Snorri Sturluson - Historiker, Dichter, Politiker 9783110336313, 9783110311365

The Icelandic historian, poet, and politician Snorri Sturluson was an exceptional figureof the Nordic Middle Ages. The e

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German Pages 310 Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Snorri Sturlusons Mythologie – Euhemerismus oder Analogie?
Snorri Sturlusons Konstruktion eines Deus omnipotens
Die ‚allzumenschlichen‛ Götter des Nordens – Zum Streit um den religionsgeschichtlichen Quellenwert der hochmittelalterlichen mythologischen Überlieferung
Snorri Sturluson as a historian of religions – The credibility of the descriptions of pre-Christian cultic leadership and rituals in Hákonar saga góða
Naivität und Kritik – Die altnordische Geschichtschreibung
Das Goldzeitalter – Latinität und Fragmente eines griechisch-römischen Mythos in der Gylfaginning
Útgarðaloki und die Britischen Inseln
Kurzweilige Wahrheiten – Ari und das Ynglingatal in den Prologen der Heimskringla
Snorri und die Skaldik
Snorri Sturluson statistisch
Snorra Edda and the Uppsala Edda
Snorri Sturluson und der isländische Weg zum Schatzland Norwegens
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Snorri Sturluson - Historiker, Dichter, Politiker
 9783110336313, 9783110311365

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Snorri Sturluson – Historiker, Dichter, Politiker

Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde

Herausgegeben von Heinrich Beck · Sebastian Brather · Dieter Geuenich · Wilhelm Heizmann · Steffen Patzold · Heiko Steuer

Band 85

Snorri Sturluson – Historiker, Dichter, Politiker Herausgegeben von Heinrich Beck · Wilhelm Heizmann · Jan Alexander van Nahl

ISSN 1866-7678 ISBN 978-3-11-031136-5 e-ISBN 978-3-11-033631-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegenden Band versammelt insgesamt 12 Aufsätze, die überwiegend auf den Vorträgen einer internationalen Tagung beruhen, welche im Rahmen der traditionsreichen Münchner Arbeitsgespräche vom 8.  – 9.  Oktober 2011 am Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München stattfand. Um den Band zu komplettieren, wurden darüber hinaus Beiträge von Matthias Egeler (Cambridge) und Jiří Starý (Prag) eingeworben. Werk und Person des isländischen Gelehrten Snorri Sturluson (1178/79–1241) sind in vieler Hinsicht herausragend, in manchem einzigartig, nicht allein im skandinavischen Raum, sondern im gesamteuropäischen Vergleich. Sein schriftliterarisches Erbe fordert Literatur-, Geschichts- und Religionswissenschaft seit über zwei Jahrhunderten heraus. Kennzeichnend für Snorri waren wissenschaftliche Interessen und dichterische Ambitionen. Zugleich aber erscheint er getrieben vom Streben nach Besitz und Macht. Sein rücksichtsloses Handeln, seine machtpolitischen Auseinandersetzungen mit den norwegischen Herrschern, nicht zuletzt vielleicht auch Differenzen in weltanschaulichen Fragen besiegelten schließlich seinen vorzeitigen Tod in den Kellerräumen seines Hofes Reykjaholt. Im Vergleich zu dieser Lebensgeschichte bleiben viele andere literarisch produktive Gestalten des nordischen Hoch- und Spätmittelalters ungleich schemenhafter. In den letzten Jahrzehnten hat Snorris literarisches Erbe immer wieder zu akademischem Disput herausgefordert; so 1990 am Sigurður-Nordal-Institut in Reykjavík, ein Jahr später dann in Freiburg im Breisgau sowie in Greifswald, um nur eine Auswahl zu nennen. Die Ergebnisse dieser Tagungen wurden 1992, 1993 und 1998 in je einem Sammelband publiziert. Man darf in diesen Bänden gewichtige Momentaufnahmen des Forschungsstandes am Ende des 20. Jahrhunderts sehen ‒ ein Forschungsstand indes, der seit der Jahrtausendwende thematische und methodische Entwicklungen erfahren hat. Auch wenn in einer zweihundertjährigen Forschungsgeschichte zweifellos Konsens in bestimmten Fragen erzielt wurde, so ist das Thema „Snorri“ doch weit davon entfernt, auch nur annähernd erschöpft zu sein. Der vorliegende Tagungsband vereint Fachvertreter aus Deutschland, England, Skandinavien, dem Baltikum und Tschechien. Er versteht sich als eine Bestandsaufnahme aktueller Thesen der Forschung, von denen manche bereits auf vorausgehende Publikationen zurückblicken, andere erstmals einer größeren Leserschaft vorgestellt werden. Die ersten sieben Beiträge beleuchten den Historiker und Mythologen Snorri aus unterschiedlicher Perspektive. Heinrich Beck (Bonn) skizziert gelehrte Deutungen des Heidentums von den Zeiten des Kirchenvaters Augustinus über die mittelalterliche Scholastik bis in jüngste Forschung, erörtert darin Konzepte des Euhemerismus und der Analogie und hinterfragt die Bezugsgrößen einer Relation zwischen paganer Mythologie und christlicher Lehre. Jan van Nahl (München) bedenkt wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge der philologischen Snorri-Forschung seit der Nachkriegszeit und diskutiert anhand von Snorris Konstruktion eines vorchristlichen Deus

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 Vorwort

omnipotens das methodische Potenzial von Wortschatzuntersuchungen. Thomas Krümpel (München) verfolgt die Entwicklung der Erforschung von Snorris Werk aus religionshistorischer Perspektive, hinterfragt den methodischen Zugang einzelner Forscher und plädiert für eine verstärkte Zusammenarbeit von Vertretern der Philologie, Religionswissenschaft und Kulturanthropologie. Olof Sundqvist (Uppsala/Gävle) legt den Fokus auf Snorris Hákonar saga góða und diskutiert kritisch den religionshistorischen Quellenwert einzelner Passagen im Vergleich mit Runeninschriften, Skaldendichtung und jüngsten archäologischen Erkenntnissen. Jiří Starý (Prag) erörtert in der Gegenüberstellung von Snorris Heimskringla und Saxo Grammaticus‘ Gesta Danorum mittelalterliche Konzepte der Historiographie hinsichtlich ihres Verständnisses von Wahrheit und Rationalität. Matthias Teichert (Göttingen) diskutiert eine potenzielle Adaption des antiken Mythos vom ‚Goldenen Zeitalter‘ in Gylfaginning und Vǫluspá unter narrativen und strukturellen Gesichtspunkten. Matthias Egeler (Cambridge) richtet den Blick über skandinavische Grenzen hinaus auf die schriftliterarische Überlieferung der Britischen Inseln: Anhand der Episode von Þórrs Fahrt zu Útgarða-Lóki diskutiert er Möglichkeiten inselkeltischer Einflussnahme auf die nordische Mythologie. Eine Verbindung von Snorri dem Historiker und Snorri dem Dichter eröffnet Richard North (London) in seinem Beitrag zu Snorris methodischem Umgang mit dem Gedicht Ynglingatal, das sich einerseits durch ein hohes Maß an Ironie auszeichne, andererseits aber zum Grundstein für die historiographische Ynglinga saga wurde. Edith Marold (Kiel) thematisiert danach grundlegend Snorris Einstellung zur Skaldik: In exemplarischer Analyse des Ynglingatal diskutiert sie Snorris Konzeption von genealogischen Gedichten im Kontext einer Auseinandersetzung mit heidnischer Vergangenheit. Rudolf Simek (Bonn) unternimmt den Versuch, Snorris viel gerühmte Kenntnis poetischer Quellen in konkrete Zahlenwerte zu übersetzen und dessen Auswahl bestimmter Gedichte und Strophen zu begründen. Einen anderen Zugang zu Snorris Werk erprobt Daniel Sävborg (Tartu): Anhand eines stilistischen Vergleichs der verschiedenen Fassungen der Snorra-Edda diskutiert er die Möglichkeit, dass die älteste überlieferte Handschrift U das Ergebnis einer Umarbeitung durch mindestens zwei Redaktoren darstellt. Dieter Strauch (Köln) beschließt den Band mit einer eingehenden Verortung des Sturlungengeschlechts in den vielschichtigen politischen und rechtlichen Entwicklungen Islands und Norwegens im 13. und 14. Jahrhundert. Die vielfältigen Interessen Snorris erlauben nicht weniger mannigfaltigen Zugang zu ihm und so eröffnen die vorliegenden Beiträge ein weites Spektrum der Interpretation, das die kritische Diskussion herausfordert. Fraglos stellt Snorri Sturluson auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen Forschungsschwerpunkt dar, dessen Methoden, Themen und Erkenntnisse ein weites Feld der Mittelalterforschung berühren. Die Herausgeber, im Mai 2013

Inhaltsverzeichnis Vorwort 

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Heinrich Beck Snorri Sturlusons Mythologie – Euhemerismus oder Analogie?  Jan Alexander van Nahl Snorri Sturlusons Konstruktion eines Deus omnipotens  

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Thomas Krümpel Die ‚allzumenschlichen‛ Götter des Nordens – Zum Streit um den religionsgeschichtlichen Quellenwert der hochmittelalterlichen mythologischen Überlieferung   49 Olof Sundqvist Snorri Sturluson as a historian of religions – The credibility of the descriptions of pre-Christian cultic leadership and rituals in Hákonar saga góða   71 Jiří Starý Naivität und Kritik – Die altnordische Geschichtschreibung 

 93

Matthias Teichert Das Goldzeitalter – Latinität und Fragmente eines griechisch-römischen Mythos in der Gylfaginning   129 Matthias Egeler Útgarðaloki und die Britischen Inseln 

 151

Richard North Kurzweilige Wahrheiten – Ari und das Ynglingatal in den Prologen der Heimskringla   171 Edith Marold Snorri und die Skaldik 

 217

Rudolf Simek Snorri Sturluson statistisch 

 235

Daniel Sävborg Snorra Edda and the Uppsala Edda 

 247

Dieter Strauch Snorri Sturluson und der isländische Weg zum Schatzland Norwegens 

 267

Heinrich Beck

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie? In memoriam Ute Schwab Abstract: This study contests the conventional notion that euhemerism (deification of extraordinary humans) and idolatry (satanic tempters) were the models with which the Scandinavian Middle Ages engaged in the transmission of their own mythology. According to this notion, the Icelandic historian Snorri Sturluson represents euhemerism, whereas the Danish theologian Saxo Grammaticus adheres to the idea of gods as satanic tempters. In its first section, this study addresses the current state of research and how this is represented in essay collections and encyclopedic entries. In further sections, this study seeks to construct an argument against the conventional interpretation of Snorri’s work, firstly by seeking to prove correlations between Snorra Edda (including Gylfaginning) and Heimskringla (including Ynglinga saga) on the one hand, and books of the New Testament on the other. In research up to the present, these correlations have enjoyed little attention. One obvious correlation lies in Snorri’s depiction of the death of Earl Hákon of Lade, who is said to succumb because ‘the time was come’ (sú tið var komin). This expression reflects the beginning of the heavenly kingdom: impletum est tempus et appropinquavit regnum Dei (Mark 1:15). Here Snorri shows himself to be the exponent of a historical theology, one which, in his view, also confirms the course of Nordic history. No less significant is the correlation which Snorri builds up at the end of Gylfaginning’s narrative frame. The explanation that the earthly Æsir and the Æsir depicted in the ginning are identical indicates the Christian message, in which the earthly Jesus explains himself to be one with the heavenly Father: Ego et pater unum sumus (John 10:30). In the polytheistic version, the statement unum sumus corresponds to allir væri einir. One might postulate a further correlation when Óðinn carries the heathen religion into the north with a company of twelve díar, who are reckoned to be ‘more like gods than men’ (líkari goðum en mǫnnum) because of their wondrous demeanour. During their travels, the twelve apostles also encountered people who wished to view them as gods (Acts 14:11: Dii similes facti hominibus). How are we to assess such correlations? Walter Baetke ends his (commendable) investigation ‘Die Götterlehre der Snorra-Edda’¹ with the enduring conclusion that belief in the gods, in Snorri’s view, depends on deceit and delusion. Anne Holtsmark furnishes the missing argument for this conclusion in her ‘Studier i Snorres mytologi’.² With the concept assosiasjon ved kontrast, she believed she could debunk the entire

1 Baetke 1950. 2 Holtsmark 1964.

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 Heinrich Beck

Óðinn theology as a devilish deceit, the Devil being at his most devilish when he uses Christian apparel. First it must be stated that Snorri quite obviously sought to establish correlations between the message of the Bible and Gylfaginning or Ynglinga saga. The Trinity, revelation, the explanation of unity, twelve companions: these are a few of the indications which point in this direction. The Fourth Lateran Council (1215) formulated the relationship between creator and created thus: that there can be no similarities between them without there being an even greater disparity. It seems that Snorri made this concept of analogy his own, in the sense of a similarity which finds expression in certain correlations between creator and created. While one must remember that similarities are always accompanied by dissimilarities, it is still ennobling for the pagan transmission to have a connection, one established by means of analogy, between the mythology which it transmits and the Christian message itself.

Es ist das Ziel der folgenden Ausführungen, eine Unterscheidung von Euhemerismus und Analogie in die Debatte um Snorris Sicht der heidnischen Vorzeit einzubringen. Euhemerismus ist  – auf einen vereinfachenden Nenner gebracht  – die Lehre, dass die heidnischen Wesen, die sich als Götter gerierten, in Wirklichkeit nur Menschen waren – Usurpatoren also, die sich Göttlichkeit anmaßten und nach ihrem Tod auch als Götter weiterverehrt wurden. Mythologie ist in dieser Sicht also eine Fälschung – die angeblichen Götter waren alle nur Menschen. Analogie andererseits meint in der Ähnlichkeit zweier Größen ein Gemeinsames, ein Analogon, erkennen zu können, also eine gewisse Gleichheit bei aller Ungleichheit im Detail zu sehen. In der theologischen Debatte fand die Analogie eine gültige Definition auf dem 4. Laterankonzil (von 1215), das im Fall der Gott-Mensch-Beziehung zwar die „so große Ähnlichkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf“ feststellte, zugleich aber ergänzte, dass eine „je immer größere Unähnlichkeit in der noch so großen Ähnlichkeit“ verbliebe.³ Aus den wenigen Andeutungen dürfte schon klar sein, dass zwischen Euhemerismus und Analogie kaum Übereinkünfte möglich sind. Wenn Snorri dem Euhemerismus anhing, konnte er keine Analogie zwischen der überlieferten Mythologie und der christlichen Lehre vertreten haben – und umgekehrt! Der Versuch einer Klärung dieser Beziehungen zwischen Euhemerismus und Analogie soll in vier Schritten erfolgen – und dies in einem Blick auf 1) 2) 3) 4)

die heutige Forschungslage die ‚Relationen‘ in Snorris Werk Relation und Analogie Analogie oder Euhemerismus

3 Coreth/Przywara 1957.

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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1 Die Forschungslage Sie ist rasch beschrieben. Drei gegenwärtige Publikationen, Werke, die einen gewissen übergreifenden, enzyklopädischen Charakter haben, mögen als Belege dienen: a) 2006 erschien der Tagungsband einer internationalen Konferenz in Lund (2004). Die Tagung war dem Thema „Old Norse religion in long-term perspectives“ gewidmet. Im letzten Beitrag dieser respektablen internationalen Sammlung von archäologischen, religionswissenschaftlichen und philologischen Analysen erklärt Margaret Clunies Ross,⁴ es sei heute wohlbekannt, dass es hauptsächlich zwei Wege gegeben habe, auf denen die mittelalterlichen skandinavischen Christen die heidnische Religion ihrer Vorfahren erklärt hätten  – entweder als täuschende Manifestationen Satans (so wie etwa Saxo Grammaticus in seinen Gesta Danorum verfuhr) oder als euhemeristische Explanationen, denen zufolge die alten Skandinavier glaubten, die Vorzeitreligion sei von außerordentlichen Männern und Frauen getragen gewesen, die sich fälschlich als Götter erklärt hätten. Snorri habe diese Ansicht besonders im Prolog zur Snorra-Edda und in den Kapiteln 1 bis 9 der Ynglingasaga vertreten. b) 2008 gab Stefan Brink in Zusammenarbeit mit Neil Price einen Sammelband „The Viking World“ heraus. In dieser umfassenden Kulturgeschichte der Wikingerzeit steuert Margaret Clunies Ross einen Artikel bei:⁵ „The Creation Of Old Norse Mythology“, in dem sie ihre schon genannte These wiederholt – also den Euhemerismus vertritt. Weitere religionsgeschichtliche Beiträge dieses Bandes von Anders Hultgård, Jens Peter Schjødt, Olof Sundqvist und Gro Steinsland lassen sich damit nicht ohne weiteres vereinbaren. Anmerkenswert ist in dieser Schule auch die Uppsalienser Dissertation von Neil S. Price, „The Viking Way. Religion and War in Late Iron Age Scandinavia“, mit seiner bedeutsamen Erweiterung des historiographisch-wikingerzeitlichen Horizonts im Blick auf die zirkumpolare Welt.⁶ c) An dritter Stelle sei genannt eine deutschsprachige Publikation, die neue fünfbändige Saga-Übersetzung des Fischer-Verlages von 2011. Klaus Böldl, Andreas Vollmer und Julia Zernack zeichnen als Herausgeber. Hier interessiert besonders der letzte Band  – ein Begleitband, der „den größeren kultur- und literaturgeschichtlichen Zusammenhang erschließt“. Dort wird auch Snorris Vorzeitsicht diskutiert. Die in Gylfaginning behandelten Mythen, so erklärt die Mitherausgeberin Julia Zernack, interesssieren Snorri „nicht als religiöses Wissen – daran dürften Christen, wie Snorri selbst sagt, nicht glauben“; für ihn seien sie eine Kulturtradition, „die allein dem

4 Clunies Ross 2006. 5 Clunies Ross 2008. 6 Price 2002.

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 Heinrich Beck

Norden zu eigen ist.“⁷ Um dieses Erbe bewahren zu können, mache Snorri sich ein theologisches Erklärungsmodell zunutze, den sogenannten Euhemerismus, dem zufolge heidnische Götter eigentlich nur Menschen waren, die nach ihrem Tod von anderen Menschen als Götter verehrt wurden. In diesem Sinne betrachte er (Snorri) die Asen als Kulturbringer, die – wie es eine etymologische Herleitung nach typisch mittelalterlichem Verständnis nahe lege  – aus Asien in den Norden eingewandert seien und dort eben jene spezifische Kultur etabliert hätten, „die den Norden von allen anderen Kulturregionen Europas abhebt und seine Identität gegen den Universalismus christlichen Geschichtsdenkens behauptet.“⁸ Allerdings steht im gleichen Zusammenhang ein Beitrag des Herausgebers Klaus Böldl unter dem allgemeinen Titel „Das Heidentum – Gegenteil oder Vorstufe des Christentums?“ dazu in einem gewissen Widerspruch. Klaus Böldl interpretiert die geschichtliche Situation des Nordens so: Die Heiden haben zwar das Offenbarungswissen, dessen ursprünglich die ganze Menschheit teilhaftig war, im Laufe der Zeit vergessen, sie entwickelten aber aus der Beobachtung der von Gott geschaffenen Natur einen, wenngleich defizitären, so doch nicht grundfalschen Glauben im Sinne einer Naturreligion.⁹

So argumentiere, nach Klaus Böldl, auch Snorri im Edda-Prolog. Weiter erklärt der Herausgeber: Das Konzept eines Heidentums, das nicht den teuflischen Gegenentwurf zur Heilslehre bildete, sondern lediglich dessen unvollkommene Vorform, eröffnete den Sagaautoren also die Möglichkeit, Frömmigkeit, im mittelalterlichen Denken der deutlichste Ausdruck von Rechtschaffenheit, auch den heidnischen Vorfahren zuzugestehen.¹⁰

Soweit also drei Zeugnisse in gegenwärtigen Ausgaben und Nachschlagewerken.¹¹ Sie stehen für weitere Äußerungen, die zu einem offensichtlich weithin gültigen gegenwärtigen Forschungsstand beitragen, der besagt, dass der Euhemerismus generell das altisländische Erklärungsmodell für die überlieferte heidnische Religion dar-

7 Böldl / Vollmer / Zernack 2011, S. 68. 8 Böldl / Vollmer / Zernack 2011, S. 68. 9 Böldl / Vollmer / Zernack 2011, S. 154. 10 Böldl / Vollmer / Zernack 2011, S. 156. 11 Bereits 1902 sprach Finnur Jónsson von „hans [d.i. Snorres] Syn paa de gamle Guder som oprindelig fremragende Mennesker (jordiske Høvdinger), hans euhemeristiske Opfattelse“ (Finnur Jónsson 1902, S. vii). Das Konzept einer ‚Vorform‘, einer ‚Vorstufe‘, könnte im theologischen Sinne ein Problem darstellen. Gemeint ist von Klaus Böldl ein Offenbarungswissen, das aus einer ‚Naturreligion‘ erwächst. Zu diesem Begriff erkärte Gerardus van der Leeuw, „die Beschränkung auf die Natur [ist für die Religion] nicht haltbar. Erstens ist die Natur nicht das Einzige in der Religion und nicht einmal die Hauptsache; zweitens aber sind es weder die Natur noch die Naturobjekte, welche der Mensch verehrt, sondern die sich in ihnen offenbarende Macht“ (van der Leeuw 1956, S. 38).

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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stelle. Eine gewisse Sonderstellung nimmt daneben das Konzept ‚Naturreligion‘ ein, das als ‚Vorform‘ der christlichen Heilslehre verstanden wird und auch den heidnischen Vorfahren eine gewisse Frömmigkeit einräumt. Ungeachtet dieser Forschungslage sei im Folgenden eine Gegenmeinung diskutiert – in Gestalt eines Gesprächangebotes, das neben dem Euhemerismus, der zweifellos auch ein zeitgemäßes Erklärungsmodell war,¹² und der so genannten Naturreligion, die Analogie ins Spiel bringt – und das beim Kronzeugen mittelalterlichen isländischen Denkens, Snorri Sturluson. Um die Dimensionen dieses kontroversen Gespräches zu verstehen, seien die Positionen dieses angeblichen Euhemerismus-Konzepts Snorris zunächst in ihrem Kontext betrachtet: Snorri interessieren diese Mythen nicht nur als religiöses Wissen, sondern als eine Kulturtradition, die allein dem Norden zu eigen sei – der Euhemerismus trage dazu bei, diese Tradition zu bewahren, so lautet die Argumentation.¹³ Die Annahme beruht auf einem Text, dem (von Rasmus Rask 1818) sogenannten Eptirmáli Eddu. Nach der Edition von Anthony Faulkes lautet die betreffende Passage so:¹⁴ En eigi skulu kristnir menn trúa á heiðin goð ok eigi á sannyndi þessar sagnar annan veg en svá sem hér finnsk í upphafi bókar er sagt er frá atburðum þeim er mannfólkit viltisk frá réttri trú, ok þá næst frá Tyrkjum, hvernig Asiamenn þeir er Æsir eru kallaðir fölsuðu frásagnir þær frá þeim tíðindum er gerðusk í Tróju til þess at landfólkit skyldi trúa þá guð vera. ‚Und Christen sollen nicht an heidnische Götter glauben und auch nicht an die Wahrheit dieser Geschichten anders, als es sich zu Beginn des Buches findet, wo von den Ereignissen gesagt wird, nach denen die Menschen vom rechten Glauben abirrten – und weiter von den Türken, wie die Asienleute, die Asen genannt wurden, die Erzählungen verfälschten, die sich in jenen Zeiten in Troja ereigneten, damit das Landvolk glauben sollte, sie wären Götter.‘

Schaut man in die Textgeschichte (d.h. die handschriftlichen Varianten), zeigt sich, dass die Uppsalienser Handschrift beachtlich abweicht. Die Mahnungen sind hier an die ‚jungen Skalden‘ gerichtet und lauten: En ecki er at gleyma, eða osanna þessar frasagnir eða taka or skalldskapnvm fornar kenningar er havfvþ skalldin hava ser lika latið. En eigi skvlo cristnir menn trva ne a sannaz at sva havi verit. ‚Nicht zu vergessen oder für falsch zu halten sind diese Geschichten und aus der skaldischen Dichtung sind nicht die alten Kenningar zu entfernen, die die großen Skalden gebrauchten – und Christenmenschen sollten nicht glauben oder vertreten, dass es so gewesen sei.‘

12 Vgl. etwa das Háleygjatal des Eyvindr skáldaspillir, der das Geschlecht Hákon jarls auf Götter zurückführt: til goða teljum. 13 Böldl / Vollmer / Zernack 2011, S. 68 14 Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 5 f.

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 Heinrich Beck

Dies also sollten junge Skalden beherzigen, um Form und Inhalt der Überlieferung zu verstehen – letzteres im Blick darauf, daß hvlit er ort (‚verhüllt verfasst ist‘). Drei wesentliche Annahmen kommen hier zu Wort: a) methodisch: Der rechte Umgang mit dem heidnischen Glauben (trúa á heiðin goð) wird angesprochen und dazu auf den Beginn des Buches verwiesen – wohl auf den Prolog und die Gylfaginning. Betont wird dort, dass der Abfall vom rechten Glauben schon vor dem Nóa flóð (‚Sintflut‘) begann, da den Menschen nur die Gabe eines irdischen Verstehens verblieb und andlig spekð verwehrt war. Die Gylfaginning liefert dann die entscheidende Aussage über Snorris Sicht der heidnischen Religion in ihrer Relation zur christlichen Lehre. Nicht das trúa á wird generell abgewiesen, es wird vielmehr der Weg zu einem rechten Verständnis angemahnt – und dabei an erster Stelle auf den ‚Anfang des Buches‘ verwiesen, der vom rechten Verstehen handeln würde. b) historisch-geographisch: Von den drei Erdteilen sei Asien besonders bevorzugt – nicht nur seiner Natur wegen, auch die Mitte der Welt läge hier und die Menschen seien dort mest tignat af ollum giptum, spekinni ok aflinu, fegrðinni ok alls kostar kunnustu (‚ausgezeichnet mit allen Gaben, Weisheit und Kraft, Schönheit und allerlei Künsten‘). Troja läge im Mittelpunkt und seine Herrscher überträfen alle übrigen  – dazu zählten auch Tror (= Þórr) und Voden (= Óðinn) u.a. Óðinn begibt sich von dort auf eine Fahrt in die Nordhälfte, trifft in Schweden den König Gylfi und lässt sich (mit seinem Sohn Yngvi) in Sigtúnir nieder. Der Verfasser folgt offenbar einer Mittelpunktsideologie – mit der er auch Troja und die Ragnarök verbindet. Quellenkritisch ist festzuhalten, dass der zitierte Text allein den Handschriften RWT (= Codex Regius, Wormianus, Trajectinus) zukommt, nicht aber dem Codex Upsaliensis. Letzterer endet mit der Feststellung: Christen sollen nicht anders an die heidnischen Götter und die Wahrheit dieser Erzählungen glauben, als es zu Beginn des Buches gesagt ist. Finnur Jónsson erklärte dazu, es bestünde kein Zweifel, dass alles über den Upsaliensis Hinausgehende einen Einschub in Snorris Text bedeute.¹⁵ c) religionshistorisch: Der Eptirmáli erklärt, die Asiamenn (= Æsir) hätten die TrojaGeschichten gefälscht, um das Landvolk glauben zu machen, sie (die Trojaner) seien Götter. Der Verfasser legt also Wert darauf, dass diese Geschichten von Menschen handeln – also auch die Nordwanderung Óðinns und seines Gefolges von menschlichen Wesen getragen war. Insgesamt eine Darstellung, die sich mit den Perspektiven der Ynglinga saga durchaus vereinbaren lässt. Wenn ‚Fälschung‘ angesprochen wird, mag dies begründet sein in Vorstellungen, die der weitgehenden und weitreichenden Mythisierung der Ilias zugrunde liegen. Seine Erklärung kommt jedenfalls einer Ablehnung dieser Art von Vergöttlichungen gleich.

15 Edda (Finnur Jónsson 1931), S. xx und 86.

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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Einen eigenen Ton schlägt der Codex Upsaliensis an.¹⁶ Sein Verfasser entwickelt eine Sicht, nach der die Menschheit nach Adam und Eva sich in zwei Richtungen entwickelt habe, die der Rechtgläubigen und derjenigen, die vom Glauben abfielen. Die Situation wiederholte sich nach dem Nóa flóð. Doch verblieb ihnen eine jarðlig skilning, ein irdisches Verstehen. Es folgt der Blick auf Asia, das sich mit einer außerordentlichen Bevölkerung auszeichnete und sich auch des in ihm gelegenen Erdmittelpunktes (= Troja) rühmen konnte – ok af því, at allir formenn norðrhálfunnar telja þangat sínar ættir ok setja þá í guðatölu (‚und deswegen, weil alle Vornehmen der Nordhälfte [der Erde] von dorther ihre Geschlechter ableiten und sie in Götterstammbäume einbeziehen‘).¹⁷ Der Verfasser mag etwas gewusst haben von den vielgestaltigen Versuchen bei Römern und barbarischen gentes, einen Anschluß an das klassische Altertum zu finden – Ilion (Troja) wurde zur mythischen Urheimat der Römer erklärt und Vergil, Caesar und Augustus führten ihre Herkunft auf Aeneas zurück, und die gelehrten Urgeschichten im Mittelalter in Gestalt von Trojanerfabeln bei Franken, Sachsen, Normannen und Briten könnten auch zum Urteil geführt haben, dass diese ‚Geschichte‘ nicht der Wahrheit entsprach. Wie oben schon genannt, distanziert sich Snorri von dieser Art Vergöttlichung und setzt (wie noch zu zeigen ist) ein Konzept dagegen, das auf ganz anderer Legitimation beruht – eben die Analogie. Óðinns Fähigkeiten vorausschauender (forspá) und zauberkräftiger (fjölkunnigr) Art gaben ihm die Gewißheit, dass seine und seiner Anhänger Zukunft in der Nordhälfte der Erde läge  – und allen, die diesen Zug Óðinns in den Norden erlebten, erschienen sie (die Nordlandwandernden in der Ynglinga saga) líkari goðum en mönnum (‚den Göttern ähnlicher als den Menschen‘). In der Perspektive der Gylfaginning sind es diejenigen, die sich mit den Jenseitigen identifiziert hatten (Rahmenschluß der Gylfaginning) und aus dem gelobten Erd-Mittelpunkt kamen. Darin sind Prolog, Gylfaginning und Ynglinga saga einer Meinung: die Asiamenn zeichnen sich durch besondere Qualitäten aus. Auf der Nordwanderung Óðinns erlebt die heimische Bevölkerung die Asiamenn zwar líkari goðum, aber Snorri lässt keinen Zweifel, dass es sich um Sterbliche handelte, zwar besondere Menschen, die wie Götter erschienen, aber eben doch Menschen waren – bemerkenswert die Betonung, dass Óðinns díar, Gefolge (Goden, Priester), sowohl Æsir als auch Vanir (Asen wie Wanen) umfasste. Mit Óðinn an der Spitze waren sie überragend an Wissen und Zauberkünsten: váru þæir næst honum um allan fróðleik ok fjölkynngi – und die Menschen opferten ihnen und nannten sie ihre Götter und dieser Glaube hielt lange an: en Óðin ok þá höfðingja tólf blótuðu menn ok kölluðu goð sín ok trúðu á lengi síðan (Ynglinga saga, c. 7).

16 Edda (Jón Sigurðsson 1848–87), 2, S. 250 ff. 17 Edda (Jón Sigurðsson 1848–87), 1, S. 12.

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Wenn man unter Euhemerismus die Vergöttlichung herausragender Menschen versteht (und das usurpatorische Element unbeachtet lässt), wäre dies in der Tat Anlaß, hier von Euhemerismus zu reden  – es geht ja um Menschen, die göttliche Ehren genossen und schließlich eines irdischen Todes starben. Ein weiteres Argument geschichtstheologischer Art führt aber in eine andere Richtung. Es geht in der Interpretation im Grunde um zwei Möglichkeiten, einer ‚weltlichen‘ Religionserklärung einerseits, einer ‚fundamentalistischen‘ Deutung andererseits. Bedient sich die weltlich-rationale Erklärung vorwiegend einer geschichtsorientierten Argumentation (in einer religionshistorischen Verortung religiösen Denkens und Handelns), so fragt die fundamentalistische Richtung nach Grundlagen und Gültigkeit einer wahren Religion  – aus der Sicht eines mittelalterlichen Gelehrten konnte diese letztere Orientierung nur das Christentum seiner Zeit als einzig wahre Offenbarung liefern. Von dem irdischen Jesus, seinem Wirken und seinem Tod im Sinne des Euhemerismus zu argumentieren, dürfte Snorri nach seiner in der Gylfaginning präsentierten Analogie-Erklärung nicht in den Sinn gekommen sein (s.u.) – so wenig wie dem heutigen Christen einfiele, dem neutestamentlichen Geschehen euhemeristisch zu begegnen. Er bediente sich vielmehr des fundamentalen Konzeptes, das sich  – in nachösterlicher Zeit – an einer letztgültigen Wahrheit orientieren konnte. Mit einer angedeuteten Relation zwischen einer Wanderung der zwölf díar unter Óðinns Führung in die Nordlande und einer irdischen Wanderung der zwölf Apostel im Geleit Jesu weist Snorri auch den heutigen Interpreten in die rechte Bahn – zusammen mit einer Gylfaginning-Interpretation, auf die noch einzugehen ist. Im Schaffensprozeß Snorris geht vermutlich die Gylfaginning der Ynglinga saga voran – mit anderen Worten: die Ynglinga saga setzt die Argumentation der Gylfaginning voraus! Snorri habe nicht den Universalismus christlichen Geschichtsdenkens vertreten, wurde gefolgert, sondern den Weg einer nordischen Sonderkultur verfolgt. Die hier vertretene Interpretation möchte als Gegenthese setzen, dass Snorri mit dem Modell der Analogie die Religion seiner Vorfahren in Relation zur christlichen Botschaft setzen wollte und dabei ganz im Horizont eines universalen Denkens der mittelalterlichen Kirche agierte. Zusammenfassend bedeutete dies – nach Meinung des Verfassers – in der Interpretation von Snorris Werk spricht nichts für Euhemerismus, nichts für ein minderes Interesse an der heidnischen Mythologie – auch von einer Abkehr vom christlichen Universalismus mittelalterlicher Prägung ist in dieser Sicht nicht zu sprechen. Welche Absicht Snorri mit seiner Edda insgesamt verfolgte, ist oft abgewogen worden  – wobei die Annahme, es handle sich um eine Poetik, ein Lehrbuch, das dem Verstehen der überlieferten skaldischen Poesie dienen sollte, wohl den meisten Anklang gefunden hat. Daß Snorri junge Skalden, die danach strebten, die Dichtkunst zu erlernen (er girnaz at nema mal skaldskapar), auch im Blick hatte, darf angenommen werden. Nicht weniger deutlich ist aber auch, dass es der Historiker Snorri war, der eine universale Weltsicht anstrebte – und die Mythologie gab ihm die Vorlage, den Bogen von der Schöpfung bis zum kommenden Welten-Ende zu spannen. Dazwischen platzierte er die Geschichte der Norðrhálfa. In der Snorra-Edda spricht viel für den

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Historiker, der in bewundernswerter Stoffbeherrschung und mit universalem Blick seine Norðrlönd-Geschichte in den universalen Horizont christlicher Weltbetrachtung stellte. Als Geschichtsschreiber erreichte er damit einen Höhepunkt mittelalterlicher skandinavischer Gelehrsamkeit.

2 Relationen in Snorris Werk Unter Relationen werden Beziehungen zwischen zwei Größen verstanden, die  – besonders durch sprachliche Anklänge – auf ein Verbindendes, eine übergeordnete Gemeinsamkeit verweisen. Leider haben bisher solche offensichtlichen Anklänge in Snorris Werken an biblische Schriften (besonders die neutestamentlicher Art) keine Beachtung und Behandlung erfahren – selbst Philologen theologischer Prägung (wie Walter Baetke) haben solche Hinweise nicht aufgegriffen oder auch nicht für beachtenswert gehalten. Einige Beispiele solch offensichtlicher Relationen seien genannt: a) In der Ólafs saga Tryggvasonar¹⁸ (c. 50) berichtet Snorri vom Tode des letzten heidnischen Lade-Jarls Hákon. Snorri preist ihn in hohen Tönen – er war manna örvastr, tapfer, tüchtig, freigebig  – und trotzdem fehlte ihm am Ende die hamingja  – und warum? Snorri begründet dies so: þá var sú tíð komin, at fyrirdœmask skyldi blótskaprinn ok blótmennirnir, en í stað kom heilög trúa ok réttir siðir (‚die Zeit war gekommen, dass verurteilt werden sollten die blutigen Opfer und Opferer und der heilige Glaube und die rechten Sitten an die Stelle treten sollten‘). Dagegen kam auch der heidnische Jarl nicht an. Ein Anklang an Markus 1,15 ist nicht zu überhören: quoniam impletum est tempus et appropinquavit regnum Dei – nachdem Jesus von Johannes getauft ward, zog er aus, um das Evangelium vom Reich Gottes zu predigen (vgl. auch Lukas 9,51: „es begab sich, dass die Zeit erfüllt war […] und Jesus gen Jerusalem zog“). Der Historiker Snorri verbindet offenbar mit diesem Aufbruch Jesu eine weltgeschichtliche Wende – ‚die Zeit war gekommen‘, so damals im Heiligen Land, wie hier im norwegischen Tröndelag. Den deutlichen Relationsbezug verbindet Snorri mit einer Epochenschwelle  – und das epochenbestimmende und geschichtstheologisch bedeutsame Ereignis ist eben der Übergang vom alten zum neuen Glauben zu ‚gekommener Zeit‘ mit ihrem neuen Glauben. Offensichtlich ist für ihn ein theologisches Verständnis der Geschichte maßgebend  – und das im Sinne einer mittelalterlichen Geschichtstheologie. Als Bestätigung einer solchen Sicht darf eine Studie von Sverrir Tómasson gelten. Ihm zufolge haben Oddur Snorrason und Snorri Sturluson die Hákonarsaga á guðfræðilegan hátt interpretiert!¹⁹

18 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 298 f. 19 Sverrir Tómasson 2004. Zum Thema vgl. weiter Ólafur Halldórsson 2004; Haki Antonsson 2010.

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b) Anne Holtsmark gebrauchte den Begriff Assoziation mittels Kontrast (assosiasjon ved kontrast) – das heißt, die Autorin erkennt in bestimmten Beispielen die Relation zwischen biblischer Botschaft und nordischer Mythologie an, interpretiert diese Bezüge aber kontrastiv:²⁰ z.B. weckt die Dreiheit von Óðinn, Vili und Vé, stýrandi himins ok iarðar, die biblische Assoziation regnator caeli et terrae. Das aber kann nur der eine sein, der deus omnipotens, sagt Holtsmark  – die Assoziation ist klar, der Kontrast aber ebenso deutlich: hier der christliche Schöpfergott – dort kontrastiv eine heidnische Götterdreiheit. Mit diesem weitreichenden Begriff der ‚Assoziation mittels Kontrast‘ kann Holtsmark alles erklären, was Baetke in seiner bedeutenden Untersuchung von 1950 („Die Götterlehre der Snorra-Edda“) unbefriedigend hinterließ – den Widerspruch, einerseits eine Óðinnstheologie als Snorris Konstrukt herauszuarbeiten, andererseits darin aber Lug und Trug zu unterstellen. Nun war der Widerspruch zu lösen: man musste die christlichen Assoziationen nur kontrastiv begreifen  – und in diesem Gefolge eine Ironie Snorris sehen. Als Antwort auf die Frage, wo der Allvater war, als noch keine Erde und kein Himmel geschaffen waren, antwortet die Gylfaginning: da war er bei den Reifriesen. Die Abweichung vom biblischen Schöpfungsbericht, der nichts von Reifriesen weiß, lässt sich jetzt nach Holtsmark mit den Mitteln des Kontrastes und der Ironie erklären. Das Analogie-Konzept kommt zu anderen Ergebnissen! Die zahlreichen Assoziations-Beispiele, die Holtsmark aufzählt, werden also zwar als Relationsbeispiele zwischen heidnischer und christlicher Botschaft anerkannt – aber nur in einer Negativ- bzw. Kontrast-Deutung. Die Arbeiten, die in dieser Nachfolge entstanden, bestätigen zwar die Assoziationen, verkehren sie aber (nach dem Vorbild von Holtsmark) ins Gegenteil. Eine Schule herausragender Interpreten hat dieses Konzept assosiasjon ved kontrast auf den Plan gerufen.²¹ c) Beim dritten Beispiel einer neutestamentlichen Relation im Werk Snorris sei wieder zur Gylfaginning zurückgekehrt. Die Gylfaginning ist eine Rahmenerzählung, eine frame-work composition. Im Zuge einer Entrückung der Sinne (einer sjónhverfing) wird die heidnische Mythologie offenbart  – den Rahmen dieser Offenbarung bilden die Aussagen über einen angereisten Schwedenkönig Gylfi (Einleitungsrahmen) und die Reaktionen der heimischen Asen auf die Binnen-Erzählung (im Rahmenschluß). Bei Rahmenerzählungen bildet der Rahmenschluß meist die Position, die wesentlich zur Deutung beiträgt – zu welchem Schluß und Ende die ganze Szenerie führen sollte. Der Rahmen-Schluß ist auch in der Gylfaginning entscheidend. Er lautet: Gylfi kehrt heim in sein Reich und verbreitet die Neuigkeiten, die er gesehen und gehört hatte. Die zurückgebliebenen Asen aber erinnern sich der gehörten frásagnir:

20 Holtsmark 1964, S. 24. 21 Vgl. etwa Vésteinn Ólason 2001 (mit dem Titel List og tvísæi í Snorra-Eddu).

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Ok gefa nöfn þessi hin sömu er áðr eru nefnd mönnum ok stöðum þeim er þar váru, til þess at þá er langar stundir liði at menn skyldu ekki ifask í at allir væri einir, þeir Æsir er nú var frá sagt ok þessir er þá váru þau sömu nöfn gefin. ‚[Die Asen] geben dieselben Namen, die [in der ginning] genannt wurden, den Menschen und Orten, dass – wenn eine lange Zeit verstriche – die Menschen nicht zweifeln sollten, dass alle eins seien, die Asen, von denen berichtet wurde und diejenigen, denen nun dieselben Namen gegeben wurden.‘²²

Auch wenn zu sagen ist, dass in der bisherigen Snorri-Literatur die Relations- bzw. Assoziations-Intention dieser Zeilen an keiner Stelle diskutiert wurde, kann kaum ein Zweifel darüber bestehen, dass hier eine neutestamentliche Assoziation, eine Relation also, vorliegt: Die vera einir-Absicht der Asen steht in einer Relation zum unum sumus-Bekenntnis Jesu. So wie Jesus nach der Taufe durch Johannes dem Täufer erklärt (Joh 10,30) ego et Pater unum sumus, so heißt es in der polytheistischen Variante: die Asen von denen berichtet wurde, und diejenigen, denen dieselben Namen gegebene wurden, seien einir! Unum sumus einerseits, vera einir andererseits! Welche Personen hier einbezogen waren, wird nicht weiter diskutiert  – genannt wird aber doch Þórr, der mit den trojanischen Überlieferungen in Verbindung gebracht wird, während Óðinn in der Ynglinga saga die Norðrlönd-Fahrt dominiert. Die Eins-Erklärung erfolgt in einer außerordentlichen Situation: Bei der Taufe Jesu tat sich der Himmel auf und eine Stimme sprach: Dies ist mein lieber Sohn (vgl. Mark 1,11; Luk 3,22; 2. Petr 1,17) – bei der Gylfaginning war es die ‚Entrückung‘, die mit lautem Getöse ein Ende fand und die Asen zu ihrem Entschluß (der Eins-Erklärung) führte. In beiden Fällen folgte auf die unum-Erklärung eine Wanderzeit, in der die neue Botschaft verbreitet wurde: Jesus und seine Jünger verbreiten sie im Heiligen Land – Óðinn und seine zwölf höfðingjar tragen sie in die Norðr-hálfa (Ynglinga saga, c. 7). In dem Zusammenhang ist auch Snorris Sprachgebrauch zu beachten: Von den in der ginning geschauten Asen spricht er als Æsir guðkunnigir – zwölf an der Zahl (Gylfaginning, c. 20) – im Falle der irdischen Asen spricht er von Ása-Óðinn und ÁsaÞórr – also eine deutliche Unterscheidung geschauter (jenseitiger) Götter einerseits, in Asia beheimateter (irdischer) Personen andererseits. Erst diese Unterscheidung gibt der einir-Erklärung ihr ganzes Gewicht. Beachtet sei auch die Weiterführung dieser Einheitserklärung durch die Asen: til þess at þá er langar stundir liði at menn skyldu ekki ifask í at allir væri einir (‚dass, wenn eine lange Zeit verstriche, die Men-

22 Kontroversen über die rechte Übersetzung dieser Passage sei mit dem Zitat aus der Arnamagnæanischen Ausgabe der Snorra-Edda begegnet: Asæ vero in colloquio consident et consilia sua conferunt, omnesque has narrationes, quæ ei relatæ fuerant, reminiscuntur, eademque hæc nomina, quæ supra memorata sunt, hominibus et locis, quiibi, erant, imponunt, ne homines, temporelongius procedente, dubitarent, Asas, de quibusmodo factamentio est, unos eosdemque essenmatquehos, quibus eadem nomina tunc erantindita (Edda (Jón Sigurðsson 1848–87), 1, S. 207).

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schen nicht an dieser Identität zweifeln sollten‘). Es zeugt von einem tiefen Verständnis, wenn Snorri hier den Lebensweg dieses menschlich-göttlichen Jesus-Christus als eine Zeit des Zweifels seiner Zeitgenossen beschreibt – diese Identitätserklärung war ja – in der Sicht seiner Gegner – das eigentliche Skandalon dieses irdischen Jesus. In der Gerichtsverhandlung in Jerusalem stellt Kaiphas, der damals Hohe-Priester der Juden war, Jesus eine einzige entscheidende Frage – nämlich die, ob er tatsächlich beanspruche, Christus zu sein, d.h. eins zu sein mit dem Vater (Mat 26,63) – die Antwort kam dem Todesurteil gleich. Eine Identitätserklärung dieser Art ist in der Religionsgeschichte so selten (ja einmalig?), dass schon deswegen die Relation zwischen Neuem Testament und Gylfaginning eine fast zwingende Annahme ist. Natürlich gibt es Beispiele von Vergöttlichung, aber dies im Sinne eines Identitätsanspruches zu erheben, scheint doch eher die Ausnahme zu sein. Baetke spricht in diesem Zusammenhang von einem ‚Namenstrug‘²³ und begründet das so: Die Gleichung Asen = Asien habe einen speziellen isländischen Euhemerismus zur Folge gehabt – mittels dessen man die alten Götter in die Urgeschichte einfügte. Dadurch wurde Raum gelassen für den Gedanken, dass die Asen selbst an Götter geglaubt haben. Immerhin zwang der Euhemerismus Snorri zur Auseinandersetzung mit der Frage, wie denn die ihm als Menschen der Vorzeit bekannten Asen sich zu den göttlichen Asen verhielten. Er löste dieses schwierige Problem in genialer Weise durch das Motiv des Namentruges.²⁴

Es scheint ganz unwahrscheinlich zu sein, dass Snorri im ersten Kapitel von den außerordentlichen Fähigkeiten des Ásafolk spricht, von goðmögn (‚göttliche Kräfte‘), die sie aktivieren usw. – und am Schluß soll das kunstvoll errichtete Gebäude dem Leser vermitteln, dass alles Lug und Trug sei? Es scheint sehr viel wahrscheinlicher zu sein, dass Snorri hier keinen Euhemerismus propagierte  – er wird vielmehr die neutestamentliche Relation in beabsichtigter Weise geschaffen und sie als Analogie verstanden haben. Man könnte einwenden, dass eine solche Sicht sich nicht mit dem Titel Gylfaginning vertrage. Aber was heißt ginning? Die Übersetzung ‚Betörung‘ ist zwar formal möglich, aber keineswegs zwingend. Linguistisch gesehen ist ginning eine Ableitung zum Verbum ginna, das semantisch in zwei Richtungen weist  – einerseits ‚jemanden in einen Zustand des Verzaubert- oder Berauschtseins versetzen‘, andererseits ‚jemanden durch diesen Vorgang herabsetzen, betören, übertölpeln‘. Beide Möglichkeiten beinhaltet auch die Ableitung. Von ‚Betörung‘ zu reden, ist also bereits eine Interpretation. ‚In einen Zustand des Verzaubertseins versetzen‘ wäre der ursprünglichen Bedeutung gemäßer.²⁵

23 Baetke 1950, S. 65. 24 Baetke 1950, S. 65 25 Vgl. auch de Vries 1930/31.

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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Zur Klärung des ginning-Begriffes in Snorris Text ist weiter zu beachten, dass im Eingangsrahmen berichtet wird, dass Gylfi mit sjónhverfingar (‚Sinnesverwirrungen‘) empfangen wurde. Das heißt doch wohl, dass die Verzauberung in einer Sinnesentrückung bestand, die ihn aufnahmefähig für eine jenseitige Botschaft machen sollte. Nicht der Inhalt wird bewertet, die ginning schafft den Rahmen, der die Voraussetzung für die Vermittlung einer jenseitigen Botschaft verschaffen sollte. Eine NegativWertung im Sinne einer Übertölpelung und Betörung, d.h. Gylfi zu einem Tölpel und Toren zu machen, ist keine zwingende Annahme – und verträgt sich auch wenig mit der Logik dieses Werkes. Ganz anders interpretiert Anne Holtsmark auch hier: „De nytter ut det gjøgleriet de har fått istand; alt det de har fortalt Gylfi i synkvervingen, fester de nå til seg og sin ætt. Slik er forfatteren Snorre gardert; ikke et ord er sant, alt er løgn og hégómi.“²⁶ Damit treten Probleme in den Vordergrund, die einer weiteren Erörterung des Analogie-Konzeptes bedürfen. Es ging bisher darum zu zeigen, dass Snorri sehr gute Bibelkenntnisse hatte und vor allem, dass er mit Relationen bewusst agierte – dass er z. B. als Historiker aus der neutestamentlichen Botschaft einen Geschichtsablauf deduzierte, der auch für den Norden bestimmend war. Welche Position nahm nun in diesem Konzept die Religion seiner Vorfahren ein? Zunächst ist festzustellen, dass die Ynglinga saga die bruchlose Weiterführung der Gylfaginning darstellt – hier aber im Blick auf das Geschehen, das in die Vorgeschichte der Norðrlönd führte, da diese auch zu Teilhabern am geschichtlichen Transfer ‚asischer‘ Kultur wurden. Hier demonstrierte Snorri, wo und wie die irdischen Asen im Mittelpunkt der Welt beheimatet waren (in diesem Schoß der Religionen und Kulturen Asiens) – von wo aus Óðinn und seine zwölf höfðingjar auch in den Norden kamen, wo sie den Menschen als Gottgleiche begegneten. Ist es überinterpretiert, diesen Wanderweg Óðinns mit dem Wanderweg Jesu und seiner Jünger in palästinensischen Landen in Relation zu setzen? Wenn Snorri betont, dass der wandernde Óðinn mit seinem Gefolge in der Sicht der Menschen mehr den Göttern glich als den Menschen (þeir þóttu líkari goðum en mönnum), dann erinnert dies doch an die Apostelgeschichte (Apg 14,11), da die Menschen auf die Wundertaten der Jesus-Jünger in gleicher Weise reagierten wie die späteren Nordbewohner – mit der Annahme dii similes facti hominibus, descenderunt ad nos (‚die Götter, gleich geworden den Menschen, sind herabgekommen zu uns‘)! In beiden Fällen antworten Menschen auf Wundertaten mit einer Vergöttlichung. In der christlichen Botschaft fand dies eine entschiedene Zurückweisung – nicht so in der heidnischen Umwelt des Nordens! Relationale Konstrukte haben auch deutliche Grenzen. In Snorris Sicht sind Óðinn und sein Gefolge nicht einfache Menschen, es sind diejenigen, die an der ginning teilhatten und die Snorri als irdische Asen ganz deutlich von der goðkunnig ætt abhob. Ausdrücklich wird der irdische Óðinn mit Gylfi

26 Gylfaginning (Holtsmark / Jón Helgason 1976), S. xiii.

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zeitlich gleichgestellt– und mit brögð und sjónhverfing, Zauberkünsten und Sinnesverwirrung, behandeln die Asen auf ihrem Weg in die Norðrlönd ihren Zeitgenossen Gylfi – d.h. es wird die Situation nach den Ereignissen der Gylfaginning vorausgesetzt (Ynglinga saga, c. 5). Die Asen der Ynglinga saga sind – in Snorris Denken – diejenigen des Gylfaginning-Rahmens, diejenigen, die nun – im Sinne einer gewissen Relation – Religion und Kultur in die Nordhälfte der Welt verbreiteten. Unter der Überschrift ‚Relationsthematik‘ ist schließlich auch noch die Dreiheit von Hár, Jafnhár und Þriði zu erwähnen, d.h. die Dreiheit, die dem wißbegierigen Gylfi im ginning-Dialog gegenübertrat. Man kann die Dreiheit wohl auch im Sinne des Verfassers als eine Dreieinigkeit verstehen: der Hohe, der Gleichhohe und der Dritte. Gedacht wurde dabei in der Forschung an das weit verbreitete Modell der Triaden in den Volkserzählungen, aber auch an die Trinität in heidnischer und christlicher Überlieferung wurde erinnert. Alle drei Namen sind als heiti für Óðinn (den Alföðr) bezeugt²⁷ – in der Dreiheit Óðinn, Vili und Vé sieht Anthony Faulkes „a striking parallel to the Christian trinity“!²⁸ Hjalmar Falk spricht von einer „hedenske treenighet“.²⁹ Das trinitätstheologische Problem, zwischen triadischer und trinitarischer Dreiheit zu unterscheiden, scheint in Snorris Sicht im Sinne einer Personengemeinschaft gesehen zu sein – wobei durchaus offen bleiben kann, ob Snorri hier überhaupt ein Problem sah. Entscheidend ist, dass hier die Vorstellung einer Relation zugrunde lag. Im Prolog zu den Skáldskaparmál, den so genannten Bragaræður (Sermones Bragii), konstruiert Snorri ein ähnliches Szenarium wie in der Gylfaginning. In der Version der Uppsala-Edda unternimmt ein Mann namens Ægir (von der Insel Hlésey), ebenfalls fjölkunnigr wie Gylfi, eine Fahrt nach Ásgarðr. Die Asen empfangen ihn ebenfalls mit Sinnesverwirrungen (sjónhverfingar). Hier agiert Óðinn als Anführer von 12 Asen, die – bei einem Gespräch zwischen Ægir und dem Asen Bragi – als Richter tätig sind. Die Version der Ynglinga saga lautet (c. 2): In Ásgarðr herrschte Óðinn als höfðingi. Seine zwölf hofgoðar hatten die Aufgabe ráða fyrir blótum ok dómum manna í milli (‚über Opfer zu bestimmen und Recht zwischen den Menschen zu sprechen‘). Offensichtlich kann man den Schluß daraus ziehen, dass – in Snorris Sicht – der in Asien gelegene Ásgarðr als zentraler Herrschaftsmittelpunkt Óðinns galt, Opfer- und Urteilsstätte war, der im Dienste Óðinns zwölf hofgoðar vorstanden. Von hier aus fuhr Óðinn mit seinen Zwölfen und weiterem Gefolge in den Norden, um sich schließlich in Sigtúnir niederzulassen.

27 Umfassendste Nachweise in Gylfaginning (Lorenz 1984), S. 81 ff. 28 Gylfaginning (Faulkes 1988), S. 176 (s.v. Vili). 29 Falk 1924, S. 30.

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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3 Relation und Analogie Was bedeutet nun die Relation, die Snorri seinem vera einir-Konzept in diesem Geschichtsablauf beimißt? Es ist ja zweifellos ein kühnes Unterfangen, eine Beziehung zwischen christlicher Botschaft und heidnischer Tradition aufzutun – und man glaubt zu verstehen, warum Snorri in dem Eptirmáli-Zitat so verklausuliert redet, so als wolle er sich vor einem Mißverstehen schützen. Die hier mit dem Begriff ‚Relation‘ versuchte neutrale Beschreibung einer beabsichtigten Beziehung zwischen zwei Texten (bzw. deren Botschaften) führen auf weitere Probleme. Wenn wir voraussetzen dürfen, dass die Einsseins-Erklärung hier wie dort den Begriff ‚Relation‘ rechtfertigt, stehen zwei weitere Fragen an: Was beinhaltet die vera-einir-Erklärung in mittelalterlicher Interpretation? Wie und in welcher Gestalt konnte Snorri Kenntnis von solcher Relations- und Analogie-Debatte haben? Für die mittelalterliche Kirche war die lebhafte Diskussion um das Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf Anlass zu einer Erklärung des Laterankonzils von 1215. Sie besagte, wie schon eingangs erwähnt, „dass von Schöpfer und Geschöpf keine Ähnlichkeit ausgesagt werden kann, ohne dass eine größere Unähnlichkeit zwischen beiden mit ausgesagt werden müsste“.³⁰ Da dieses Konzil auf der Höhe mittelalterlicher Weltgeltung in die Geschichte einging,³¹ ist es auch nicht verwunderlich, dass alle altisländischen Annalen das Ereignis verzeichnen. Daß Snorri auch Kenntnis von den Beschlüssen des Konzils bekommen haben könnte (er hielt sich 1218 bis 1220 in Norwegen auf), wäre nicht verwunderlich. Snorri postulierte also, so nehmen wir an, dass auch die heidnische Tradition, die er in aller Differenziertheit aus seiner Kenntnis der Vergangenheitstradition aufzubauen vermochte, letztlich einem Offenbarungsgeschehen entstammte – und das alles in einer Relation, einer Analogie, zum historischen Geschehen in den Anfängen christlichen Lebens, da die Lehre verkündete, ein historischer Jesus und ein Christus des Glaubens seien eins. Snorri unterschied strikt die goðkunnig ætt einerseits und andererseits die irdischen Asen: den diesseitigen Ása-Óðinn (der in den Norðrlönd seine Spuren hinterließ), den diesseitigen Ása-Þórr (der sich in trojanischen Kriegen auszeichnete). Sie alle waren die irdischen Vertreter, die letztlich auch starben – aber sie alle agierten auf dem Grund eines Mythos, den nach Snorri eine Teilhabe, ein analoges Verhältnis zur letzten und einzig wahren und umfassenden Offenbarung adelte. Dabei erstreckte sich die Relation selbst auf den geschichtlichen Ablauf: die Ausbreitung der Lehre in den palästinensischen Landen einerseits, die Verbreitung der asischen Botschaft in die Nordlande Europas andererseits. Die Ynglinga saga berichtet, wie Ása-Óðinn und seine díar die Lehre in den Norden trugen. Es ist das Konzept einer Geschichtstheologie, das in der Inkarnation den Höhepunkt eines göttlichen

30 Vorgrimler 2000, S. 36 f. 31 Bäumer 1961, Abschnitt d.

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Heilsplanes sah – auf den hin auch die heidnischen ‚Offenbarungen‘ und Geschichtserfahrungen orientiert waren. Der Holtsmarkschen ‚Assoziation mit Kontrast‘ steht in dieser Sicht die ‚asische Analogie‘ gegenüber  – und auch Walter Baetke ist zu widersprechen, der vom ‚Namenstrug‘ der Asen spricht, dort, wo wir besser von ‚Analogien‘ reden wollten. Die Baetkeschen und Holtsmarkschen Negationen widersprechen  – auch literaturwissenschaftlich gesehen – dem Darstellungsduktus. Hans Kuhn begriff diesen Duktus derart, dass er meinte, Snorri habe bei der Niederschrift der Gylfaginning selbst an die heidnische Religion geglaubt – und Sigurður Nordal bekannte, dass für ihn die Gylfaginning eine begeisternde Jugendlektüre gewesen sei: Snorri býr svo um goðafræði sína, að hann getur sagt frá henni án vantrúar og vandlætingar, án andúðar og fyrirlitningar, með sömu alúð og hann væri að segja frá sínum eigin trúarbrögðum, og ekki afræktri og fordæmdri villutrú!³²

Sie alle haben die Gylfaginning nicht ‚kontrastiv‘ gelesen, wie das die genannten Interpreten gerne hätten.³³ Die Frage, wie sich die ‚Relation‘ zur ‚Analogie‘ verhält, lässt sich nicht so leicht beantworten. So sicher es ist, dass jede Analogie auf Relation beruht, so sicher dürfte es auch sein, dass nicht jede Relation als Analogie zu verstehen ist! Ein Versuch, darauf eine Antwort zu geben, könnte darin bestehen, diejenigen Relationen als Analogie anzuerkennen, die ein ‚Wesen‘, ein ‚Sein‘ in gegenseitigen Bezug setzen – zum Beispiel: Menschen, die sich mit Göttlichen in Beziehung setzen. Auf die Frage nach Anregungen, die Snorri für sein Konzept erhalten haben könnte, ist schon verwiesen worden – ein Zeitereignis, das Laterankonzil von 1215, bei dem das Analogie-Konzept zur Debatte stand und eine grundlegende Definition erfuhr. In der kontroversen Relationsdebatte um die Gott-Mensch-Beziehung wurde die Analogie als eine relationale Gemeinsamkeit verstanden, eine Gemeinsamkeit, die freilich keine Identität bedeutete. Der Einwand, dass zu Snorris Zeiten die Lehre des Kirchenvaters Augustin keinen Raum gelassen habe, der heidnischen Religion mit dem Begriff Analogie zu begegnen, wäre zu diskutieren. In der Tat wird Augustinus in seinen antipaganen Schriften – und auch im Gottesstaat – nicht müde vor „jenem schändlichen eitlen Treiben der Dämonen und von ihrer trugbeflissenen Bosheit“ zu warnen.³⁴ Aber richtig ist auch, dass er gegen Ende seines Lebens bei einer kritische Betrachtung der eigenen Schriften (den Retractationes) zur Erkenntnis kam, dass auch in der Epoche zwischen Adam und Eva und dem Wirken Jesu-Christi es Religionen gegeben habe, denen man ein gewisses Maß an göttlicher Eingebung konzedieren müsse. Hatten die ersten Menschen noch einen direkten Blick auf den

32 Sigurður Nordal 1920, S. 127. 33 Auch in neuerer Zeit wurden Snorri Sympathien gegenüber der heidnischen Überlieferung zugebilligt (vgl. Dronke / Dronke 1977; Faulkes 1983). 34 Marrou 1965, S. 113.

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Schöpfer, so verdunkelte sich das Bild im Laufe der Zeiten – so dass eine neue Offenbarung nötig war. Aber eine gewisse Ahnung ist nach Augustinus auch in der Zwischenzeit verblieben! Hier ist auch noch einmal auf das Konzept ‚Naturreligion‘ zurückzukommen. Wenn von dieser Naturreligion als einer ‚unvollkommenen Vorstufe‘ des Christentums gesprochen wird, die aus der Beobachtung der von Gott geschaffenen Natur erwächst, dann erinnert dies an die Lehren des 19. Jahrhunderts, die in der Naturreligion eine erste Stufe der Entwicklung des menschlichen Geistes sehen wollten – noch im Sinnlichen und Rohen befangen (wie die so genannten Naturvölker angeblich zeigen). Sowohl der Bezug auf die Naturvölker wie auch der Naturverweis werden heute kritisch gesehen.³⁵ Snorris Position war universaler: Er übertrug die Analogie auf das Verhältnis Heidentum/Christentum, d.h. er postulierte eine Ähnlichkeit, übersah aber auch nicht die je größere Unähnlichkeit. Wenn Snorri den Alföðr als elztr allra goða vorstellt (Gylfaginning, c. 3) und damit eine Ähnlichkeit zum christlichen Allvater als dem Allmächtigen weckt, wirkt die anschließende Bemerkung, vor der Erschaffung von Himmel und Erde sei dieser Alföðr bei den Reifriesen gewesen, wie eine pflichtschuldigst nachgeschobene Unähnlichkeitsbestätigung. Einen Höhepunkt an Ähnlichkeit erreicht die Óðinnsdarstellung in der von Baetke so benannten Óðinnstheologie, wie sie in Kapitel 3 der Gylfaginning entfaltet wird, wobei vorauszusetzen ist, dass der Alföðr mit Óðinn gleichzusetzen ist. Das Konzept einer ‚natürlichen Theologie‘ (wie sie Baetke zugrundelegte), d.h. die Annahme, dass eine Gotteserkenntnis mittels der natürlichen Vernunft (d.h. ohne Offenbarung) aus der erfahrbaren Schöpfung möglich sei, wird nicht nur in der Religionsforschung kontrovers diskutiert. Es könnte auch Snorri bewusst gewesen sein, dass die menschliche Vernunft nicht ausreicht, einer jenseitigen Wirklichkeit gerecht zu werden. Da mag ihm die Analogie als das adäquatere Konzept erschienen sein. Generell gesagt: Der gewaltige Aufschwung, den die scholastische Theologie im 12. und 13. Jahrhundert nahm (in dem das genannte Lateran-Konzil nur eine Stufe darstellte), könnte auch den skandinavischen Norden berührt haben – auch im Hinblick darauf, dass die Scholastik die theologischen Nachbardisziplinen zu neuem Leben erweckte. Daß solche Kunde auch Snorri erreichte und ihn auch inspirierte, wäre wohl keine abwegige Annahme.³⁶ Wenn von Prolog und Gylfaginning als mythographischen Werken gesprochen wird, sollten die Skáldskaparmál nicht ganz unerwähnt bleiben. Nicht zu unrecht nennt Margaret Clunies Ross das Werk eine ars poetica.³⁷ Auch diese Arbeit Snorris ist zunächst als frame-narrative angelegt. Ein Mann namens Ægir, fjölkunnigr wie Gylfi,

35 Vgl. Kohl 1998, S. 230 ff. 36 Vgl. Lehmann 1936/37. 37 Vgl. Clunies Ross 1987.

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macht sich auf den Weg nach Ásgarðr und wird dort von den Asen ebenfalls mit sjónhverfingar empfangen. Allerdings ufert die skáldskap-Belehrung als eigentliche Botschaft dann derart aus, dass kein geschlossenes Werk (vergleichbar der Gylfaginning) zustande kommt. Zurück bleibt eine detailreiche Belehrung über heiti, fornöfn und kenningar. Offensichtlich war die Intention aber, auch die Dichtkunst als (göttliche) Gabe zu begreifen.

4 Analogie oder Euhemerismus In der bisherigen Diskussion wurde davon ausgegangen, dass beide Begriffe einander ausschließen. Wenn Snorri Analogie-Anhänger war, konnte er nicht gleichzeitig dem Euhemerismus-Konzept folgen – oder war doch die Grenze so beschaffen, dass beides nebeneinander existieren konnte? Der Blick auf die schon genannte Ynglinga saga könnte in diesem Sinne Fragen aufwerfen: Ist diese Saga nicht eine mythohistorische Einleitung in die Geschichte der norwegischen Könige, aufgebaut auf dem Ynglingatal des Þjóðolfr ór Hvini, die dieser zu Ehren des Vestfoldkönigs Rögnvaldr heiðumhæri verfasst hatte? Werden in diesem Lied nicht 30 Vorfahren des Königs genannt – darunter auch Yngvifreyr, den die Schweden mit Opfern verehrt haben – und den Óðinn (neben Njörðr) als blótgoði (Opferpriester) eingesetzt hatte und den die Schweden (wie die anderen Opferpriester auch) als Gott verehrten und schließlich in einem Erdhügel bestatteten – verbrennen wollten sie ihn nicht – kölluðu hann veraldargoð, blótuðu mest til árs ok friðar alla ævi síðan.³⁸ Todkrank erklärt Óðinn, dass er nach goðheimr (bzw. goðheimar, pl.) fahren werde – die Schweden glaubten, dass er in den alten Ásgarðr zurückgekehrt sei, um dort ewig zu leben (kominn í hinn forna Ásgarð ok myndi þar lifa at eilífu). Die Leiche verbrannten sie – so wie auch die der verstorbenen díar: ok váru allir brenndir ok blótaðir siðan. Es spricht einiges dafür, dass in Snorris Verständnis der Ásgarðr der Gylfaginning und der der Ynglinga Saga identisch waren. Das heißt aber auch, dass der Óðinn der Ynglinga saga in der Eins-Erklärung (vera einir) des Gylfaginning-Schlusses einbezogen war – und seine Nordwanderung mit zwölf seiner höfðingjar in einer beabsichtigte Relation zum Lebensweg der zwölf Apostel im Gefolge Jesu zu sehen ist. Nicht der Euhemerismus-Gedanke steht hinter dieser Konzeption, wohl aber die Weiterführung des Relations- und Analogie-Gedankens in die skandinavische Frühgeschichte – wobei in Snorris Denken wohl nicht die Zahl der Vergleichsmerkmale ausschlaggebend war, sondern die Konzeption einer Analogie in der Sicht der zeitgeschichtlichen Scholastik.

38 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 25.

Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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Faßt man diese Überlegungen zusammen, ergibt sich ein Bild des Historikers Snorri, das von zwei einfachen (aber ebenso grundsätzlichen) Perspektiven geprägt war: 1) Snorri war bestimmt von dem Gedanken, dass die Wiege der Religionen und Kulturen in der Mitte der Welt (d.h. in Asien) stand. Von dort gingen die Botschaften aus – auch in den Norden. Diese Mittelpunktsidee bezog auch Troja als zentralen Ort mit ein. Auch der Norden hatte – über die Brücke einer Asen-Wanderung – Anteil an asischer, d.h. asiatischer Kulturentfaltung. 2) Das Phänomen der Religionen sah er in der christlichen Botschaft in letzter Vollendung offenbart. An dieser höchsten Offenbarung sind alle Religionen zu orientieren (so darf man wohl die Sicht auf die Religion seiner eigenen Vorfahren verallgemeinern) – unter der Voraussetzung, dass auch ihnen in aller Ungleichheit doch ein gewisser Anteil an einer letztlichen Wahrheit eigen wäre. Man könnte an Jacob Grimm erinnern, der in seiner „Deutschen Mythologie“ angesichts weit verbreiteter heidnisch-religiöser Mythen zu der Erkenntnis kam: „Auch den Heiden keimte der wahre gott, der den Christen zur frucht erwuchs.“³⁹ Der in beiden Fällen (Snorris und Grimms) zugrundeliegende Analogie-Gedanke adelte in deren Sicht auch die heimische Überlieferung. Es macht das Genie dieses isländischen Historikers aus, dass er in weltgeschichtlichen und geschichtstheologischen Zusammenhängen dachte, in die er auch die Kultur und Religion der Norðrlönd einzuordnen und einzubinden versuchte  – in einer Sicht von Offenbarungen und Kulturströmen, die von der Konzeption eines religions- und profangeschichtlichen Zentrums in der Mitte der Erde ausgingen. In seiner Konstruktion und Konsequenz ist diese Sicht mittelalterlich ebenso bemerkenswert wie gegenwärtig bewundernswert.

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39 Grimm 1875, 1, S. 6.

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 Heinrich Beck

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Snorri Sturlusons Mythologie: Euhemerismus oder Analogie?  

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Jan Alexander van Nahl

Snorri Sturlusons Konstruktion eines Deus omnipotens Abstract: In the 1960s, the Norwegian scholar Anne Holtsmark sought to demonstrate how Snorri Sturluson’s usage of theological vocabulary in Gylfaginning could be understood as a system of ironical contrast. Holtsmark’s treatise had a considerable influence on a high number of subsequent publications. Nevertheless, one major problem of these later responses was a somewhat strange distance to the sources, i.e. a tendency to establish argumentation on earlier theses rather than on the medieval manuscripts themselves. The aim of the present study is to give a fresh methodological impetus to any future research in the contentious debate on Snorri’s work in particular, and on Nordic studies in the field of medieval literature in general. The medieval formula of analogy, which Heinrich Beck discusses in his paper in this volume, seems to have had a significant influence on Snorri’s way of harmonizing pagan myths with a Christian world view. The argument of the present study focuses on Snorri’s usage of the Old Icelandic lexeme kraptr both in Gylfaginning and Ynglinga saga. This word, which denotes a supernatural guiding power, is primarily known from theological treatises in Snorri’s days. All known versions of his Edda use the word kraptr, as does Ynglinga saga, in highly important contexts. This usage permits the conclusion that Snorri was seeking to establish a relation between a preChristian idea of divine power and the concept of a Deus omnipotens in the Bible. Moreover, his idea of kraptr can be read on the level of both divine and human Æsir in a way which constructs a unique relation between Christian belief, pagan religion and human leadership in a mythical past. The well-directed use of theological vocabulary offers Snorri’s readership different means of interpretation. But a reader tracing the semantics of used lexemes and realizing their learned backgrounds will be able to advance to a deeper understanding of this outstanding medieval work.

1 Einige methodische Überlegungen Snorre lar Hár fortelle dem [d.i. Mythen] slik han, Snorre, sjelv har hørt dem. Men overallt hvor mytene gjelder troslære, kosmogoni, esjatologi, læren om det hinsides, må vi være på vakt. […] Han vil ikke bare vise den hedenske verdensbillede, men også hvordan dette er en forvrengning av den rette. […] Den hedenske lære fremstilles best som det motsatte av den kristne.¹

1 Holtsmark 1964, S.  56 (‚Snorri ließ Hár die Mythen so erzählen, wie er, Snorri, sie selbst gehört hatte. Aber überall dort, wo die Mythen sich auf die Glaubenslehre beziehen, auf Kosmogonie, Escha-

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Eine Aussage, die Wirkungsgeschichte schrieb. Wenige Worte, mit denen die norwegische Philologin Anne Holtsmark (1896–1974) vor einem halben Jahrhundert den methodischen Kerngedanken ihrer epochalen Abhandlung „Studier i Snorres mytologi“ skizzierte: Der isländische Gelehrte Snorri Sturluson (1178/79–1241) habe sich in seinem Werk eines Wortschatzes bedient, der in zeitgenössischen theologischen Werken eng der christlichen Lehre verbunden gewesen sei. Für die Interpretation seiner Darstellung eines nordischen Asenglaubens ist diese Feststellung von weitaus größerem Gewicht, als sich nachfolgende Forschung bewusst machte: Snorris Überführung christlich konnotierter ‚Schlüssellexeme‘ in nordgermanische Mythologie ist kein sprachlicher Anachronismus;² es ist der Versuch des eloquenten Historikers, pagane und christliche Glaubensinhalte über die Sprache in ein Verhältnis zueinander zu setzen. In literatur-, aber auch religionswissenschaftlicher Interpretation Snorris ist einer lexematischen Analyse daher besondere Relevanz beizumessen;³ die systematische Untersuchung ausgewählter Schlüsselwörter besitzt Potenzial, ein wenig beachtetes Tor zur Vorstellungswelt Snorris wieder aufzuschließen.⁴ Oskar Bandle notierte zu Holtsmarks Arbeit seinerzeit kritisch, „daß manches von einer vorgefaßten Meinung aus gedeutet wurde, was bei unvoreingenommener Betrachtung ohne weiteres auch anders aufgefaßt werden kann.“⁵ Das Problem einer ‚objektiven Interpretation‘⁶ kann hier nicht vertieft werden (wobei das Voranschreiten von Forschung generell von der Überzeugung getragen wird, vermeintlich subjektivistische Methodik zu überwinden). Bemerkenswert ist jedenfalls: Holtsmarks philologische Methode stellte Bandle nicht in Frage; wohl ihre Prämisse einer pejorativen Distanzierung Snorris zur mythologischen Überlieferung des Nordens. Dieses Axiom der Holtsmark‘schen Interpretionen steht in der Snorri-Forschung nicht isoliert da: Fast fünfzehn Jahre zuvor war der deutsche Skandinavist und Reli-

tologie, die Lehre vom Jenseits, müssen wir aufmerksam sein. Er wollte nicht nur das heidnische Weltbild zeigen, sondern auch, inwiefern dieses eine Verzerrung des richtigen ist. Die heidnische Lehre wird am besten als Gegensatz zur christlichen dargestellt‘). 2 So deutete es etwa Edith Marold an (Marold 1998, S. 166). 3 Zur Terminologie-Diskussion vgl. Schindler 2002. 4 Vgl. van Nahl 2013. Das Potenzial einer Wortschatzuntersuchung skizzierten 1930 Helmut de Boor in Betrachtung der Vǫluspá (de Boor 1930), sowie 1947 Helge Ljungberg in religionsgeschichtlicher Untersuchung des Verbums trúa (Ljungberg 1947). Mit lexikalischem Lehngut setzte sich in zwei Arbeiten Ernst Walter auseinander (Walter 1976 und 1998). Zu nennen ist auch Wolfgang Langes Habilitationsschrift zur christlichen Dichtung des Nordens von 1958 (Lange 1958). Wilhelm Heizmanns Bemerkung zum schlummernden Potenzial umfassender Belegstellensammlungen (etwa des „Ordbog over det norrøne prosasprog“, mittlerweile digital weitgehend zugänglich unter: http://www.onp.hum.ku.dk/ [31.05.2013]) ist nachdrücklich zuzustimmen (Heizmann 2000, S. 109). Seine Frage, „ob Wortuntersuchungen auf dem Gebiet des Altwestnordischen ohne Konsultation dieses Hilfsmittels überhaupt sinnvoll sein können“ (ebd.), mag indessen übermäßig kritisch erscheinen. 5 Bandle 1969, S. 452. 6 Vgl. grundlegend Gadamer 1993.

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gionshistoriker Walter Baetke⁷ (1884–1978) in seiner Akademieschrift „Die Götterlehre der Snorra-Edda“ bereits zu ähnlichem Urteil gekommen. Unter Rekurs auf die einleitenden Ausführungen des Formáli⁸ interpretierte Baetke den Allvater-Óðinn der Gylfaginning als Gott einer religio naturalis: „Dadurch war gleichsam ein Kompromiss zwischen dem Polytheismus der Mythen und dem Monotheismus der natürlichen Religion geschaffen.“⁹ Christliches Gedankengut in der Beschreibung dieses Allvaters erklärte Baetke zu Snorris Versuch, „auf seine Weise das Gottesbild der natürlichen Religion [zu] zeichnen. Auch dieses erfand er nicht selbst, sondern entnahm es der Lehre der Kirche.“¹⁰ Über diese Formel verknüpfte Baetke nordische Mythologie mit christlicher Theologie; ein Deutungsansatz der im Schlusswort eine folgenreiche Perspektivierung erfuhr: Wohl seien Relationen zwischen ‚natürlicher Theologie‘ und nordischem Polytheismus in Snorris Werk evident – Baetke prägte den Terminus der ‚Odinstheologie‘ –, letztlich aber hätte der ganze pagane Glaube eben doch auf Trug und Irrwahn gebaut.¹¹ Es blieb in diesem Urteil ungeklärt, weshalb Snorri eine komplexe ‚Odinstheologie‘ hätte entwerfen sollen, nur um diese dann „verdunkelt und vom heidnischen Irrwahn überdeckt“ zur christlichen Polemik zu degradieren. Eine Erklärung dieser Deutung wird man vielmehr im zeitgeschichtlichen Kontext suchen müssen: Als strikter Quellenkritiker hatte sich Baetke (seit Februar 1936 Lehrstuhlinhaber am Religionsgeschichtlichen Seminar der Theologischen Fakultät zu Leipzig) in zahlreichen Schriften und Vorträgen vehement gegen ideologische Umdeutung der nordischen Überlieferung, gegen alle Auswüchse einer ‚Germanentümelei‘ positioniert.¹² Diese unbeirrbare Haltung übte nach Kriegsende Einfluss auch auf seine ‚Götterlehre‘  – Klaus von See sprach später gar von einer ‚Theologisierung‘;¹³ für nachfolgende Forschung wurde Baetkes Urteil aber prägend, war sein Konzept einer relationierenden ‚Odinstheologie‘ nun doch gleichsam mit negativem Vorzeichen versehen. In Anne Holtsmark fand diese Forschungsposition 1964 ihre einflussreichste Vertreterin: Allein strikte Zurückweisung und dämonologische Ausdeutung habe Snorri Sturluson als rechtschaffener Christ des skandinavischen Hochmittelalters gegenüber einem nordischen Polytheismus vertreten können. Ironie schien Holtsmark unter dieser Prämisse das charakteristische Stilmittel: Theologischer Wortschatz in

7 Zu Baetkes Tätigkeit an der Universität Leipzig vgl. Rudolph 1962, S. 155 ff.; zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Baetkes vgl. auch van Nahl (im Erscheinen). 8 Die Diskussion über eine mögliche Verfasserschaft Snorris am Formáli soll hier nicht geführt werden, ist sie doch für den vorliegenden Beitrag nur von sekundärem Interesse (zur Diskussion vgl. u.a. von See 1999a; Beck 2007 und 2009; van Nahl 2013, S. 33 ff.). 9 Baetke 1950, S. 57; vgl. auch Lang 1998. 10 Baetke 1950, S. 53. 11 Baetke 1950, S. 67. 12 Vgl. Rudolph 1962; vgl. auch Beck 2007, S. 28 f. 13 von See 1988, S. 17.

