerkungen von Otto Seel, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1963 (2. Auflage 2001) Aristoteles, Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von Olof Gigon, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1991 (4. Auflage 2000) –, Metaphysik, auf der Grundlage der Bearbeitung von Héctor Carvallo und Ernesto Grassi. Übersetzt von Hermann Bonitz, neu herausgegeben von Ursula Wolf, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1994 (3. Auflage 2002) –, Sophistische Widerlegungen (Organon VI). Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Felix, Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1968 (Unveränderter Nachdruck der zweiten Auflage von 1922) Aurel, Marc, Selbstbetrachtungen. Übersetzung, Einleitung und Anmerkungen von Albert Wittstock, Phillip Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1949 (2. Auflage 2005) Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt unter Mitarbeit sowie mit Vorwort von Hans Günter Zekl. Mit Einleitung und neuen Anmerkungen versehen von Klaus Reich, Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1998 Epiktet, Handbüchlein der Moral, Zweisprachig: Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Kurt Steinmann, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2006 –, Wege zum glücklichen Handeln. Aus dem Griechischen übertragen von Wilhelm Capelle, Insel Verlag (insel taschenbuch 1458), Frankfurt am Main und Leipzig 1992 Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Zweisprachig: Griechisch/ Deutsch. Herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim, Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1989 Herodot, Historien, Erstes Buch, Zweisprachig: Griechisch/ Deutsch. Übersetzt von Christine Ley-Hutton. Herausgegeben von Kai Brodersen, Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart 2011
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Anhang Homer, Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt. Mit zwölf antiken Vasenbildern, Insel Verlag (insel taschenbuch 153), Frankfurt am Main und Leipzig 1975 Platon, Sämtliche Werke. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher, auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, neu herausgegeben von Ursula Wolf, 4 Bde., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1994 (28. Auflage 2002) Platon, Gorgias oder Über die Beredsamkeit. Nach der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Herausgegeben von Kurt Hildebrandt, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1961 (3. revidierte Auflage 2003) Seneca, Lucius Annaeus, Philosophische Schriften. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto Apelt, 4 Bde., Felix Meiner Verlag, Hamburg 1993 Die Sophisten. Ausgewählte Texte. Zweisprachig: Griechisch/ Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Thomas Schirren und Thomas Zinsmaier, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2003 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Übersetzt und herausgegeben von Helmuth Vretska und Werner Rinner, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2002 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und deutsch von Hermann Diels, 5. Auflage. Herausgegeben von Walther Kranz, 3 Bde., Berlin: Weidmann 1934–37 (= DK) Die Vorsokratiker. Die Fragmente und Quellenberichte. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Capelle, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1968 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates. Übersetzung und Anmerkungen von Rudolf Preiswerk. Nachwort von Walter Burkert. Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2002
b.
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Anhang Kersting, Wolfgang, Einleitung: Die Gegenwart der Lebenskunst, in: Kritik der Lebenskunst. Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007 Klammer, Irmgard C./Bauer, Sabine, Denken entlang des Herzens. Praktische Philosophie, Books on Demand GmbH, Norderstedt 2003 Knape, Joachim, Was ist Rhetorik? Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2000 Kniest, Christoph, Sokrates. Zur Einführung, Junius Verlag GmbH., Hamburg 2003 Kobusch, Theo, Wie man leben soll: Gorgias, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 47–63 Krämer, Hans Joachim, Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte der platonischen Ontologie, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1959 –, Platons Ungeschriebene Lehre, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 249–275 Küchenhoff, Joachim, Die Grenzen des Selbst: der Andere und der Körper, in: Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse, Angehrn, Emil/Küchenhoff, Joachim (Hrsg.), Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2009, 272–291 Kühn, Rolf, Sinn–Sein–Sollen. Beiträge zu einer phänomenologischen Existenzanalyse in Auseinandersetzung mit dem Denken Viktor E. Frankls. Hochschulschriften Philosophie, Band 6, Junghans-Verlag, Cuxhaven 1991 Mader, Johann, Von Parmenides zu Hegel. Einführung in die Philosophie I, WUV-Universitätsverlag, Wien 1992 Martens, Ekkehard, Sokrates. Eine Einführung, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 1992 (2. überarbeitete und erweiterte Auflage 2004) Mojsisch, Burkhard, »Dialektik« und »Dialog«: Politeia, Theaitetos, Sophistes, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/ Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 167–180 Nehamas, Alexander, Philosophischer Individualismus, aus dem Englischen übersetzt von Katrin Grünepütt, in: Kritik der Lebenskunst. Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 149–178 Nelson, Leonard, Die sokratische Methode, 2002, in: Das sokratische Gespräch, Birnbacher, Dieter/Krohn, Dieter (Hrsg.), Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2002, 21–72 Niehues-Pröbsting, Heinrich, Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2004 Niehaus, Michael/Wisniewski, Roger, Management by Sokrates, Cornelsen Verlag Scriptor GmbH & Co. KG, Berlin 2009 Pleger, Wolfgang H., Die Vorsokratiker. J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung (Sammlung Metzler, Band 265), Stuttgart 1991
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A https://doi.org/10.5771/9783495813515 .