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Snorris Präsentation paganer Vergangenheit könne nur als ironische Brechung, als assosiasjon ved kontrast¹⁴ verstanden werden – das Teuflische würde umso stärker akzentuiert, je christlicher es sich den Anschein gäbe. So konnte Holtsmark (ohne Rückgriff auf die Idee einer ‚natürlichen Religion‘) den Widerspruch in der These Baetkes scheinbar lösen – und (vor allem über die anknüpfenden Studien Gerd Wolfgang Webers) Einfluss bis in jüngste Forschung entfalten.¹⁵ Zur Mitte der 1990er Jahre entwickelte Heinrich Beck in mehreren Arbeiten eine neue Position in der Beurteilung Snorris und stellte sich damit (implizit) sowohl gegen Holtsmarks These, als auch gegen Klaus von Sees zeitnah ausgearbeitetes Konzept einer ‚Nordischen Sonderkultur‘, das in Snorris Werk eine Separation von erstens nordischer Kultur und kontinentaler Geschichte, zweitens theologisch bestimmtem Formáli und mythographischer Gylfaginning postulierte.¹⁶ Dem entgegen vertrat Beck die These, in der Gylfaginning werde ein Analogiekonzept fassbar, das den fundamentalen Bezug zum Neuen Testament eröffne (vgl. den Aufsatz von Heinrich Beck in diesem Band).¹⁷ Dieser Interpretationsansatz ist in folgender Betrachtung zu bedenken. In der Bestimmung thematischer Schwerpunkte herrscht in der Snorri-Forschung weitgehender Konsens; dies hat zu Bevorzugung einzelner Teilwerke geführt, in deren Beurteilung sich indessen eine reiche Diskussion entfaltet hat. Wortschatzuntersuchungen aber wurde, soweit ich sehen kann, in den letzten Jahrzehnten der Älteren Skandinavistik im Allgemeinen, der Snorri-Forschung im Speziellen wenig

14 Holtsmark 1964, S. 24. 15 Vgl. Weber 1986; jüngst etwa Lassen 2006 und 2010. Deutlich beeinflusst zeigte sich unlängst auch Yvonne Bonnetain in ihrer Dissertation über Loki. Unter Verweis auf Weber (mit Nennung Baetkes und Holtsmarks) hielt sie fest: „Die Erkenntnis, dass es sich bei den vorchristlichen Göttern aus christlicher Sicht um Dämonen handelt, muss sich auf Island bereits früh eingestellt haben, wie sich am Beispiel der Ynglinga saga belegen lässt. […] Eine wie auch immer geartete Faszination des christlichen Menschen durch als solche erkannte Dämone [sic!] oder vorchristliche Götter ist innerhalb dieses Verständnisses ausgeschlossen. Kommt es doch zu einer Verführung, dann aufgrund einer arglistigen Täuschung. Dementsprechend getäuscht wird Gylfi. Deshalb verliert der Dämon Óðinn seinen Götterstatus und wird zu einer gänzlich unattraktiven Teufelsgestalt degradiert“ (Bonnetain 2006, S. 171 f.). 16 Vgl. besonders von See 1999b. 17 Vgl. u.a. Beck 1994 und 2007. Die Bedeutungsdimensionen von Analogie haben ein breites Spektrum an Forschungsliteratur gezeigt; zur komplexen Debatte vgl. u.  a. Eusterschulte 1997 und Weingartner / Marshall 1998. Eine auch für den vorliegenden Zusammenhang ergiebige Definition von ‚Analogie‘ formulierte 1960 der Bamberger Philosoph Heinrich Beck: „Zwei Bestimmungen stehen nämlich dann in einem analogen Verhältnis zueinander, wenn die eine zur anderen nicht die negative Beziehung des Widerspruchs oder des reinen Andersseins, sondern die positive Beziehung der Ähnlichkeit besitzt, so dass man, um von der ersten zu letzteren zu gelangen, nicht gleichsam die Richtung ändern oder abbrechen, sondern zu Ende schreiten muss. Die eine Bestimmung schließt die andere nicht aus sich aus, sondern in sich ein durch die positive und hinweisende Beziehung der Ähnlichkeit, in der sich ihr Sinngehalt vollendet“ (Schadel 2009, S. 96).

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Beachtung geschenkt. Wiederaufnahme und Weiterentwicklung einer lexematischen Analyse von Snorris Werk sind daher methodischer Anspruch des vorliegenden Beitrags, thematisch verortet in der ungebrochen debattierten Frage nach dessen theologischer resp. religionsgeschichtlicher Dimension. Somit verstehen sich die folgenden Ausführungen auch als Impetus einer generellen Diskussion künftiger philologischer Methodik innerhalb der skandinavistischen Mediävistik. Dieser Anspruch sei in einigen Vorbemerkungen präzisiert. Im Studium der jüngeren Forschungsbeiträge zu Snorris Werk muss befremden, dass der Blick auf die zu untersuchenden Texte oftmals gehemmt scheint durch dominante Postulate früherer Forschung. Der rechtfertigende Verweis auf vermeintlichen Konsens bedingt aber eine Vernachlässigung von Kontexten, erstens hinsichtlich einer fachgeschichtlichen Einordnung von Thesen und Prämissen, zweitens im Blick auf hochmittelalterlichen Diskurs, der durchaus neuerliche Diskussionen erfordern könnte. Angesichts eines Methodenpluralismus jüngerer Zeit ist die Präzisierung des methodischen Vorgehens am Interpretationsobjekt unabdingbar, darin auch die Frage nach Rahmenbedingungen und Inhalten von ‚Kontext‘ zu stellen.¹⁸ Seit über zwei Jahrzehnten wird in philologischen Disziplinen mit dem Schlagwort der ‚New Philology‘ operiert, von ‚Heterogenität‘ mittelalterlicher Überlieferung gesprochen, eine ‚Rekontextualisierung‘ und ‚Rephilologisierung‘ zur Debatte gestellt. Die Germanistik hat solche Methodendiskussion u.a. in zahlreichen Tagungsund Sammelbänden befördert.¹⁹ Umso auffälliger, dass vergleichbarer Disput in der Älteren Skandinavistik bisher nur verhalten geführt wurde.²⁰ Snorris Werk nimmt in der altskandinavistischen Forschung eine hervorragende Stellung ein und erscheint als ideales Betätigungsfeld einer grundlegenden Methodendebatte. Von Diskussionsimpulsen weitgehend ungehindert dominieren aktuell aber Thesen, deren wirkungsgeschichtliche Wurzeln oftmals in die frühe Nachkriegszeit zurückreichen  – und unter verstärkter Berücksichtigung dieses Kontextes zu bedenken wären. An die Stelle solcher Rekontextualisierung tritt in forschungsgeschichtlicher Perspektive tatsächlich oftmals eine Entkontextualisierung, die zeit- und fachgeschichtliche Bedingtheiten allzu leicht aus dem Blick rückt. Es ist bemerkenswert, dass nach Baetkes Arbeit von 1950 bis in die achtziger Jahre hinein von deutschsprachiger Seite der Forschungsbeitrag zu Snorri überschaubar blieb;²¹ in der Retrospektive bedeutete das Ende des Dritten Reichs auch für die Erforschung nordischer Mythologie eine Zäsur. Abhandlungen der ersten Nachkriegs-

18 Vgl. auch Müller 2007. 19 Vgl. z.B. den Disput zwischen Walter Haug und Gerhart von Graevenitz in der „Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“ (Haug 1999a und 1999b; von Graevenitz 1999; dazu Fischer 2007). Vgl. auch die jüngst publizierte „Methodengeschichte der Germanistik“ (Schneider 2009). 20 Vgl. van Nahl (im Druck). 21 Vgl. auch Weber 1984.

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jahrzehnte müssen aus diesem zeitgeschichtlichen Kontext heraus beurteilt werden (der für die Skandinavistik noch keinesfalls abschließend aufgearbeitet ist).²² Studien vor allem der publikationsreichen achtziger und neunziger Jahre müssen auf ihre Verbindungen zu dieser Basis geprüft werden und können ihrerseits nicht unbesehen zur methodischen Grundlage aktueller Interpretationen gewählt werden. Eine Methodenreflexion fordert, auch solche Abhängigkeit zu erkennen und anzuerkennen. Doch eine Methodengeschichte der skandinavistischen Mediävistik steht, soweit ich sehen kann, in vielen Bereichen noch aus.²³ Zur Jahrtausendwende notierte der schwedische Philologe Henrik Williams eine Tendenz innerhalb der Altnordistik, „som gör den litterära behandlingen av norrön litteratur alltmer teoretisk. […] Jag frågar mig en smula uppgivet: var finns filologin i all denna lingvistik och litteraturteori?“²⁴ Ein zeitnah publizierter Aufsatz von Preben Meulengracht Sørensen mag als erster Versuch einer (künftigen) Antwort auf diese resignative Frage gelesen werden: Et samspil mellem filologi i snæver forstand og litteraturvidenskab, ikke af dem hver for sig. Denne metode, der tager sit utgangspunkt i, at teksten har en flyende, dynamisk form og en mening, vil jeg kalde filologisk.²⁵

Angesichts aktuell herrschender Methodenvielfalt zwischen Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft(en) und Philologie sind es vor allem die mittelalterliche Überlieferung und ihr (zu diskutierendes) kulturelles Umfeld, die einen Weg mediävistischer Forschung weisen müssen.²⁶ So ist auch eine jüngste Äußerung Stefanie Groppers allein als Postulat zu verstehen:

22 Vgl. jüngst Zernack 2005. 23 Die Grundlegung einer solchen methodologischen Aufarbeitung ist eine Zielsetzung meiner Forschung in der Postdoc-Phase. 24 Williams 2000, S. 13 (‚[Eine Tendenz], die die literarische Behandlung der norrönen Literatur zunehmend theoretisch werden lässt. […] Ich frage mich leicht resignierend: Wo ist die Philologie in all dieser Linguistik und Literaturtheorie?‘). 25 Meulengracht Sørensen 2001, S. 286 (‚Ein Zusammenspiel von Philologie im engeren Sinne und der Literaturwissenschaft, nicht getrennt voneinander. Diese Methode, die ihren Ausgangspunkt darin nimmt, dass der Text eine fließende, dynamische Form und Bedeutung hat, will ich ‚philologisch‘ nennen‘). 26 Bemerkenswerterweise notierte bereits Andreas Heuslers in einem Brief an Wilhelm Ranisch aus dem Jahre 1932 zum ‚Dualismus Philologie – Geisteswissenschaft‘: „Ich bin auch hierin Monist. Die Frage: ob Philologie oder Geisteswissenschaft besser sei, kommt mir so vor wie: ob Ein- oder Ausatmen besser sei“ (Beck / Düwel 1989, S. 542 (auf diese Notiz verwies bereits Heinzle 1998, S. 95)). Hinter Heuslers Bemerkung wird die methodologische Auseinandersetzung zwischen ‚exakter‘, d.h. textkritischer Philologie einerseits, kulturhistorisch perspektivierter ‚Geistesgeschichte‘ andererseits stehen (vgl. auch Hahne 2009).

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Ich denke, dass wir uns zuerst darauf besinnen müssen, dass wir Vertreter einer Philologie sind, d.h. dass wir es mit sprachlichen Äußerungen zu tun haben, die wir innerhalb eines bestimmten zeitlichen und geographischen Rahmens analysieren. […] Das heißt, bei der Analyse der Texte haben wir zu berücksichtigen, dass sie ein sprachliches Abbild der Welt liefern, dass die Welt somit nicht unmittelbar, sondern codiert abgebildet wird. […] Meiner Ansicht nach [sollte] unsere Basis für die skandinavistische Mediävistik als Kulturwissenschaft die New Philology sein.²⁷

Wenn Snorri in der weiteren Diskussion als geistiger Urheber von Gylfaginning und Ynglinga saga angesprochen wird (wie in der Forschung unter verschiedener Begrifflichkeit seit jeher gebräuchlich), so impliziert dies nicht, dass die Inhalte der überlieferten Manuskripte sämtlich aus seiner Feder stammen; redaktionelle Eingriffe unterschiedlicher Art sind allgemein anerkannt. Keine Untersuchung konnte bisher überzeugend darlegen, welchen Anteil Snorri tatsächlich an dem Gesamtwerk hatte, wie es überliefert und ihm zugeschrieben ist; das gilt indessen gleichermaßen für spätere Redaktoren. Snorri in die methodische Debatte einzubinden, erteilt einer Varianz der Überlieferung daher keine Absage.²⁸ Heterogenität und Ambiguität weder „als bloße[n] Ausgangspunkt für die Herstellung eines (homogenen) angeblich Ursprünglichen“ zu setzen, noch „als Ergebnis einer nicht voll gelungenen zeitgenössischen Integration“ abzuwerten,²⁹ ist keine neue Forderung – deren Umsetzung in der Snorri-Forschung jedoch die Konsequenz zu fehlen scheint, wenn die bisweilen explizit betriebene, regelmäßig aber implizit mitwirkende textkritische Suche nach einer ‚Originalversion Snorra-Edda‘ die gleichrangige Erforschung aller überlieferten Werkfassungen zurückstellt. Für die vorliegende Untersuchung wird der thematisch-methodische Untersuchungsrahmen folgend gesetzt: Zur textlichen Grundlage der Gylfaginning wird der literaturwissenschaftlich vernachlässigte Codex Upsaliensis DG 11 (U) gewählt;³⁰ ihm wird der so genannte ‚Gemeine Text‘, die Handschriften RTW (Codex Regius, Trajectinus, Wormianus), vergleichend zur Seite gestellt.³¹ Zitate aus der (in ihrer Überlieferung homogener erscheinenden) Ynglinga saga sind der Heimskringla-Edition von Bjarni Aðalbjarnason entnommen.³² Als Alternative zur wirkungsmächtigen Kontrastthese Holtsmarks erfolgt die neuerliche Analyse eines ‚Schlüssellexems‘ in Gylfaginning und Ynglinga saga unter der methodischen Vorgabe einer hochmittelalterlich

27 Würth 2005, S. 65 f.; zu ähnlichem Ergebnis kam jüngst Henrik Williams (Williams 2010). 28 Vgl. auch Schnell 1998, S. 70. 29 Müller 1998, S. 25. 30 Der Text wird dem zweiten Band der dreibändigen Arnamagnäanischen Ausgabe entnommen (Edda (Jón Sigurðsson 1848–87)). 31 Einen Überblick der Handschriften bietet Seelow 1998. Die Kapitelzählung ist den im Literaturverzeichnis genannten Ausgaben entnommen. Für RTW wird soweit möglich der Text von R herangezogen, zitiert nach der Ausgabe von Finnur Jónsson (Edda (Finnur Jónsson 1931)). 32 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51).

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fixierten (und nachweislich zeitnah nach Skandinavien vermittelten³³) Analogiethese. Über lexematische Vergleiche der differierenden Gylfaginning-Versionen sowie der Ynglinga saga wird zum ersten die handschriftliche Überlieferung ins Zentrum der Untersuchung gerückt; zum zweiten wird im Rückgriff auf mittelalterlich-theologischen Diskurs dem Anspruch zeitgenössischer Interpretationsmethodik soweit möglich Rechnung getragen.³⁴ Ein relevanter fachgeschichtlicher Kontext wurde bereits skizziert.

2 Das kraptr-Konzept der Gylfaginning Im Fokus der folgenden Analyse steht das Substantivum kraptr (m.), norröne Übertragung eines lateinischen virtus.³⁵ Kraptr kennzeichnet nicht reine Körperkraft, sondern verweist in den Bereich suprahumaner Macht. Der Glaube an übernatürliche Kräfte, die Einfluss nehmen auf das irdische Leben, hat universalen Charakter: Im Christentum werden Schöpfung von und Herrschaft über die Welt einem singulären Gott zugeschrieben, dem Deus omnipotens, wie die Vulgata ihn bezeichnet. Der Mensch Jesus agiert als Christus, als Gottes gesandter Sohn auf Erden; in ihm wird virtus, göttliche Macht, sichtbar und wirksam, wenn er Kranke heilt oder Tote erweckt.³⁶ Diese offenbarten Zeichen, bis hin zu Kreuzestod und Auferstehung, erlauben den Menschen ein Erfahren des wahren Gottes  – und sollen ihnen zum Fundament des Glaubens werden. In der christlichen Lehre ist indessen auch eine (zu allen Zeiten denkbare) Gotteserkenntnis durch irdisch-sinnliche, d.h. göttliche Offenbarung nicht unmittelbar erfahrende, Wahrnehmung fixiert: Die verständige Betrachtung der Schöpfung ermöglicht den Rückschluss auf einen Schöpfer – ein Analogieschluss.³⁷ Eine vertiefende philosophisch-theologische Dimension, die vorrangig unter der Terminologie einer theologia resp. religio naturalis die Diskussion seit der Aufklärung prägt,³⁸ kann auf Snorri nicht unbesehen übertragen werden. Die dem Konzept einer vernunftbe-

33 Vgl. van Nahl 2013, S. 60. 34 Zu Bedeutung und Perspektiven der mittelalterlichen Theologie vgl. auch Schäfer / Thumer 2007. 35 Vgl. Frings 1949, S. 25; Walter 1976, S. 42; Weber 1981, S. 490. 36 Das Neue Testament bietet zahlreiche Belege vor allem für die Formeln virtus Dei und virtus Spiritus Sancti; vgl. auch etwa Luk 5,17: virtus erat Domini ad sanandum eos (‚die Kraft des Herrn war mit ihm, sodass er heilen konnte‘). 37 Vgl. Weingartner / Marshall 1998, Sp. 448: „Ein allgemein gebräuchlicher Ansatz ist, unser Verständnis von geschaffenem Sein für eine Analogie heranzuziehen, die uns befähigen soll, das ungeschaffene Sein Gottes, wenn auch unvollkommen, zu begreifen.“ 38 Auch hier gilt, dass angesichts mannigfacher Forschungsinteressen weiterführende Literaturhinweise allein Akzente setzten können; vgl. u.  a. Kohl 1998; Lang 1998; Byrne / Holmes 2003.

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gründeten Religion zugrundeliegende Idee ist aber nicht erst christlicher Provenienz, sondern bereits bei griechischen Philosophen der Antike entwickelt.³⁹ Die Frage, inweit diese Idee Eingang auch in Snorris Werk gefunden haben könnte, wurde spätestens durch Walter Baetke in der Forschung etabliert. Kenntnis solcher Lehre in Snorris direktem Umfeld belegt die christlich-theologisch perspektivierte Formáli-Einleitung (in allen Fassungen): hverr mvndi þa segia fra gvðs stor merkivm er þeir tyndo gvþs nafni (‚aber wer sollte von Gottes Großtaten erzählen, als sie [d.i. die Heiden] Gottes Namen vergaßen?‘). Nach der Sintflut war das Wissen um den wahren Gott, den allmáttigr Guð verloren. In Beobachtung der Natur kamen die Menschen aber zur Überzeugung, der Lauf der Welt müsse gesteuert sein von einem mächtigen, wenn auch unsichtbaren Herrscher: sa þeir þat at oiafn var gangr himintvngla. svm gengv lengra en svm. þat grvnaþi þa at nockvrr mvndi þeim styra. ok mvndi sa vera rikr (‚sie sahen, dass der Lauf der Gestirne unregelmäßig war, einige hatten längere Laufzeiten als andere. Sie vermuteten, das jemand sie lenken würde, und dieser müsste mächtig sein‘). Die Benennung der Schöpfung (zwecks Tradierung) und nachfolgende mannigfaltige Sprachveränderungen bedingten im Laufe der Zeit auf der ganzen Welt unterschiedliche Ausformungen eines Glaubens (átrúnaðr) an solch übernatürliche Macht.⁴⁰ Bemerkenswert ist die durchgängige Ansprache dieser Macht im Singular (hann, sá) – der Formáli-Verfasser setzt auch nach der Sintflut zunächst einen monotheistischen Glauben der Menschheit an. Aus Beobachtung der Vielfalt der Natur erwächst nach seinem Verständnis nicht zwingend eine Vielgötterei, sondern konnte sich auch der Gedanke eines singulären Herrschers wieder formen. Doch der Formáli deutet in seinen weiteren Ausführungen den späteren Übergang von solcher religio naturalis hin zu einem Polytheismus an, wenn für mittel- und nordeuropäisches Gebiet von einer Vergöttlichung irdischer Asen gesprochen wird: hvar sem þeir forv þotti mikils vm þa vert ok likari goþvm en monnvm (‚wo immer sie [d.i. die einwandernden Asen] fuhren, schienen sie von großer Bedeutung und eher Götter als Menschen‘). In Gylfaginning und Ynglinga saga befasst sich Snorri umfänglich sowohl mit diesen asiatischen Einwanderern als auch den mythischen Asengöttern. Aber auch er formuliert zunächst den Gedanken eines ursprünglichen Monotheismus. In diesem Kontext kommt dem Substantivum kraptr zentrale Bedeutung zu. Anne Holtsmark vertrat (wie jüngste Anhänger⁴¹) die These, dieser kraptr müsse als Teu-

39 Vgl. Kohl 1998, S. 231. 40 Ok til þess at þeir mætti mvna. þa gafo þeir avllvm hlvtvm nafn með ser ok siþan hevir atrvnaþr breyzt a marga vega sem menn skiptvz. eðr tvngr greindvz (‚und um es sich merken zu können, gaben sie allen Dingen von sich aus Namen, und danach hat sich dieser Glaube in vieler Weise gewandelt, so, wie Völker sich teilten oder Sprachen verzweigten‘); vgl. bereits Dronke / Dronke 1977, S. 155 ff. und 162 ff. 41 Vgl. etwa Lassen 2010, S. 228: „Selvom det aldrig bliver sagt direkte må disse egenskaber hos Odin have haft stærke antikristne konnotationer i middelalderen. Der er informationer nok til, at samtidens

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felskraft verstanden werden.⁴² Snorris Darstellung der Asen würde damit ins Negative verkehrt: Wenn er vom asischen kraptr berichtete, dann hätte dem zeitgenössischen Publikum der dämonische Aspekt dieser Macht unmittelbar vor Augen gestanden, so Holtsmarks Überzeugung. Aber: Aus lexematischer Sicht findet sich eine solche These in den norrönen Quellen kaum gestützt. Ludvig Larsson und Holtsmark selbst verzeichneten in den Jahren 1891 und 1955 den Wortschatz der dato bekannten theologischen Handschriften (bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts) systematisch in Registern;⁴³ diese Listen notieren über fünfzig Belegstellen, an denen das Substantivum kraptr Verwendung findet – bezeichnend: Über neunzig Prozent dieser Belege lassen an einer positiven Konnotation von kraptr keinen Zweifel; kraptr kennzeichnet die Macht Gottes, Jesu Christi oder eines Heiligen. Allein an vier Stellen wird kraptr dem Teufel zugeschrieben. Eine deutliche zeitgenössische Tendenz – die Holtsmark in ihrer Kontrast-Interpretation ins Gegenteil verkehrte. In der U-Gylfaginning findet das Substantivum kraptr an zwei Stellen Nennung: In Kapitel  8 berichtet Hár (als Teil der Dreiheit Hár, Jafnhár und Þriði) vom Urriesen Ymir, der durch das Zusammenspiel von Hitze und Kälte entsteht; der eigentliche Schöpfungsprozess aber wird ermöglicht með krapti þeim er styrþi (‚durch die Kraft, die lenkte‘), eine Macht, die diese konträren Entitäten zusammenführt. RTW formulieren abweichend: með krapti þes, er til sendi hitann (‚durch die Kraft dessen, der die Hitze gesandt hatte‘); die Forschung vermutete darin Rekurs auf den Feuerriesen Surtr⁴⁴ – eine fragwürdige These, weist doch der folgende Text in RTW (c. 6) diesen kraptr eindeutig dem Allvater zu: firir þvi ma hann heita Alfavðr, at hann er faþir allra goþaɴa ok manna ok allz þes, er af honvm ok hans krapti var fvllgert (‚deshalb darf er Allvater heißen, weil er der Vater aller Götter und Menschen ist und all dessen, das durch ihn und seine Kraft vollbracht wurde‘). Ähnlich wie der Formáli vom allmáttigr Guð spricht, der von den Menschen (aufgrund ihrer irdisch beschränkten Erkenntnis (jarðlig skilning)) nicht mehr erkannt, nur noch als Schöpfer und Lenker erahnt wird, so präsentiert auch Snorri vor Behandlung des asischen Pantheons zunächst einen singulären Allvater. Und so, wie dem allmáttigr Guð, dem biblischen Deus omnipotens, ein virtus zugeschrieben und er gar mit diesem gleichgesetzt wird,⁴⁵ so schreibt Snorri seinem Allvater

læser kunne forstå, at denne mægtige mand nok har stået i ledtog med djævel og dæmoner“ (‚auch wenn es nie direkt gesagt wird, so müssen diese Eigenschaften von Óðinn im Mittelalter doch stark antichristlich konnotiert gewesen sein. Die Informationen reichen aus, damit der zeitgenössische Leser verstehen kann, dass dieser mächtige Mann mit dem Teufel und mit Dämonen in Verbindung gestanden hat‘). 42 Holtsmark 1964, S. 19. 43 Larsson 1891; Holtsmark 1955. 44 Vgl. etwa von See 1988, S. 54. 45 Vgl. etwa Jesu Äußerung vor dem Hohen Rat (Mat 26,64): tu dixisti verumtamen dico vobis amodo videbitis Filium hominis sedentem a dextris virtutis et venientem in nubibus caeli (‚du sagst es. Doch

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einen kraptr zu  – der in U über die Formulierung kraptr sá er stýrði ebenfalls eine Personifikation erfährt. Bereits Jacob Grimm merkte an: „Die belebung wird zurückgeführt auf die kraft dessen, der die hitze zusandte, gleichsam auf einen älteren, ewigen gott, der schon in dem chaos waltete.“⁴⁶ Wenn dieser kraptr in Snorris mythologischer Präsentation einen Ymir als erstes Wesen schuf, dann impliziert das keinen Widerspruch:⁴⁷ Offenkundig wird darin vielmehr eine angestrebte Synthese von einstiger Gotteserkenntnis und späterem nordischem Polytheismus, wie Snorri ihn im Verlauf der Gylfaginning dann entfaltet. Ein Blick auf die zweite Belegstelle: Miklir þicki mer þessir fyrir ser æsirnir. ok eigi er vndr at mikill kraptr fylgi yþr er þer skvlot kvnna skyn gvþanna. ok vita hvern biþia skal hvers hlvtar eða hverrar bænar. (Gylfaginning, c. 19) ‚Mächtig scheinen mir diese Asen zu sein und es ist nicht verwunderlich, dass euch große Macht begleitet, da ihr Kenntnis haben solltet über die Götter und wissen solltet, an wen man sich in welchen Angelegenheiten und mit welchen Gebeten wenden soll.‘

Gylfi zeigt sich mit diesen Worten beeindruckt nach der nun erfolgten Präsentation der wichtigsten Asengötter. Das Wissen um diese neuen Götter und die Kenntnis, welcher Gott in welcher Situation angebetet werden kann, sichern den Menschen den Beistand eines göttlichen kraptr. Die in geistlichen Texten belegte Formel biðja bœnar eröffnet eine Parallele zu christlicher Glaubenspraxis, doch noch bedeutsamer erscheint im Kontext die Formulierung fylgi ýðr, mit der sich Gylfi unmittelbar an seine Gesprächspartner, die Dreiheit, wendet. Das Verbum fylgja impliziert eine nachfolgende Begleitung (auch im weiteren Sinne).⁴⁸ Entsprechend wird etwa in Kapitel 18 der Gylfaginning zu Baldr gesagt: sv natvra fylgir honvm at eigi ma halldaz domr hans⁴⁹  – Anne Holtsmark hielt fest: „Vi er inne på forestillingene om fylgja, f., mannens skjebne som følger ham.“⁵⁰ Jan de Vries notierte zum Substantivum fylgja:

sage ich euch: Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen auf den Wolken des Himmels‘). 46 Grimm 1835, S. 466. 47 Kritisch zeigte sich etwa Edith Marold (Marold 1998, S. 154). 48 Vgl. Fritzner 1954, s.v. fylgja: ‚være i Følge med en eller noget‘. 49 Die genaue Übersetzung ist umstritten, RT überliefern abweichend: sv natvra fylgir honvm, at engi ma halldaz domr hans. „Varianten eigi/engi kan lett forklares grafisk, eigi ble often skrevet eg̃ og kunne leses som om forkortelsestegnet var nasalstrek“ (Holtsmark 1964, S. 73 (‚die Variante eigi/engi kann leicht orthographisch erklärt werden; eigi wurde oft eg̃ geschrieben und das Abkürzungszeichen konnte als Nasalstrich gelesen werden‘)). Am Aussagegehalt des Verbums fylgja ändert dies nichts. 50 Holtsmark 1964, S. 74 (‚wir sehen hier die Vorstellung von fylgja, f., das Schicksal des Menschen, das ihm folgt‘).

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Sie [ist] Ausdruck für eine seelische Kraft, die das Wesen des Manns bestimmt, und hier kann sich leicht der Gedanke anknüpfen, daß die fylgja nicht nur Projektion des inneren Wesens eines Menschen nach außen, sondern auch ein außerhalb des Menschen für sich bestehendes Wesen ist, das ihn lenkt. […] Der katholische Glaube an Heilige, die als Patrone ihrer Verehrer fungieren, […] ist auch der ähnlichen germanischen Denkweise weitgehend entgegenkommend, und das hat zu einer so innigen Verschmelzung geführt, daß wir Heidnisches und Christliches kaum mehr trennen können.⁵¹

Gylfis Bemerkung, mikill kraptr fylgi ýðr, beschließt den ersten Teil der Götterpräsentation und muss aufgrund dieser exponierten Stellung besonderes Augenmerk auf sich ziehen. Die Bedeutungsdimension dieser Aussage wird evident, vergleicht man sie mit anderen Quellen: Snorris Magnúss saga blinda (c. 11) überliefert die Formulierung mikill kraptr fylgir krossinum (‚große Macht folgt dem Kreuz‘), und die Óláfs saga Tryggvasonar en mesta (c. 75 und 216) erscheint mit den Anführungen þat sigr mark er mikill kraptr fylgir. þat er kross (‚das Siegeszeichen, dem große Macht folgt, das ist das Kreuz‘) sowie mikill kraptr fylgir kristnum sið (‚große Macht folgt dem Christentum‘) in gleicher Reihe. In zeitgenössischen theologischen Texten wiederum wird die Idee des göttlichen Wirkens über eine Zwischeninstanz umfassend behandelt – unter identischer Terminologie. So spricht der Apostel Petrus nach einer wundersamen Heilung: nu scolot ér non þat hyɢia at ec mega gera yþr heilso af crapti mínom (‚nun sollt ihr nicht glauben, dass ich euch heilen könnte durch meine eigene Macht‘) – vielmehr sei es das Preisen Gottes Namen gewesen, das ihm solche Kraft (kraptr) verliehen habe: þaþan fra fylgþe sva micill ɢuþs craftr petro postola (‚[…] und von da an [d.i. seit dem Preisen von Gottes Namens] folgte dem Apostel Petrus so große Macht Gottes‘).⁵² In der Vulgata findet sich die Episode in der Apostelgeschichte 3,12: viri israhelitae quid miramini in hoc aut nos quid intuemini quasi nostra virtute aut pietate fecerimus hunc ambulare (‚ihr Männer von Israel, was wundert ihr euch darüber oder was seht ihr auf uns, als hätten wir durch eigene Kraft oder Frömmigkeit bewirkt, dass dieser gehen kann?‘). Göttlichen Beistand vermutet auch Gylfi hinter der besonderen Befähigung der irdischen Asen: Ok hvgsaþi þat er allir lyþir lofvþo þa [d.i. den irdischen Asen] ok allir hlvtir gengv at vilia þeirra. hvart þat mvndi af eþli þeirra vera eða mvndi gvþmavgnin vallda þvi. (Gylfaginning, c. 1) ‚Und er dachte darüber nach, wenn alle Leute sie verehrten und alle Dinge nach ihrem Willen liefen, ob das in ihrer eigenen Natur läge oder ob Göttermächte das verursachten.‘

Hinter den hier noch bewusst diffus gehaltenen guðmǫgn steht jene Idee, die im kraptrKonzept dann zur Entfaltung kommt. Und so wie Petrus von der Macht (kraptr/virtus)

51 de Vries 1956/57, S. 228. Zur jüngeren Diskussion vgl. auch Röhn 1998. 52 Isländska Handskriften No. 645 4to (Larsson 1885), S. 57.

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des Christengottes spricht, die ihm nicht selbst innewohnt, aber durch ihn wirken kann, so lässt Snorri die Dreiheit von der Kraft (kraptr) der Asengötter berichten. Beachtenswert ist im Zusammenhang auch der Formáli des Codex Wormianus: Vom kraptr der Trojaner wird hier berichtet (sua mikill kraptr fylgði þessum monnum (‚so große Macht folgte diesen Männern‘)), der noch Menschenleben später deren Nachfahren, die Römer (auf die der kraptr im Rahmen einer translatio⁵³ übergegangen ist), dazu befähigte, die irdischen Asen aus ihren angestammten Siedlungsgefilden zu vertreiben – letztere aber auch motivierte, sich die Namen dieser großen Vorväter anzueignen.⁵⁴ Der kraptr fylgjandi ist Triebkraft historischer Entwicklung. Es ist bezeichnend, dass Snorri für seine Konzeption einer paganen Glaubenswelt mit kraptr jenes Substantivum gebraucht, das in norrönen geistlichen Texten (und in seiner lateinischen Entsprechung in der Vulgata) zur Kennzeichnung der christlichen Gottesmacht vielfach Verwendung findet. Auch in der Identifikation des virtus mit Gott hat er sich möglicherweise beeinflussen lassen, wenn er für pagane Frühzeit von einem personifizierten kraptr spricht, der aber über sein schöpferisches Wirken und die anknüpfende Allvater-Gestalt auf den christlichen Gott bereits verweist. Die Berührungspunkte snorrischer und biblischer Schilderung  – aber auch christlich perspektivierter Werke, wie die zitierten Königssagas – liegen somit nicht allein auf terminologischer Ebene, sondern auch auf konzeptioneller. Diese Relationen werden im Gebrauch des identischen Vokabulars aber derart akzentuiert, dass man pointiert formulieren könnte: Wie dereinst das Christentum den paganen Glauben überwinden sollte, so steht bereits Gylfi an einem Wendepunkt, nach dem eine neue Religion zur Bedeutung kommt.⁵⁵

53 Vgl. van Nahl 2013, S. 103 ff. 54 ‚Und es wird gesagt, dass, als Rom vollendet war, die Römer ihre Sitten und Gesetze so ausrichteten, dass sie dem nahe kommen sollten, was ihre Vorväter, die Trojaner, gehabt hatten. Und so große Macht folgte diesen Männern, dass viele Generationen später, als Pompeius, ein römischer Herrscher, im Osten heerte, Óðinn aus Asien und hierher in die Nordhälfte floh, und dann gab er sich und seinen Männern ihre Namen.‘ 55 An nur temporärer Dauer einer paganen Zeit lässt Snorri keinen Zweifel, wenn er am Ende der Gylfaginning von langar stundir (‚lange Zeiten‘) spricht, die als begrenztes Zeitalter des nordischen Polytheismus zu deuten sind. Im Formáli findet sich zu den irdischen Asen die entsprechende Bemerkung: sa timi fylgþi ferþ þeira, at hvar sem þeir dvavlþuz ilavndvm, þa var þar ar ok friþr, ok trvþv allir, at þeir væri þes raþande (‚ihrer Fahrt folgte die Zeit, in der, wo auch immer sie sich in Ländern aufhielten, gutes Jahr und Frieden herrschte, und alle glaubten, dass sie dafür verantwortlich seien‘). Auch in der Heimskringla wird dieser Gedanke formuliert, wenn Snorri in der Óláfs saga Tryggvasonar über den Tod des Ladejarls Hákon berichtet: þat bar mest til er svá varð, at þá var sú tíð komin, at fyrirdœmast skyldi blótskaprinn ok blótmennirnir, en í stað kom heilǫg trúa ok réttir siðir (‚das war der wesentliche Grund dafür, dass es so kam, dass die Zeit gekommen war, da das Opferwesen und die Opfernden verurteilt wurden, und an ihre Stelle der heilige Glaube und rechte Sitten traten‘); der in der Saga überlieferte Þórleifs þáttr jarlaskálds wiederum spricht vergleichbar davon, at þá er hedningartíminn er kominn, er eigi hœgt undan at komast (‚dass man dann, wenn die Zeit der Heiden gekommen [d.i. erfüllt] ist, dem unmöglich entgehen kann‘). Das heidnische Zeitalter beginnt in einer

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Doch wie lassen sich diese Relationen im Blick auf eine methodische Gesamtkonzeption Snorris deuten? Hans Kuhns Überzeugung, Snorri sei bei der Ausarbeitung seines Werks noch von einem religiösen Glauben an die nordischen Götter geleitet worden, hat nachfolgend keine Zustimmung erfahren. Man wird diese These auch künftig ruhen lassen wollen. Die Anknüpfung mythologischer Darstellung an theologische Lehre impliziert keinesfalls, der Christ Snorri habe im religiösen Sinne daran geglaubt, asische Götter hätten sich einst wahrhaftig offenbart. Doch ragt seine Konzeption irdischer und göttlicher Asen in Umfang und Komplexität so deutlich aus der norrönen Überlieferung heraus, dass man dahinter eine Idee vermuten muss, die über mythographisches Interesse weit hinausführt.⁵⁶ Die These Anne Holtsmarks, Snorris Gylfaginning müsse als kontrastierende Polemik verstanden werden, wirkt bis heute nach, doch hat jüngere Forschung Snorri auch eine deutlich neutralere bis positive Haltung gegenüber den Mythen seiner Vorfahren zugestanden. Margaret Clunies Ross brachte diese Überzeugung auf eine prägnante Formel: „Snorri Sturluson’s Edda is our first Germanic Religionsgeschichte.“⁵⁷ Zu Recht betonte sie aber, dass Snorri im Vergleich zu heutigen Vertretern der Religionswissenschaft einer durchaus eigenen Methodik gefolgt sei. Diese Feststellung ist zum ersten ein Appell, Snorris Werk nur mit Bedacht zur Rekonstruktion vorchristlicher Religionen des Nordens heranzuziehen. Zum zweiten aber wird darin die nachdrückliche Forderung greifbar, Snorris Methode der Religionsgeschichtsschreibung ernst zu nehmen. Will man die skizzierten Relationen in Wortschatz und Konzeption somit nicht als ironischen Kontrast abtun, dann eröffnet dies im Umkehrschluss die Möglichkeit, in ihnen den gelehrten Entwurf eines aufgeschlossenen Vertreters geschichtstheologischen Denkens zu sehen.⁵⁸ Beeinflusst von zeitgenössischem gelehrtem Diskurs, schuf Snorri ein einzigartiges literarisches Werk, in dem die Ambitionen des Mythographen und Historikers mit Anspruch und Können des eloquenten Dichters zusammenwirkten. Die mittelalterliche Konzilslehre von ‚Ähnlichkeit in der Unähnlichkeit‘ war geeignet, das methodische Fundament einer solchen Religionsgeschichte zu

paganen Götterschau und endet mit Einführung der christlichen Lehre. Snorris mehrfache Ansprache einer ‚heidnischen Zeit‘ (als Epoche eines aufstrebenden Polytheismus) ist zwar nicht zu identifizieren mit den ‚Zeiten der Heiden‘, wie sie im Neuen Testament (etwa Luk 21,24: tempora nationum) konzeptionalisiert werden als Phase der Evangelisierung, d.h. hinführend auf eine Ausbreitung des christlichen Glaubens in aller Welt (vgl. Ratzinger 2011, S. 57–61). Doch im Gedanken einer zu erfüllenden Zeit (tíðin var komin) wird man Snorris Ausführungen eine mögliche Relation zu neutestamentlicher Heilsgeschichte nicht absprechen können. 56 Welchen Umfang eine Untersuchung allein der asischen Einwanderung annehmen kann, belegt Heinz Klingenbergs dreiteiliger Beitrag zur „Altisländischen Gelehrten Urgeschichte“ in der Zeitschrift „alvíssmál“ (Klingenberg 1992, 1993 und 1994), mit rund 110 Seiten. 57 Clunies Ross 1992, S. 633. 58 Vgl. van Nahl 2013, S. 67 ff.

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legen, die nirgends Identität, wohl aber das Anerkennen grundlegender Relationen forderte. In Adaption dieses Gedankens war Snorri die Möglichkeit gegeben, jeden Berührungspunkt zwischen nordischer Mythologie und christlicher Lehre gleichsam in einem Kongruenzsystem zu verorten  – ohne dass „Lug und Trug“ zur Erklärung nötig gewesen wären. Was hätte für den Skalden Snorri näher liegen können, als solche Relationen auf sprachlicher Ebene, über den Wortschatz zu konstruieren? Wenn das kraptr-Konzept der Gylfaginning in zeitnahen Quellen Bestätigung zu finden scheint und analog zum biblischen virtus interpretiert werden kann, so fordert Analogie doch auch die Unähnlichkeit. Daher hat der kraptr in der zweiten Erwähnung der Gylfaginning eine Aufspaltung erfahren: Die Asengötter teilen sich die nach christlichem Verständnis singuläre Funktion des allmáttigr Guð – einen Deus omnipotens gibt es in der asischen Vorstellungswelt nicht, der ursprüngliche Allvatergedanke wurde auf einen obersten Asengott Óðinn reduziert. Diese Reduktion und Personifikation offerierten den Vorchristen aber eine nach irdischem Maßstab gesetzte Möglichkeit, trotz begrenzter Gotteserkenntnis in Kontakt zu treten zu einer für sie vormals unbekannten Macht und deren kraptr zukunftsträchtig für sich wirksam werden zu lassen. Die irdischen Asen heben sich in Snorris Darstellung von anderen Menschen vor allem dadurch ab, dass sie über das größere religiöse Wissen verfügen, daher größere Wirkung entfalten können. Der christliche Rezipient aber sollte die Beschränkungen dieses Asenglaubens erkennen und verstehen, dass die Vorchristen zwar bereits eine Gottesahnung besaßen, diese aber in all ihren Vorausdeutungen doch erst im Christentum Vollendung finden konnte.

3 Das kraptr-Konzept der Ynglinga saga Wohl einige Jahre nach der Gylfaginning konzipierte Snorri die Ynglinga saga. Ideen aus seinem vorangehenden Werk führte er darin offenkundig fort: Protagonisten der einleitenden Kapitel sind die irdischen Asen, die Snorri bereits in der Rahmenhandlung der Gylfaginning agieren ließ. Dort gaben sie sich abschließend die Namen der ihnen präsentierten Götter: Für eine lange (vorchristliche) Zeit sollte niemand daran zweifeln, dass göttliche und menschliche Asen ‚eins seien‘ (vera einir)  – der gelehrte Christ Snorri aber unterscheidet in seinem Werk konsequent zwischen ihnen (und diesem Konzept soll auch sein Rezipient folgen). Die irdischen Asen, die sich einerseits als ‚Asienvolk‘ durch besondere Fähigkeiten auszeichneten, andererseits nun göttliche Namen trugen, übernahm er als Handlungsträger in die Ynglinga saga. Das Substantivum kraptr findet auch in der Behandlung dieser Asenmenschen Anwendung. Allerdings präsentiert Snorri die asischen Fähigkeiten zunächst als íþróttir:

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Þá er Ása-Óðinn kom á Norðrlǫnd ok með honum díar, er þat sagt með sannendum, at þeir hófu ok kendu íþróttir þær, er menn hafa lengi síðan með farit. Óðinn var gǫfgastr af ǫllum, ok af honum námu þeir allir íþróttirnar, því at hann kunni fyrst allar ok þó flestar. (Ynglinga saga, c. 6) ‚Als Asenóðinn in den Norden kam und mit ihm die Díar, da wird das als wahr erzählt, dass sie die Künste etablierten und verbreiteten, mit denen die Menschen danach lange Zeit umgingen. Óðinn war der hervorragendste von allen und durch ihn lernten sie alle Künste; denn er konnte als erster alle und außerdem die meisten.‘

Der irdische Óðinn zeichnete sich durch unübertroffene Kenntnis in einer Vielzahl an Künsten aus – zu denen Snorri bezeichnenderweise auch die von ihm selbst praktizierte Skaldenkunst (skáldskapr) rechnet. Gegenüber kraptr ist das Substantivum íþrótt indessen vorrangig im profanen Kontext belegt, vor allem als (eingeübte) körperliche oder geistige Fähigkeit. Somit ist die mittelalterlich überlieferte Kapitelüberschrift frá íþróttum Óðins in einer Reihe zu sehen mit den Rubriken frá íþróttum Óláfs konungs und frá íþróttum Óláfs der Óláfs saga Tryggvasonar und der Saga Óláfs hins helga: Die mannigfaltigen Fähigkeiten des irdischen Óðinn treten nicht in Erscheinung als diabolische Kräfte; sie sind Auszeichnung des bedeutsamen Regenten⁵⁹ – der in diesem Fall aber noch in mythischer Vorzeit lebt. Für die Etablierung des Asenglaubens im Norden waren diese außergewöhnlichen Fähigkeiten essenziell, wie das folgende Kapitel 7 der Ynglinga saga ausführt: af þessum krǫptum varð hann [d.i. Óðinn] mjǫk frægr. Óvinir hans óttuðusk hann, en vinir hans treystusk honum ok trúðu á krapt hans ok á sjálfan hann (‚durch diese Fähigkeiten wurde er sehr berühmt; seine Feinde fürchteten ihn, aber seine Freunde vertrauten auf ihn, glaubten an seine Macht und an ihn selbst‘). Bemerkenswert: Snorri bezeichnet Óðins übernatürliche Befähigungen nun als kraptir, wobei das Substantivum in seiner Pluralform als Synonym von íþróttir zu fungieren scheint: allar þessar íþróttir kenndi hann með rúnum ok ljóðum þeim, er galdrar heita (‚alle diese Fähigkeiten vollzog er durch geheimes Wissen und solche Lieder, die Zauberlieder heißen‘). Der pluralische Gebrauch beider Lexeme steht aber im Kontrast zum allein singulär belegten kraptr der Gylfaginning. Gegen mehr oder minder planlosen Numerus-Wechsel spricht neben der Bedeutung, die den Substantiva in norrönen Quellen generell beigemessen wird, auch der Umstand, dass die verschiedenen Fassungen von Snorris Werk darin bemerkenswerte Übereinstimmung zeigen. Man könnte den Schluss ziehen, dass gegenüber dem ursprünglichen Gedanken eines singulären kraptr (wie ihn Snorri noch in der Gylfaginning formuliert), in der Ynglinga saga nun die angesprochene Aufspaltung dieser Macht auf verschiedene Asengötter und schließlich Asenmenschen akzentuiert werden sollte.

59 Vgl. entsprechend etwa die einleitende Formulierung in Konungs skuggsiá (Holm-Olsen 1983): eg hug vmm leidda allar jþrottir firi auga hugar og rannsakadi eg med athygli alla sidu huerrar jþrottar (‚ich achtete auf alle Künste vor dem geistigen Auge und erforschte mit Achtsamkeit alle Aspekte jeder dieser Künste‘). Ein erfolgreicher Herrscher muss in vielerlei Künsten bewandert sein, so der Gedanke.

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Den eingewanderten Asen kam in Snorris Konzeption fundamentale Bedeutung für die Manifestation des nordischen Polytheismus zu: Mythische Erzählungen über Asengötter und sichtbare Taten der Asenmenschen verschmolzen im Bewusstsein der Bevölkerung Skandinaviens. Abermals dominiert die jarðlig skilning der Vorchristen das Geschehen: Die asischen íþróttir wurden von anderen Menschen als göttlich inspirierte Macht erkannt, fälschlicherweise aber ihren Trägern allein zugeschrieben – die irdischen Asen selbst glichen eher Göttern als Menschen (Formáli: sva at þeir þottv likari goþvm en monnvm). Während aber der Apostel Petrus solche Identifikation strikt von sich weist (s.o.), erfüllt sich gerade darin der Anspruch der irdischen Asen auf Göttlichkeit. Ihre Begabungen wurden gleichsam zum Beweis dieser Göttlichkeit,⁶⁰ andere Menschen bezeichneten sie als ihre Götter und glaubten danach lange an sie (kǫlluðu goð sín ok trúðu á lengi síðan (Ynglinga saga, c. 7)) – abermals eine Reminiszenz an die abschließende Formulierung (langar stundir) der Gylfaginning. Diese Apotheose der irdischen Asen führt Snorri zum Abschluss durch Rückkehr zum Singular kraptr, der bereits die Götterschau der Gylfaginning bestimmte: vinir hans [d.i. Óðins] treystust honum, ok trúðu á krapt hans ok á sjálfan hann. Doch nicht allein in diesem singulären kraptr liegt das Bemerkenswerte: Mit trúa á gebraucht Snorri ein Verbum, das in zeitnaher theologischer Überlieferung durchweg den vertrauenden Glauben an den christlichen Gott kennzeichnet;⁶¹ in Snorris Darstellung aber ist der menschliche Óðinn Ziel solches Glaubens geworden: Die Menschen glaubten nicht nur an seine mächtigen Fähigkeiten, seine(n) krapt(i)r, sondern daraus resultierend an den irdischen Óðinn selbst (á sjálfan hann) – und damit auf längere Sicht auch an einen göttlichen Óðinn, dessen Mythen in der Wahrnehmung mit seinem menschlichen Repräsentanten verschmolzen. Diese Identifikation von göttlichem und irdischem Óðinn führt im weiteren Verlauf der Erzählung dazu, dass viele Attribute des Gottes auf seinen menschlichen Repräsentanten übertragen werden; darin schildert Snorri wiederum die den Asenglauben manifestierende Vermischung mit mythischer Erzählung (wie er sie in der Überlieferung vorfand). Aber das Lebensalter des menschlichen Óðinn war nach irdischem Maßstab gesetzt, und er starb nicht im Kampf, sondern an Krankheit im Bett (sóttdauðr (c. 10)) – ein starker Kontrast zum Gott Óðinn, der erst in der nordischen Apokalypse kämpfend sein Ende finden sollte. Es ist auffällig, dass Snorri die Vermischung irdischer und göttlicher Asen für vorchristliche Zeit zwar einerseits ausführlich darlegt, andererseits aber immer wieder eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen akzentuiert und darin klar zu erkennen gibt,

60 Gewirkte Zeichen als Anstoß des Glaubens sind auch im Neuen Testament allgegenwärtig: virum adprobatum a Deo in vobis virtutibus et prodigiis et signis quae fecit per illum Deus in medio vestri (‚Jesus von Nazareth, von Gott unter euch ausgewiesen durch Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat‘), mit diesen Worten wird Jesus durch Petrus verkündigt (Apg 2,22). 61 Eine detaillierte Untersuchung von trúa in Gylfaginning und Ynglinga saga bietet van Nahl 2013, S. 142 ff.

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dass ein solches vera einir eben nur für die Vorzeit Geltung haben kann. So wesensgleich ein kraptr des menschlichen und des göttlichen Óðinn einst auch erschien – der Mensch musste doch bald den Weg eines Sterblichen gehen; der Asengott hingegen lebt nach paganer Vorstellung Äonen. Das Verhältnis vom Gott zu seinem irdischen Repräsentanten ist geprägt von Ähnlichkeiten, doch die Unähnlichkeit bleibt größer. Der Glaube an die Asengötter aber war erst durch einen Menschen etabliert worden. Und so endet der Asenglaube in Snorris Erzählung auch nicht mit dem Tod des Stifters: Noch auf dem Sterbebett hält der Mensch Óðinn an seiner Rolle fest und verkündet, er würde nun nach goðheim gehen: nú hugðu Svíar, at hann væri kominn í inn forna Ásgarð ok mundi þar lifa at eilífu. Hófsk þá at nýju átrúnaðr við Óðin ok áheit (‚nun glaubten die Svíar, dass er in den alten Ásgarðr gekommen sei und dort ewig lebe. Da erhoben sich der Glaube an Óðinn und seine Anrufung erneut‘). Consummatum est (‚es ist vollbracht‘), so formuliert Johannes (Joh 19,30), als mit dem Kreuzestod die Aufgabe des Gottessohns auf Erden erfüllt ist. Auch die irdischen Asen hatten in Snorris Darstellung ihre Funktion erfüllt: Sie waren zum Überbringer einer neuen Religion in den Norden geworden, die ihnen in einer Götterschau einst selbst offenbart worden war – und für eine lange Zeit bezweifelte niemand, was diese Einwanderer einst bezweckt hatten: at allir væri einir, dass alle eins seien. Den analogen Bezug menschlicher und göttlicher Asen sowie auf übergeordneter Ebene die Analogie zwischen Christentum und Polytheismus sollte aber ein gelehrtes Publikum erkennen und in rechter Weise deuten; und so kann auch die Ermahnung des Eptirmáli I verstanden werden: eigi skvlo kristnir menn trva aheiþin goð ok eigin asaɴyndi þesa sagna aɴan veg en sva sem her fiɴz ivphafi bokar (‚Christen sollen nicht an heidnische Götter und nicht an die Wahrheit dieser Geschichten auf andere Weise glauben, als hier zu Beginn des Buches beschrieben‘).

4 Zur Diskussion um Snorris religionsgeschichtliche Methodik Die konzeptionelle Trennung göttlicher und irdischer Asen ist ein Unikum Snorris, dessen Herausforderung es war, beide Sphären in eine Relation zueinander zu setzen: einerseits die Götter, von denen die mythologischen Quellen berichteten; andererseits die Asienleute, deren Ursprung die mittelalterliche Gelehrtenwelt im geschichtsträchtigen vorderasiatischen Raum vermutete.⁶² Wenn bisherige Forschung dazu tendierte, aus Snorris Gylfaginning eine ‚Täuschung Gylfis‘ herauszulesen,⁶³ die die mythischen

62 Vgl. dazu auch Klingenberg 1992, 1993 und 1994. 63 Der Name Gylfaginning ist allein in der Handschrift U belegt, die sich generell durch Ungenauigkeit in ihren Rubriken auszeichnet.

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Asen zu bloßen Phantastereien mächtiger Zauberer degradierte, so lässt sich diese Überzeugung doch nicht unbesehen mit dem lexematischen Befund in Deckung bringen. Bereits die exemplarisch aufgezeigten Relationen im Gebrauch bedeutungsstarker Lexeme fordern die neuerliche Aufnahme der Diskussion von Snorris religionsgeschichtlicher Methodik. Dabei kann jedoch, wie bereits vor zwei Jahrzehnten Margaret Clunies Ross betonte, der Maßstab von Einordnung und Beurteilung dieser Methodik nicht im heutigen Wissenschaftsverständnis gesucht werden. Snorri war ja nicht ‚nur‘ Historiker, er war auch Dichter, der wohl prominenteste seiner Zeit, mit je eigenen Interessen und Ansprüchen an Mythologie und Religion. Als einflussreicher Großgrundbesitzer und Politiker hatte er Zugang zu den norwegischen Herrscherhöfen und während seiner mehrjährigen Auslandsaufenthalte partizipierte er am gelehrten Diskurs auch des Kontinents. Es sind vielfältige Ambitionen und ein breites Wissensspektrum, die sich in Snorris Person vereinten – und die methodische Grundlegung auch seiner religionsgeschichtlichen Darstellung prägten. Vorangehende Untersuchung machte wahrscheinlich, dass Snorri durch genaue Kenntnis eines zeitgenössischen theologischen Wortschatzes nordische Mythen zu christlicher Lehre in eine Relation zu setzen wusste, wie sie 1215 auf dem Vierten Laterankonzil als ‚Analogie‘ manifestiert worden war. Man muss keine Dichotomie von ‚Fakt‘ und ‚Fiktion‘ bemühen, um Snorri als mittelalterlichen Interpreten sowohl gelehrter Konzepte als auch mythologischer Überlieferung zu charakterisieren. Es wurde bereits notiert: Ein wankelmütiger Christ war Snorri sicherlich nicht. Die Idee einer universalen Gottesmacht zur Grundlage auch eines zeitweiligen Polytheismus heranzuziehen (im Sinne eines wirksamen kraptr), ist ein Konzept, das ebenso der Formáli andeutet. Der Glaube an solch göttliches Walten zu allen Zeiten schuf eine Basis, die in Snorris Sicht Relationen auch zwischen Asenglauben und Christentum möglich werden ließ. Doch forderte die ihm vorliegende Überlieferung, diese Idee eines kraptr auf die bekannten Asengötter zu konkretisieren. Aus diesem Anspruch heraus – der gleichermaßen historiographische und dichterische Ambitionen verknüpfte  – kann Snorris Erhebung der göttlichen Asen in eine ‚literarische Realität‘ erklärt werden (die dann etwa auch eine Vermittlerinstanz wie die Dreiheit erlaubte); denn einen literarischen Anspruch der Gylfaginning wollte schon Anne Holtsmark nicht infrage stellen.⁶⁴ Man darf wohl sagen: Erst seine sprachliche Meisterschaft als Dichter erlaubte es dem Historiker Snorri,

64 Holtsmark 1964, S.  5. Zu spät für eine eingehendere Diskussion erschien Jürg Glausers Aufsatz „Unheilige Bücher. Zur Implosion mythischen Erzählens in der ‚Prosa-Edda‘“ (Glauser 2013). Ich muss mich daher hier auf eine kurze Anmerkung beschränken. Bedarf Glausers Terminus der ‚Implosion‘ im Kontext fraglos noch einer Präzisierung, so erscheinen seine knappen Ausführungen zur „Potentialität der Fiktion“ (S. 120) – im Sinne einer literarischen Durchbrechung (damit aber auch verstärkten Reflexion) des Mythos – doch als interessante These, die im Bezug auf die Methode von Religionsgeschichtsschreibung in der Gylfaginning eine weiterführende Auseinandersetzung fördern könnte (ohne die Notwendigkeit eines Begriffs ‚(un)heilig‘).

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eine religionsgeschichtliche Darstellung zu entwerfen, die die Forschung bis auf den heutigen Tag herausfordert. Auch wenn Snorri die wahrhafte Existenz paganer Götter anzweifeln musste, so wurden diese in seiner einzigartigen Interpretation doch zu einer Entität, die sein Konzept von Analogie erst zur vollen Entfaltung brachte. Es scheint nicht strapazierend, ein letztes Zitat aus Clunies Ross‘ seinerzeitigem Fazit anzubringen: „We are dealing with a conscious and very complex work of medieval synthetic scholarship.“⁶⁵

5 Ausblick Wenn das Gros bisheriger Forschung bestrebt war, Snorri über dämonologische oder euhemeristische Prämissen in mehr oder minder strikter Distanz zur paganen Überlieferung zu verorten (oft unter Rekurs auf gleichsam ‚kanonisierten‘ Konsens), dann bedeutet dies eine Justierung der Perspektive auf gleichbleibender Basis. Der vorliegende Beitrag wagte einen Gegenentwurf, fordert aber keine Deutungshoheit. Er sei vielmehr verstanden als Anstoß künftiger Diskussion auch über die Möglichkeit bewusster Mehrdeutigkeiten mittelalterlicher Texte. Die Frage nach Vorrangstellung einzelner Versionen wäre dann falsch gestellt: Vermeintliche Brüche und Inkonsequenzen in den Fassungen von Snorris Werk wären vielmehr zu interpretieren als Zeichen einer mittelalterlich-gelehrten Rezeption, die von zeitgenössischen Diskursen zwar beeinflusst, aber nicht begrenzt war: Das große Werk zeichnet aus, dass es diese auf eine anspruchsvollere Weise reflektieren kann; seine Bedeutung bemisst sich in Bezug auf die konkreten historischen Konstellationen, die es voraussetzt, thematisiert, reflektiert, vielleicht überwindet.⁶⁶

Bereits in einleitender Betrachtung wurde notiert: Das 20. Jahrhundert blickt auf eine befremdlich geringe Zahl lexematischer Untersuchungen zur norrönen Überlieferung zurück. Befremdlich umso mehr, als vor allem Anne Holtsmarks Abhandlung ihre forschungsgeschichtliche Wirkung aufgrund solcher ‚Textnähe‘ überhaupt erst entfalten konnte. Ihre Kontrastthese erfuhr einerseits Kritik, andererseits bis in jüngste Arbeiten aber auch Zustimmung. Im Bestreben, das methodische Potenzial von Wortschatzuntersuchungen ein halbes Jahrhundert nach Holtsmark neu zu erarbeiten, wählte der vorliegende Beitrag bei gleichem philologischem Instrumentarium doch einen anderen Interpretationsansatz: Wo Holtsmark Ironie und Kontrast in Snorris Werk postulierte, wurde hier auf Basis des hochmittelalterlichen Konzepts der Analogie für seine würdigende Konstruktion einer paganen Vergangenheit argumentiert.

65 Clunies Ross 1992, S. 654. 66 Müller 2010, S. 8.

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Das Ergebnis dieser (im Umfang stark begrenzten) lexematischen Untersuchung fordert den neuerlichen Blick auf Snorris religionsgeschichtliche Methodik. Es verlangt aber auch nach dem revidierten Blick auf eine so genannte ‚Snorra-Edda‘ in ihrer übergeordneten Funktion: Bis in jüngste Forschung werden die überlieferten Werkfassungen oftmals (und bisweilen mit rigidem Nachdruck) zum Lehrbuch der Dichtkunst homogenisiert  – mit allen sich anschließenden Konsequenzen für ihre einzelnen Abschnitte.⁶⁷ Gewiss: Ein Anliegen wird es Snorri gewesen sein, die Stellung der Skaldenkunst zu sichern  – nicht zuletzt, um als namhafter Skalde seiner Zeit den eigenen gesellschaftlichen Status zu festigen. Die aktuelle Forschung tendiert jedoch dazu, Snorris Interesse an Sprache explizit auf Skáldskaparmál und Háttatal zu beschränken. Seine Meisterschaft in dichterischer Disziplin, auch jahrelange Beschäftigung mit der Auslegung des Rechts und nicht zuletzt kontinuierliche (politische) Auseinandersetzung um den eigenen Einfluss müssen ihm  – pointiert gesagt  – ein Gespür für Macht und Möglichkeiten des Wortes verliehen haben. Doch weshalb hätte Snorri diese Fähigkeit  – die heutige Interpretationsräume erst eröffnet – in seinem literarischen Schaffen auf die Skaldik begrenzen sollen? Auch hinter seiner Prosadarstellung steht der Meister der Sprache! Will man dem Konzept ‚Gesamtwerk Snorra-Edda‘ folgen, so mag man von einem Lehrbuch durchaus sprechen (ob nun bereits von Snorri als solches geplant oder erst posthum kompiliert).⁶⁸ Aber doch ein Lehrbuch, das sich keinesfalls nur der Skaldenkunst verschrieb: Snorri führte in seinen Studien die Betrachtung von Sprache weiter und unternahm mit Gylfaginning und Ynglinga saga den einzigartigen Versuch, über theologischen Wortschatz auch eine religionsgeschichtliche Darstellung zu konzipieren. Der systematische Gebrauch christlich konnotierter Lexeme erlaubte ihm, mehrere Ebenen der Darstellung zu realisieren:⁶⁹ Nur ein Rezipient, der die semantische Tiefe zentraler Ausdrücke verfolgte und dahinterstehende Konzepte erkannte, konnte sich den weltanschaulichen Kernaussagen Snorris näheren. Tiefere Wahrheiten⁷⁰ der überlieferten Dichtung zu enthüllen, war ein Anspruch des (Religions)Historikers und Skalden Snorri, den er auch an ein verständiges Publikum erhob⁷¹  – auf oberflächlicher Ebene aber blieb der Unterhaltungswert: fróðleikr ok skemtun (Eptirmáli I). Der Gelehrte Snorri wollte der Religion und Kultur (und damit

67 Vgl. etwa Guðrún Nordal 2001, S. 5; Jørgensen 2009, S. 6. 68 Zum Kompilationscharakter der Handschrift U vgl. van Nahl 2013, S. 23 ff. 69 Torfi Tulinius sprach für die Isländersagas vergleichbar von einer „multi-levelled narration which makes demands on the reader’s hermeneutic skills“ (Torfi Tulinius 2000, S. 192). 70 Der Begriff der ‚Wahrheit‘ hat auch in der Snorri-Forschung ein breites Interpretationsspektrum entfaltet, das keinesfalls auf eine ‚historische Wahrheit‘ zu reduzieren ist (vgl. Beck 1999). 71 Argumentationslogiken in der norrönen Wissensliteratur sind überhaupt ein wenig bedachtes Forschungsfeld, das eine eingehendere Untersuchung noch fordert.

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der Überlieferung) seiner Vorfahren einen würdigen Platz zugestehen, sie im gelehrten Diskurs seiner Zeit erklären, sie als Christ aber auch kritisch hinterfragen. Damit positioniert sich Snorri im gesamteuropäischen Kontext seiner Zeit an hervorragender Stelle.

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Thomas Krümpel

Die ‚allzumenschlichen‘ Götter des Nordens: Zum Streit um den religionsgeschichtlichen Quellenwert der hochmittelalterlichen mythologischen Überlieferung Abstract: This paper deals with the longstanding scholarly debate on the value of Old Norse mythological poetry and prose as sources for the history of religion. This debate was first sparked into life by the different ways in which scholars assessed the ‘humanization’ of the gods in these sources. From the last century onwards, conflicting positions were taken rangeing from a sharp rejection to the complete acceptance of these literary sources as reliable evidence of Norse religion. An attempt will be made in this study to show that these conflicts have arisen because each side of the debate reads the Old Norse sources on the basis of its own specific and highly subjective set of assumptions. To resolve such stalemates in any future Old Norse research, the author recommends making greater use of approaches which have been developed in studies of religion and cultural anthropology. Some examples of these approaches will be given here in order to show how it is possible, once the old misleading assumptions have been laid to rest, to make a productive synthesis of the best aspects of previously conflicting lines of research.

1 Vorbemerkung Der folgende Beitrag¹ thematisiert den Forschungsstreit über die religionsgeschichtliche Verwertbarkeit der poetisch-mythologischen Zeugnisse des skandinavischen Hochmittelalters – insbesondere der eddischen Dichtung –, welcher sich nicht zuletzt an unterschiedlichen Beurteilungen der ‚vermenschlichten‘ Götterdarstellung in den Quellen entzündet. Snorri ist von diesen Betrachtungen insofern mit betroffen, als er aus der poetischen Überlieferung geschöpft hat und seine Darstellungen mit den poetischen Quellen übereinstimmen. Während die im Hauptteil zu erörternden Probleme somit eddische wie ‚snorronische‘ Überlieferung gleichermaßen betreffen, werde ich zum Abschluß meiner Ausführungen noch kurz auf Snorris Werk im besonderen eingehen.

1 Es handelt sich um die erweiterte schriftliche Fassung meines Symposium-Vortrages „Snorri, die eddische Dichtung und der Euhemerismus. Zum Streit um den religionshistorischen Quellenwert der hochmittelalterlichen mythologischen Überlieferung“. Für Anregungen und Kritik danke ich Edith Marold, Kurt Schier sowie Klaus Böldl.

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 Thomas Krümpel

2 Konträre Forschungsrichtungen Zu dem Problem, inwieweit die literarischen Zeugnisse des Hochmittelalters als authentische Quellen des nordgermanischen Heidentums gelten können,² haben sich in der Forschung im wesentlichen zwei konträre Meinungen herausgebildet, die sich nicht zuletzt an dem Streitpunkt einer christlich-mittelalterlichen Euhemerisierung der heidnischen Mythologie scheiden. Aus der Überzeugung, daß Snorri Sturluson und andere hochmittelalterliche Autoren die heidnischen Gottheiten als deifizierte historische Gestalten verstanden hätten, leitete die Forschung in der Nachfolge Walter Baetkes³ die Vorstellung ab, daß die allzu menschlichen Götter-Charakteristika in den altnordischen Quellen auf eine mittelalterliche Euhemerisierung zurückzuführen seien. Dem ‚echten, unverfälschten‘ Heidentum müßten diese irdisch-menschlichen Aspekte fremd gewesen sein. Die ‚echt‘ heidnischen Götter wären entsprechend von einer anderen Welt, von anderer Substanz und keinesfalls mit der irdisch-menschlichen Sphäre verbunden. Die menschlich anmutenden Wesenszüge heidnischer Götter seien diesen von mittelalterlichen Verfassern angedichtet worden, teilweise auch um die Anhänger des Heidentums als so töricht darzustellen, daß sie nicht einmal ‚wahre‘ Götter und historische Gestalten auseinanderhalten könnten. Den Verfassern, wie man sie sich vorstellte, wurden somit weitreichende christlich-theologische Kenntnisse und vor allem Intentionen unterstellt.⁴ Für die altnordischen literarischen Quellen bedeutete diese Sichtweise natürlich, daß ihnen Glaubwürdigkeit und Zeugnischarakter hinsichtlich der heidnischen Religion Skandinaviens weitestgehend abgesprochen wurden, insbesondere was die mythographischen Zeugnisse der isländischen gelehrten ‚Renaissance‘ des 12./13. Jahrhunderts anbelangt. Mit der parallel einsetzenden Tendenz zur Spätdatierung der meisten mythologischen Eddalieder büßten auch diese ihre Geltung als Schöpfungen der (spät-)heidnischen Zeit ein, was den ihnen zugebilligten religionsgeschichtlichen Quellenwert erheblich schmälerte. Aufgrund der Annahme einer derart von christlichen Werturteilen und Intentionen geprägten Haltung der mittelalterlichen Verfasser, denen infolge der erwähnten Spätdatierungstendenz nun auch die Urheberschaft vieler eddischer Götterlieder zugeschrieben wurde, kam diese Forschungsrichtung zu dem Schluß, alles IrdischMenschliche als Produkt einer christlichen Euhemerisierung ausscheiden zu müssen,

2 Vgl. zu diesem Problemkreis allgemein die Beiträge in Beck / Ellmers / Schier 1992. 3 Zu dieser in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr einflußreichen Forschungsrichtung zählen neben Baetke u.a. auch Anne Holtsmark, Gerd Wolfgang Weber, Lars Lönnroth und Rudolf Simek. Neben Baetke 1950 stellen beispielsweise Holtsmark 1964 sowie Weber 1986 und 1993 viel beachtete Arbeiten mit entsprechender Ausrichtung dar. 4 Nicht ohne Grund bezeichnet Klaus von See (vgl. z.B. von See 1988, S. 7) diese seit Baetke stark hervorgetretene Sichtweise auf die mittelalterlichen Verfasser – insbesondere auf Snorri – als ‚Theologisierung‘ der Forschung. Auch in der vorliegenden Arbeit ist mit der Bezeichnung ‚theologisierende Forschungsrichtung‘ (u.ä.) stets jene hyperskeptische Fraktion in der Nachfolge Baetkes gemeint.

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um die ‚reine, wahre‘ Religion der heidnischen Skandinavier fassen zu können. Dieses ‚wahre, unverfälschte‘ Heidentum müsse somit auch über ‚wahre‘ Götter verfügen, die keinesfalls historische Persönlichkeiten  – wie etwa vergöttlichte Ahnen, Könige oder Kulturheroen  – seien bzw. allgemein allzu menschliche Wesenszüge trügen. Kurz gesagt meinte die Forschung, alle ‚Vermenschlichungen‘ als eine Form der Euhemerisierung durch die mittelalterlichen Verfasser ausklammern zu müssen, da die in den Quellen zutage tretende menschliche Charakteristik ausschließlich auf eine christliche Verfremdung zurückzuführen sei.⁵ Da jedoch die mythischen Erzählungen der Lieder- und der Snorra-Edda nach Tilgung dieser menschlichen Wesenszüge des Götterpersonals nicht mehr ‚funktionieren‘  – ihre ganze Narrativität basiert auf dieser Charakteristik  –, wurde mangels Verwertbarkeit letztlich dem Gesamtkorpus der literarischen Überlieferungen nahezu jeder religionsgeschichtliche Quellenwert abgesprochen. Man reduzierte die Texte weitgehend auf ihre poetische Funktion und betrachtete sie fortan schlichtweg als hochmittelalterliche Literatur. So spricht etwa Rudolf Simek von den „amüsanten Göttergeschichtchen der mittelalterlichen christlichen Autoren“,⁶ die entsprechend wenig bis gar nichts über die gelebte heidnische Religion der Skandinavier aussagen könnten. Gegen die von dieser Schule etablierte Theologisierung der Forschung hatten in den letzten 25 Jahren – vor allem im Hinblick auf Snorris Werke – bereits Klaus von See, Heinrich Beck und eine Reihe weiterer Forscher wichtige neue Gesichtspunkte ins Feld geführt.⁷ Dabei wurde eine Überwindung der christlich-theologischen Deutung zugunsten einer neutraleren, religionswissenschaftlichen Sichtweise in der Snorra-Edda-Forschung angeregt,⁸ was in gleicher Weise auch hinsichtlich der eddischen Dichtung wie auch für die altnordische Religionsgeschichtsforschung insgesamt ratsam wäre. Als ein aktuelles Beispiel entsprechender neuerer Ansätze kann eine Arbeit aus dem Jahre 2009 gelten, in der Jens Peter Schjødt sich kritisch mit dem Euhemerismus-Problem wie auch den von der theologisierenden Forschungsrichtung vertretenen Ansichten auseinandersetzt und zugleich die schärfste Gegenposition zu dieser bezieht.⁹ Den betreffenden Forschern¹⁰ wirft Schjødt vor, sie hätten sich in

5 Zu den Ausführungen über die hyperskeptisch-theologisierenden Forschungstendenzen vgl. Schjødt 2009, S. 569 f. Ergänzend auch Simek 2006, S. 108–111 sowie 389 f. 6 Simek 2005, S. 14. 7 Vgl. von See 1988, 1990 und 1999 sowie von den zahlreichen Veröffentlichungen Becks zu diesem Thema beispielsweise Beck 1993, 1994 und 2007. Einen Überblick über weitere Forschungsbeiträge aus jüngerer Zeit, welche die theologisierende Richtung in Frage stellen bzw. neue Horizonte eröffnen, gibt Beck 2007, S. 14 f., Anm. 7. 8 Vgl. etwa Beck 2007, S. 15 und 29. 9 Schjødt 2009. 10 Zur Klarstellung: Die hier gebrauchten Begriffe ‚theologisierende Forschungsrichtung‘, ‚BaetkeFraktion‘ und dergleichen tauchen bei Schjødt nicht auf. Seine Kritik addressiert er allgemein an eine Reihe nicht namentlich genannter ‚scholars‘, deren christlich gefärbte Ausrichtung er jedoch in einer

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ihrem Bemühen, besonders quellenkritisch die vermeintlich christlichen Einflüsse bei den mittelalterlichen Verfassern aufzudecken, selbst unbewußt von christlichen Vorstellungen und Maßstäben leiten lassen. Insbesondere hätten ihre eigenen, christlich geprägten Gottesvorstellungen (‚von Mensch und Welt vollkommen wesensverschieden‘) die Forscher dazu gebracht, die menschlichen Charakteristika heidnischer Götter als von christlichen Autoren vorgenommene Verfremdungen zu mißdeuten.¹¹ Mit Nachdruck hält Schjødt dem entgegen, daß es vermutlich bereits in heidnischer Zeit ‚eine Art Euhemerismus‘¹² im Norden gegeben habe – in dem Sinne, daß Götter tatsächlich zugleich auch historische Gestalten gewesen sein könnten, da sie ohnehin als „more or less human“¹³ gegolten hätten. Indem er also die menschlichen Züge der Götter in den literarischen Quellen nicht als sekundäre, christliche Reduktion, sondern als ursprüngliches Merkmal genuin heidnischer Gottesvorstellungen identifiziert, kann Schjødt den Texten ihren Quellenwert zurückgeben, der jahrzehntelang von der Forschung eine Abwertung erfahren hatte. Möglich wird ihm diese Deutung durch eine weitreichende qualitative Gleichsetzung von Göttern und Menschen, zwischen denen nach heidnischer Auffassung nur feine quantitative Gradunterschiede¹⁴ bestanden hätten, jedoch keine absolute Wesensverschiedenheit.¹⁵

3 Kritische Würdigung der Positionen So berechtigt und begrüßenswert eine positive Neueinschätzung des Quellenwertes für die Forschung auch ist, stellt sich doch die Frage, ob sie in Schjødts Fall nicht unter Preisgabe anderer Prinzipien bewerkstelligt wird. Immerhin ließe sich kritisieren, daß auch hier der Quellenwert der Texte von einem ganz bestimmten Vorverständnis ihrer Inhalte abhängig gemacht wird: daß es in der Vorstellung des nordgermanischen Heidentums zwischen Göttern und Menschen keinen nennenswerten Unterschied gegeben habe. Ebenso wie der Ansatz der theologisierenden Richtung

Weise skizziert, die eine Identifizierung als jene hyperskeptische Richtung (in der Tradition Baetkes) nahelegt. 11 Zu Schjødts Kritik an der theologisierenden Forschungsrichtung vgl. Schjødt 2009, S. 570. 12 „Some sort of ‚euhemerism‘ was already at stake in the pagan world view itself“ (Schjødt 2009, S. 575). 13 Schjødt 2009, S. 570. 14 So bereits Schjødt 1990, S.  44. Diese qualitative Gleichsetzung von Menschen und Göttern fügt sich zu der rein irdischen (d.h. nicht-himmlischen) Verortung der Götter im Kosmos, die Schjødt – ebenfalls in Abgrenzung zum Christentum – vornimmt. Sowohl hinsichtlich der ‚menschlichen‘ wie auch der ‚irdischen Götter‘ scheint sich das durch Schjødt entworfene Bild des ‚Heidentums‘  – in diesen Punkten – durch einen merklichen Kontrast zu christlichen Vorstellungen auszuzeichnen. 15 Zu Schjødts Thesen und Schlußfolgerungen (in Opposition zur theologisierenden Richtung) vgl. Schjødt 2009, insbes. S. 572 und 576 f.

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beruht Schjødts Position prinzipiell auf einer wortwörtlichen Textauslegung der mythologischen Überlieferung. Von einem etwas distanzierten Standpunkt könnte man beide Auffassungen als Extrempunkte innerhalb ein und desselben Deutungssystems kennzeichnen, die sich somit darin gleichen, daß sie den Wortlaut der mythologischen Textquellen absolut setzen. Beide Sichtweisen scheiden sich an ihrer Auffassung darüber, wie ‚echte‘ Götter zu sein hätten, und treffen sich darin, daß sie die Aussagen der Quellen im Prinzip wortwörtlich auffassen. Während die ‚Baetke-Fraktion‘ von einem (mehr oder weniger) christlich-theologischen Gottesbild ausgehend die in den mythologischen Texten aufscheinenden Götter-Charakteristika in ihrem Literalsinn als inadäquat zurückweist und den Quellen deshalb ihre Authentizität weitgehend abspricht, akzeptiert Schjødt unvoreingenommen die menschlichen Züge der Götter in der Dichtung als heidnisches Gottesbild ganz allgemein, was seine Götter jedoch – wenn man diese These konsequent zu Ende denkt – nahezu jeden Anflug von Numinosität¹⁶ kostet. Wenn auch sicherlich eine Infragestellung der in der Forschung herrschenden Auffassungen notwendig ist, bleibt dennoch zu klären, ob nicht einige der von Schjødt angeführten Gesichtspunkte  – unter Wahrung des Hauptziels, der Quellen-Neubewertung – möglicherweise gewisser Präzisierungen bzw. Einschränkungen bedürfen. Bedenken müssen insbesondere gegen die mit der These eines heidnischen ‚Euhemerismus‘¹⁷ verbundenen Implikationen erhoben werden: Wenn Schjødt zufolge eine Unterscheidung von Göttern und Menschen in der nordgermanischen Religion so irrelevant gewesen sei, daß auch die Sage von der Einwanderung der Asen (aus Asien) unter Umständen bereits in heidnischer Zeit im Umlauf gewesen sein könnte, handelt es sich dabei um eine durch nichts zu stützende Spekulation. Hier hätte man sich eine differenziertere Betrachtungsweise gewünscht, wie sie etwa Kurt Schier an den Tag legt: Dieser schließt – mit Andreas Heusler – die Denkbarkeit gewisser historischer Reminiszenzen (vorgeschichtlicher Kulturkontakte zwischen Skandinavien und dem Schwarzmeergebiet) in der isländischen gelehrten Urgeschichte zwar nicht

16 Unter dem Begriff ‚Numen‘ verstehe ich im religionswissenschaftlichen Sinne eine besondere Macht, die in der religiösen Vorstellungswelt Einfluß auf die Natur und den Menschen hat. Die ‚Numinosität‘ personaler Gottheiten meint folglich deren übermenschliche, sie vom Menschen unterscheidende und als Götter, d.h. als numinose Wesen, kennzeichnende Macht. Mit ‚Numinosität‘ ist im übrigen keine Außerweltlichkeit der Götter im Sinne eines Dualismus von Schöpfer und Geschöpf gemeint. 17 Diese Begrifflichkeit wirkt  – obgleich von Schjødt in Anführungszeichen gesetzt  – im Kontext des (lebendigen) nordgermanischen Heidentums unpassend, da es sich beim Euhemerismus um ein rückblickend-rationalisierendes Deutungsmodell handelt und nicht schlicht eine Götter-MenschenEgalität damit bezeichnet wird. Prinzipiell denkbar sind für die heidnische Zeit das Verfahren der Apotheose (Deifikation) einzelner Menschen, wie es beispielsweise für den hellenistischen und den kaiserzeitlich-römischen Herrscherkult historisch gut belegt ist, oder die Vorstellung einer göttlichen Abstammung bedeutender Geschlechter bzw. ganzer Volksstämme. Einige entsprechende Beispiele werden von Schjødt auch besprochen.

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grundsätzlich aus,¹⁸ leitet daraus jedoch keinen heidnischen Ursprung der offenkundig mittelalterlich-euhemeristischen Einwanderungsfabel ab, wie Schjødt ihn erwägt. Mythische Erzählungen über göttliche Erdenherrscher der Vorzeit, die von Schjødt als Belege für einen nordisch-vorchristlichen ‚Euhemerismus‘ und für eine menschliche Götter-Charakteristik im Heidentum gedeutet werden, dürften vermutlich eine angemessenere Erklärung finden, wenn man sie im Zuge eines Vergleichs mit anderen Kulturen zu verstehen versucht; als exemplarisch für die Welt- und Götterauffassung polytheistischer Religionen der Alten Welt können etwa die Ausführungen Jan Assmanns zum ägyptischen Osiris-Mythos gelten: Osiris ist aber kein irdischer König, der nach seinem Tod vergöttlicht wurde, sondern umgekehrt ein Gott, der das irdische Königtum ausgeübt hat. Nach ägyptischer Vorstellung herrschten vor den menschlichen Königen die Götter auf Erden. […] Von ihnen ging die Herrschaft auf die verklärten Ahnengeister und von diesen auf die Menschen über. […] Herodot, Diodor und andere berichten über diese Mytho-Chronologie, die auf das Abendland einen ungeheuren Einfluß ausgeübt hat. Sie tritt uns z.B. noch bei Vico entgegen, der drei Zeitalter unterschied, das göttliche, das heroische und das menschliche […].¹⁹

In Mythen von der Frühzeit der Welt werden nicht Menschen vergöttlicht: vielmehr sind es die Götter, die einst den Grundstein für das irdische Königtum legten. Falls in der altisländischen gelehrten Urgeschichte tatsächlich auch Reflexe heidnisch-mythischer Vorstellungen enthalten sind, dürften diese eher auf Konzeptionen referieren, die strukturell den ägyptischen ähneln:²⁰ Daß in der Vorzeit die Asengötter (Æsir) als Könige auf Erden (d.h. in Skandinavien) herrschten, Ordnung, Kultur und Sitten einrichteten sowie durch die Zeugung von Nachkommen die Stammlinien der Vorzeitheroen und die Königsgeschlechter späterer Zeiten begründeten, bevor sie sich in die Götterwelt (Goðheimr) zurückzogen. Aber auch in allgemeinerer Perspektive würde Schjødts Formulierung einer weitgehenden Gleichheit von Göttern und Menschen in letzter Konsequenz der Polarität des Heiligen und des Profanen in der Welt radikal widersprechen. Diese Kategorisierung, die  – v.a. in ihrer Ausprägung durch Mircea Eliade²¹  – den Charakter des Heiligen bzw. Göttlichen als des ‚ganz Anderen‘ im Verhältnis zur profanen Welt

18 Vgl. Schier 1968, insbes. S. 407. Diese Arbeit dient Schjødt (Schjødt 2009) im übrigen als thematischer Aufhänger (Freyr-Fróði-Relation) für seinen Aufsatz. 19 Assmann 2004, S.  26. Nachdem sie die irdische Herrschaft abgegeben hatten, entrückten die Götter – im Zuge einer Trennung von Himmel und Erde – ihren Wohnsitz von der Menschenwelt (vgl. Assmann 2004, S. 27). 20 Eine Inbeziehungsetzung altnordischer Vorstellungen mit der  – genetisch nicht verwandten  – altägyptischen Kultur ist, worauf Schjødt jüngst (Schjødt 2012, insbes. S. 279 f.) hingewiesen hat, im Sinne eines typologischen Vergleichs grundsätzlicher Strukturen und Muster des Religiösen durchaus legitim. 21 Vgl. etwa Eliade 1998.

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hervorhebt, spielt in gewandelter Form nach wie vor eine gewisse Rolle in der religionswissenschaftlichen Forschung, die – trotz aller Kritik an Eliade und dem Begriff des ‚Heiligen‘ – bei der Untersuchung religiöser Vorstellungen und Praktiken auf die Strukturbegriffe des ‚Sakralen‘ und des ‚Profanen‘ auch heute nicht gänzlich verzichten kann.²² Auf den Widerstreit dieser Ansätze (Egalität vs. Polarität) könnten womöglich Erkenntnisse aus dem Bereich der Klassischen Antike klärendes Licht werfen:²³ Wie Schjødt (2009) für den nordischen Bereich stellt der Althistoriker Paul Veyne zunächst fest, daß in der Auffassung der griechisch-römischen Religion der „Schritt von den Menschen zu den Göttern […] ein quantitativer“ sei und daß es zwischen beiden „keine kategorielle Grenze“ gegeben habe.²⁴ Dennoch schreibt er nachdrücklich auch den heidnischen Göttern eine spezifische „Qualität des Heiligen“ zu:²⁵ Mit dem Theologen und Historiker Adolf Harnack räumt Veyne zwar unumwunden ein, daß der Begriff ‚Gott‘ für die Heiden eine andere Bedeutung habe als für die Christen, betont jedoch, daß ein Gott, gleichgültig, ob heidnisch oder christlich, ein und derselben Intentionalität entstammt, die nur ihm zu eigen ist. Er weckt Gefühle, die lediglich er hervorrufen kann, und er hat mit dem Göttlichen oder Anbetungswürdigen […] eine ‚Qualität‘, die allein er besitzt.²⁶

Obwohl auch Veyne darauf hinweist, daß die heidnische Gottesvorstellung sich von der christlichen in vielem unterscheide,²⁷ veranlaßt ihn dies nicht zur Formulierung eines möglichst scharfen Gegenentwurfs (des ‚Heidnischen‘ im Kontrast zum Christlichen) – vielmehr gelangt er durch ergebnisoffene Quellenanalyse zu den beschrie-

22 Vgl. etwa Gehlen 1998, S.  391 und S.  387; Colpe 1998, S.  431; allgemein auch Bäumer 2003. An anderer Stelle (Schjødt 2008, z.B. S. 13, 379–382 u.v.a.) wertete auch Schjødt selbst die genannte Unterscheidung des Numinosen/Heiligen und des Profanen (im Sinne Eliades) wie auch eine Gegenüberstellung von ‚dieser Welt‘ und ‚Anderwelt‘ im Kontext der altnordischen Religion als bedeutsam und machte diese zu einer der Grundlagen seiner Untersuchungen. Dort betonte Schjødt: „The Other World represents first and foremost something completely different“ sowie, „the crucial point is that the Other World is categorically different“ (ebd., S. 17 f.). Ohne nähere Präzisierung deutet Schjødt in seinem Euhemerismus-Aufsatz (Schjødt 2009, S. 569, Anm. 7) jedoch eine diesbezügliche Kehrtwendung an. 23 Wie Anders Hultgård hervorhebt, kann ein „Vergleich mit den beiden bekanntesten Kulturen im vorchristl[ichen] Europa, der griech[ischen] und röm[ischen] samt ihrer R[eligion]s-Auffassung […], […] auch die Einbettung der R[eligion] in eine geogr[aphisch] und typol[ogisch] nahestehende Kultur wie die des Germ[anischen] erhellen“ (Hultgård 2003, S. 430; Auflösung der Abkürzungen durch den Verfasser). Dies ermutigt zu der Annahme, daß gerade das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern anhand der weitaus reicheren antiken Überlieferung besser zu entschlüsseln ist und daß die erzielten Erkenntnisse wiederum zum Verständnis der germanischen Religion beitragen können. 24 Veyne 2008, S. 16. 25 Veyne 2008, S. 23. 26 Veyne 2008, S. 23. 27 Vgl. etwa Veyne 2008, S. 14.

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benen, meines Erachtens absolut nachvollziehbaren Schlußfolgerungen. Seine Feststellungen dürften, wie bereits ausgeführt, weitestgehend auf den germanischen Bereich übertragbar sein, so daß auch für die vorchristliche Religion Skandinaviens die Existenz einer zwar nicht unüberwindlichen, aber dennoch deutlich ausgeprägten Schranke zwischen Menschen und Göttern, zwischen ‚dieser‘ und der ‚anderen Welt‘ vermutet werden muß.²⁸ Angesichts der dargelegten Einwände scheint es geboten, die von Schjødt eingeschlagene Denkrichtung zwar grundsätzlich beizubehalten, deren Schärfe jedoch abzumildern und zugleich den Blickwinkel zu erweitern. Ohne in die Muster der theologisierenden Forschungsrichtung zurückzufallen, muß man doch einräumen, daß dermaßen ihrer Numinosität entkleidete Götter, wie Schjødts Entwurf sie in letzter Konsequenz erscheinen läßt, nur schwerlich als Adressaten kultisch-religiöser Verehrung denkbar wären. Für eine andere (d.h. ‚echt religiöse‘) Götterauffassung sprechen nicht zuletzt auch die Erkenntnisse der archäologischen Forschung der letzten Jahrzehnte: So läßt sich beispielsweise anhand der germanischen Kriegsbeuteopfer der Römischen Kaiserzeit, bei denen unvorstellbare materielle Werte als Opfer dargebracht wurden, unzweifelhaft aufzeigen, daß die göttlichen Adressaten dieser Verehrung „von enormer Macht gekennzeichnet gewesen sein [müssen], sonst hätte man ihnen kaum die kompletten Schätze ganzer Armeen in wahren Zerstörungsorgien hingeopfert.“²⁹

28 Dabei handelt es sich nicht um einen Schöpfer-Geschöpf-Dualismus  – im Sinne der Getrenntheit –, wie er in der abrahamitischen Tradition vorliegt. Die zugrundeliegende pagane Weltsicht dürfte eher als eine Art komplementäre Polarität, als eine differenzierte (gegliederte) Einheit/Ganzheit bzw. ein hierarchisch gestuftes Kontinuum zu verstehen sein. 29 Simek 2005, S.  14 f. Obwohl Simek tendenziell der ‚Baetke-Fraktion‘ zuzurechnen ist, beruht sein Plädoyer für den überaus machtvollen und numinosen Charakter der religiös verehrten germanischen Götter in diesem Fall keineswegs auf einem christlich gefärbten Gottesbild, sondern auf empirisch meßbaren Fakten wie dem kultpraktischen Aufwand und den niedergelegten Werten, die sich im archäologischen Fundgut widerspiegeln. Zwar bezieht sich das von Simek herangezogene Beispiel (der Kriegsbeuteopfer) auf die Römische Kaiserzeit, doch darf eine vergleichbare Götterauffassungwohl auch für die späteren Phasen des lebendigen Heidentums angenommen werden – nichts läßt einen einschneidenden Wandel dieser Vorstellungen vermuten. Hingegen muß der von Simek an vielen Stellen postulierten Fundamentalopposition zwischen ‚verläßlichen, frühen bzw. zeitgenössischen archäologischen Quellen‘ und ‚unzuverlässigen, späten, weitgehend literarisch-fiktionalen Mythen-/Götterezählungen des Hochmittelalters‘ deutlich widersprochen werden: So ist etwa die Existenz mythischer ‚Geschichtchen‘, die in ihrer vermenschlichten Götterdarstellung den altnordischen Quellen des Hochmittelalters weitgehend gleichen (vgl. etwa die Wodan-Frea-Erzählung in der langobardischen Ursprungssage), bereits für die der Kaiserzeit unmittelbar folgende Völkerwanderungs- und Merowingerzeit eindeutig belegt. Umgekehrt reichen die religionshistorisch relevanten archäologischen Belege selbstverständlich in zeitlicher Dimension bis zum Ende des skandinavischen Spätheidentums hinauf. Beide Quellengattungen sind folglich gleichermaßen genuiner Ausdruck des germanischen Heidentums und sollten daher auch gleichrangig in die religionsgeschichtliche Forschung einbezogen werden (vgl. Heizmann 2012, S. 702).

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Wie angesichts dieser und der vorangegangenen Ausführungen hoffentlich deutlich geworden ist, finden sich – neben den erörterten Problemen – sowohl auf seiten der quellenskeptischen Richtung als auch bei Schjødt – wertvolle Anknüpfungspunkte, die sich keineswegs gegenseitig ausschließen müssen, sofern man sie ihrer jeweils einseitigen Ausrichtung enthebt: Es bleibt das Verdienst der ‚Baetke-Fraktion‘ auf die Diskrepanz zwischen den ‚menschlichen Göttern‘ der Mythologie und den sicherlich durch Numinosität ausgezeichneten Adressaten realer kultischer Verehrung im lebendigen Heidentum hingewiesen zu haben – insbesondere seitdem die skandinavische Archäologie dies bestätigen konnte. Ihr Fehler bestand in der auf weitgehend wörtlicher Textrezeption beruhenden Schlußfolgerung, daß die mythologischen Texte wegen ihrer vermenschlichenden Darstellung der Götter als Produkte der nachheidnischen Zeit einzustufen und somit als Quellen des nordgermanischen Heidentums weitgehend unbrauchbar seien. Schjødt begeht im Zuge der Formulierung seines pointierten Gegenentwurfes zur theologisierenden Richtung letztlich denselben Fehler, beim Literalsinn zu verharren, und leitet daraus eine (seiner Ansicht nach) die altnordische Religion insgesamt prägende, mehr oder weniger menschliche Göttercharakteristik ab. Dabei unterläßt er es, eine Differenzierung zwischen mythologischer Ausdrucksform und kultisch-religiösem Erleben vorzunehmen, obwohl keineswegs nur die (z.T. christlich gefärbte) Sichtweise der ‚Baetke-Fraktion‘, sondern wie erwähnt auch archäologische Erkenntnisse aus dem germanischen Bereich selbst sowie Vergleichsbefunde zur griechisch-römischen Religion dies zwingend nahelegen. Trotz der Notwendigkeit gewisser Modifikationen hat die auch durch Schjødt vorangetriebene (Wieder-)Heraufsetzung des Quellenwertes der literarischen Zeugnisse jedoch sicherlich ihre Berechtigung, zumal es möglich erscheint, die jeweils positiven Leistungen der konträren Forschungsrichtungen zu kombinieren. Eine solche Lösung ist vorstellbar, weil die vermeintliche Widersprüchlichkeit beider Ansätze sich erst aus einem gemeinsamen, die jeweiligen Fehlschlüsse evozierenden Grundirrtum  – dem wortwörtlichen Textverständnis – ergibt.

4 Einige Vorschläge für eine erneuerte Mythen-Hermeneutik Wenn die wortwörtliche Textrezeption im Hinblick auf mythologische Überlieferungen (wie etwa die altnordische) hier wiederholt als fehlerhaft bzw. irreführend bezeichnet wurde, so bedarf dies einer Erklärung. Meines Erachtens sollte gerade in der Frage des Textzugangs ein weitreichender Neuansatz gewagt werden: An die Stelle der wörtlichen Textauffassung muß eine für mythische Überlieferungen adäquate Hermeneutik gesetzt werden. Zu diesem Zweck gilt es, auch die Potentiale weiterer Fachdisziplinen – vor allem der Religionswissenschaft und der Kulturanthropologie  – auszuschöpfen, die mit einem breiten Spektrum von Deutungsmodellen

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religiöser Vorstellungswelten und Ausdrucksformen aufwarten können. Daß dabei die grundlegende philologische Perspektive keineswegs vernachlässigt werden darf, versteht sich von selbst: Sämtliche Untersuchungen sollten stets mit aller gebotenen Präzision anhand der Originalquellen und unter Aufbietung des gesamten Instrumentariums sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschung vorgenommen werden. In die anschließende Interpretation der dabei erzielten Befunde sind jedoch neben philologischen auch religionswissenschaftliche und kulturanthropologische Gesichtspunkte mit einzubeziehen. Im Folgenden versuche ich anhand einiger Beispiele aufzuzeigen, inwiefern eine stärkere Berücksichtigung entsprechender Ansätze helfen könnte, Klarheit über strittige Aspekte der nordgermanischen Religionsgeschichte zu erlangen, insbesondere zur Frage des Quellenwertes der eddischen Götterdichtung.³⁰ Bereits die Vertreter der religionsphänomenologischen Schule hatten auf den Umstand hingewiesen, daß in vielen Kulturen Diskrepanzen zwischen dem religiösen (d.h. kultischen) Erleben des Numinosen³¹ und den sprachlichen Ausdrucksformen desselben bestehen. In Anlehnung an Rudolf Otto schreibt Mircea Eliade: Zwar bringt die Sprache das tremendum […] naiv in Worte, die dem Bereich der Natur oder dem profanen Geistesleben des Menschen entlehnt sind, aber diese analogisierende Ausdrucksweise entspringt eben der Unfähigkeit das Ganz andere [sic!] zu benennen: die Sprache ist darauf angewiesen, alles, was über die normale menschliche Erfahrung hinausgeht, in Worte zu kleiden, die dieser normalen Erfahrung entstammen.³²

Mit dem ergänzenden Hinweis, daß gerade den Sprachen archaischer Gesellschaften eine metaphysisch-abstrakte Spezial-Terminologie in der Regel fehle, betont Eliade, daß die entsprechenden nicht-sprachlichen Vorstellungen dennoch auch in diesen Kulturen vorhanden seien.³³ Allen Religionen, gleichgültig auf welcher Ebene fach-

30 Dabei kann es hier nicht mein Ziel sein, einen repräsentativen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Mythen-Hermeneutik zu liefern. Einen guten Einstieg in dieses Thema bieten Assmann / Assmann 1998, mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen. Umfangreichere Darstellungen zur religionswissenschaftlichen Methodik insgesamt bieten Figl 2003 sowie Cancik / Gladigow / Kohl 1988–2001. 31 Obwohl die gegenwärtige Religionswissenschaft sich tunlichst jeder Aussage über die tatsächliche Existenz oder eventuelle Manifestationen des ‚Heiligen‘ enthält, untersucht sie doch das ‚antwortende Handeln‘ (Oberhuber 1991, S. 9), mit dem der Mensch auf sein religiöses Erleben reagiert. Implizit bleibt also vorausgesetzt, daß die Angehörigen der jeweiligen Religion das Numinose (gemäß ihrer Vorstellungswelt) als real erleben. In diesem Sinne können die Erkenntnisse der religionsphänomenologischen Schule, der die reale Existenz und Manifestation des ‚Heiligen‘ (Hierophanie) als selbstverständliche Tatsache gilt, auch für die heute dominierenden (strikt agnostischen) Strömungen der Religionswissenschaft nützlich sein. 32 Eliade 1998, S. 13 f. 33 Vgl. Eliade 1998, S.  15 f. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Paul Veyne (Veyne 2008, S.  24–26), wenn er feststellt, daß es dem Menschen der Antike weitgehend an der modernen Terminologie mangelte, um seine – selbstverständlich vorhandenen – religiösen Empfindungen (unseren Erwartungen

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sprachlichen Ausdrucksvermögens sie rangieren, darf folglich auf seiten des religiösen Erlebens ein vergleichbares Maß an Intensität, eine ähnliche Empfindung hinsichtlich des Numinosen zugesprochen werden. Obgleich rezentere Strömungen der Religionswissenschaft die Modelle der Religionsphänomenologie als ‚zu stark verallgemeinernd und an christlichen Begriffen orientiert‘ kritisieren,³⁴ darf doch mit einiger Berechtigung die grundsätzliche Richtigkeit der oben umrissenen Feststellungen angenommen werden. Ein Blick auf die griechisch-römische Antike kann – gänzlich ohne christliche (bzw. ‚eliadische‘) Konnotationen  – die obigen, allgemein gehaltenen Aussagen Eliades im wesentlichen bestätigen: Man stellte sich die Götter als überwältigende, anbetungswürdige, den Menschen überlegene Wesen vor, die, von einem übernatürlichen Nimbus umgeben, liebende Bewunderung, Schrecken und Schauder hervorriefen. Wenn man überrascht wird und plötzlich diese von Natur aus unsichtbaren Wesen nahe glaubt, gerät man in thámbos, ein tiefes Gefühl von Angst, Faszination und Staunen. In seinem Hymnus an Apoll vermittelt Kallimachos, ein Virtuose des Mimetismus, etwas von dem Gefühl der Heiligkeit: Als der Gott unsichtbar erscheint und sich den Verehrern vor seinem Tempel nähert, verbreitet er eine Welle, die alles in Erschütterung versetzt. Die Heiligkeit der Götter macht die Religion zu etwas sehr Erhabenem […].³⁵

Wie bereits erwähnt darf aufgrund derartiger Erkenntnisse über die griechisch-römische Religion wohl auch den heidnischen Nordgermanen zugebilligt werden, daß sie das Göttliche als „eine Qualität sui generis“³⁶ kannten und achteten. Wenn man also auch den vorchristlichen Skandinaviern ein echt numinoses Erleben der Götter zugesteht, gilt es im Folgenden noch der Frage nachzugehen, wie dies mit den stark vermenschlichten Götterdarstellungen der mythisch-poetischen Quellen in Einklang zu bringen ist. Für die nordgermanische (wie auch die griechische und vedische) Religion stellte bereits Otto Höfler (1971) fest, daß der teilweise stark überzeichnete Anthropomorphismus mancher Götterdarstellungen der ebenso gesicherten kultischen Verehrung derselben Götter zwar auf den ersten Blick scharf zu widersprechen scheine, daß sich hinter diesem Phänomen jedoch ein tief religiöser Sinn verberge, in dem dieser ‚Widerspruch‘

entsprechend) ausdrücken zu können. In einzelnen Fällen ist es antiken Autoren dennoch gelungen, etwas von diesem Empfinden bzw. Erleben des Göttlichen einzufangen (vgl. etwa den unten erwähnten Apoll-Hymnus des Kallimachos). 34 Gerade auch in der jüngeren deutschsprachigen Religionswissenschaft wird aufgrund des agnostischen, rein kulturwissenschaftlichen Selbstverständnisses die Religionsphänomenologie ‚eliadischer‘ Prägung überwiegend kritisch gesehen (vgl. etwa Gladigow 1992 und 2003). Zu erwähnen ist in diesem Kontext jedoch, daß es durchaus auch ernstzunehmende rezente Versuche zur Etablierung einer erneuerten Religionsphänomenologie gibt (vgl. etwa die Hinweise bei Figl 2003, S. 31 f.; Sundermeier 2007). 35 Veyne 2008, S. 23 f. 36 Veyne 2008, S. 151.

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aufgelöst werde. Höfler zufolge dienten derartige, zum Teil ins Komische gesteigerte Vermenschlichungen dem Zweck, sich die Unvollkommenheit jeder – ob kultischen oder mythisch-narrativen – Repräsentation des Göttlichen ins Bewußtsein zu rufen. Er sieht darin „ein Warnen vor dem Allzufaßbarmachen des nie ganz zu Fassenden, vor der Verendlichung des Unendlichen, vor der Vermenschlichung des Göttlichen“,³⁷ das in dieser Form mindestens ebenso wirksam sei wie philosophische Abstraktion (wobei diese im germanischen Bereich ohnehin nicht existierte).³⁸ Sollte Höfler mit seinen Überlegungen recht haben, wäre damit  – in Ergänzung von Eliades Erklärungsansatz – für archaische Kulturen (wie etwa die germanische) aufgezeigt, daß menschlich-analogisierende Begrifflichkeiten und Darstellungen im religiösen Bereich nicht ausschließlich ein Zeichen von ‚Naivität‘ sein müssen, sondern in bestimmten Fällen auch einem höheren Zweck religiösen Ernstes gedient haben könnten. Unabhängig von der Religionsphänomenologie kommt die philosophisch-anthropologische Weltbild-Forschung hinsichtlich der analogisierenden Ausdrucksweise zu recht ähnlichen Ergebnissen, wenn etwa Ernst Topitsch betont, daß die Deutung des Weltgeschehens in den alten Kulturen vielfach nach dem Modell des menschlichen Handelns erfolge. Schon das dabei verwendete Medium der Sprache sei – gerade im indogermanischen Bereich – seinerseits durch ein besonderes ‚Agens-actio-Schema‘ geprägt, demzufolge Handlungen nicht als gleichwertig, sondern als den jeweiligen Akteuren – also Menschen – nachgeordnete und von diesen abgeleitete Kategorien gelten: Die lebenswichtigen und gefühlsmäßig am stärksten ausgezeichneten Gegebenheiten  – die Mitmenschen und die Beziehungen zu ihnen – liefern die Ausdrücke, mit denen auch andere (belebte und unbelebte) Objekte bezeichnet werden.³⁹

Diese bereits in den sprachlichen Kategorien (unbewußt) vorgeprägte Tendenz zur Vermenschlichung von Gegenständen und Handlungen findet ihre Fortsetzung in der Ausdeutung der Welt, des Kosmos und des Pantheons nach ebensolchen Mustern aus der menschlichen Sphäre. Sie realisiert sich nach verschiedenen Interpretationsmodellen,⁴⁰ wie etwa den soziomorphen (z.B. Pantheon als Verwandt-

37 Höfler 1971, S. 386 f. 38 Für die griechische Religion würde dies bedeuten, daß der von der Philosophie heftig kritisierte mythisch-poetische Anthropomorphismus in seiner grotesk-komischen Variante selbst eine alternative Form der Kritik an der regulären Vermenschlichung des Göttlichen darstellte. Während es sich im Falle der Götterkomik jedoch um mythosimmanente Kritik handelt – „Selbstrelativierung des Mythos“, wie Höfler 1971 (Untertitel) es nennt –, geht die Philosophie dazu über, mitsamt dem Anthropomorphismus den Mythos als Ganzes zu verwerfen. 39 Topitsch 2001, S. 357. 40 Zu rezenten Ansätzen der philosophisch-anthropologischen (und religionswissenschaftlichen) Weltbild-Forschung vgl. etwa Topitsch 2001. Zu den Interpretationsmodellen speziell vgl. Topitsch 1988, S. 54 ff.; Topitsch 2001, S. 357 f.; Gladigow 1993b.

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schafts- bzw. Bündnissystem) und technomorphen (z.B. Ausgestaltung des Kosmos durch göttliche ‚Handwerker‘ bzw. ‚Schmiede‘). Daneben stehen u.a. biomorphe Interpretationsmodelle, die Vorgänge des natürlichen Wachstums und Werdens abbilden. Gemeinsam ist den genannten Modellen, daß sie stets Konkretes als Ausgangspunkt ihrer Weltdeutung gebrauchen, während abstrakt-spekulative Ansätze gänzlich fehlen. Mit menschlichen Charakteristika (soziomorph und technomorph) ausgestattete Götter müssen folglich geradezu als Regelerscheinung mythischer Weltsicht betrachtet werden,⁴¹ was gerade in archaischen Gesellschaften offen zutage tritt, denen – wie beschrieben – in aller Regel eine philosophisch-spekulative bzw. metaphysische Spezial-Terminologie fehlt.⁴² Neben der zu treffenden Unterscheidung von mythologischem Text und kultischreligiösem Erleben sowie der Erkenntnis der lebensweltlich-konkretisierenden (oft: vermenschlichenden) Modelle der Weltdeutung ist  – in strukturalistischer Perspektive – auch der Umstand bedeutsam, daß ein konkreter mythologischer Text nicht als ein Mythos bzw. eine religiöse Vorstellung schlechthin zu betrachten ist: Tatsächlich stellt eine konkrete literarische Verwirklichung nur einen möglichen ‚Phänotext‘ dar, in dem das eigentliche Mythem, der ‚Genotext‘, auf eine spezielle – aber nicht einzig mögliche  – Art und Weise Gestalt annimmt.⁴³ Der niemals unmittelbar greifbare mythemische Genotext, der die religiöse Denkfigur an sich darstellt, kann im Sinne der strukturalen Mythenforschung durch die kombinatorisch-komparative Untersuchung seiner verschiedenen Phänotexte, als Kernsumme aller konkret realisierten einzelnen Ausdrucksformen, nur annäherungsweise ermittelt werden. Außer durch sprachlich-literarische Realisierungen, die ihrerseits (z.B. je nach Genre) sehr verschiedenartig sein können, kann ein Mythem in archaischen Kulturen auch mittels bildlicher, mimischer, choreographischer und sonstiger Darstellungsvarianten (Phänotexte) umgesetzt werden.⁴⁴ Für die nordgermanische Mythologie jedoch bilden die

41 Ebenfalls weit verbreitet sind durch natürliches Werden bzw. Wachstum geprägte Vorstellungen von der Ur-Entstehung des Kosmos, denen oft biomorphe Modelle zugrundeliegen. Im übrigen sind auch (äußerlich) nicht-menschlich erscheinende (etwa theriomorphe) Götter, wie sie in verschiedenen Kulturen existieren, in ihrem bewußten Handeln (Motive, Affekte etc.) meist nach menschlichen Mustern gezeichnet. 42 Nicht ohne Grund entwickelte der Platonismus das Konzept der ‚negativen Theologie‘ gerade in Abgrenzung gegen den (anthropomorphisierenden) Mythos; ein abstrakt-philosophischer Gottesbegriff wie der negativ-theologische wäre im Rahmen des mythisch-narrativen Denkens (wie auch des volksreligiösen Kultes) unmöglich gewesen. 43 Das Verhältnis zwischen dem Genotext und seinen einzelnen Phänotexten ähnelt strukturell jenem zwischen der Idee (als vollkommenem Urbild) und den (unvollkommenen) Einzeldingen in Platons Ideenlehre. 44 Zu diesen Forschungsansätzen mit strukturalistischen Bezügen vgl. Assmann / Assmann 1998, S. 187–195, mit Hinweisen auf weitere Forschungsliteratur.

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verschiedenen literarischen Quellen leider den einzig möglichen (ersten) Verständniszugang, von dem jede wissenschaftliche Untersuchung auszugehen hat.⁴⁵ Wie bereits erläutert, kann der Abstand zwischen numinosem Erleben und sprachlicher Ausdrucksform desselben  – je nachdem, ob eine ausgeprägte metaphysische Spezial-Terminologie vorhanden ist oder nicht  – unterschiedlich groß sein. Ähnliches gilt entsprechend für die beschriebene Diskrepanz zwischen Genotext und Phänotext. Im Falle der eddischen Götterlieder ist vermutlich eine größere Distanz anzunehmen, da es sich dabei im wesentlichen nicht um religiöse Texte im engeren Sinne (etwa Hymnen, Gebete, Ritualtexte etc.) handelt;⁴⁶ wie die Heldenlieder vermittelt die eddische Götterdichtung in stofflicher Hinsicht zwar ‚Vorzeitkunde‘, angesichts ihres (auch) narrativ-unterhaltenden Charakters sind jedoch erhebliche gestalterische Freiheiten und folglich Abweichungen vom mythemischen Genotext einzukalkulieren. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich erneut einen kleinen Exkurs in die griechische Antike unternehmen. Die eddischen Lieder sind – wie etwa die homerischen Epen – das Werk von Dichtern. Auch unzweifelhaft heidnischen Dichtern wie Homer und Hesiod wurde von dem – ebenfalls heidnischen – Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon (6./5. Jh. v.  Chr.) bereits vorgeworfen, den Göttern jede Art menschlicher Unzulänglichkeiten angedichtet zu haben;⁴⁷ dabei kritisiert der Philosoph nicht den Götterglauben an sich, sondern die ‚allzumenschliche‘ Darstellung der Götter in der Literatur.⁴⁸ Exakt diesen Vorwurf kann man tatsächlich auch gegen die eddischen Götterlieder und deren anonyme ‚Verfasser‘ ins Feld führen  – allerdings darf man nicht vergessen, worauf die Kritik dabei zielt: auf Ausgestaltungen und Freiheiten

45 Das Korpus bildlicher und archäologischer Quellen kann sehr nützliche Erkenntnisse beisteuern, ist jedoch – soweit es mythologische Zusammenhänge betrifft – selbst nur durch das Vorwissen aus der literarischen Überlieferung überhaupt erst sinnvoll interpretierbar. Erst anschließend können die bei der Interpretation ggf. gewonnenen Einsichten auf die literarische Überlieferung rückbezogen werden, wobei idealerweise – in der Art einer hermeneutischen Spirale – weiterführende Erkenntnisse zu erzielen sind. 46 Damit soll nicht grundsätzlich die Möglichkeit ausgeschlossen werden, daß bestimmte Texte bzw. Textabschnitte einen irgendwie gearteten Hintergrund im Bereich sogenannter ‚Kultdramen‘ haben könnten, wie etwa Phillpotts 1920 sowie Gunnell 1995 ihn sehen wollen. 47 „Alles haben den Göttern Homer und Hesiod angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen“ (zitiert nach Brisson 1996, S. 11). 48 Anhand von Xenophanes’ philosophisch-rationaler (und folglich anti-mythischer) Kritik sollen hier – am Beispiel Homers und Hesiods – lediglich das hohe Alter und der eindeutig genuin heidnische Charakter der mythisch-poetischen Tendenz zum Anthropomorphismus aufgezeigt werden; denn tatsächlich dürften die von Xenophanes kritisierten Göttergeschichten der alten Dichter (Phänotexte) der traditionellen, volksreligiös-mythischen Götterauffassung (Genotext) näher stehen als seine eigene philosophische Anschauung. Zur (mit dem Übergang zur Schriftkultur verbundenen) vor allem philosophischen bzw. historiographischen Kritik am (mythisch-)poetischen Diskurs in der Antike allgemein vgl. Brisson 1996, S. 5–19.

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mythisch-poetischer Natur. Wo keine explizite Darstellung der heidnischen Götter als ‚bloße Menschen‘ (wie z.B. bei Saxo) vorgenommen bzw. sonstige unmißverständliche Kritik am Heidentum geäußert wird, besteht auch keine Berechtigung, derartige Intentionen – unter Zuhilfenahme theologisierender Deutungsmodelle – in die betreffende Quelle hineinzulesen. Allein aus der vermenschlichten Zeichnung der Götter in der eddischen Dichtung (wie auch in Snorris vielfach aus der poetischen Überlieferung schöpfender Mythographie) kann nicht auf euhemerisierende bzw. sonstige christlich-theologische Absichten des Verfassers geschlossen werden.⁴⁹ Folglich sind die von der theologisierenden Forschungsrichtung erhobenen Kritikpunkte an der mythologischen Dichtung des Nordens dahingehend einzuschränken, daß sie lediglich konkrete Phänotexte poetischen Charakters betreffen, in denen sich die in der religiösen Vorstellungswelt verankerten Mytheme nur ‚unvollkommen‘ realisieren. Die zu Recht hervorgekehrte Diskrepanz zwischen dem zu vermutenden numinosen Erleben und den in der Dichtung (Phänotext) aufscheinenden ‚allzumenschlichen‘ Götterdarstellungen bedeutet keine gleichermaßen ausgeprägte Distanz zwischen religiösem Erleben und mythemischem Genotext. Vielmehr muß eine enge Korrespondenz zwischen empfundener Numinosität und religiöser Vorstellungswelt wohl als notwendige Grundvoraussetzung jeder lebendigen Religion angesehen werden. Bei der Umsetzung in dichterische Ausdrucksformen tritt die mythemische Vorstellung mehr oder weniger stark ‚gebrochen‘ zutage – gleich einem weißen Lichtstrahl der durch ein Prisma in einzelne Spektralfarben aufgefächert wird. Diese gebrochenen (und ausgeschmückten) Abbilder dürfen folglich aber nicht ohne weiteres, wie Schjødt (2009) es implizit tut, mit der dahinterstehenden Denkfigur identifiziert werden: Als zwangsläufig ‚defizitäre‘ Realisierungen weichen sie von ihren ‚Urbildern‘, den religiösen Vorstellungen, sowie den mit diesen eng korrespondierenden religiös-numinosen Empfindungen gleichermaßen ab. Dennoch müssen sie – mit all ihren von der hyperskeptischen Forschung zu Unrecht gerügten ‚Mängeln‘ – als genuiner Ausdruck der mythischen Weltsicht einer archaischen Kultur, wie etwa der nordgermanischen, verstanden werden.

49 Auch die Inhalte der (v.a. durch Eugen Mogk) als ‚Götternovellen‘ bezeichneten mythologischen Erzählungen Snorris können nicht pauschal (ohne stichhaltige Begründung für jeden Einzelfall) als postheidnische Erfindung abgetan werden (vgl. Weber 1986, S. 408). Wie Otto Höfler (Höfler 1971) gezeigt hat, ist selbst bis ins Groteske zugespitzte Götterkomik im Rahmen des lebendigen Heidentums möglich (s.o.); auch Bernhard Maier (Maier 1998) sowie Paul Veyne (Veyne 2008, S. 22) merken an, daß Götterkomik nichts mit ‚Ungläubigkeit‘ zu tun hat.

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5 Schlußfolgerung Hinsichtlich der literarischen Zeugnisse zur nordgermanischen Mythologie und ihres religionsgeschichtlichen Quellenwertes sind die getroffenen Feststellungen insofern bedeutsam, als sie die Etablierung einer dritten Position bzw. einer Schnittmenge⁵⁰ zwischen den beiden konträren Forschungsrichtungen (‚Baetke-Fraktion‘ vs. Schjødt) ermöglichen: Tatsächlich dürfte  – im Einklang mit archäologischen Befunden aus dem germanischen Bereich und Erkenntnissen zur griechisch-römischen Religion, jedoch entgegen dem Wortlaut der altnordischen literarischen Quellen  – auch den kultisch verehrten, in der religiösen Vorstellungswelt verwurzelten Göttern der heidnischen Skandinavier ein höherer Grad an Numinosität zuzubilligen sein; dies wird deutlich, wenn die Texte nicht wörtlich aufgefaßt, sondern  – ihrem Charakter als poetisch-mythologische Zeugnisse einer archaischen Kultur gemäß – als kontingente, sprachlich-analogisierende Ausdrucksformen von im kulturellen Gedächtnis verankerten Mentalitätsstrukturen verstanden werden. Unter Berücksichtigung dieser Fakten wäre die vermenschlichte Darstellung der Götter in den altnordischen Quellen weder ein Zeichen sekundärer Reduktion  – etwa der Euhemerisierung  – (theologisierende Forschung), noch ein Beleg für eine rein irdisch-menschliche GötterCharakteristik (Schjødt), sondern geradezu Zeugnis des archaischen und genuinen⁵¹ Charakters dieser mythologischen Dichtung. Daher läßt sich – auch im Vergleich mit den mythischen Überlieferungen und Gottesvorstellungen anderer polytheistischer Kulturen⁵² – für die altnordischen poetischen Zeugnisse ein potentiell hoher Quellenwert grundsätzlich annehmen, ohne die Bereiche des Numinosen und des Profanen (hier: Götter und Menschen) den Zwängen des Literalsinns entsprechend nivellieren zu müssen. Damit behaupte ich selbstverständlich nicht, daß jeder einzelne Text oder Textabschnitt der mythologischen Dichtung echt heidnisch sei. Indes bin ich der Auffassung, daß jeder einzelne Text gesondert zu bewerten ist und nur dann als Produkt nachheidnischen Literaturschaffens betrachtet werden sollte, wenn zwingende phi-

50 Mein Vorschlag richtet sich nicht gegen eine der beiden Richtungen, sondern möge als Versuch einer Synthese verstanden werden. 51 Wenn ich in dieser Arbeit wiederholt von ‚genuin‘ oder ‚echt‘ heidnischen Zügen in der altnordischen Überlieferung spreche, so soll dies keineswegs Vorstellungen von ‚Reinheit‘ oder ‚Unvermischtheit‘ des nordgermanischen Heidentums hinsichtlich möglicher Kulturkontakte und Kultureinflüsse – auch christlicher – suggerieren. Derartige Formulierungen sollen lediglich ausdrücken, daß die betreffenden Charakteristika bereits im noch lebendigen Heidentum vorhanden waren und kein Produkt postheidnischer, bloß literarischer Verfremdung darstellen. 52 Wie im obigen Exkurs zur Dichtung Homers und Hesiods bereits angerissen wurde, werden auch die Götter vieler anderer Kulturen in ihren literarischen Überlieferungen mit menschlichen Wesenszügen dargestellt. Zur weiten Verbreitung des Anthropomorphismus in polytheistischen Religionen vgl. auch Gladigow 1993a, insbes. S. 33 und 40–44.

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lologische oder religionsgeschichtliche Argumente eine Entstehung erst in christlicher Zeit beweisen.⁵³

6 Ergänzende Bemerkungen zum ‚Sonderfall Snorri‘ Zum Abschluß möchte ich noch kurz einige Überlegungen zum ‚Sonderfall Snorri‘ anfügen. Die Tatsache, daß ihre reichste und ergiebigste Quelle, die Edda des Snorri Sturluson (um 1225), mehr als zweihundert Jahre nach der Christianisierung Islands von einem  – selbstverständlich  – christlichen Verfasser zusammengestellt wurde, wirft für die altnordische Mythologie ein besonderes Problem auf. Wo Snorri die Darstellungen der aus heidnischer Zeit stammenden poetischen Denkmäler systematisiert, harmonisiert oder interpretiert, erhebt sich vielfach die Frage, ob seine Auffassungen in Relation zu den uns erhaltenen poetischen Zeugnissen⁵⁴ für die moderne Forschung von Relevanz sind – dies insbesondere, sofern sich daraus neue Widersprüche ergeben. Nach einem lange währenden Diskurs über die Zuverlässigkeit von Snorris Schilderungen setzte sich letztlich eine eher positive Einschätzung seiner mythographischen Kompetenz in der Forschung durch⁵⁵ – im Falle der theologisierenden Fraktion und einiger jüngerer Snorri-Skeptiker⁵⁶ allerdings mit erheblichen Einschränkungen. Im Bestreben, die (recht schwammige) ‚vorsichtig-positive Haltung‘ gegenüber Snorris Zuverlässigkeit anhand greifbarer Kriterien zu präzisieren, wurde jüngst von Wilhelm Heizmann (2009) eine ‚methodische Grundsatz-

53 Dieser Grundsatz lehnt sich in gewisser Weise an das im folgenden referierte methodische Credo Wilhelm Heizmanns zum Umgang mit Snorris poetischen bzw. mythologischen Interpretationen an. Eine Methode, die heidnische (oder christliche) Provenienz eines mythologischen/religiösen Motivs zu ermitteln, ist der kulturübergeifende Religionsvergleich; methodische Vorschläge dafür versuche ich im Zusammenhang mit Snorris Werk zu skizzieren (s.u.). 54 Für Snorris konzeptionelle bzw. intentionelle Eigenkonstrukte müssen spezifische Modelle des Verständnisses herangezogen werden, wie die Forschung sie entwickelt hat. Seinen eigenen Ausführungen vorangestellt bietet etwa Heinrich Beck (Beck 1994, S. 6 f.) eine Zusammenstellung der wesentlichen Forschungsrichtungen zu der Frage, welche Haltung Snorri der heidnischen Mythologie und Religion (sowie deren Quellen) gegenüber einnahm. Je nachdem, welche Einstellung Snorri zugeschrieben wird, fallen die Urteile über seine mythographische Zuverlässigkeit sehr unterschiedlich aus. 55 Für diese ‚Ehrenrettung‘ Snorris waren v.a. die Arbeiten George Dumézils entscheidend (vgl. zu diesem Diskurs Simek 2006, S. 389 f.). Insbesondere die Verfasser der bedeutendsten Handbücher zur altgermanischen bzw. altnordischen Religionsgeschichte, Jan de Vries (de Vries 1956/57) und Gabriel Turville-Petre (Turville-Petre 1964), gelangten zu einer überwiegend positiven Einschätzung von Snorris mythographischer Verläßlichkeit. 56 Auch in der jüngeren Generation gibt es Forscher, die hinsichtlich der mythologischen Abschnitte der Prosa-Edda Snorris ‚Innovativität‘ für weitaus gewichtiger halten als etwa seine mythographische Zuverlässigkeit (vgl. z.B. die Arbeiten von Christopher Abram (Abram 2003, 2009 und 2011)).

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formel‘ vorgeschlagen, die geeignet erscheint, für künftige religionsgeschichtliche Untersuchungen zur Snorra-Edda als Richtschnur zu dienen. Mit Nachdruck hebt Heizmann hervor, daß von Snorri nur dann abgewichen werden darf, wenn sich dies philologisch zweifelsfrei begründen läßt. Natürlich sind auch Snorris Deutungen nicht frei von Fehlinterpretationen und Mißverständnissen, aber die Beweislast liegt immer bei uns. Sich andere Deutungsmöglichkeiten vorstellen zu können allein genügt nicht, um gegen Snorris Auffassung zu opponieren.⁵⁷

Unter Beachtung dieses ‚methodischen Credos‘ dürfen und müssen die einschlägigen Anteile in Snorris Werk vollumfänglich als Quelle religionsgeschichtlicher Untersuchungen zum heidnischen Skandinavien mit einbezogen werden; meist ist es sogar sinnvoll, sie als Ausgangspunkt zu verwenden und von dort den Abgleich mit anderen Quellen zu suchen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern dabei selbstverständlich eventuelle Widersprüche zwischen Lieder- und Snorra-Edda, die jedoch in jedem Einzelfall gesondert zu bewerten und keineswegs pauschal mit einer christlichen (oder sonstigen) Einflußnahme Snorris erklärbar sind. Selbst eklatante Widersprüche sind auch innerhalb der Mythologie vielfach anzutreffen, da mythisches Denken nicht den Gesetzen der (zweiwertigen) Logik unterworfen ist. Nicht jedes ‚Sondergut‘ Snorris, das in der uns erhaltenen Dichtung kein narratives Gegenstück hat, muß daher zwangsläufig erfunden oder christlich gefärbt sein (wie v.a. Eugen Mogk und z.T. die ‚Baetke-Fraktion‘ vielfach unterstellten⁵⁸)  – Pauschalurteile dieser Art sind keinesfalls angebracht. In vielen derartigen Fällen kann eine vergleichende Einbeziehung anderer (v.a. indogermanischer) Überlieferungen helfen, Licht auf strittige Punkte in Snorris Werk⁵⁹ zu werfen: Sofern fundierte Übereinstimmungen mit den Mythologien bzw.

57 Heizmann 2009, S. 506. Auch wenn Heizmanns Formel sich an der angegebenen Stelle speziell auf Snorris Deutungen schwer verständlicher skaldischer Dichtung – am Beispiel von Húsdrápa 2 – bezieht, so gilt sie prinzipiell doch auch für Snorris Mythographie schlechthin, wie Heizmann in einer Vorlesung zur Skaldendichtung im Sommersemester 2008 an der LMU München hervorhob: In diesem Rahmen wies Heizmann ebenfalls auf die angeführte Formel hin, als er – unter Bezugnahme auf einschlägige Forschungsergebnisse George Dumézils (Dumézil 1959) und Renate Dohts (Doht 1974) – Snorris Version des Mythos vom Skaldenmet gegenüber der (bzw. den) in den eddischen Hávamál überlieferten Variante(n) als die ältere und ursprünglichere herausstellte. Ergänzend möchte ich anmerken, daß meines Erachtens in Fällen widersprüchlicher Mythenüberlieferungen bzw. -deutungen nicht nur philologische, sondern auch religionsgeschichtliche Gründe ggf. ein Abweichen von Snorri rechtfertigen bzw. erfordern können. 58 Vgl. Anm. 49 sowie Weber 1986, S. 408. 59 Im Prinzip gelten die nachfolgend formulierten Kriterien – abgesehen von den auf Snorri speziell bezogenen Passagen  – auch für problematische Aspekte der mythologischen Dichtung. Für Snorri spielen sie eine besondere Rolle, weil er als mittelalterlicher Christ, der das Heidentum aus einer späteren Außenperspektive beschreibt, besonders ‚unter Verdacht‘ steht und daher mit viel Aufwand als weitgehend zuverlässig erwiesen werden muß(te).

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Religionen genetisch verwandter oder typologisch ähnlicher Kulturen⁶⁰ nachweisbar sind, darf in der Regel gemeinsames Erbe und somit vorchristliche Provenienz des Motivs angenommen werden. Das Kriterium der Fundiertheit bedeutet, daß nicht bereits einzelne Elemente oder allzu vage Allerweltsmotive den Vergleich in jedem Fall rechtfertigen, sondern vor allem zusammenhängende Strukturen bzw. Vorstellungskomplexe dafür heranzuziehen sind.⁶¹ Wo für ein ‚christentumsverdächtiges‘ Motiv keine überzeugende Parallele in verwandten oder vergleichbaren Kulturen ausgemacht werden kann, wird die Entscheidung über dessen Echtheit bzw. Indigenität vor allem davon abhängen, ob sich die Vorstellung – in Anbetracht aller verfügbaren Erkenntnisse über die nordgermanische Religion – nahtlos in deren Gesamtgebäude (mit seinem Variantenreichtum) einfügt, oder ob sich ‚unnatürliche‘ Bruchlinien aufzeigen lassen. Ausschließlich im letztgenannten Fall kann  – bei nachweislicher Existenz des betreffenden Motivs (samt Kontext) im Christentum – von einer christlichen Einflußnahme Snorris sicher ausgegangen werden. Hinter diesen methodischen Erwägungen steht die Auffassung einer ‚Bringschuld‘: Da sowohl eddische als auch ‚snorronische‘ Überlieferung prinzipiell als überwiegend zuverlässige Quellen zur nordgermanischen Religion zu betrachten sind, darf folglich eine darin enthaltene mythische Vorstellung so lange als genuin heidnisch gelten, bis zweifelsfrei bewiesen wurde, daß diese christlicher Herkunft⁶² ist oder auf einer nicht quellengestützten, irrtümlichen Interpretation bzw. einem intentionalen Eigenkonstrukt Snorris beruht. Hinsichtlich der Prosa-Edda im besonderen darf bei all diesen Überlegungen schließlich nicht vergessen werden, daß Snorri als „bester Mythenkenner seiner Zeit“⁶³ mit Sicherheit aus einer reicheren Überlieferung schöpfen konnte, als sie uns heute erhalten ist, so daß seine Angaben und Deutungen, die  – wie erläutert  – im Grundsatz als verläßlich gelten dürfen, einen über den engen Rahmen der erhaltenen Dichtung

60 Ein deutliches Plädoyer zugunsten eines mehrstufigen, nämlich: genetischen, kulturkontaktbezogenen sowie typologisch-phänomenologischen Religionsvergleichs hält Schjødt in einem ganz aktuell erschienenen  – und sicherlich richtungsweisenden  – Beitrag (vgl. Schjødt 2012, insbes. S. 275–80). 61 Bereits Schier (Schier 1968, S. 403) betonte im Zusammenhang mit einem nordgermanisch-skythischen Vergleich die weitaus höhere Aussagekraft von übereinstimmenden Motivkomplexen gegenüber einzelnen Motiven. Im oben angeführten Beispiel des Mythos vom Skaldenmet etwa konnten derartige Vergleichsstudien überaus aufschlußreiche Resultate erzielen, die im übrigen auf keinem anderen Weg zu erreichen gewesen wären. 62 Zu bedenken ist überdies, daß auch das Christentum nicht voraussetzungslos aus dem Nichts entstanden ist, sondern aufgrund seines Hervorgehens aus dem babylonisch, persisch und hellenistisch beeinflußten Judentum der Zeitenwende naturgemäß viele Elemente mit den genannten und weiteren Religionen bzw. Mythologien teilt. Motive, die der nordgermanischen und der christlichen Überlieferung gemeinsam sind, können daher – sofern sie auch in sonstigen Traditionen der Alten Welt weitverbreitet sind – in vielen Fällen als ererbtes Mythengut (und nicht als mittelalterliche christlichliterarische Verfremdung) betrachtet werden. 63 Heizmann 1999, S. 423 (mit weiteren Literaturhinweisen).

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deutlich hinausreichenden, weitgehend authentischen Einblick in das Gesamtbild⁶⁴ der altnordischen Mythologie gewähren. Durch seine Edda, die ‚erste germanische Religionsgeschichte‘,⁶⁵ hat er den vergleichsweise guten Kenntnisstand zur heidnischen Religion Skandinaviens, über den wir heute verfügen, überhaupt erst möglich gemacht. Sein Werk bietet einen unschätzbaren Wissensfundus, auf den die religionsgeschichtliche Forschung – auch künftig – keinesfalls verzichten kann.

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64 Freilich darf Snorris Darstellung nicht als abschließende oder gar dogmatische ‚Summe der Mythologie‘ mißverstanden werden: Sie stellt eine zu großen Teilen zutreffende und legitime Perspektive dar, die indes andere, abweichende Sichtweisen, wie sie für den Mythos absolut charakteristisch sind, keineswegs ausschließt. 65 Vgl. Clunies Ross 1992, insbes. S. 633.

Die ‚allzumenschlichen‘ Götter des Nordens 

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Olof Sundqvist

Snorri Sturluson as a historian of religions: The credibility of the descriptions of pre-Christian cultic leadership and rituals in Hákonar saga góða Abstract: This study investigates the credibility of the descriptions of pre-Christian cultic leadership and rituals in Snorri Sturluson’s Hákonar saga góða. The perspective is one taken from the study of the history of religions. By using a comparative method, one which combines source criticism and philology, ancient ideas may be detected even within Snorri’s reconstruction. Scholars have interpreted these ideas by setting them in a wider source context. Here it is argued that several ideas in Snorri’s description in Hákonar saga góða may be attested in sources which are closer to the Viking Age, such as Skaldic poetry, runic inscriptions and archaeological finds. For instance, the idea that political leaders such as kings and earls were involved in public cults may be one based on ancient traditions. Snorri, too, was probably on firm ground when he stated that the rulers (at least the king) were supposed to take part in certain rituals while attending sacrificial feasts: rituals such as drinking ceremonies and meal customs perhaps such as the eating of horseflesh. That these ceremonies sometimes took place in some kind of cultic building or banqueting hall, such as described by Snorri, seems also likely. It is emphasized, however, that some elements in his text must be seen as suspect, as Olaf Olsen, Ernst Walter and Klaus Düwel have noted. These elements include certain religious terms, as well as the act of making the sign of the hammer over the horn. Generally, however, it is argued that Hákonar saga góða, if treated with care, may still be used as a source for pre-Christian religion.

The mythical and historical writings of Snorri Sturluson (1179–1241) have been debated in research for more than one hundred years. Snorri’s texts have sometimes been felt to be almost useless when reconstructing ancient Scandinavian religion and Viking Age history.¹ This type of source-critical approach has deep roots in the study of Old Norse philology and religion as well as in the general study of history.² One prominent representative for this skeptical position was the German scholar Walter Baetke. Some of his ideas have been instrumental in establishing the modern treatment of Snorri’s texts. Baetke argued, for instance, that Snorri revised the old mythical traditions in accordance with learned medieval models and his own imagi-

1 See e.g. Olsen 1966; Düwel 1985. 2 See e.g. Bugge 1881–89; Mogk 1923 and 1932; L. Weibull 1948; C. Weibull 1964.

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nation. For example, Snorri frequently used medieval euhemerism when describing ancient myths. This method was a common feature of ecclesiastic apologetics, where the pagan deities were considered as ancient human rulers and thus not ‘real gods’. Because of this approach and other rewritings of the traditions, Baetke considered Snorri’s descriptions of myth to be unreliable when reconstructing pagan religion.³ A similar stand was also taken by the Norwegian philologist Anne Holtsmark.⁴ This critical attitude against Snorri is also reflected in more recent research concerning his historical writing in Heimskringla. It has been stated that Snorri was “not at all reluctant to adapt his sources as he sees fit and even write whole new chapters of his own in order […] to clarify connections and make his narrative more alive”.⁵ Even if Snorri’s writings have not satisfied the stern criteria of source criticism, several scholars have felt they should not be completely discarded as sources of knowledge for Viking Age religion and culture.⁶ Some of them incorporate oral traditions which may reach back to the Viking Age. Some traditions have probably been reworked by Snorri and other medieval scribes, by means of medieval thinking and artistic enthusiasm. This reworking is no reason to dismiss them altogether. Snorri and the medieval writers probably had access to more direct sources than the modern historian has, and most likely they were better suited to interpret them when making their historical reconstructions.⁷ The present paper will investigate the credibility of the descriptions of pre-Christian cultic leadership and rituals in Snorri’s Hákonar saga góða. My perspective here is taken from the history of religions. By using a comparative method which combines source criticism and philology, I will try to detect ancient notions in Snorri’s reconstruction. These notions can be interpreted by setting them in a wider context of sources. In these comparisons mostly direct sources will be applied, that is, skaldic poetry, runic inscriptions, and especially archaeological finds. When such comparison is not possible (due to scarcity of direct sources), the absence of similar ideas and customs in contemporary Christian culture is taken as support for the reliability of medieval statements on ancient Scandinavian tradition. Other independent (and

3 Baetke 1950, 1951 and 1964. 4 Holtsmark 1964. 5 Jónas Kristjánsson 1988, p. 175. Cf. Vésteinn Ólason 1998, p. 59. 6 See e.g. Dumézil 1948; Ström 1975; Meulengracht Sørensen 1991; Hultgård 1993; Dillmann 1997 and 2008; Steinsland 2000 and 2005; Schjødt 2008; Hedeager 2011. 7 Preben Meulengracht Sørensen made the following observations when considering Snorri’s narrative about Hákon the Good and sacrifices in Trøndelag: “History is not the data extracted from the sources, but the syntheses created out of the data, and historical writings are not the reestablishment of past reality, but the creation of historical probabilities. In this perspective the medieval narrative historiographic texts should be considered primary sources, since their authors had better access to authentic sources than the modern historian and were presumably better suited to interpret them” (Meulengracht Sørensen 1991, p. 244).

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indirect) sources are also useful in this investigation, such as Icelandic prose which is older than Hákonar saga góða and some ecclesiastical texts in Latin.

The text Hákonar saga góða is a part of Snorri’s Heimskringla. Heimskringla is thought to have been written about 1230, and it is preserved in three major witnesses: (1) Kringla: AM 35 fol. is a copy of Kringla made by Ásgeirr Jónsson c. 1700, and provided with corrections made by Árni Magnusson. (2) Codex Frisianus: AM 45 fol., was written by an Icelander c. 1325. (3) Jǫfraskinna: AM 37 fol. is the oldest and best copy of Jǫfraskinna, unfortunately defective, made by Bishop Jens Nielssön c. 1567–68 (J1). AM 38 fol. is a copy of Jǫfraskinna made by Ásgeirr Jónsson 1698 (J2). A good text critical edition was published by Bjarni Aðalbjarnarson in Íslenzk fornrit, and it will be used in present study. In one passage of Hákonar saga góða, chapter 13 to 18, the text describes ceremonial feasts in Viking Age Trøndelag. Snorri writes thus (in ch. 14): Sigurðr Hlaðajarl var inn mesti blótmaðr, ok svá var Hákon, faðir hans. Helt Sigurðr jarl upp blótveizlum ǫllum af hendi konungs þar í Þrœndalǫgum. Þat var forn siðr, þá er blót skyldi vera, at allir bœndr skyldu þar koma, sem hof var, ok flytja þannug fǫng sín, þau er þeir skyldu hafa, meðan veizlan stóð. At veizlu þeiri skyldu allir menn ǫl eiga. Þar var ok drepinn alls konar smali ok svá hross, en blóð þat allt, er þar kom af, þá var kallat hlaut, ok hlautbollar þat, er blóð þat stóð í, ok hlautteinar, þat var svá gǫrt sem stǫkklar, með því skyldi rjóða stallana ǫllu saman ok svá veggi hofsins útan ok innan ok svá støkkva á mennina, en slátr skyldi sjóða til mannfagnaðar. Eldar skyldu vera á miðju gólfi í hofinu ok þar katlar yfir. Skyldi full um eld bera, en sá, er gerði veizluna ok hǫfðingi var, þá skyldi hann signa fullit ok allan blótmatinn, skyldi fyrst Óðins full – skyldi þat drekka til sigrs ok ríkis konungi sínum – en síðan Njarðar full ok Freys full til árs ok friðar. Þá var mǫrgum mǫnnum títt at drekka þar næst bragafull. Menn drukku ok full frænda sinna, þeira er heygðir hǫfðu verit, ok váru þat minni kǫlluð.⁸

8 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, p. 167 f. Hollander translated it (and here somewhat modified): ‘Sigurðr Hlaðajarl, was most ardent heathen worshipper, as had been Hákon his father. Sigurðr jarl maintained all sacrificial feasts there in Trøndelag on the king’s behalf. It was ancient custom, that when sacrifice was to be made, all farmers were to come to the hof and bring along with them the food needed while the feast lasted. At this feast all were to take part in the drinking of ale. Also all kinds of livestock were killed in connection with it, horses also; and all the blood from them was called hlaut, and hlautbolli, the vessel holding that blood; and hlautteinar, the sacrificial twigs. These were fashioned like sprinklers, and with them were to be smeared all over with blood the stallar and also the walls of the hof, within and without, and likewise the men present were to be sprinkled with blood. But the meat of the animals was to be boiled and to serve as food at the banquet. Fires were to be lighted in the middle of the hof floor, and kettles hung over them. The sacrificial beaker was to be borne around the fire, and he who made the feast and was chieftain, was to bless the beaker as well as all the sacrificial meat. Óðinn’s toast was to be drunk first – that was for victory

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Snorri also states that Earl Sigurðr was generous and that he once made a great sacrificial feast at Hlaðir, defraying all expenses himself. He supports his narrative with a stanza brought from Kórmakr Ǫgmundarson’s Sigurðardrápa (960 AD) (see the text below) where Earl Sigurðr is praised. In the frame story Snorri recounts how King Hákon the Good had a Christian upbringing in England. He was unenthusiastic about the pagan cult in Norway, and wanted to convert the Norwegians gently. The farmers of Trøndelag opposed him and at the Frostaþing required the king to take part in the traditional rituals: “The farmers said that it was their wish that the king should make sacrifice to procure for them good crops and peace, as his father had done”.⁹ Later, during the fall, the king came to the annual sacrificial feast at Hlaðir. Snorri states thus (in ch. 17): Um haustit at vetri¹⁰ var blótveizla á Hlǫðum, ok sótti þar til konungr. Hann hafði jafnan fyrr verit vanr, ef hann var staddr þar, er blót váru, at matask í litlu húsi með fá menn. En bœndr tǫlðu at því, er hann sat eigi í hásæti sínu, þá er mestr var mannfagnaðr. Sagði jarl, at hann skyldi eigi þá svá gera. Var ok svá, at konungr sat í hásæti sínu. En er it fyrsta full var skenkt, þá mælti Sigurðr jarl fyrir ok signaði Óðni ok drakk af horninu til konungs. Konungr tók við ok gerði krossmark yfir. Þá mælti Kárr af Grýtingi; ‘Hví ferr konungrinn nú svá? Vill hann enn eigi blóta?’ Sigurðr jarl svarar: ‘Konungr gerir svá sem þeir allir, er trúa á mátt sinn ok megin, ok signa full sitt Þór. Hann gerði hamarsmark yfir, áðr hann drakk.’ Var þá kyrrt um kveldit. Eptir um daginn, er menn gengu til borða, þá þustu bœndr at konungi, sǫgðu, at hann skyldi eta þá hrossaslátr. Konungr vildi þat fyrir engan mun. Þá báðu þeir hann drekka soðit. Hann vildi þat eigi. Þá báðu þeir hann eta flotit. Hann vildi þat ok eigi, ok var þá við atgǫngu. Sigurðr jarl segir, at hann vildi sætta þá, ok bað þá hætta storminum, ok bað hann konung gína yfir ketilhǫdduna, er soðreykinn hafði lagt upp af hrossaslátrinu, ok var smjǫr haddan. Þá gékk konungr til ok brá líndúk um hǫdduna ok gein yfir ok gékk síðan til hásætis, ok líkaði hvárigum vel.¹¹

and power to the king – then Njǫrðr’s and Freyr’s, for good harvest and peace. Following that many used to drink a bragi-beaker. Men drank toasts also in memory of departed kinsfolk – that was called minni.’ 9 Bœndr segja, at þeir vilja, at konungr blóti til árs þeim ok friðar, svá sem faðir hans gerði (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, p. 170). 10 So has K; F and J have vetrnóttum. 11 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, pp. 171 f. Hollander’s translation: ‘In the fall, at the beginning of winter, there was a sacrificial feast at Hlaðir and the king attended it. Before that, if present at a place where heathen sacrifice was made, he accustomed to eat in a little house apart, in the company of few men. But the farmers remarked about it that he did not occupy his high-seat when there was the best cheer among the people. The earl told him that he should not do that; and so it came that the king occupied his high-seat [on this occasion]. But when the first beaker was served, Sigurðr jarl proposed a toast, dedicating the horn to Óðinn, and drank to the king. The king took the horn from him and made the sign of the cross over it. Then Kárr of Grýtingi said ‘Why does the king do that? Doesn’t he want to drink of the sacrificial beaker?’ Sigurðr jarl made answer, ‘The king does that all do who believe in their own might and strength, and dedicated his beaker to Þórr. He made the sign of the hammer over it before drinking.’ People said no more about it that evening. Next day when people had seated themselves at the table, the farmers thronged about the king, saying that now he must eat the horse meat. That, the king would not do under any condition. Then they asked

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Later, at Yule, the king visited Mæri(n), where the chieftains and farmers held ceremonial meals. On this occasion he was forced to eat a few pieces of horse-liver. He also drank the toasts without making the sign of the cross.

The criticism and previous scholarly discussions Snorri’s text has been debated during the last decades. Olaf Olsen, for instance, was very sceptical to Snorri’s description of pagan cult.¹² Indeed he accepted Snorri’s statement that pre-Christian ceremonial meals and drinking feasts were celebrated indoors, however, details in Snorri’s account, such as the description of the hof-building, the cultic objects, and the ritual actions that took place there, were regarded as uncertain. Also Ernst Walter felt that Snorri’s description was suspicious, especially parts of the ceremonial drinking in chapter  17.¹³ He pointed out that the Old Norse word signa meaning ‘dedicate, bless’ is a loan word from the ChristianLatin concept, signare (signo), that is, ‘to make a sign’. Signa appears here in connection with krossmark (‘sign of a cross’) and hamarsmark (‘sign of the hammer’). The Old Norse krossmark is derived from the Christian expression signum crucis, while hamarsmark appears for the first time in Hákonar saga góða and thus cannot be accepted as authentically pre-Christian. The expressions gerði krossmark yfir and gerði hamarsmark yfir seem therefore to be derived from the Christian signum crucis facere. With no doubt Walter’s argument seems plausible. The expression hamarsmark may very well be a construction made by Snorri or some other medieval writers. Whether the loan-word signa indicates that the content of the text is late and not built on pre-Christian notions is uncertain. This term appears in eddic and skaldic poetry, as well as in an 11th century runic inscription from Uppland, namely U 942. The runologist Henrik Williams therefore argues that it is possible that this word was borrowed already before conversion and thus may have been incorporated into the pagan religious terminology.¹⁴

him to drink the broth from it. He would not do that, either, and they came near to make an attack on him. Sigurðr jarl said he would help them come to an agreement, asking them to cease their tumult; and he asked the king to gape with his mouth over the handle of the kettle on which the smoke of the broth from the horse meat had settled, so that the handle was greasy from it. Then the king went up to it and put a linen cloth over the handle, and gaped with his mouth over it. Then he went back to his high-seat, and neither party was satisfied with that.’ 12 See Olsen 1966, pp. 59 ff. 13 Walter 1966. 14 Williams 1996, p. 79.

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Also Klaus Düwel argued in the same vein as Olsen and Walter in his learned and impressive study “Das Opferfest von Lade”.¹⁵ The purpose of his study was to expose the structure of Snorri’s text and the storytelling. He also scrutinized the semantic development of certain religious terms, such as the concepts hlautteinn and hlaut, and finally he also investigated the sources Snorri may have used when describing the pre-Christian cult. In his conclusion, Düwel stated that the actions connected with the sacrifices at Hlaðir had no Germanic origin, that is, that Snorri had no pre-Christian sources for these rituals. Rather, when describing how blood was sprinkled on the altar in the hof there, Snorri modelled his account on ancient Jewish rituals described in Exodus 24, which was translated to Old Norse in the text called Stjórn. During the early Middle Ages, the sacrificial rituals of the Old Testament were considered pagan, and pagan religion was thought to be the same in all places: this led Snorri to use this material in his account of the ancient cult in Trøndelag. Düwel also argued that Snorri projected customs common in medieval guilds back to heathen times, for instance, the ceremonial minni-drinking. In his analyses of the religious terminology Düwel concluded that in most cases Snorri either misunderstood these concepts or mixed them up with Christian ideas with no basis in pre-Christian culture, such as the term minni. In the final parts, Düwel also stated that Snorri applied a method called interpretatio Christiana, when describing pagan religion in Heimskringla. Snorri’s purpose was actually not to describe the pagan cult, but to show how violent the missions of the Norwegian royal power had been in contrast to the situation in Iceland. Düwel concluded therefore that the description of sacrificial rituals in Hákonar saga góða is not reliable and thus cannot be used as a source for pre-Christian religion. In a general sense Olsen’s, Walter’s, and Düwel’s criticism has been well-founded and good for the research on ancient Scandinavian religion. Düwel was, for instance most likely right in his conclusions about the terms hlautteinn and hlaut. However, sometimes this source criticism has been somewhat simplified and without nuances, especially when stating that Snorri had no access to ancient sources on these rituals. Scholars, such as Preben Meulengracht Sørensen, Anders Hultgård and FrançoisXavier Dillmann have all been given, in my view, more balanced accounts.¹⁶ They agreed with Olsen and Düwel that some of the details in Snorri’s reconstruction cannot be verified and thus do not produce a trustful image of the pagan cult, as previous historians of religions sometimes claimed. They also agreed with Düwel that this text must be related to Snorri’s Christian view of history. However, this does not mean that Snorri was not at pains to make a trustfully image of the pre-Christian sacrificial cult in a general sense. That some essential religious terms not with certainty

15 Düwel 1985. 16 See e.g. Meulengracht Sørensen 1991; Hultgård 1993 and 1996; Dillmann 1997.

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can be deduced to heathen times is not a sufficient argument for concluding that the phenomena they designated not existed in the old religion.¹⁷ There are also elements in Snorri’s description which may be ancient. Anders Hultgård, for instance, has in several important publications been giving strong and well-founded arguments in support for a pre-Christian origin of the formula ár ok friðr which is mentioned in Snorri’s text.¹⁸ In line with Hultgård I will argue that some other themes in Snorri’s account may be built on ancient traditions, more precisely some aspects which concerns cultic leadership in Trøndelag. These themes have been discussed in previous research in connection to Hákonar saga góða, by Preben Meulengracht Sørensen.¹⁹ But opposite to him I will emphasize that Snorri’s text (and other sources) indicates the notion that the ruler (i.e. the king or the earl) as well as the chieftains had important cultic roles and was an important ritual link to the gods when attending these ceremonies. The secular and religious leadership was one and the same in all levels of the society. My purpose here is to illuminate these notions with materials, which not have had enough attention in this debate. But first I will put focus on Snorri’s sources for the description of cultic leadership and rituals in Trøndelag.²⁰

Snorri’s sources In Hákonar saga góða Snorri explicitly states that Sigurðr Hlaðajarl, “was most ardent worshipper” (var inn mesti blótmaðr) and that he “maintained all sacrificial feasts there in Trøndelag on the king’s behalf” (helt Sigurðr jarl upp blótveizlum ǫllum af hendi konungs þar í Þrœndalǫgum). Snorri also states that Earl Sigurðr sometimes defrayed all expenses himself for them. The idea that the earl played important roles in the religious sphere and commissioned the sacrifices may, for instance, be sup-

17 Cf. Meulengrach Sørensen 1991, p. 239; Dillmann 1997, pp. 57 f. 18 See Hultgård 1993, 2003 and 2007. 19 Meulengracht Sørensen states in his English summary thus: “The cult activities seem to have been organized by those in power on different social levels, yeomen and chieftains. The king had no exceptional authority in terms of religion, since he had no exceptional power. He had a particularly important relationship to the gods, and a particular responsibility, but he had no indispensable function in the cult. The landowners were in charge of the cult, and the king took part in their local cult-feasts. The religious leadership was in the hands of the yeomen as long as the power belonged to them […]” (Meulengracht Sørensen 1991, p. 244). I agree with Meulengracht Sørensen that this text and other written sources indicate that the secular and religious leadership was one and the same, however, in my opinion the king and the earl as well as the chieftains cared for the public cult and played important ritual roles during the sacrificial feasts. 20 For a more thorough investigation of Snorri’s sources to the present passage, see Jón Hnefill Aðalsteinsson 1998, pp. 57–80.

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ported by the contemporary skaldic poem Sigurðardrápa (960 AD), which was quoted by Snorri and thus must be regarded as one of his major sources for the current passage. Hafit maðr ask né eskis afspring með sér þingat fésæranda at fœra fats. Véltu goð Þjaza. Hver myni vés við valdi vægja kind of bægjask, þvít fúr-Rǫgni fagnar fens. Vá Gramr til menja.²¹

The first half-stanza mentions that nobody must bring food and drink to the banquets which were arranged by Sigurðr, because of his generosity. Since the other half-stanza indicates that the earl was regarded as a ruler (protector) of the sanctuary (vés valdr), we may suppose that the first half actually referred to a religious feast, i.e. a blótveizla. The manager and agent of this feast was thus the earl himself. It seems therefore as if Snorri at least had some support in Sigurðardrápa for his account. It should be noticed that Klaus Düwel’s study proceeded on the basis of a new interpretation of this stanza. He interpreted the kenning and designation of Sigurðr, vés valdr, as ‘the warrior’.²² According to Düwel, there is nothing supporting an assertion that Snorri knew about ancient traditions of the ritual feasts (blótveizlur) in Trøndelag, he had only support for the idea that Sigurðr was regarded as generous. Skilled philologists, such as Ottar Grønvik and François-Xavier Dillmann have, however, rejected Düwel’s attempt and put forward strong arguments in favour of the traditional interpretation of vés valdr as ‘the ruler (protector) of the sanctuary’.²³ Grønvik translated the second part of the stanza as thus: “Hvilken ætling av agefylte (gudfryktige) menn / vil vel strides med (sette seg opp mot) templets herre?”²⁴ He interpreted the problematic word vægja as a hapax legomenon of a noun (gen. pl. of vægir), meaning ‘godfearing man, that is, a man who is full of fear (for the deity)’.²⁵

21 ‘You do not need to bring with you / neither basket nor tankard / to the generous man. / The gods deceived Þjazi. / All men should avoid opposing / the keeper of the sanctuary, / because he makes the chieftains glad. / The ruler battled for the gold’ (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, p. 168). See also Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), B 1, pp. 69 f. 22 Most scholars interpret the expression valdr vés as ‘the protector of the sanctuary’, i.e. ‘the ruler Sigurðr’. Klaus Düwel has rejected this interpretation and suggested that the sequence valdr vés vægja should be interpreted as ‘der Beherrscher des Thingplatzes der Schwerter’ (= Schild) = der Krieger Sigurðr – that is, ‘the warrior Sigurðr’ (Düwel 1985, pp. 14–17). 23 Norwegian: ‘véets (templets, hovets) høvding, hersker’ (Grønvik 1989, pp. 82–90). See also Dillmann 1997. 24 ‘Which offspring of godfearing men, will oppose the ruler of the sanctuary?’ 25 Norwegian: ‘gudfryktig mann, d.e. mann fylt av vægje, age (for guddommen)’.

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Vægir (nom.) was thus interpreted as a nomen agentis of the verb vægja (‘turn aside’, ‘vike til side’). In my opinion his reasoning for this interpretation is convincing. It seems logical that Snorri based his information about Sigurðr and his generosity at sacrificial feasts on this stanza. Also other Viking Age skaldic poems may support Snorri’s information that Norwegian earls and kings cared for public cult in Trøndelag. According to Vellekla (990), which was quoted by Snorri,²⁶ also Earl Hákon Sigurðarson of Hlaðir maintained similar cultic duties as his father. He thus restored the sanctuaries, which had been destroyed by the sons of King Eiríkr. It is stated that Hákon “allowed the men of Þórr to uphold the plundered hof-lands and shrines of the gods”.²⁷ By means of these actions and the cult, which was organized by Hákon, prosperity returned to the country.²⁸ A similar cultic role is also applied to King Hákon the Good in Hákonarmál, composed around 960. When the king died the skald praised him as follows: Then it was made known how well that king had protected sanctuaries (þyrmt véum) when all those who have domination and power [the gods] bade Hákon welcome.²⁹

According to Snorri King Hákon was baptized in England. Towards the end of his life he must have returned to paganism as an apostate, or at least he was taking a more tolerant attitude towards the old religion in Norway. Therefore the skald could praise him in a traditional way, as a ruler who assumed his duties in the cultic sphere, as a protector of public cult and cultic sites. Also this poem was quoted by Snorri.³⁰ Snorri had thus also other sources, besides Kormákr’s stanza, when writing about the pagan cult in Trøndelag. Some of his sources consisted also of older prose traditions.³¹ Ágrip (AD 1190), for instance, tells us that the Þrœndir in Mæri(n) required King Hákon the Good “to sacrifice as other kings used to do or we throw you out of the country, if you do not follow us in this thing”.³² The story about the horseliver also occurs in this text, but in another version and in much more sparse terms.³³ Fagrskinna, written sometime between Ágrip and Heimskringla, also reproduces this tradition in short words. At the assembly in Mæri(n)

26 In Haralds saga Gráfeldar (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, pp. 198–224). 27 Øll lét senn hinn svinni / sǫnn Einriða mǫnnum / herjum kunn um herjuð / hofs lǫnd ok vé banda (text and translation Turville-Petre 1976). Cf. Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), B 1, pp. 117–124. 28 […] nú grœr jǫrð sem áðan / aptr geirbrúar hapta / auðrýrir lætr áru / óhryggja vé byggja. 29 Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), B 1, p. 59. 30 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, pp. 193–197. 31 See also Jón Hnefill Aðalsteinsson 1998, pp. 62 ff 32 […] báðu hann blóta sem aðra konunga í Nóregi, ‘ella rekum vér þik af ríki, nema þú gerir nekkvern hlut í samþykki eptir oss’ (Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), p. 8). 33 […] at hann biti á hrosslifr, ok svá, at hann brá dúki umb ok beit eigi bera, en blótaði eigi ǫðruvís (Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), p. 8).

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the people of Trøndelag gave him [King Hákon] two things to choose between. Either he should sacrifice as kings used to do before and in such a way maintain old law/custom for good crops and peace; or else they would throw him out of the country. […] Because of this threat and out of love for his friends the king yielded to their demands and sacrificed.³⁴

The people thus expected that the king must take part in the religious feast and (according to Ágrip) eat the sacrificial meat (i.e. horse liver) in order to become a legitimate king. By means of these rituals he ratified ancient law and (according to Fagrskinna) governed good crops and peace for the people. It seems thus as if he was a necessary ritual link to the gods during these feasts, according to these texts.

Written sources supporting the cultic role of rulers in Eastern Scandinavia Snorri’s ideas that the pagan rulers in Norway were expected to perform rituals and being involved in public cult were thus not taken from the thin air. He had several sources for these notions. These ideas are actually attested in other parts of Late Viking Age Scandinavia and in other types of sources. Scholion 140 of Adam of Bremen’s text, for instance, mentions thus: Nuper autem cum rex Sueonum christianissimus Anunder sacrificium gentis statutum nollet demonibus offerre, depulsus a regno dicitur a conspectu concilii gaudens abisse, quoniam dignus habebatur pro nomine Iesu contumeliam pati.³⁵

According to the context, it seems as if these events took place at the public feast in Uppsala. This scholion indicates thus that the people who gathered in Uppsala during the 11th century still expected that the ruler would perform the great sacrifices, on their behalf. It should be noticed that this scholion appears in the oldest manuscript of Adam’s text, namely A2, which usually is dated to about 1100.³⁶ It was thus made only 25 years after Adam wrote his text on contemporary conditions in Uppsala. Similar to Snorri’s account on the sacrifices in Trøndelag, aspects of Adam’s text, indicate that libation rituals were crucial during these feasts in the ‘Uppsala

34 […] ok á því þingi gørðu Þrœndir konunginum tvá kosti, at hann skyldi blóta eptir vanða enna fyrri konunga ok fylla svá en fornu lǫg til árs ok friðar, elligar mundu þeir reka hann af ríkinu, ef hann vildi […] þá gørði hann eptir bœn þeira ok blótaði (Fagrskinna (Bjarni Einarsson 1985), p. 80). 35 ‘When not long ago the most Christian king of the Svear, Anunder, would not offer the demons the prescribed sacrifice of the people, he is said, on being deposed, to have departed from the presence of the council, rejoicing that he had been accounted worthy to suffer reproach for the name of Jesus.’ This scholion was probably written by Adam himself, as it occurs in the oldest manuscript A2. 36 Hultgård 1997, pp. 9–15.