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Anhang Rabbow, Paul, Seelenführung. Methodik und Exerzitien in der Antike, München 1954 Raupach-Strey, Gisela, Das sokratische Paradigma und die Diskurstheorie, in: Das sokratische Gespräch, Birnbacher, Dieter/Krohn, Dieter (Hrsg.), Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2002, 106–139 Reale, Giovanni, Die Begründung der abendländischen Metaphysik: Phaidon und Menon, aus dem Italienischen übersetzt von Hans Krämer, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 64– 80 Reese-Schäfer, Walter, Antike politische Philosophie. Zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg 1998 Rehn, Rudolf, Der entzauberte Eros: Symposion, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 81–95 Ries, Wiebrecht, Die Philosophie der Antike. Hans-Georg Gadamer zum Gedächtnis, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005 Röd, Wolfgang, Kleine Geschichte der antiken Philosophie. C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, München 1998 Safranski, Rüdiger, Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare, Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 1993 –, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, Carl Hanser Verlag, München Wien 1997 Sauvage de, Dagmar, Krise der Philosophie im Zeitalter wissenschaftlich-technischer Rationalität, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2002 Schmid, Wilhelm, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998 –, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004 Schnädelbach, Herbert, Philosophie. Das ontologische Paradigma, in: Philosophie. Ein Grundkurs, Band 1. Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert (Hrsg.), Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1985 (Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 1991), 37–76 Schopenhauer, Arthur, Aphorismen zur Lebensweisheit. Mit einer Einführung und begleitenden Texten. Herausgegeben von Edition philosophie Magazin, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2016 Sellars, John, Téchnê perì tòn bíon, Zur stoischen Konzeption von Kunst und Leben 573, aus dem Englischen übersetzt von Katrin Grünepütt, in: Kritik der Lebenskunst. Kersting, Wolfgang/Langbehn, Claus (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 91–117 Der Band »Kritik der Lebenskunst« macht darauf aufmerksam, dass das von J. Sellars in seinem Beitrag verwendete Material sich auf Forschungsergebnisse stützt, die erstmals veröffentlicht wurden in: Sellars, John, The Art of Living. The Stoics on the Nature and Function of Philosophy, Aldershot 2003.
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Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer https://doi.org/10.5771/9783495813515 .