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temple’.  When Adam described the inner parts of the ‘temple’ he applied the term triclinium. In classical and mediaeval Latin, this term connotes both ‘dining-room’ and ‘room for ceremonial banquets’.³⁷ It is thus quite possible that Adam actually referred to a banqueting hall, when using the term triclinium.³⁸ Adam’s text supports this explanation further. When describing the sacrifices which took place there he used the verb libo (libare), which may be translated as ‘to pour a libation of’.³⁹ He also used the noun libatio in this context, that is, ‘a sacrificial offering, especially of drink, libation’ and the concept comissatio (‘drinking feast, bout’). Adam’s description of Uppsala thus indicates several resemblances with Snorri’s report. In both accounts royalties are expected to take part in sacrificial rituals, which included ceremonial meals and drinking customs, performed in cultic buildings. Since Snorri probably did not have access to Adam’s text, these accounts must be treated as independent sources.⁴⁰Another possible independent source for these notions from the conversion period is also the tradition about King Ingi Steinkelsson, preserved in the U-version of Hervarar saga (c. 1300), where it says that the Svear removed their king from office, since he would not make sacrifices on their behalf at the assembly which probably was held at Uppsala. It is interesting to notice that the custom of sacrificing horses and eating horse-meat also is crucial in this tradition. A þingi nockru, er Suiar attu vid Inga kong, giordu þeir honum [ij] kosti, huort hann villdi helldur hallda vid þa forn lǫg eda lata aff kongdomi. Þa mællti Ingi kongur og quedst ei mundi kasta þeirri tru, sem riett wæri; þa æptu Suiar og þreingdu honum med grioti og raku hann aff logþinginu. Sueirn magur kongs var eptir a þinginu; hann baud Suium ad efla bloot fyrir þeim, ef þeir giæfi honum kongdom. Þui iata þeir allir; var Sueirn þa til kongs tekinn yfir alla Suiþiod; [þa var] framm leitt hross eitt a þingid og hogguit i sundur og skipt til atz, enn rodid blodinu blottrie. Kostudu þa allir Suiar christni, og hoofust blot; enn þeir raku Inga kong a burt, og for hann i vestra Gautland. Blot-Sueirn var iij vetur kongur yfir Suiumm.⁴¹

37 Dillmann 1997. 38 A Vendel Period hall building has been discovered in Gamla Uppsala, see further below. It cannot be identical with Adam’s templum/triclinium, since it disappeared around AD 800. 39 Dillmann 1997. 40 Adam’s text was known in medieval Iceland. One passage of it is translated to Old Norse in AM 415 4to (c. 1310) and in Flateyjarbók (c. 1390). But Snorri was probably not acquainted with it (cf. Lassen 2011, pp. 122 f.). 41 Hervarar saga (Jón Helgason 1924), p. 160. My translation: ‘At the assembly that the Svear held with King Ingi, they gave him two choices. Either he would maintain the ancient law or he had to give up the kingdom. King Ingi said that he was not ready to give up that faith, which was the right one. The Svear shouted and threw stones at him and drove him off the assembly place. Sveinn, the king’s brother-in-law, remained at the thing. He told the Svear that he would make sacrifice on their behalf if they would give him the kingdom. All assented to that proposal. Sveinn was taken as king over all Svetjud. A horse was led to the meeting place, dismembered and distributed for eating, and the sacrificial tree was reddened with the blood. All Svear thus abandoned Christianity, re-introduced the sacrifice and drove Ingi off and he travelled to Västergötland. Blótsveinn was king over the Svear for three winters.’

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Because of the change of style, most scholars accept that the chronicle of the Svea-kings has been added to the original version of Hervarar saga.⁴² It may be part of a lost historical source moulded by legendary and mythical elements. Some parts of this tradition are also preserved in Orkneyinga saga, which tells of the Christian King Ingi of Svetjud who fought against paganism. The farmers, however, chose another king, called Blótsveinn (the brother of the Queen) who retained sacrifices.⁴³ This tradition may have been transferred to Iceland by Markús Skeggjason, who was probably Ingi’s skald before being made Lawman at Þingvellir in 1084.⁴⁴ Blótsveinn’s existence has been questioned and his story has been regarded as a medieval exemplum, that is, as a homilectic story.⁴⁵ Yet Blótsveinn (in Old Swedish Blodhsven) is also mentioned independent of Icelandic traditions in “The Legend of St Eskil” (Legenda sancti Eskilli). Here, the sacrifices are said to occur in Strängnäs.⁴⁶ It seems thus, according to these sources, as if the Late Viking Age cult community in Svetjud expected that the king performed or at least participated in the common sacrifice. In my opinion, there is no reason to doubt this information. Perhaps the sacrifice was only valid when the king took part in the rituals. A plausible interpretation is that the king was the most important mediator between the human and the divine world during the sacrifices at this sanctuary. His ritual role in the cult was thus necessary for the society, and per se it also legitimated his high position in other social contexts.

A runic blót-inscription Medieval written sources thus support the idea that pagan rulers were involved in the sacrificial feasts in eastern Scandinavia, which included ceremonial meals and drinking rituals. This idea may also be indicated in other types of sources, sources which are undoubtedly pre-Christian. Some runic stones of the Blekinge group may give information about rulers in cultic functions. They were carved not before AD 550 and perhaps not after AD 750.⁴⁷ Stentoften (DaRun 357), Gummarp (DaRun 358) and

42 For instance Schück 1910, pp. 14 f.; Reifegerste 1989, pp. 196–200. 43 Kom því svá, at bœndr tóku sér annan konung, þann er þá helt til blóta, Sveinn, bróðir drottningar, ok var kallaðr Blót-Sveinn (Orkneyinga saga (Finnbogi Guðmundsson 1965), pp. 90). Snorri was also acquainted with this tradition and mentioned Blót-Sveinn see Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 3, S. 263. 44 This theory was first suggested by Henrik Schück 1910, p. 17. Cf. Reifegerste 1989, pp. 198 f.; Sawyer 1991, p. 37; Foote 1993, p. 24. 45 Lönnroth 1996, pp. 150 f. 46 Scriptores rerum Suecicarum medii aevi (Fant 1818–76), 2, 1, pp. 391–399 47 On datings of these inscriptions see Runeninschriften (Krause 1966), pp.  203 ff., Moltke 1985 (1976), pp. 137–147.

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Istaby (DaRun 359), have a proper noun HaþuwulfR. On Stentoften and Istaby there are also two persons called HariwulfR and HeruwulfR. The Björketorp stone (DaRun 360) can be associated with this group, although it lacks the name HaþuwulfR. It has almost exactly the same curse as Stentoften. As the name HaþuwulfR appears on three stones in this area scholars believe that he was a local leader in Blekinge at some time around AD 600.⁴⁸ The interpretation of the Stentoften inscription has been debated throughout the th 20 century. I have examined it earlier,⁴⁹ and will just refer to Lillemor Santeson’s interpretation. She read and interpreted lines 1–3 thus: niuhAborumR niuhagestumR hAþuwolAfRgAfj ‘With nine bucks, with nine stallions HaþuwulfR gave good growth.’⁵⁰

HaþuwulfR performed a sacrifice, where he offered nine bucks and nine stallions. In that way he gave the people a good crop. Perhaps he also arranged a great sacrificial feast at his hall building or at an outdoor-sanctuary, with plenty of meat for all people. Santeson’s interpretation has many advantages compared to previous attempts, and many great runologists such as Henrik Williams, Klaus Düwel and Michael Schulte accept it.⁵¹ Her interpretation can be supported on several grounds. For instance, the number nine corresponds with the sacrifices at Uppsala and Lejre mentioned by Adam and Thietmar.⁵² As in Uppsala, Lejre and Hlaðir the runic inscription indicates that horses were sacrificed also in Blekinge.⁵³ It should also be noticed that the Proto-Nordic word jāra in this inscription probably is equivalent to Old Norse ár appearing in Snorri’s text in connection to the sacrifices, meaning ‘good crops’.⁵⁴

48 E.g. Runeninschriften (Krause 1966), pp. 203–214; Düwel 2008, pp. 21 f. 49 Sundqvist 1997. 50 Santeson 1989 and 1993. 51 Williams 1990, p.  36; Düwel 1992, pp.  348–353; Düwel 2008, pp.  21 f.; Schulte 2006. See also Stoklund 1994, pp. 166–168; Sundqvist 1997; Antonsen 2002. Some scholars have also been sceptical to Santeson, especially regarding the interpretation of the sequence gestumR (see e.g. Reichert 2003). The runologist Michael Schulte (2006) has, however, defended Santeson’s interpretations against these recent objections. 52 Gesta Hammaburgensis (Schmeidler 1917), 4, p. 27; Chronicon (Trillmich 1957), 1, p. 17. See Sundqvist 1997, pp. 164–168. 53 Adam writes thus: Corpora autem suspenduntur in lucum, qui proximus est templo. Is enim lucus tam sacer est gentilibus, ut singulae arbores eius ex morte vel tabo immolatorum divinae credantur. Ibi etiam canes et equi pendent cum hominibus, quorum corpora mixtim suspense narravit mihi aliquis christianorum LXXII vidisse (Gesta Hammaburgensis (Schmeidler 1917), 4, p. 27). Thietmar mentions that horses were sacrificed in Lejre: Est unus in his partibus locus, caput istius regni Lederun nomine, in pago, qui Selon dicitur, ubi post VIIII annos mense Ianuario, post hoc tempus, quo nos theophaniam Domini celebramus, omnes convenerunt, et ibi diis suimet LXXXX et VIIII homines et totidem equos, cum canibus et gallis pro accipitribus oblatis, immolant […]’ (Chronicon (Trillmich 1957), 1, p. 17), 54 See Hultgård 1993, 2003 and 2007.

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Stentoften thus supports the idea that a ruler was performing sacrifice, or at least that he commissioned it. This runic inscription indicates that persons belonging to the top ruling elite were involved in the public cults and perhaps performed ceremonial acts. The changes in sacrificial custom that have been pointed out by archaeologists may reflect changes in social organisation,⁵⁵ from tribal chieftains to ‘petty kinglets’ and finally more permanent ruling families. The family of HaþuwulfR seems to be a dynasty, according to the name customs.⁵⁶ The new ruling elite used religious ceremonies when manifesting their power and sovereignty. They probably institutionalized public cults and tied them to themselves and their residences.

The witness from archaeology Snorri’s description of cultic leadership in Trøndelag may thus very well be based on old traditions. The notion that the pagan political leader was involved in cultic feasts, and there also took part in some specific rituals, may even reflect Late Iron Age conditions. By means of these rituals he could perhaps also mediate blessings to the people, such as ‘good crops’. Most likely these feasts sometimes took place in cultic buildings as Snorri claimed. These ideas can today be attested by archaeology. Underneath the church of Mæri(n), in Inn-Trøndelag, traits of an assumed cultic building from the Viking Age were discovered.⁵⁷ Nineteen (or twenty-three⁵⁸) gold foil figures were found in relation to some post-holes, which were considered to be the place of the high-seat. These figures were probably regarded as sacred objects and undoubtedly indicative of rituals performed in the context of the political power of Mæri(n). They were probably produced during the Vendel period, but it has been argued that they still were in use during the Early Viking Age.⁵⁹ At this site also other finds were made which may be associated to pre-Christian ceremonial feastings, such as pieces of pottery and glass, quantities of animal bones and some characteristic cooking stones. Whether the sanctuary at Mæri(n) was situated on a chieftain farm is somewhat debated.⁶⁰ Viking Age Mæri(n) lacks namely the social and economic criteria typical for the central farms of Trøndelag and it stands out mostly as an exclusive religious site. Most likely the local leaders who cared for the cultic building in Mæri(n) were situated at a farm in the absolute vicinity, perhaps at Egge. This site has a burial

55 See Fabech 1991 and 1994. 56 See Sundqvist / Hultgård 2004. 57 Lidén 1969, 1996 and 1999. 58 Lidén 1999, p. 47. 59 See e.g. Carlie 2004, pp. 174 ff.; Watt 2007, p. 133. 60 See e.g. Stenvik 1996; Røskaft 1997, p. 237; Røskaft 2003, pp. 138 f.; Lidén 1999, p. 45.

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field with rich finds from both Early and Late Iron Age, such as a nice Viking Age sword. The close relationship between the Þrœndir-chieftains, hof-sanctuaries and cultic activities, may also be indicated by archaeological finds attested at farms designated hov in Trøndelag, i.e. places where possibly pre-Christian sanctuaries were erected.⁶¹ The best example is probably Hove in Åsen, in Strindafylke, where we have great monuments and exclusive finds indicating the presence of political power.⁶² Hove is surrounded by old farms such as Husby and Vang and perhaps they originally constituted one farm unite. All three sites have Viking Age burial fields and at Vang a royal burial mound was erected. The place-name Vang has been interpreted as cultic.⁶³ This name may refer to a special kind of cultic meadows, which often was located beside the hof-sanctuaries in pre-Christian Norway (cf. Hovsvangen (Oppl.) and Gudvangen (SogFj)). During excavation at Hove in 1981–84 several finds were made indicating pre-Christian cultic activities.⁶⁴ Several pits with char cool and burned stone suggest that ritual cooking took place there, from Early Iron Age to Late Iron Age. In connection to these pits also post-holes were discovered which not were related to house foundations. Perhaps they could be related to ritual constructions. Elsewhere in Norway, it is typical that the Iron Age cultic buildings were located at the farms of the rulers and magnates as Snorri intimates. One such building was discovered at the aristocratic farm of Borg, in Lofoten.⁶⁵ At this place five gold foil figures were found in connection to a hall-room (Room C) of a large building (I:1a), over 80 meters long and dated to AD 600–950. These objects were related to the postholes of the high-seat area. The assumed high-seat was located in the north corner of the room, where also a bronze vessel was found as well as two pottery jugs and 18 glass beakers imported from the Continental Europe and the British isles. In this hallroom there were also some unusual fireplace constructions. According to the archaeologists they indicate that ritual cocking took place there during the Early Viking Age. It seems as if this room had two main functions; during most of the year it was an ordinary living room, but on special occasions it functioned as a banqueting hall, where ceremonial meals with drinking rituals were celebrated in the context of the chieftain. Around 950 this house was abandoned. Archaeological material from Sweden may also support that drinking ceremonies took place at the Iron Age halls of rulers and magnates. Expensive glass fragments have for instance been discovered in connection to the banqueting hall at Helgö (OSw.

61 See Vikstrand 2001; Sundqvist 2009. 62 Farbregd 1986; Røskaft 2003, pp. 66 ff. 63 M. Olsen 1926, p. 218. Cf. Sandnes 1992, pp. 15 f.; Sandnes / Stemshaug 2007, p. 479. 64 Farbregd 1986. 65 See mainly Johanson / Munch 2003; Herschend / Mikkelsen 2003; Munch 2003a and 2003b.

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Hælghø; ‘the holy island’),⁶⁶ in the Lake Mälaren.⁶⁷ Interestingly, there was a particular concentration of them at the place interpreted as the ‘high-seat’, i.e. the place where many gold foil figures also were discovered. The glass was clearly high-status and comprised for instance fragments of cone beakers. It has been estimated that these glass fragments belonged to at least 50 beakers and bowls of different types dated to the period between the Roman Iron Age and the Viking Age. It cannot be excluded that these beakers have been used for ceremonial purposes, for instance in connection to ritual banquets. In connection to a large Late Iron Age hall building at the farm of Lunda, in Södermanland, there are also finds which may be associated with drinking rituals and ceremonial meals in an aristocratic milieu, such as broken glasses originating from Frankish beakers.⁶⁸ As in Helgö and Borg, some fragments were found close to the assumed high-seat. In connection to this hall three small phallic figures were discovered, which were interpreted as images representing the gods. Two of them were found in a small structure interpreted as a specific cultic house. At the famous cultic site of Uppsala a hall building was discovered. On Södra Kungsgårdsplatån, just north of the church, post-holes and a stone-construction belonging to a Vendel Period hall (50 x 12  m) were found.⁶⁹ Also on the northern plateau (Norra Kungsgårdsplatån) a building was recently excavated.⁷⁰ It was smaller than the hall on Södra Kungsgårdsplatån, but also dated to the Vendel Period. Since the hall at Kungsgården is dated to the Vendel Period and was abandoned in the Early Viking Age, it cannot be identical with the cultic building (templum/triclinium) mentioned by Adam. Post-holes and a stone-packing indicate that a large building also was erected on the spot of the present Romanesque church. A fragment of a mould for a brooch (of the type JP 51), found in the first clay fill under the church, dated to the tenth century, indicates that activities took place there during the Viking Age.⁷¹ Else Nordahl therefore carefully suggested that the building should be dated to the Viking Age.⁷² Recent excavations indicate that the house is older.⁷³

66 In Swedish ‘den heliga (fredade) ön’ (see Vikstrand 2001, pp. 239 ff.). 67 See Herschend 1995 and 1998. For an overview of Helgö in general, see Lamm 1999. See also Vikstrand 2001; Zachrisson 2004a, 2004b and 2011. 68 Andersson 2004; Skyllberg 2008. Cf. Larsson 2011. 69 Nordahl 1996; Gräslund 1997. Scholars have also argued that the last element in the name Uppsala refers to ‘banqueting halls’ (pl.) (e.g. Brink 1999, pp. 38−39 and 48−49, note 15). New excavations at Old Uppsala in the summer of 2011 indicate that the hall was 50 meter at length. 70 Oral communication from the archaeologist and chief-excavator at Old Uppsala, Hans Göthberg, August 2011 and e-mail J. Ljungkvist, October 2011. 71 Nordahl 1996, p. 63 and 73. 72 Nordahl 1996, pp. 60–62. 73 See Göthberg 2008.

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The traits of large hall buildings in Uppsala are located to the area of the old royal demesne (Kungsgården).⁷⁴ These facts indicate that the ruling power had some kind of influence on these houses and also the activities which took place there. Not far from the royal demesne are also the famous royal grave mounds, dating back to the 6th or 7th century. They were thus situated in an immediate context of the Vendel Period hall at Uppsala and must thus be considered as an element in the sanctuary complex. The most impressing example of a more exclusive cultic building in an aristocratic context is found at the central place of Uppåkra in Skåne.⁷⁵ This house had first been built during the Roman Iron Age, and was rebuilt at the same spot in several phases up until the Viking Age. It was 13 meters long and probably very high. The size of the posts-holes indicates that. The peculiar finds, for instance, the many gold foil figures, a glass bowl and a gilded silver beaker, also indicate that rituals have taken place there, including drinking ceremonies.

Conclusions Several notions of Snorri’s description of pre-Christian ceremonial banquets in Hákonar saga góða may thus be attested in other more direct sources, such as skaldic poetry, runic inscriptions and archaeological finds, as well as in Latin texts, written by Christians. For instance, the idea that the political leaders (kings and earls) were involved in public cult may be based on ancient traditions. Snorri was probably also on solid ground when he stated that the rulers (at least the king) were supposed to take part in certain rituals when attending the sacrificial feasts, for instance, the drinking ceremonies and food customs (perhaps eating horse meat). That these ceremonies sometimes took place in some kind of cultic building or banqueting hall as described by Snorri, seems also likely. The list of authentic aspects in his account could perhaps be extended somewhat. We must also emphasize, however, that some elements in his text must be seen with suspicious as noted by Olsen, Walter and Düwel, such as certain religious terms and the action of making the sign of the hammer over the horn. Anyhow, in a general sense, Hákonar saga góða can still be used as a source for preChristian religion, if we treat it with care and use a sound source criticism.

74 Rahmqvist 1986 and 2000. 75 See e.g. Larsson / Lenntorp 2004; Larsson 2011.

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Jiří Starý

Naivität und Kritik: Die altnordische Geschichtsschreibung Abstract: The aim of the article is to define a classification and categorization of the basic meta-historical contexts in the Old Norse historiography, as well as the literary tropes and devices attached to them. For the naïve historiography (i.e. the family sagas), the concept of a missing author is decisive: they are designed as an unreflected registration of an inherited stream of tradition with no clear demarcation lines between the author and the text nor between the text and reality. Because of this, the naïve historiography’s attitude to historical truth is extremely weak. The family saga shows no effort in estimating a historical value of the related events. Contrary principles govern the realm of critical historiography, i.e. historiographical works, kings‘ sagas and Saxo Grammaticus‘ Gesta Danorum. Their authors try to reach the historical truth, and for this sake they apply more or less developed historical methods.The last part of the article is dedicated to a comparison of the methods utilized in the works of Snorri Sturluson and Saxo Grammaticus. Saxo’s concept is based on the predominance of ‘reason’ (ratio) and the ‘sane credibility’ (vera fides) that allow the historian to differentiate the unhistorical parts of the various sources he uses. Snorri’s working method, on the contrary, consists of seeking for well founded (merkiligr) sources that are supposed to deliver secure information, not considering whether they appear believable or not. This makes Saxo and Snorri not only two pinnacles of Old Norse historiography, demonstrating the broad spectrum of Old Norse meta-historical backgrounds but also the symbols of two basic concepts of time and history. Saxo’s rational attempt is based on the assumption that man and the reality surrounding him are basically constant and that history can be reduced to a series of events that do not affect the rationality of the world and the unchangeable nature of truth. In the view of Snorri Sturluson, on the other hand, rationality and truth are basically human concepts, corresponding to the changeable nature of mankind. Snorri’s historical writings thus present dynamical concept of history, splitting historical (and pre-historical) time into a chain of discreet epochs with basically different concepts of rationality and truth. These epochs are different in their nature and the concepts prevailing in them cannot be reduced to a single, ‘universal’ truth or rationality.

Man sollte sich eigentlich fast schämen, wenn man zu so einem angestaubtem Thema wie der ‚Altnordischen Geschichtsschreibung‘ greift. Das Thema war schon zu Beginn der altnordischen Studien in der Forschung präsent und besonders in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert wurden die Fragen des altnordischen Geschichtsbildes, der historischen Zuverlässigkeit der Quellen und der Rolle der mündlichen

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Überlieferung mit großer Heftigkeit und Vehemenz diskutiert. Trotzdem kann man sagen, dass die meisten dieser Fragen bis heute ungeklärt geblieben sind. Wo liegt die Ursache für diese unbefriedigende Sachlage? Diese Frage wird von Forschern meistens mit Verweis auf die Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit der Quellentexte und auf ihre komplizierte Natur beantwortet. Das ist einerseits sicher richtig, andrerseits erkennt man schnell, dass ein wesentlicher Teil der Schuld bei der Forschung selbst liegt, nämlich in der Unfähigkeit, die Grundsätze und Grundbegriffe der Geschichtsforschung klar zu definieren. Diese Unfähigkeit zu einer einheitlichen Lösung der Fragen „Was ist Geschichte?“ und „Was ist Geschichtsschreibung?“ zu gelangen, ist wiederum im allgemeinen Zustand der modernen Geschichtsforschung zu suchen. Kaum ein anderer Begriff war nämlich im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts so mächtigen Umwälzungen ausgesetzt wie der Begriff der Geschichte. Wir können von der Situation der skandinavischen Geschichtsforschung in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgehen, die vom Auftreten zweier wichtiger historischer Schulen geprägt wurde: der positivistischen (deren Anführer die Schweden Curt und Lauritz Weibull waren), und der marxistischen (die meistens mit den Namen der norwegischen Gelehrten Halvdan Koht und Edvard Bull verbunden wird). Trotz unterschiedlicher Weltanschauungsgrundlagen – die Gebrüder Weibull waren eher liberal gesinnt, die Marxisten selbstverständlich links – teilten die beiden Schulen zwei wichtige Ansichten. Erstens die Verachtung der nationalen Geschichtsschreibung, wie sie bis dahin in Skandinavien praktiziert wurde, zweitens die Betonung der Faktizität der Geschichtsforschung. Ihrer Meinung nach war Geschichte „einfach und unproblematisch der Bericht dessen, was in alten Zeiten geschah. Und die Aufgabe des Historiker besteht einfach darin, diese Berichte auf Papier zu setzen.“¹ Diese Theorien der Brüder Weibull wurden mit gewissen Verfahrungsweisen verbunden (z.B. mit Ablehnung der archäologischen Evidenz), die später von mehreren Seiten kritisiert wurden.² Uns gehen im Weiteren besonders die narrativen Quellen an, auch hier hatte aber eine solche Auffassung der Geschichte, wie natürlich sie auch wirken mag, eine wichtige methodische Konsequenz. Sverre Bagge fasst sie folgendermaßen zusammen: Applied to narrative sources  – which form the major part of the written evidence until well into the 13th century – this meant that historians should only accept ‘naked’ facts on battles,

1 Diese treffliche Charakterisierung verdanke ich Gunnar Karlsson: „er saga vafalaust einfaldlega frásögn af því sem gerðist í gamla daga, hlutverk sagnfræðinga einfaldlega að setja þá frásögn á blað“ (Karlsson 1981, S. 59). Wenn nicht anders angegeben, werden meine Übersetzungen zitiert. Bei den nicht normalisierten Ausgaben der altnordischen Texte handelt es sich um meine Normalisierung. 2 Siehe z.B. Wührer 1972, S. 122 f.

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movements, treatises, and so forth, thereby rejecting the sources‘ own interpretation of these events and their information about the actors‘ motives and plans.³

Weil der moderne Historiker nach Fakten sucht, bewertet er auch das Faktische am höchsten.⁴ Die positivistische Schule hielt für den idealen altnordischen Geschichtsschreiber den Annalisten, also denjenigen Mensch, der bare Tatsachen sorgfältig zusammentrug und Jahr um Jahr aufzeichnete.⁵ Damit sind wir aber gleich auf das erste Problem gestoßen, das diese Auffassung mit sich bringt. Wir haben mehrere altnordische Annalen zur Verfügung, die aber im Grunde jünger als die narrativen Quellen sind und die ihre ‚nackten‘ Fakten erst sekundär diesen narrativen Quellen entnommen haben, und zwar den Sagas und den Geschichtsbüchern von Ari Þorgilsson, Snorri Sturluson und anderen. Diese gehören aber einem gewissen literarischen Milieu an, mussten den literarischen und formalen Erwartungen der Audienz entsprechen und deshalb führen sie die Fakten nicht an, sondern benutzen sie literarisch. Unsere ältesten Quellen haben also literarischen und nicht annalistischen Charakter. Von noch größerer Bedeutung ist aber das zweite Problem. Nach positivistischer Auffassung sind das einzig Interessante an den Werken der altnordischen Geschichtsschreiber die darin enthaltenen Fakten. Kein Wunder, denn die positivistische Methode basiert auf der Überzeugung, dass […] bare facts are less likely to be distorted, and the motives medieval historians attributed to their protagonists were often based on the historians‘ own reasoning or imagination rather than external evidence.⁶

Eine solche Auffassung beruht also auf der Überzeugung, dass am Anfang der Arbeit des Geschichtsschreibers Fakten stehen, also unmittelbar sinnlich empfundene Gegebenheiten, die unproblematisch wahr sind. Erst dann kommen die individuellen interpretatorischen Ansätze der altnordischen Geschichtsschreiber, die die Fakten entstellen und ihre Wahrheit verfälschen konnten. Der moderne Historiker soll also besser von der Darstellungsweise der Quellen absehen und die überlieferten Fakten selbst wissenschaftlich interpretieren. Gegen eine solche Auffassung lassen sich aber drei Einwände erheben. Erstens beruht eine solche Ansicht auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass wir im Stande sind, in den Quellentexten eine Grenzlinie zwischen Fakten (also dem Gesehenen, Gelesenen oder Gehörten) und deren Interpretation zu ziehen. Das ist aber

3 Bagge 1999, S. 300. 4 Vgl. Gelting 2011, S. 135. 5 „[Laurits Weibull] war ein großer Anreger, der hyperkritisch jede Kombination verwarf und damit die Geschichtsschreibung auf die trockene, bloße Annalistik zurückwarf“ (Wührer 1972, S. 123). 6 Bagge 1999, S. 300.

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leichter gesagt als getan. Schauen wir uns den folgenden Bericht aus der Sigurðar saga jórsalafara an, in dem der anonyme Verfasser der Morkinskinna den Besuch des norwegischen Königs Sigurðr jórsalafari (1103–1130) und seiner Gefolgschaft auf dem Hippodrom in Byzanz beschreibt:⁷ Eru þar skrifuð margskonar forn tíðindi, Æsir ok Vǫlsungar ok Gjúkungar, gǫrt af kopar ok málmi, með svá miklum hagleik, at þat þikkir kvikt vera. ‚Und dort waren manche Vorzeitereignisse abgebildet: Asen, Völsungen und Gjúkungen, die aus Kupfer und Erz mit solcher Kunstfertigkeit hergestellt waren, dass sie wie lebendig aussahen.‘

Stilistisch handelt es sich um einen sachlich nüchternen Bericht, dass „X an einer Stelle war und dort Y gesehen hat“. Trotzdem würde wahrscheinlich niemand behaupten, dass die byzantinischen Kaiser auf ihrem Prachtgebäude in Konstantinopel nordische Götter und Helden abbilden ließen. Man findet hier also einen interpretatorischen Fehler (selbstverständlich aus unserer Sicht), der sich aber eigentlich schon in dem tatsächlichen Quellenbericht findet. Ein interpretatives Element ist bereits in den von Positivisten so genannten ‚Fakten‘ enthalten, und wurde ihnen nicht erst später zugefügt. Wir können selbstverständlich eine sekundäre Trennung zwischen Faktum und Interpretation versuchen, indem wir behaupten, dass die Norweger unbestimmte byzantinische ‚Statuen‘ gesehen haben und die sie dann als eigene Götter und Helden interpretiert haben. Aber die so gewonnene Kenntnis ist gerade kein in den Quellen enthaltenes ‚Faktum‘, sondern unser Interpretationsversuch.⁸ Der zweite Einwand gegen die positivistische Auffassung der Geschichtsschreibung betrifft die sogenannte ‚Individualität‘ der interpretatorischen Ansätze der altnordischen Geschichtsschreiber. Inwiefern kann nämlich eine Erklärung überhaupt „auf einer eigenen Denkart und Phantasie“ basieren? Schauen wir uns ein einfaches Beispiel an, dessen Autor Gunnar Karlsson ist:⁹ Wenn uns jemand fragt ‚Warum ist das Wasser in der Flasche salzig?‘, können wir die Tatsache dadurch erklären, dass es sich um Meereswasser handelt. […] Alle wissen, dass das Meer salzig ist und die meisten würden unsere Erklärung gelten lassen, ohne darüber nachzugrübeln, warum das Meer nun salzig ist.

Jede Erklärung spielt sich in einem Kontext ab, der meistens unausgesprochen bleibt, der aber als Verständigungsmittel zwischen dem Historiker und seinem Publikum dient und der also nie individuell und subjektiv, sondern allgemein akzeptiert sein

7 Sigurðar saga jórsalafara (Finnur Jónsson 1932), c. 47. 8 Vgl. Gelting 2011, S. 136. 9 „Ef einhver spyr: ‚Af hverju er vatnið í þessari flösku salt?‘ þá getum við skýrt það með því að segja að það sé sjór […]. Allir vita að sjór er saltur, og flestir mundu taka skýringuna gilda án þess að fara að grufla út í orsakir þess að sjór er sjaltur“ (Karlsson 1981, S. 60).

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muss. Das gilt auf dem Gebiet der Geschichte wie auf jedem anderen.¹⁰ Schauen wir uns einen kurzen Auszug aus der isländischen Landnámabók an, der die Anfänge der Besiedlung Islands beschreibt:¹¹ Þeir Ingólfr ok Leifr fóstbrœðr fóru í hernað með sonum Atla jarls ens mjóva af Gaulum, þeim Hásteini ok Hersteini ok Hólmsteini […] ok er þeir kómu heim, mæltu þeir til samfara með sér annat sumar; en um vetrinn gerðu þeir fóstbrœðr veizlu sonum jarlsins. At þeiri veizlu strengði Hólmstein heit, at hann skyldi eiga Helgu Arnardóttur eða øngva konu ella. Um þessa heitstrenging fanz mǫnnum fátt, en Leifr roðnaði á at sjá, ok varð fátt um með þeim Hólmsteini, er þeir skilðu þar at boðinu. Um várit eptir bjogguz þeir fóstbrœðr at fara í hernað ok ætluðu til móts við sonu Atla jarls. Þeir funduz við Hísargafl, ok lǫgðu þeir Hólmsteinn brœðr þegar til orrostu við þá Leif. ‚Die Ziehbrüder Ingolf und Leif zogen auf Heerfahrt mit den Söhnen des Jarls Atli des Schlanken von Gaular, Hastein, Herstein und Holmstein […] und als sie nach Hause kamen, verabredeten sie eine gemeinsame Fahrt für den nächsten Sommer. Aber im Winter gaben die Ziehbrüder den Söhnen des Jarls ein Gastmahl. Auf diesem Gastmahl tat Holmstein das Gelübde, er wolle Helga, Örns Tochter, zum Weibe haben oder sonst keine. Dies Gelübde fand wenig Beifall; Leif aber wurde sichtlich rot, und er und Holmstein nahmen kühlen Abschied voneinander. Im nächsten Frühjahr rüsteten sich die Ziehbrüder zu einem Heerzug. Sie wollten gegen die Söhne Jarls [Atli] fahren. Bei Hisargafl trafen sie zusammen, und Holmstein und seine Brüder gingen sofort zum Kampfe gegen Leif und Ingolf über.‘

Der kurze Bericht vom plötzlichen Umschlagen der Freundschaft in Feindschaft kann in seinem trockenen und nüchternen Stil als Meisterstück der altnordischen Geschichtsschreibung gelten. Die Rede ist so bündig, dass sie die Ursache der Verfeindung der beiden Parteien überhaupt nicht angibt. Der Schlüssel zum Verständnis der ganzen Szene ist eigentlich nur in der kurzen Bemerkung gegeben, dass Leifr beim Vernehmen des Gelübdes Hólmsteins ‚sichtlich rot wurde‘ (roðnaði á at sjá). Erst wenn wir diese Bemerkung mit dem späteren Hinweis, dass Leifr Helga Arnardóttir heiratet,¹² in Verbindung bringen, beginnen wir die zugrunde liegende Motivation allmählich zu entschlüsseln. Ich möchte dabei betonen, dass dieser einzige Hinweis auf die Motivation zu diesen Taten, nur im altnordischen Kontext völlig verständlich wird, wo Erröten häufig Ausdruck des Zornes ist. Im heutigen europäischen Kontext, in dem es eher für Scham steht, funktioniert der Hinweis bei weitem nicht mehr so gut. Und in einer Kultur, wo Erröten z.B. Ausdruck von Freude wäre, würden die Bedeutung dieser Bemerkung und damit auch die Motivation der Handlung ganz und gar verloren gehen. Aber schon der Versuch, die historischen Begebenheiten (die erste Besiedlung Islands) durch rein private, persönliche Motive zu erklären ist typisch altnordisch und

10 Vgl. Gelting 2011, S. 129 f. 11 Landnámabók (Finnur Jónsson 1925), c. 6 = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S.   65; meine Kursive. 12 Landnámabók (Finnur Jónsson 1925), c. 6.

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muss in einem anderen Kontext nicht unbedingt funktionieren. Ein moderner Historiker würde lieber von ökonomischen, politischen oder sozialen Gründen sprechen.¹³ Es ist der Kontext, der die sinngebende Funktion der Interpretation ermöglicht.¹⁴ Und wiederum ist es der Kontext, der über die Wahrheit des Berichteten entscheidet. Kehren wir zum Bericht über die Statuen zurück, die auf dem byzantinischen Hippodrom gestanden haben sollen. Es gibt keinen zwingenden Grund daran zu zweifeln, dass im altnordischen Kontext der Bericht der Sigurðar saga Jórsalafara als wahr empfunden wurde. In unserem Kontext ist der Bericht selbstverständlich falsch, weil wir schlichtweg wissen, dass die Statuen auf dem Hippodrom keinesfalls Abbildungen nordischer Götter und Helden sein konnten. Das zwingt uns aber noch nicht, an der Wahrheit des Berichts im altnordischen Kontext zu zweifeln: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Norweger ihre alte Götter und Helden auf dem Hippodrom tatsächlich gesehen haben, obwohl sie sich dort faktisch überhaupt nicht befanden. Damit kommen wir aber zu dem dritten Einwand, der eher philosophischer Natur ist. Dem Positivismus galt als unproblematisierte Tatsache, dass Faktum ist, was der Realität entspricht, wobei diese ‚Realität‘ einfach mit dem identifiziert wurde, was wir in der Welt um uns sehen.¹⁵ Diese Ansicht kann aber heute als überholt gelten. Die ganze Geschichte der modernen Philosophie, von Stirner, Nietzsche und Hegel über den Strukturalismus bis heute lehrt uns ganz klar, dass das, was wir wahrnehmen, von unserer Weltanschauung, Gesellschaftauffassung und nicht zuletzt von unserer Idee der Geschichte mitbestimmt wird. Mit den altnordischen Geschichtsschreibern verhielt es sich aber keinesfalls anders. Wir haben sichere Kenntnis davon, dass auch die ältesten, meist zeitgenössischen und offensichtlich glaubwürdigsten Quellen nur eine vermittelte Beziehung zu der vorzeitlichen Wirklichkeit haben.¹⁶

Jede Form der Geschichtsschreibung ist nämlich eine Beziehung zwischen dem Mensch und der Realität, die einerseits von der Wirklichkeit, andrerseits aber von dem menschlichen Geschichtsbewusstsein selbst bestimmt wird. Kein Geschichtswerk ist also ein Abdruck der historischen Realität, eher ihr Spiegelbild im menschlichen Geist. Deshalb beurteilen manche Forscher die positivistische Suche nach den harten ‚Fakten‘ und das Bemühen um eine ‚ereignisrekonstruierende Historie‘ als

13 Siehe Beck 1999, S. 9 f. 14 Gelting 2011, S. 129 f. 15 Diese Ansicht hing auch mit der liberalen Überzeugung der Brüder Weibull zusammen, dass sich der Mensch im Lauf der Geschichte nicht ändert und im Grunde gleich bleibt (vgl. Gelting 2011, S. 136 f.). 16 „[…] en stærkere bevidsthed om, at selv de ældste, mest samtidige og tilsyneladende troværdige kilders forhold til den fortidige virkelighed også var middelbart“ (Gelting 2011, S. 136).

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vergebliche Liebesmüh. „Wir brauchen feinere Instrumente als den quellenkritischen Hammer der Positivisten.“¹⁷ Die Komplexität der Beziehung zwischen Tatsache und Interpretation, zwischen Wahrheit und Faktizität führte in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zumindest bei einem Teil der Historiker zu einer kompletten Revision des positivistischen Standpunkts. Wenn man sich mit einer narrativen Quelle beschäftigt, die von einem Ereignis berichtet, dreht sich die Fragestellung nicht mehr darum, ob die konkrete Aussage wahr oder falsch ist, sondern wie der Verfasser dem Ereignis einen Sinn und eine Bedeutung verleiht.¹⁸

Als Hauptvertreter dieser Bewegung können auf dem Feld der Nordistik die obengenannten Historiker Sverre Bagge, Gunnar Karlsson, Preben Meulengracht Sørensen, Else Ebel oder neuerdings Michael Gelting gelten, in der internationalen Forschung ließe sich auf das gesamte Konzept der Mentalitätsgeschichte verweisen, auf das Auftreten der französischen Annalen-Schule oder den amerikanischen Historiker und Theoretiker Hayden White. Dem letztgenannten verdanken wir auch den Begriff der ‚Metahistorie‘ und eine neue Definition der Geschichte, die nicht mehr mit Bezug auf Faktizität und allgemein geltende Wahrheit operiert, sondern die Geschichte als „eine Art narratives Konstrukt“ versteht, als „Diskurs, dessen Bedeutung durch sprachliche und andere Stilmittel generiert wird, deren Absicht ist, den Sinn im Rohmaterial zu finden“.¹⁹ Eine solche Definition besagt meiner Meinung nach zweierlei: Zuerst wendet sie sich von den positivistisch verstandenen Fakten diesem ‚sinnvollen Konstrukt‘, also dem Kontext, der als Rahmen für jedes Faktum dient, zu. Es ist das Gesamtbild der Geschichte, das zum Thema der Geschichtsforschung wird, wobei den vereinzelten Fakten und ihrer Zuverlässigkeit nur eine sekundäre Wichtigkeit beigemessen wird. Hinweise darauf, dass die Aussage einer Quelle sekundär (also von einer anderen Quelle abgeleitet) oder sogar unrichtig ist, bedeuten nicht mehr, dass die Quelle abgelehnt werden müsse. Sie kann für unser Verständnis der Vorstellungswelt des mittelalterlichen Verfassers ebenso großen Wert wie eine ‚wahre‘ Quelle haben – und vielleicht ist gerade das die Stelle, wo es uns gelingt, am nächsten zur mittelalterlichen ‚Wirklichkeit‘ vorzudringen.²⁰

17 „Tiden er ikke længere til at bruge den Weibullske kildekritiske lægtehammer. Det er mere subtile instrumenter, der skal tages i brug […]“ (Gelting 2011, S. 130 f.). 18 Meine Kursive. „Når man beskæftiger sig med en berettende kilde, drejer spøgsmålene sig ikke længere om, hvorvidt dens udsagn er sande eller falske, men om hvordan forfatteren forlenede begivenhederne med betydning og mening“ (Gelting 2011, S. 136). 19 In Russell Poole’s Formulierung: „All history is a species of narrative construct, a discourse whose meaning is actively produced by the tropes and devices employed to make sense of an otherwise inchoate material“ (Poole 1990, S. 173). 20 „[…] påvisning af, at et kildeudsagn er sekundært (dvs. afledt af en andere kilde) eller urigtigt, in-

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Als idealer Geschichtsschreiber (sowohl heute, wie auch in altnordischer Zeit) gilt nicht mehr der trockene Annalist, der Tatsachen aufzählt, sondern ein Verfasser, der im Stande ist, durch Kausalverkettung die Tatsachen in den Gesamtverlauf der Geschichte einzugliedern. Der oft wiederholte Einwand, dass die altnordischen Sagas nicht als Geschichtswerk gelten können, weil sie einfach zu gute Literatur sind,²¹ scheint in dieser Perspektive ebenso verfehlt wie ein Versuch, dem großen Theodor Mommsen den Stempel des Historikers abzusprechen, weil er ja Träger des Literaturnobelpreises war, den  – laut Begründung der schwedischen Nobelpreisjury  – „der gegenwärtig größte lebende Meister der historischen Darstellungskunst“ erhielt. Die Betonung der Darstellungskraft ist dabei keinesfalls zufällig und hängt mit dem zweiten Punkt, den ich betonen möchte, zusammen. Es ist nämlich gerade diese Darstellungskunst, die eine geglückte Einfügung isolierter Tatsachen in den geschichtlichen Kontext ermöglicht.²² Und solche Auffassung der Geschichtsschreibung bedeutet also eine Rehabilitierung der literarischen und narrativen Mittel, mit deren Hilfe die Tatsachen (also das, was als wahr empfunden wird) zu einem sinnvollen Ganzen zusammengestellt werden.²³ Es kann wohl sein, dass sich hinter den literarischen und narrativen Mitteln einzelner Verfasser ganz verschiedene Motivationen verbergen mögen und dass diese Mittel ab und zu auch ganz bedenkenlos als bloße Topoi benutzt werden konnten. Trotzdem haben sie für uns einen unübersehbaren Wert, weil sie uns zur Geschichtsauffassung der altnordischen Geschichtsschreiber führen können. Mag sein, dass sie von den Literaturhistorikern als Genretopoi abgestempelt werden: sie wurden benutzt und wir können die Frage, warum sie zu Gen-

deberær ikke længere, at udsagnet blev kasseret. Det kan have lige så stor værdi som ‚sande‘ kildeudsagn for at forsta de middelalderlige forfatteres forestillingsverden – som måske er det nærmeste, vi kan komme til middelalderens ‚virkelighed‘“ (Gelting 2011, S. 136). 21 Siehe dazu die Worte William Ian Millers über die frühe Geschichte Islands: „There is also an unspoken sense that the truth value of the source varies inversely with how much pleasure it gives to the reader: no pain, no gain. It is thus the case that bad literature has an easier time being seriously considered as a historical source than good literature. Most of the sagas are, by this view, too good to be true. But to reject a source merely because it is good literature is a luxury […]. If early Icelandic social and cultural history is to be written, literary sources will have to be used. This is hardly a revolutionary claim outside saga studies, as the examples of biblical history, Frankish history, or the history of Homeric Greece amply illustrate“ (Miller 1996, S. 45). 22 Siehe den Kommentar Pooles: „If we accept [Hayden] White’s logic, we are, I think, compelled at some point to analyze historical narrative in literary terms, using literary techniques to detect these ‚tropes and devices‘“ (Poole 1990, S. 173). 23 Vgl. die Analyse der Vínlandsagas von Else Ebel, die zu dem Schluss kommt: „Die Saga ist nicht schon deswegen ahistorisch und fiktional, weil sie erzählenden Charakters ist […] wenn Grœnlendinga saga und Eiríks saga rauða darin übereinstimmen, dass sie einer compound structure folgen, muss das kein Beweis gegen Historizität sein. Es beweist nur, dass die Wirklichkeit mit Hilfe eines bestimmten erzählerischen Musters gedeutet wurde“ (Ebel 1994, S. 98).

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remustern geworden sind, nicht umgehen. Man muss nämlich darauf achten, dass es sich nicht bloß um ‚literary techniques‘ oder ‚erzählerische Schemata‘ handelt, sondern zugleich um Denktechniken und Denkschemata. Die literarischen Muster sind zum großen Teil auch Auffassungsmuster und wenn wir unseren Versuch, das historische Verständnis der altnordischen Geschichtsschreiber näher zu bestimmen, ernst nehmen, können wir sie nicht beiseitelassen.²⁴ Damit kommen wir aber zum eigentlichen Thema meines Artikels. Im Weiteren möchte ich versuchen, gerade die ‚geschichtlichen Kontexte‘ der altnordischen Geschichtsschreibung näher zu bestimmen, zu kategorisieren, und die so gewonnenen Kategorien mit spezifischen Formen und Arten der literarischen Darstellung zu verbinden. Als Grundlage dieses Versuchs sollen die Werke zweier großer Geschichtsschreiber der altnordischen Zeit dienen: Snorri Sturluson und Saxo Grammaticus.

Naive Geschichtsschreibung Doch zunächst muss ich noch kurz eines der umstrittensten Phänomene der altnordischen Geschichtsschreibung erwähnen: die mündliche Überlieferung. Es wird heute wahrscheinlich keinen Forscher mehr geben, der die Rolle der Mündlichkeit völlig verneinen möchte. Das wäre auch nicht möglich: die schriftliche Aufzeichnung der Geschichtswerke setzt im Norden nicht vor dem Ende des elften Jahrhunderts ein, die historischen Begebenheiten, von denen diese Werke berichten, reichen aber weit in die Wikingerzeit und manchmal noch weiter zurück. Falls wir also nicht behaupten wollen, die ganze ältere skandinavische Geschichte sei völlig frei ersonnen, müssen wir davon ausgehen, dass die grundsätzlichen Tatsachen aus mündlicher Tradition stammen. Uns aber geht es – wie oben gesagt – nicht um die Tatsachen selbst, sondern darum, wie die überlieferten Tatsachen verarbeitet und zu einem Gesamtbild des Geschehens eingefügt werden. Deshalb will ich mich auch nicht auf das heikle Problem der Rolle der mündlichen Überlieferung bei der Formung der Gattung der Familiensagas einlassen, sondern nur einige Züge hervorheben, die für die weitere Diskussion notwendig sind. Ich beginne mit einem Zitat aus der Reykdœla saga:²⁵

24 Siehe dazu den Kommentar Else Ebels zur Historizität der Vínlandsagas (meine Kursive): „Fiktion ohne Realität waren die Vínlandsagas für die Isländer nicht, aber sie wussten offenbar auch, dass Realität ohne Fiktion (Fiktion im Sinne von erzählerischer Gestaltung) auch nicht erfahrbar ist“ (Ebel 1990, S. 100). Vgl. Miller 1996, S. 355: „Repetition, stylization, and conventionalization of form take place in the world of actions as well as in the worlds of letters. And when it takes place in the word of letters alone, that too is not without social significance, if only because it is a social universe, that is being depicted.“ 25 Reykdœla saga (Finnur Jónsson 1881), c. 16 = Fünf Geschichten aus dem östlichen Nordland (Ranisch / Vogt 1939), S. 337.

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Svá er sagt, at nú brast niðr spǫngin undir þeim Stengrími. Sumir vilja þat segja, at Vémundr skyti til Steingríms með spjóti þá er hann vildi upp ór vǫkinni á ísinn, ok yrði honum þat at bana. En sumir segja at hann druknaði þar í vǫkinni. Tveir menn druknuðu aðrir, en Steingrímr; tveir menn váru ok drepnir af hans fǫrunautum, Helgi mágr hans, ok einn maðr annarr. Svá er sagt, at Áskell bað þá nú hvata í brott, sem þeir mega. Ekki er þess getit, at hann týndi neinum manni í bardaganum. ‚Es heißt (svá er sagt), nun brach das Eis unter Steingrims Leuten. Einige wollen behaupten (sumir vilja þat segja), dass Vemund nach Steingrim mit dem Speere geschossen habe, als er aus dem Loche aufs Eis hinauf wollte, und das sei sein Tod gewesen. Manche aber sagen (en sumir segja), er sei dort im Loche ertrunken. Zwei Mann ertranken außer Steingrim, zwei von seinen Leuten wurden ferner erschlagen, sein Schwager Helgi und ein anderer Mann. Nun, sagt man (svá er sagt), befahl Askel seinen Leuten von dannen zu eilen, so schnell sie könnten. Dass er in dem Gefecht einen Verlust gehabt habe, wird nicht berichtet (ekki er þess getit).‘

Beachten wir nur die Formel ‚man sagt‘ (svá er sagt (2x)), ‚manche sagen‘ (sumir segja), ‚einige wollen sagen‘ (sumir vilja þat segja) und ‚es wird berichtet‘ ([þat] er getit), so wird deutlich, dass sich die Passage ausdrücklich auf die mündliche Tradition beruft. Es wird geschrieben, was überliefert wird. Ob dieser Anspruch anerkannt werden darf, ist selbstverständlich eine andere Frage, die wahrscheinlich auch heute von manchen negativ beantwortet würde. Walter Baetke, der bekanntlich zu den heftigsten Kritikern der These vom mündlichen Ursprung der Familiensagas gehörte, formulierte knapp diese Ansicht: Nun weiß jeder, der Volkserzählungen gelesen oder vielleicht selbst aus dem Munde einfacher Leute gehört hat, dass sich die Erzähler gern solcher oder ähnlicher Redensarten bedienen; um ihre Hörer an die Wahrheit des Erzählten glauben zu machen, bekräftigen sie es mit Beteuerungen wie ‚das hat mir mein Großvater selbst erzählt‘ oder ähnlichen Wendungen.²⁶

Und zu der Überlieferung verschiedener Varianten des Geschehens (‚einige wollen behaupten‘ vs. ‚manche aber sagen‘) fragt er belehrend: […] konnte man das in der Hitze des Gefechtes überhaupt genau beobachten und feststellen? […] Und gerade solche Nebensachen sollen über Jahrhunderte hinweg in der Tradition fortgelebt haben und noch dazu in Varianten?²⁷

Ich möchte mich hier nicht mit den Einwänden Baetkes auseinandersetzen.²⁸ Es ist wohl möglich, dass die historische Zuverlässigkeit ähnlicher Berichte nicht besonders

26 Baetke 1973, S. 265. 27 Baetke 1973, S. 265 f. 28 Trotzdem möchte ich betonen, dass solche Argumente gegen den mündlichen Charakter des Erzählten aus heutiger Sicht als unbegründet bezeichnet werden müssen. Die Ausdrücke, mit denen sich Sagas auf mündliche Überlieferung berufen, sind keine Aussagen des Typs „mein Großvater hat mir einmal davon erzählt“ sondern feste Formeln, die in allen Familiensagas zu finden sind und die zu den typischen Stilmitteln der Gattung gehören. Dass neuzeitliche Volkserzähler ähnliche Wen-

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hoch steht und der Text könnte vom modernen Standpunkt aus als ‚Fiktion‘ bezeichnet werden. Aber gerade damit würden wir die ganze Problematik des Wahrheitsbezugs der Familiensaga völlig verkennen. Denn es kann kaum bezweifelt werden, dass die angebliche Verfasserlosigkeit zu den „sprachlichen und anderen Stilmitteln“ gehört, mit deren Hilfe den vermutlichen ‚Fakten‘ der Sinn verliehen wird. Von unserem Standpunkt aus ist also wichtiger, wie die Saga mit den Hinweisen auf die mündliche Tradition umgeht. Diese Hinweise auf die mündliche Tradition, die für die isländischen Familiensagas charakteristisch sind,²⁹ sind mit einer Reihe anderer Erscheinungen verbunden, die insgesamt einen Komplex bilden, den ich als naive Geschichtsschreibung bezeichnen möchte. Ich will betonen, dass ich die Bezeichnung naiv keinesfalls im abwertenden Sinne benutze, eher im Sinne von Friedrich Schiller, der unter ‚Naivität‘ eine

dungen benutzen, ist noch dazu kein Argument gegen die Präsenz der mündlichen Tradition in den Familiensagas, sondern eher eines für sie. Ebenso hat es sich mit der Bemerkung über die ‚Unwichtigkeit‘ der beiden Varianten. Erstens war die Frage, ob man jemandes Tod nur verursacht, oder ihn persönlich getötet habe, nach isländischen Recht keine ‚Nebensache‘. Zweitens hielt auch ein so ernster Historiker wie Snorri, der in seinen Geschichtsbüchern keine ‚Reden‘ (rœður) und ‚unbezeugte Geschichten‘ (vitnislausar sǫgur) anführen will (Haralds saga harðráða (Finnur Jónsson 1966), c. 36), es offensichtlich für keine Schmach, solche ‚unwichtige‘ Varianten anzuführen, und mit ihnen sogar zu polemisieren (Hákonar saga góða (Finnur Jónsson 1966), c. 31). Noch dazu bedient sich Snorri bei seinen Hinweisen auf die mündliche Tradition auch Formelwendungen, die mit denen der Familiensagas zum Teil identisch sind (siehe hierzu weiter unten). Das wichtigste aber ist, dass eine solche Verfahrungsweise als ein ganz typischer Zug mündlicher Tradition gelten darf, der nicht nur im Altnordischen, sondern in fast allen Kulturen zu beobachten ist, die über eine mündliche Tradition verfügten. Statt langer Reden führe ich einen Abschnitt aus dem Babylonischen Talmud an (den Hinweis auf diesen Text verdanke ich meinem Kollegen, dem Hebraisten Pavel Sládek von der KarlsUniversität Prag). Die Szene ist typisch: Die jüdischen Gelehrten streiten über Fragen der Halacha, des heiligen Rechts (Der Babylonische Talmund, Traktat Berachoth 56b): ‚An dem Tag beantwortete Rabbi Eliezer alle halachische Fragen. Die [anderen Gelehrten] wollten aber seine Entscheidungen nicht akzeptieren. Er sagte ihnen: ‚Wenn meine Auslegung der Halacha richtig ist, möge mir das dieser Johannisbrotbaum bezeugen!‘ Der Johannisbrotbaum riss seine eigenen Wurzeln aus und versetzte sich um hundert Ellen. Einige aber sagen, es seien vierhundert Ellen gewesen. Die Gelehrten aber antworteten: ‚Den Beweis durch den Johannisbrotbaum akzeptieren wir nicht.‘ Er sagte also: ‚Wenn meine Auslegung der Halacha richtig ist, möge mir das dieser Wasserstrom bezeugen!‘ Und der Wasserstrom kehrte sich um. Sie sagten ihm: ‚Den Beweis durch den Wasserstrom akzeptieren wir nicht.‘ […] Er sagte dann: ‚Wenn meine Auslegung der Halacha richtig ist, möge mir das [die Stimme] des Himmels bezeugen.‘ Aus dem Himmel ertönte eine Stimme und sprach: ‚Was habt ihr gegen Rabbi Eliezer? Seine Auslegung der Halacha ist auf jeden Fall richtig!‘ Da empörte sich Rabbi Jehoschua und sagte: ‚Die Halacha ist nicht im Himmel!‘‘ In diesem bekannten Text sehen wir den gleichen Zug: in der dramatischen Situation, wo die Flüsse bergauf fließen, die mysteriöse Stimme aus dem Himmel erklingt und wild gewordene Bäume herumlaufen, ist die Angabe über die genaue Distanz des Baumlaufs offensichtlich nicht von Wichtigkeit (vgl. Sládek 2010, S. 181 f.). Trotz allem hat sie aber die Tradition bewahrt und es ist sehr wohl wahrscheinlich, dass auch im Falle der Saga beide Todesvarianten zu dem tradierten Gut gehörten. 29 Siehe dazu Andersson 1966, S. 1–23.

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Absenz von Reflexion und von einer klarer Abgrenzung zwischen dem Verfasser und seinem Werk verstand. Damit soll weder gesagt werden, dass die Verfasser der Familiensagas ganz unreflektiert schufen und mit ihren Werken keine Ziele beabsichtigt hätten, noch dass sie keine Beziehung zu ihren Texten gehabt hätten.³⁰ Schon Schiller war sich dessen klar bewusst, dass die von ihm angeführten homerischen Stellen nicht in einer Art Traumzustand und durch einfache Versifizierung des überlieferten Stoffes entstanden. Das Wichtige für ihn aber war, dass die Texte von diesen Zielen, Beziehungen und Reflexionen nichts direkt und explizit mitteilten. Und in diesem Sinne kann der Begriff auch für die isländischen Familiensagas wohl benutzt werden. Da die Eigenschaften der Gattung ‚Familiensaga‘ schon mehrmals beschrieben wurden, kann ich mich im Folgenden kurz fassen. Der erste typische Charakterzug ist die obengenannte Absenz des Verfassers, die in einer engen Beziehung zu den Hinweisen auf die hinter dem Text stehende Tradition steht. Der einzige Beleg für ein Personalpronomen, das auf den Verfasser der Saga hinweist, ist die berühmte Phrase ‚und hier beenden wir diese Saga‘ (ok hér lúkum vér þessi sǫgu), derer Varianten am Ende der meisten Sagas stehen. Das Einsetzen dieser Phrase ist nahezu symbolisch: der Verfasser tritt dort auf, wo die Saga selbst endet.³¹ Bis zu diesem Punkt ist der Erzählende mit dem Erzählten identisch, er setzt sich mit dem Erzählten nicht auseinander. Die Familiensagas enthalten keine Autorenkommentare, die für autorenhafte Gattungen (im nordischen Kontext z.B. die Skaldendichtung) so typisch sind. Die Arbeit des Verfassers bleibt unsichtbar, sie verschmilzt völlig mit dem Text. Es verschwimmt aber nicht nur die Grenze zwischen dem Verfasser und seinem Text, sondern auch die Grenze zwischen dem Text und der Realität, zwischen dem Geschehen und der Schilderung des Geschehens. Die Saga wird als eine Folge von Geschehen betrachtet, die sich auf derselben Ebene der Realität befinden. Die Landnámabók, die die Entstehung mehrere Sagas ganz sachlich beschreibt, führt Folgendes an:³²

30 Ich möchte hier z.B. auf die Untersuchungen Axel Kristinssons zu Gísla saga aufmerksam machen, die die politischen Gründe der Niederschreibung der Saga sehr plausibel schildern (siehe z.B. Axel Kristinsson 2003, S. 1–18; 2009). 31 Das kann wohl mit der Ansicht von Carol Clover übereinstimmen, dass die Sagas in der mündlichen Tradition als die ganze geschichtliche Erinnerung umschließende ‚immanente Saga‘ präsent waren und die Hauptaufgabe des Vortragenden es war, den Punkt zu finden, wo er seinen Vortrag schließen sollte: „[…] also to the literary author, we may guess, fell the decision of just where to draw the line“ (Clover 1986, S. 36). Diese Entscheidung können wir uns aber sicher nicht als eine Autorschaft in modernem Sinne des Wortes vorstellen, was schon daraus ersichtlich ist, dass fast alle Familiensagas in gleichem Augenblick enden: mit dem Tode der letzten Generation, die das Heidentum noch erlebt hat. 32 Landnámabók (Finnur Jónsson 1925), S.  cxcix. Vgl. die Schilderung der Entstehung der Þorskfirðinga saga (c. clxiii): ‚[…] Þórir [Oddson] zog auf Heerfahrt und gewann in Finnmǫrk viel Geld; mit ihm waren auch die Söhne Halls von Hofstaðir. Und als sie nach Island zurückkehrten, verlangte Hallr das Geld und daraus wurden große Streitigkeiten; aus ihnen entstand Þorskfirðinga saga‘ ([…] Þórir

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Þar í Laugardal bjó síðan Þorbjǫrn Þjóðreksson, er vá Óláf, son Hávarðar halta ok Bjargeyjar Valbrandsdóttur; þar af gerðiz saga Ísfirdinga ok víg Þorbjarnar. ‚In Laugardalr lebte damals Þorbjǫrn Þjóðreksson, der Óláf, den Sohn von Hávarðr halti und Bjargey Valbrandsdóttir getötet hat. Und daraus entstanden die Ísfirðinga saga und die Tötung von Þorbjǫrn.‘

Die letzte Eigenschaft, die ich kurz erwähnen möchte, ergibt sich ganz natürlich aus dem zuletzt Besprochenen. Es handelt sich um das Fehlen eines Motivs, warum die Geschichte mündlich tradiert oder niedergeschrieben wurde. Theodor Andersson sagt dazu: The saga is plane narrative with no vertical dimension […]. In short, there is no guiding principle laid down by the author in order to give his material a specific import. He draws no general conclusions and invites his reader to draw none […]. The saga comes very close to pure narrative without ulterior aims of any kind, much closer, for example, than the modern practitioners of objectivity, whose work is, after all, socially or philosophically loaded.³³

Das muss uns nicht wundern: wo keine Grenze zwischen dem Geschehen und dessen Schilderung wahrgenommen wird, kann auch kein Zweck der Schilderung existieren. Denn eine besondere Motivierung der Beschreibung setzt eine Arbeit voraus, durch die die Schilderung aus dem Geschehen entsteht, und während derer das Geschehen im Einklang mit dem gesetzten Ziel modifiziert werden kann. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass die Grenzen zwischen dem Verfasser, dem Text und der beschriebenen Realität, die wir bei modernen Texten streng unterscheiden, in der Familiensaga extrem verschwimmen. Die Familiensaga erscheint als ein ungeteilter Strom der Überlieferung an deren Anfang ein historisches Ereignis steht, das durch Tradition in einen Text umgeformt wird, der vom Verfasser bloß niedergeschrieben wird. Damit kommen wir aber schon zu unserem Hauptpunkt. Die durchgeführte Verschmelzung des Verfassers, des Textes und der Realität ermöglicht nämlich den besonderen Wahrheitsbezug, der in der Familiensaga vorherrscht. Denn mit der Beibehaltung von beiden ‚unwichtigen‘ Versionen der Geschichte von Steingríms Tod sagt uns die Reykdœla saga etwas ganz Wichtiges über ihre Auffassung des Geschehens. Es ist ja klar, dass beide Todesbeschreibungen nicht richtig sein können. Ent-

fór útan í hernaði; hann fekk gull mikit á Finnmǫrk; með honum váru synir Halls af Hofstǫðum; en er þeir kómu til Íslandz, kallaði Hallr til gullsins ok urðu þar um deilur miklar; af því gerðiz Þorskfirðinga saga). 33 Andersson 1967, S. 32. Viele Forscher würden hier wieder ganz sicher einwenden, dass sich hinter den Sagatexten trotzdem gewisse ‚guiding principles‘ und ‚ulterior aims‘ verbergen können. Dazu kann zunächst gesagt werden, dass solche Vermutungen notwendiger Weise hypothetisch bleiben müssen. Aus unserem Standpunkt ist aber noch wichtiger, dass ähnliche Theorien die Ebene des Gesagten verlassen und in der positivistischen Manier ‚zu den Fakten selbst‘ durchzudringen versuchen.

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weder war die Todesursache der Speerwurf von Vémundr, oder aber das Ertrinken im Eisloch. Die Saga könnte einen Versuch machen, die Frage zu entscheiden, sei es durch Weglassen einer der Varianten, sei es durch eine Entscheidung, welche die richtige ist. Sie macht das aber nicht, führt beide Versionen separat an, ohne Kommentar oder auch nur einen Hinweis, welcher der beiden Berichte der Wahrheit näher stehen könnte. Die Frage der äußeren (also jenseits der Tradition stehenden) Wahrheit ist für die Saga offensichtlich ganz belanglos. Sie liefert das Tradierte, ohne dessen historischen Wert zu hinterfragen, weil in ihr das Tradierte mit dem Geschehen verschmilzt. Das Überlieferte ist wahr, und wo die Tradition variiert, kann man zu keiner einheitlichen Wahrheit durchdringen. Besonders in diesem letztgenanntem Aspekt steht die naive Geschichtsschreibung im Kontrast zu einem breiten Strom historiographischer Werke, die ich vorläufig als kritische Geschichtsschreibung bezeichnen möchte, und die ungefähr dem entsprechen, was als Königssagas und als historiographische Werke (Íslendingabók, Landnámabók, Ágrip usw.) bezeichnet wird.³⁴

Kritische Geschichtsschreibung Beginnen wir wieder mit einem Zitat, diesmal aus der Hákonar saga góða des isländischen Historikers Snorri Sturluson:³⁵ Slær þá í lið Eiríkssona felmt ok flótta því næst, en Hákon konungr var í ǫndverðri sinni fylking ok fylgði fast flóttamǫnnum ok hjó títt ok hart; þá flaug ǫr ein, er fleinn er kallaðr, ok kom í hǫnd Hákoni konungi upp í músina fyrir neðan ǫxl, ok er þat margra manna sǫgn, at skósveinn Gunnhildar, sá er Kispingr er nefndr, hljóp fram í þysinum ok kallaði: ‚gefi rúm konungsbananum,‘ ok skaut fleininum til Hákonar konungs, en sumir segja, at engi viti, hverr skaut; má þat vel ok vera, þvíat ǫrvar ok spjót ok allz konar skotvápn flugu svá þykt sem drífa; fjǫlði manna fell af Eiríkssonum bæði á vígvellinum ok á leið til skipanna ok svá í fjǫrunni, ok fjǫlði hljóp á kaf […]. ‚Da ergriff Schrecken das Heer der Erichssöhne und sie flohen sogleich, König Hakon aber war an der Spitze seines Heeres und verfolgte die Fliehenden heftig. Er erteilte häufige und harte Hiebe. Da flog eine Art Pfeil, die man ‚flein‘ nennt, dem König Hakon in den Arm, und er traf ihn in den Muskel unter der Achsel. Viele erzählen (er þat margra manna sǫgn), dass ein Diener der

34 Es kann ein wenig unbeholfen wirken, wenn man historiographisches Schrifttum nur als Teil der Geschichtsschreibung bezeichnet. Aber die Teilung ist alles andere als klar. Mit Recht bemerkt Stefanie Würth: „Since all Old Norse Literature is characterized by a certain interest in history, it is very difficult to define historiography as a genre. Historiography in a narrower sense overlaps with almost all other genres in its use of historical sources, such as genealogies, and in its reports of historical events“ (Würth 2005, S. 156). 35 Hákonar saga góða (Finnur Jónsson 1966), c. 31 = Königsbuch (Niedner 1922/23), (Niedner 1922/23), 1, S. 168.

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Gunnhild namens Kisping im Getümmel voranlief und schrie: ‚Platz für den Königstöter.‘ Dann habe er den Pfeil auf König Hakon abgeschossen. Andere aber sagen (en sumir segja), niemand wisse, wer der Schützer gewesen sei. Das mag wohl auch richtig sein (má þat vel ok vera), denn Pfeile, Speere und andere Geschosse flogen so dicht wie Schneeflocken. Eine große Menge fiel bei den Erichssöhnen auf dem Schlachtfeld sowie auf der Flucht zu den Schiffen, als auch auf dem Strande selbst. Und eine Menge sprang ins Meer […].‘

Es handelt sich um einen Bericht von der Schlacht bei Fitjar (die im Jahre 961 stattgefunden hat) und ihr Anfang kann uns an die oben angeführte Passage aus der Reykdœla saga erinnern. Es werden zwei Meinungen über das Geschehen geäußert, die wieder mit den Phrasen ‚viele erzählen‘ (er þat margra manna sǫgn) und ‚andere aber sagen‘ (en sumir segja) eingeleitet werden. Trotzdem bemerken wir gleich einen Unterschied: der Verfasser lässt nicht beide Meinungen einfach nebeneinander stehen, sondern greift selbst in den Prozess der Beschreibung ein. Was nach den Worten ‚das mag wohl richtig sein‘ (má þat vel ok vera) kommt, ist ein Versuch, zwischen beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Wie klein uns dieser Unterschied auch vorkommen mag, er ist für unser Thema ganz entscheidend. Der Verfasser wird in seinem Text präsent und wir können leicht die Person, die hinter dem Text steht, und ihre Denkweise greifen. Wir erblicken hier nicht den Tradierenden, der sich nur als ein Glied der Tradition sieht, sondern den echten Historiker, der der Tradition gegenüber steht und frei über sie verfügt. Der Tradierende wird zum Historiker und die Tradition wird zu seiner Quelle. Nur deshalb kann der Geschichtsschreiber gewisse Teile der Tradition akzeptieren und in sein Geschichtswerk einreihen, die anderen aber weglassen oder sie zwar anführen, sie aber unmittelbar darauf als weniger glaubwürdig bezeichnen. Warum macht er das und warum stellt er sich nicht zufrieden mit einfachem Weitergeben des tradierten Stoffes, der ihm überliefert wurde, so wie es in den Familiensagas geschieht? Es kann, glaube ich, nur eine Antwort geben: Er zielt nicht auf die Tradition ab. Diese ist für ihn nicht Endzweck, sondern nur ein Mittel beim Suchen der historischen Wahrheit.³⁶ Dieser Paradigmenwechsel bringt auch viele weitere Änderungen mit sich, von denen ich jetzt nur drei herausgreifen möchte. Die erste Änderung betrifft die Beziehung zwischen dem Geschehen und dessen Beschreibung. Wir haben gesehen, dass in der naiven Geschichtsschreibung diese Grenze nicht als solche empfunden wurde, Beschreibung war einfach eine Folge des Ereignisses, eine Wirkung unter anderen. Auf dem Feld der kritischen Historiographie wird gerade diese Grenze zum Problem. Das beweist klar der sogenannte Íslendings þáttr sǫgufróða (‚Die Erzählung von dem sagenkundigen Isländer‘),³⁷ die in der Magnúsar saga góða ok Haralds harðráða in Morkinskinna zu finden ist. Die Geschichte ist an sich einfach. Zu dem norwegischen König Haraldr dem Harten (1047–1066) kommt ein Isländer, der die königli-

36 Für die mächtige Bedeutung, die der Begriff der Wahrheit gerade für Snorri hatte, siehe Beck 1999, S. 9. 37 Deutsch unter dem Titel „Sagamann Thorstein“.

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che Gefolgschaft den ganzen Herbst durch den Vortrag von Sagas unterhält. Kurz vor Weihnachten wird der Isländer aber schwermütig. Der König forscht nach dem Grund und äußert die Meinung, das Gedächtnis des Isländers habe seine Grenzen erreicht:³⁸ ‚Jamt er sem þú getr‘, segir hann. ‚Ein er sagan eftir ok þori ek þá eigi hér at segja, því at þat er útferðarsaga þín.‘ Konungr mælti: ‚sú er ok svá sagan at mér er mest um at heyra.‘ […] Ok it þréttanda kveld er lokit var sǫgunni áðr of daginn mælti konungr: ‚Er þér eigi forvitni á, Íslendingr, segir hann, hversu mér líkar sagan.‘ ‚Hræddr er ek um, herra‘, segir hann. Konungr mælti: ‚Mér þikkir alvel ok hvergi verr en efni eru til eða hver kendi tér sǫguna.‘ Hann segir: ‚Þat var vandi minn út á landinu at ek fór hvert sumar af sǫgunni nǫkkvat at Halldóri Snorrasynni.‘ ‚Þá er eigi kynligt‘, segir konungr, ‚at þú kunnir vel […].‘ „Es ist so, wie du sagst‘, erwiderte der Isländer. ‚Nur eine Saga ist noch übrig. Die wage ich aber hier nicht recht vorzutragen. Denn es ist die Saga von deiner eigenen Fahrt ins Ausland.‘ Der König sagte: ‚Diese Saga hörte ich gerade am liebsten von dir.‘ […] Am dreizehnten Jultag [als die Saga zuende erzählt war,] sagte der König: ‚Bist du gar nicht gespannt, Isländer, wie mir deine Saga gefiel?‘ ‚Ich mach mir darüber Sorgen, Herr‘, versetzte jener. Der König sprach: ‚Mich dünkt, sie war gut erzählt, und sie blieb kaum hinter ihrem Stoff (efni) zurück. Doch wer machte dich vertraut mit ihr?‘ Jener erwiderte: ‚Es gehörte zu meinen Gewohnheiten auf Island, jeden Sommer zum Thing zu gehen. Jeden Sommer prägte ich mir dort etwas von der Saga ein, wie sie Halldor Snorrissohn dort erzählte.‘ ‚Kein Wunder‘, erwiderte der König, ‚dass du so gut darüber Bescheid weißt […].‘‘³⁹

Die Frage der Historizität dieser kleinen Geschichte geht uns jetzt nichts an, für unsere Zwecke ist die Polarität ‚Saga‘ (saga) – ‚Sagenstoff‘ (efni) wichtig, die in dem Abschnitt auftaucht.⁴⁰ Das Geschehen und seine Beschreibung sind voneinander klar getrennt, noch dazu sind sie in eine hierarchische und bewertende Beziehung gesetzt. Der Wert des Berichts wird auf dem Hintergrund der Realität bemessen. Diese Trennung hat aber noch eine überraschende Folge. In dem Augenblick, in dem die historische Realität und ihre Beschreibung nicht in Eins fallen, entsteht die Möglichkeit, die Realität auf verschiedene Weisen zu beschreiben, die wieder

38 Magnúsar saga góða ok Haralds harðráða (Finnur Jónsson 1932), c. 25 = Königsgeschichten (Niedner 1925/28), 1, S. 316. 39 Die letzte Bemerkung zielt auf die Teilnahme von Haldórr Snorrason an der byzantinischen Expedition des Königs. Siehe z.B.: Menn íslenzkir eru nefndir, þeir er fóru þar [d.h. nach Byzanz] með Haraldi konungi, Haldórr, sonr Snorra goða – hann hafði þessa frásǫgn hingat til landz (Haralds saga harðráða (Finnur Jónsson 1966), c. 9). 40 Dass diese Polarität in gleichem Augenblick erscheint wie der Begriff des Autors ist keinesfalls zufällig. Völlig parallel ist z.B. die Thematisierung der Beziehung von Gedicht (mál) und seinem dichterischen Stoff (yrkisefni) in der skaldischen Poesie, also der literarischen Gattung, die in dem altnordischen Milieu mit dem autorenhaften Schöpfungsbegriff am stärksten gebunden wurde; siehe z.B. Arnórr Þórðarson, Hrynhenda, Strophe 14, Zeile 1–2 (Skjaldedigtning (Finnur Jonsson 1912–15), B1, S. 309).

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verschiedenen Zwecken dienen können. Wir haben das Verlangen gesehen, mit dem Haraldr der Harte den Vortrag der Saga über seine eigenen Taten forderte. Dass die Geschichtsschreibung die Wahrnehmung der Vergangenheit (und dadurch auch der Gegenwart) stark beeinflussen kann, sollte uns nicht verwundern. Es kann uns aber überraschen, dass wir direkte Zeugnisse der zielbewussten Gestaltung der Vergangenheit bereits aus altnordischer Zeit zur Verfügung haben. Am bekanntesten ist wahrscheinlich der Prolog der Sverris saga, der folgendes berichtet:⁴¹ […] ok er þat upphaf bókarinnar, er ritat er eptir þeirri bók, er fyrst ritaði Karl ábóti Jónsson, en yfir sat sjálfr Sverrir konungr, ok réð fyrir hvat rita skyldi; er sú frásǫgn eigi langt framkomin. ‚Der erste Teil dieses Buchs ist nach dem Buch geschrieben (er ritat eptir), das zuerst Abt Karl Jónsson verfasste. Dabei führte König Sverrir selbst Aufsicht darüber, und er auch entschied, was aufgeschrieben werden sollte. Es ist also kein Bericht aus zweiter Hand.‘

Solche explizit tendenziöse Einstellung finden wir in der altnordischen Geschichtsschreibung relativ selten. Aber auch dort, wo die Beziehung zur Vergangenheit redlicher ist, gibt es klare Hinweise darauf, dass sich die Beziehung der Geschichtsschreiber zum eigenen Werk geändert hat. Wir haben gesehen, dass es in der naiven Geschichtsschreibung nicht möglich war, eine Grenze zwischen dem Verfasser und seiner Saga zu ziehen. Aber schon der erste kritische Geschichtsschreiber, dessen Werk erhalten geblieben ist – Ari Þorgilsson – bemerkt im Prolog seiner Íslendingabók:⁴² En hvatki es missagt es í frœðum þessum, þá skyllt at hafa þat helldr, es sannara reynisk (,falls sich aber in diesen Überlieferungen etwas Falsches findet, ist es Pflicht sich an das zu halten, was sich als wahrer herausstellt‘). Der Historiker steht nicht nur der Tradition, sondern auch dem eigenen Text gegenüber. Er verfügt über sie und kann das weitere Schicksal des Textes mitbestimmen. Die Trennung von Realität und Literatur führt zu der Trennung des Autors und seines Werkes.

Die Methode Das Suchen nach der historischen Wahrheit hat sehr verschiedene Formen angenommen, zu denen ich mich noch ausführlicher äußern werde. Doch zuvor müs-

41 Sverris saga (Indrebø 1920), Prolog. 42 Íslendingabók (Finnur Jónsson 1887), Prolog = Islands Besiedlung (Baetke 1928), S. 43; vgl. die Bemerkung von Snorri (siehe unten), dass er in seine Heimskringla keine unbezeugten Geschichten (vitnislausar sǫgur) einfügen möchte, weil es für die kommenden Historiker einfacher sein werde, sein Werk mit wahren Geschichten zu vermehren, als die unwahre daraus entfernen zu müssen (Haralds saga harðráða (Finnur Jónsson 1966), c. 36).