Anhang Sloterdijk, Peter, Du mußt dein Leben ändern, Über Anthropotechnik, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009 Stavemann, Harlich H., Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung, Eine Anleitung für Psychotherapeuten, Berater und Seelsorger, Beltz Verlag, Weinheim, Basel 2007 (2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage) Stemmer, Peter, Platons Dialektik. Die frühen und mittleren Dialoge, Berlin 1992 Szlezák, Thomas Alexander, Mündliche Dialektik und schriftliches ›Spiel‹ : Phaidros, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 115–130 Taureck, Bernhard H. F., Die Sophisten. Zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg 1995 Taylor, C. C. W., Socrates. Oxford University Press, Oxford 1998. Deutsche Übersetzung von Katja Vogt, Sokrates. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1999 Thiel, Detlev, »Sokrates, derjenige, der nicht schreibt.« Platons Stoicheiologie, in: Wiener Arbeiten zur Philosophie. Reihe B: Beiträge zur philosophischen Forschung, Band 9, Literalität und Oralität, Haltmayer, Stephan/ Aigner, Armin (Hrsg.), Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2005, 83–113 Trawny, Peter, Die Fremdheit der Philosophie nach Sokrates, in: Das Fremde im Selbst – Das Andere im Selben. Transformationen der Phänomenologie, Flatscher, Matthias/Loidolt, Sophie (Hrsg.), Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2010, 251–263 Vetter, Helmuth, Die Philosophie der europäischen Antike, I. Teil, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien 2003 –, Die Philosophie der europäischen Antike, II. Teil: Von Aristoteles zum Neuplatonismus, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien 2003 Vlastos, Gregory, Socrates. Ironist and Moral Philosopher, Cambridge University Press, Cambridge 1991 Warsitz, Rolf-Peter, Konstruktion und Dekonstruktion des Selbst, in: Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse, Angehrn, Emil/ Küchenhoff, Joachim (Hrsg.), Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2009, 232–254 Wieland, Wolfgang, Platon und die Formen des Wissens. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982 (2. durchgesehene und um einen Anhang und ein Nachwort erweiterte Auflage, Göttingen 1999) –, Das sokratische Erbe: Laches, in: Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuer Forschungen, von Kobusch, Theo/Mojsisch, Burkhard (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1996, 5–24 Winkler-Calaminus, Martina, Ist ein Philosophischer Praktiker Philosoph?, in: Agora, Zeitschrift für Philosophische Praxis, Heft 7, 1989, 5 Wolf, Ursula, Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1999 –, Die Suche nach dem guten Leben. Platons Frühdialoge, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1996 Sokratische Selbstsorge
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Anhang Im Kontext von »Mediation« verwendete Literatur Alexander, Nadja, Wirtschaftsmediation in Theorie und Praxis. Eine deutschaustralische Studie, Peter Lang GmbH, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 1999 Altmann, Gerhard/Fiebiger, Heinrich/Müller, Rolf, Mediation: Konfliktmanagement für moderne Unternehmen, Beltz Verlag, Weinheim und Basel (2. aktualisierte und neu ausgestattete Auflage 2001) Dulabaum, Nina L., Mediation: Das ABC. Die Kunst, in Konflikten erfolgreich zu vermitteln. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 1998 Falk, Gerhard/Heintel, Peter/Pelikan, Christa (Hrsg.), Die Welt der Mediation. Entwicklung und Anwendung eines interdisziplinären Konfliktregelungsverfahrens. Mit Beiträgen unter anderem von Gerhard Falk, Peter Heintel, Roland Proksch, Nina L. Dulabaum, John M. Haynes, Barbara Filner, Josef Dussvon Werdt, Alekto Verlag und A.I.D.A. Marketing & Werbung GmbH, Klagenfurt 1998 Falk, Gerhard, Mediation, Kompetenzen, in: Die Welt der Mediation. Entwicklung und Anwendung eines interdisziplinären Konfliktregelungsverfahrens, Falk, Gerhard/Heintel, Peter/Pelikan, Christa (Hrsg.), Alekto Verlag und A.I. D.A. Marketing & Werbung GmbH, Klagenfurt 1998, 288–308 –, Die Welt der Mediation, Einleitung, in: Die Welt der Mediation. Entwicklung und Anwendung eines interdisziplinären Konfliktregelungsverfahrens, Falk, Gerhard/Heintel, Peter/Pelikan, Christa (Hrsg.), Alekto Verlag und A.I.D.A. Marketing & Werbung GmbH, Klagenfurt 1998, 9–15 Gamber, Paul, Konflikte und Agressionen im Betrieb, Problemlösungen mit Übungen, Tests und Experimenten, mvg-verlag im Verlag Moderne Industrie AG, München, Landsberg am Lech (2. Auflage 1995) Lenz Christina/Mueller Andreas, Businessmediation – Einigung ohne Gericht, mi, Verlag Moderne Industrie, Landsberg am Lech 1999 Mahlmann, Regina, Konflikte managen, Psychologische Grundlagen, Modelle und Fallstudien, Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2000 (2. aktualisierte und neu ausgestattete Auflage 2001) Redlich, Alexander, Konflikt – Moderation: Handlungsstrategien für alle, die mit Gruppen arbeiten. Moderation in der Praxis, Band 2, Schrader, Einhard (Hrsg.), Windmühle GmbH Verlag und Vertrieb von Medien, Hamburg 1996 Redlich, Alexander/Elling, Jens R., Potential: Konflikte. Ein Seminarkonzept zur KonfliktModeration und Mediation für Trainer und Lerngruppen. Moderation in der Praxis, Band 7, Schrader, Einhard (Hrsg.), Windmühle GmbH Verlag und Vertrieb von Medien, Hamburg 2000 Proksch, Roland, Curriculum einer Mediationsausbildung. Lehrbrief 5, in: Zeitschrift für Konflikt-Management, Ausgabe 1/2000, 28–34 Strempel, Dieter (Hrsg.), Mediation für die Praxis: Recht, Verfahren, Trends. Mit Beiträgen unter anderem von Reiner Bastine, Andrea Budde, Hannelore Diez, Roland Proksch, Dieter Strempel, Birgit Weinmann-Lutz, Rudolf Haufe Verlag GmbH & Co. KG, Freiburg – Berlin 1998
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Anhang Strempel, Dieter, Mediation in Rechtspflege und Gesellschaft. Eine Einführung, in: Mediation für die Praxis: Recht, Verfahren, Trends, Strempel, Dieter (Hrsg.), Rudolf Haufe Verlag GmbH & Co. KG, Freiburg – Berlin 1998, 7–18 Töpel, Elisabeth/Pritz, Alfred (Hrsg.): Mediation in Österreich. Mit Beiträgen unter anderem von Gerhard Falk, Peter Heintel, Norbert Koblinger, Gerhard C. Fürst, Elisabeth Töpl, Klaus Rückert, Verlag Orac, Wien 2000 Wittschier, Bernd M., Konfliktzünder Zeit. Wirtschaftsmediation in der Praxis, Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler GmbH, Wiesbaden 2000 Wolz-Gottwald, Eckard, Mediation – Ein neues Feld philosophischer Praxis, in: Information Philosophie (1) 2001, 78–83.
c.
Hilfsmittel, Lexika und Zeitschriften
Hilfsmittel, Lexika: Arbeitsmarktservice Österreich, Akademische Berufe, Berufslexikon, Band 4, 1997 (1. Auflage) –, Akademische Berufe, Berufslexikon, Band 3, 2003/2004 (5. aktualisierte Auflage) –, Akademische Berufe, Berufslexikon, Band 3, 2012/2013 (9. aktualisierte Auflage) Aster, Ernst von, Die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Geschichte der Philosophie. Stuttgart, Alfred Kröner Verlag (17. ergänzte Auflage 1980) Dunshirn, Alfred, Griechisch für Philosophen. Originaltexte mit Übersetzungen und Erläuterungen, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien 2007 Hügli, Anton/Lübcke, Poul, Philosophielexikon, Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1991 Martens, Ekkehard/Schnädelbach, Herbert (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Band 1, Rowohlt Taschenbuchverlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1985 (Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 1991) Noack, Hermann, Allgemeine Einführung in die Philosophie. Probleme ihrer gegenwärtigen Selbstauslegung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991 (4. Auflage) Rehfus, Wulff D., Einführung in das Studium der Philosophie, (UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher; 1138), Verlag Quelle & Meyer, Heidelberg und Wiesbaden 1981 (2., völlig überarbeitete Auflage 1992) Volpi, Franco/Nida-Rümelin, Julian (Hrsg.), Lexikon der philosophischen Werke, Redaktionell verantwortliche Mitherausgeber Koettnitz, Maria/Olechnowitz, Harry, (Kröners Taschenbuchausgabe; Bd. 486), Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1988 Wuchterl, Kurt, Methoden der Gegenwartsphilosophie. (UTB für Wissenschaft: Uni Taschenbücher; 646), Verlag Paul Haupt, Bern und Stuttgart 1987 (2., verbesserte und neubearbeitete Auflage)
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Anhang Zeitschriften: Agora, Zeitschrift für Philosophische Praxis, Heft 7, 1989 Good Life, Österreichs Magazin für mehr Lebensqualität, Kercselics, Johann (Hrsg.), Mai/Juni 2005 Zeitschrift für Konflikt-Management, 3. Jahrgang, Heft 1, Rudolf Haufe Verlag und Verlag Dr. Otto Schmidt, 2000 –, 10. Jahrgang, Heft 3, Verlag Dr. Otto Schmidt KG, Köln Mai/Juni 2007
d.