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sen wir noch einige Beobachtungen anstellen, die die Arbeitsweise des kritischen Geschichtsschreibers betreffen. Das Auftauchen der historischen Methode ist ein weiteres – und vielleicht das wichtigste – Merkmal der kritischen Historiographie. Über diese Methode sind wir relativ gut informiert, da einige Geschichtsschreiber ihrem Werk einen Prolog vorausgeschickt haben (das bekannteste Beispiel ist wahrscheinlich Snorris Vorwort zur Heimskringla), in dem sie ihre Arbeitsweise vorstellen und begründen. Diese Prologe möchte ich jetzt allerdings nicht analysieren und stattdessen die Methode direkt den Texten entnehmen. Schauen wir uns noch einmal die zitierte Passage aus der Hákonar saga góða an, besonders ihren letzten Teil, in dem Snorri seine Meinung äußert, dass die Tötung Hákons reiner Zufall war, hinter dem sich keine persönliche Absicht verbarg. Wie begründet er diese Ansicht? Auf den ersten Blick sehen wir, dass Snorri argumentiert – man beachte die Wendung ‚weil Pfeile und Speere‘ (þvíat ǫrvar ok spjót)  – und seine Argumentation auf einer rationalen Bewertung der Kampfsituation beruht. Woher aber nimmt diese rationale Bewertung ihr Material? Wir können im Zweifel sein, woher Snorri, der 1178 geboren wurde, so gut über eine Schlacht informiert sein konnte, die 961 stattgefunden hat, um behaupten zu können, dass ‚Pfeile, Speere und Schusswaffen aller Art so dicht wie ein Schneegestöber flogen‘ (ǫrvar ok spjót ok allz konar skotvápn flugu svá þykt sem drífa). Wenn wir uns aber die Stelle im breiteren Kontext anschauen, finden wir schnell die Antwort. Snorri zitiert bei der Beschreibung des Kampfes mehrere Strophen von Skalden, die am Kampf persönlich teilgenommen haben, darunter auch zwei regelrechte skaldische Gedichte. Besonders eines der beiden – Hákonarmál von Eyvindr Finnsson – hebt dabei den äußerst stürmischen Charakter des Kampfes bei Fitjar hervor und sein gesamter Mittelteil besteht im Grunde aus einem Vergleich der Schlacht mit einem Gewitter, in dem sich die ‚Stürme der Walküre‘, ‚Wellen der Speere‘ und ‚Ströme der Schwerter‘ unter dem ‚roten Himmel‘ gegenseitig angreifen. Und wir sehen, dass das Gedicht – trotz seiner stark literarischen Form  – samt der daraus gewonnenen Erkenntnisse höher bewertet wird, als die ‚Berichte vieler Leute‘ (margra manna sǫgn), die mit seiner Hilfe disqualifiziert werden. Die Verwandlung der Tradition in eine Quelle bringt ihre Klassifizierung mit sich und Einstufung nach der Zuverlässigkeit – mit einem Wort: eine Quellenkritik. Und diese Kritik der Quellen gemeinsam mit einer weitgehenden Benutzung der Vernunft wird zum Hauptmittel im Ringen um die historische Wahrheit.⁴³

43 Zum Folgenden vgl. Starý 2006.

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Saxo Grammaticus Dieses Ringen nahm bei verschiedenen Geschichtsschreibern sehr unterschiedliche Ausrichtungen an. Im Folgenden möchte ich mich nur auf die zwei wichtigsten konzentrieren, die vom Isländer Snorri Sturluson und dem Dänen Saxo Grammaticus vertreten werden. Saxo Grammaticus (ca. 1150–1220) gehörte zur Gefolgschaft der dänischen Bischöfe Absolon und Anders Sunesøn.⁴⁴ In den zeitgenössischen Quellen wird er als clericus bezeichnet, er war also entweder Geistlicher oder Sekretär.⁴⁵ Sein einziges überliefertes Werk, die monumentalen Gesta Danorum (‚Taten der Dänen‘) in sechszehn Bänden wurde um 1200 verfasst. Seine schöpferische Absicht formuliert Saxo eindeutig: die Großtaten seiner dänischen Vorfahren zu beschreiben.⁴⁶ In Bezug auf seinen Umfang hat Saxos Buch in der nordischen Geschichtsschreibung kaum seinesgleichen. Auch thematisch ist es außerordentlich weitreichend: es enthält Mythen, Heldenlieder, Heldensagen, ätiologische Geschichten, aber auch geschichtliche Überlieferung. Den Fleiß bei der Sammlung des Stoffes spricht Saxo auch niemand ab. Viel schlechteren Ruf haben dagegen die Methoden, die er bei der Verarbeitung dieses Materials einsetzte. Der berühmte Saxo-Forscher Paul Herrmann sagt in seinem Kommentar, dass Saxo „Nirgends […] eine kritische Grundregel [aufstellte], geschweige denn eine kritische Methode […]. Ein Gelehrter, ein Forscher […] war er nicht.“⁴⁷ Das ist aber sicher nicht die ganze Wahrheit. In der Einleitung seines Buches behauptet Saxo, dass er eine ‚treue Kunde über die Vorzeit‘ (fidelem vetustatis notitiam) und kein ‚inhaltleeres Wortgepränge‘ (nugacem sermonis luculentiam) geben will, und dass sich sein Werk so treu an die Quellen halten soll, dass es als ‚Erzeugnis der alten Zeiten‘ (antiquitus edita) gelten kann, und nicht als ein ‚frisch geschaffenes‘ (recenter conflata) Buch.⁴⁸ Er führt auch seine Quellen an: es sind alte dänische Heldenlieder und auch Runeninschriften, deren Benutzung als historische Quelle in so früher Zeit sehr überraschend wäre – wenn wir Saxo in diesem Punkt nur glauben

44 Er bezeichnet sich selbst als ihr comes (Gesta Danorum (Holder 1886), Prolog S. 1). 45 In diesen Bedeutungen benutzen das Wort clericus die zeitgenossischen Quellen (siehe History of the Danes (Davidson 2002,) 2, S. 10). Curt Weibull findet bei Saxo ‚antiklerikalische Züge‘ und meint, dass er an der Seite von Hvide-Familie gestanden hat (Weibull 1978, passim). Anders meint Paul Herrmann, der einerseits auch auf Saxos kühle Beziehung zur Religion hinweist, anderseits bei ihm einige typisch klerikalische Phänomene findet, z.B. „wollüstiges Ausmalen delikater Situationen. Nur zu oft merkt man den impotenten Geistlichen, der sich das, was ihm seine Religion versagte, um so üppiger in seiner Phantasie vorstellte“ (Saxo Grammaticus (Herrmann 1901/22), 2, S. 39–41). 46 Res Danie gestas literis prosequi (Gesta Danorum (Holder 1886), Prolog S. 1). 47 Saxo Grammaticus (Herrmann 1901/22), 2, S. 57. Vgl. die Meinung von Jan de Vries: „Er hat keine Mühe gespart, um den Stoff zu seinem Werk zu sammeln; aus schriftlichen wie aus mündlichen Quellen hat er fleißig geschöpft und damit geschaltet wie ein mittelalterlicher Historiker sich das erlauben durfte. Eine objektive Darstellung darf man deshalb nicht erwarten“ (de Vries 1941/42, § 190). 48 Gesta Danorum (Holder 1886), Prolog 3.

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dürften.⁴⁹ Weiter nennt er zwei Männer, deren Berichten er Glauben schenkt: seinen Meister Absolon und einen gewissen Arnoldus Tylensis, also Arnold aus Thule (d.h. Island), der gewöhnlich mit dem Isländer Arnhallr Þorvaldsson identifiziert wird, einem der Skalden Valdemars des Grossen (1157–1182).⁵⁰ Der letztgenannte ist wegen seiner isländischen Herkunft besonders wichtig, weil Saxo die historische Glaubwürdigkeit der Berichte der Isländer ausdrücklich lobt und weiter sagt:⁵¹ Quorum thesauros historicarum rerum pignoribus refertos curiosius consulens, haut parvam presentis operis partem ex eorum relacionis imitacione contexui: nec arbitros habere contempsi, quos tanta vetustatis pericia callere cognovi. ‚Ihre mit geschichtlichen Zeugnissen angefüllten Schatzkammern habe ich eifrig zu Rate gezogen und einen nicht geringen Teil des vorliegenden Werkes auf der Wiedergabe ihrer Berichte aufgebaut und habe nicht verschmäht, bei denen mir Rat zu holen, die ich eine so eingehende Kenntnis des Altertums besitzen sah.‘

Ein Problem ist freilich, dass die damals existierenden Werke der isländischen (geschweige der dänischen) Geschichtsschreiber nicht einmal ein Zehntel der Informationen enthalten, die wir in Saxos Werk finden. Wir müssen also mit einem großen Anteil der mündlichen Tradition rechnen, was durch die oft wiederholte Einführungsformel ‚die Vorzeit sagt‘ (antiquitas fert),⁵² ‚die Alten berichten‘ (tradunt veteres)⁵³ oder einfaches ‚es wird berichtet‘ (tradunt)⁵⁴ bestätigt wird. Saxo übt zwar keine Quellenkritik, trotzdem entdecken wir bei näherer Lektüre seine Arbeitsmethode. Ich möchte sie an drei Stellen demonstrieren, die alle die Lebensgeschichte des Helden Starkaðr betreffen. Der Geschichtsschreiber Saxo kommt schon bei dem Bericht von Starkaðrs Geburt zu Wort:⁵⁵ Fabulosa autem et vulgaris opinio quedam super ipsius ortu racioni inconsentanea atqve a veri fide penitus aliena confinxit. Tradunt enim quidam, quod a gigantibus editus monstrosi generis habitum inusitata manuum numerositate prodiderit […]. ‚Die sagenhafte und volkstümliche Ansicht (fabulosa et vulgaris opinio) über seine Entstehung hat manches erdichtet (confinxit), das der Vernunft widerspricht (racioni inconsentanea) und von

49 Verum eciam maiorum acta patrii sermonis carminibus vulgata lingue sue [Danie] litteris saxis ac rupibus insculpta (Gesta Danorum (Holder 1886), Prolog 3). 50 Siehe Gesta Danorum (Holder 1886), 14, S.  594 und Skáldatal (Guðni  Jónsson 1985), S.  352 (s.v. Valdimarr Knútsson). Vgl. Saxo Grammaticus (Herrmann 1901/22), 2, S. 19. Jan de Vries bemerkt aber mit Recht, dass in diesem Fall das Treffen mit Arnhall in Saxos siebtem Lebensjahr stattgefunden haben müsste (de Vries 1941/42, § 190). 51 Gesta Danorum (Holder 1886), Prolog S. 3 (Übersetzung nach Herrmann). 52 Siehe z.B. Gesta Danorum (Holder 1886), 1, S. 10. 53 Siehe z.B. Gesta Danorum (Holder 1886), 5, S. 184. 54 Siehe z.B. Gesta Danorum (Holder 1886), 5, S. 183. 55 Gesta Danorum (Holder 1886), 5, S. 182 f. (Übersetzung nach Herrmann).

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Glaubwürdigkeit weit entfernt ist (a veri fide penitus aliena). Eine Sage erzählt nämlich, dass er von Riesen abstamme und seine Zugehörigkeit zu diesem Geschlechte durch eine unheimlich große Zahl von Händen bewiesen habe […].‘

Diese ‚Fabel‘ (opinio) vom achtarmigen riesenhaften Starkaðr kennen wir aus einer ganzen Reihe altnordischer Quellen: vom Skalden Vetrliði Sumarliðason (10. Jh.),⁵⁶ aus dem anonymen Heldengedicht Víkarsbálkr (unbekannten Alters),⁵⁷ und endlich aus der Gautreks saga⁵⁸ und Heiðreks saga,⁵⁹ die fast sicher später als Saxos Werk niedergeschrieben wurden. Der Held Starkaðr Stórvirksson ist hier ein Enkel des Riesen Starkaðr, der den Beinamen áludrengr (‚Álakämpfer‘ oder ‚Sohn der Ála‘) trägt, und im Wasserfall Álufossar lebt, der wahrscheinlich mit dem heutigen Ulefos in Telemarken identisch ist, dessen acht Mündungsarme – wie die Anhänger der Naturmythologie anführen – die acht Arme symbolisieren sollen.⁶⁰ Starkaðr áludrengr entführt Álfhild, die Tochter des König Álfr, und mit ihr zeugt er Stórvirkr, den Vater des zukünftigen Helden. Nach Saxos Meinung ist aber diese Geschichte eines dämonischen Ursprungs des Helden (der in seinen Taten wirklich viele dämonische Züge zeigt) nur späteres ungebildetes Beiwerk, das den historischen Kern der Geschichte bedeckt. Und die Aufgabe des Historikers ist, gerade die späten Zutaten von der historischen Wahrheit zu trennen. Dazu setzt er vor allem seine ‚Vernunft‘ (racio) und die ‚wahre Glaubwürdigkeit‘ (vera fides) ein. Die weisen den Weg von der Fabel (opinio), die die Überlieferung verbirgt, zur Geschichte. Die Vernünftigkeit und Glaubwürdigkeit sind nämlich für Saxo immanente Bestandteile des Geschehens selbst: was geschieht (oder je geschah), kann nicht unvernünftig oder unglaubwürdig sein. Gerade deshalb können Vernunft und Glaubwürdigkeit als Mittel der historischen Arbeit immer eingesetzt werden. Einer solchen Ansicht würde heute wahrscheinlich kein Historiker widersprechen, trotzdem ist sie nicht unproblematisch. Schauen wir uns ein zweites Beispiel an, das die von Starkaðr durchgeführte Opferung von König Víkarr betrifft. Ich möchte aber vor Saxos Beschreibung eine andere desselben Vorgangs zitieren, die sich in der isländischen Gautreks saga befindet. König Víkarr soll nach dem Losentscheid dem höchsten Gott Óðinn geopfert werden. Das königliche Heer wehrt sich aber gegen diese Entscheidung und mit Dank wird Starkaðrs Vorschlag angenommen, statt des wirklichen Opfers ein Scheinopfer vorzunehmen. Der König soll auf einem dünnen Ast mit Kalbsdärmen statt mit einer Schlinge erhängt werden und mit einem Rohrsproß soll sein Durchbohren angedeutet werden. Aber in dem Augenblick, wo dieses Gaukelspiel aufgeführt werden soll,

56 Lausavísur Strophe 1, Zeile 3 ((Skjaldedigtning (Finnur Jonsson 1912–15), 1, S. 127). 57 Víkarsbálkr (Heusler / Ranisch 1903), 23. 58 Gautrekssaga (Ranisch 1900), c. 3. 59 Heiðreks saga (Jón Helgason 1924), c. 1. 60 Uhland 1865–73, 6, S. 103.

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nehmen die Dinge einen anderen Lauf und die Gottheit nimmt sich trotz aller Schutzmaßnahmen das ihr gelobte Opfer:⁶¹ Þá stakk Starkaðr sprotanum á konungi ok mællti: ‚Nú gef ek þik Óðni.‘ Þá lét Starkaðr lausan furukvistinn. Reyrsprotinn varð at geir ok stóð í gegnum konunginn. Stofninn fell undan fótum honum, en kálfsþarmarnir urðu at viðju sterkri, en kvistrinn reis upp ok hóf upp konunginn við limar, ok dó hann þar. ‚Starkad stach mit dem Spross nach dem König und sprach: ‚Nun weihe ich dich Odin.‘ Dann ließ Starkad den Föhrenast los. Der Rohrsproß verwandelte sich in einen Speer und durchbohrte den König. Der Stumpf [auf dem der König stand] fiel unter seinen Füßen weg, die Kalbsdärme verwandelten sich in ein starkes Halseisen. Der Ast schnellte in die Höhe und beförderte den König hinauf in das Geäst: dort starb er.‘

Saxo reproduziert die Geschichte relativ treu, aber in dem Augenblick, wo sich die Gegenstände der menschlichen Kontrolle zu entziehen beginnen und ihre Form sich wunderartig wandelt, ist er mit seiner Geduld am Ende. ‚Starkaðr‘, sagt er ganz klar, ‚entriss [dem König] mit dem Schwerte den Rest an Leben, und […] offenbarte […] seine Treulosigkeit.‘⁶² Das Überlieferte entpuppt sich durch seine Unvernünftigkeit und Unglaubwürdigkeit wieder als eine Fabel (opinio), die keinen Anspruch an Wahrheit erheben kann:⁶³ Neque enim illa michi recensenda videtur opinio, qve viminum molliciem, subitis solidatam complexibus, ferrei morem laquei peregisse commemorat. ‚Denn ich denke, die Ansicht (opinio) ist nicht in Betracht zu ziehen, dass sich die weichen Ruten plötzlich zu einem festen Knoten verschlungen hätten, der wie eine eiserne Schlinge gewirkt hätte.‘

Das ist aber ein sehr zweischneidiger Ausspruch. Einerseits ist klar, dass in der Welt des Alltags sich eine Rute oder Kalbsdärme wirklich nicht in eine Schlinge verwandeln können. Aber in der Welt des Mythos? Wir kennen aus der Mythologie verschiedener Kulturen hunderte Parallelen, die uns bezeugen, dass eine solche Art des Geschehens der mythischen Logik überhaupt nicht widerspricht, ja, dass sie im besten Einklang mit ihr steht. Und hier beginnen wir uns mit dem Problem der saxonischen Quellensauslegung in seiner ganzen Breite zu befassen.⁶⁴

61 Gautrekssaga (Ranisch 1900), c. 7. 62 Starcatherus adhuc palpitanti ferro spiritus reliquias evulsit … perfidiam detexit (Gesta Danorum (Holder 1886), 6, S.184). 63 Gesta Danorum (Holder 1886), 6, S. 184 (Übersetzung nach Herrmann). 64 Es ist interessant zu bemerken, wie auch die Meinungen der modernen Forscher über die Herkunft Starkaðrs auseinander gehen. Die rationalisierenden Forscher geben Saxo in seinem Urteil recht (siehe Schneider 1928–34, 2/1, S.  150–152; Schäffer 1937, S.  85–87). Die Forscher, die sich mit

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Wir haben schon gesagt, dass sich Saxo um eine Universalgeschichte bemüht, das heißt, er versucht Narrative aller Art  – geschichtliche Berichte, Mythos und Heldensage  – in ein einheitliches Bild der dänischen Geschichte einzugliedern. Er bemüht sich aber um noch mehr: In der menschlichen Vernunft sucht er auch ein Universalmittel der kritischen Geschichtsschreibung, mit dessen Hilfe alle Quellen untersucht und auf ihren Wahrheitsgehalt bewertet werden können. Dieser Anspruch ist aber sehr problematisch. Es wird heute kaum jemand mehr bestreiten, dass die Mythen eine gewisse Art von Wahrheit enthalten, und dass sie uns über die geistige Welt alter Kulturen wertvolle Informationen liefern. Das bedeutet aber noch nicht, dass wir in ihnen historische Wahrheit suchen sollen. Ihre Wahrheit ist von einer anderen Art und darf mit der historischen Wahrheit nicht verwechselt werden. Saxo sieht die Sache aber anders, denn für ihn führt das kritische Benutzen der Vernunft zu einer Universalmethode, die man auf alle Überlieferungsgattungen applizieren kann. Deren Verwendung soll wiederum zu einer Universalwahrheit führen, die die ganze Welt umfasst und für alle Zeiten – historische Gegenwart, mythische Vorzeit und legendäre Heldenzeit – gültig sein soll. Und so kommt er zu Resultaten, die aus heutiger Sicht auch rein rational kaum akzeptabel sind. Schauen wir uns ein drittes Zitat an, das die Situation nach Starkaðrs Kampf gegen die zwölf Söhne von Arngrímr auf der Rolyngheide beschreibt. Starkaðr hat den Kampf gewonnen, hat seinen Sieg aber mit einer schweren Verwundung bezahlen müssen:⁶⁵ Igitur consumpto pene robore, saxo, quod in vicino forte situm erat, genibus advolutus, paulisper eidem accliuis incubuit; cuius cava adhuc superficies cernitur, ac si illam decubantis moles conspicua corporis impressione signasset. Ego autem hanc imaginem humana arte elaboratoram reor, cum veri fidem excedere videatur, insecabilem petre duriciam ita cere molliciem imitari potuisse, ut solo innitentis contactu, humane sessionis speciem representaret, habitumque perpetue concavitatis indueret. ‚Als daher seine Kraft beinahe aufgezehrt war, schleppte er sich auf den Knien bis zu einem Steine, der in der Nähe lag und lehnte sich ein wenig an ihn. Noch heute sieht man seine Oberfläche ausgehöhlt, als ob das Gewicht des sich Anlehnenden einen deutlichen Abdruck des Körpers gekennzeichnet hätte. Ich denke aber, diese Erscheinung ist von menschlicher Kunst hervorgebracht; denn es übersteigt doch wohl alle Glaubwürdigkeit (vera fides), dass ein harter Stein, den man nicht schneiden kann, sich wie weiches Wachs verhalten haben solle, so dass er nur infolge der Berührung des sich aufstützenden Mannes das Bild eines menschlichen Sitzes sehen ließe und auf Dauer eine Aushöhlung bekäme.‘

Mythos näher beschäftigt haben (z.B. de Vries 1965, S. 27, 29–31 und 35) sind dagegen überzeugt, dass am Anfang die dämonische Gestalt des Herren des Wasserfalls stand, die erst später zum Held wurde. Einen (wenig glaubhaften) Mittelweg ging Axel Olrik, der meint, dass der Held Starkaðr und der Riese Starkaðr zwei unabhängige Gestalten waren, die erst später aufgrund des identischen Namens verschmolzen wurden (Olrik 1903–10, 2, S. 178–81). 65 Gesta Danorum (Holder 1886), 6, S. 197 (Übersetzung nach Herrmann).

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Wir sehen hier wieder die gleiche Denkweise: Der der Logik der Heldensage ganz angemessene Bericht (wie viele solche Steinaushöhlungen werden bis zum heutigen Tag noch gezeigt!) wird durch rationale Kritik in eine Quasigeschichte verwandelt, die aber selbst – und das muss man betonen – der Rationalität nicht viel besser entspricht. Denn: sollen wir uns wirklich einen unbekannten vorzeitlichen Künstler vorstellen, der sich in seiner Freizeit damit beschäftigt, in einen Stein auf Rolyngheide gerade das Gesäß eines berühmten Helden zu meißeln? Das wäre wirkliche Avantgarde, an die wir selbst in Dänemark zu so früher Zeit kaum glauben können. Die rationalistische Methode stößt hier an ihre Grenze.

Snorri Sturluson. Die Methode Die Maximen, die das historische Werk des isländischen Geschichtsschreibers, Mythographen, Literaturtheoretikers, Gesetzsprechers und Politikers Snorri Sturluson (1178–1241) kennzeichnen, sind von denen des Saxo Grammaticus völlig verschieden. Das bedeutet nicht, dass Snorris Werke weniger rationalistisch seien. „Snorri war die Vernunft selbst“, sagt Finnur Jónsson, der große Historiker der altnordischen Literatur.⁶⁶ Snorris Rationalismus war aber von einer völlig anderen Art. Wir haben gesehen, dass Saxos Methode sich auf seine Überzeugung von der Rationalität der Welt und allen Geschehens gründete. Eine so verstandene Rationalität gab dem Geschichtsschreiber die Möglichkeit, die Wahrheit der Berichte zu bewerten, die aus Quellen aller Art gesammelt wurden. Für Snorri war die Vernunft genau so wichtig, sie diente aber nicht zur Bewertung des Geschehens selbst, vielmehr der Quellen, die das Geschehene beschrieben. Wie Saxo verzeichnete auch Snorri die Quellen, die ihm zur Verfügung standen: Skaldengedichte, geschriebene Werke und mündliche Tradition. Im Kontrast zu Saxo widmet aber Snorri relativ große Aufmerksamkeit der Bewertung und Hierarchisierung der Quellen. Snorri ist, wieder im Kontrast zu Saxo, entschieden der Meinung, dass sagenhafte Berichte direkt aus aktuellen Nachrichten entstanden, ohne fabulierender Tätigkeit der Phantasie, durch einfaches Erinnern und Wiederholen:⁶⁷ Spurðu menn […] tíðindi […] ok var þat síðan í minni fœrt, ok haft eptir til frásagna. ‚Die Leute erfuhren […] die Neuigkeiten (tíðindi) […] und die wurden später im Gedächtnis gehalten und die Leute wiederholten sie in ihren Berichten (frásagnir).‘

66 Finnur Jónsson 1920–24, 2, S. 716. 67 Óláfs saga helga hin sérstaka (Johnsen / Jón Helgason 1941), Prolog.

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Aber trotz der Tatsache, dass solche Berichte ohne jegliche Erdichtung und Zudichtung entstehen, ist ihr historischer Wert überhaupt nicht gesichert. Snorri weiß nämlich gut, dass das Wiederholen, das die ungeformten Neuigkeiten (tíðindi) in geformte sagenhafte Berichte (frásagnir) transformiert, ihren historischen Wert auch erheblich mindern kann. Gerade das, was die mündliche Tradition ausmacht – die lange Zeit des Tradierens und die Menge der Tradierenden, die die Berichte wiedergeben – macht sie zu einer sehr problematischen Quelle, wie Snorri in seiner Einleitung zur Selbständigen Saga bemerkt:⁶⁸ En sǫgur þær er sagðar eru, þá er þat hitt at eigi skiliz ǫllum á einn veg, en sumir hafa eigi minni þá er frá líðr hvernig þeim var sagt, ok gengz þeim mjǫk í minni optliga, ok verða frásagnir ómerkilegar. Þat var meirr en cc. vetra xii. rǫð, er Ísland var byggt áðr menn tøki hér sǫgur at rita, ok var þat lǫng æfi […]. ‚Aber die Sagas, die erzählt werden, werden erstens nicht von Allen auf dieselbe Weise verstanden. Zweitens haben einige Leute kein gutes Gedächtnis, so dass sich in ihm vieles schnell ändert und der Charakter des Erzählten bald verschwindet. In dieser Weise werden sagenhafte Berichte (frásagnir) unverbürgt (ómerkiligar). Und es war mehr als zwei hundert und zwölf Jahre nach der Besiedlung Islands, als die Leute begannen, die Sagas niederzuschreiben und das ist eine lange Zeit […].‘

Wie soll also nun ein Historiker die mündliche Tradition benutzen? Wir haben gerade erfahren, dass der Hauptgrund ihrer Unzuverlässigkeit der Mangel an der Intelligenz und dem Gedächtnis der Tradierenden ist. Deshalb spielen bei Snorri die namentlich tradierten Geschichten, deren Tradierenden man diese Eigenschaften zusprechen kann, eine viel wichtigere Rolle. Snorri verzeichnet mehrere Ketten der Tradenten, bei denen ihr Gedächtnisvermögen, Intelligenz und Wille zur Wahrheit betont wird: sie sind minnigr (‚mit gutem Gedächtnis‘), vitr (‚intelligent‘), stórvitr (‚hochintelligent‘), sannfróðr (‚wahrheitskundig‘) und sannreyndr (‚in Wahrheit erprobt‘):⁶⁹ Hallr [Þórarinsson] var maðr stórvitr ok minnigr. Hann munði þat, er Þangbrandr prestr skírði hann þrévetran […]. Var [Ari Þorgilsson] forvitri ok svá gamall, at hann var fœddr næsta vetr eptir fall Haraldz Sigurðarsonar. Hann ritaði, sem hann sjálfr segir, æfi Nóregs-konunga eptir sǫgu Oddz Kolssonar, Hallzsonar af Síðu, en Oddr nam at Þorgeiri afráðskoll, þeim manni, er vitr var ok svá gamall at hann bjó þá í Nidarnesi, er Hákon jarl inn ríki var drepinn […] ok þykki mér hans sǫgn ǫll merkiligust.

68 Óláfs saga helga hin sérstaka (Johnsen / Jón Helgason 1941), Prolog. 69 Heimskringla (Finnur Jónsson 1966), Prolog = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S. 22; neben den hier angeführten Belegen siehe z.B. Haraldssona saga (Saga Inga konungs ok brœðra hans), c. 11 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 3, S. 285; Óláfs saga helga hin sérstaka (Johnsen / Jón Helgason 1941), Prolog; Haralds saga harðráða (Finnur Jónsson 1966), c. 36. Vgl. Beck 1999, S. 1 f.

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‚Hall [Thorarinsson] war ein sehr weiser (stórvitr) Mann mit einem großartigen Gedächtnis (minnigr). Er konnte sich noch daran erinnern, wie der Priester Thangbrand ihn im Alter von drei Jahren getauft hatte […]. [Ari Thorgilsson] war ein äußerst kluger und bewanderter (forvitri) Mann und so alt, dass er ein Jahr nach König Harald Sigurdssohns Tod geboren wurde. Er schrieb, wie er selbst angibt, das Leben der Norwegerkönige nach der Erzählung (saga) Odd Kolssohns, der ein Sohn von Hall-von-Seite war. Aber Odd hatte seinen Bericht von Thorgeir Afradskoll, einem sehr kundigen (vitr) Mann, der so alt war, dass er an der Nidmündung noch saß, als Jarl Hakon der Mächtige erschlagen wurde […] und [Aris] Bericht halte ich alles in allem für [am meisten] verbürgt (merkiligust).‘

Wenn also die notwendigen Bedingungen erfüllt sind, kann auch die mündliche Tradition als ‚verbürgt‘ (merkiligr) bezeichnet werden, ein Begriff, dem unser ‚historisch wahr‘ am nächsten kommt. Aber gegen die mündliche Tradition, die diesen Kriterien nicht entspricht und gegen ihre Verwendung als Quelle äußert sich Snorri sehr kritisch:⁷⁰ [Haraldr] var orrostumaðr mikill ok inn vápndjarfasti; hann var sterkr ok vápnfœrr betr en hverr maðr annarra, svá sem fyrr er ritat; en þó er mikla fleira óritat hans frægðaverka; kømr til þess ófrœði vár ok þat annat, at vér viljum eigi setja á bœkr vitnislausar sǫgur; þótt vér hafim heyrt rœður eða getit fleiri hluta, þá þykkir oss heðan í frá betra, at við sé aukit, en þetta sama þurfi ór at taka. ‚[Harald der Harte] war ein großer Kriegsmann und äußerst waffentüchtig. Er war stark und als Krieger erfolgreicher als irgendjemand, der früher beschrieben wurde. Und doch sind noch viel mehr seiner berühmten Taten nicht aufgezeichnet. Das liegt teils an unserem mangelhaften Wissen, teils aber auch daran, dass wir hier in diesem Buche nicht unbezeugte Erzählungen (vitnislausar sǫgur) aufzeichnen wollen. Obwohl wir mancherlei Reden (rœður) und noch andere Dinge erzählen hörten, so scheint es uns hinfort doch besser, wenn etwas später hinzugefügt werden kann, als dass etwas ausgeschieden werden müsste.‘

Die Berichte, deren Ursprung und Traditionsgang unsicher sind, sind nichts mehr als ‚Gerede‘ (rœður) und ‚unbezeugte Sagenberichte‘ (vitnislausar sǫgur) die in einem Geschichtsbuch keinen Platz haben. Snorris Auffassung der Geschichte wird trefflich ‚Geschichte der Augenzeugen‘ genannt, wir müssen aber gleich zufügen: „und derer, die ihre Berichte treu bewahrt haben.“⁷¹ Zu den zuverlässigen Quellen der Geschichtsschreibung können wir aber außer der gut bezeugten mündlichen Tradition noch eine Quelle zählen, die eigentlich

70 Haralds saga harðráða (Finnur Jónsson 1966), c. 31 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 3, S. 107 f.; der Sinn des letzten Satzes ist nicht ganz klar. Niedner übersetzt: ‚[…] so scheint es uns hinfort noch besser, dass wir etwas hinzusetzen, als dass wir in Notwendigkeit versetzt werden, eben diese Sachen ganz zu unterdrücken,‘ Monsen und Smith dagegen und – meiner Meinung nach – richtiger ‚[…] it seems to us better, that some things might be put in hereafter than that it should be needful to take them out‘ Heimskringla (Monsen / Smith 1932). 71 Beck 1999, S. 9 f.

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noch größeren Wahrheitsgehalt beanspruchen darf: die Skaldendichtung. Auch hier wird von der Analyse der mündlichen Tradition ausgegangen. Bei den Gedichten der Skalden wissen wir freilich nicht genau, wie und von wem sie tradiert wurden, haben aber andere Kriterien ihrer Unversehrtheit zur Verfügung:⁷² En þó þykki mér þat merkiligast til sanninda er berum orðum er sagt í kvæðum eða ǫðrum kvaðskap þeim er svá var ort um konunga eða aðra hǫfðingja at þeir sjálfir heyrðu, eða í erfikvæðum þeim er skáldin fœrðu sonum þeirra. Þau orð er í kveðskap standa eru in sǫmu sem í fyrstu vóru ef rétt er kveðit þótt hverr maðr hafi síðan numit at ǫðrum, ok má því ekki breyta. ‚Und trotzdem scheint mit Rücksicht auf die Wahrheit am meisten verbürgt (merkiligast til sanninda), was mit klaren Worten in Preisgedichten und anderen Gedichten berichtet wird, die zum Lob der Könige und anderer Häuptlinge verfasst wurden, und die von diesen persönlich gehört wurden, oder in Erbgedichten, die von Skalden vor ihren Söhnen vorgetragen wurden. Denn die Worte, die sich in der Dichtung befinden, sind – wenn sie gut vorgetragen wird (rétt er kveðit) – gleich, wie sie zu Anfang waren (in sǫmu sem í fyrstu), obwohl sie später von einem Mann zum nächsten übergeben wurden, und deshalb können sie nicht verstümmelt werden.‘

Ist also ein skaldisches Gedicht metrisch fehlerfrei – ‚gut vorgetragen‘ (rétt er kveðit) in Snorris Terminologie – können wir es als eine sichere Quelle benutzen, die am treuesten (merkiligast) das wahre Bild der Vergangenheit liefert:⁷³ […] kvæðinn þykkja mér sízt ór stað fœrð, ef þau eru rétt kveðin ok skynsamliga upp tekin (‚die Skaldenlieder aber erscheinen mir am wenigsten geändert, wenn sie richtig vorgetragen (rétt kveðin) und vernünftig erklärt werden‘).

Snorri Sturluson. Die Ergebnisse Diese methodischen Grundsätze der Quellenkritik Snorris sind gut bekannt und mehrmals beschrieben. Wir sind etwas länger bei ihrer Beschreibung verweilt, um vergleichen zu können, zu welchen Ergebnissen Snorri mit seiner Methode kommt. Falls wir eine trockene, historisch-sachliche Beschreibung im positivistischen Sinne erwarten, werden wir grob enttäuscht. Besonders die Berichte von der ältesten Zeit Schwedens und Norwegens sind voll von Geschichten, deren Unglaubwürdigkeit in einem paradoxen Kontrast zu Snorris wissenschaftlicher Vorgehensweise zu stehen scheint. Wenn vom König Fjǫlnir berichtet wird, dass er in einem Fass Met ertrank, können wir vielleicht noch die historische Wahrheit des Berichts mit Hinweis auf die bekannte Trinksucht der Nordleute retten (Yng. c. 11). Wenn aber vom König Sveigðir berichtet wird, dass er – von einem Zwerge verlockt – mit seiner ganzen Gefolgschaft

72 Óláfs saga helga hin sérstaka (Johnsen / Jón Helgason 1941), Prolog. 73 Heimskringla (Finnur Jónsson 1966), Prolog = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S. 23.

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in einem Stein verschwand, um nie mehr aufzutauchen, scheint das ganz unhistorisch (Yng. c. 12). Und als eine Apotheose der Unglaubwürdigkeit kann die Geschichte vom schwedischen König Dagr Dyggvason gelten (Yng. c. 18). Dieser König, führt Snorri an, verstand die Sprache der Vögel, und hatte einen gezähmten Spatz, der ihn von Ereignissen in verschiedenen Ländern unterrichtete. Als der Spatz von einem dänischen Bauer in Vǫrvi getötet wurde, unternahm der König einen Rachefeldzug gegen Dänemark, bei dem er von einem dänischen Sklaven mit einer Heugabel erschlagen wurde. Snorri führt die ganze Geschichte ohne weiteren Kommentar als ein Faktum an, und stützt sich dabei auf das Gedicht Ynglingatal des norwegischen Skalden Þjóðólfr hvinnverski:⁷⁴ Frák at Dagr dauða orði frægðar fúss of fara skyldi, þás valteins til Vǫrva kom spakfrǫmuðr spǫrs at hefna. Ok þat orð á austrvega vísa ferð frá vígi bar, at þann gram of geta skyldi slǫngviþref Sleipnis verðar. ‚Dies‘, hört ich, war Dags Tod‘sflucht: Reisen musst‘ der Ruhmesgierige, bis Kampfpfeils kluger Lenker Spatzens Tod straft in Vǫrvi. Dags Heer bracht‘ diese Kunde fern nach Ost vom Fall des Herr‘n: So wollt‘s Urd, ihn Sleipnir-Mahles schling‘rnder Stab erschlagen sollte.‘

Es ist schwer zu sagen, wie solche Geschichten auf den Mensch wirken konnten, der nach der Aussage von Finnur Jónsson „Vernunft selbst“ war. Offensichtlich haben sie aber sein Vertrauen in die Wahrheit der Skaldengedichte nicht gemindert. Sorgfältige Quellenkritik steht im Kontrast zum absoluten Mangel an der Kritik des Inhalts.⁷⁵ Die

74 Ynglingatal, Str. 8–9 (Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), B1, S. 8) = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S. 44. 75 Bei der Erklärung dieser seltsamen Verschmelzung von Rationalität und Irrationalität in Snorris Arbeitsmethode wurde auch zu so exotische Rahmen gegriffen, wie z.B. der Theorie der fiktionalen Welten (Clunies Ross 1992, S. 208–210). Ähnliche Theorien, wie reizend sie auch wirken mögen, sind aber der Gedankenwelt Snorris doch weit entfernt. Wie Gerd Wolfgang Weber dazu trefflich bemerkt: „Allerdings ist hier der literarisch fixierte englische Begriff fiction […] vielleicht doch weniger hilfreich“ (Weber 1994, S. 126). Vgl. Gurewitsch 1971, S. 49. Die Arbeiten, die sich mit der historiographischen Terminologie Snorris ernsthaft beschäftigen, kommen zu einem eindeutigen Ergebnis: Dass

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erprobten Quellen sind nämlich für Snorri glaubwürdig ohne jede Rücksicht darauf, was sie sagen:⁷⁶ Tǫkum vér þat alt fyrir satt, er í þeim kvæðum finnsk […] (‚und wir halten für wahr alles (tǫkum vér þat alt fyrir satt), was sich in diesen Gedichten […] findet‘). Man sollte diese sorgfältige Formulierung nicht übergehen: Snorri sagt nämlich nicht, dass alles, was wir in der Skaldendichtung zu finden ist, auch notwendig wahr ist, sondern dass er es für wahr nimmt. Der Unterschied, wie klein er auch zu sein scheint, ist meiner Meinung nach ein Schlüssel zur ganzen historischen Methode Snorris. Snorri verzichtet nicht auf Wahrheit und Rationalität, ist sich aber dessen bewusst, dass sich im Laufe der Geschichte nicht nur äußere Gegebenheiten der Welt, sondern auch der Mensch und deshalb auch die Rationalität und die Wahrheit selbst ändert. Nur so ist es zu verstehen, dass die glaubwürdigsten Geschichtsquellen, die wir haben, von Sachen berichten, die für uns ganz unglaubwürdig sind. Das ist, meine ich, der Sinn der berühmten Worte, mit denen Snorri die Diskussion der Skaldendichtung abschließt:⁷⁷ Vér vitim eigi sannyndi á því, þá vitum vér dœmi til þess, at gamlir frœðimenn hafa slíkt fyrir satt haft (‚obwohl wir nicht genau wissen, was Wahres (sannyndi) daran ist, so wissen wir doch sicher, dass kundige Männer aus alter Zeit diese Überlieferung für wahr (satt) gehalten haben‘). Die weisen Männer alter Zeiten haben solche Berichte ‚für wahr gehalten‘ (hafa fyrir satt haft), wir dagegen können über deren Wahrheitsgehalt kein Urteil fällen. Der Grund ist bestimmt nicht darin zu suchen, dass wir vielleicht kritischer sind als sie. Gerade umgekehrt: ‚wir wissen nicht genau, was Wahres daran ist‘ (vér vitim eigi sannyndi á því). Sie haben gewusst, was wir nicht wissen. Snorri, in bemerkenswertem Kontrast zu Saxo, kritisiert nie die Urteile und Ansichten der Leute der früheren Zeiten. Es gibt aber Stellen, wo er umgekehrt vorgeht und das leichtsinnige Übertragen von neueren Ansichten auf frühere Zeiten kritisiert. Ein gutes Beispiel liefert die Passage, wo Snorri die Persönlichkeit Hákons des Mächtigen diskutiert. Der norwegische Jarl, ein überzeugter Heide und einer der mächtigsten Männer seiner Zeit, starb im Jahre 995, am Anfang der ersten Phase der Christianisierung Norwegens. Snorri beschreibt die Abneigung der späteren christlichen Generationen gegenüber der Person des Jarls und berichtet, dass er von ihnen den Beinamen ‚der böse Jarl‘ (jarl inn illi) erhalten habe. Er bemerkt dazu aber gleichzeitig folgendes:⁷⁸

für das historisches Denken von Snorri der Begriff der Wahrheit maßgebend war (Beck 1999, S.  1). Andrerseits ist klar, dass für Snorri dieser Begriff etwas anderes bedeutete als für uns, gerade deshalb lohnt es sich aber, ihn eingehender zu studieren. 76 Heimskringla (Finnur Jónsson 1966), Prolog = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S. 21. 77 Heimskringla (Finnur Jónsson 1966), Prolog = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S.  20; vgl. Ebel 1994, S. 100. 78 Óláfs saga Tryggvasonar (Finnur Jónsson 1966), c. 50 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 1, S. 258.

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En hitt er satt at segja frá Hákoni jarli, at hann hafði marga hluti til þess at vera hǫfðingi, fyrst kynkvíslir stórar, þar með speki ok kœnleik at fara með ríkdóminum, rǫskleik í orrostum ok þar með hamingjuna at vega sigrinn ok drepa fjándmennina […] Manna ǫrvastr var Hákon jarl, en ina mestu óhamingju bar slíkr hǫfðingi til dánardœgrs síns. En þat bar mest til er svá varð, at þá var sú tíð komin, at fyrir dœmask skyldi blótskaprinn ok blótmenninir, en í stað kom heilog trúa ok réttir síðir. ‚In Wahrheit (satt) aber muss man von Jarl Hakon sagen, dass er viele Eigenschaften eines richtigen Häuptlings in sich vereinigte. Zuerst stammte er aus hohem Geschlecht, dazu besaß er Klugheit und tüchtige Begabung zur Führung der Herrschaft, endlich kam dazu seine Beherztheit in Schlachten und daneben sein Glück (hamingja) bei der Gewinnung von Siegen und bei der Erschlagung der Feinde […] Hakon Jarl war ein äußerst freigiebiger Mann, aber das größte Unglück (óhamingja) traf den so gewaltigen Häuptling an seinem Todestage. Am meisten aber wirkte hierzu mit, dass jetzt die Zeit gekommen war, wo das Blutopferwesen und die heidnischen Blutopferer gerichtet werden sollten: an ihre Stelle traten jetzt der heilige Glaube und gute christliche Sitten.‘

Die Passage stellt uns den historischen Bruch der Zeit deutlich vor Augen: ‚Am meisten aber wirkte hierzu mit, dass jetzt die Zeit gekommen war […]‘ (en þat bar mest til er svá varð, at þá var sú tíð komin). In der neuen Zeit änderten sich nicht nur Religion und gesellschaftliche Werte. Es änderte sich das menschliche Denken und deshalb auch Sachen, die wir zu oft für ‚Fakten‘ halten, die aber auf unserer Weltanschauung beruhen und sich mit deren Änderung notwendigerweise auch ändern müssen. Ob jemand ein Glückspilz oder ein Pechvogel ist, können wir vielleicht als ein objektives Faktum betrachten, in Snorris Augen ist dem allerdings überhaupt nicht so. Deshalb wird des Jarls Familienglück (hamingja), das dem Herrscher und dem Lande Prosperität lieferte, am Ende seines Lebens zum ‚Unglück‘ (óhamingja).⁷⁹ Der norwegische Forscher Bjarne Fidjestøl hat einmal gesagt, Snorris „historische Perspektive impliziere ein klares Bewusstsein der Distanz, die zwischen seiner eigenen Situation liegt und den Zeiten, von denen er spricht.“⁸⁰ Was bedeuten aber

79 Das ‚königliche Glück‘ (hamingja konungs) bleibt seit dem Religionswechsel nur den christlichen Königen vorbehalten. Vgl. Bagge 1994, S. 16–18. 80 „Historical perspective implies that the narrator is conscious of the distance between his situation and the time in which his narrative is placed“ (Fidjestøl 1997, S. 349). Denselben Perspektivenwechsel können wir bei Snorri auch an anderen Stellen beobachten, z.B. da, wo Snorri von den Wunderheilungen des heiligen Óláfs spricht: ‚Und damals begann zuerst der Glaube im Volke, daß der König so heilkräftige Hände habe, wie sie den Männern nachgerühmt wurden, die in der Kunst (íþrótt) wohl bewandert waren, heilkräftig durch Handauflegung zu wirken. Später aber, als seine Wunderwirkung (jartegnagørð) allem Volke bekannt wurde, hielt man dies für ein wahres Wunder (jartegn)‘ (var þá fyrst á þannug virt, sem Óláfr konnungr hefði svá miklar læknishendr, sem mælt er um þá menn, sem mjǫk er sú íþrótt lǫgð, at þeir hafi hendr góðar, en síðan er jartegnagørð hans varð alkunnig, þá var þat tekit fyrir sanna jartegn) Óláfs saga hins helga (Finnur Jónsson 1966), c. 189 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 337. Die Passage zeigt klar Snorris ‚epochengebundenes‘ Denken. Im Kontext der mittelalterlichen Wunderheilung (jartegnagørð) ist die Tat Óláfs als Wunder (jartegn) betrachtet, im heidnischen Kontext aber als bloße Kunst (íþrótt) mit den Händen (læknishendr) zu heilen.

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diese Worte für die Arbeit des Geschichtsschreibers, wenn wir sie konsequent akzeptieren? Der Geschichtsschreiber soll die Personen und ihre Taten immer im Kontext der Vorstellungen und Ansichten ihrer eigenen Zeit bewerten. Er selbst hat keinen direkten Zugang zu der Realität der vergangenen Epochen, nur zu der Tradition, die aus diesen Epochen geblieben ist. Diese Tradition – sowohl in mündlicher wie auch in der geschrieben Form – stellt aber nie die Realität dar, sondern bleibt – weil sie eine menschliche Schöpfung ist – immer nur eine Abbildung der Realität im Spiegel des menschlichen Geistes. Und der menschliche Geist ändert sich im Laufe der Zeit. Deshalb hat der Geschichtsschreiber kein Recht, in die Schilderung der glaubwürdigen Quellen einzugreifen, weil auch das beste Kriterium unserer Gegenwart sich als gänzlich verwirrend erweisen kann, wenn auf vergangene Zeiten appliziert. Unsere Kriterien sollten nur darauf angewendet werden, womit wir in der Gegenwart vertraut sind: auf die Form der Quellen. Der Hauptunterschied zwischen Snorri und Saxo liegt also in der unterschiedlichen Auffassung des wichtigsten Begriffs, mit dem die Geschichtsforschung umgeht: des Begriffs der Zeit und des Geschehens. Für Saxo ist die Zeit eigentlich nur ein oberflächliches Phänomen, eine flüchtige Erscheinung am unwandelbaren Grund der Welt, der durch die Gesetze der Vernunft begriffen werden kann, die selbst keinem Wandel unterliegen.⁸¹ Für Snorri ist dagegen eine ganz andere Haltung typisch: die Zeit zerfällt für ihn in eine Reihe von diskreten Epochen, von der jede anderen Gesetzlichkeiten unterliegt.⁸² Wie bekannt, war Snorri der erste, der einen Versuch unternahm, die Geschichte Skandinaviens in Perioden aufzuteilen. Und obwohl seine Einteilung in ‚Brennalter‘, ‚Hügelalter‘ und christliches Zeitalter mehrmals wissenschaftlicher Kritik unterzogen wurde,⁸³ ist sie ein klares Zeichen der geschichtlichen Dimension seines Denkens.

81 Als Bemühung diese ‚oberflächlichen Veränderungen‘ einzufangen, können wir die Verschiebungen in der Terminologie beim Übergang der Beschreibung von einer Epoche zur nächsten halten. So gebraucht Saxo bei der Bezeichnung der heidnischen Götter zu heidnischer Zeit das Wort dii, bei deren Beschreibung zu Zeiten des Christentums dagegen das Wort dæmoni (siehe Weber 1987, S. 107 f.). Davon aber, dass eine solche Änderung in der Bezeichnung auch eine Veränderung der eigentlichen Essenz der Götter signalisieren könnte, kann natürlich keine Rede sein. Bereits lange vor der Beschreibung der Ankunft des Christentums enthüllt Saxo die ‚Göttlichkeit‘ der heidnischen Götter als eine ‚erstaunliche Illusion, mit der der Geist des einfachen Volkes verdunkelt wurde‘ miranda prestigiorum machinatione […] obtentis simplicium animis (Gesta Danorum (Holder 1886), 6, S. 183). 82 Vgl. Beck 1999, S. 9. 83 Siehe Uecker 1966, S. 74. Vgl. Lindqvist 1920.

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Schluss Die kritischen Methoden Saxos und Snorris markieren zwei Höhepunkte der altnordischen Geschichtsschreibung. Sie zeigen klar auf, dass die altnordischen Historiker im Stande waren, Metahistorie zu schaffen, also den Rahmen, in dem die geschichtlichen Ereignisse geordnet und verstanden werden können. Und nicht nur das. Die Spannung zwischen den historischen Methoden Snorris und Saxos ist für uns zugleich ein Zeugnis der Bandbreite von Metahistorien, die sich in der altnordischen Geschichtsschreibung geltend machen. Um ein Gesamtbild davon zu erhalten, müssten noch viele Historiker und breitere historische Strömungen (von denen die christliche Geschichtsschreibung wahrscheinlich die wichtigste ist) untersucht werden.⁸⁴ Trotzdem dürfen wir abschließend mit gutem Gewissen sagen, dass die kritische Leistung der altnordischen Geschichtsschreiber kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Abstand, der die Methoden der altnordischen von heutigen Historikern trennt, scheint uns bei weitem nicht so groß, wie oft behauptet wird. Snorris Einstufung der Quellentexte nach ihrer Zuverlässigkeit, mit der Skaldendichtung an der Spitze, der mündlichen Überlieferung namentlich genannter Tradierenden in einer Mittelposition und der anonymen mündlichen Überlieferung ganz unten, entspricht mehr oder weniger dem Gebrauch heutiger Historiker. Die rationalistische Arbeitsweise Saxos ist nicht so weit vom Verfahren der positivistisch gesinnten Gebrüder Weibull entfernt.⁸⁵ Snorris Relativierung der historischen Wahrheit erinnert wieder an die Skepsis heutiger Historiker (z.B. White).⁸⁶ Die Ergebnisse, die uns die moderne Wissenschaft bringt, sind selbstverständlich reicher als die, die uns die Lektüre der altnordischen Historiker liefert. Es gibt viele neue historische Hilfsfächer wie Archäometrie oder Bilderforschung, von denen in älteren Zeiten niemandem auch nur schwahnte. Aber die Grundeinstellung, die Überzeugung, dass die Wahrheit nicht etwas auf der Hand liegendes sei, sondern dass sie mit Mühe den Quellen abgetrotzt werden müsse, die kritische Distanz zur unmittelbar wahrge-

84 Unter der christlichen Geschichtsschreibung verstehe ich hier nicht die Werke der christlichen Geschichtsschreiber. Alle hier genannte Geschichtsschreiber waren ja Christen, und wir müssten dann ebenso die ganze moderne europäische Geschichtsschreibung als ‚christliche Geschichtsschreibung‘ bezeichnen. Der christlichen Geschichtsschreibung möchte ich deshalb nur die Geschichtsschreiber einordnen, die ihre Glaubensvorstellungen explizit als aktives heuristisches Mittel bei Geschichtsauslegung benutzten. 85 Die paradoxerweise zu den aggressivsten Kritikern des saxonischen Werkes gehörten. Siehe u.a. Weibull 1911 und 1915. 86 Vgl. Ebel 1994, S. 98: „Die alten Isländer waren in Erkenntnis, daß das bloße Geschehen erst über gestalterisches Erzählen zur Geschichte wird, moderner als eine Sagaforschung der letzten Jahre, die aus Erzählmustern und literarischen Darstellungsformen sofort auf Fiktionalität schloss.“ Vgl. Miller 1996, S. 214: „[…] the authors of these texts were considerably more about and alert to how ‚topoi‘ […] might have been integrated into a social and cultural universe than the literary scholars who have claimed this topic as their own.“

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nommenen Realität, einfach all das, was einen ernsthaften Wissenschaftler ausmacht, ist bis heute gleich geblieben und wird hoffentlich auch in Zukunft so bleiben.⁸⁷

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87 Diese Studie wurde im Rahmen des Projekts für Entwicklung der wissenschaftlichen Fächer an der Karls-Universität Prag Nr. P09 realisiert (Literární brak: ‚triviální‘ a ‚pokleslé‘ žánry a podoby literatury z hlediska vývoje historického a z hlediska konceptů populární kultury).

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 Jiří Starý

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Matthias Teichert

Das Goldzeitalter: Latinität und Fragmente eines griechisch-römischen Mythos in der Gylfaginning Abstract: It is well established that Snorri Sturluson was a highly educated Christian writer with a great knowledge of medieval Latin and some of the classics, among them Virgil and Ovid, both of whom had major writings intensively copied and read in thirteenth-century Iceland. Although Snorri does not directly quote from any Latin source, it must be assumed that his Edda is indebted to medieval grammatical Latin writings such as Chirius Fortunatianus’ Ars rhetorica and Maurus Servius Honoratius’ De centrum metris. In Gylfaginning, ch. 14, in a text which is based upon Vǫluspá stanzas 7–8, Snorri alludes to an ancient time which he labels gulldaldr ‘Golden Age’, thus incorporating into Norse mythology the myth of the Golden Age which is known from Virgil, Ovid, Horace, and Tibullus. The alienness of this myth in Iceland is discernible from the fact that gullaldr is a hapax legomenon in Old Icelandic and from the use of the erudite term aldr as the latter element of the compound instead of the more common ǫld. This study explores Snorri’s adoption of the Virgilian and Ovidian myth of the Golden Age, as well as his rewriting of Norse cosmology and eschatology as a classicized version of the original ‘Germanic’ myth retold in Vǫluspá. It can be proved, for instance, that Snorri integrates elements of the Roman myth of the Silver Age into his account of a Nordic Golden Age. The present analysis of Gylfaginning, ch. 14 (and of ch. 53, which reprises significant features of ch. 14) emphasizes particularly the structural and narratological implications of the golden chequers motif, one which has hitherto been regarded as a paradigm of the narrative of the theft of a magic artefact and as a myth widespread in Indo-European and Finnic lore.

Dass – entgegen dem zählebigen, von der deutschen Islandromantik und Germanomanie des 19.  Jahrhundert geprägten Mythos des gegenüber fremden, zumal lateinischen und romanischen Einflüssen autarken altisländischen Schrifttums¹ – auch die altwestnordische Überlieferung und ihr Hauptzweig, die isländische Literatur des Mittelalters, allochthone Stoffe, Motive, Figurentypen und Erzählstrukturen

1 Vgl. hierzu Zernack 1994, S. 1–3.

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römischer,² spätantiker,³ mittellateinischer,⁴ byzantinischer,⁵ altfranzösischer und anglonormannischer,⁶ niederdeutscher,⁷ ja sogar arabischer⁸ Herkunft intensiv rezipiert, ist seit längerem bekannt und in der altskandinavistischen Forschung der vergangenen Dekaden materialreich dokumentiert worden. Aus der norrönen Übersetzungsliteratur und intertextuellen Verweisen in der einheimischen Sagaliteratur und Eddadichtung lässt sich für das westnordische Gebiet ein umfangreiches Translationsprogramm rekonstruieren, das die Kenntnis des Troja- und Aeneasmythos, der Sagenkreise um Dietrich von Bern und Karl dem Großen, des arthurischen Universums und weiterer ‚südländischer‘ Stoffe in den Schreibstuben des mittelalterlichen Norwegens und Islands belegt. Während im Fall der skandinavischen Adaptionen niederdeutscher Stoffe Zeit die kontinentalen Vorlagen nur trümmerhaft überliefert, verloren gegangen oder gänzlich unbekannt sind, lassen sich die westnordischen Bearbeitungen der matière de Bretagne, matière de France und matière de Rome la grant meist auf einen oder auf ein Bündel von Quellentext(en) in französischer oder lateinischer Sprache zurückführen. Das kulturelle und geistige Klima des europäischen Mittelalters bringt es mit sich, dass die lateinischsprachige Literatur wegen ihrer Transnationalität und des privilegierten Status ihres Idioms auch auf Island eine Vormachtstellung unter den rezipierten fremdsprachigen Textkorpora einnimmt. Den Inventarlisten der isländischen Bibliotheken und den Curricula der Lateinschulen lässt sich entnehmen, dass Lektürekanon und Fächerangebot in den Bildungseinrichtungen Islands um 1200 im Wesentlichen dem zeitgenössischen westeuropäischen Standard entsprachen, wenngleich in etwas verkleinertem Maßstab.⁹ Neben der Kenntnis des mittellateinischen Schrifttums mit vorrangig grammatischen, rhetorischen und enzyklopädischen Inhalten lässt sich für Island jedoch auch eine lebendige Rezeption kaiserzeitlicher römischer Epik, insbesondere der Hauptwerke Vergils und Ovids, nachweisen; Material aus der Aeneis, den Metamorphosen und der Georgica sind bis in die nordische Völsungen- und Nibelungentradition gelangt.¹⁰ Der altwestnordischen Anverwandlung des klassischen Mythos des ‚Goldenen Zeitalters‘

2 Vgl. ausführlich Paasche 1934, S. 113–145; Pétursson 1988, S. 53–63. 3 Z.B. die Dares-Phrygius-Rezeption in der Trójumana saga (vgl. Würth 1996, S. 43–56). 4 Z.B. die Übersetzung der Alexandreis Walters von Châtillon als Alexanders saga (vgl. Würth 1996, S. 103–118). 5 Zur Fülle oströmischer Stoffe, Figuren und Namen in den Fornaldarsögur und Märchensagas vgl. Marold 1979 und Mundt 1993. 6 Die altnordische arthurische und höfische Epik zumal in Gestalt der übersetzen Riddarasögur, etwa Tristrams saga und Parcevals saga (vgl. Kretschmer 1982). 7 Die sich auf explizit auf niederdeutsche Quellen berufende Þiðreks saga af Bern (vgl. KramarzBein 1996, S. ix). 8 U.a. das mehrfach auftretende Requisit des fliegenden Teppichs (vgl. Schlauch 1934, S. 92). 9 Würth 1996, S. 198. 10 Teichert 2008, S. 104–111.

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bzw. der ‚Goldenen Urzeit‘ in Snorri Sturlusons Gylfaginning, ein in der Sekundärliteratur bislang eher beiläufig erwähnter als systematisch erforschter Aspekt dieses mythographischen Textes, soll im Folgenden nachgegangen werden. Einflüsse der antiken und spätantiken Schriftkultur auf das Werk Snorri Sturlusons sind auf mehreren Ebenen erkennbar. Die Rezeption des Troja-Stoffes in der Ynglinga saga und im Snorra-Edda-Prolog ist das einschlägigste Beispiel. Auch die drei Hauptteile der Edda weisen Verbindungen zur lateinischsprachigen Literatur und Poetik auf. Für das Háttatal hat Anthony Faulkes auf eine Reihe spätantiker und mittellateinischer Texte hingewiesen, mit denen Snorri zumindest mittelbar vertraut gewesen sein dürfte, darunter die Ars rhetorica des Chirius Fortunatianus und den Versschlüssel De centrum metris des Maurus Servius Honoratius, beide aus dem 4. Jahrhundert.¹¹ Snorris poetologische Terminologie in den Skáldskaparmál scheint teilweise aus Lehnübersetzungen und Nachbildungen lateinischer Begriffe zu bestehen: fræði  – doctrina; dæmisaga  – exemplum; hǫfuðskáld (pl.)  – auctores oder die Wendung til fróðleiks ok skemtunar, eine altisländische Version des horazischen prodesse et delectare. Die Technik der Rahmenerzählung in der Gylfaginning hat zwar Vorläufer in der älteren nordischen Wissensdichtung und hier speziell in Vafþrúðnismál, weist aber noch größere strukturelle Parallelen zu mittellateinischen Schulbüchern wie dem weit verbreiteten Elucidarius des Honorius Augustodunensis auf.¹² Obgleich Snorri Sturluson nirgends explizit auf eine lateinische Vorlage Bezug nimmt, darf ihm aufgrund solcher Indizien und angesichts seines akademischen Hintergrunds als Absolvent der Lateinschule von Oddi zweifellos ein Maß an Latinität zugeschrieben werden, das neben der mittellateinischen Literatur wohl auch die Kenntnis einiger Klassiker, darunter insbesondere Ovid,¹³ umfasst. In Kapitel  14 der Gylfaginning sticht dem aufmerksamen Leser ein aus klassischer Mythologie und metaphorischem Sprachgebrauch vertrauter, mit Bezug auf die nordgermanische Mythologie aber exotisch anmutender Terminus ins Auge: der des goldenen Zeitalters oder Goldzeitalters – altisländisch gullaldr –, den Hár, die niedrigrangigste, aber auch gesprächigste und auskunftsfreudigste intradiegetische Narrationsinstanz des skurrilen Wissenswettstreits, in der Erzählung von den Anfängen

11 Faulkes 1998, S. xiv–xv. 12 Wenig überzeugend ist Lorenz’ These, dem Eddalied sei als formales Modell für die Rahmenhandlung der Gylfaginning Vorrang einzuräumen, „weil für den Dialog in ‚Vafþrúðnismál‘ und ‚Gylfaginning‘ die gleiche Voraussetzung zu geben ist: eine Wette auf Leben und Tod […]“ (Lorenz 1984, S. 30). Erstens gerät, wie Lorenz selbst konzedieren muss, das ‚Wettmotiv‘ (ebd., S. 30) im Verlauf der Rahmenhandlung zum blinden Motiv und wird an ihrem Ende mit dem plötzlichen Abbruch der sjónhverfing durch Hár, Jáfnhár und Þriði auch nicht aufgelöst, zweitens handelt es sich bei dem FrageAntwort-Duell zwischen Gylfi alias Gangleri und der Asentrias um eine asymmetrische Wettkampfsituation, die weit mehr an die fiktiven Magister-Discipulus-Dialoge der Enzyklopädistik erinnert als an das Wetträtseln auf Augenhöhe in Vafþrúðnismál. 13 Vgl. Clunies Ross 1987, S. 170 f.

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göttlicher Baukunst mit ihren Zentren Ásgarðr, Glaðsheimr und Víngólf verwendet. Bei dem Kompositum gullaldr handelt es sich um ein hapax legomenon, was darauf hindeutet, dass das Goldzeitalter als Begriff und Vorstellung in Snorris mythographischer Darstellung ein Fremdkörper ist. Die Textstelle, in der dieser rätselhafte Ausdruck fällt, lautet im Zusammenhang folgendermaßen: Þá mælti Gangleri: Hvat hafðiz Allfǫðr þá at er gǫrr var Ásgarðr? Hár mælti: Í upphafi setti hann stiórnamenn ok beiddi þá at dœma með sér ørlǫg manna ok ráða um skipun borgarinnar. Þat var þar sem heitir Iðavǫllr í miðri borginni. Var þat hit fyrsta þeira verk at gera hof þat er sæti þeira standa í, xii. ǫnnur en hásætið þat er Allfǫðr á. Þat hús er bezt gert á iǫrðu ok mest, allt er þat úta ok innan svá sem gull eitt; í þeim stað kalla menn Glaðsheim. Annan sal gerðu þeir, þat var hǫrgr er gyðiurnar áttu ok var hann allfagr; þat hús kalla menn Víngólf. Þar næst gerðu þeir þat at þeir lǫgðu afla, ok þar til gerðu þeir hamar ok tǫng ok steðia ok þaðan af ǫll tól ǫnnur, ok því næst smíðuðu þeir málm ok stein ok tré ok svá gnóglega þan málm er gull heitir, at ǫll búsgǫgn hǫfðu þeir af gulli, ok er su ǫlld kǫlluð gullaldr, áðr en spiltiz af tilkvámu kvennanna. Þær kómu ór Iǫtunheimum. Þær næst settuz guðin upp í sæti sín ok réttu dóma sína ok […].¹⁴

Das 14. Kapitel der Gylfaginning schließt inhaltlich unmittelbar an Kapitel Neun an, während sich die dazwischen liegenden Kap. 10–13 vorwiegend mit astronomischen Phänomenen befassen. In Kapitel 14 skizziert Snorri durch die Erzählerstimme Hárs die Entstehung und Beschaffenheit der mythischen Architektur, als deren stoffliche Basis er neben dem beiläufig erwähnten Holz die anorganischen Materialien Stein und (Metall-)Erz und unter diesem vor allem das Edelmetall Gold nennt, das die Asen mit Hammer, Zange und Amboss bearbeitet hätten – nachdem er zuvor, in den Kapiteln 8 und 9, von der Erschaffung Miðgarðrs und des ersten Menschenpaares Askr und Embla aus organischem Material und ohne explizite Erwähnung von Werkzeugen berichtet hat. Kulturhistorisch und werkstoffgeschichtlich schildert Snorri bzw. Hár damit nichts Geringeres als den Übergang von einer steinzeitlichen zu einer metallurgischen Kulturstufe.

14 Lorenz 1984, S. 208–210 (‚Hár sagte: Zu Anfang setzt er [Mit]Herrscher [ein] (auf ihren Platz) und verlangte von ihnen, mit ihm [über] das Schicksal der Menschen zu entscheiden und über die Ordnung der Burg zu beratschlagen. Das geschah auf dem Iðavöllr mitten in der Burg. Ihre ersten Arbeit bestand darin, einen Tempel (Collinder: ‚einen Hof‘ resp. ‚ein Gehöft‘) zu errichten, worin ihre Sitze stehen – zwölf außer Allföðrs Hochsitz. Dieses Gebäude ist am besten gebaut und das größte auf der Erde; es ist von außen und von innen ganz wie reines Gold; diesen Ort nennt man Glaðsheimr. Sie bauten ein weiteres Gebäude, einen hörgr, den die Göttinnen besaßen, es war sehr schön; dieses Gebäude nennt man Víngólf. Danach errichteten sie Schmieden (Schmiedeherde), und überdies stellten sie Hammer und Zange und Amboß her und fertigten alle anderen Werkzeuge (Geräte), seit dieser Zeit bearbeiteten sie Erz und Stein und Holz und vor allem Gold, so daß sie ihr gesamtes Hausgerät und alle Einrichtungsgegenstände aus Gold hatten, und diese Epoche wird Goldzeitalter genannt, bis es verdorben wurde durch die Ankunft der Frauen. Diese kamen aus Jötunheimar. Danach nahmen die Götter auf ihren Sitzen Platz, sprachen Recht (Neckel: ‚ordneten ihre Gerichte‘; Collinder: ‚urteilten‘) und […]‘).

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Das Goldzeitalter findet ein jähes Ende durch die Ankunft von Frauen aus Jǫtunheim, eine kryptische Aussage, die sich jedoch durch die Parallelstelle in Vǫluspá Str. 7–9 erhellen lässt: Dort wird neben den goldenen Sakralbauten und Einrichtungsgegenständen die Passion der Asen für das Vergnügen des Brettspiels erwähnt, dem sie auf Iðavǫllr frönen, bis drei außerordentlich mächtige Riesenmädchen das Idyll stören: Hittuz æsir á Iðavelli, þeir er hǫrg oc hof há timbroðo; afla lǫgðo, auð smíðoðo, tangir scópo oc tól gorðo. Teflðo í túni, teitir vóro, var þeim vættergis vant ór gulli, unz þríar qvómo þursa meyiar, ámátcar mioc, ór iǫtunheimom. Þá gengo regin ǫll á rǫcstóla, […].¹⁵

Obwohl über die Konfrontation zwischen Asen und Riesinnen nichts Direktes mitgeteilt wird, erlauben der Fortgang der Handlung und insbesondere das postapokalyptische Wiederauffinden der goldenen Brettsteine im Gras der Ebene Iðavǫllr (Str. 61) den Schluss, dass die Riesenmädchen die goldenen Brettsteine rauben. Ob diese rekonstruierte Episode vom Raub der goldenen Brettspielfiguren auch für Kapitel 14 der Gylfaginning anzusetzen ist, muss vorerst offenbleiben, denn Snorri zitiert nicht die Vǫluspá-Strophen 7–8, wohl aber im Anschluss an die Goldzeitalter-Darstellung Vǫluspá-Strophe 9, und er erwähnt in Kapitel 53 das Wiederauffinden der goldenen tǫflur, mit dem Unterschied allerdings, dass Snorri nicht von gullnar tǫflur, also einer Adjektiv-Substantiv-Kombination spricht, sondern von einem Determinativkompositum gulltǫflur (mit dem N. Sg. gulltafla). Wenn im vorliegenden Beitrag sowohl die gullnar tǫflur der Vǫluspá als auch die gulltǫflur der Gylfaginning als ‚goldene Brettspielsteine‘ gedeutet werden, so geschieht dies im Einklang mit den einschlägigen Wörterbüchern wie dem ONP,¹⁶ Fritzner¹⁷ und Cleasby-Vigfússon¹⁸ sowie mit der gelungenen englischen Neuübersetzung von Carolyne Larrington.¹⁹ Dagegen sprechen die meisten deutschen Übertragungen an dieser Stelle von ‚Goldtafeln/Tafeln‘,²⁰

15 Edda (Neckel/Kuhn 1983), S. 2. 16 Ordbog over det norrøne prosasprog (http://www.onp.hum.ku.dk/). 17 Fritzner 1973, S. 657, s.v. tafla. 18 Cleasby / Vigfusson 1975, S. 622, s.v. tafl. 19 Larrington 1996, S. 12 (‚golden chequers‘). 20 So die folgenden Übersetzungen: Genzmer 1975, S. 43; Häny 1987, S. 25; Edda (Gering 1892), S. 14 sowie Edda (Krause 2004), S. 30 übersetzen ebenfalls ‚Tafeln‘, fassen diese aber ausdrücklich als „die Brettspiele, mit denen sich die Asen einst ergötzen“ (Edda (Gering 1892), S. 14, Anm.) bzw. als „Tafeln für das Brettspiel“ (Edda (Krause 2004), S. 30, Anm.), also als Spielbretter, auf.

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wobei häufig unklar bleibt, ob damit Spielbretter, Schrifttafeln oder andere sonstige Arten von Tafeln gemeint sein sollen. Stefán Einarsson will sogar eine vage Parallele in den babylonischen Schicksalstafeln erkennen.²¹ Geographisch näherliegend, aber inhaltlich ähnlich abwegig ist Birger Nermans Überlegung, mit den goldenen tǫflur könnten Goldbrakteaten gemeint sein.²² Die Annahme, dass die goldene Brettsteine und das Goldzeitalter einen unmittelbaren Nexus bilden und das eine zeichenhaft für das andere stehe, zählt zu den meist stillschweigend vorausgesetzten Prämissen zahlreicher Interpretationsversuche des Welt- und Zeitbildes der nordischen Mythologie. Vereinfacht gesagt deutet diese Forschungsrichtung die goldenen Spielfiguren als Chiffren für das Goldene Zeitalter der primordialen Anfänge, ihren Raub durch die Riesenmädchen als Verlust desselben und ihr Wiederauffinden nach den Ragnarǫk als Beginn eines neuen Goldenen Zeitalters, also als Realisierung einer typischen Drei-Stufen-Dialektik mit den Etappen Blüte – Verfall – Aufstieg zu neuer Blüte. Zumal im deutschen Sprachraum wird diese Interpretation begünstigt durch eine unbegründete, aber sonderbar wirkmächtige Emendation Karl Müllenhoffs im letzten Vǫluspá-Vers. Müllenhoff ändert das handschriftliche nú mun hon sǫkkvaz des Codex Regius (mit Bezug auf die Vǫlva als fiktive Sprecherin des Gedichts) in nú mun hann sǫkkvaz,²³ das sich grammatikalisch und aufgrund des Kontextes auf den geflügelten Totendrachen Níðhǫggr bezieht, der somit nunmehr am Ende der Vǫluspá herabsinkt, was üblicherweise als seine Vernichtung und damit als Überwindung von Chaos, Tod und Bosheit im neuen Goldenen Zeitalter interpretiert wird.²⁴ Folgt man jedoch der handschriftlichen Lesart hon – und diese ist im Codex Regius außerordentlich deutlich geschrieben – und verwirft die willkürliche Müllenhoff’sche Interpretation der Lesart hon als Schreibfehler für ein eigentlich gemeintes Personalpronomen hann, so kann in der Konzeption der Vǫluspá die postapokalyptische Epoche schon deshalb kein (neues) Goldenes Zeitalter sein, weil Níðhǫggr als Inkarnation negativer Kräfte die Neue Welt ebenso bevölkert wie Baldr und Hǫðr, die Thorssöhne und die übrigen Ragnarǫk-Überlebenden. Das eben umrissene Interpretationsmuster begeht, neben der unreflektierten Übernahme einer ex cathedra vorgenommenen Emendation aus dem 19. Jahrhundert, vor allem den methodischen Fehler, die Vǫluspá durch die Optik der Gylfaginning zu lesen und dabei die von Snorri in der Gylfaginning vorgenommenen Deutungen (und Fehldeutungen), Bearbeitungen und Neuerungen auf die Vǫluspá zurück zu projizieren.²⁵ Das Goldzeitalter ist hierfür das Beispiel par excellence, da – wie gesagt – dieser Begriff im gesamten altnordischen Schrifttum ausschließlich im 14. Kapitel der

21 Einarsson 1966, S. 111–115. 22 Nerman 1963, S. 122–125. 23 Müllenhoff 1883, S. 14. 24 So von Gering / Sijmons 1927, S. 77. 25 Diesen Kritikpunkt formuliert in ähnlicher Form schon van Hamel 1934, S. 219.

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Gylfaginning vorkommt und offensichtlich einen durch Lehnübersetzung zustande gekommenen Neologismus zur Bezeichnung eines allochthonen Mythos darstellt. Dass dies in der Tat der Fall ist, signalisiert bereits die Konstruktion des Terminus gullaldr, und zwar speziell das zweite Glied des Kompositums, das Maskulinum aldr. Die Bedeutungsnuance ‚Zeitalter‘, ‚Zeitabschnitt‘ wird im Altnordischen üblicherweise mit dem Femininum ǫld abgebildet (vgl. Snorris eigene Formulierung er su ǫlld [standardisiert ǫld] kǫlluð gullaldr), so in den eschatologischen Zeitbegriffen skeggǫld (‚Axtzeit‘), skálmǫld (‚Schwertzeit‘), vindǫld (‚Windzeit‘) und vargǫld (‚Wolfzeit‘) in Vǫluspá Str. 45.²⁶ Wie Walther Heinrich Vogt bereits 1934 beobachtet hat, deutet die Verwendung von aldr als zweites Glied in Komposita zur Bezeichnung eines Zeitabschnitts auf antike und mittelalterlich gelehrte Vorbilder: „Als ‚zeitliche periode‘ tritt uns aldr, soweit ich sehe, nur im gelehrten gebrauch entgegen, jedoch nicht in theologischem sinne, […] gullaldr geht wohl auf Ovids aetas aurea zurück.“²⁷ Vogt verzeichnet die Verwendung von aldr im Altnordischen als Übersetzung des lateinischen aetas wie in aetas mundi (‚Weltzeitalter‘), eine Vokabel, die sich vermittels der Beda-Venerabilis-Rezeption auch durch das gelehrte altisländische Schrifttum zieht.²⁸ Anne Holtsmark in ihren „Studier i Snorres mytologi“ (1964) hat sich Vogts Auslegung des Terminus gullaldr als Lehnübersetzung aus lateinisch aetas aurea angeschlossen,²⁹ und in der Tat ist dieser Herleitung wegen ihrer einleuchtenden Argumentation zu folgen. Der Mythos vom Goldenen Zeitalter ist zwar nicht als integrale ‚große Erzählung‘ ubiquitär verbreitet, berührt sich aber in einigen seiner Elemente mit inhaltsähnlichen Vorstellungen aus dem mythologischen Inventar fast sämtlicher Kulturkreise. Die offenkundigste Verbindung besteht zum biblischen Garten-Eden-Mythos und dessen altorientalischen, speziell sumerischen Vorprägungen.³⁰ Ähnlichkeiten sind weiterhin zu verzeichnen zu Paradiesmythologemen der altägyptischen und avestisch-zoroastrischen Überlieferung,³¹ ohne dass zwischen diesen vier Traditionssträngen unmittelbare genetische Beziehungen nachweisbar wären.³² Vereinzelte motivliche Gemeinsamkeiten verbinden den Mythos des Goldenen Zeitalters mit den Fiktionen der neuzeitlichen utopischen Literatur, deren

26 Vgl. auch Snorris Periodisierung der nordischen Religionsgeschichte in der Ynglinga saga; dort wird eine Einteilung in zwei Kapitel vorgenommen, die nach ihren vorherrschenden Bestattungsformen als haugǫld (‚Hügelzeitalter‘) und brennuǫld (‚Brandzeitalter‘) genannt werden. 27 Vogt 1934, S. 17. 28 Bereits die Landnámabók erwähnt explizit Beda Venerabilis und dessen Version des ThuleMythos. 29 Vgl. Holtsmark 1964, S. 44. 30 Vgl. Heinberg 1995, S. 49. 31 Vgl. Heinberg 1995, S. 49. 32 Vgl. Heinberg 1995, S. 49.

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Gesellschaftsentwürfe allerdings meist in der Gegenwart des Autors oder in einer mehr oder weniger entfernten Zukunft angesiedelt sind, nicht in der Vergangenheit.³³ Der Mythos des Goldenen Zeitalters (fortan GZ-Mythos) im eigentlichen Sinne ist jedoch eine Domäne der antiken, insbesondere der römischen Literatur. Die griechische Überlieferung, beginnend bei Hesiod und über den Vorsokratiker Empedokles über Platon und Aristoteles sowie dessen Schüler Dikaiarch bis zu Aratos von Soloi (3. Jahrhundert v. Chr.) führend, kennt den Mythos mit seinen wesentlichen Merkmalen bereits, spricht aber statt von einem Goldenen Zeitalter durchgängig von einem ‚goldenen Geschlecht‘ (χρύσεον γένος) und behandelt die Vorstellung von der deszendenten Abfolge von Menschenrassen, deren Bezeichnungen aus der Edel- und Schwermetallterminologie deriviert sind, nur peripher. Als unmittelbare Quellen für mittelalterliche Ausformungen des GZ-Mythos wie der gullaldr-Episode der Gylfaginning kommen griechische Texte wegen der weitgehenden Unbekanntheit des Altgriechischen im West- und Nordeuropa des Mittelalters selbstredend ohnehin nicht in Frage. Es seien an dieser Stelle lediglich die zentralen Mythologeme des griechischen GZ-Mythos aufgelistet: sorgloser Frieden; üppige Mahlzeiten; Absenz von Ackerbau wegen reichlichen Wildwuchses von (vegetarischen) Nahrungsmitteln, daher auch Unbekanntheit harter körperlicher Arbeit; Fehlen eines körperlichen Alterungs- und Verfallsprozesses, stattdessen am Ende des Lebens sanftes Entschlafen (Hesiod); (klimatisch begünstigte) Unbekanntheit von Kleidung; sprachliche Verständigung zwischen Mensch und Tier; Tierfrieden, d.h. Tiere jagen und verspeisen weder den Menschen noch sich untereinander (Platon; zusätzlich zu den von Hesiod genannten Motiven). Bei Aratos findet sich als wesentliche Abweichung die Betonung von Ackerbau zur Nahrungsbeschaffung als Tätigkeit des Goldenen Geschlechts, die dem ‚Schlaraffenland-Topos‘ der Darstellung Hesiods und Platons entgegengesetzt ist. Das Ende des Goldenen Geschlechts wird durchgängig mit dem Sturz des bis dahin herrschenden Kronos durch seinen Sohn Zeus assoziiert.³⁴ Das Blumenbergsche Axiom, wonach Mythen „Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“³⁵ sind, lässt sich anhand des GZ-Mythos besonders anschaulich nachweisen. So konstant der Nukleus in Gestalt der Grundidee einer Utopia antiqua und einer ihr zeitlich folgenden sukzessiven Regression ist, so austauschbar, akkumulierbar und frei kombinierbar sind einzelne Mythologeme, mit denen die Erzählstruktur vom Goldenen Zeitalter auf jeder Rezeptionsstufe inhaltlich neu realisiert, aufgefüllt oder ausgeschmückt und verformt werden kann.

33 Vgl. Evans 2008, S. 6. 34 Für den Mythos des Goldenen Geschlechts in der griechischen Literatur vgl. ausführlich Kubusch 1986, S. 9–90. 35 Blumenberg 1986, S. 40.

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Die römische Rezeption des GZ-Mythos (bzw. des Mythos vom Goldenen Geschlecht) bestätigt diesen Befund. Die mythologische und literarische Weiterverarbeitung des Stoffes beginnt auf der terminologischen Ebene mit der Substitution des Goldenen Geschlechts, d.h. einer ‚humangenetischen‘ Größe, durch das Goldene Zeitalter, also einer kosmologischen Kategorie, die anstelle einer Population von Übermenschen (die auch außerhalb ihres angestammten Habitats existieren könnten) einen bestimmten Chronotopos (in dem auch Angehörige nicht-goldener Geschlechter existieren könnten) in den Mittelpunkt rückt. Die literarhistorisch bedeutenden Adaptionen des GZ-Mythos in der römischen Epik entstehen innerhalb weniger Dekaden in der augusteischen Zeit (43 v.  Chr.-14 n. Chr.). Vergil erzählt in der Aeneis von einem regionalen und profanierten Goldenen Zeitalter, das Saturn (das römische Analogon zu Kronos) nach seiner Entmachtung durch Jupiter in Latium begründet habe: haec nemora indigenae Fauni Nymphaeque tenebant gensque virum truncis et duro robore nata, quis neque mos neque cultus erat, nec iungere tauros aut componere opes norant aut parcere parto, sed rami atque asper victu venatus alebat. primus ab aetherio venit Saturnus Olympo arma Iovis fugiens et regnis exsul ademptis. is genus indocile ac dispersum montibus altis composuit legesque dedit, Latiumque vocari maluit, his quoniam latuisset tutus in oris. aurea quae perhibent illo sub rege fuere saecula: sic placida populos in pace regebat, deterior donec paulatim ac decolor aetas et belli rabies et amor successit habendi.³⁶

Auffallende Neuerungen gegenüber den griechischen Schilderungen sind die für Vergil typische Wertschätzung der landwirtschaftlich geprägten vita rustica und die Erfordernis zur Gesetzgebung als regulierende Instanz sozialer Interaktion, ein Aspekt, der in den vorgesetzlich, ‚anarchisch‘ ausgerichteten griechischen Quellen kaum vorkommt. Anders als bei Platon und Aristoteles liegt das Goldene Zeitalter bei

36 Aeneis (Götte 1997), S. 334–337 (‚diese Wälder bewohnten als Urstamm Faune und Nymphen / und ein Geschlecht, aus Stämmen und harten Eichen geboren, / die nicht Sitte hatten noch Form, nicht Stiere zu schirren / wußten noch Ernten zu häufen und sparsam Erworbnes zu hegen / sondern es nährte sie Baumfrucht und Jagd, ein mühsames Leben. / Früh kam dann Saturnus herab vom hohen Olympus, / fliehend vor Juppiters Waffen, verbannt und beraubt seines Reiches. / Er vereinte das rohe, im Bergland verstreute Geschlecht und / gab ihm Gesetze und zog als Namen ‚Latium-Heimstatt‘ / vor, da geheim und geschützt er lebte an diesen Gestaden. / Jene berühmte goldene Zeit, sie gedieh unter seiner / Herrschaft: er lenkte so in freundlichem Frieden die Völker, / bis eine schlechtere Zeit allmählich, getrübt in der Farbe / folgte und Raserei des Krieges und die Gier nach Besitztum‘).

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Vergil nicht am Beginn der urhistorischen Zeit, sondern ihm geht eine Epoche von Rohheit und Barbarei voraus, die durch Saturns gemeinschaftstiftende und ordnende Macht veredelt wird.³⁷ Eine Auflistung typischer Merkmale des saturnalischen Goldenen Zeitalters, das den griechischen Entwürfen näher steht als dem Vergils, bietet der Elegiker Tibull: Fehlen von Agrarkultur, von privatem Grundbesitz und Gewinnstreben, ein allgemeiner Pazifismus; neu ist bei Tibull das Element der sexuellen Freizügigkeit, die im Goldenen Zeitalter geherrscht habe: glans aluit veteres, et passim semper amarunt.³⁸ Weitere Komponenten des saturnalischen Goldzeitalters erwähnt Horaz: ein optimales Klima und die Unbekanntheit von Seuchen und schädlichen Tieren.³⁹ Seine klassische römische Gestalt, die auch Grundlage der nachantiken Rezeption des Goldzeitalter-Vorstellung ist, erhält der Mythos bei Ovid im Ersten Buch der Metamorphosen. Hier ist erstmalig auch der in mittel- und neulateinischen Quellentexten zum GZ-Mythos vorrangig verwendete Terminus aurea aetas belegt, der auch den Lehnübersetzungen der modernen germanischen und romanischen Sprachen zugrundeliegt.⁴⁰ Ovids Schilderung des Goldenen Zeitalters lautet wie folgt: aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. poena metusque aberant, nec verba minantia fixo aere legebantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti. nondum caesa suis, peregrinum ut viseret orbem, montibus in liquidas pinus descenderat undas, nullaque mortales praeter sua litora norant; nondum praecipites cingebant oppida fossae; non tuba derecti, non aeris cornua flexi, non galeae, non ensis erat: sine militis usu mollia securae peragebant otia gentes.

37 Ausführlich zu Vergils Goldzeitaltervorstellung vgl. Johnston 1980 sowie Kubusch 1986, S. 91–147. 38 Liebeselegien (Luck 1964), S. 374 f. (‚von Eicheln lebten die Menschen der Vorzeit, und sie liebten sich überall‘). 39 Ausführlich zum Goldenen Zeitalter bei Tibull und Horaz vgl. Kubusch 1986, S.  148–174; zum Verhältnis des vergilischen und tibullischen GZ-Mythos vgl. Wifstrand Schiebe 1981. 40 Vgl. neuhochdeutsch ‚Goldenes Zeitalter‘, neudänisch/neuschwedisch ‚guldålder‘, neunorwegisch (Bokmål) ‚gullalder‘, neuniederländisch ‚gouden tijdperk‘, neufranzösisch ‚âge d’or‘, neuspanisch ‚edad de oro‘, neuitalienisch ‚età dell’oro‘, neuportugiesisch ‚era de ouro‘. – Lehnübersetzungen der in vorovidischen Quellen belegten Ausdrücke aurea saecula und aureum saeculum, die eine konkrete Zeitspanne quantifizieren, leben in einigen neueren Sprachen neben Übertragungen von aurea aetas fort, so insbesondere nndl. ‚Gouden Eeuw‘ und nspa. ‚Siglo de Oro‘; beide Termini bezeichnen, im Gegensatz zum universell und metaphorisch verwendbaren, ovidischen ‚Schwesterausdruck‘ einen bestimmten (kultur-)historischen Abschnitt – daher die Großschreibung – der Niederlande (das 17. Jahrhundert) bzw. Spaniens (nach Maximaldefinition 1492 [Ende der Reconquista] bis 1681 [Tod Calderóns]).

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ipsa quoque inmunis rastroque intacta nec ullis saucia vomeribus per se dabat omnia tellus; contentique cibis nullo cogente creatis arbuteos fetus montanaque fraga legebant cornaque et in duris haerentia mora rubetis et quae deciderant patula Iovis arbore glandes. ver erat aeternum, placidique tepentibus auris mulcebant zephyri natos sine semine flores. mox etiam fruges tellus inarata ferebat, nec renovatus ager gravidis canebat aristis; flumina iam lactis, iam flumina nectaris ibant, flavaque de viridi stillabant ilice mella.⁴¹

Ovid schildert das Goldene Zeitalter aber nicht nur als Mythograph in den Metamorphosen, sondern bezieht sich in der Ars amatoria mit spöttischem Unterton auf die Vorstellung einer erwarteten Wiederkehr des Goldenen Zeitalters: carmina laudantur, sed munera magna petuntur: dummodo sit dives, barbarus ipse placet. aurea nunc vere sunt saecula. plurimus auro venit honos. auro conciliatur amor.⁴²

Wesentlich ausgelöst wurde die Vorstellung einer Rückkehr des Goldenen Zeitalters von Vergil in der Vierten Ecloga (vv. 5–8). Auf eine gänzlich andere Art, aber im Tenor vergleichbar mit Ovid deutet auch er das neue Goldene Zeitalter konkretistisch als Epoche materiellen Überflusses und Luxus: kostbare seltene Kräuter wachsen allerorten wild, selbst die Lämmer auf der Weide sind in Scharlach gewandet.

41 Metamorphosen (Holzberg 1996), S. 10–13 (‚Erstes Alter ward das Goldene. Ohne Gesetz und / Sühner wahrte aus eigenem Trieb es die Treu und das Rechte. / Fern war Strafe und Furcht, man las nicht in eherne Tafeln / drohende Worte gereiht, es fürchtete nicht ihres Richters / Mund die flehende Schar, kein Fürsprech mußte sie schützen. / Noch war die Föhre, gefällt, um den fremden Erdkreis zu schauen, / Nicht von der Höh ihrer Berge hinab in die Fluten gestiegen; / Außer den eigenen kannten die Sterblichen keine Gestade. / Noch umschloß da nicht ein steiler Graben die Städte, / Tuba und Hörner, gestreckt aus Erz und gebogen, und Helme, / Schwerter waren da nicht; und keiner Krieger bedürfend, / Lebten die Völker dahin in sanfter, sicherer Ruhe. / Unverletzt durch den Karst, von keiner Pflugschar verwundet, / Nicht im Frondienst gab von sich aus alles die Erde; / und mit der Nahrung begnügt, die keinem Zwange erwachsen, / las man Hagäpfel da und Bergerdbeeren des Waldes / Kirschen und, was als Frucht an dem derben Dornengerank hing, / Las die von Juppiters lichtem Baum gefallenen Eicheln. / Ewiger Frühling war, mit lauen Lüften umspielte / Sanfter Wind die Blumen, die keinem Samen entblühten. / Ungepflügt trug bald auch des Bodens Früchte die Erde, / Ohne Brachen gilbte das Feld von hängenden Ähren. / Bald von Milch und bald von Nectar gingen die Flüsse, / Gelber Honig tropfte aus grünender Eiche hernieder‘). 42 Ars amatoria (Holzberg 1999), S. 80 f. (‚Verse werden gelobt, aber große Geschenke verlangt man. / Selbst ein Barbar gefällt, wenn er nur Reichtümer hat. / Wahrhaft goldene Zeiten sind jetzt; mit dem Golde erwirbt man / Höchste Ämter im Staat, Liebe gewinnt man durch Gold‘).

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Snorri Sturlusons gullaldr-Erzählung in der Gylfaginning rezipiert neben der schon in den griechischen Quellen vorhandenen und in sämtlichen römischen Versionen belegten Standardmotivik jeweils zwei spezifische Mythologeme der Goldzeitalter-Entwürfe Vergils und Ovids. Mit dem vergilischen Goldenen Zeitalter stimmt das snorronische darin überein, dass es keinen primordialen Uranfang bildet, sondern eine erzählbare Vorgeschichte aufweist, eine Art prä-goldzeitalterlicher Barbarei, die mittels der Errichtung des Goldzeitalters durch die Asen geordnet und aufgewertet wird. Ein zweites vergilisches Motiv ist die Kodifizierung eines Rechtssystems, die bei Snorri allerdings nicht während des Goldzeitalters erfolgt, sondern als erste göttliche Handlung nach der Konfrontation mit den Riesinnen, also als unmittelbare Konsequenz aus dem Verlust des Goldzeitalters. Ovidische Elemente sind neben dem Terminus gullaldr als Lehnübersetzung von aurea aetas die überreiche Verwendung des luxuriösen Edelmetalls Gold, die Ovid sarkastisch als Bild von Korruption und Verkommenheit erwähnt, Snorri seine Erzählerfigur Hár aber ohne erkennbare ironische Brechung als Insigne eines materiell begüterten, aber eben auch materiell schöpferischen Kultivierungsprozesses auffassen lässt; das Goldzeitalter heiße eben so, weil in ihm Gold der beherrschende Bau- und Werkstoff gewesen sei, erläutert Hár mit entwaffnendem Konkretismus. In Zusammenhang damit stehen gewisse angedeutete locus-amoenus-artige Züge dieses nordisch-mythischen El Dorado, das freilich nicht als zum Müßiggang reservierter zeitloser Naturzustand, sondern ein kunsthandwerklich tätiger Kulturraum erscheint. Eben dieser Zug der metallurgischen und architektonischen Aktivität ist es, durch den Snorris Schilderung des Goldzeitalters über den klassischen Kernmythos des Goldenen Zeitalters hinaus auf dessen ‚Sprossmythen‘ geringwertigerer Metallzeitalter weist. Ovids Metamorphosen kennen, das (fünfstufige) hesiodische Geschlechtermodell modifizierend, die Sukzession insgesamt vier solcher Metallzeitalter: auf das Goldene folgt das Silberne Zeitalter, auf dieses das Eherne (oder Bronzene) Zeitalter und als viertes und letztes das Eiserne Zeitalter. Das Silberne Zeitalter ist geprägt von der Entstehung des Jahreszeitenwechsels mit Herbsten und Wintern und als Folge daraus von den Anfängen von Landwirtschaft und Hausbau: tum primum subiere domos (domus antra fuerunt / et densi frutices et vinctae cortice virgae).⁴³ Das Eherne Zeitalter ist saevior ingeniis et ad horrid promptior arma, / non scelerata tamen.⁴⁴ Im Eisernen Zeitalter schließlich fugere pudor verumque fidesque; in quorum subiere locum fraudesque dolique / insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi.⁴⁵

43 Metamorphosen (Holzberg 1996), S. 12 (‚damals suchten zuerst sie Wohnung. Wohnung waren: / Höhlen, dichtes Gebüsch und mit Rinde bedecktes Geäste‘). 44 Metamorphosen (Holzberg 1996), S. 12 f. (‚[w]ilderen Geistes, bereiter zum Griff nach der schrecklichen Waffe, / doch verbrecherisch nicht‘). 45 Metamorphosen (Holzberg 1996), S. 12 f. (‚es floh die Scham, die Treue, die Wahrheit; / und der Betrug, die List, die rohe Gewalt und die Tücke / rückten an deren Platz und die böse Begier zu besitzen‘).

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Mit der entfesselten Bauwut der Asen fließt ein typisches Element des ovidischen Silbernen Zeitalters in Snorris Konzeption des Goldzeitalters ein, das sich als ein synthetisiertes ‚silbergoldenes‘ Zeitalter entpuppt und in der Konfrontation mit den Riesenmädchen recht bruchlos ins Eherne Zeitalter übergeht. Mit dem Fimbulwinter als Vorzeichen der Ragnarǫk, die Hár in Kapitel  51 verkündet, könnte eine ‚ovidianische‘ Lektüre der Gylfaginning schließlich das Eiserne Zeitalter beginnen lassen. Snorri Sturluson (mittels seiner Erzählerinstanz Hár) arbeitet also den kosmogonischen Mythos der Vǫluspá-Strophen 7–9 zu einer fragmentarisierten Version des ovidischen und vergilischen Mythos vom Goldenen Zeitalter um und nimmt dabei eine Stauchung der Zeitalter-Modells Ovids vor, indem er das Goldene mit dem Silbernen Zeitalter synchronisiert.⁴⁶ Die altisländische gullaldr-Vorstellung Snorris ist somit kein entstelltes Imitat des ovidischen aurea-aetas-Topos und anverwandter römischer Mythologeme, sondern erweist sich als bewusst komponierte, kreativ arrangierte Bearbeitungsstufe des antiken GZ-Mythos (der seinerseits ältere vorderasiatische Metallmythen rezipiert⁴⁷), die offenbar auf die formalen und inhaltlichen Erfordernisse seines eigenen Gesamttextes ausgerichtet ist. Die eigentliche Herausforderung für eine Analyse der Goldzeitaltertopik der Gylfaginning besteht demnach über die Ermittlung der Quellentexte und -motive hinaus vor allem darin, die mythologische Aussage und die strukturelle Funktion des gullaldr-Narratems innerhalb der Kosmologie der Gylfaginning im Unterschied zu jener der Vǫluspá und im Vergleich zu außernordischen Schöpfungsvorstellungen zu beschreiben. Ein solcher Lektüreversuch hat insbesondere vier kontroverse Probleme der Gylfaginning- und VǫluspáExegese zu meistern: (i) die Frage nach der Identität und Rolle der (drei) weiblichen Riesen; (ii) die mit den Bezeichnungen für die mythologische Topographie und Architektur assoziierten Vorstellungen; (iii) die Beziehung der Goldmotivik in Gylfaginning und Vǫluspá zu den gulltǫflur bzw. gullnar tǫflur; (iv) die Bedeutung der episodischen Goldzeitalter- und Brettspiel-Erzählungen für den Gesamtnexus des kosmogonischen Systems, das die Vǫluspá skizziert und Gylfaginning in mittlerer epischer Breite referiert. Die drei þursa meyjar / ámátcar mioc / ór iǫtunheimum aus Vǫluspá-Strophe 85–8 identifiziert Müllenhoff mit den drei Nornen, gerät dabei allerdings in die Bedrängnis, die sich aus dieser Deutung ergebende Inkompatibilität von Strophe 8 mit den Strophen 19/20 – die von der Herkunft der Nornen aus der Gegend Yggdrasills und des Urdbrunnens berichten – erklären zu müssen, eine Schwierigkeit, derer sich Müllenhoff entledigt, indem er Strophe 20 mit professoralem Gestus zur späteren Inter-

46 Eine ähnliche Verschiebung von Elementen des Silbernen Zeitalters in das Goldene findet sich bereits bei Ovid, dort offensichtlich mit der Intention, zwei unterschiedliche Vorstellungen früher menschlicher Existenz – die einer schlaraffenlandartigen Goldzeit und die einer primitiven Vorzeit – zu harmonisieren (vgl. Kubusch, S. 233–236 sowie Reischl 1976, S. 77). 47 Vgl. Gatz 1967, S. 4–5 und 14–16.

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polation erklärt.⁴⁸ Zahlreiche Forscher sind Müllenhoff auf dieser schiefen Bahn der Auslegekunst gefolgt, so Gering und Sijmons in ihrem vielzitierten Eddakommentar und Ferdinand Detter in seiner kommentierten Vǫluspá-Edition.⁴⁹ Björn M. Ólsen hat die Auffassung Müllenhoffs zurückgewiesen⁵⁰ und Sigurður Nordal in seinem bis heute maßgeblichen Vǫluspá-Kommentar ist Ólsen gefolgt. In der Tat wiegt Ólsens zentrales Argument  – ein lexikalisches  – schwer: die beiden pejorativ semantisierten Ausdrücke þurs und ámáttigr seien unvereinbar mit der Nornenvorstellung der nordgermanischen Mythologie.⁵¹ Hinzu kommt das methodische Problem, dass die Gleichsetzung der þursa meyjar mit den Nornen an der handschriftlich kodifizierten Fassung der Vǫluspá scheitert und massive Eingriffe in deren überlieferte Textgestalt erfordert, um das Gedicht von seinem neuzeitlich konstruierten Kompositionsfehler zu ‚heilen‘. Schleierhaft an Müllenhoffs Deutung ist, weshalb der Erzähler den Nornen eine Herkunft aus Jǫtunheim zuschreiben sollte, da eine solche weder dem Wesen der Nornen entspricht noch durch andere Quellen gestützt wird. Aus all diesen Gründen ist davon auszugehen, dass es sich bei den weiblichen Gestalten um drei Riesinnen handelt, die in keinerlei Zusammenhang mit den Nornen stehen. Die Forschungsdebatte zur mythischen Geographie der ‚Urgeschichte‘ in Vǫluspá und Gylfaginning kreist wesentlich um das Toponym Iðavǫllr. Hier stellt Müllenhoff das Erstglied etymologisch zu íð oder iða, was insoweit naheliegt, als diese Herleitung die fortwährende (Bau-)Tätigkeit der Asen in der Bezeichnung des Ortes spiegeln würde, an dem die architektonische und metallurgische Zivilisation der Asen ihren Anfang nimmt.⁵² Sophus Bugge hingegen korreliert das Wortglied ið mit der biblischen Paradiesbezeichnung Eden.⁵³ Diese Deutung ist problematisch, da der Begriff Iðavǫllr bereits in Vǫluspá vorkommt, die Vorstellung eines Goldzeitalters aber erst durch Snorri in die nordgermanische Mythologie eingeführt wird, die Verwendung des Begriffs Iðavǫllr also dem ersten und einzigen Beleg für das gullaldr-Konzept vorausgeht. Nordal folgt Bugge teilweise und weist darauf hin, „daß der Name wahrscheinlich aus einer Verbindung mit dem Stamm ið (vgl. lat. iterum ‚wieder‘) hervorgegangen ist“.⁵⁴ Diesen Stamm ið enthält auch das Adjektiv iðjagrœnn, das in der Ragnarǫk-Darstellung in Vǫluspá-Strophe 59 vorkommt, weswegen Bugge Iðavǫllr als

48 Müllenhoff 1883, S. 94. 49 Vgl. Gering / Sijmons 1927, S. 11 und 24 sowie Detter 1899, S. 17. 50 Ólsen 1894, S. 39–42. 51 Vgl. Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 39 sowie schon Kummer 1961, S. 55; allgemein zur negativen Konnotation von þurs vgl. Schulz 2004, S. 42 f. 52 Vgl. Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 37; Schach 1985, S. 94; Gering / Sijmons 1927, S. 9. 53 Vgl. Bugge 1881–89, S. 417. 54 Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 37. Im Altenglischen findet sich das ebenfalls aus lat. iterum derivierte Präfix ed- (vgl. Edda (Dronke 1997), S. 118).

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„Feld, auf dem sich die Götter wieder auf der neugeborenen Erde treffen“⁵⁵ deutet. Hiergegen erhebt Nordal Einspruch mit der Begründung, das Toponym Iðavǫllr sei von der Vorstellung ausgegangen, daß er in den Beginn der Götterherrschaft fiel, und dann konnte der Name doch wohl nicht gut bereits auf den Weltuntergang und das, was danach kommen würde, abgestellt sein.⁵⁶

Nordal schließt sich daher Finnur Jónssons Deutung an und paraphrasiert Iðavǫllr als ‚immergrünes, ewig grünes Feld‘,⁵⁷ also als Topos einer locus-amoenus-Schilderung, wie sie für Realisierungen des GZ-Mythos in der römischen Literatur charakteristisch ist. Auch diese Auslegung scheitert an dem methodischen Fehler, die erst von Snorri nach lateinischen Quellen konzipierte Goldzeitaltervorstellung für das wikingerzeitliche Entstehungsdatum der Vǫluspá vorauszusetzen. Nordals Einwand vermag auch deshalb nicht recht zu greifen, weil er übersieht, dass Iðavǫllr von den Ortsbezeichnungen der nordischen Kosmogonie die einzige ist, die in der Beschreibung der postapokalyptischen Neuen Welt wiederauftaucht und zwar sowohl in Vǫluspá als auch in Gylfaginning in Verbindung mit dem Wiederauffinden goldener Objekte, die sich dereinst im Besitz der Asen befunden haben. Das Toponym Iðavǫllr scheint damit, wie schon von Bugge gesehen, den Zusammenhang zwischen kosmogonischem und eschatologischem Mythos im Rahmen eines zyklischen Zeitverständnisses⁵⁸ zu betonen. Das Morphem ið ist wahrscheinlich dasselbe, das auch im Erstglied des Theonyms Iðunn enthalten ist, was zu Iðunns Funktion als Verwahrerin der verjüngenden Äpfel passt. Unwahrscheinlich ist die von Walter Krogmann ins Spiel gebrachte etymologische Herleitung zu einer altnordischen Phantomwurzel *iði,⁵⁹ zumal Iðavǫllr skaldisch nicht belegt ist, es sich also vermutlich um eine Schöpfung des Vǫluspá-Dichters handelt. Wesentlich schwieriger als die beiden vorgenannten Punkte zu beurteilen ist die Verbindung des Goldmotivs sowie des Terminus gulladr mit den goldenen Artefakten, die in der Nach-Ragnarǫk-Welt von den überlebenden Asen der neuen Generation im Gras wiedergefunden werden und die von den Narrationsinstanzen in beiden Texten als Relikte der Urzeit markiert werden: [Vǫluspá, Str. 61:] þar muno eptir / undrsamligar / gullnar tǫflor / í grasi finnaz, / þærs í árdaga / áttar hǫfðo.⁶⁰ [Gylfaginning:] […] setiaz þá allir samt ok talaz við ok minnaz á rúnar

55 Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 37. 56 Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 37. 57 Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 37. 58 Cancik 1998, S. 63–66. 59 Krogmann 1954, S. 37 f. 60 ‚Dort werden sie wieder / die wunderbaren / goldenen Tafeln / im Gras finden / die sie in Urzeittagen / besessen hatten‘ (Übersetzung nach Edda (Krause 2004), S. 30).

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sínar ok rœða of tíðdhindi þau er fyrrum hǫfðu verit, of Miðgarðzorm ok um Fenrisúlf. Þá finna þeir í grasinu gulltǫflur þær er æsirnir hǫfðu átt.⁶¹ Das erste Problem besteht in der unterschiedlichen Terminologisierung der Goldartefakte als Adjektiv-Substantiv-Kombination in Vǫluspá und als Determinativkompositum in Gylfaginning, was zu der Frage führt, ob sich die beide Begrifflichkeiten auf ein identisches Signifikat beziehen oder ob Snorri bewusst eine von Vǫluspá abweichende Konstruktion gewählt haben könnte, um auch einen abweichenden Inhalt zu bezeichnen. Hinzu kommt, dass Snorri das Motiv des Brettspiels, auf dessen Spielsteine sich die Termini gullnar tǫflur und gulltǫflur offenbar beziehen, in seiner Prosabearbeitung der Vǫluspá-Strophe 8 in Gylfaginning 14 nicht erwähnt. Da der gullaldr-Mythos in der Gylfaginning ebenso wie die inhaltlich entsprechenden Vǫluspá-Strophen 8–9 in den übergeordneten Zusammenhang der Kosmogonie (und Eschatologie) eingebunden ist, stellt sich die Frage nach der strukturellen Funktion dieses Einzelmythos für das gesamte Entstehungs- und Erneuerungsmodell der eddischen Mythologie. Um sie zu klären, erscheint es sinnvoll, den Mythos als Sujet ungeachtet seiner abweichenden narrativen Ausformungen in Vǫluspá und Gylfaginning in das kosmogonische Erzählgut der gemeinsamen nordischen Tradition einzuordnen und dabei auch außergermanisches Vergleichsmaterial heranzuziehen. Stark vereinfacht und schematisiert lässt sich die Schöpfungsgeschichte der nordischen Mythologie nach Vǫluspá und Gylfaginning wie folgt abbilden: (1) Vorzeit; (2) Entstehung des Urriesens Ymir; (3) Gigantogonie; (4) Theogonie; (5) Kosmologie; (6) Brettspiel/Goldzeitalter und Konfrontation mit den Thursinnen; (7) Nanogonie, d.h. Entstehung der Zwerge; (8) Anthropogonie. Einige der in der nordischen Kosmogonie genannten Elemente haben strukturelle und/oder sprachliche Parallelen in den bruchstückhaft überlieferten südgermanischen Vorstellungen zur Kosmogonie, so insbesondere das zwitterhafte Urwesen Ymir in dem von Tacitus genannten Stammvater Tuisto⁶² sowie Begriff und Konzept des Ginnungagap in einem Scholion Adams von Bremen, der die lateinische Wendung immane baratrum abyssi als Ghinmendegop glossiert.⁶³ Noch ergiebiger sind jedoch die Parallelen, die sich zwischen der nordischen Kosmogonie und jener anderer indogermanischer Mythologien ergeben. Es bestehen Strukturanalogien zur altgriechischen (nach Hesiods „Theogonie“) und hethitischen (nach dem Fragment „Vom Königtum im Himmel“, 13. Jahrhundert v. Chr.) Überlieferung, die verwitterte Reste einer gemeinsam ererbten indoeuropäischen Urschicht erahnen lassen: der Sukzession Ymir – Reifriesen – Odin (und seine Brüder) – Askr

61 Gylfaginning (Lorenz 1984), S.  637 f. (‚[…] sie setzen sich alle zusammen und unterhalten sich und erinnern sich an ihre rúnar (an ihr geheimes Wissen) und sprechen über die Ereignisse, die zuvor geschehen sind, über den Miðgarðzormr und den Fenrisúlfr. Dann finden sie die Goldtafeln, die die Asen besessen hatten, im Gras‘). 62 Vgl. de Vries 1970, S. 363 f. 63 Vgl. Simek 2006, S. 137.

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und Embla entspricht bei Hesiod die Abfolge Uranos (und Gaia)  – Kronos (und Rhea) – Zeus (mitsamt Poseidon und Hades) – die Heroen und Menschen sowie im Hethitischen Anu  – Kumarbi  – Tešub (der als oberster Gott und Repräsentant der [Dumézilschen] Ersten Funktion das Äquivalent zu Odin und Zeus bildet).⁶⁴ In allen drei Überlieferungstraditionen entstehen (mehrere Arten von) Riesen vor dem zentralen, ‚jüngeren‘ Göttergeschlecht (Asen, Olympier) und letzteres muss durch einen Krieg gegen ein älteres Göttergeschlecht und/oder gegen die Riesen seine Vorherrschaft gewaltsam erkämpfen, ein Vorgang, von dem innerhalb eines mythologischen Systems teilweise mehrfach in abgewandelter Form erzählt wird: in der griechischen Mythologie in den Titanomachie- und Gigantomachie-Narratemen, in der nordischen in der Erschlagung Ymirs durch die drei Asen (Vǫluspá und Gylfaginning) und im Mythos von Wanenkrieg, den die Vǫluspá, präludiert durch die Gullveig-Episode, in den Strophen 24–26, schildert – ein zweiteiliger Erzählkomplex, der in Gylfaginning völlig fehlt und den Snorri in seiner Edda erst zu Beginn der Skáldskaparmál als Einleitung zum Skaldenmet-Mythos nachreicht. Der Schlüssel zum Verständnis der Goldmotivik in der nordischen Kosmogonie und Eschatologie und der Konstruktion des GZ-Mythos durch Snorri liegt im Brettspielmotiv der Vǫluspá-Strophe 8. Wie bereits ausgeführt, wird dieses Motiv meist als locus-amoenus-Topos ausgelegt, der Sorglosigkeit, Überfluss, Harmonie und Frieden eines ‚goldenen Zeitalters‘ illustriere,⁶⁵ das von den drei Riesinnen beendet werde; letzeres wird von Snorri  – der allerdings an dieser Stelle kein Brettspiel erwähnt – expliziert. In Vǫluspá folgt unmittelbar nach der Erwähnung der Ankunft dreier Thursinnen (Str. 85–8) die Schilderung der Ratsversammlung der Götter, deren Gegenstand die Schöpfung der Zwerge ist (Str. 91–6). Unausgesprochen bleibt, welche epische Handlung zwischen dem Schluss von Strophe 8 und dem Beginn von Strophe 9 liegt.⁶⁶ Nach Ursula Dronkes Deutung fordern die Riesinnen die Asen zu einer Partie Brettspiel heraus, um im Falle eines Sieges die goldenen Spielutensilien zu gewinnen; am Rande einer Niederlage brechen, so Dronke, die Asen das Spiel abrupt

64 Die Parallelen zwischen griechischem und hethitischem Mythos gehen noch deutlich weiter als die groben Ähnlichkeiten zur eddischen Mythologie: Wie Kronos seinem Vater Uranos entmannt auch Kumarbi seinen Vater Anu, wird seinerseits aber – wie Kronos von Zeus – von seinem Sohn Tešub entmachtet. 65 So noch Dronke (Edda (Dronke 1997), S. 121). 66 Die Erwähnungen von Brettspiel und goldenen Spielsteinen in der Völuspá und die Rezeption dieser Elemente in der Gylfaginning sind die inhaltlich komplexesten und am schwierigsten zu deutenden Brettspielmotive der altnordischen Literatur; als solche sind sie Gegenstand eines umfangreicheren Forschungsprojektes des Verfassers zur literarischen und archäologischen Überlieferung von Brettspiel(en) im mittelalterlichen Norden. Im vorliegenden Beitrag kann aus Raumgründen nur skizzenhaft auf dieses verrätselte Motiv, seine Interpretation und Forschungsgeschichte eingegangen werden. Insbesondere muss hier auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Lesart von Anton Gerard van Hamel und dem von ihm beigebrachten umfangreichen Vergleichsmaterial aus der europäischen Literatur verzichtet werden.

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ab, wobei die goldenen Brettsteine ins Gras fallen, wo sie nach den Ragnarǫk von den überlebenden Göttern wiedergefunden würden.⁶⁷ So elegant diese Deutung auch sein mag, lässt sie doch allzu viele Probleme ungelöst und muss ihre scheinbare Stringenz mit einigen Unwahrscheinlichkeiten erkaufen: dass die Asen auf ihrem eigenen Spielbrett gegen Angehörige des Riesengeschlechts – die typischerweise zwar aufgrund ihres Alters über ein gewisses urzeitliches Wissen verfügen, nicht jedoch über abstraktes, strategisches Denkvermögen – ist ebenso schwer vorstellbar wie der materielle Gegeneinsatz, den die Thursinnen den Asen anzubieten hätten. Konstruiert mutet die Idee an, die von den Asen im Zorn umgeworfenen und ins Gras gefallenen Spielsteine würden dort die gesamte Zeitspanne vom Ende der Spielsituation bis nach den Ragnarǫk verbleiben. Dem kryptisch codierten Kern der Episode näher dürfte Nordals Interpretation kommen: die „Riesenmädchen kommen mit neuen Ansprüchen, erwecken Begierden bei den Asen, denen […] das Gold, das sie besitzen, nun nicht mehr genug erscheint“.⁶⁸ Die von Nordal kavalierhaft paraphrasierte erotisch-sexuelle Anziehungskraft der riesischen femmes fatales auf die (männlichen) Asen verleiht ihnen eine temporäre Macht über die Götter, die sie dazu befähigt, die goldenen Brettspielutensilien – und dies scheint unter strukturellem und narratologischem Aspekt die wahrscheinlichste Lösung zu sein  – durch Raub zu entwenden und damit die Erzfeindschaft zwischen Asen und Riesen begründen. Es läge somit ein Fall von Raub eines mythischen Objekts vor, ein Motiv, das sich im u.a. griechischen Heroenmythos (das goldene Vlies), in der finnischen Mythologie (Sampo), in der germanischen Heldensage (Nibelungenring) sowie wiederholt in der nordischen Mythologie (Skaldenmet, Brisingamen) findet. Raubzüge von Riesen gegen die Asen sind auch sonst belegt, und nur unter der Voraussetzung eines Raubes oder Diebstahl der goldenen Brettsteine und deren Verschwinden (aus der Verfügungsgewalt der Asen) wird das ansonsten blinde Motiv des Wiederauffindens dieser Artefakte durch die überlebenden Götter, das sowohl der Vǫluspá-Dichter als auch Snorris Erzählerfigur Hár als ein solches betonen, ‚sehend‘ gemacht. Das Gold in Vǫluspá repräsentiert die von Snorri als gullaldr genannte, im vorliegenden Beitrag aber als ‚Silbergoldzeitalter‘ identifizierte primordiale Epoche relativer Ruhe zwischen Theogonie und Nanogonie, in der die Asen ihre Wohnstätten und Sakralbauten errichten und sich mit beachtlichen Resultaten in der Goldschmiedekunst und Werkzeugkonstruktion üben. Nach der zuvor umrissenen Rekonstruktion der Leerstelle zwischen Strophe 8 und 9 ist jedoch klar, dass dem schwelgerischen Reichtum an Gold zugleich ein defizitäres Moment inhärent ist, denn Eros und Libido entdecken die bis dahin anscheinend asexuellen Asen in dieser Lesart erst durch die Begegnung mit den Thursinnen, die das Ende dieser Phase markiert. Zudem lustwan-

67 Vgl. Edda (Dronke 1997), S. 120. 68 Völuspá (Sigurður Nordal 1980), S. 39.

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deln die Asen auch vor der Ankunft der Riesinnen keineswegs in einem vergoldeten Schlaraffenland: es besteht von ihrer Seite die Notwendigkeit oder der Wunsch nach Bau von Tempeln und Altären, und diese Tätigkeit setzt möglicherweise ein Bewusstsein für die Existenz einer ihnen überlegenen Macht voraus, deren religiöse Verehrung durchaus die Funktion haben könnte, Beistand für zukünftige Konflikte mit den im fernen Jǫtunheim hausenden Riesen zu erwirken. Mit dem Brettspiel wird zudem als zerstreuende Aktivität eine betont agonale Kampf- und Wettstreitsimulation erwähnt, deren Umschlagen vom ludischen Modus in reale physische Gewalt zu ihrer literarischen Standardnarration zählt.⁶⁹ Weiterhin ist Gold im Altnordischen – stärker noch als in anderen kulturellen Traditionen  – ein janusköpfiges Edelmetall, dem neben seinen positiven Implikationen (Kostbarkeit, Glanz, Schönheit etc.) auch äußerst negative Konnotation eingeschrieben sind: im Völsungen-Nibelungen-Sagenkreis ist das ‚rote Gold‘ des Nibelungenhortes und des Andvaranaut Auslöser von Verrat und entgrenzten Bluttaten, in der Svíagrís-Episode der Skjöldungensage verdichtet sich das Motiv irrationaler, blinder Goldgier, und auch die Trägerinnen der auf Gullgebildeten Personennamen sind oft negativen Charakters (so Gullveig in Vǫluspá und Gullrǫnd in Guðrúnarkviða I). Ferner ist Gold als Baumaterial häufig mit Degeneration und Idolatrie assoziiert, so im Mythos des Goldenen Kalbs in Exodus 32,1–29 oder in Adams von Bremen Darstellung des goldenen Tempels von Alt-Uppsala, den der norddeutsche Bischof als schaurigen Pfuhl eines Götzendienstes mit blutigen Opferritualen zu denunzieren trachtet. Wie im Falle anderer Narrative vom Raub mythischer (goldener) Objekte löst auch die Entwendung der goldenen Spielsteine in Vǫluspá eine Kette konfliktreicher, von Kampf und physischer Gewalt geprägten Handlungen aus, die sich vom Wanenkrieg über Thors Kampf gegen die Midgardschlange, die wiederholten Händel der Asen mit den Riesen und die Tötung Baldrs bis zum Ragnarǫk-Geschehen spannt. Das Wiederauftauchen der goldenen Brettspielsteine ist vor diesem Hintergrund zwar als Ausdruck eines zyklischen mythischen Zeitverständnisses lesbar, nicht aber als Chiffre der Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters. Ein Bewusstsein dieser Qualitäten des Motivs war erkennbar sowohl bei dem anonymen Vǫluspá-Dichter als auch bei Snorri Sturluson vorhanden, denn beide Texte verbinden das Mythologem ‚Wiederauffinden der goldenen Brettspielsteine‘ mit eschatologischen, dämonischen Ungeheuerfiguren. In der Vǫluspá wird nach dem Wiederauffinden der gullnar tǫflur mit dem Schlaraffenland-Topos der ungesäten Äcker und der Erwähnung der mit goldenen Dächern geschmückten Halle Gimlé zunächst ein helles idyllisches Bild der Postapokalypse gezeichnet, das sich jedoch durch die Ankunft des Totendrachens Niðhǫggr entscheidend verdüstert (Str. 61). Snorri erwähnt Niðhǫggrs Überleben der Ragnarǫk und sein Eintritt in die neue Welt

69 Vgl. die Brettspielepisoden in Snorris Magnússona saga (c. 21) sowie in Knýtlinga saga (c. 114) und Grettis saga Ásmundarsonar (c. 70); in allen drei Fällen schlägt das Brettspiel in rohe körperliche Gewalt um.

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nicht, verbindet aber dafür das Wiederfinden der gulltǫflur mit der ‚traumatischen‘ Erinnerung der Asen an die beiden Weltfeinde Fenriswolf und Midgardschlange. In diesem Licht erscheinen die goldenen Brettspielfiguren als Relikte eines scheinbar überwundenen, von Kampf, Gewalt und Bedrohung durch finstere Mächte gekennzeichneten Daseins, durch deren Wiederauffinden die materielle Gier und das sexuelle Verlangen als konfliktauslösende, aber auch zivilisationsgründende Kräfte der alten in das trügerische Idyll der neuen Zeit hineinragen. Dies ist die eigentliche Pointe des Wiederauftauchens der goldenen Spielsteine nach den Ragnarǫk: Es symbolisiert die zyklische Zeitkonzeption der nordischen Mythologie, deren postapokalyptische Neue Welt im Gegensatz zur christlichen keine qualitativ völlig neue Existenzform darstellt, sondern nur einen ‚Reboot‘, den Beginn eines neuen Zyklus im Kreislauf ewiger Wiederkehr; die gereinigte Erde wird denselben Weg gehen wie die versunkene, da sie die Keimzelle dessen, was jene zerstört hat, als fatales Erbteil bereits in sich trägt. Zwischen dem Mythos vom Goldenen Zeitalter und den goldenen Brettsteinen in der Gylfaginning besteht damit trotz der gemeinsamen EdelmetallSymbolik weder ein genetischer noch ein inhaltlicher Zusammenhang, sondern beide Elemente entstammen unterschiedlichen Traditionen – der GZ-Mythos der römischen Epik, die goldenen Brettsteine der einheimischen nordgermanischen Überlieferung – und werden von Snorri übereinander geblendet. Zu klären bleibt, weshalb Snorri in seiner bearbeitenden Prosaparaphrase von Vǫluspá-Strophe 8 die metallurgischen und architektonischen Tätigkeiten, die Erwähnung des Iðavǫllr und das Vorhandensein des Edelmetalls Gold im Überfluss beibehält und letzteres sogar durch das Konstrukt des Goldzeitalters weiterspinnt, das Brettspiel an dieser Stelle aber unerwähnt lässt, um dann in der Prosaversion der Strophe 61 vom Wiederauffinden der gulltǫflur zu erzählen, ohne zuvor von deren Verschwinden oder auch nur von ihrer bloßen Existenz berichtet zu haben. Möglicherweise ist die einfachste Lösung hier die richtige: das Motiv der goldenen Brettsteine war für Snorri offenkundig ein derart konstitutives Element der eddischen Kosmogonie und Eschatologie, dass er die allgemeine Kenntnis dieses Mythologems auf Seiten seiner impliziten Leserschaft voraussetzen konnte. Hierfür spricht die Verwendung des Demonstrativpronomens þær, die andeutet, dass die Leserschaft die von Snorri unterschlagenen Elemente des Motivkomplexes eigenständig ergänzen konnte.

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Das Goldzeitalter: Latinität und Fragmente eines griechisch-römischen Mythos 

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 Matthias Teichert

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Matthias Egeler

Útgarðaloki und die Britischen Inseln Abstract: Within the history of Norse scholarship, a considerable number of the mythological motifs treated in Snorri’s Edda have at one time or another been connected with motifs found in the Celtic literatures and folklore of Britain and Ireland. The spectrum of proposed Celtic borrowings ranges from details as minor as the boar Sæhrímnir in Valhalla to elements as central as the death of Balder. Arguably the most-discussed of these proposed Celtic-Norse connections is the tale of Thor’s visit to Útgarðaloki (Gylfaginning 44–47). The present article discusses the hypothesis of a Celtic origin for the Útgarðaloki-narrative from a primarily historiographical and methodological perspective. Beginning with the work of Carl Wilhelm von Sydow, it addresses the fundamental methodological problems that characterise much older comparative research on possible Celtic influences in Norse mythology, and illustrates how these problems led to a growing scepticism towards such approaches in the last decades of the 20th century. At the same time, however, the article challenges the need for a fundamental scepticism towards the question of Celtic influences in general. In order to provide a viable alternative, it draws attention to the largely overlooked work of Rosemary Power, who in an exemplary article on the events in the hall of Útgarðaloki demonstrated the possibility of a methodologically sound approach to the question of Celtic influences in Norse mythology. Building on Power’s approach, the article then turns to one of the insular Celtic parallels to the resuscitation of Thor’s goats in Gylfaginning 44, tentatively arguing that this motif might indeed be a Celtic borrowing, but suggesting a new interpretation of the historical context in which the borrowing occurred. The discussion concludes by proposing some general methodological guidelines for approaching the question of Celtic influences in Norse mythology.

In der Geschichte der Forschung zur nordischen Mythologie ist für eine Reihe der von Snorri behandelten Mythen und mythischen Motive eine Verbindung mit inselkeltischen Überlieferungen postuliert worden; das Spektrum der Vorschläge reicht dabei von Details wie der täglichen Schlachtung und Wiederbelebung des Ebers Sæhrímnir in Walhall (Gylfaginning 38)¹ bis zu einem so zentralen Element der eddischen Mythologie wie Snorris Darstellung von Balders Tod (Gylfaginning 49).² Historiographisch wohl der prominenteste Fall eines solchen postulierten inselkeltischen Einflusses in der Mythologie der Snorra-Edda ist die Útgarðaloki-Episode in Gylfagin-

1 Zuletzt herausgegeben von Anthony Faulkes (Gylfaginning (Faulkes 2005)). 2 Für einen umfassenden Überblick vgl. Egeler 2013. Zu Sæhrímnir vgl. etwa von Sydow 1910, S. 78; de Vries 1956/57, § 582 (S. 379, Anm. 1); Egeler 2013, c. 3.12. Zu Balders Tod vgl. Rooth 1961, S. 110–140, aber auch die negative Bewertung dieses Vorschlags bei Egeler 2013, c. 3.6.

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 Matthias Egeler

ning 44–47.³ Hier wurden mehrfach Verbindungslinien zu hagiographischen Texten der Britischen Inseln, zu gälischen Volkserzählungen und irischen Texten der frühen Neuzeit gezogen und wurde entsprechend auf inselkeltische Einflüsse im Text der Snorra-Edda geschlossen, ohne daß insgesamt jedoch ein Konsens über die Bewertung der postulierten inselkeltischen Elemente erzielt werden konnte.⁴ Im folgenden soll dieses Beispiel dazu dienen, in primär forschungsgeschichtlicher Perspektive kurz die Probleme, aber auch das Potential der Frage nach inselkeltischen Einflüssen im Werk Snorris zu skizzieren. Ziel ist dabei jedoch nicht eine vollständige Aufarbeitung der Historiographie des Themas um ihrer selbst willen; vielmehr soll eine Beleuchtung einiger wichtiger Aspekte der Diskussion anhand ausgewählter Beispiele dazu dienen, die vielfach ebenso vernachlässigte wie problematische Frage der Methodologie der Erforschung inselkeltischer Einflüsse etwas mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Die Útgarðaloki-Episode läßt sich in drei Abschnitte gliedern, die innerhalb von Snorris Erzählung sehr klar voneinander abgesetzt sind: Der erste Tag der Reise bis zum folgenden Morgen, mit der Schlachtung und Wiederbelebung von Thors Böcken; der Rest der eigentlichen Reise mit der Begegnung mit dem Riesen Skrýmir; und die Ereignisse nach der Ankunft in der Burg des Útgarðaloki. Die bislang umfangreichste Behandlung der Frage keltischer Einflüsse in der Útgarðaloki-Episode als ganzer wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts von Carl Wilhelm von Sydow vorgelegt, der bis in jüngere Zeit als der wichtigste Forscher im Bereich der Frage irischer Einflüsse in der nordischen Mythologie galt:⁵ In einem monumentalen Artikel postulierte er im Jahr 1910 inselkeltische Vorlagen für die zentralsten Elemente aller drei Abschnitte der Útgarðaloki-Erzählung.⁶ Im ersten Abschnitt (Gylfaginning 44) macht Thor sich auf seinem Bockswagen und in Begleitung Lokis auf den Weg und kehrt am Abend im Haus eines Bauern ein, wo er und Loki übernachten. Thor schlachtet dort seine beiden Böcke, kocht sie und lädt die Bauernfamilie ein, diese Mahlzeit mit ihnen zu teilen. Die Knochen werden auf den abgezogenen Fellen der beiden Ziegenböcke gesammelt. Der Sohn des Bauern, Þjálfi, spaltet jedoch einen Oberschenkelknochen, um an das Mark zu gelangen, und als Thor am nächsten Morgen die beiden Bocksfelle mit seinem Hammer weiht und die Böcke lebend wieder aufstehen, lahmt einer von ihnen an einem Hinterbein. In

3 Das im folgenden hierzu besprochene Material ist auch diskutiert bei Egeler 2013, c. 3.1. 4 Vgl. etwa von Sydow 1910; von Sydow 1920, S. 28; Finnur Jónsson 1921, S. 104–113; Lorenz 1984, S. 527 f.; Power 1985a; Gísli Sigurðsson 1988, S. 80 f.; Chesnutt 1989; Liberman 1992, S. 97 f.; Clunies Ross 1994, S. 266, Anm. 33; Lindow 2000, S. 171 f.; Edda (Dronke 2011), S. 106. 5 Vgl. de Vries 1956/57, § 46; Liberman 1992, S. 97; Clunies Ross 1994, S. 266; Lindow 2000, S. 171, Anm. 1. 6 von Sydow 1910; vgl. auch von Sydow 1920, S.  28. Für eine Diskussion von über weite Strecken hin ähnlichem Material in einer noch breiteren Perspektive (aber mit ähnlichen Problemen, wie sie im folgenden angesprochen werden sollen) vgl. Schmidt 1963, S. 113–144.

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seinem Zorn darüber, daß die Bauernfamilie die Knochen der Böcke nicht mit der nötigen Sorgfalt behandelt hat, packt Thor den Griff seines Hammers so fest, daß die Knöchel weiß hervortreten; doch er läßt sich von der Angst und den Gnadengesuchen der Bauernfamilie erweichen und nimmt zur Entschädigung für die Verletzung des Ziegenbocks die beiden Kinder der Familie als Diener an. Zusammen setzen sie daraufhin ihre Reise fort.⁷ Die erste außerskandinavische Parallele, die von Sydow für diesen Teil der Útgarðaloki-Erzählung beibringt,⁸ ist eine kurze Episode der Historia Brittonum (§ 32), in der eine Begebenheit aus dem Leben des Heiligen Germanus erzählt wird; der ursprünglich aus Wales stammende Text läßt sich in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts datieren.⁹ In dieser Wundererzählung will Germanus einen ‚gewissen, sehr ungerechten und tyrannischen König‘ (quidam rex iniquus atque tyrannus valde) namens Benlus besuchen und ihm predigen. Germanus und seine Begleiter kommen zum Stadttor und schicken den Pförtner zum König; dieser verwehrt ihnen aber den Eintritt in die Stadt. Über dem Warten auf die Antwort des Königs wird es Abend, und die Gefährten wissen nicht, wo sie die Nacht verbringen sollen. Derjenige von den Bediensteten des Königs, der ihnen die abweisende Antwort seines Herrschers überbringt, verneigt sich jedoch vor Germanus und lädt sie in sein Haus ein: et ille nihil habebat de omnibus generibus iumentorum excepta una vacca cum vitulo, et occidit vitulum et coxit et posuit ante illos. et praecepit sanctus Germanus, ut non confringeretur os de ossibus eius et sic factum est et in crastino vitulus inventus est ante matrem suam sanus et vivus incolumisque. ‚Und von allen Arten von Lasttieren hatte jener nichts als eine Kuh mit einem Kalb, und er schlachtete das Kalb und kochte es und setzte es jenen vor. Und St. Germanus schrieb vor, daß kein Knochen von seinen Knochen zerbrochen würde, und so ist es getan worden, und am Morgen fand man das Kalb gesund, leben und unverletzt vor seiner Mutter.‘

Diese von von Sydow als Vergleichsmaterial zur Schlachtung und Wiederbelebung von Thors Böcken herangezogene Episode der Historia Brittonum zeigt in der Tat auffallende Parallelen zu den von Snorri erzählten Ereignissen: In beiden Fällen verbringt ein (1) Protagonist mit erheblichen Wunderkräften (2) die Nacht in einem armen Haushalt; (3) aus diesem Anlaß wird ein Tier geschlachtet, das (4) am nächsten Morgen wiederbelebt wird, (5) wobei die vollständige Wiederherstellung des

7 Außerhalb der Snorra-Edda vgl. Hymiskviða, Str. 37 f., wo offenbar auf eine Variante dieser Erzählung angespielt wird, in der Loki die Schuld an der Verletzung des Ziegenbocks zugeschrieben wird; dazu vgl. auch Edda (Dronke 2011), S. 106 f.; von See et al. 1997, S. 352 f. Allgemein zu Belegen für Elemente der Útgarðaloki-Erzählung außerhalb von Gylfaginning 44–47 vgl. Power 1985a, S. 242–244; Lindow 2000, S. 171. 8 von Sydow 1910, S. 67. 9 McDonough 2002, S. 69 f.; abgedruckt in: Chronica Minora (Mommsen 1898), S. 111–222.

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Tiers von der Unversehrtheit seiner Knochen abhängt. Die christliche Wundererzählung zeigt in den Details zwar einige Unterschiede zum Thorsmythos; so gehört das Kalb in der Historia Brittonum dem Gastgeber, während die Böcke in der eddischen Episode dem Gast gehören, und die Verletzung der Knochen erscheint in der Historia nur als Verbot, während sie in der Edda umgesetzt ist. Diese Unterschiede scheinen jedoch im Vergleich zu den Parallelen relativ geringfügig; zudem führt von Sydow im folgenden eine erhebliche Zahl weiterer christlich-hagiographischer Zeugnisse an, in welchen die Unterschiede noch mehr hinter den Gemeinsamkeiten zurücktreten können, indem z.B. das geschlachtete Tier wie im Thorsmythos dem Besucher gehört oder die Verletzung der Knochen nicht nur als Möglichkeit im Rahmen eines Verbots erscheint, sondern auch tatsächlich durchgeführt wird.¹⁰ Dieses weitere von von Sydow angeführte Vergleichsmaterial – mehrere Dutzend Varianten – hat dabei eine geographische Reichweite von den Britischen Inseln über Frankreich und die Alpenregion bis nach Siebenbürgen und sogar nach Rom.¹¹ Von Sydow schließt aus diesem Material, daß es sich beim Wiederbelebungs-Motiv um einen ursprünglich keltischen Stoff handle, der vermutlich während der Wikingerzeit als Entlehnung in die nordische Mythologie Eingang gefunden habe.¹² Diese Schlußfolgerung ist jedoch keineswegs frei von Problemen. So nimmt von Sydow etwa an, daß die überwiegende Masse der von ihm angeführten Varianten des Motivs aus Ländern mit einer Bevölkerung mit ‚keltischem Grundstock‘ stammt und daß dies den Schluß erlaubt, daß es sich beim Wiederbelebungsmotiv um ein ursprünglich heidnisch-keltisches mythisches Motiv handelt.¹³ Jedoch ist weder die Annahme solcher zeitlicher Kontinuitäten gerechtfertigt, noch die Annahme einer homogenen keltischen Mythologie im gesamten von von Sydow besprochenen Raum. Vielmehr wirft gerade die weite Verbreitung des Motivs, wie sie aus von Sydows Materialsammlung hervorgeht, die Frage auf, ob die verschiedenen Belege tatsächlich überhaupt in einem konkreten historischen Zusammenhang miteinander stehen, oder ob es sich hier nicht vielleicht um ein Motiv handelt, das wiederholt und unabhängig von anderen Belegen neu erfunden werden kann. Ein weiteres Problem an von Sydows Ansatz ist sein beinahe vollständiges Desinteresse an Fragen der Chronologie seiner Quellen. Nahezu die einzigen Quellen, für die er Fragen der Datierung explizit anspricht, sind die eddischen Belege für das Wiederbelebungsmotiv und die Historia Brittonum.¹⁴ Für praktisch das gesamte weitere Vergleichsmaterial ist die Chronologie der Quellen in von Sydows Präsen-

10 von Sydow 1910, S. 67 et passim. 11 von Sydow 1910, S. 80–97. 12 von Sydow 1910, S. 97–105. Für eine Zusammenstellung anderer Forschungsmeinungen zur Stelle vgl. Lorenz 1984, S. 511. 13 von Sydow 1910, S. 98, 101 f. et passim. 14 von Sydow 1910, S. 67.

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tation entweder undurchschaubar, oder es handelt sich deutlich um extrem späte, zumeist zeitgenössisch-folkloristische Belege. Der Wert solcher später Zeugnisse für die Hypothese eines frühen keltischen Einflusses auf die eddische Mythologie ist jedoch äußerst fragwürdig. Zwar liegt es durchaus im Rahmen des Vorstellbaren, daß auch eine späte Quelle frühe Informationen bewahren kann;¹⁵ dies wäre jedoch in jedem Einzelfall zunächst plausibel zu machen und kann nicht als Grundannahme vorausgesetzt werden. Von Sydows Quellensammlung kann daher nicht mehr leisten als darauf hinzuweisen, daß hier möglicherweise noch eine interessante Fragestellung einer systematischen Aufarbeitung harrt; ohne eine solche systematische und kritische Neubearbeitung erlaubt sie zunächst keine methodisch abgesicherten Schlußfolgerungen. Aufgrund vor allem dieser zwei Probleme einer möglichen Polygenese des Motivs und einer fehlenden chronologischen Analyse des Belegmaterials (die vermutlich ein monographisches Ausmaß annehmen würde) ist es beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht möglich, die Frage abschließend zu beantworten, wie plausibel die Idee einer Entlehnung des Wiederbelebungsmotivs aus dem inselkeltischen Bereich ist. In Anbetracht (1) der auffallenden Parallelen zwischen der Germanus-Legende und dem Thorsmythos und (2) der tatsächlich erheblich vor der Datierung der eddischen Zeugnisse liegenden Datierung der Historia Brittonum ist die Möglichkeit eines konkreten Zusammenhangs dennoch als ernstzunehmende Möglichkeit in Betracht zu ziehen.¹⁶ Andere Probleme von von Sydows Arbeitsweise illustriert seine Herleitung des zweiten Abschnitts der Útgarðaloki-Erzählung (Gylfaginning 45). Die Reisegesellschaft macht sich weiter auf gen Osten, überquert das Meer und befindet sich bei Einbruch der Dunkelheit in einem riesigen Wald, wo die Gefährten zunächst keine Unterkunft finden – bis sie schließlich auf ein großes, leerstehendes Gebäude stoßen, das sich nach einer unruhigen, erdbebengeplagten Nacht als ein Handschuh des Riesen Skrýmir herausstellt. Nach dem Frühstück macht der Riese den Vorschlag, seine eigenen Lebensmittel und diejenigen Thors und seiner Gefährten zusammenzulegen. Thor stimmt zu, und alles wird in den Sack des Riesen gepackt, der die gesammelten Vorräte darauf für den Tag trägt. Am Abend legt Skrýmir sich nieder, ohne selbst etwas zu essen, und weist Thor und seine Gefährten an, sich einfach aus dem Sack zu bedienen. Es stellt sich jedoch bald heraus, daß sich der Knoten nicht öffnen läßt, mit dem der Sack verschlossen ist. Im Zorn versucht Thor den Riesen zu erschlagen, was von diesem jedoch kaum wahrgenommen wird. Am Morgen erklärt Skrýmir Thor den weiteren Weg zu Útgarðaloki, und man trennt sich. Für diese Begegnung mit Skrýmir postuliert von Sydow eine Herkunft aus dem gälischen Finn-Zyklus. Sein wichtigster Vergleichstext ist dabei die Erzählung Gille

15 Vgl. Maier 1999. 16 Ebenso: Power 1985a, S. 245–247.

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nan Cochla-Craicinn (‚Der Bursche der Fell-Überwürfe‘):¹⁷ In dieser Erzählung haben Finn und seine Männer bei einer Jagd so reiche Beute gemacht, daß sie nicht in der Lage sind, all das erlegte Wild fortzutragen. Als Finn eben darüber nachdenkt, was sie mit der überzähligen Jagdbeute anfangen sollen, kommt ein ganz in Felle gekleideter Großer Bursche (Gille Mòr) heran und bittet darum, von Finn in Dienst genommen zu werden. Gegen den Rat seines Gefährten Conan nimmt Finn den Großen Burschen in sein Gefolge auf. Als der Aufbruch bevorsteht, lädt sich jeder von Finns Männern so viel von dem erlegten Wild auf, wie er tragen kann; der größte Teil des Wilds bleibt jedoch übrig. Nun nimmt der Große Bursche diesen gesamten Rest der Jagdbeute alleine auf seinen Rücken und verlangt, daß ihm jemand den Weg zum Lager zeigt. Conan legt seine eigene Last ab und läuft ihm voraus; aber obwohl Conan keine Last trägt und der Große Bursche mehr als die Hälfte der Beute des gesamten Tages, kann Conan mit dem Neuling nicht Schritt halten. Als die Männer den Großen Burschen im Lager wieder einholen, hat dieser bereits für alle gekocht. Da seine überragende Stärke (bzw. ihre vergleichsweise Schwäche) für Finns Männer zu einer Peinlichkeit wird, rät Conan dazu, den Großen Burschen mit einer scheinbar unlösbaren Aufgabe fortzuschicken, die ihn so weit weg führen wird, daß allein schon die Reisezeit seine gesamte vereinbarte Dienstzeit ausfüllen würde. Der Große Bursche nimmt die Aufgabe an, die ihm daraufhin auferlegt wird – und erfüllt sie in unglaublich kurzer Zeit. Conan will das Offensichtliche nicht glauben und fordert den Großen Burschen sofort nach seiner Rückkehr zu Wettkämpfen im Springen, Laufen und Ringen heraus, mit denen der Große Bursche beweisen soll, daß er wirklich schnell genug ist, um die ihm gestellte Aufgabe in so kurzer Zeit erledigt haben zu können. Da Conan dem Großen Burschen keine Ruhe lassen will und ihn immer wieder zu neuen Wettkämpfen herausfordert (die Conan immer wieder aufs neue verliert), hat der Große Bursche schließlich genug: Er fesselt Conan mit Knoten, die keiner von Finns Männern lösen kann, und geht seiner eigenen Wege. Von Sydow betrachtet es als sicher, daß die Skrýmir-Episode und diese gälische Erzählung Varianten derselben, ursprünglich keltischen Geschichte sind.¹⁸ Schon aus dieser kurzen Zusammenfassung sollte jedoch deutlich geworden sein, daß zwischen der Erzählung vom Großen Burschen und der Skrýmir-Episode kaum Ähnlichkeiten bestehen. Zwar gibt es Parallelen in einzelnen isolierten Motiven: In beiden Erzählungen kommt es etwa zu einem Treffen mit einer unglaublich starken Figur, die eine große Menge Essen auf dem Rücken trägt und unlösbare Knoten knüpft, und der Wettlauf zwischen Conan und dem Großen Burschen läßt sich damit vergleichen, daß Þjálfi in der Halle des Útgarðaloki gegen Hugi zum Wettlauf antreten wird (Gylfaginning 46).¹⁹ Um hier tatsächlich Ähnlichkeiten sehen zu können, ist es allerdings

17 MacDougall 1891, S. 27–55; von Sydow 1910, S. 150 f. 18 von Sydow 1910, S. 153. 19 von Sydow 1910, S. 152 f. und 177 f.

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nötig, die einschlägigen Motive zuerst aus ihren Kontexten innerhalb der beiden Texte herauszulösen und – in von Sydows Worten – zu ‚abstrahieren‘.²⁰ In Anbetracht der insgesamt kaum ersichtlichen Ähnlichkeit zwischen den beiden Zeugnissen scheint ein solches Verfahren jedoch fragwürdig: Wenn Parallelen erst dadurch sichtbar werden, daß man die jeweiligen Motive aus ihren Kontexten löst, ist dies weniger ein Hinweis auf einen gemeinsamen Ursprung als darauf, daß keine nennenswerten Parallelen existieren. Entsprechend ist es etwas überraschend, daß von Sydow auf dieser Grundlage dennoch mit Nachdruck auf einer keltischen Herkunft der SkrýmirEpisode beharrt.²¹ In Anbetracht der fehlenden Parallelen zwischen der postulierten Vorlage und dem postulierten nordischen Derivat scheint es dabei im übrigen kaum noch nötig, auf die chronologischen Probleme von von Sydows These hinzuweisen: Die Geschichte vom Großen Burschen wurde erst im Jahr 1889 oder 1890 aus mündlicher Tradition aufgezeichnet.²² Dies allein macht es bereits mehr als problematisch, sie zur Grundlage der mehr als sechs Jahrhunderte früher aufgezeichneten SkrýmirEpisode zu erklären. Von Sydows Forschung zu inselkeltischen Einflüssen in der nordischen Mythologie verbindet in dieser Weise gelegentliche hochinteressante Einzelbeobachtungen mit einem generellen Desinteresse an Fragen der Datierung der verwendeten Quellen, einer vollständig fehlenden Quellenkritik und einer erheblichen Bereitschaft dazu, oberflächliche Reminiszenzen in isolierten Details als Beweis für direkte historische Verbindungen anzusehen. Trotz ihres Alters schien es aus zwei Gründen sinnvoll, diesen Umstand anhand einer kurzen Besprechung von Aspekten von von Sydows Arbeit zu illustrieren: Zum einen gehören die Arbeiten von Sydows nach wie vor zu den meistzitierten Beiträgen auf diesem Gebiet, und zum anderen ist seine Herangehensweise für weite Teile der Diskussion insgesamt repräsentativ – einschließlich deutlich späterer Arbeiten (etwa Rooths, Wagners oder Chesnutts).²³ Gerade Letzteres hatte natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Stellung der Frage innerhalb der Forschungsdiskussion zur nordischen Mythologie insgesamt. Daß solche grundlegende methodische Probleme bei komparatistischen Arbeiten zu keltischen Einflüs-

20 von Sydow 1910, S. 152. 21 von Sydow 1910, S. 148–154, 166 f. und 177 f. 22 MacDougall 1891, S. ix. Schon zu seiner Zeit veraltet war von Sydows Annahme, daß die entsprechende mündliche Überlieferung eine bis ins Frühmittelalter zurückreichende Tradition widerspiegeln muß (von Sydow 1910, S. 152). 23 Vgl. etwa die (insgesamt vernichtenden) Rezensionen von Heinrichs 1964, Halvorsen 1963 und Davidson 1962 zur Monographie von Rooth 1961; Harris 1976, S. 68 f. und 72 f. contra von Sydow 1920, S. 26 f. und Chesnutt 1968, S. 125; Schröder 1967, S. 3–6 contra Wagner 1955; oder Chesnutts Versuch der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen dem Hjaðningavíg und der irischen Erzählung Cath Maige Tuired, obwohl gerade die charakteristischsten Elemente des Hjaðningavíg dort kein Gegenstück finden (man denke insbesondere an den Frauenraub als Grund der Auseinandersetzung und an die Wiederbelebung der Toten beider Seiten) (Chesnutt 1968, S. 129–133; Chesnutt 1989, S. 51–53).

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sen über viele Jahrzehnte hin beinahe den Normalfall darstellten und es zudem im Bereich der Methodologie solcher Arbeiten in den folgenden Jahrzehnten kaum zu einer nennenswerten Entwicklung neuer und weniger problematischer Zugänge kam, hat spätestens seit dem Beginn der 1990er Jahre zu einer zunehmenden grundsätzlichen Skepsis gegenüber komparatistischen Arbeiten auf diesem Gebiet geführt.²⁴ Die Verantwortung hierfür liegt jedoch weniger bei der Fragestellung an sich als vielmehr bei der Umsetzung entsprechender Arbeiten. Den Beweis dafür, daß eine Auseinandersetzung mit der Frage von nordischer Mythologie und inselkeltischem Einfluß auch in methodisch verantwortungsvoller Weise möglich ist, hat ein Beitrag Rosemary Powers erbracht, der aufgrund seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift der „Folklore of Ireland Society“ bislang allerdings weitestgehend außerhalb des Gesichtskreises der nordistischen Forschung geblieben ist.²⁵ In diesem Beitrag beschäftigt Power sich insbesondere mit dem dritten Abschnitt von Snorris Útgarðaloki-Erzählung: den Ereignissen in der Burg des Útgarðaloki (Gylfaginning 46 f.).²⁶ Nachdem Skrýmir Thor und seinen Gefährten den weiteren Weg erklärt hat und selbst in eine andere Richtung losgezogen ist, erreichen sie bald eine riesige Burg auf freiem Feld; sie können zwar das Tor nicht öffnen, sind aber in der Lage, sich zwischen den Gitterstäben hindurchzuzwängen und gelangen so in die Halle des Herrschers dieser Burg, des Útgarðaloki. Der fragt sie, in welchen Fähigkeiten sie sich auszeichnen, da niemand in seiner Halle bleiben darf, der sich nicht in einer Kunst oder Fähigkeit besonders auszeichnet. Hierauf folgt eine Reihe von Wettkämpfen, in denen die Gefährten sich auszuzeichnen versuchen, aber letztlich einer nach dem anderen unterliegen: Loki im Wettessen gegen Logi, Þjálfi im Wettrennen gegen Hugi, und Thor beim Versuch, ein Trinkhorn zu leeren, eine Katze vom Boden zu heben und mit Útgarðalokis alter Amme Elli zu ringen. Erst am nächsten Morgen enthüllt Útgarðaloki, welche Leistungen sie bei ihren scheinbaren Niederlagen erbracht haben: Keiner ihrer Gegner war, was er zu sein schien, und so fand das Wettessen statt gegen das Feuer, der Wettlauf gegen Útgarðalokis Gedanken, das Trinkhorn reichte bis ins Meer,

24 Vgl. Liberman 1992, S. 97 f.; Clunies Ross 1994, S. 266, Anm. 33; Lindow 2000, S. 171 f. 25 Power 1985a. Eine vereinzelte Ausnahme ist Gísli Sigurðsson 1988, S. 80 f.; Chesnutt 1989, S. 54 f., Anm. 8 beschränkt sich darauf, einzugestehen, den Artikel übersehen zu haben – was entschuldbar wäre, wenn er diesem Eingeständnis nicht noch einige unangemessene abwertende Bemerkungen folgen lassen würde: Daß Chesnutt gerade Powers vorsichtige Argumentation und gründliche Aufarbeitung des irischen Materials in ein negatives Licht zu rücken versucht, ist kaum nachvollziehbar. 26 Powers Arbeit stellt dabei keineswegs die erste Behandlung der Frage dar, ob die Ereignisse in der Burg des Útgarðaloki zu irischen Erzählungen in Beziehung zu setzen sind; vielmehr wurde auf die Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen in der Halle des Útgarðaloki und der irischen Erzählung von der ‚Gastlichen Aufnahme Finns im Haus von Cuana‘ bereits von Kennedy 1871, S. 135 hingewiesen, der im Stile seiner Zeit schlußfolgerte: „Both the legends owed their existence to some myth known to the ancestors of Teutons and Celts before their separation in Central Asia.“ Für einen detaillierten Überblick über die Forschungsgeschichte vgl. Power 1985a, S. 220–222. Auch von Sydow 1910 besprach diesen Abschnitt der Útgarðaloki-Erzählung (von Sydow 1910, S. 167–182).

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die Katze war die Midgardschlange und die alte Amme war das personifizierte Alter. Thor und seine Begleiter haben in diesen Wettkämpfen so große Stärke bewiesen, daß Útgarðaloki betont, er hätte sie nie in seine Burg gelassen, wenn er geahnt hätte, mit wem er es zu tun haben würde. Ferner erklärt er, daß er selbst Skrýmir war und Thor auch im Verlauf ihrer ersten Begegnung zum Opfer von allerlei Täuschungen wurde. Nachdem er all dies erläutert hat, verschwindet Útgarðaloki samt seiner Burg; Thor und seine Gefährten finden sich plötzlich allein in einer offenen Landschaft wieder. Auffallend viele Elemente dieser Erzählung kehren in Irland einerseits in einer Episode der mittelalterlichen Erzählung Feis Tighe Chonáin, andererseits in einer rezenten mündlichen Volkserzählung wieder. Die einschlägige Episode der mittelalterlichen Erzählung – Oidhachtus Find co Teach Cuanna (‚Gastliche Aufnahme Finns im Haus von Cuana‘) – berichtet, wie Finn mit einigen seiner Gefährten einem Riesen zu folgen versucht, den eine junge Frau sehr schnell vor sich hertreibt. Nach der Durchquerung eines Nebels (und nachdem sie den Riesen verloren haben) gelangen sie dabei zu einem schönen Haus. Dort treffen sie u.a. wieder auf den Riesen und die junge Frau. Zu einer Peinlichkeit entwickelt sich eine Auseinandersetzung mit einem Schafsbock, der Finns Männern das ihnen vorgesetzte Essen wegfrißt und gegen den sie mit ihren Waffen nichts ausrichten können. Etwas später verwandelt eine alte Frau Finns Gefährten mit Hilfe ihres Mantels zeitweilig in alte Männer. Erst nachdem Finn eine Weile geschlafen hat, wird ihm vom Hausherrn erklärt, daß es sich bei allem, was sie gesehen und erlebt haben, um Allegorien handelte: Die junge Frau, die den Riesen trieb, war der ‚Geist/Gedanke‘ (Meanma),²⁷ der die ‚Faulheit‘ vor sich hertreibt, und sie kann in der Zeit eines Liedschlags weiter reisen als eine andere Person in vierzig Jahren; der Schafsbock war das ‚menschliche Wesen‘; die alte Frau war das ‚Alter‘. Am nächsten Morgen sind das Haus und alle seine Bewohner verschwunden und Finn und seine Gefährten finden sich in vertrautem Terrain wieder.²⁸ Die Parallelen zwischen der Erzählung Snorris und Oidhachtus Find co Teach Cuanna betreffen sowohl den allgemeinen Aufbau als auch spezifische Details der Geschichten: Beide Male trifft die Reisegruppe vor ihrer Ankunft auf einen Riesen, der ihnen zwar den Weg weist (bzw. dem sie erfolglos zu folgen versuchen), der sie aber nicht zum Haus/zur Burg begleitet, obgleich sie ihn dort wiedertreffen (Skrýmir war Útgarðaloki; der Riese in der irischen Erzählung sitzt im Haus am Feuer und brät das Essen). Eine Figur, die sich schneller bewegt als jeder Mensch, personifiziert den menschlichen Geist/Gedanken und ist auch als solcher benannt (Hugi; Meanma). Eine Auseinandersetzung mit einem scheinbar harmlosen tierischen Gegner endet mit

27 Vgl. DIL, s.v. menma. 28 Detaillierte Zusammenfassung: Power 1985a, S.  226–228; Standardausgabe: Feis Tighe Chonáin (Joynt 1936), dort S. 14–20. Die einzige Übersetzung (nach einer Ausgabe, die einer anderen Handschrift folgt als die Standardedition) findet sich in Feis Tighe Chonáin Chinn Shléibhe (O’Kearney 1855), S. 146–157.

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einem scheinbar peinlichen Fehlschlag (Katze; Schafsbock). Eine alte Frau verkörpert das Alter und zeigt ihre Macht über die Besucher. Erst nach diesen durchaus unangenehmen Erlebnissen wird den Besuchern erläutert, daß es sich bei allem, was sie erlebt haben, um Begegnungen mit Personifikationen handelte; und am nächsten Morgen ist das Gebäude verschwunden und die Gefährten finden sich auf freiem Feld wieder. Power zeigt in ihrer ausführlichen Diskussion auf, daß sich die Parallelen zwischen der irischen und der nordischen Geschichte vielleicht sogar noch bis in weitere Details verfolgen lassen (so weist Power etwa darauf hin, daß zwölf Varianten der mündlichen Erzählung das Motiv einer Katze enthalten, die den Tod personifiziert, während Thor beim Weltuntergang nach seinem letzten Kampf mit der Midgardschlange den Tod finden wird, welche in Útgarðalokis Halle als Katze erscheint);²⁹ selbst diese kurze Skizze macht jedoch bereits deutlich, wie nahe sich die beiden Geschichten stehen. Methodisch geht Power in mehrfacher Hinsicht über die bis dahin vorgelegten Arbeiten hinaus. Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Powers Arbeit und älteren Ansätzen besteht darin, daß Power zum ersten Mal in der damals bereits über 100-jährigen Forschungsgeschichte die irische Beleglage klärt: Die literarische Fassung der irischen Geschichte in Feis Tighe Chonáin erfreute sich einer außerordentlichen Beliebtheit, die sich in einer Bezeugung in zumindest 57 erhaltenen Handschriften niederschlägt, wobei diese Handschriften bis ins späte 16. Jh. zurückreichen. Dasselbe Bild einer ungemein beliebten Geschichte bietet die Belegsituation für die mündliche Volkserzählung, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in über 91 Versionen aufgezeichnet worden ist.³⁰ Dem steht in auffallendem Kontrast gegenüber, daß die Útgarðaloki-Erzählung in Snorris Edda die einzige Fassung dieses Typs von Erzählung darstellt, die in der isländischen Literatur bekannt ist.³¹ Beides ist von grundlegender Bedeutung für die Beurteilung des Problems der Chronologie. Während Snorri seine Erzählung im 13. Jahrhundert aufgezeichnet hat, stammt die älteste Handschrift (!) von Feis Tighe Chonáin erst aus dem 16. Jahrhundert. Nun ist die Datierung der ältesten Handschrift zwar nicht notwendigerweise mit der Datierung des Texts gleichzusetzen, und MacKillop setzt als Datierung des literarischen Texts in seiner vorliegenden Form das 14. oder 15. Jahrhundert an,³² was die chronologische Lücke zwischen der nordischen und der irischen Erzählung nochmals verkleinert. Dennoch ist festzuhalten (und wird von Power ausdrücklich gewürdigt), daß die irische Erzählung erst merklich später faßbar wird als die Útgarðaloki-Erzählung. Powers gründliche Aufarbeitung der irischen Beleglage macht nun jedoch deut-

29 Power 1985a, S. 239–260 (zur Katze: S. 253 f.). 30 Power 1985a, S. 219 f. und 222 f.; für eine detaillierte Zusammenfassung der mündlichen Fassung vgl. ebd., S. 223 f. 31 Power 1985a, S. 220. 32 MacKillop 2004, S. 208.

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lich, daß sich die Geschichte in Irland über zumindest ein halbes Jahrtausend einer bemerkenswerten Beliebtheit erfreute. Damit wird die Vorstellung zum erste Mal glaubwürdig, daß die Erzählung in Irland nicht erst mit ihrem ersten erhaltenen Beleg einsetzt, sondern schon vor dem Einsetzen unserer Zeugnisse über eine längere Zeit hinweg geläufig gewesen sein könnte. Auf der Grundlage dieser ausführlichen Aufarbeitung wird Powers vorsichtige Schlußfolgerung plausibel, daß die erheblichen und bis in die Details reichenden Ähnlichkeiten zwischen der Útgarðaloki-Erzählung und Oidhachtus Find co Teach Cuanna darauf hindeuten, daß zwischen den beiden Erzählungen wahrscheinlich eine historische Verbindung bestehen dürfte. Dabei legt die isolierte Bezeugung des Erzählungstyps in der isländischen Literatur, wo er auf die Episode in Snorris Edda beschränkt ist, im Vergleich zur großen Beliebtheit und weiten Verbreitung der Geschichte in Irland nahe, daß die Richtung der Entlehnung von Irland nach Island verlief, und nicht umgekehrt.³³ Die grundlegende Aufarbeitung der Ereignisse in der Burg des Útgarðaloki durch Power illustriert, daß eine methodisch vertretbare Behandlung der Frage inselkeltischer Einflüsse in der nordischen Mythologie durchaus möglich ist. Auf einer anderen Ebene als der einer verantwortungsbewußten Methodik wurde die Frage nach inselkeltischen Wurzeln eddischer Motive in jüngster Zeit jedoch von John Lindow kritisiert: Lindow hat darauf hingewiesen, daß die Frage nach externen Einflüssen in der SnorraEdda oft zur Schlußfolgerung geführt hat, daß die aus nicht-nordischen Quellen hergeleiteten Motive als religiös irrelevant und Teile eines rein literarischen, romanhaften Konstrukts zu betrachten sind.³⁴ Als Illustration für solche und ähnliche Tendenzen ließe sich, zusätzlich zu den von Lindow angeführten Beispielen,³⁵ etwa die Zugangsweise Michael Chesnutts zitieren: Chesnutt vertritt (weitgehend auf der Grundlage der Arbeiten von Sydows) für verschiedene nordische mythische Motive eine inselkeltische Herkunft und lokalisiert diese postulierte Entlehnung im Kontext einer hypothetischen Schwächung des Heidentums in der Auseinandersetzung mit christlichen Vorstellungen während der Wikingerzeit.³⁶ Für einen solchen Zugang stellt das Erscheinen außer-nordischer Elemente in der nordischen Mythologie ein Zeichen des Verfalls dar. Lindow lehnt eine derartige Zugangsweise mit Nachdruck ab: Statt den mythologischen Quellen ihren Wert als religionsgeschichtliche Zeugnisse abzusprechen, hält er es für nötig und möglich, sie auf ihre religiöse Signifikanz hin zu analysieren.³⁷

33 Power 1985a, S.  257–262 et passim. Die gegenteilige Auffassung, wonach die irische Erzählung von der nordischen abgeleitet sei, vertrat etwa von der Leyen 1908. 34 Lindow 2000, S. 171 f. 35 Lindow 2000, S. 171 f. 36 Chesnutt 1989, S. 41 f. und 51. Vgl. auch de Vries 1956/57, § 46, der aus der Entlehnungsfrage auf einen wesentlich literarischen Charakter der entsprechenden mythologischen Erzählungen schließt, oder (in einem ganz entsprechenden Sinne) Lorenz 1984, S.  527; von Sydow 1910, S.  147 f., 166 f. und 182. 37 Lindow 2000, S. 172, in Anlehnung an Clunies Ross 1994, S. 266–268.