Weitere Medien: Radiosendungen, Internet, CD-ROM
Radiosendungen: Café Philo. Philosophische Praxis. Mit Beiträgen von Werner Gabriel, Walter Zeidler, Hans Saner und anderen, Radio Österreich 1, Salzburger Nachtstudio am 10. 2. 1999 Mediation. Radio Österreich 1, Radiokolleg, vom 13.–16. 9. 1999 Die stille Zunft. Philosophische Praxis. Mit Beiträgen von Peter Kampits, Konrad Paul Liessmann, Rudolf Burger und anderen, Radio Österreich 1, Salzburger Nachtstudio am 11. 7. 2001 Dialog als Therapie. Radio Österreich 1, Salzburger Nachtstudio am 21. 8. 2002 Sinnfrage. Mit Beiträgen von Rolf Kühn, Alfred Längle und anderen, Radio Österreich 1, Salzburger Nachtstudio (Wiederholung der Sendung vom 10. 5. 2000) Der pädagogische Eros. Der Philosoph als Erzieher. Mit Beiträgen von Hans Saner, Eugen-Maria Schulak und anderen, Radio Österreich 1, Radiokolleg, vom 25.–28. 10. 2004 Kämpfen, Flüchten oder Sich-Anpassen? Mit Konflikten leben lernen, Radio Österreich 1, Radiokolleg, vom 21.–24. 6. 2004 Die Kunst des Redens. Rhetorik in Alltag und Wissenschaft. Mit Beiträgen von Joachim Knape und anderen, Radio Österreich 1, Salzburger Nachtstudio am 23. 2. 2005 Internet: Achouri, Cyrus, Der Philosoph in der Wirtschaft. Der Zusammenhang von Systemtheorie und sokratischer Maieutik, in: Information Philosophie, 2001. (Abgerufen am 13. 03. 2002; URL: http://www.information-philosophie.de/ philosophie/mediation.html) Martens, Ekkehard, Sokratische Mäeutik und Mediation heute, in: Zeitschrift für Konfliktmanagement. Ausgabe 1/2001, 16–19. (Abgerufen am 13. 03. 2002; URL: http://www.centrale-fuer-mediation.de/seminare/martensvor trag.htm)
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Anhang CD-ROM: Pape, Wilhelm, Griechisch – Deutsch, Altgriechisches Wörterbuch, Neusatz und Faksimile der ersten beiden Bände des berühmten »Handbuchs der griechischen Sprache« von W. Pape (Bd. 1: Alpha-Kappa, Bd. 2: Lambda-Omega, bearbeitet von Max Sengebusch, 3. Auflage, 6. Abdruck, Braunschweig: Vieweg & Sohn, 1914), Directmedia Publishing GmbH (Digitale Bibliothek 117), Berlin 2005
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Anhang
II.
Erläuterungen zur Übersetzung und Zitation
– Zitate aus den Textausgaben werden im Allgemeinen nach den im Literaturverzeichnis angeführten Übersetzungen wiedergegeben. – Platons Werke werden nach den Seiten und Abschnitten der Ausgabe von Henricus Stephanus (Paris 1578) zitiert: Titel des Werkes, Zahl und Buchstabe für Seite und Abschnitt (z. B. Gorgias 500c). Die Übersetzung von Platons Werken folgt ausschließlich der Ausgabe: Sämtliche Werke, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck, neu herausgegeben von Ursula Wolf, 4 Bde., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1994 (28. Auflage 2002) – Aristoteles’ Werke werden nach den Seiten, Spalten und Zeilen 574 der Ausgabe von Immanuell Bekker (Berlin 1831) zitiert und (sofern vorhanden) durch die entsprechende Buch- und Kapitelnummer ergänzt: Name des Autors, Titel des Werkes, Buch- und Kapitelnummer, Zahl, Buchstabe und Zahl für Seite, Spalte und Zeile (z. B. Metaphysik, I 1, 982a32–982b3) – Gorgias’ Werke werden ausschließlich zitiert nach der Ausgabe: Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien. Zweisprachig: Griechisch/ Deutsch. Herausgegeben mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim, Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1989 – Zitate aus der Sekundärliteratur werden in den Anmerkungen meist in einer verkürzten Form nachgewiesen: Autor, Kurztitel, Erscheinungsjahr der verwendeten Literatur, Seitenzahl (z. B. U. Wolf, Die Suche nach dem guten Leben, 1996, 29 f.) – Griechische Wörter werden kursiv in runden Klammern oder nur kursiv ohne entsprechende Akzente und ohne Angabe der Länge oder Kürze der Vokale transkribiert. – In Zitaten in eckige Klammern gesetzte Ergänzungen sind vom Autor zur besseren Verständlichkeit oder zur leichteren Lesbarkeit hinzugefügte Termini (z. B. Denn Eros ist der »Natur seiner Mutter [Penia: Mangel] gemäß immer der Dürftigkeit Genosse.«)
Die in der vorliegenden Arbeit ausgewiesenen Zeilennummern weichen von der »Bekker-Ausgabe« dann ab, wenn bereits die verwendete Übersetzung diese Abweichung beinhaltet. Kann ein Zitat zudem nicht exakt den Zeilennummern in der verwendeten Übersetzung zugeordnet werden, wird eine möglichst genaue Annäherung versucht. Ein völliger Verzicht auf die Angabe von Zeilennummern wurde aufgrund der angenommenen, noch größeren »Ungenauigkeit« unterlassen. Vgl. dazu auch das Vorwort von U. Wolf zur Neuauflage der »Metaphysik« des Aristoteles (Metaphysik, übersetzt von Hermann Bonitz, neu herausgegeben von Ursula Wolf, Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1994 (3. Auflage 2002)).
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Personenregister
III. Personenregister Achenbach, Gerd B. 15, 28, 40, 91, 114, 117, 127, 134–136, 154, 156, 158 Achouri, Cyrus 113, 126–127 Alexander, Nadja 112, 115–116, 119 Anaxagoras 131, 148 Andronikos von Rhodos 68 Angehrn, Emil 30, 40 Antisthenes 154 Aristippos aus Kyrene 128 Aristophanes 11, 20 Aristoteles 11, 14, 19–21, 23, 25, 28, 52, 55, 58, 61, 68–74, 83, 108, 129, 144, 146, 180 Aster, Ernst von 75 Aurel, Marc 78, 97, 101, 107, 155–156, 159 Bauer, Sabine 136 Bayertz, Kurt 26 Berger, Wilhelm 59, 149, 151 Birnbacher, Dieter 50, 110, 148 Böhme, Gernot 11, 13–14, 17, 21, 27, 30, 33, 41–43, 49, 55, 59, 81, 108, 111, 138, 146, 152, 160 Bordt, Michael 12, 21, 23, 137, 144, 157 Borsche, Tilman 107 Buchheim, Thomas 37, 75, 77, 83–86, 88, 90, 93–95 Capelle, Wilhelm 20, 74, 76, 84, 91, 132 Colli, Gorgio 18, 22 Diogenes Laertius 19–20, 22, 58, 83, 89, 93–94, 101, 128, 154 Diogenes von Sinope 101 Driever, Ralph 98 Dulabaum, Nina L. 114 Dunshirn, Alfred 22, 32, 69, 79 Empedokles 83 Epiktet 106, 133 Epikur 105