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Dem ist einerseits vollkommen zuzustimmen; andererseits ist jedoch hinzuzufügen, daß zwischen der Frage außer-nordischer Einflüsse und der Frage der religiösen Bedeutung einer Erzählung kein zwingender Widerspruch besteht. Auch hier zeigt Powers Arbeit wegweisende Ansätze: Power gibt sich nicht damit zufrieden, aus den Ähnlichkeiten zwischen dem irischen und dem nordischen Material auf einen Zusammenhang zwischen beiden zu schließen, sondern sie widmet gerade auch den Unterschieden zwischen den irischen und der isländischen Variante der Erzählung besondere Aufmerksamkeit. Dabei werden insbesondere zwei Dinge deutlich: Es gibt keinen Grund zur Annahme, daß die Ereignisse in der Halle des Útgarðaloki eine Abwertung oder Infragestellung von Thors Status implizieren, die mit einer Annahme einer ‚geschwächten‘ Verehrung des Gottes oder einer areligiös-respektlosen Haltung zu verbinden wäre; und der Vergleich mit dem irischen Material kann konkrete Beiträge zum besseren Verständnis von Snorris Erzählung leisten. Die irische Erzählung vom Haus von Cuana gehört zum Zyklus von Erzählungen um den Helden Finn mac Cumaill, einen der populärsten Helden der mündlichen wie schriftlichen irischen Literatur.³⁸ Zur Übertragung einer Finn-Erzählung auf Thor bemerkt Power, daß Thor in der nordischen Literatur das naheliegendste Äquivalent zu Finn darstellt, da er sich (wie Finn) durch außerordentliche Stärke auszeichnet und in mehreren anderen Erzählungen Reisen in die ‚Anderwelt‘ antritt.³⁹ Wichtig ist hieran, daß der Anknüpfungspunkt zwischen Finn und Thor in ihrem heroischen Status besteht: Wesentlich ist nicht die (ohnehin nur oberflächlich betrachtet überhaupt vorhandene) Erniedrigung Thors durch Útgarðaloki, sondern sein Status als ‚Heldengott‘, der auf weite Fahrten auszieht. Eine Aufnahme einer im irischen Bereich (zumindest in späterer Zeit) überaus beliebten Erzählung über den Helden Finn in das Corpus von Erzählungen über Thor impliziert entsprechend keine Abwertung, sondern eine Zuschreibung von zusätzlichem Prestige: Als ein Gott, der alle Situationen meistern kann, steht Thor auch dem mit allerlei übernatürlichen Kräften begabten irischen Volkshelden Finn in nichts nach. Thors heroischer Status erfährt damit eine Ausschmückung und Bereicherung, die seine Auffassung als heroischer Gott nicht untergräbt, sondern unterstreicht. Falls der Verdacht einer irischen Herkunft der Ereignisse in der Halle des Útgarðaloki zutrifft, erklären sich dadurch vielleicht auch auffallende Eigenheiten dieser Episode. Als eine solche erklärungsbedürftige Eigenheit faßt Power etwa Thors Ringkampf mit Elli auf: Da die nordischen Götter (dank der Äpfel Iduns) nicht altern, ist nicht ersichtlich, warum Elli in der Lage sein sollte, Thor aufs Knie zu zwingen. Dieses merkwürdige Detail findet jedoch eine ganz natürliche Erklärung, wenn die Erzäh-

38 Allgemein zu Finn und mit weiterer Literatur vgl. etwa MacKillop 2004, S. 230–233 mit den dortigen Querverweisen. 39 Power 1985a, S. 244; zu den ‚Anderweltsreisen‘ Thors und von Helden mit dem Namenselement Þor- vgl. etwa Power 1985b.

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lung auf eine Heldensage zurückgeht, die ursprünglich von sterblichen und normal alternden Helden erzählt wurde: Im Rahmen der Finn-Sage ist nichts Verblüffendes an der Rolle, die die alte Frau (die Personifizierung des Alters) in Oidhachtus Find co Teach Cuanna spielt; denn bei den Helden, die mit ihr konfrontiert werden, handelt es sich um Menschen, die dem normalen Alterungsprozeß unterworfen sind.⁴⁰ Solche Ansätze sind dabei nicht nur für das Verständnis der Ereignisse in der Halle des Útgarðaloki gewinnbringend. In diesem Sinne sei es deshalb erlaubt, an den Anfang der vorliegenden Betrachtungen zurückzukehren und nochmals die Verbindung der Schlachtung und Wiederbelebung von Thors Böcken mit der Hagiographie der Britischen Inseln anzusprechen, die von Sydow vorgeschlagen hatte. Eine umfassende Aufarbeitung der Fragestellung liegt bislang nicht vor, so daß sich kein letztgültiges Urteil darüber fällen läßt, ob die auffallend engen Parallelen zwischen der Wiederbelebung des Kalbs durch St. Germanus in der Historia Brittonum und der Wiederbelebung von Thors Böcken auf Polygenese oder auf eine Motiventlehnung zurückzuführen sind.⁴¹ In Anbetracht der Genauigkeit der Übereinstimmung ist eine Entlehnung jedoch zumindest eine ernstzunehmende Möglichkeit. Dies wirft entsprechend potentiell die Frage auf, wie die Entlehnung eines solchen Motivs in die Mythologie Thors zu interpretieren wäre. Chesnutt denkt hier an eine Übernahme im Kontext eines durch die Auseinandersetzung mit dem Christentum geschwächten Heidentums.⁴² Allerdings ist nicht ersichtlich, welche Motivation im Rahmen einer tatsächlichen Schwächung des Heidentums bestehen würde, einem der heidnischen Götter ein Wunder aus dem Repertoire der christlichen Hagiographie zuzuschreiben. Diese Frage ist dabei umso dringender, als das fragliche Wunder im Rahmen des Christentums der frühmittelalterlichen Britischen Inseln an sehr prominenter Stelle erscheinen konnte: Die Wiederbelebung des Kalbs erscheint unter den Wundern des Germanus nicht an beliebiger Stelle, sondern es handelt sich gerade um das primum miraculum de miraculis eius. Der Kontext dieses ‚ersten Wunders‘ mag (wenn auch vielleicht zufällig) in die richtige Richtung weisen: Denn dieses primum miraculum ist das erste Wunder, das St. Germanus auf einer Reise nach Britannien wirkt, die ausdrücklich der Bekehrung von Ungläubigen dient. Im weiteren Verlauf der Geschichte nach der Wiederbelebung des Kalbs bleibt der tyrannische König, der den Heiligen abgewiesen hat, verstockt, und am Abend nach der Wiederbelebung fällt Feuer vom Himmel und verschlingt die Zitadelle des Tyrannen mitsamt dem König und allen anderen darin befindlichen

40 Power 1985a, S. 254 f. 41 So auch Power 1985a, S. 246 f.; Chesnutt 1989, S. 38 hält eine Entlehnung auf der Grundlage von von Sydows (1910) Arbeit für erwiesen, steht dessen Schlußfolgerungen und Arbeitsweise aber zu unkritisch gegenüber. Vorbehaltlos (aber ohne Diskussion oder Nachweise) akzeptiert wird eine irische Herleitung der Erzählung auch von Dronke (Edda (Dronke 2011), S. 106). 42 Chesnutt 1989, S. 42 und 51.

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Menschen. Germanus’ Gastgeber jedoch nimmt den christlichen Glauben an und wird getauft, und von ihm stammen von da an die Könige von Powys ab (Historia Brittonum 32–35). Der Kontext, in dem das Wiederbelebungswunder hier erscheint, ist somit der Kontext der direkten Konfrontation von Christentum und Heidentum. Diese Konfrontation spielt sich dabei nicht auf der Ebene einer argumentativen Auseinandersetzung mit fremden Glaubensvorstellungen ab, sondern ist eine Konfrontation, die gänzlich auf der Ebene der Machtfrage ausgetragen wird: Der König hat die Macht, dem Heiligen den Zutritt zu seiner Stadt zu verwehren; der Heilige hat die Macht, den König mitsamt seinem ganzen Gefolge in der Stadt durch ein himmlisches Feuer verbrennen zu lassen. Ebenso ist auch die Wiederbelebung des Kalbs eine Machtdemonstration, die eine andere Machtdemonstration des Königs spiegelt (Historia Brittonum 33): An dem Morgen, an dem das Kalb wiederbelebt wird, kommt ein Mann aus dem Gefolge des Königs zu St. Germanus und läßt sich taufen; unmittelbar darauf wird er auf Befehl des Königs hingerichtet (wenn auch nicht aufgrund der Taufe, sondern wegen seines verspäteten Erscheinens zur Arbeit im Palast!). Dies stellt eine drastische Gegenüberstellung von Heiligem und König dar: Während der Heilige die Macht hat, Leben zu schenken, vermag der König nur, den Tod zu bringen. Auch hier kommt es zu einem impliziten Vergleich zwischen der Macht des Heiligen und der Macht des Königs, und die überlegene Machtdemonstration des Heiligen nimmt seinen schlußendlichen Triumph vorweg. Die Machtfrage erscheint auch außerhalb der Historia Brittonum wiederholt als entscheidendes Element der Bekehrungsgeschichte. Ein klassisches Beispiel ist Gregor von Tours’ Darstellung der Diskussion zwischen Chlodwig I. und seiner christlichen Frau (Historia Francorum 2, 29):⁴³ Beiden legt Gregor die Machtfrage als zentrales Element ihrer anti- bzw. pro-christlichen Argumentation in den Mund. So leitet die Königin ihre Polemik damit ein, daß sie den heidnischen Göttern völlige Machtlosigkeit unterstellt: nihil sunt dii quos colitis, qui neque sibi neque aliis potuerunt subvenire (‚die Götter, die ihr verehrt, sind nichts, die weder sich selbst noch anderen helfen konnten‘). Der König schmettert ihre Argumente jedoch ab: deorum nostrorum iussione cuncta creantur ac prudeunt, Deus vero vester nihil posse manefestatur, et quod magis est, nec de deorum genere esse probatur (‚auf den Befehl unserer Götter werden alle Dinge geschaffen und erscheinen, es zeigt sich aber deutlich, daß euer Gott nichts vermag, und was mehr ist, es erweist sich, daß er nicht zum Geschlecht der Götter gehört‘). In dieselbe Kategorie dürfte der häufig belegte Topos zu stellen sein, wonach die Bekehrung vom Sieg in einer schwierigen Situation abhängig gemacht wird: Auch hier wird vom neuen Gott primär ein Machtbeweis verlangt, wie in der Hávarðar saga Ísfirðings (c. 11), wo Hávarðr den Übertritt zum Christentum für den Fall gelobt, daß

43 Historia Francorum (Krusch / Levison 1951).

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es ihm gelingt, trotz einer in diesem Moment aussichtslos erscheinenden Lage den Mörder seines Sohnes zu erschlagen.⁴⁴ In diesen Kontext der Machtfrage einerseits und der heidnisch-christlichen Konfrontation andererseits könnte auch die Übernahme des Wiederbelebungsmotivs aus einer christlichen Heiligenlegende in die heidnische Mythologie einzuordnen sein: Im Rahmen einer Diskussion über die relative Machtfülle christlicher und heidnischer ‚religiöser Protagonisten‘ ist eine der naheliegendsten heidnischen Antworten auf christliche Überlegenheitsansprüche vermutlich das schlichte Pochen darauf, daß auch die heidnischen Götter all das zu vollbringen vermögen, was ihre neue Konkurrenz als Machtdemonstration ins Feld führt. In einer Situation, in der es zu einem direkten Vergleich zwischen der Machtfülle beider Seiten kommt, bietet sich entsprechend eine hervorragende Gelegenheit für die Übernahme von Wundertaten aus einer Mythologie in die andere. Eine solche Strategie ist dabei keineswegs als eine Schwächeerscheinung des späten Heidentums aufzufassen, sondern ist vielmehr als eine natürliche Reaktion eines lebendigen religiösen Systems in einer Konfrontationssituation zu werten. Dieses Phänomen steht  – falls eine solche Interpretation der erheblichen Ähnlichkeiten zwischen der St. Germanus-Episode und der Wiederbelebung von Thors Böcken das Richtige trifft  – im Rahmen der Verehrung Thors zudem keineswegs isoliert da: Auch die im 10. Jahrhundert erscheinenden silbernen Thorshammer-Amulette werden zumeist als heidnische Reaktion auf die in dieser Zeit aufkommende christliche Mode betrachtet, Kreuze als Anhänger zu tragen.⁴⁵ Unter dem Vorbehalt, daß eine Polygenese des Wiederbelebungsmotivs nach wie vor nicht völlig ausgeschlossen werden kann, bietet sich damit die Möglichkeit, es im weiteren Kontext der heidnischen Reaktion auf christliche Überlegenheitsansprüche im Rahmen der heidnisch-christlichen Konfrontation während der Bekehrungszeit zu lokalisieren. Dies bedeutet weder ein Fehlen religiöser Signifikanz, noch erlaubt es den Rückschluß auf eine heidnische ‚Schwäche‘, sondern öffnet vielmehr ein farbiges (wenn auch in gewissem Umfang hypothetisches) Fenster auf die dynamischen Konfrontations- und Austauschprozesse der heidnischen Spätzeit. Will man aus dem im vorangehenden Gesagten einige allgemeine methodologische Schlüsse ziehen, so läßt sich abschließend vielleicht Folgendes festhalten: Trotz des Verrufs, in den komparatistische Ansätze aufgrund der Arbeitsweise mancher älterer Autoren geraten sind, ist die Frage nach inselkeltischen Einflüssen in der nordischen Mythologie nach wie vor eine sinnvolle Fragestellung, die sich in methodisch vertretbarer Weise behandeln läßt. Grundlegende Qualitätsmaßstäbe für entsprechende Arbeiten sind dabei die folgenden Punkte:

44 Hávarðar saga Ísfirðings (Björn K. Þórólfsson 1923). Für weitere Beispiele vgl. de Vries 1956/57, § 620. 45 de Vries 1956/57, § 425; Simek 1993, S. 320 f.; Abram 2011, S. 65 f.; vgl. Gräslund 2001, S. 56 f., aber auch die kritische Diskussion von Nordeide 2006.

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(1) Neben der detaillierten Würdigung des nordischen Materials ist auch die ausführliche Würdigung des Vergleichsmaterials unabdingbar: Eine wirkliche Entscheidung über die Plausibilität einer Beeinflussung ist nur dann möglich, wenn die Argumentation nicht auf herausgegriffene Einzelbeispiele beschränkt bleibt, sondern das Material in seiner Gesamtheit miteinbezieht. Eine exemplarische Besprechung von Einzelbeispielen kann niemals mehr leisten als eine Hypothese zu skizzieren, deren Überprüfung einer vollständigen Durchsicht des Materials bedarf. (2) Die Frage der Datierung der Quellen ist in allen Fällen an zentraler Stelle zu berücksichtigen. Die Verwendung später  – folkloristischer u.ä.  – Quellen ist nur dann sinnvoll, wenn konkrete Gründe angegeben werden können, warum eine Kontinuität zwischen dem Mittelalter und dem späteren Material angenommen werden sollte. (3) Ein Vergleich darf sich nicht auf dekontextualisierte Einzelmotive beschränken, sondern muß die Motive in ihrem Gesamtzusammenhang würdigen. (4) Parallelen und Unterschiede sind gleichermaßen zu berücksichtigen. (5) Die Frage nach Motiventlehnungen ist dabei weniger um ihrer selbst willen interessant als in Hinblick darauf, was eine Entlehnung zum besseren Verständnis einerseits des vorliegenden Texts und andererseits des Entlehnungsprozesses und seiner religionsgeschichtlichen Kontexte beitragen kann. In Anbetracht der Materiallage dürfte es auch bei Anlegung solcher strengerer methodischer Maßstäbe in der Regel nicht möglich sein, über das Aufstellen von Hypothesen hinauszukommen, die zwar plausibel gemacht, aber nicht im strengsten Sinne des Wortes bewiesen werden können. Dies ist allerdings ein Vorbehalt, unter dem nahezu jede Arbeit zur nordischen Religionsgeschichte steht, und der entsprechend zwar stets reflektiert werden muß, der jedoch an sich keinen Grund darstellt, eine potentiell äußerst produktive Fragestellung grundsätzlich zu verwerfen.

Bibliographie Quellen Chronica Minora. In: Mommsen, Theodorus (Hrsg.) 1898. Chronica Minora. Saec. IV. V. VI. VII. 3. (Monumenta Germaniae Historica, Auctorum Antiquissimorum 13). Berolini. Edda. In: Dronke, Ursula (Hrsg.) 2011. The Poetic Edda 3. Mythological Poems 2. Oxford. Feis Tighe Chonáin. In: Joynt, Maud (Hrsg.) 1936. Feis Tighe Chonáin. (Mediaeval and Modern Irish Series 7). Dublin.

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Literatur Die folgende Bibliographie enthält neben der im vorliegenden Aufsatz zitierten Literatur auch eine Auswahl von sonstigen Arbeiten, die das Thema inselkeltischer Einflüsse in der nordischen Mythologie oder eng verwandte Fragen ansprechen. Die Aufnahme eines Titels in die Bibliographie impliziert dabei jedoch ausdrücklich nicht, daß der Verfasser den Methoden oder Schlußfolgerungen der jeweiligen Arbeit zustimmt. Abram, Christopher 2011: Myths of the Pagan North. The Gods of the Norsemen. London/New York. Almqvist, Bo 1978/81: Scandinavian and Celtic Folklore Contacts in the Earldom of Orkney. In: Saga-Book 20, S. 80–105. Beck, Heinrich et al. (Hrsg.) 1968–2008: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. 37 Bände. 2., vollständig neubearbeitete und stark erweiterte Auflage. Berlin/New York. Birkhan, Helmut 1970: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit. Der Aussagewert von Wörtern und Sachen für die frühesten keltisch-germanischen Kulturbeziehungen. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsberichte 272). Wien/Graz/ Köln. Birkhan, Helmut 2009: Die keltisch-germanische Erzählgemeinschaft im Nordseeraum. In: Heizmann, Wilhelm / Böldl, Klaus / Beck, Heinrich (Hrsg.). Analecta Septentrionalia. Beiträge zur nordgermanischen Kultur- und Literaturgeschichte, S. 94–124. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 65). Berlin/New York. Bugge, Alexander 1920/25: Celtic Tribes in Jutland? A Celtic Divinity among the Scandinavian Gods? In: Saga-Book 9, S. 355–371. Bugge, Sophus 1889: Studien über die Entstehung der nordischen Götter- und Heldensagen. München. Bugge, Sophus 1899: The Home of the Eddic Poems. With especial Reference to the Helgi-Lays. Revised edition, with a new introduction concerning Old Norse mythology. (Grimm Library 11). London. Chadwick, Nora K. 1953/57: Literary Tradition in the Old Norse and Celtic World. In: Saga-Book 14, S. 164–199. Chadwick, Nora K. 1955/58: Pictish and Celtic Marriage in Early Literary Tradition. In: Scottish Gaelic Studies 8, S. 56–115. Chadwick, Nora K. 1964: The Russian Giant Svyatogor and the Norse Útgartha-Loki. In: Folklore 75, S. 243–259.

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Richard North

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal in den Prologen der Heimskringla Abstract: Most readers of Snorri Sturluson’s Heimskringla would agree that his prologue, from which the prologue to Óláfs saga Helga was later derived, seeks to defend the truthfulness of his poetic sources, which are not only Skaldic eulogies but also long narrative poems including the Ynglingatal of Þjóðólfr of Hvinir. On the strength of what Snorri says here, this poem, datable to c. 890, is held to be the eulogy of its dedicatee, the apparently then still living King Rǫgnvaldr Óláfsson of Vestfold. However, the mockery both latent in the word skáld, and so clear in this poem, rather rules that definition out, and it looks as if Snorri himself is being less than truthful in what he says. He misrepresents Ynglingatal as a eulogy similar in aim to the other genealogical poem from Norway which he introduces in the same passage, Eyvindr’s Háleygjatal (c. 985). My essay will suggest that Snorri had to align Ynglingatal with this poem for the sake of his Ynglinga saga, which is both the foundation of Heimskringla and the work to which his prologue is really addressed. Moreover, I argue that reinventing Ynglingatal in this way was a step which had already been taken, more than a hundred years earlier, by the ambitious Ari Þorgilsson in his now lost Konunga ævi. I conclude that Snorri fills out his prologue’s second half with a biography of Ari because the words with which he describes Ynglingatal and Háleygjatal are those of Ari himself.

Den meisten Lesern der zwei verschiedenen Prologe (ca. 1235) der Heimskringla (1225–35) von Snorri Sturluson (1179–1241) bleibt nicht verborgen, dass der Verfasser sich mit Fragen der Authentizität beschäftigt. Gleich zu Beginn bespricht er die Glaubwürdigkeit seiner Quellen (die in diesem Teil der Heimskringla nicht besonders zuverlässig sind) und erwähnt dabei das Ynglingatal (ca. 890). Später jedoch fügt er eine kurze Biografie von Ari Þorgilsson (1068–1148) bei, wofür die Gründe zunächst nicht unbedingt ersichtlich sind. Im Folgenden werde ich mit Hilfe des Ynglingatals zu erklären versuchen, warum Snorri in seinem ersten Prolog Ari überhaupt so viel Aufmerksamkeit widmet.¹

1 Meinen herzlichen Dank an Winfried Rudolf für einige Sprachkorrekturen.

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 Richard North

Zur Glaubwürdigkeit der Prologe in der Heimskringla Am Anfang des zuerst verfassten Prologs, der jetzt der Ynglinga saga und den weiteren fünf Sagas bis zur Óláfs saga helga vorangeht, teilt Snorri die von ihm verwendeten Quellen einerseits in Erzählungen, andererseits in Gedichte ein. Seine Gedichte nennt er an anderer Stelle in seiner früher entstandenen Snorra-Edda skáldskapr (‚Poesie‘ oder ‚Skaldendichtung‘). Nach dem besten Textzeugnis, der verlorengegangenen aber zweimal kopierten Kringla-Handschrift (K), äußert er sich über seine Quellen folgendermaßen: Á bók þessi lét ek ríta fornar frásagnir um hǫfðingja, þá er ríki hafa haft á norðrlǫndum ok á danska tungu hafa mælt, svá sem ek hefi heyrt fróða menn segja, svá ok nǫkkurar kynkvíslir þeirra, eptir því sem mér hefir kent verit: sumt þat er finnsk í langfeðgatali, því er konungar hafa rakit kyn sitt, eða aðrir stórættaðir menn; en sumt er ritat eptir fornum kvæðum eða sǫguljóðum, er menn hafa haft til skemmtanar sér. En þó at vér vitim eigi sannyndi á því, þá vitum vér dœmi til þess, at gamlir frœðimenn hafa slíkt fyrir satt haft.² ‚In dieses Buch ließ ich alte Erzählungen über Häuptlinge schreiben, die in den Nordlanden Reiche gehabt haben und in der nordischen Zunge gesprochen haben, ganz so, wie ich gelehrte Männer sie erzählen gehört habe; außerdem auch einige ihrer Genealogien, dem gemäß, was mir berichtet worden ist: teilweise das, was im Stammbaum zu finden ist, in dem die Könige oder einige andere von edler Herkunft ihre Familie verfolgt haben; und teilweise das, was man von den alten Gedichten oder Erzählliedern abgeschrieben hat, welche Männer zu ihrer Kurzweil gehabt haben. Und obwohl wir keine Belege dafür kennen, dass es wahr sei, so kennen wir doch Geschichten, die uns erzählen, dass alte Gelehrte solches für wahr gehalten haben.‘

Snorris Zitat hier betrifft weniger die Prosaquellen als vielmehr die Dichtung, damit er sein Geschichtswerk gegen mögliche Skeptiker verteidigen kann.³ Mit fornum kvæðum eða sǫguljóðum teilt er diese alte Dichtung in zwei Kategorien ein. Einerseits gibt es da Gedichte, die man heute als dróttkvæði (‚Hofgedichte‘) bezeichnet, d.h. Loblieder, die hauptsächlich isländische skáld (‚Dichter‘ oder ‚Skalden‘) vornehmlich zu Ehren der norwegischen Könige vom späten 9. bis 11. Jahrhundert gedichtet haben. Andererseits haben wir die Erzähllieder. Nachdem Snorri bei diesen ein gewisses Unterhaltungspotenzial ausgemacht hat, stellt er zwei Beispiele solcher Lieder als wichtige Quellen dar. Über das Ynglingtal äußert er sich so: Þjóðólfr ór Hvini var skáld Haralds ins hárfagra; hann orti ok um Rǫgnvald konung heiðum hæra kvæði þat, er kallat er Ynglingatal. Rǫgnvaldr var son Óláfs Geirstaðaálfs, bróður Hálfdanar svarta. Í því kvæði eru nefndir þrjátigu langfeðga hans ok sagt frá dauða hvers þeirra ok legstað. ‚Þjóðólfr von Hvinir war Skalde des Haraldr Schönhaar; er verfasste auch zu Ehren des Königs Rǫgnvaldr des mit Ehren Erhöhteren das Gedicht, das die Liste der Ynglingar heißt. Rǫgnvaldr war

2 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941), 1, S. 4 (vgl. S. v–ix). 3 Sverrir Tómasson 1988, S. 210–222; Sverrir Tómasson 2011, S. 97–118.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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Sohn von Óláfr Elf von Geirstaðir, dem Bruder Hálfdanes des Schwarzen. In diesem Gedicht sind 30 seiner Vorfahren genannt und von jedes einzelnen Tod und letzter Ruhestätte wird erzählt.‘

Dann erwähnt er das Háleygjatal des ebenfalls norwegischen Skalden Eyvindr skáldaspillir (‚Skaldenverderber‘), der dieses wahrscheinlich um etwa 985 vollendet hat. Beide Gedichte sind lange, im kviðuháttr-Metrum verfasste und auf königlichen Stammbäumen aufgebaute Erzähllieder. Das Ynglingatal, welches Þjóðólfr wahrscheinlich um etwa 890 schuf, liegt uns heute nur noch fragmentarisch als Teil der Ynglinga saga vor, denn Snorri hat in die Saga innerhalb seiner Prosa in gelegentlichen Abständen Versstrophen eingefügt. Dieses Gedicht handelt von den Vorfahren des scheinbar noch lebenden Königs Rǫgnvaldr Óláfsson von Vestfold und weist ihm – trotz der im Prolog später zitierten Behauptung – 26 Vorfahren zu. Ohne das Ynglingatal – oder ohne eine verwandte Fassung dessen – hätte Snorri seine Ynglinga saga wohl nicht fertigstellen können. Von Ynglingatal hängt nämlich seine Erzählung größtenteils ab, teilweise aber auch von Háleygjatal. Den meisten Forschern gilt dieses Gedicht wegen der anscheinenden Bedeutung von Eyvindrs Spitznamen als Nachahmung des Ynglingatals. Mit diesen Gedichten fängt Snorri also im Prolog an, die Wahrhaftigkeit seiner Quellen zu verhandeln. Er möchte zeigen, dass alle von ihm benutzten Gedichte sowohl vertrauenswürdig als auch langlebig sind. Wenn er zugibt, die sǫguljóð seien til skemmtanar, d.h. die Erzähllieder seien Unterhaltungsliteratur der alten Gelehrten, die sie bewahrt hatten, dann scheint Snorri die Wahrheit zu sagen. Deshalb könnte man ihn so interpretieren, dass das Ynglingatal weniger vertrauenswürdig oder sachlich sei als die aus jüngerer Zeit stammenden Dróttkvætt-Gedichte, auf die er sich in der großen Mehrzahl seiner Sagas verlässt. Diese Schwäche wird besonders glaubhaft, wenn man sich daran erinnert, dass das Ynglingatal für ein Gedicht gehalten wird, das wenigstens 90 Jahre älter ist als das älteste der anderen Werke. Vielleicht ist es gerade dieser Grund, nämlich der Schutz des Quellenwertes dieser ziemlich alten Textbelege, der das Verschwinden des oben zitierten Satzteils mit dem Wort skemmtun aus der zweiten Version des Prologs erklärt, eine Version, die der sogenannten Eigenständigen Óláfs saga helga (ca. 1225) vorangeht. Dieser Prolog scheint eine Redaktion des Ynglinga-saga-Prologs zu sein und liegt in zwei eng miteinander verwandten Versionen vor. Obwohl er wahrscheinlich später und sicherlich nicht von Snorri geschrieben ist, argumentiert er ohne das Wort skemmtun noch deutlicher für einen höhen Quellenwert der Skaldendichtung. Snorris oben zitiertes skemmtun bezeichnet hauptsächlich ‚Kurzweil‘ oder ‚Unterhaltung‘. In religiösen Zusammenhängen deutet es auch moralisch gesunde Freude und selbst einen ekstatischen Jubel in Aussicht auf das Himmelreich an.⁴ Überhaupt darf man das Wort auch mit frœði (‚Wissenschaften‘), mit weltlicher Weisheit resul-

4 Sverrir Tómasson 1988, S. 130–132; Meulengracht Sørensen 1992, S. 278.

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 Richard North

tierend aus einer gelehrten Ausbildung in der Heimatsprache, assozieren.⁵ In diesem konkreten Fall widerlegt skemmtun keineswegs die Vermutung, es stünden auch Wahrheiten in den alten Gedichten und Erzählungen. Dies ist besonders deshalb der Fall, weil ein isländischer Verfasser hier seine nichtlateinischen Quellen wohl als frœði einordnen würde. Sverrir Tómasson hat gezeigt, in welch vielfältigen Bedeutungsschichten skemmtun erscheint, so z.B. wenn das Wort im religiösen Zusammenhang gleichbedeutend mit Fabeln oder Lügen (vgl. lygisaga ‚Lügenerzählung‘) gebraucht wird.⁶ Was Snorris Prolog anbetrifft, bedeutet das Wort noch einmal etwas anderes. Zieht man das barocke Künstlertum der meisten Skalden in Betracht, jener Wesenszug, der ihre Werke berühmt gemacht hat, spielt Snorris Wort skemmtun auch auf die altisländischen Kenningar an. Obwohl von diesen oft dunklen mythologischen Umschreibungen im Prolog niemals die Rede ist, sind sie aus den alten und neuen Skaldengedichten kaum wegzudenken. Kurz gesagt, hätte es ohne die Kenningar keine Skalden gegeben. Dennoch lassen sich im Ynglinga-saga-Prolog keine Spuren dieser Prachtmetaphern ausmachen. Im wohl späteren der zwei Prologe, der der Eigenständigen Óláfs saga voransteht, geht die unskaldische Tendenz sogar dahingehend noch weiter, dass man dort die Authentizität der Quellen durch ber orð (‚deutliche Worte‘) verteidigt. Im Vergleich mit anderen Erzählformen der norwegischen Geschichte, so meint der Verfasser, erscheinen die Gedichte als qualitativ die besten. Es sind seiner Ansicht nach gute Erzählungen: En þó þykki mér þat merkiligast til sannenda, er berum orðum er sagt í kvæðum eða ǫðrum kveðskap, þeim er svá var ort um konunga eða aðra hǫfðingja, at þeir sjálfir heyrðu, eða í erfikvæðum þeim, er skáldin fœrðu sonum þeira.⁷ ‚Doch scheinen mir diejenige Belege am merkwürdigsten, die man mit deutlichen Worten in den skaldischen Gedichten oder anderer Dichtung ausspricht, die zu Ehren der Könige oder anderer Häuptlinge so verfasst wurden, dass diese selbst zuhörten, oder die man in den Gedenkgedichten ausspricht, die die Skalden an deren Söhne vorgetragen haben.‘

Dieser Behauptung von berum orðum sollte man nicht trauen, denn die Dichtkunst der Skalden erlaubt deutliche Worte oder Ausdrücke nur sehr selten.⁸ Die Kunst des altisländischen skáldskapr hängt zu allererst vom Gebrauch dunkler Worte oder Ausdrücke ab. Im ersten Prolog gewinnt man somit den deutlichen Eindruck, Snorri wolle mit dem Wort skemmtun auch auf das Künstlertum der Skalden anspielen. Was die Wirkung dieses Künstlertums betrifft, verweist er darauf mit einer gewissen Ironie. Zuerst erwähnt er die Hofskalden des Harald Schönhaars, dessen Herrschaft in den

5 Meulengracht Sørensen 1992, S. 274–276. 6 Sverrir Tómasson 1988, S. 130–140; Sverrir Tómasson 1975, S. 266; Sverrir Tómasson 2011, S. 19. 7 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, S. 422. 8 Clunies Ross 2005, S. 150–160.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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letzteren Jahrzehnten des 9. Jahrhunderts begann. Diese Hofdichter sollen die Ersten der echten Tradition von Skalden im Norden sein, an deren Werke sich die Isländer bis zum Tage Snorris erinnern sollen: Ok tókum vér þar mest dœmi af því, er sagt er í þeim kvæðum, er kveðin váru fyrir sjálfum hǫfðingjunum eða sonum þeirra. Tǫkum vér þat allt fyrir satt, er í þeim kvæðum finnst um ferðir þeirra eða orrostur. En þat er háttr skálda at lofa þann mest, er þá eru þeir fyrir, en engi myndi þat þora, at segja sjálfum honum þau verk hans, er allir þeir er heyrði vissi, at hégómi væri ok skrǫk, ok svá sjálfr hann: þat væri þá háð en eigi lof. ‚Und wir haben die meisten bemerkenswerten Ereignisse denjenigen Gedichten entnommen, die vor den Häuptlingen selbst oder vor deren Söhnen vorgetragen wurden. Für wahr halten wir alles, was über ihre Feldzüge oder Schlachten in diesen Gedichten zu finden ist. Und während die Skalden gewohnt sind, den Mann, vor welchem sie stehen, zu loben, so würde doch niemand wagen, ihm selbst diejenigen seiner Taten zu erzählen, die alle Zuhörende, und er selbst eingeschlossen, als Falschheit und Erfindung kennen würden: das wäre nicht Lob, sondern Spott.‘

So definiert Snorri die Wahrheit seiner Quellengedichte im Rahmen der Dynamik des Hofs: übertreibt es ein Skalde also mit den Heldentaten des Königs, beginnt er ihn lächerlich zu machen.⁹ Weil sowohl die Zuhörer als auch der König in der Halle über diese Taten genau Bescheid wissen, betrachtet die ganze Menge das übertreibende Gedicht als ein Stück háð (‚Spott‘). Es liegt also auf der Hand: ein solcher Fehler der Übertreibung kann einen Skalden immer in eine schwierige Lage, wahrscheinlich gar ins Gefängnis führen. Der König braucht nicht Josef Stalin zu heißen, damit sich sein Hofdichter in Acht nehme. Und doch gibt es durchaus ein paar Fälle solcher Ironie. Der Verfasser der Egils Saga (ca. 1240), den einige mit Snorri gleichgesetzt haben, zitiert ein Loblied des Helden Egill, die Hǫfuðlausn (‚Haupteslösung‘) heißt (c. 60). Es scheint, als hätte der Inhalt oder die Form (oder beides?) dieses langen, im kviðuháttr verfassten Gedichts den König Eiríkr Blutaxt um etwa 952 sehr verärgern können. Das könnte jedenfalls die Bedeutung sein, wenn man den Text eher hinterfragt als den prosaischen Kontext der Hǫfuðlausn.¹⁰ In der Ältesten Óláfs saga helga gibt es außerdem noch eine Geschichte vom Skalden Óttarr dem Schwarzen, der um etwa 1022 dem Tod ähnlich entging, als er mit zu großer Begeisterung ein Loblied über die Königin Ástríðr vortrug. In beiden Versionen seiner Óláfs saga helga hat Snorri diese Geschichte ignoriert.¹¹ In seiner Óláfs saga Tryggvasonar schließt Snorri eben genau jene Skaldendichtung aus, die sich als háð interpretieren lassen könnte. Einmal jedoch greift er eine Strophe von Tindr Hallkelsson über den Jarl Hákon auf, die sich hart an der Grenze des Erlaubten bewegt:

9 Clunies Ross 2005, S. 75 f. 10 North / Allard / Gillies 2011, S. 478–487. 11 Jesch 1994, S. 17.

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Varða gims sem gerði Gerðr bjúglimum herða (gnýr óx Fjǫlnis fúra) farlig sæing jarli, þás hringfáum Hanga hrynserk (viðum brynju hruðusk riðmarar Róða rastar) varð at kasta.¹² ‚Es war nicht, als ob eine Edelstein-Gerðr innerhalb der gebogenen Zweige Ihrer Schultern (es wuchs das Brandgebrüll von Óðinn) hübsch dem Jarl ein Bett machte, Als er das ringverarmte Klirrhemd des Gehängten (die Panzerbäume der Schüttelhengste Der Rennbahn des Piratenkönigs hat man weggeräumt) verwerfen musste.‘

Nur die zweite Hälfte wird in der Snorra Edda zitiert, aber das stellt kein Problem dar: der Kampf als Ausdruck der Liebe erscheint mehrmals in der germanischen Heldendichtung, wiewohl es genauso wahrscheinlich ist, dass beim Jarl auch wirklich von Mädchen die Rede war. Die ältesten Quellen vermelden, dass Hákon in seinen späten Gaddafi-Jahren in immer höherem Maße nach der Begleitung durch Töchter und Frauen seiner Untertanen strebte.¹³ Andererseits haben wir über Hákon einige Strophen von Hallfreðr vandræðaskáld, dem ‚unangenehmen Skalden‘, die zu zitieren sich Snorri in derselben Saga verbietet: Sannyrðum spenr sverða snarr þiggjandi viggjar barrhaddaða byrjar biðkván und sik Þriðja.¹⁴ ‚Mit den heiligen Worten der Schwerter lockt unter sich der lebhafte Empfänger Des Windpferdes die mit Gerste / Kiefernzapfen kopfverzierte, wartende Frau des Dritten.‘ Því hygg fleygjanda frægjan (ferr Jǫrð und menþverri) ítra eina [at] láta Auðs systur mjǫk trauðan.¹⁵ ‚Ich glaube deshalb, dass es dem berühmten (hin legt sich die Erde unter den Halskettenausteiler) Schauerwerfer furchtbar widerstrebt, Auðrs glänzende Schwester allein zu lassen.‘

Diese Verszeilen hat Snorri schon in seinem früheren Werk, der Snorra-Edda, zitiert. In der Saga tut er es aber nicht. So pikant komisch sind sie, auch zu Lasten seines Lieblingsgottes (des ‚Dritten‘, d.h. Óðinn), dass die Vermutung nahe liegt, Snorri habe sie in seiner Óláfs saga Tryggvasonar bewusst ignoriert, um dem háð-Argument treu

12 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 281 (Str. 139). Vgl. Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 68 (Str. 228); Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), S. 136. 13 Óláfs saga Tryggvasonar (Ólafur Halldórsson 2006), c. 18 und 20; Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), c. 12; Fagrskinna (Bjarni Einarsson 1985), c. 22. 14 Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 8 (Str. 10); vgl. North / Allard / Gillies 2011, S. 589 f.; Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), S. 147. 15 Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 36 (Str. 121); vgl. Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), S. 148.

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zu bleiben, mit dem er Jahre später seinen Prolog konstruierte. Dementsprechend sollen nach Meinung Snorris alle erhaltenen Skaldengedichte als genaue Widergabe der königlichen Taten und Leistungen gelten. Entsprechend scheint seine Argumentation über durch Hofdynamik konditionierte Wahrheit aus dieser Sicht nicht fehlerhaft zu sein. Andererseits lässt sie sich auch als bloßer Manipulationsversuch analysieren. Snorri sagt hier nicht nur, alle Loblieder in seiner Heimskringla seien wahr, sondern er führt uns auch zu der Vermutung, dass all die von ihm zitierten Gedichte ausschließlich vom Lob handeln. So verbirgt er etwas, das man hier als die tägliche Wirklichkeit der Kenningkunst betrachten kann: das skaldische Lob läuft immer Gefahr, als Spott mißverstanden zu werden.¹⁶ In solch steter Gefahr mag der Skalde im Norden oft sein Lob an den König gerichtet haben. So verfügt die Grágás, die Gesetze Islands von 1118, bei einer vollen Verbannungsstrafe, dass man zumindest auf Island kein Recht habe, über einen Mann Verleumdung oder Lob zu dichten (Konungsbók, §238).¹⁷ Nach den norwegischen Gesetzen, Gulaþingslǫg, heißt die rituale Beleidigungsstange, die wir sonst als eine níðstǫng (‚Verleumdungsstange‘) in der Egils saga kennen, skáldstǫng (‚Dichterstange‘):¹⁸ als könne man die Verleumdung und die Dichtung gegeneinander austauschen. Der Skalde Egill verfasst seine Verleumdung gegen den König Eiríkr im norwegischen Westland mit Hilfe einer Stange und eines Pferdekopfes (c. 57). Was die verwandten Sprachen betrifft, gebraucht man noch heutzutage das deutsche Verb schelten und insbesondere das englische Wort scold (Verb und Substantiv), das selbst aus altskandinavisch skáld entlehnt ist. So schlägt Klaus von See (R.I.P.) nachvollziehbar vor, das altisländische Wort skáld bezeichne in der früheren und auch wohl heidnischen Periode ‚Schmähdichter‘.¹⁹ Morphologisch betrachtet sind die anderen skáld-Etymologien komplizierter, demnach auch schwächer.²⁰ Also liegt die Vermutung nahe, dass die Kenningar in dieser Art Schmähdichtung relativ früh eine Rolle gespielt haben. Im Hinblick auf das Metrum stellen die Skalden in der Kenning ihre vielseitigen Worte surrealistisch nebeneinander. Sie werden es selten unterlassen haben, ihren Zuhörern in dieser Verhüllung auch eine gewisse Ironie anzubieten. In diesem Licht betrachtet ist auch Spott innerhalb der Bedeutung des Wortes skemmtun zu verstehen, ebenso wie Snorri dieses Wort zu Beginn seines Prologs benutzt. Man darf deshalb skemmtun im Bezug zum Wort háð interpretieren, ohne dass man skrǫk (‚Unwahrheit‘ oder ‚Erfindung‘) in die Bedeutung von háð mit einschließen muss. Wie im Fall des englischen Wortes scold (Verb und Substantiv), kann man die Wahrheit auf ironisch grausame Weise sagen. Das ist schließlich die

16 Clunies Ross 2005, S. 63. 17 Grágás (Vilhjálmur Finnsen 1852), S. 183. 18 Gulatingslovi (Robberstad 1969), S. 44. 19 von See 1964, S. 11. 20 Sverrir Tómasson 2011, S. 104–106.

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Bedeutung der altisländischen senna, wie z.B. im Titel des eddischen Gedichts Lokasenna, der uns mit einer buchstäblichen Form von sannr (‚wahr‘) darauf verweist. Es wäre demnach plausibel anzunehmen, dass auch das skaldische háð eine derart dargebotene Wahrheit darstellen kann: nämlich eine kurzweilige Wahrheit. Man gewinnt infolge dieser Überlegungen immer mehr Gründe für die Annahme, die meisten Leser des Prologs hätten Snorris skemmtun sofort mit háð assozieren können. Wäre dann háð ein legitimer Bestandteil der Arbeitsbeschreibung eines Skalden, so ist doch beachtenswert, dass Snorri kein Interesse daran zeigt, diese Idee in seinem Prolog weiter zu entwickeln. Im Gegenteil, das Wort skemmtun tritt hier nie wieder auf. Die Gründe dafür kann man aber ahnen. Weil hinsichtlich der Authentizität, insbesondere der Ynglinga saga, so viel auf dem Spiel steht, will sich Snorri sein Argument, und damit den Wert der ganzen Heimskringla, durch die Kurzweil nicht kompromittieren lassen. Für ihn liegt das Risiko im Ynglingatal.

Zur Kurzweil im Ynglingatal Fast alle Leser halten dieses Gedicht, wie Snorri anmerkt, für eine Art in Versform gebrachte Lobrede zu Ehren des Vestfolder Königs Rǫgnvaldr Óláfsson. Diese Meinung ist wohl noch dadurch verstärkt worden, dass sich die Historia Norvegiae (ca. 1150– 75) irgendwie auf dieses Gedicht für ihre Geschichte der Könige vor der Zeit des Vaters von Haraldr Schönhaar verlässt.²¹ Wie Snorri voraussetzt, darf man das Ynglingatal mit dem Háleygjatal vergleichen und beide Gedichte als Nekrologien betrachten, denn sie „concentrate on how the royal forebears met their deaths, thus revealing a close connection with erfikvæði“.²² Aber das Ynglingatal macht auch wegen seiner Andersartigkeit einige Schwierigkeiten. Claus Krag hält dieses Gedicht für die Ausschmückung eines Prosatextes aus dem späten 12. Jahrhundert.²³ Seine Beweisführung ist jedoch von mehreren Forschern aus verschiedenen Fachbereichen abgelehnt worden.²⁴ An dieser Stelle sollte es genügen, einige Strophen unter Berücksichtigung der Forschung von Bergsveinn Birgisson zu betrachten, um das ganze Gedicht als echtes skaldisches Werk zu zeigen. Vor mehreren Jahren hat Bergsveinn durch gründliche ästhetische Analyse einerseits demonstriert, dass das Ynglingatal aus der vorchristlichen Periode stammt, dass es wahrscheinlicher als ein Werk des Skalden Þjóðólfr, und nicht als eine gelehrte Nachahmung zu betrachten ist, und dass man es am besten als ein Stück níð (‚Neiddichtung‘) gegen die dänisch-schwedischen Nach-

21 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 10–22. 22 Clunies Ross 2005, S. 52 f. 23 Krag 1991, S. 47–59 und 182–200. 24 Andersson 1992; Fidjestøl 1994; Sundquist 2002, S. 43–52; Skre 2007.

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barn des neuen Reiches König Harald Schönhaars, der auch Gönner des Skalden war, interpretieren kann.²⁵ Eine Prise Humor würzt hier die Darstellung der Ynglingenkönige, die in fast der gesamten Strophenfolge des Gedichts vom Unglück verfolgt werden sollen, und zwar vom erhaltenen Anfang an. An erster Stelle im noch erhaltenen Gedicht ist da Fjǫlnir, der in einem Metbottich ertrinkt, nachdem er bei seinem Freund Fróði in Seeland durch die falsche Tür hindurchgeht: Varð framgengt, þars Fróði bjó, feigðar orð, es at Fjǫlni kom; siklingi svigðis geira vágr vindlauss of viða skyldi. (Str. 1)²⁶ ‚Es geschah endlich, wo Fróði wohnte, die Nachricht des Todes, der den Fjǫlnir erreichte; den Prinz sollte die windstille Welle der Ochsenspeere auf den Scheiterhaufen legen.‘

Wenn man den Verweis auf die Nachricht in diesen Zeilen untersucht, so scheint es, dass Þjóðólfr mit Andeutungen spielt, die vermuten lassen, dass Fjǫlnir früher durch Weissagung vor einem Wassertod gewarnt wurde, aber ungeachtet dessen seine Reise nach Dänemark fortsetzt. In der folgenden Strophe verschwindet sein Sohn Sveigðir im Gebirge, weil dieser einen Zwerg durch eine Steintür verfolgt. Der anonyme nordische Verfasser der Historia Norvegiae, von der noch die Rede sein wird, folgt im wesentlichen derselben Erzählung wie hier im Ynglingatal, nimmt diese aber nicht ernst und beschreibt sie als fabulosum, als ‚Märchen‘ oder ‚Fabeln‘.²⁷ Andernorts duldet er ohne Kommentar einige Ausschweifungen, die kaum weniger märchenhaft sind. Mit ziemlicher Beharrlichkeit geht es im Gedicht um Respektlosigkeit. Die folgende Strophe meldet zum Beispiel den Tod eines Königs, der zu Hause mit seinem Gefolge von seinen Söhnen verbrannt wird: Ok Vísburs vilja byrgi sævar niðr svelga knátti, þás meinþjóf markar ǫttu setrs verjendr á sinn fǫður, ok allvald í arinkjóli glóða garmr glymjandi beit. (Str. 4)

25 Bergsveinn Birgisson 2007, S.  181–187 und 216–224. Pace Sverrir Jakobsson 2002, der teilweise wegen Krags Analyse des Ynglingatals an die Existenz dieses Haraldrs nicht glaubt. 26 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 26 (Str. 4). 27 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 16, 22–24 und 74.

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‚Und die schützenden Gehege der Freuden Vísburrs hat der Verwandte des Meers geschluckt, als die Wohnsitzverteidiger den Schadendieb des Waldes gegen ihren eigenen Vater aufhetzten, und den Allherrscher im Kiel seines Herdbodens hat der Glüh-Kerberos mit Brüllen gebissen.‘

Wie beliebt Vísburr bei seinem Nachwuchs ist, nachdem er ihre Mutter hinausgeworfen und ihnen selbst deren Geld verweigert hat, wird deutlich, als die Söhne den selbstsüchtigen Vater töten. So hetzen sie den einen Dieb gegen den anderen, den Brand als meinþjóf markar (‚Schadendieb des Waldes‘) gegen ihren Vater auf. Man kann durchaus mit dem Wort kjóll (‚Kiel‘) das brennende Haus als Beerdigungsschiff interpretieren. Den garmr, der den Vísburr so brüllend beißt, darf man mit einem Höllenhund gleichsetzen. Wenn sich das Wort garmr daher als ‚Kerberos‘ verstehen lässt, wie: geyr nú Garmr mjǫk fyr Gnipahelli (‚jetzt bellt Garmr vor Gnipahellir‘ (Vǫluspá 44, 49, 58)), wird deutlich, wie freundlich die Unterwelt Vísburr begrüßen will.²⁸ Mit König Dagr enthüllt sich die allergrausamste Komödie des Ynglingatals. In dieser wird der König durch eine von einem Bauern geworfene Heugabel sterben, als er in Vǫrvar, östlich von Schweden einen von ihm innig geliebten Spatz zu rächen versucht (Ynglinga saga, c. 18; vgl. aber Edith Marold in diesem Band, S. $$$). Außerhalb der Saga ist dieses Märchen nochmals ohne das Gedichtszitat bei dem Verfasser der Historia zu finden (c. 9). Der Skalde Þjóðólfr äußert sich darüber so: Frák, at Dagr dauða orði frægðar fúss of fara skyldi, þás valteins til Vǫrva kom spakfrǫmuðr spǫrs at hefna. (Str. 8) ‚Ich hörte, dass Dagr, begierig auf Ruhm, dem Todeswort folgen sollte, als der Anstifter des Schlachtzweigs der Weisheit nach Vǫrvar kam, um einen Spatz zu rächen.‘

Mit dem valteinn (‚Schlachtzweig‘), auch wenn sich die Kenning als ‚Schwert‘ interpretiert lässt,²⁹ soll Dagr schon das Schicksal seines Lieblingshaustiers in heidnischer Zeremonie erraten haben. So hat Snorri diese Strophe verstanden: gekk hann þá til sonarblóts til fréttar, ok fekk þau svǫr, at spǫrr hans var drepinn á Vǫrva (‚dann stellte er bei einem großen Opfer Fragen, und empfing die Antwort, sein Spatz sei bei Vǫrvar getötet worden‘ (c. 18)).³⁰ Dem Skalden zufolge:

28 Edda (Neckel / Kuhn 1983), S. 10–15. 29 Marold 1983, S. 120. 30 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 35 f.

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Ok þat orð á austrvega vísa ferð frá vígi bar, at þann gram of geta skyldi slǫnguþref Sleipnis verðar. (Str. 9) ‚Und über die Ostwege trug des Führers Fahrt das Wort aus der Schlacht her, der Schmeißboden von Sleipnirs Mahlzeit sollte den Häuptling pressen.‘

Das heißt, Sleipnir, der weitfahrende Hengst Óðinns, stattet den wahnsinnigen König mit einem Mittel aus, damit er in die Unterwelt hinabsteigen kann. So stellt uns der Skalde das Ende Dagrs als Slapstick dar.³¹ In einer Strophe über die Enkel (nach Aris Stammbaum und der Historia: die Söhne) des Dagr setzt sich die Bauernkomödie fort: Alrekr und Eiríkr lieben es, Pferde zu zähmen, zu reiten und sich miteinander zu messen. Eines Tages verschwinden sie beide bei einem dieser Pferdewettrennen, tauchen aber nachher nebeneinander wieder tot auf (Ynglinga saga, c. 20). Þjóðólfr berichtet darüber wie folgt: Fell Alrekr, þars Eiríki bróður vápn at bana urðu, ok hnakkmars með haufuðfetlum Dags fríendr of drepask kváðu: fráat maðr áðr eykja greiði Freys afspring í folk hafa. (Str. 11) ‚Gefallen ist Alrekr, als dem Eiríkr die Bruderwaffen zum Tode wurden, und mit Kopffesseln des ruckelnden Pferdes sollten Dagrs Verwandten getötet werden: Niemand hörte zuvor, dass die Nachkommen Freyrs das Lasttiergeschirr im Kampf verwendet haben.‘

Um diese Strophe besser einordnen zu können, sollte man sie als weitere Todesnachricht eines Scheinhelden betrachten. Freyr, erster Vorfahre der Brüder, heißt sonst folkvaldi goða (‚Kampf-/Volksherrscher der Götter‘ (Skírnismál 3)) und geht Snorri zufolge am Ende der Welt den Kampf mit einem Hirschhorn ein (Gylfaginning, c. 36). Hier scheint es so, als ob sich der Skalde über den antiken, hauptsächlich schwedischen Freyr-Kult lustig macht. Mit haufuðfetlum und eykja greiði erinnert er uns weiter an jenes Bauerngerät, das für den Dagr so tödlich war. Es gibt weitere Gelegenheiten, an denen der Spott des Ynglingatals zutage tritt. Agni, entweder Dagsson (nach Snorri, c. 19) oder Alreksson (nach Aris Stammbaum und der Historia Norvegiae, c. 9), erobert die Eiswüsten Lapplands und erzwingt

31 Vgl. Krag 1991, S. 110: „et eventyr i fornaldersagastil“.

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die Ehe mit Skjalf (‚Erdbeben‘), der Tochter des dortigen Königs Frosti (‚Frost‘) und anscheinend auch die Frau (nach Snorri die Schwester) eines Logi (‚Flamme‘). Als sie wieder in Schweden sind, empfiehlt Skjalf dem Agni eines Abends, seine Lieblingshalskette im Bett zu tragen, und hängt ihn dann mitten in der Nacht daran auf. Die erfinderische Rache dieser Frau, die ihren Bräutigam mittels dessen Prunksucht umbringt, trägt zur Schärfe der Strophe bei: Þat telk undr, ef Agna her Skjalfar ráð at skǫpum þóttu, þás gœðing með gollmeni Loga dís at lopti hóf, hinns við Taur³² temja skyldi svalan hest Signýjar vers. (Str. 10) ‚Ich halte es für ein Wunder, wenn dem Heer von Agni der Ratschlag Skjalfs so ansprechend schien, als Logis Frau mit einer Goldhalskette den Reichtumshäuptling in die Luft hochhob, denjenigen, der bei Taur gezwungen wurde, das kühle Pferd von Signýs Mann zu zähmen.‘

Þjóðólfrs Sarkasmus beginnt mit Ausdrücken (her, ráð, gœðing með gollmeni, hest), die man in einem anderen Gedicht als ergebenes Gefolge, den Ratschlag einer neuen Braut und einen reichen Häuptling mit Goldhalskette und Pferd verstehen würde. Damit dreht sich die Geschichte um einen adligen Haushalt, ähnlich im Geiste zu dem möglicherweise zeitgenössischen Gedicht The Husband’s Message aus England, wenn der Skalde nur nicht ganz so surrealistisch wäre.³³ Eine Liebesgeschichte erzählt Þjóðólfr hier aber nicht. Seine Schlußanspielung auf Signýs Liebhaber stellt uns den Piraten Hagbarðr vor, der nach den Gesta Danorum von Saxo (3), auch wenn man ihn aufhängt, seine Braut so mit Liebe entflammt, dass sie sich selbst erhängt, um ihn sofort in die Unterwelt begleiten zu können.³⁴ Weil eine derartige Geste im Fall Skjalfs nicht zu erwarten ist, wirkt die Strophe eher als Kommentar, der sich gegen Agnis Intelligenz richtet. Es gibt hier auch noch zwei Galgenszenen von Bedeutung. Beide können als Beispiel einer frühen schwedischen Fehde mit den Nordmännern interpretiert werden. Die erste von beiden liegt im Lobgedicht Háleygjatal (ca. 985) vor, das der Hofskalde Eyvindr Finnsson zu Ehren des Jarls Hákon in Trøndelag verfasst haben soll. Nach der Ynglinga saga (c. 23), gewinnen die Brüderkönige Jǫrundr und Eiríkr Yngvasynir aus Uppsala eines Tages bei den dänischen Inseln eine Seeschlacht gegen König Guðlaugr

32 Wenn nicht als ‚Halsring‘ zu verstehen (vgl. Bergsveinn Birgisson 2007, S. 298). 33 North / Allard / Gillies 2011, S. 253–258. 34 Vgl. Bergsveinn Birgisson 2007, S. 321–325.

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von Hálogaland. Jǫrundr hängt seinen Hauptgefangenen auf, erlaubt aber dessen Männer ihn in einem Hügel zu begraben. Zwei Strophen des Háleygjatals werden hier von Snorri zitiert:³⁵ En Guðlaugr grimman tamði við ofrkapp austrkonunga Sigars jó, es synir Yngva menglǫtuð við meið reiddu. (Str. 6) ‚Doch zähmte Guðlaugr das grausame Ross von Sigarr, gegen die Widerspenstigkeit der Ostkönige, als die Söhne Yngvis den Schmuckverschwender zwangen, auf dem Ast zu reiten.‘ Ok náreiðr á nesi drúpir vingameiðr, þars víkr deilir: þars fjǫlkunnt um fylkis hrør, steini merkt, Straumeyrarnes. (Str. 7) ‚Und leichentragend steht der Windast auf der Landspitze, die die Buchten teilt, vornüber gebeugt: dort liegt, wegen des Heerführers Leichnam berühmt, mit einem Stein markiert, die Landspitze Straumeyrr.‘

Dass diese Strophen jeglicher Komödie entbehren, liegt auf der Hand. Eyvindr stellt den Mut des Vorfahren seines Gönners Hákon als Tapferkeitsakt gegenüber den beiden Schwedenkönigen dar. Mit dem Namen des Königs Sigarr, der das Aufhängen des Hagbarðr anordnet, lässt Eyvindr den Guðlaugr mit dem zuvor genannten Piraten vergleichen, der furchtlos stirbt. Die Tochter Sigarrs, Signý, derentwegen Hagbarðr so bereitwillig an den Galgen geht, erwähnt er aber nicht. In seiner Nacherzählung, vor allem auch seinen Gönner Hákon betreffend, geht es vornehmlich um die Ehre. Eyvindr spielt außerdem in den Worten meiðr und náreiðr vingameiðr auf das Selbstopfer des Gottes Óðinn an, den er schon in den Anfangsstrophen seines Gedichts als Urstammvater des Gönners angeführt hat (Hávamál 138; vgl. c. 8). Der Galgenbaum drúpir (‚steht gebeugt vornüber‘) über Guðlaugr, als betrauere er einen großen Helden, wie das Pferd den Sigurðr: gnapir æ grár iór yfir gram dauðom (‚immer lässt das graue Ross den Kopf über den toten Prinzen fallen‘ (Brot af Sigurðarkviðu 7)). In jeglicher Hinsicht sind diese Strophen des Eyvindr als ernsthaftes Lob zu verstehen. Es scheint zudem, dass sein Ausdruck temja grimman jó Sigars (‚das grausame Ross des Sigarr zähmen‘) etwas von den Worten im Ynglingatal über Agni, temja svalan hest Signýjar vers (‚das kühle Pferd von Signýs Mann zähmen‘), übernommen hat. Leiht sich aber Eyvindr tatsächlich etwas vom Þjóðólfr, was sein Spitzname skálda-

35 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 44 f. (Str. 15 und 16).

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spillir (‚Skaldenverderber‘) glaubhaft machen könnte, so lässt er doch die Komödie von Þjóðólfrs Kenning hinter sich. Nur die Form haben die Ahnenskalden miteinander gemein. Obwohl die Vermutung für viele nahe liegt, Eyvindr habe das Ynglingatal im eigenen Gedicht imitiert, so ist es ebenfalls möglich, dass andere Modelltexte für das Háleygjatal genutzt wurden.³⁶ Betrachten wir die dritte Galgenszene, so wird deutlich, welche Mißachtung der Skalde Þjóðólfr gegenüber den Königen im Ynglingatal hegt. Im zweiten Teil dieser Fehde mit den Nordmännern gibt es ein Rückspiel, in dem der Schwedenkönig Jǫrundr das Pech hat, gegen den Sohn seines alten Opfers zu ziehen. Ebenfalls im Bereich der dänischen Inseln gewinnt Gýlaugr Guðlaugsson dann die Seeschlacht und hängt Jǫrundr ebenso elend auf (Snorri, c. 24; Historia Norvegiae, c. 9) wie dieser zuvor Guðlaugr. Þjóðólfr meint dazu: Varð Jǫrundr, hinns endr of dó, lífs of lattr í Limafirði, þás hábrjóstr hǫrva Sleipnir bana Goðlaugs of bera skyldi, ok Hagbarðs hersa valdi hǫðnu leif at halsi gekk. (Str. 14) ‚Jǫrundr, der endlich starb, wurde in Limfjord daran gehindert, weiterzuleben, als der Schlepp-Sleipnir mit hoher Brust den Töter des Guðlaugr tragen sollte, und dem Herrscher von Hagbarðrs Herzögen lag das Erbe des Kitzes um den Hals.‘

Hier wie in Strophe 9 gilt die Nennung des mythologischen Pferdes Sleipnir, auf dem Óðinn sonst dahin fährt, als Anspielung auf eine Reise zur Unterwelt. In diesem Fall wird doch die Galgenkenning scheinbar vollständiger entwickelt, um Jǫrundrs Angst vor diesem Ereignis zu betonen. Die Schlußeinzelheit besteht aus der bisher unzufriedenstellenden,³⁷ aber für die Nekrologie ziemlich bunten Kenning hǫðnu leif (‚Erbe des Kitzes‘). Entweder dieses Erbe wird gebraucht, um Kitze festzubinden, oder man soll das ganze als ein Seil aus Ziegenhaut verstehen.³⁸ Mit der Reife betont der Skalde jedenfalls die erbärmliche und würdelose Strafe, die auf Piraten wie Hagbarðr eigentlich angewandt werden. So verrät uns die Angelsächsiche Chronik für das Jahr 896, dass König Alfred nach der Seeschlacht von Southampton zwei dänische Besatzungen in Winchester hinrichten ließ: he hie ðær ahon het (‚er befahl, dass man sie

36 Bergsveinn Birgisson 2007, S. 330 f. 37 Marold 1983, S. 122. 38 Bergsveinn Birgisson 2007, S. 328.

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dort erhängte‘).³⁹ Vergleicht man die oben zitierte Strophe mit denjenigen des Eyvindr aus seinem Háleygjatal, so wird der Unterschied klar. In seiner kenningreichen Verkündung des Endes Königs Eysteinn Aðilssons hält der Skalde geschickt ein Bild der Todesvoraussagung und Bestattung des Gottes Baldr durch zwei Strophen hindurch aufrecht: Veitk Eysteins enda folginn lokins lífs á Lófundi, ok sikling með Svíum kváðu józka menn inni brenna. (Str. 23) ‚Ich weiß, das Ende von Eysteinns vollendetem Leben wurde in Lófund verborgen gelegt, und den Prinz mit seinen Schweden, so hat man gesagt, haben Männer aus Jutland in seinem Haus verbrannt.‘ Ok bitsótt í brandnói hlíðar þangs á hilmi rann, þás timbrfastr toptar nǫkkvi, flotna fullr, of fylki brann. (Str. 24) ‚Und im Feuerschiff⁴⁰ bis hinauf zum Häuptling lief die bissige Seuche des Bergseetangs, als der mit Holz festgebaute Hügelkahn, voll Matrosen, um den Volksanführer brannte.‘

Also erste Bedienung: Tod und Bestattung zugleich. Zuerst lässt sich mit enda folginn das Schicksal des schwedischen Königs als verborgener Faden begreifen, als ob der Skalde dabei die Stimme einer vǫlva (‚Seherin‘) übernehmen will. In der Vǫluspá gedenkt eine Vǫlva der alten Weissagung über Baldr so: ek sá Baldri, blóðgum tívur, / Óðins barni, ørlǫg folgin (‚ich sah für Baldr, fürs blutgefleckte Opfer, / für Óðinns Kind, das Schicksal, als es verborgen wurde‘, oder ‚während es verborgen war‘ (Str. 31)). Deswegen lässt sich im Ynglingatal der königliche Palast zweimal und wohl nicht zufällig als hafenliegendes Schiff mit voller Besatzung darstellen, und zwar als solch ein loderndes Beerdigungsschiff, das Baldr geboten wird, als ihn die Götter zur Unterwelt hinunterschicken. Um etwa 995 hat Úlfr Uggason den toten Gott Baldr in der Húsdrápa ähnlich dargestellt.⁴¹ Ein solches Bild vom allgemein betrauerten göttlichen Helden passt aber nicht zu Eysteinn. Er wohnt in einem von Piraten umringten Land (Ynglinga saga, c. 30) und stirbt erst, als es diesen gelingt, ihn während eines Festes zu überraschen (c. 31).

39 Anglo-Saxon Chronicle (Bately 1986), S. 61. 40 Vgl. Marold 1983, S. 126 (‚Schiff des Brandes‘ = Herdfeuer = Haus). 41 North / Allard / Gillies 2011, S. 586.

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Mit ebenso großer Respektlosigkeit endet das Leben der meisten Vorfahren von Rǫgnvaldr, dem Þjóðólfr, nach Meinung der meisten Forscher, solche Ehre erweist. In der letzten erhaltenen Strophe verweist Þjóðólfr scheinbar auf einen König als noch lebenden Gönner, was einige zu der Vermutung geführt hat, er habe diesem Gönner damit ein Loblied verfasst: Þat veitk bazt und bláum himni kenninafn, svát konungr eigi, es Rǫgnvaldr, reiðar stjóri, heiðumhárr of heitinn es. (Str. 37) ‚Jetzt weiß ich unterm blauen Himmel den besten Spitznamen, der Eigentum eines Königs sei, indem Rǫgnvaldr, Führer eines Wagens, „mit Ehren erhöht“ benannt wird.‘

Krag betrachtet allen Ernstes nur diese Strophe wegen ihres aus seiner Sicht vermeintlichen Inhaltsmangels als „ekte skaldisk“.⁴² Man kann dennoch auch diese Endstrophe als Spott klassifizieren, selbst wenn der Codex Frisianus noch eine Verszeile bietet: ok mildgeðr markar dróttinn (‚und großzügig-gesinnter Herr des Waldes‘).⁴³ Es ist jedoch ratsamer, sich zuerst mit der Tragweite der beiden hier gegebenen Spitznamen zu fassen. So schlägt Bergsveinn vor, der Skalde stelle den Rǫgnvaldr geradezu als Karnevalclown dar.⁴⁴ Mit Blick auf diese Endstrophe möchte ich Bergsveinns Meinung um einige Argumente ergänzen. Snorri nennt Rǫgnvaldr heiðum hæri (‚der mit Ehren Erhöhtere‘) sowohl in der Begleitprosa als auch im Prolog, ohne dass er irgendeinen Hohn in der Strophe dabei erkennen will.⁴⁵ Der Skalde aber, der ihn heiðumhárr (‚mit Ehren erhöht‘) nennt, erhebt sein Gedicht in einen politischen Zusammenhang, in dem er, sein Gönner und auch die Zuhörer des Ynglingatals Rǫgnvaldr für einen degenerierten Hypostasen seines göttlichen Vorfahren zu halten pflegen. Sobald wir erfahren, dass der König in seinem Land auf einem Wagen herumfährt, müssen wir unweigerlich an den Gott denken, von dem er abstammt. Dass Freyr sich in einem Wagen (auch mit Frau) von seinen Ergebenen in Schweden herumführen lässt, ist sonst das Thema im Gunnars þáttr Helmings, der in der Flateyjarbók um etwa 1390 kopiert wurde. Der Verfasser dieses Märchens macht sich über die Dummheit seiner Schweden besonders dahingehend lustig, dass es ihnen gelingt, ihren Freyrabgott und nachher dessen

42 Krag 1991, S. 143; „Her foreteller ingenting, strofen er bare en hylest til den samtidige fyrste skalden vender seg til.“ 43 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 83. 44 Bergsveinn Birgisson 2007, S. 409–412. 45 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 4 und 83 (c. 50).

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Fahrer Gunnarr als lebendigen Gott zu verehren.⁴⁶ Falls man dieses Wagenmotiv für ein aus der Klassik stammendes Bild halten will, ist es wohl die Mühe wert, uns an Einhard, den Biographen von Karl dem Großen zu erinnern, der ähnliches in seiner Vita Karoli (ca. 817–830) über den letzten Merowingerkönig Childeric III, einhundert Jahre vor Karl, erzählt. Für den Childeric gibt es ebenfalls eine Wagentour, die man schon als eine archaische, von Nerthus kommende Institution interpretierte.⁴⁷ Da er seine Macht an die Karolinger verlor, wird er ironisierend in einem ochsengezogenen Wagen im Land bubulco rustico more agente (‚von einem Kuhhirten in bäuerlichem Stil herumgeführt‘).⁴⁸ Kaum respektvoller erscheint die Darstellung des Rǫgnvaldr am Ende des Ynglingatals (ca. 890). Über die wirkliche Ehre dieses Königs werden sich die vermutlich aus dem Westen stammenden Zuhörer nicht täuschen lassen, da sie wissen, dass der ausländische konungr die Macht bereits verloren hatte und sich nur in Vergnügungsfahrten mit seinen großen Vorfahren tröstet, von denen er angibt, sie stammten aus Uppsala. Rǫgnvaldr wird dann auf einem Wagen wie Ingvi-freyr, sein Urstammvater, durch die Heide geführt und dadurch als machtloser König, d.h. Vasall des Königs Haraldr Schönhaar, dargestellt. Daher scheint es weniger wahrscheinlich, dass Þjóðólfr, wie Snorri im Prolog sagt, orti ok um Rǫgnvald konung heiðum hæra kvæði þat, er kallat er Ynglingatal (‚auch zu Ehre Königs Rǫgnvaldr des mit Ehren Erhöhteren das Gedicht verfasste, das die Liste der Ynglingar heißt‘). Einige – und nicht nur diejenigen, die den Anfang aller Komödie mit der Christianisierung gleichsetzen – fragen sich sicher, warum soviele Ausdrücke im Ynglingatal respektlos anmuten, wenn dies tatsächlich als echtes Loblied betrachtet werden sollte. Wie Bergsveinn sagt: „Man latterliggjør ikke forfedrene til en konge man mener å opphøye.“⁴⁹ Dennoch bleiben fast alle Forscher der Meinung, Þjóðólfr habe das Ynglingatal als ernsthaftes Werk konzipiert. Die Ynglinga saga verlässt sich als bewusstes Geschichtswerk auf das Ynglingatal, und die nachfolgenden Sagas ihrerseits die Ynglinga saga. Man muss jedoch zugeben, dass die Annahme einer Komödie im Ynglingatal den Status der Heimskringla kaum bedroht, weil sie nur die Ausdrucksweise betrifft. Der Spott durchkreuzt weder die Genealogie noch die Namen der Ruhestätten und wird all jenen Zuhörern begreiflich, die ihn nur erkennen wollen. Þjóðólfrs Worte aber betonen umso deutlicher, es handle sich angesichts der meist schwedischen, eingefleischten Freyranbetenden Vorfahren Rǫgnvaldrs um eine Ahnenreihe von fremden Komödianten.

46 Eyfirðinga sǫgur (Jónas Kristjánsson 1956), S. 112–115; Flateyjarbók (Unger / Guðbrandur Vigfússon 1860–68), 1, c. 277 und 278. 47 Piggott 1992, S. 34 f. 48 Vita Karoli (Pertz 1947), S. 3. 49 Bergsveinn Birgisson 2007, S. 411.

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Das Ynglingatal als Quelle der Konunga ævi Es bleibt nun noch zu erforschen, wie das Ynglingatal von seiner christlichen Nachwelt behandelt wurde. Kurz gesagt scheinen die Priester Sæmundr inn fróði (‚der Gelehrte‘) Sigfússon (ca. 1056–1133), und Ari Þorgilsson (auch) inn fróði (1067–1148) als erste schriftliche Nutzer des Gedichts in Erscheinung zu treten. Was Sæmundr angeht, gibt es erst die Vermutung, dass die Zahl der Generationen im Ynglingatal in der Ahnenreihe der Oddaverjar eine Rolle gespielt hat, wenn es wirklich Sæmundr war, der diesen von Skjǫldr stammenden Stammbaum kreierte. Sein später verschollenes Geschichtswerk wird heutzutage von Forschern als eine auf Lateinisch verfasste veraldar saga (‚Weltgeschichte‘) oder aldartala (‚Alterserzählung‘) betrachtet, die er teilweise auf die komputistischen Werke des Beda Venerabilis aufbaute.⁵⁰ Es scheint auch möglich, dass Sæmundr hier Ynglingatal gebraucht hat. Einem späteren Historiker zufolge soll er den Schweden Fjǫlnir mit dem Dänen Friðfróði (und auch mit dem Kaiser Augustus) in seinem Werk synchronisiert haben,⁵¹ was verraten könnte, dass er die Fjǫlnir-Strophe im Ynglingatal (jetzt Str. 1), und möglicherweise das ganze Gedicht, schon kannte, bevor er seine Skjǫldungen-Ahnenreihe schuf. Gründe lassen sich auch für die Annahme finden, dass Ari eine Prosaumschreibung des Ynglingatal mit einschloß, als er seinen ersten Entwurf der Íslendingabók (ca. 1122) geschrieben hat. Snorri behauptet in seinem Prolog, dass erst Ari sein Geschichtswerk auf Isländisch verfasst hat, was die Möglichkeit nicht ausschließt, er habe die erste Íslendingabók auf Latein geschrieben.⁵² Aris Prolog zufolge haben ihn die Bischöfe Þorlákr von Skálholt (1086–1133) und Ketill von Hólar (1075–1145) um das Buch gebeten.⁵³ Abgesehen von diesem Werk ist Ari Urheber eines eigenen Stammbaums gewesen, der sich auf das Ynglingatal als Quelle verlässt und mit den Worten en ek heiti Ari (‚und ich heiße Ari‘) schließt.⁵⁴ Dieser Stammbaum heißt Langfeðgatal (‚Liste der Vorfahren‘) und ist heute in einer Nachschrift am Ende der Íslendingabók erhalten. Höchstwahrscheinlich spielt Ari hierauf in seinem Prolog an, als er andeutet, dass ihm die Bischöfe, mit Hilfe des Priesters Sæmundr, zugeraten haben, zwei Elemente aus dieser Version zu tilgen. Eine solche Verfahrensweise kommt in den Prologen des Mittelalters eher selten vor.⁵⁵ Im Prolog der abgeschlossenen Version schreibt Ari darüber folgendermaßen:

50 Sverrir Jakobsson 2005, S. 55 f.; Sverrir Tómasson 2011, S. 44. 51 Björn á Skarðsá, in AM 186 III, 4to (vgl. Sverrir Tómasson 2011, S. 40). 52 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), I, S. 5. 53 Sverrir Tómasson 1988, S. 83. 54 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. 27 f. 55 Sverrir Tómasson 1988, S. 155.

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En með því at þeim líkaði svá at hafa eða þar viðr auka, þá skrifaða ek þessa of et sama far, fyr útan áttartǫlu ok konunga ævi, ok jókk því es mér varð síðan kunnara ok nú es gørr sagt á þessi en á þeiri.⁵⁶ ‚Und insofern als es ihnen gefiel, es beizubehalten oder zu ergänzen, schrieb ich dies zum gleichen Thema, aber ohne die Ahnenreihe und die Lebensbeschreibungen der Könige, und ich fügte hinzu, was mir später geläufiger wurde, und jetzt wird von der Sache hier genauer als in der früheren Version berichtet.‘

Von dieser Áttartala soll das Langfeðgatal von Ari zweifelsohne ein Teil sein. Es wurde im 17.  Jahrhundert als später erhaltene große Ahnensammlung an das Ende der Íslendingabók angehängt. Trotz des späten Datums wurde diese Sammlung wahrscheinlich unverändert aus einigen Listen kopiert, die zum ersten Entwurf der heute teilweise verlorenen Áttartala gehörte. In Langfeðgatal folgt Aris Stammbaum denjenigen von vier isländischen Bischöfen, wovon die Letzteren Þorlákr und Ketill sind.⁵⁷ Es lässt sich im Prolog aus den Weihe- und Todesdaten folgern, dass Ari seinen ersten Entwurf der Íslendingabók zur Prüfung zwischen 1122 (die Bischofsweihung des Ketill) und 1133 (im Todesjahr des Þorlákr und des Sæmundr) vorgelegt hat. Weil Ari darin auf keine Ereignisse nach 1118 verweist, scheint es wahrscheinlich, dass er die zweite Version vor etwa 1125 geschrieben hat. In diesem Jahr haben die Isländer ihre ersten Kirchengesetze angenommen. Also lässt sich der alte Vorschlag von Guðbrandur Vigfússon, dass die Bischöfe Ari damals auftrugen, das Buch als Kirchenbeschreibung ihres Landes für den Lunder Erzbischof zu verfassen, noch weiter untermauern.⁵⁸ Das Buch der Isländer war nicht für Ari, sondern für die Kirche Islands bestimmt. Daher haben ihn die Bischöfe gebeten, das persönliche Material herauszustreichen. Über die wahrscheinliche Gestalt von Aris Áttartala und Konunga ævi gibt es keinen Forschungskonsens.⁵⁹ Obwohl Ari diese Texte aus dem ersten Entwurf entfernte, hat er sie dann wohl weiter als unabhängiges Buch aufgeschrieben. Sverrir Tómasson hat mit Recht behauptet, dass die erste Version der Íslendingabók im Nachhinein nicht erhalten wurde.⁶⁰ Der anonyme Verfasser der Ersten Grammatischen Abhandlung (ca. 1130–1140) verweist auf þau in spakligu frœði, er Ari Þorgilsson hefir á bœkr sett (‚diese gelehrten Geschichtstraditionen, die Ari Þorgilsson in Bücher eingebettet hat‘). Es lässt sich also vermuten, dass für ihn von wenigstens zwei Büchern Aris, und zwar von unabhängigen Konunga ævi, die Rede war.⁶¹ Für Sverrir gelten diese ‚Lebensbeschreibungen der Könige‘ als eine Reihe von dœmi (‚bemerkenswer-

56 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. 3. 57 Turville-Petre 1978–81, S. 9–11. 58 Guðbrandur Vigfússon / Powell 1905, S.  280–286; Íslendingabók (Halldór Hermannsson 1930), S. 29. 59 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. x–xvii. 60 Sverrir Tómasson 2011, S. 26–28. 61 First Grammatical Treatise (Haugen 1950), S. 13.

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ten Ereignissen‘), die man als die Todesankündigungen der Königen interpretieren kann.⁶² Solche Ereignisse dürften genau den Erzählungen im Ynglingatal entsprechen. Andererseits darf man zugeben, a) dass Sæmundr bereits eine kurze Umschreibung dieses Gedichts in seiner Weltgeschichte mit eingeschlossen haben könnte, weil er das Gedicht als Quelle für die Vorgeschichte Schwedens benutzen wollte; b) dass sich Ari auf diese Umschreibung in seinem ersten Entwurf der Íslendingabók verließ; und c) dass er diese Umschreibung daher in seine unabhängige Konunga ævi kopierte, die der Verfasser der Historia Norvegiae um etwa 1150 (Ekrem zufolge), oder um 1160–1175 (Boje Mortensen zufolge) als Quelle benutzte. Es scheint, dass sich dieser Verfasser auf Ari so verlässt, weil es sonst keine Belege dafür gibt, dass bei Sæmundr von einer Blutbeziehung zwischen Haraldr Schönhaar und den Ynglingar jemals die Rede war.⁶³ Da der Verfasser der Historia wohl eine Geschichte der Ynglingar aus dem Werk Aris kennt, darf man sich fragen, ob Ari das Ynglingatal als Gedicht gekannt haben könnte. Alles in allem scheint die Antwort positiv auszufallen. Obwohl keiner der beiden früheren Verfasser, weder Ari noch der Anonymus der Historia Norvegiae, eine Strophe aus dem Ynglingatal zitiert, scheint es doch wahrscheinlich, dass Ari eine Version des Gedichts gelesen oder gehört haben könnte. Erstens erzählt der HistoriaVerfasser über die Ynglingar ohne Zitate, aber in Form einer Nacherzählung, sodass es scheint, es stehe ihm eine Prosaumschreibung des Ynglingatal zur Verfügung. Zweitens bieten sie beide die Ahnenreihe Dagr – Alrekr – Agni, indem sie Alrekr als Sohn von Dagr (dem Spatzrächer) und Agni (oder Hǫgni nach der Historia) als Sohn von Alrekr darstellen wollen. Snorri, in seiner Erzählung (c. 18–20) und in den dabei zitierten Strophen (Str. 8–11), bietet uns umgekehrt die Reihenfolge Dagr  – Agni  – Alrekr. Die Tatsache, dass der Historia-Verfasser bis auf Halfdan Weißbein die gleiche Reihenfolge wie Ari erhält, darf als wahrscheinliches Anzeichen dafür gelten, dass er sich für seine Ynglingar auf Ari verlässt: Rex itaque Ingui, quem primum Swethie monarchiam rexisse plurimi astruunt, genuit Neorth. Qui uero genuit Froy. Hos ambos tota illorum posteritas per longa secula ut deos uenerati sunt.⁶⁴ ‚So hat König Ingvi, der nach der Meinung vieler das Schwedenreich als erster König beherrschte, den Njǫrðr gezeugt, der selbst Freyr gezeugt hat. Beide der Letzteren sind durch viele Jahrhunderte von allen ihren Nachkommen als Götter angebetet worden.‘

Obwohl hier weder auf Aris Namen noch auf das türkische Reich des Königs Ingvi angespielt wird, darf man den Verweis des Anonymus auf einige Informanten mit

62 Sverrir Tómasson 1988, S. 279–290. 63 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 71–79 (ca. 1150) und 11–24 (1160–1175); vgl. Lange 1989, S. 141–181; Historia Norvegiae (Kunin / Phelpstead 2008), S. xix–xxv, hier: xxii–xxiii. 64 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 74.