Erler, Michael 12, 25, 32, 39, 51, 56, 68, 138, 141, 144, 158–159 Falk, Gerhard 112, 126 Figal, Günter 11, 26–27, 31–32, 38, 145–147, 149 Foucault, Michel 11, 30, 34–36 Frede, Dorothea 54 Gabriel, Werner 127 Gadamer, Hans-Georg 17, 25, 32–33, 52, 54, 65, 114, 150, 158 Gaiser, Konrad 23, 59, 161 Geyer, Carl-Friedrich 22 Gorgias von Leontinoi 83–88, 180 Hadot, Pierre 11, 15, 24, 26, 28, 36, 72, 102–103, 105, 109, 134, 137, 139, 152, 159, 161 Haltmayer, Stephan 92 Hardy, Jörg 32, 37, 143–145, 150, 152, 155 Hare, R. M. 14, 52, 155 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28 Heidegger, Martin 42, 60, 139 Heintel, Erich 57 Heintel, Peter 59, 134, 149, 151 Henrich, Dieter 11, 16 Heraklit 19, 104 Herodot 19 Hildebrandt, Kurt 78, 107 Höffe, Otfried 11, 47, 64 Homer 19 Horn, Christoph 11, 38, 73, 105 Hügli, Anton 54 Jaspers, Karl 51, 113, 122, 138–139, 154, 156, 160–161 Kahn, Charles 12 Kant, Immanuel 65, 149 Karl, Jacqueline 17, 23, 30, 33–35, 38– 40, 43, 48, 53, 139, 141–142 Kersting, Wolfgang 11, 16, 36, 96
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Anhang Klammer, Irmgard C. 136 Kniest, Christoph 13, 27, 33, 55, 146– 147, 154, 157–158 Kobusch, Theo 11, 53, 82, 113 Krämer, Hans Joachim 23 Krohn, Dieter 110 Küchenhoff, Joachim 34 Kühn, Rolf 141 Lübcke, Poul 54 Macho, Thomas H. 134 Mader, Johann 24, 73 Martens, Ekkehard 11, 14, 24, 55, 99– 100, 112, 115, 146, 150 Mojsisch, Burkhard 150 Morris, Tom 134 Nehamas, Alexander 11, 62 Nelson, Leonard 14–15, 110 Niehaus, Michael 16, 63, 98–99 Niehues-Pröbsting, Heinrich 67, 69– 70, 73, 129, 137 Noack, Hermann 24 Parmenides 85 Pleger, Wolfgang H. 60, 88 Proksch, Roland 119 Pythagoras 19 Rabbow, Paul 105 Raupach-Strey, Gisela 14 Reale, Giovanni 23, 93 Reese-Schäfer, Walter 78, 82, 128 Rehfus, Wulff D. 51, 56 Rehn, Rudolf 108, 138, 155 Ries, Wiebrecht 18, 47, 72–73, 94 Röd, Wolfgang 76, 84, 92, 133 Safranski, Rüdiger 44, 59, 97, 153 Sauvage de, Dagmar 62, 157
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ALBER THESEN
Schirren, Thomas 21, 25, 76 Schmid, Wilhelm 11, 13, 17, 31, 37– 38, 97, 103, 109, 142 Schnädelbach, Herbert 19, 21, 24, 68 Schopenhauer, Arthur 40, 91, 100, 106, 114, 130 Sellars, John 11, 142, 174 Seneca, Lucius Annaeus 66 Sloterdijk, Peter 37, 47, 77, 105, 110, 135 Stavemann, Harlich H. 50, 110–111, 113, 115, 153, 156, 160 Strempel, Dieter 112 Szlezák, Thomas Alexander 23 Taureck, Bernhard H.F. 21, 75–76, 84, 90 Taylor, C.C.W. 11, 21, 48, 55, 57, 89 Thales von Milet 19 Thiel, Detlev 23 Thukydides 19, 132 Trawny, Peter 29, 48, 137 Vetter, Helmuth 72, 129, 131, 139 Warsitz, Rolf-Peter 34 Wieland, Wolfgang 23, 26, 44–46, 49, 52, 57, 60, 77, 149, 151, 158–159, 161 Winkler-Calaminus, Martina 136 Wisniewski, Roger 99 Wolf, Ursula 11, 13, 23, 25, 32, 38, 41, 46–48, 53, 56, 63–64, 70, 93, 103, 107, 143–145, 147–148, 150–151, 153, 155, 158–159 Wolz-Gottwald, Eckard 112 Wuchterl, Kurt 17 Xenophon 11, 23, 26, 74, 128, 153 Zenon von Elea 128 Zinsmaier, Thomas 21, 25, 76
Manfred Erich Leiter-Rummerstorfer https://doi.org/10.5771/9783495813515 .
https://doi.org/10.5771/9783495813515 .
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