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dem Verweis der kenntnisreichen Isländer gleichsetzen, die Ari sowohl im Prolog und Kapitel 9 seiner Íslendingabók als auch vermutlich in seinen Konunga ævi erwähnte. Drittens ist zu bemerken, dass der Historia-Verfasser, als er den Tod von Vanlandi beschreibt, der durch einen Alptraum zu Tode erdrückt wird, das Wort mara (‚Stute‘) mitten in seinem lateinischen Text erwähnt, um genauer zu erklären, was den König umbringen soll: quod genus demoniorum Norwaico sermone ‚mara‘ uocatur (‚jene Art der Dämonen heißt auf Norwegisch mara‘ (c. 9)). Es scheint aus mara und anderen nichtlateinischen Worten wahrscheinlich, dass er sich auf einen isländischen Prosatext stützt.⁶⁵ Obwohl das Wort mara in der einschlägigen Strophe des erhaltenen Gedichts erscheint (Str. 3), deuten die Unterschiede zwischen Prosa und Gedicht möglicherweise an, dass der Anonymus keine Version des Ynglingatal vor sich hatte. Daraus könnte man aber folgern, dass seine Quelle sich auf das Gedicht stützt. Man möchte außerdem die Reihenfolge der Könige in Aris Langfeðgatal derjenigen in Snorris Ynglinga saga vorziehen, weil sie eindeutig besser zum Gedicht passt. Obwohl es Snorri war, der uns das Ynglingatal erhalten hat, könnte man die Worte Dags fríendr, den Ausdruck für Alrekr und Eiríkr in Strophe 11, als Beleg für die Platzierung dieser Strophe direkt nach Strophe 8–9 betrachten.⁶⁶ Bei Ari und dem Historia-Verfasser gibt es weitere Stellen, an denen sich die Textfassung von derjenigen der Ynglinga saga unterscheidet. Der von seinem Volk in Str. 5 endlich geopferte Sakralkönig heißt Dómaldr nach Aris Stammbaum und Domald nach dem Historia-Verfasser, während sowohl Snorri (c. 18) als scheinbar auch der Skalde ihn Dómaldi nennen. Ari und der Historia-Verfasser schließen gern Spitznamen aus mnemotechnischen Gründen mit ein, und sie scheinen einige Fehler zu machen, von denen Snorri nicht weiß. Der Spitzname Vendilkráka (‚VendsysselKrähe‘) gehört eigentlich zum Helden Óttarr Egilsson, den die Dänen im Gedicht Vendli (‚in Vendsyssel‘ (Str. 19)) aufhängen wollen. Unverständlicherweise weisen aber Ari und der Historia-Verfasser (Vendilcraco, c. 9) denselben Spitznamen nicht Óttarr, sondern seinem Vater Egill zu. Im Fall des Eysteinn fretr (‚Furz‘) Halfdanarson, der aufgrund starken Windes durch einen Balken über Bord ins Meer geschleudert wird und dann ertrinkt, hat man sowohl in Aris Prolog als auch in der Historia Norvegiae (c. 10) einen wohl ironischen Spitznamen beigefügt, der weder im Ynglingatal (Str. 31) noch bei Snorri (c. 51) zu finden ist. Hingegen erzählt Snorri, vielleicht aus einer Strophe, die er nicht zitiert, dass der Wind durch die Magie des Königs Skjǫldr von Varna entsteht, weil dieser in seinen Mantel bläst, um Eysteinn dadurch umzubringen. Hier wirkt es, als habe Ari in seinen Konunga ævi die Erzählung mit demjenigen Kernausdruck erhalten, den der Historia-Verfasser überliefert und den Snorri ignoriert.

65 Krag 1991, S. 146. 66 Krag 1991, S. 112.

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Zudem gibt es Belege von Änderungen und Zusätzen, die wahrscheinlich von Ari kreiert und dann vom Historia-Verfasser und schließlich von Snorri akzeptiert worden sind. Beide Snorri (c. 35) und der Historia-Verfasser (Himinheithy, c. 9) benutzen das Wort Himinheiðr als Ortsname für die Endschlacht des Königs Braut-Ǫnundr, während der Skalde den Ort als Himinfjǫll (‚Himmelfelsen‘ (Str. 26)) darstellt. Und in der schon diskutierten Geschichte vom spatzrächenden König Dagr erwähnen sowohl Snorri (c. 21) als auch der Historia-Verfasser (scrotā uath, c. 9) einen Ortsnamen Skjótansvað (Historia B: stotamuadh uel wapnawadh; Snorri auch Vápnavað), der im Ynglingatal (Str. 8–9) nicht zu finden ist. Als der Verfasser der Historia hinzufügt, dass die Dänen Dagr publico bello occiderunt (‚in einer Schlacht des Volkes umgebracht haben‘), kann man vermuten, dass er sich auf einen Text stützt, den Snorri ebenfalls vor sich hatte. Snorri schildert den Ausgang des Kampfes so: gekk hann upp með her sinn ok herjaði. Fólkit flýði víðs vegar undan. Dagr konungr snøri herinum til skipa, er kveldaði, ok hafði drepit mart fólk ok mart handtekit. (c. 18)⁶⁷ ‚Er drang mit seinem Heer ein und plünderte. Das Volk floh vor ihm weithin in alle Richtungen. König Dagr zog das Heer zu den Schiffen zurück, als der Abend kam, nachdem er viel Volk getötet und viele gefangengenommen hatte.‘

Den modernen Herausgebern der Historia wäre der Ausdruck publico bello als nicht so problematisch aufgefallen, hätten sie ihn zuerst mit der Ynglinga saga verglichen.⁶⁸ Da es unwahrscheinlich ist, dass Snorri die Historia benutzt hat, oder umgekehrt, liegt die Vermutung nahe, dass er seinen Text auf eine von Ari geschriebene Ergänzung aufbaute. All diese Belege führen vorläufig zu dem Schluß, dass sich sowohl Snorri als auch der Historia-Verfasser auf eine Prosaumschreibung des Ynglingatal stützten, die zu Aris Konunga ævi gehörte. Daher stellt sich die Frage, in welchem Maße sich Snorris Ynglingen-Erzählungen genau auf dieses verschwundene Material von Ari berufen. Hierauf wird sich hier wohl keine befriedigende Antwort finden lassen können. Einige Textvergleiche aber, die als Anzeichen für einen solchen Zusammenhang gelten können, lassen sich zwischen der Ynglinga saga und der Historia Norvegiae durchführen. Zum Beispiel ergänzt Snorri die Strophen 17–18 des Ynglingatals über Egill Aunarson mit einer langen Einleitung, in der dieser Uppsala-König erfolglos acht Schlachten gegen einen Sklaven namens Tunni kämpft, der ihn seines Reiches beraubt hat, bevor es Egill endlich gelingt, Tunni in der neunten Schlacht zu beseitigen und damit die Macht zurückzuerlangen (c. 26). Danach stirbt Egill überraschend, als ihn ein Wildtier im Wald aufspießt. Die ermüdende Verlängerung dieser Prosabeschreibung (die ansonsten auch mit der Geschichte von Ongentheow und Eofor im Beowulf, vv. 2922–98, verwandt ist) könnte auch an Saxos Gesta Danorum (ca. 1200) erinnern, hätte er sie

67 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 36. 68 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 135.

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nur erzählt. Der Historia-Verfasser fasst aber das Wesentliche der Geschichte in drei Sätzen seiner eigenen Prosaumschreibung zusammen.⁶⁹ Daraus dürfen wir folgern, da wir zudem von keiner anderen Quelle wissen, dass Snorri seine Ergänzung über König Egill auf einige Sätze in Aris Konunga ævi aufgebaut hat. Es gibt eine weitere Geschichte in der Saga über Ingjaldr Braut-Ǫnundarson. In seiner Jugend hatte dieser Wolfsblut getrunken und sich dadurch gestärkt, um furchtbar zu werden. Somit hatte er den Spitznamen inn illráði (‚der Böse‘) bekommen.⁷⁰ In der Geschichte entscheidet er sich dafür, seine Halle mit sich und den Seinen darin in Brand zu stecken, um einem Kampf gegen den furchtbaren Wikinger Ívarr inn víðfaðmi (‚der mit der langen Reichweite‘) zu entgehen. Snorri ergänzt damit die Todeserzählung des Þjóðólfr (Str. 27–28) in einer langen Einleitung, die weder im erhaltenen Gedicht noch in der Historia zu finden ist. Dass der Verfasser der Letzteren jedoch dieselbe Quelle wie Snorri benutzt hat, ist aus dem withfadm-Spitznamen ersichtlich. Da der Historia-Verfasser denselben Spitznamen auf Isländisch wie Snorri zitiert, ist es nicht von Bedeutung, dass der illráði-Name bei ihm nicht erscheint, denn der withfadm-Name zeigt, dass er sich auf Aris Konunga ævi stützt. In diesem Fall reflektiert die Abwesenheit des illráði keinen Quellenmangel, sondern einen Versuch des Historia-Verfassers, den Schaden am Ruhm des Königs zu begrenzen. Daraus wird ersichtlich, dass Snorri hier die Konunga ævi als Quelle benutzt hat. Wenn man die Lage so betrachtet, kommt einem die typische Kürze des HistoriaVerfassers als Zeichen der Zurückhaltung vor. Sein Material will er nämlich deshalb einschränken, um seine Könige nicht als minderwertig darzustellen, obwohl sie Schweden sind: er erklärt, dass auch Trondheim, für ihn die Hauptregion Norwegens, von ihnen besiedelt wurde.⁷¹ Weiter zeigt er die Tendenz, z.B. in seiner Behandlung des altschwedischen Königsopfers von Dómaldi, den Ruhm der Schwedenkönige schützen zu wollen. Der Skalde erzählt die Geschichte wie folgt: Hitt vas fyrr, at fold ruðu sverðberendr sínum dróttni, ok landherr af lífs vǫnum dreyrug vápn Dómalda bar, þás árgjǫrn Jóta dolgi Svía kind of sóa skyldi. (Str. 5) ‚Es ist vor langer Zeit passiert, dass Schwerttragende mit ihrem Herrn die Erde rotgefärbt haben, und die Bodenarmee ihre blutgefleckten Waffen von Dómaldi, dem das Leben fehlte, wegtrug, als die erntegierigen Kinder der Schweden das Feld mit dem Feind der Jüten besähen sollten.‘

69 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 76. 70 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, c. 40. 71 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 74.

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Der Schrecken dieser Szene trägt beim Skalden zum spöttischen Bild der Schweden bei. Dass der Volkeswille mehr als die Königsmacht bei den Schweden gilt, ist vielfach gerühmt geworden.⁷² Aber was für eine Geisteskrankheit dieser vorhistorischen Landleute, dass sie ihren eigenen Verteidiger, obwohl sie offenkundig Hunger litten, in Stückchen geschnitten haben! Der Historia-Verfasser (oder seine Quelle) versucht, die Geschichte zu bereinigen, indem er ohne diesen zweiten blutigen Zusatz sagt, dass Domald Sweones suspendentes pro fertilitate frugum Cereri hostiam obtulerunt (‚die Schweden haben Domaldr als Opfer an Ceres aufgehängt, um die Fruchtbarkeit des Getreides zu sichern‘ (c. 9)). Er ignoriert das seltsame Blutbad, schützt dabei den Ruhm seiner Wunschahnen und beschreibt ihre ár (‚Ernte‘) mit Hilfe einer römischen Göttin, um ihnen trotz des Opfers den Lohn des Sommers zu gönnen. Mehr will er dazu nicht sagen. Snorri schreibt eine Version, die dieses Opfer als Sonderfall rationalisiert, weil es erst am Ende dreier Hungerjahre stattfindet (c. 15). Diese positiven Haltungen gegenüber den Schwedenkönigen lassen sich ohne Schwierigkeiten auf die Quelle, die man als Aris Konunga ævi betrachten kann, zurückführen. Andererseits ist die Geisteskrankheit dem König zuzuweisen. Nach Snorri soll König Aun, Vater von Egill, dem Óðinn nach jedem Jahrzehnt einen Sohn opfern, damit er sein Leben verlängern kann, auch wenn ihm der Körper welkt und der Zuwachs an Jahren immer geringer wird (c. 25). Als er nach dem Opfern des neunten Sohnes nicht mehr im Stande ist, aufrecht zu stehen oder an etwas anderem als an einem scharfen Hornende Milch zu saugen, rebelliert das Volk, rettet den zehnten Sohn und lässt den Alten unbetrauert sterben. So ergänzt Snorri die kurze Skaldenerzählung mit vielen Details, auch aus Auns früheren Kämpfen: Knátti endr at Uppsǫlum ánasótt Aun of standa, ok þrálífr þiggja skyldi jóðs alað ǫðru sinni. (Str. 15) ‚Das Ende ist für Aun bei Uppsala durch Alterskrankheit eingetreten, und ein zweites Mal musste derjenige, der das Leben dringend brauchte, die Babynahrung schmecken.‘ Ok sveiðurs at sér hverfði mækis hlut enn mjávara, es okhreins áttunga rjóðr lǫgðis odd liggjandi drakk: máttit hárr hjarðar mæki austrkonungr upp of halda. (Str. 16)

72 Bergsveinn Birgisson 2007, S. 286 f.

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‚Und den schlankeren Teil der Klinge eines Ochsen hat er an sich geführt, als der Blutrötende seiner Nachkommen liegend aus der Stoßspitze eines Jochrentiers trank: das Viehschwert konnte der grauhaarige Ostkönig nicht hochhalten.‘

Wenn Þjóðólfr nicht auf Aun als áttunga rjóðr (‚Blutrötender, d.h. Opfernder, seiner Nachkommen‘) verwiesen hätte, hätte man nichts über die Exzentrik des Alten gewusst.⁷³ Mit der Horn-Kenning sveiðurs mæki (‚die Klinge des Ochsen‘), deren spitzes Ende Aun an sich zieht, beschreibt er eine Senilitätskomödie, als ob Aun sich selbst opfern wolle. Die Situation führt somit eindeutig auf Auns Schlußnamen austrkonungr hin, der den erneuten Wahnsinn als schwedisch markiert. In der Historia wird das Grauen dieser Strophe in das Bild eines pensionierten Ruheständlers verwandelt: iste genuit Auchun, qui longo uetustatis senio ix annis ante obitum suum dense usum alimonie postponens lac tantum de cornu ut infans suxisse fertur (‚dieser [d.i. Jǫrundr] hat Aun erzeugt, der vor seinem Tod in seiner verlängerten Altersschwäche neun Jahre, so hat man gesagt, kräftige Nahrung beiseite gelegt hat, in dem er nur Milch aus einem Horn wie ein Säugling saugte‘ (c. 9)). Mit den neun Jahren enthüllt dieser Verfasser etwas über die Anzahl der schon geopferten Söhne. So spielt er auf einen viel dunkleren Hintergrund an, von dem er nicht erzählen will. Es scheint dabei möglich, dass er auch diese Königslegende zu bereinigen versuchte. Das kann ebenso für Snorri gelten, der die Ursache dieses Verfahrens auf eine Abmachung zwischen Aun und Óðinn, der nicht im Gedicht vorkommt, zurückführt. Auch in seinem Fall geht die Priorität, den Ruhm der Ynglingar retten zu wollen, wahrscheinlich auf die Konunga ævi von Ari zurück. König Aðils kommt in der Skjǫldung-Tradition als Stiefvater von König Hrólfr, Sieger der Schlacht mit König Áli, und undankbarer Arbeitgeber von Bǫðvarr bjarki (‚Bärchen‘) und anderer Krieger des Königs Hrólfr vor. Er lässt sich mit Eadgils im Beowulf vergleichen, der gegen Onela mit Hilfe des Königs Beowulf (‚Bienenwolf‘) kämpft (vv. 2391–2394).⁷⁴ Im Ynglingatal aber soll Aðils als Pferdenarr in Uppsala sterben, als eine Hexe ihn um die Ecke bringt: Þat frák enn, at Aðils fjǫrvi vitta véttr of víða skyldi ok dáðgjarn af drasils bógum Freys áttungr falla skyldi. (Str. 21)

73 Marold 1983, S. 122. 74 North 1992; North 2006, S. 59–64.

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 Richard North

‚Ich hörte noch einmal, dass ein Geschöpf von weit entfernt für Aðils Leben trommeln sollte, und gierig auf die kühne Tat sollte von der Pferdeschulter der Nachkomme Freyrs hinabfallen.‘ Ok við aur ægir hjarna bragnings burs of blandinn varð, ok dagsæll deyja skyldi Ála dolgr at Uppsǫlum. (Str. 22) ‚Und mit dem Schlamm hat sich das Meer der Gehirne des Prinzenjungen vermischt, und glücklich in seinem Tag sollte Ális Feind bei Uppsala sterben müssen.‘

Von einem königsmordenden vitta véttr (‚Geschöpf des Trommelns‘) hat man schon in Strophe 3 gehört: daher das Wort enn. So eine Sámihexe wird hier bald klar verständlich, wenn man altisländisch vitta als ‚Trommel‘ interpretiert.⁷⁵ Damit treibt sie vermutlich die Geschwindigkeit des Pferderennens an, das sowohl den Schlamm als auch den Tod, den der Skalde so detailreich beschreibt, verursacht. Doch der Unfall schockiert auch ohne Hexe schon genug. Der Skalde gibt lieber dem König die Schuld, stellt ihn als Angeber dar, der sobald er das Rennen gewonnen hat, vom Pferd herunterstürzt. Die Art des Todes scheint einem Nachkommen von Freyr, dem Gönner der Hengste, nur zu würdig. In der Historia bietet der Verfasser, oder seine Quelle, noch eine ‚interpretatio Romana‘ und führt eine neue Göttin ein: cuius filius Adils ante edem Diane, dum ydolorum sacrificia fugeret, equo lapsus expirauit (‚Aðils, der Sohn [Óttarrs], während er den Abgötteropfern entfloh, ist vor dem Haus der Diana gestorben, indem er von seinem Pferd gefallen ist‘).⁷⁶ So darf man den Satz trotz der faceret-Emendation lesen, die die jüngeren Herausgeber vorziehen, indem sie die Bedeutung mit dem Lateinischen sacrificia facere zu harmonisieren versuchen.⁷⁷ Die mit Diana vollzogene ‚interpretatio romana‘ lässt sich dem Historia-Verfasser, oder dem Sæmundr, oder vielleicht dem Sæmundr durch Ari, zuschreiben.⁷⁸ Bei Snorri beginnt die Erzählung, als Aðils eines seiner feinen Rennpferde an Goðgestr von Hálogaland schickt (c. 33). Weil dieser König es nicht zäumen kann, bringt ihn das Pferd im ersten Ritt um. Wohl nicht zufällig stirbt Aðils in Uppsala: Aðils konungr var at dísablóti, ok reið hesti um dísarsalinn; hestrinn drap fótum undir honum ok féll, ok konungr af fram, ok kom hǫfuð hans á stein, svá at haussinn brotnaði, en heilinn lá á steininum. Þat var hans bani. Hann dó at Uppsǫlum.

75 Tolley 2009, 1, S. 534–536; Haustlǫng (North 1997), S. 2 f. und 14. 76 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 76 und 78. 77 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 136. 78 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 50 f.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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‚König Aðils war beim Disenopfer, bei dem er mit seinem Pferd um den Saal der Dise herumritt; unter ihm stolperte das Pferd und fiel, und der König stürzte herab und schlug mit dem Kopf gegen einen Stein, sodass der Schädel brach und das Gehirn auf dem Stein lag. Das war sein Ende. Er ist in Uppsala gestorben.‘

Sowohl in der Saga als auch in der Historia ist von einer Göttin die Rede, wenn man hier eine dís als jemanden auffasst, der einen eigenen Tempel hat. Jedoch bestätigt Snorris Prosa den Eindruck der Worte vitta véttr in der Strophe, nämlich dass eine Hexe mit dem Tod etwas zu tun hat. Es lässt sich anhand der Saga glaubhaft machen, dass die Freunde von Goðgestr ihren König durch die Sámimagie rächen wollen. Wenn man diese Erzählvariante Snorris und des Historia-Verfassers der vermuteten gemeinsamen Quelle, den Konunga ævi, zugrunde legt, so scheint es am glaubhaftesten, dass Ari (oder Sæmundr) aus dem Suffix des Namen Uppsalir einen Tempel gemacht hat, um die Hexe in eine Göttin verwandeln zu können, damit Aðils gleichsam als Opfer des Heidentums stirbt. Wenn man die Form fugeret in der Haupthandschrift (A) der Historia akzeptiert, dann geht dieser Verfasser mit der den Aktäon umbringenden Diana noch ein Stück weiter. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass es Ari war, der sich so über die alten Götter geäußert hat (wenn er die Worte Sæmundrs nicht vermittelte). Der Verfasser der Historia bekräftigt, dass er die Geschichte Norwegens gern schreibt, um aduentum christianitatis simul et paganismi fugam (‚sowohl die Ankunft des Christentums als auch die Flucht des Paganismus‘ (c. 9)) gebührend darzulegen. Für Ari wäre die Kirchenrhetorik von keinem besonderen Belang, und beim anonymen Verfasser lässt sich der Spott des Skalden nicht spüren. Die letzten zwei Schwedenkönige dieses Ahnengedichts sind Ingjaldr und sein Sohn Óláfr, die in den Prosawerken inn illráði und trételgja genannt werden. Beide sterben durch Hausbrand: Ok Ingjald í fjǫrvan trað reyks rǫsuðr á Ræningi, þás húsþjófr hyrjar leistum goðkynning í gǫgnum sté. (Str. 27) ‚Und den noch lebenden Ingjaldr trat der Vorantreiber des Rauches⁷⁹ bei Ræningr, als der Hausdieb mit Flammenfußspuren gegen den Gottverwandten stieg.‘ Ok sá yrðr allri þjóðu sanngǫrvastr með Svíum þótti, es hann sjalfr sínu fjǫrvi frœknu fyrstr of fara skyldi. (Str. 28)

79 Marold 1983, S. 129.

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 Richard North

‚Und dieses Geschick erschien dem ganzen Volk unter den Schweden am geeignetsten, dass er sich selbst sein tapferes Leben zuerst nehmen sollte.‘

Snorri informiert uns, dass Ingjaldr sein Gefolge in seiner Halle dem Tode weiht, weil er einer Schlacht mit Ívarr inn víðfaðmi entgehen will. Die Halle steckt er in Brand, damit seine Untergebenen mit ihm und seiner bösen Frau betrunken mitsterben können (c. 40). Der Königsanspruch, von den Göttern abzustammen, wird vom Skalden durch den Kontrast zwischen Hausdieb (für Feuer) und lebenden Gott (für Ingjaldr) in seine Bestandteile zerlegt. Hier fängt die Feindseligkeit der Schweden, wenn wir dem Þjóðólfr trauen können, gegenüber den Ynglingar an. Über den Tod von Óláfr Ingjaldsson berichtet die folgende Strophe: Ok við vág, hinns við ar[ði], hræ Áleifs ǫlgylðir svalg, ok glóðfjalgr gǫtvar leysti sonr Fornjóts af Svía jǫfri: sá áttkonr frá Uppsǫlum lofða kyns fyr lǫngu hvarf. (Str. 29) Und beim See verschlang der Erlenwolf die Leiche von Óláfr, der den Wald [bepflügte], und Fornjótrs glutheißer Sohn⁸⁰ löste die Ausrüstung des Schwedenkriegers: dieser Nachkomme der Kämpfersippe hatte sich aus Uppsala vor langem entfernt.

Auch hier gibt es eine Verbrennung, obwohl es durch das Wort hræ in der Strophe so scheint, dass man den Óláfr als schon entschlafene ‚Leiche‘ auf einen Scheiterhaufen legt. Weil aber der Skalde dem Urenkel von Óláfr, Halfdan Eysteinsson, den dritten Krankheitstod nach seinem Großvater zuschreibt (Str. 32), darf man folgern, dass Óláfr wie sein Vater, aber in seinem Fall von seinen eigenen Schweden, zu Tode verbrannt wird.⁸¹ Noch einmal wird das Feuer als lebendes Element dargestellt. Hier aber greift ihn die Flamme wie ein Baumraubtier an, was auch ironisch gemeint ist, wenn man sich über seinen Spitznamen trételgja (‚Baumfäller‘) daran erinnert, dass er zeit seines Lebens selbst als Wolf der Bäume gegolten hatte. Eine neue Provinz Schwedens hat er gerodet und gepflügt, da er Bauer und kein Krieger ist: es scheint im Gedicht, als ob Óláfr im Innern des eigenen Heimes stirbt, weil er draußen nicht

80 Marold 1983, S. 130 (‚Wind‘). 81 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 74 f.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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kämpfen will. Der vágr (‚See‘), wo sein Volk ihn verbrennt, wird von Snorri mit Vænir (‚Vänern‘), Süd-Värmland, identifiziert (c. 43). Wenn der Schlußsatz in einer Untertreibung bemerkt, er habe Uppsala vor langem verlassen, enthüllt sich dabei die Pointe, dass die Schweden ihn aus der Heimat vertrieben haben. Weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, ziehen die besiegten Ynglingar aus Värmland weiter nach Norwegen. Der Verfasser der Historia Norvegiae entschuldigt den Selbstmord des Vaters damit, dass der Feind Ívarr viele zu dieser Zeit erschreckt haben soll und weil die Gefolgsleute als Freiwillige mit Ingjaldr mitsterben wollen: Post istum filius suus Ingialdr in regnum sublimatur. Qui ultra modum timens Iuarum cognomine Withfadm, regem tunc temporis multis formidabilem, se ipsum cum omni comitatu suo cenaculo inclusos igne cremauit. Eius filius Olauus cognomento Tretelgia diu et pacifice functus regno plenus dierum obiit in Swethia. (c. 9) ‚Als Nachfolger dessen [Braut-Ǫnundr] wird der Sohn Ingjaldr zum Königtum erhoben. Er hatte die größte Angst vor einem König, der Ívarr Víðfaðmi hieß und viele Leute zu dieser Zeit erschreckte, sodass Ingjaldr sich mit seinem ganzen Gefolge innerhalb seines Festsaals einschloss und diesen in Brand steckte. Sein Sohn Óláfr, vom Spitznamen Trételgja, herrschte im Reich lange und friedvoll und starb in der Fülle seiner Tage in Schweden.‘

Dass der Sohn sein ganzes Leben nachher friedlich über seine Schweden herrschen kann, setzt voraus, dass der Wikinger Ívarr verschwand und sich das Reich des Vaters nie verschafft hätte. Im Gegensatz zur Historia erzählt uns Snorri ein Märchen, in dem die böse Königin des Ingjaldr die Verantwortung für den Tod des ganzen Hofstaats trägt. Die Auslöschung von Ingjaldrs Gefolgschaft stellt er, oder seine Quelle, als einen von der Königin durch Alkohol bewirkten Massenselbstmord dar. Für die folgende Generation bringt Snorri Óðinn ins Spiel. Ein Teil der Bevölkerung desertiert von Ívarr zu Óláfr, um als Untertanen in Westschweden willig und gehorsam mit ihm zu leben. Sie verbrennen ihn erst später im Haus, weil sie ihm die Schuld daran geben, dass ihnen die Schätze des Landes schrumpfen, ok gáfu hann Óðni ok blétu honum til árs sér (‚und haben ihn an Óðinn gegeben und ihn um ihre Ernte angebetet‘ (c. 43)). Hier besteht ein so großer Unterschied zwischen Snorri und dem Historia-Verfasser, dass schwer zu entscheiden ist, wie viel an Erfindung man von welchem Verfasser in jedem der Texte erwarten darf. Doch zeigt uns schon die Edda, wieviel Wert Snorri dem Óðinn beimessen wollte. Eine Ergänzung des Óðinnsopfers, so wie Snorri es darstellt, lässt sich wohl nicht den Konunga ævi anlasten.⁸² Der Historia zufolge dürfte es plausibel sein, dass Ari hier eine kurze Óláfr-Geschichte mit Zensur erzählt, um die Ehre seiner Vorfahren aus dem Ynglingatal umso besser schützen zu können.

82 Sverrir Tómasson 1988, S. 288; Krag 1991, S. 131.

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 Richard North

Das Ynglingatal als Quelle der Áttartala Mit dem in Norwegen etablierten Halfdan hvítbeinn (‚Weißbein‘), Sohn des Óláfr Baumfällers, fängt in der Historia ein neues Kapitel an (c. 10). In einem Satz, den man wohl aus Aris Werk in den Prolog des zweiten Entwurfs der Íslendingabók eingefügt hat, beginnt der Stammbaum des Schönhaars mit Halfdan Weißbein, Upplendinga konungr (‚König von Uppland‘) und Sohn vom Schwedenkönig Óláfr.⁸³ Es scheint deshalb wahrscheinlich, dass Ari schon vor dieser Erwähnung die Áttartala und die Konunga ævi, d.h. ein Kapitel über die Schwedenkönige und seine Vorfahren, geschrieben hatte, als Sæmundr und die Bischöfe ihn zu ihrer Anschauung bekehrten, dieses Material aus seinem ersten Entwurf herauszunehmen. Es muss außerdem klar sein, dass Ari durch das Ynglingatal seine Landsmänner kaum davon überzeugt haben könnte, dass er mit den norwegischen Königen verwandt war, wenn dieses Gedicht die Ansicht nicht unterstützte, dass Halfdan inn svarti (‚der Schwarze‘) Sohn des Guðrøðr Halfdanarson war. Nach Snorri soll der Vater Guðrøðr entweder gǫfugláti (‚der Großzügige‘) oder veiðikonungr (‚Jägerkönig‘) heißen (c. 48). Nach der älteren königsgeschichtlichen Tradition Islands soll er der Vater sowohl von Halfdan dem Schwarzen als auch von Óláfr Elf von Geirstaðir sein, den der Skalde als Vater des Königs Rǫgnvaldr darstellt. Dieser Óláfr herrscht nach Snorri über die Lande zwischen den Flüssen Raumelf und Gautelf im Südosten. Sein Halbbruder Halfdan, dessen Sohn Haraldr Schönhaar gleichzeitig Vorfahre der späteren nordischen Könige und Gönner von Þjóðólfr war, soll von Ása geboren sein, die Guðrøðrs zweite Frau nach dem Tod der Mutter des Óláfr wird und (wie Þjóðólfr) aus Agder im Süden stammt. Das Problem ist nur, dass die junge Mutter Halfdans dessen Vater ermorden lassen soll. Nach der Nacherzählung in der Ynglinga saga (c. 48) wird Guðrøðr erst Witwer. Dann erst hört er von Ása, Tochter des Agder-Königs Haraldr. Als er im ersten Versuch, Ása als Frau zu gewinnen, von ihrem Vater zurückgewiesen wird, bringt er Haraldr und ihren Bruder Gyrðr im Kampf um und gewinnt sie damit gewaltsam. Ása wartet und veranlasst die Rache für ihren Mann erst ein Jahr später, nachdem sie Halfdan zur Welt gebracht hat. Als Guðrøðr auf dem Weg zu Festen die Küste umsegelt, betrinkt er sich eines Tages bei einer Förde und wird umgebracht, indem ein Mann ihn dort am Abend plötzlich ersticht. Der sofort getötete Mörder wird am nächsten Morgen als Page der Königin erkannt, die doch unverhohlen zugibt, dass sie ihn zu der Tat angestachelt habe. Bei dem Skalden ist jedoch weder von Halfdan noch von Haraldr Schönhaar die Rede. Einerseits eröffnet uns Þjóðólfr im Gedicht, als er über Guðrøðrs Tod erzählt, keine besondere Verbindung zwischen ihm und Halfdan. Andererseits wird, indem er

83 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. xvi; Sverrir Tómasson 1988, S. 387; Sverrir Tómasson 2011, S. 12.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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diesen Mord einer Ása zuweist, in den folgenden Strophen ersichtlich, wie man eine Verbindung zwischen Guðrøðr und Halfdan später erfinden konnte. Der Skalde stellt das folgendermaßen dar: Varð Guðrøðr enn gǫfugláti lómi beittr, sás fyr lǫngu vas, ok umbráð at ǫlum stilli haufuð heiptrœkt, at hilmi, dró. (Str. 33) ‚Durch Tücke, die seit langem im Entstehen war, wurde Guðrøðr der Großzügige gejagt, und ein zu Fehde geneigtes Köpfchen zog das Urteil zum betrunkenen Schlichter, zum Herrscher, hin.‘ Ok launsigr enn lómgeði Ásu árr af jǫfri bar, ok buðlungr á beði fornum Stíflusunds of stunginn vas. (Str. 34) ‚Und einen tückischen Sieg trug Ásas schlaugesinnter Bote über den Kriegerkönig davon, und der Fürst wurde am alten Bett von Stíflusund erstochen.‘

Es geht für den Skalden am Anfang um den von altisländisch beita (‚jagen‘) aufgebauten Ausdruck lómi beittr (‚durch Tücke gejagt‘), wodurch er die Jagd gegen den Jäger verwendet. In diesem Licht betrachtet, wird Guðrøðr ebenso wie andere Ynglingar im Gedicht ironisiert. Die zwei oben zitierten Strophen geben doch den Eindruck, dass Þjóðólfr diesen König als mehr als einen komischen Bösewicht im Drama darstellen will. Er erzählt die Todesmeldung von Guðrøðr, als ob er den Sieg der Burgunder gegen den Hunnenkönig Atli in Norwegen inszeniert. Atli wird von seiner burgundischen Frau Guðrún erstochen, nachdem er ihre zwei Brüder Gunnarr und Hǫgni ermordet hat und daher anhand Guðrúns geheimer Vorbereitung und durch ihre großzügige Bewirtung mit Bier die gemeinsamen Söhne unwissend zum Abendessen verspeist. Zuerst darf man aus den Worten umbráð at ǫlum stilli (‚das Urteil zum betrunkenen Schlichter‘) schließen, dass Ása die Alkoholaufnahme von ihrem Mann nicht mäßigen will: diese Worte darf man mit der Verszeile óvarr Atli, móðan hafði hann sic druccit (‚unwissend hatte sich Atli erschöpft betrunken‘ (Atlakviða 40)) vergleichen. Als Guðrún dann ihren Mann umbringt, sagt der Dichter der Atlakviða: hon beð broddi gaf blóð at drecca (‚dem Bett gab sie mit der Dolchspitze Blut zu trinken‘ (Str. 41)). Von einer Anspielung auf diese oder ähnliche Worte scheint im Ynglingatal die Rede zu sein, wenn der Skalde den Mord an oder in jene Förde verlegt, so dass Guðrøðr á beði fornum Stíflusunds of stunginn vas (‚am alten Bett des Stíflusunds erstochen wurde‘). Außerdem findet die Szene in der Atlakviða im bœr Buðlunga (‚Haus der Buðlungen‘ (Str. 42))

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 Richard North

statt, während Þjóðólfr Guðrøðr buðlungr nennt. Obwohl der Vater Halfdans schon buðlungr im Ynglingatal 32 heißt, scheint es in Str. 34 deutlich, dass uns der Skalde mit dieser Königsbezeichnung an Atli und Guðrún noch deutlicher zu erinnern versucht. Weiter nennt Þjóðólfr den Killer des Guðrøðr ár (‚Bote‘), als ob er dadurch parallel zu Knéfrøðr, Atlis ár in der ersten Verszeile der Atlakviða 1, einen Boten darstellt. Unter den Worten at hilmi dró, wodurch Ása das Todesurteil ‚zum Herrscher hinzog‘, kann man sich wohl auch ein Wagen vorstellen, mit dem ein Pferd Gunnarr dró til dauðs (‚zu Tode zog‘ (Atlakviða 28)); und das Wort heipt (‚Fehde‘) im Ausdruck für Ása erinnert uns an die Wut, mit der Gunnarr heiptmóðr (‚mit Fehde im Herzen‘) die Leier in der Schlangengrube spielt (Atlakviða 31). Aus diesen fünf oder sechs Parallelstellen lässt sich ein Hintergrund zur Zeit des Skalden vorstellen, nach welchem die späteren Prosaerzählungen über Ása meistens für zutreffend zu halten sind. Es gibt zuerst eine zur Heirat gezwungene Frau, dann einen Bruder und einen Vater, die vom Mann getötet werden, drittens eine Rache, die durch Erstechen nach einem Trinkgelage ermöglicht wird. Wenn sich ebenso Gründe für die Annahme finden lassen, dass Ása einen Sohn von Guðrøðr zur Welt gebracht hat, so lässt sich aus der Parallelisierung zu Guðrún die Vermutung ableiten, das Kind lebe nicht mehr. Man darf aus dem Wort -ráð in umbráð (‚Urteil‘) folgern, dass Ása hier schon als seine Frau etabliert ist. Durch ein ráð (‚Ratschlag‘) bringt Skjalf ihren Mann früher um (Str. 10). Auch im altenglischen Maxims I soll eine Frau (wif) beim Trinkgelage des Gefolge immer: forman fulle to frean hond ricene geræcan, ond him ræd witan boldagendum bæm ætsomne. (vv. 90–92)⁸⁴ ‚den ersten Pokal ihrem Herrn in die Hand flink reichen, und für ihn Rat insofern wissen, als sie beide den Haushalt zusammen besitzen.‘

Dieser Brauch verschafft Guðrún die Gelegenheit zu ihrer List, als sie Atli bei seiner Wiederkehr mit dem Becher in der Hand erwartet, um sich an ihm umso besser rächen zu können (Atlakviða 33). Þjóðólfr aber stellt den ähnlichen Mord an Guðrøðr als launsigr (‚tückischen Sieg‘) dar und macht die Szene so realpolitisch. Obwohl Ása sich im Gedicht mit Guðrøðr auch in der gleichen häuslichen Lage befindet, sodass sie die Rache planen kann, hat sie eine Beziehung zum Agder-Volk, das dessen Ermordung als Grund für eine Feier betrachtet. Mit dem Ausdruck bera af jǫfri (‚vom Kriegerkönig wegtragen‘) betont sie eine triumphierende Todesankündigung. Diese darf man wieder mit der Atlakviða vergleichen, in deren Schlußstrophe Guðrún als Heldin gelobt wird: hon hefir þriggia

84 North / Allard / Gillies 2011, S. 206.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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þióðkonunga / banorð borið (‚sie hat drei Volkskönige getötet‘ (Str. 43)). Hier lässt sich auch der bekannte Mord der Judith an Holofernes anführen, um die politische Dimension vom launsigr begreiflich zu machen. Wie bei den Bethulia-Einwohnern der biblischen Erzählung geht es im Ynglingatal 34 um die Befreiung von Ása und ihrem Reich. Geht man mit der Anspielung auf Guðrún zwei Schritte weiter, darf man sich erinnern, dass sich Guðrún nachher noch einmal mit einem König verheiraten wird, von dem sie Söhne hat; und dass diese vom nächsten Mann gezeugten Jungen in der Ragnarsdrápa (ca. 850) – dem Halfdan nicht unähnlich – hrafnbláir (‚rabenschwarze‘) heißen werden.⁸⁵ Die Haltung von Ari gegenüber Ása findet sich wahrscheinlich in der Historia Norvegiae, deren Verfasser sagt, dass Guðrøðr a sua propria uxore seductus est: ipsa enim quendam tironum precio corrupit, qui regis latus lancia perforauit (‚von seiner eigenen Frau betrogen wurde: weil sie einen der Pagen zum entsprechenden Preis bestach, damit durch diesen dem König die Seite mit einem Speer durchstochen wurde‘ (c. 10)). Er konzentriert sich also sowohl auf den Betrug in der Ehe mit Guðrøðr, als auch auf die Frau. Snorri hält immerhin ihre Rolle bis zum nächsten Morgen verborgen und betont ihre Geschicklichkeit, denn sie hat kein Gefolge und muss einen Jungen aus dem Königshof bestechen. Obwohl der Mörder am Morgen als skósveinn Ásu dróttningar (‚Page der Königin Ása‘) in der Saga erscheint (c. 48), ist sie and dieser Stelle ebensowenig unabhängig wie die Historia. Die Vermutung liegt nahe, dass Ari der Ehe von Ása deswegen einige Dauer zugeschrieben hat, damit sich seine Leser Guðrøðr umso besser als Vater von Halfdan vorstellen können. In der Íslendingabók befindet sich, wie bereits gesagt, ein Satz zwischen dem Prolog und dem Inhaltsverzeichnis, den man als einen von dem Schreiber interpolierten Rest des ersten Entwurfs betrachten darf:⁸⁶ Halfdan hvítbeinn Upplendingakonungr, sonr Óláfs trételgju Svíakonungs, vas faðir Eysteins frets, fǫður Halfdanar ens milda ok ens matarilla, fǫður Goðrøðar veiðikonungs, fǫður Halfdanar ens svarta, fǫður Haralds ens hárfagra, es fyrstr varð þess kyns einn konungr at ǫllum Norvegi.⁸⁷ ‚Halfdan Weißbein, der König der Upplandsmänner, Sohn von Óláfr Baumfäller, dem König der Schweden, war Vater von Eysteinn Furz, Vater von Halfdan dem Großzügigen und dem Lebensmittelgeizigen, Vater von Guðrøðr dem Jagdkönig, Vater von Halfdan dem Schwarzen, Vater von Haraldr Schönhaar, der als erster König dieser Familie über ganz Norwegen herrschte.‘

Der Spitzname von Eysteinn ist weder im Ynglingatal, noch im Langfeðgatal, noch in der Ynglinga saga, noch in einer um etwa 1254 kreierten Ahnenreihe (AM 1 e β II fol.)

85 Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 50; vgl. Atlakviða (Dronke 1969), S. 205; North / Allard / Gillies 2011, S. 129. 86 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. xvi; Sverrir Tómasson 1988, S. 387; Sverrir Tómasson 2011, S. 12. 87 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. 3.

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 Richard North

zu sehen.⁸⁸ Doch befindet er sich in der Historia Norvegiae (c. 10), was andeuten könnte, dass er aus einem Buch stammt, das aus der ersten Version der Íslendingabók entwickelt war.⁸⁹ Mit Nachdruck wird dieser Satz in den Prolog der zweiten Version eingeschoben, als ob man jeden Zweifel daran entfernen wollte, dass Guðrøðr Vater von Halfdan dem Schwarzen sei. Davon hängt nicht nur die Zuverlässigkeit des Ynglingatals als dynastisches Gedicht und auch Aris Blutverwandtschaft mit der Königsfamilie Norwegens ab, sondern auch die spätere Glaubhaftigkeit der Heimskringla. Wo immer im ersten Entwurf der Satz sich befunden haben mag, gibt er Anlaß zu der Annahme, dass es zuerst Ari war, der Guðrøðr zum Vater von Halfdan dem Schwarzen ernannt hat. Wenn es ihm so gelungen wäre, ein politisches Kapital aus dieser Erfindung zu schlagen, hätte seine Familie um etwa 1122–1125 sowohl auf Island als auch beim Erzbischof in Lund im Rang höher gestanden.

Sæmundr gegen Ari: Beseitigung der Áttartala und Konunga ævi Später, im 12. Jahrhundert, hat es wenigstens einen Nordmann gegeben, der nicht an die Beziehung zwischen Haraldr Schönhaar und den Ynglingar glaubte. In der Historia Regum Norwagensium von Theodericus dem Mönch (ca. 1175), macht der Verfasser in seinem Prolog folgende Angabe: Et quia pæne nulla natio est tam rudis et inculta, quæ non aliqua monumenta suorum antecessorum ad posteros transmiserit, dignum putavi hæc, pauca licet, majorum nostrorum memoriæ posteritatis tradere. Sed quia constat nullam ratam regalis stemmatis successionem in hac terra extitisse ante Haraldi pulchre-comati tempora, ab ipso exordium fecimus.⁹⁰ ‚Und da es kaum so ein grobes und unzivilisiertes Volk gibt, das kein Denkmal irgendeiner Art über seine Vorfahren an seine Nachkommen weitergeben wird, so habe ich es für anständig gehalten, dass ich diese zugegeben wenigen Einzelheiten über unsere Eltern dem Gedächtnis übergebe, das unsere Nachfolger erhalten werden. Da es aber keine echte Ahnenreihe der königlichen Familie in diesem Land gibt, deren Existenz sich vor den Zeiten von Haraldr Schönhaar bestätigen lässt, haben wir mit diesem Mann unseren Anfang gemacht.‘

Nimmt man diese Worte, die sich wohl auf ein Werk des Sæmundr beziehen, ernst, so wird es schwierig, das Ynglingatal als Gedicht zu Ehren von den gemeinsamen Vorfahren des Haraldr und des Rǫgnvaldr zu verteidigen.

88 Faulkes 2005, S. 118. 89 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. xvi; Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 78. 90 Historia Regum Norwagensium (Storm 1880), S. 3.

Kurzweilige Wahrheiten: Ari und das Ynglingatal 

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Vor Ari behauptet niemand, dass Haraldr durch seinen Vater mit Guðrøðr verwandt war. Zwar spielt das Haraldskvæði (Str. 4) auf Haraldr als (im Dativ) ynglingi an.⁹¹ Dieses Wort hat man in einem Zweig der Handschriftenfamilie der Fagrskinna kopiert; in anderen Handschriften liest man das Wort eðlinge, d.h. ǫðlingi (‚Häuptling‘).⁹² Wenn man das frühere Wort als ‚von Freyr entstammter Häuptling‘ interpretieren will, oder wenn das Gedicht keine spätere Fälschung ist und Þorbjǫrn hornklofi im späten 9. Jahrhundert wirklich zugeschrieben werden kann, braucht die Abstammung nicht nur mit den Ynglingar zu Freyr zurückzuführen.⁹³ Auch in der Fagrskinna ist eine Strophe des Háleygjatals erhalten, worin Eyvindr Jarl Hákon inn gamli (‚den Alten‘) Freys áttungr (‚Freyrs Nachkomme‘) nennt.⁹⁴ Den Gesta Hammaburgensis (ca. 1100) Adams von Bremen zufolge gilt dessen Urenkel, Jarl Hákon, als ex genere Ingunar et giganteo sanguine descendens (‚Nachkomme des Ingunar-[Freyr] und Riesenblut entsprossen‘), und für Haraldr konnte die gleiche göttliche Abstammung, auch ohne die Schweden, glaubwürdig geltend gemacht werden.⁹⁵ Dieser Beziehung Haralds zu den Schweden hat Sæmundr wohl auch keinen Glauben geschenkt. Eine ihm ausdrücklich zugeschriebene Reihe der norwegischen Könige beginnt im Nóregskonungatal (Str. 3) mit Halfdan dem Schwarzen. Dieses in der Flateyjarbók (ca. 1390) erhaltene Gedicht ist um etwa 1190 zu Ehren des Enkels von Sæmundr, Jón Loptsson (1124–1197), gedichtet worden, um diesen reichen Häuptling als ungekrönten König Islands zu feiern. Um etwa 1120 war Loptr Sæmundarson nach Norwegen gefahren, um Þóra, die Halbschwester vom König Sigurðr Jórsalafari, zu heiraten, die sich als uneheliche Tochter des Magnús berfœttr (‚Barfuß‘) (†1103) betrachtete. Mütterlichseits also hat Jón, der Sohn von Þóra, eine Beziehung mit der norwegischen Königsfamilie für sich in Anspruch nehmen können (Str. 74–83). Diese Beziehung wurde aber erst wieder 1164 anerkannt, als Jón in Norwegen bei der Krönung von König Magnús Erlingsson zugegen war. Man hat seit langem argumentiert, dass Sæmundr seine Skjǫldungenreihe schon vor 1120 entsprechend angepasst hatte, damit Þóra ihre neuen isländischen Verwandten nicht geringschätzen würde.⁹⁶ Zu denjenigen, denen man diese Fiktion zutrauen könnte, darf man zuerst Loptr, den Vater von Jón, zählen, obwohl man zur Zeit des Gedichtes einen Sohn von Jón, Bischof Páll (1155–1211), als Verfasser betrachtet hat.⁹⁷ Doch ist Sæmundr wegen der damals vorherrschenden Heiratsbedingungen seinem Urenkel vorzuziehen.⁹⁸

91 Turville-Petre 1978–81, S. 15. 92 Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), S. 60 (Str. 4). 93 Turville-Petre 1978/79, S. 61; Krag 1991, S. 205–211; Bergsveinn Birgisson 2007, S. 194–200. 94 Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), S. 66 (Str. 16). 95 Gesta Hammaburgensis (Schmeidler 1917), S. 84. 96 Bjarni Guðnason 1963, S. 158–161. 97 Íslendingabók (Halldór Hermannsson 1930), S. 41. 98 Bjarni Guðnason 1963, S. 158.

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 Richard North

Im Nóregskonungatal lässt sich aus der Anspielung auf Sæmundr verstehen, dass er einige Zeit an einem Buch über die nordischen Könige geschrieben hat: Nú hefk talt tíu landreka, þás hverr vas frá Haraldi, inntak svá ævi þeira, sem Sæmundr sagði enn fróði. (Str. 40)⁹⁹ ‚Jetzt habe ich zehn Landesherrscher aufgezählt, von denen jeder Haraldr entstammt ist, und zwar das Wesentliche ihrer Leben, wie es Sæmundr der Gelehrte gesagt hat.‘

Auf eine Liste von zehn Nachkommen von Haraldr Schönhaar spielt der unbekannte Skalde gerne an, wenn man die Worte inntak ævi þeira (‚das Wesentliche ihrer Leben‘) als Verweis auf ein Buch nehmen darf. Wie oben diskutiert, ist dieses Werk als eine lateinische oder möglicherweise isländische veraldar saga oder aldartala von Sæmundr betrachtet worden.¹⁰⁰ Dieses Werk wurde wohl teilweise als Chronologie der nordischen Könige von Haraldr Schönhaar bis zum Tod (um 1047) von Magnús inn góði (‚der Gute‘) Óláfsson konzipiert. Dass es die Könige vor Haraldr scheinbar nicht behandelt, führt zu der Vermutung, dass irgendeine Prosaumschreibung des Ynglingatals in diesem Buch keine Andeutung auf eine Blutverbindung zwischen den Ynglingar und der Familie Haraldr Schönhaars macht. Obwohl das Geschichtswerk von Sæmundr nicht erhalten ist, darf man aus dem frühen impliziten Enddatum ihrer Königsbiographien (1047 n. Chr.) folgern, dass sie seit langem bekannt waren, als Ari frühesten um 1122 dem Sæmundr und den Bischöfen seinen ersten Entwurf der Íslendingabók vorlegte. Obwohl das Nóregskonungatal keine Ahnenreihe bietet, enthält es die gleiche Anzahl von Generationen wie Ynglingatal und Háleygjatal. In Jóns Lobgedicht zählt man 27 Generationen von Halfdan dem Schwarzen bis zu Sverrir Sigurðarson, der sich zur Zeit des Gedichts um 1177–1202 als König Norwegens etablierte. So wird mit Recht behauptet, das Nóregskonungatal sei als Nachfolge des Ynglingatals angelegt. Sowohl dieses Gedicht als auch das Háleygjatal zählen scheinbar genauso viele Herrscher vom Urstammvater bis auf den lebenden König. Wie oben behauptet hat wahrscheinlich Sæmundr das Langfeðgatal der Oddaverjar vor 1120 für die Eheschließung seines Sohns geschrieben. Was dieses Unternehmen angeht, gibt es eine aus dem 12. Jahrhundert stammende Anmerkung, die Björn frá Skarðsá in AM 186 III 4to kopiert hat, nämlich dass zur Zeit des Kaisers Augustus und Christi Geburt die nordischen Könige Friðfróði in Dänemark und Fjǫlnir in Schweden herrschten, und zwar

99 Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), 1, S. 575–590, hier: 582. 100 Sverrir Jakobsson 2005, S. 55 f.

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sem Sæmundr prestr ætlaði (‚wie Priester Sæmundr gefolgert hat‘).¹⁰¹ Wenn Sæmundr so einen dänischen Ahnenkönig auch als Teil einer ihm zugeschriebenen veraldar Saga gekannt hat, hätte er eine gesamte Genealogie der Oddaverjar bis zu sich selbst schreiben können. Vor kurzem hat man weiter argumentiert, dass Sæmundr seine Familie schon auf Adam zurückgeführt hatte, als er sich so auf die dänischen Könige bezog.¹⁰² Dieses Oddaverjatal, das man auch eine Liste der Skjǫldungar nennen kann, zählt 27 Ahnenkönige angefangen vom dänischen Urstammvater Skjǫldr bis auf Sigfús den isländischen Priester, Vater des Sæmundr. Man kann daraus schließen, dass Sæmundr diese Zahl aus dem Ynglingatal entnommen hat.¹⁰³ Obwohl Háleygjatal in Fagrskinna (ca. 1220), in Heimskringla (ca. 1225) und in der Snorra Edda (ca. 1235) nur fragmentarisch erhalten ist, weiß man, dass auch Eyvindr sein Gedicht um etwa 985 mit 27 Königen, d.h. von Sæmingr (‚kleiner Sámi‘) bis zu Jarl Hákon, verfasste. Die 27-Zahl befindet sich in der Háleygja-Liste, die aus einer Handschrift von etwa 1254 stammt. Árni Magnússon hat diese kopiert, bevor sie um 1728 im Kopenhagener Brand zerstört wurde. Eine Kopie ist in der Bibliothek von P. H. Resen erhalten (AM 1 e β II fol.).¹⁰⁴ Möglicherweise hat Sæmundr das Háleygjatal als Zahlenmodell für das Oddaverjatal benutzt. Andererseits hat ihm vor 1120, bei der Gleichsetzung des Schweden Fjǫlnir mit dem Dänen Friðfróði, auch das Ynglingatal helfen können. Die Zahl der Generationen in den älteren drei Fällen lässt sich nicht als 27 sondern als 28 richtig verstehen. Es lässt sich zunächst im Fall des Ynglingatals kaum bezweifeln, dass Þjóðólfr mit Ingvi-Freyr als Urahn begonnen hat, aus dessen Namen man daher den Titel des Gedichts wählte, auch weil er die Königsreihe bis zu den Göttern zurückverfolgen wollte.¹⁰⁵ Mit 28 Personen hat er sowohl den Urstammvater als auch den lebenden Nachkommen, also Ingvi-Freyr und den kraftlosen Rǫgnvaldr, mit einschließen können. Diese Zahl 28, die den anscheinend noch lebenden König mit beeinhaltet, lässt sich dann als zweimal die Anzahl der 14 Generationen verstehen, die man schon in den angelsächsischen, auf biblischen Modellen fußenden Königsgenealogien des 8. und 9. Jahrhunderts findet.¹⁰⁶ Damit könnte man gleichermaßen den Ursprung der vermutlichen 28-Anzahl im nordischen Gedicht erklären. Es gibt auch keinen Grund für die Vermutung, dass diese Zahl, wenn man sie denn so annimmt, vor Þjóðólfr gar nicht zu finden war. Wußte man, dass diese Zahl vor seiner Zeit schon gängig war, brauchte man das Háleygjatal nicht mehr als Nachahmung des Ynglinga-

101 Danakonunga sǫgur (Bjarni Guðnason 1982), S. lvi. 102 Sverrir Jakobsson 2005, S. 181. 103 Faulkes 1977, S. 188 f.; Faulkes 1982, S. 99. 104 Faulkes 1977, S. 177; Faulkes 2005, S. 118. 105 Fidjestøl 1976, S. 21. 106 Sisam 1953, S. 326–328; Turville-Petre 1978/79, S. 49 f.

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tals zu betrachten. Es leuchtet kaum ein, dass dies die einzigen zwei Ahnengedichte im vorchristlichen Norwegen gewesen sein sollen. Bei 28 Personen muss man die Liste des Háleygjatal folglich nicht mit Sæmingr, sondern mit dessen Vater eröffnen. In der Prosa kommt Sæmingr nur in der Liste von Resen, im Prolog der Gylfaginning und in der Heimskringla vor, erscheint aber als Sohn von zwei höheren Göttern in der ersten erhaltenen Ahnenstrophe des Háleygjatals. Mit dieser Strophe, die sonst einer Einleitungsstrophe folgt, beginnt Eyvindr die große Ahnenreihe zu Ehren seines Gönners: Þann skjaldblœtr skattfœri gat Ása niðr við Íarnviðju, þás þau mær í Man[n]heimum skatna vinr ok Skaði byggðu.¹⁰⁷ ‚Den mit Schild anzubetenden Tributbringer hat der Æsir-Verwandte mit der Eisenzweigriesin gezeugt, als der Kriegerfreund und die Göttin Skandinaviens herrlich in der Menschenwelt ihr Haus aufbauten.‘

Dem Skalden Eyvindr zufolge ist Óðinn Liebhaber der Skaði und daher Vater des Sæmingr. Es scheint im Háleygjatal offensichtlich, dass er Óðinn als Urstammvater (auf Grundlage des vor einer Generation aus England eingeführten Ahnengottes Woden) etablieren will.¹⁰⁸ Die Begleitprosa dieser dunklen Strophe stimmt mit ihm in Bezug auf Óðinn überein, nennt Sæmingr jedoch als Hauptthema (Ynglinga saga, c. 8). Auch wird Óðinn als dessen Vater im Prolog der Gylfaginning genannt. Außerdem lässt Sæmundr in seinem Langfeðgatal mit 28 Personen ein vollständiges Bild entstehen, das von Skjǫldr bis auf sich selbst reicht, was auch verständlicher ist, wenn man ihn als den Verfasser betrachtet. Er hat sich viel Mühe gegeben, um eine eigene, im Wesentlichen dänische Ahnenreihe aufbauen zu können. Ihm hat kein Gedicht Skjǫldungatal zur Verfügung gestanden und er musste sich zweifelsohne an der Zahl 28 des Ynglingatal ausrichten. Vermutlich seinem Sohn Loptr zu Ehren hat Sæmundr einige Königs- und Heldennamen für seine Ahnenreihe aus allerlei Quellen herausgefischt und multipliziert.¹⁰⁹ Im Nóregskonungatal jedoch scheint die Sache komplizierter zu sein. Man muss den unerwähnten Vater von Halfdan dem Schwarzen zu den 27 königlichen Namen hinzufügen, um 28 Könige zu erreichen, denn der Skalde kündigt in Strophe 3 deutlich an, er beginne mit Halfdan. Den gleichen Halfdan erwähnt er neben dem lebenden König Sverrir in Strophe 72 wieder, bevor er sich anschickt, die Schwiegersohn-

107 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941), S. 21 (Str. 2). 108 Kuhn 1968, S. 125; North 1997, S. 118–124; vgl. Steinsland 1991, S. 87. 109 Danakonunga sǫgur (Bjarni Guðnason 1982), S. liv f.; Krag 1991, S. 184–187.

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beziehung seines Gönners Jón mit König Magnús Barfuß zu feiern. Selbst wenn man hier also Guðrøðr den Jägerkönig offiziell nicht mit ins Familienbild einladen kann, darf man ihn davon auch nicht wirklich ausschließen. Außerdem schlägt Sverrir Jakobsson vor, dass Sæmundr schon seine Familiengeschichte bis zu Adam zurückverfolgt hatte, als er seine Weltgeschichte verfasste.¹¹⁰ Im späteren Fall erscheint sich dieser anonyme Skalde auf eine Tradition berufen zu wollen, deren Wahrhaftigkeit der gelehrte Sæmundr bestätigt hat. Was ihre Ahnenreihen angeht, haben beide gelehrte Priester einen sehr weltlichen Ehrgeiz gehegt. Beide Historiker, Sæmundr durch die Skjǫldungar und Ari durch die Ynglingar, haben sich zu Königsfamilien von göttlichem Stamme zurückverfolgen wollen. Die Beziehungen zwischen den königlichen und isländischen Familien sind selbstverständlich in beiden Stammbäumen von ihnen verfälscht worden. Sæmundr führt seinen Oddaverja-Vorfahren Hrafn heimski (‚der Dumme‘) väterlichseits auf den Dänen Haraldr hilditǫnn (‚Schlachtzahn‘) zurück, wodurch er Nachkomme des Skjǫldr wird, obwohl die Oddaverjar aus Trøndelag stammen dürften.¹¹¹ Andererseits verbindet Ari seine Familie unchronologisch mit den Ynglingar durch seinen Breiðfirðinga-Vorfahren Óleifr inn hvíti (‚der Weiße‘). Dieser Dubliner König ist ihm zufolge Enkel eines gewissen Helgi gewesen, den er als Sohn von Óláfr Elf von Geirstaðir (und deshalb Bruder des Königs Rǫgnvaldr) angibt.¹¹² Aris Liste zufolge ist dieser Helgi auch Ehemann einer namentlich nicht genannten Enkelin des Ragnarr Loðbrók, wodurch Ari sich auch mit der letzten, um Vestfold wohnenden, Reihe der Skjǫldungar in Beziehung setzen kann. Joan Turville-Petre hat angenommen, für Ari wären die Skjǫldungar sonst von keinem Belang.¹¹³ Doch gibt sein Ehrgeiz Grund zu der Annahme, dass er auch die dänische Königsahnenreihe mit in seine Ynglingar einschließen wollte. Man kann außerdem seinen Anspruch von Ingvi Tyrkja konungr mit den Troja-Ideen sowohl der Merowinger als auch der Historia Regum Britanniae (ca. 1123–1139) von Geoffrey von Monmouth in Verbindung bringen.¹¹⁴ Selbst wenn Ari seine Ahnenreihe vorrangig auf das Gedicht Ynglingatal aufbaut, das älter als die verschiedenen Quellen war, die Sæmundr gebrauchen konnte, lässt sich kaum bezweifeln, dass er dazu durch dessen Skjǫldungen-Stammbaum inspiriert wurde. Hätte ihn nur die erste, wohl auf Latein geschriebene, Version der Íslendingabók in Lund zum isländischen Nachkommen der dänischen und schwedischen Könige ausrufen können, wäre es Ari dann gelungen, noch mehr internationale Beziehungen als Sæmundr für sich in Anspruch zu nehmen? Was diese zwei Priester betrifft, liegt

110 Sverrir Jakobsson 2005, S. 181. 111 Bjarni Guðnason 1963, S. 151 f. 112 Íslendingabók (Halldór Hermannsson 1930), S. 88. 113 Turville-Petre 1978–81, S. 22 f. 114 Faulkes 1982, S. 98 f.; Historia Regum Britanniae (Reeve 2007), S. vii und 7; Sverrir Tómasson 2008, S. 180–184.

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aber die Vermutung nahe, dass sich zwischen ihnen eine Rivalität bezüglich ihrer Stellung schon angedeutet hatte. Wenn man sich dann fragt, warum Sæmundr und die Bischöfe Ari wirklich zugeraten haben, seine Áttartala und Konunga ævi aus der Íslendingabók zu entfernen, muss folgende Hypothese als überzeugend angenommen werden. Zuerst möchte ich ihnen die gewöhnlichen unvoreingenommenen Motive sowie die Abneigung gegen heidnische Erzählungen unterstellen. Solche würden für Ketill und Þorlákr gelten. Im späten 11. bis zum mittleren 12. Jahrhundert haben sich aber die Häuptlinge auf Island als Priester hauptsächlich deswegen ordinieren lassen, um ihre Macht zu vergrößern.¹¹⁵ Wohl darum ist der vor kurzem aus Franken heimgekehrte Aristokrat Sæmundr um etwa 1080 als Priester ordiniert worden. Wegen seiner Ausbildung hat er anscheinend auf Island einen großen Einfluß geltend gemacht.¹¹⁶ Sowohl mit der weltlichen Macht als auch mit der gerühmten Gelehrsamkeit des Sæmundr hat der Bischof Gizurr Ísleifsson von Skálholt (1082–1118) um 1097 dann die neuen isländischen Kirchen- und Zehntengesetze mit Erfolg formuliert.¹¹⁷ Sæmundr hatte wohl seine weithin anerkannte lateinische Weltgeschichte verfasst und ist vor 1120, als sein Sohn eine Königstochter heiraten sollte, wahrscheinlich seit langem im Stande, seine Blutsverwandtschaft mit der Dänendynastie schriftlich zu beweisen. Zu dieser Zeit haben die Bischöfe Ari gebeten, ihnen eine kurze Beschreibung der isländischen Rechts- und Kirchengeschichte zu verschaffen, die sie für das Ausland, wenn nicht für den Lunder Erzbischof, fertigstellen wollten. Sie haben Sæmundr diese Aufgabe nicht weitergegeben. Den fertigen und doch nicht ganz so kurzen Liber hat dann der jüngere, von Teitr Ísleifsson in Haukadalr erzogene und am Recht interessierte Ari, Priester von Snæfellsnes, an Sæmundr geschickt, um ihn um Chronologie und Prüfungshilfe zu bitten. Dabei ist es möglich, dass er in seinen Ahnenreihen und Königenleben auch Teile mit einschloß, die Sæmundr geschrieben hatte. Aber das Buch mag Sæmundr nicht gefallen haben, denn es hat die Breiðfirðingar auf Kosten der Oddaverjar erhöht, genau zu der Zeit als Sæmundr für sich ein Verhältnis zum König Norwegens etablieren wollte. Ari hat sich ja in seinem Stammbaum nicht nur mit den Königen Schwedens und Norwegens, sondern auch, genau wie Sæmundr, mit den dänischen Skjǫldungar verbunden. Weil Ari das Ynglingatal brauchte, um sich mit den Königen Schwedens und Norwegens verbinden zu können, hätte er seine Abstammung mit der offenbar fertigen Ahnenreihe dieses Gedichts viel stärker vertreten können. Darum mögen ihn die Bischöfe unter Druck gesetzt haben, das persönliche Material vom Buch zu entfernen. Der erhaltenen Áttartala von Ari fehlt ein Stammbaum für Sæmundr. Außerdem ignoriert Ari im zweiten Entwurf seiner Íslendingabók eine Behauptung von Sæmundr über den ersten Islandsbesucher. In diese Rolle hatte Sæmundr Naddoddr den Wikin-

115 Orri Vésteinsson 2000, S. 181–90. 116 Megaard 2003, S. 374–376. 117 Orri Vésteinsson 2000, S. 36 f.

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ger oder andere Seefahrer der Färöern in seinem Buch gedrängt, wenn man dem Verweis in der Landnámabók (Sturlubók, c. 3) vertrauen darf.¹¹⁸ Ari stellt jedoch in seiner Version den Norweger Ingólfr als Islandfahrer dar, es sannliga es sagt (‚von dem wahrhaft gesagt wird‘), dass er das neue Land als Erster besuchte. Bei Ari hat man auch beobachtet, dass er Beziehungen zu Norwegen gegenüber denjenigen zu Irland oder anderen Landen immer bevorzugt.¹¹⁹ Daraus lässt sich folgern, dass Ari und Sæmundr nach dieser Buchsüberprüfung Gründe dafür hatten, einander feindlich gesinnt zu sein. Als Sæmundr und die Bischöfe Ari zugeraten haben, die Ahnenreihe und Leben der Ynglingar aus ihrem Buch zu entfernen, ist es ihnen effektiv gelungen, das Prestige von Ari zu beseitigen. Auf Island nach 1122 mussten sie anscheinend das Ynglingatal zensieren, weil das Gedicht zu ernsthaft war.

Wahrheit ohne Kurzweil: Ari im Prolog der Heimskringla Indem Snorri Aris Lebensgeschichte ohne offensichtliches Motiv in den zweiten Teil seines Prologs einbettet, die er größtenteils aus c. 9 der Íslendingabók entlehnt hat, ist es wohl der Mühe wert, seine Anspielung auf Ynglingatal im ersten Teil erneut zu prüfen. Snorri genießt die Kurzweil vieler Skaldengedichte, validiert sie aber im Prolog nur als Erinnerungsanreiz. Er bezieht diese Art Unterhaltung nie auf Ynglingatal, denn er weiß, dass das Gedicht den Wahrheitsanspruch der Ynglinga saga stützt. Auch beschreibt er hier das Ynglingatal anders als in der Saga und gibt vor, das Gedicht nicht zu kennen; oder, besser gesagt, dass er sich auf einen Verfasser verlässt, der die Details des Gedichts nicht besonders geschätzt hat. Zuerst, wie gesagt, gibt Snorri den Spitznamen des Königs verschieden wieder: heiðumhæri eher als heiðumhárr. Zweitens gibt er in der Prosa die Zahl von Rǫgnvaldrs Vorfahren mit 30 an, obwohl nur 26 im früher zitierten Gedicht zu zählen sind. Drittens und in Widerspruch zur Behauptung Snorris sind in dem Gedicht nicht für alle Könige die Tode und Ruhestätten genannt. Hinterfragt man diesen Behauptungen Snorris im ersten Prolog der Heimskringla, führt dies zu dem Schluß, dass nicht Snorri sondern Ari die Worte verfasste. Wenn es um die 30 königlichen Vorfahren des Rǫgnvaldr geht, kann man Ari die größere Verantwortung zuschreiben. Wie bereits gesagt, scheint es plausibel, dass Ari einen Stammbaum von 27 Vorfahren des Rǫgnvaldr geerbt hat, der mit dem IngviFreyr begann: insgesamt also 28 Könige. Die Vermutung, dass es in Ynglingatal eine später verlorengegangene erste Strophe oder gar zwei über diesen Gott gab, ent-

118 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. 34. 119 Íslendingabók (Grønlie 2006), S. xxv f.

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spricht dem Yngling-Namen im Titel des Gedichts. Ari hätte erst den Namen Njǫrðr Svía konungr hinzugefügt, weil die Mythologie ihm diesen Zusatz erlaubte. Nachher aber, um sowohl formal mit dem Namen der Ynglingar als auch mit der zeitgenössischen Tradition des Troianischen Ursprungs übereinzustimmen, hätte er weiter den Namen Ingvi Tyrkja konungr aus der Doppelform Ingvi-Freyr kreiert. In Aris Liste, die mit den 24 Vorfahren des Rǫgnvaldr bis zu Guðrøðr fortsetzt, zählt man 29 Vorfahren für Rǫgnvaldr, weil die Ahnenreihe mit Ingvi Tyrkja konungr – Njǫrðr Svía konungr – Freyr beginnt. Als Snorri im ersten Prolog der Heimskringla 30 Vorfahren des Rǫgnvaldr zählt, vergrößert er Aris Anzahl mit einem neuen Stammvater, den er vor einigen Jahren als Óðinn in der Ynglinga saga darstellte. Dabei kann es ihn nicht stören, dass er auf keinen Ingvi Tyrkja konungr in der Ynglinga saga verweist. Die um etwa 1254 kopierte Ynglinga-Liste in der von Resen erhaltenen Kopie AM 1 e β II fol. zählt 29 Vorfahren von König Haraldr Schönhaar, wenn man Óðinn als Stammvater mit einschließt.¹²⁰ Hier wird Óðinn, der hier zum ersten Male in einem nordischen Königsstammbaum eigene Vorfahren hat, als Vater von Njǫrðr, des Vaters von Ingvi-Freyr, des Vaters von Fjǫlnir dargestellt. Diese Ahnenreihe hängt anscheinend von der Ynglinga saga ab. Doch gibt die Flateyjarbók (ca. 1390), die sich teilweise auch auf Snorri verlässt, die Reihenfolge Óðinn – Freyr – Njǫrðr – Freyr an, als bleibe sie Aris Langfeðgatal treu.¹²¹ Obwohl Snorris Anzahl von 30 Vorfahren im Prolog der Anzahl der Vorfahren in der Saga nicht entspricht, wird bald deutlich, dass er Ynglingatal gut kennt: entweder zitiert er das gesamte, ihm bekannte Gedicht, oder, was vernünftiger scheint, ignorierte er ein oder zwei Anfangsstrophen über Ingvi-Freyr, um den Vorrang seines Lieblingsgotts nicht zu beeinträchtigen.¹²² Es gibt noch einen Unterschied: der erste Prolog der Heimskringla beschreibt den Sæmingr aus Háleygjatal als Sohn von IngviFreyr, der zweite beschreibt ihn als Sohn des Ingvi-Freyr, Sohn des Njǫrðr,¹²³ während ihn die Ynglinga saga als Sohn von Óðinn darstellt. Dieser Unterschied lässt vermuten, dass ursprünglich fast alle Aussagen im Heimskringla-Prolog sowohl über Háleygjatal als auch über Ynglingatal nicht Snorri, sondern Ari zuzuschreiben sind. Die Form von Snorris Sätzen in diesem Teil vermittelt mehr und mehr den Eindruck, er habe sie aus den Konunga ævi adaptiert. Es muss bezweifelt werden, dass Ari das Ynglingatal entweder gut gekannt oder zitiert hat, als er von den Ynglingar in seinem Konunga ævi erzählte. Die Íslendingabók bietet nur eine volle Verszeile, und zwar vom christlichen Spott des Hjalti Skeggjason über die Göttin Freyja (c. 7).¹²⁴ Dieses Zitat deutet an, dass Ari sowohl Spott

120 Faulkes 2005, S. 118. 121 Flateyjarbók (Unger / Guðbrandur Vigfússon 1860–68), 1, S. 26. 122 Krag 1991, S. 87. 123 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 4; 2, S. 421. 124 Íslendingabók (Jakob Benediktsson 1968), S. 15.

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als auch einen politischen Zusammenhang, in dem die Bischofsfamilie durch Hjaltis Schwiegervater Gizurr inn hvíti (‚den Weißen‘) hervortrat, gut verstehen konnte. Selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, eine Strophe aus Þjóðólfrs Ynglingatal, d.h. aus dem Gedicht eines heidnischen Humoristen, zu zitieren, hätte ihn Unbehagen bezüglich der Vorfahren daran gehindert. In der Íslendingabók ignorieren sowohl Ari als auch die Bischöfe und Sæmundr die ihnen zweifelsohne bekannten Gedichte von Steinunn, Úlfr Uggason und anderen höhnischen Skalden, wovon in der Kristni saga (c. 6 und 9) und Njáls saga (c. 102) später die Rede ist. Weil Snorri jedoch vorhatte, seine skaldischen Quellen so oft wie möglich als Belege zu zitieren, musste er in seinem Prolog noch vorsichtiger als Ari vorgehen. Einen Text des Ynglingatals hat er wohl zuerst um 1200 als junger Mann in den Büchern der Heimatbibliothek Sæmundrs zu Oddi gefunden und kennengelernt, weil er damals an Skaldendichtung interessiert war. Das Gedicht zitiert er aber nicht in seiner Edda, wiewohl vier Strophen des Háleygjatals und 20 der von Þjóðólfr verfassten Haustlǫng noch heute vorliegen.¹²⁵ Auch ist beachtenswert, dass der Name des gelehrten Sæmundr in Snorris erhaltenen Werken nirgends erscheint, obwohl sie die gleichen Vorfahren hatten und obwohl Snorri für seine Ynglinga saga die Skjǫldunga saga irgendwie benutzt hat.¹²⁶ Die Letztere muss um etwa 1190–1200 von einem Nachkommen des Sæmundr, vermutlich von seinem Urenkel Bischof Páll, in Oddi verfasst worden sein, während Snorri bei dessen Vater in Pflege war.¹²⁷ Alles in allem dürfen wir uns fragen, warum wir gar nichts über Sæmundr im Prolog der Heimskringla lesen können.¹²⁸ Anders gefragt, warum feiert Snorri Ari so ausführlich im Prolog, nachdem er den Wahrheitsgehalt der Quellen besprochen hat? Um diese Frage zu beantworten, schlage ich vorläufig vor, dass Snorri den Prolog der Heimskringla hauptsächlich als Berechtigung für die Ynglinga saga geschrieben hat. Er widmete Ari im Prolog so viel Aufmerksamkeit, weil er diese Saga ohne dessen Konunga ævi wohl nicht hätte verfassen können. Doch stellte seine Hauptquelle für die Ynglinga saga, da er sie durchweg zitieren wollte, ein größeres Risiko für ihn dar als für Ari. Zu Snorris Zeit waren die meisten Isländer skeptischer und hätten ohne Mühe Ynglingatal als ein Stück háð gegen die Vestfolder Könige betrachten können. So würden auch wir das Gedicht werten, wenn man es ohne die Bedeutung lesen könnte, die der Prolog der Heimskringla ihm beigemessen hat. Vermutlich hat Snorri den Namen von Sæmundr weder in der Heimskringla noch in deren Prolog zitiert, weil man ihn da einfach nicht zitieren konnte: der Prolog der Íslendingabók erklärt, dass Ari wegen Sæmundr seine

125 Skáldskaparmál (Faulkes 1998), S. 7 (Str. 5), 11 (Str. 23), 13 (Str. 33), 18 (Str. 61), 22–24 (Str. 65–71), 30–33 (Str. 92–104). 126 Danakonunga sǫgur (Bjarni Guðnason 1982), S. xxx–xxxiv; Orri Vésteinsson 2000, S. 153 (Fig. 7). 127 Bjarni Guðnason 1963, S. 142–145; Danakonunga sǫgur (Bjarni Guðnason 1982), S. lxvi–lxx. 128 Sverrir Tómasson 2011, S. 29 f.

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Ahnenreihe und Konunga ævi entfernt hat. Es scheint deshalb, als hätte zuerst Ari um etwa 1120 Ynglingatal aus Familienstolz in der ersten (lateinischen) Version seiner Íslendingabók zusammengefasst und die Ynglingar dabei sowohl mit seiner Familie als auch mit der Halfdans des Schwarzen assoziiert. Nachdem Sæmundr ihm einen Korb dafür gegeben hatte, fuhr er mit der Konunga ævi fort. Als Snorri selbst den Plan fasste, den Herrschern Norwegens ein eigenes Werk ihrer Vorgeschichte zu schenken und dafür eine zuverlässige Ynglinga saga auf Basis des alten Spottgedichts zu schreiben, das er auch zu zitieren gedachte, befand er sich in der Lage, das Ynglingatal rechtfertigen zu müssen. So schuf er eine skemmtun ohne háð, setzte den komischen Þjóðólfr mit Eyvindr gleich und drückte sein Vertrauen auf das Ynglingatal durch die Worte Aris aus.

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Edith Marold

Snorri und die Skaldik Abstract: This study takes up the question of what Skaldic poetry meant to Snorri Sturluson. The answer, to start with, will be sought in what is known of his biography, for his fascination for all things to do with the royal court of Norway lets us suppose that he wished to renew the art of praise poetry on its behalf and for that reason wrote a poetics also containing praise poems for the contemporary rulers, Earl Skúli and Hákon Hákonarson (Háttatal). To Snorri, as writer of the history of Norwegian kings, the Skaldic stanzas of tradition meant a reliable source for historical events, as they did to the historians who used them before him. Thereby, in judging the value of his sources, Snorri drew a complete distinction between praise poems to which he imputed the value of eye-witness reports and genealogical poems (langfeðgatal) whose evidential value he rated lower, as he explains in the Prologue to Heimskringla. He does, nonetheless, make use of the latter poems, amplifying them ‘with the tales of wise men’: an example of this proceeding will be examined in the prosimetrum of Ynglinga saga. Here it will emerge that what is narrated in the stories of individual kings in Ynglinga saga is founded on motives or personal names in the inherited stanzas, and is refined by extrapolations which are rooted above all in Snorri’s ideas about the heathen religion of his forebears.

Eigentlich muss man bei diesem Thema mit einer Danksagung beginnen: Wenn Snorri nicht gewesen wäre, wären wir um etwa ein Drittel skaldischer Dichtungen ärmer, darunter die größten und bedeutendsten Gedichte. Snorri muss ein unglaubliches Repertoire an Gedichten gehabt haben: In Skaldskaparmál sind 336 Strophen überliefert von 60 bis 70 namentlich genannten Skalden. In der Heimskringla werden ca. 600 Strophen oder Halbstrophen zitiert. Was könnte die skaldische Dichtung für Snorri bedeutet haben? War er der sammelnde, systematisierende Antiquar mit Interessen an der vorausgehenden Dichtung? Seine Herkunft aus dem eher gewalttätigen Sturlungengeschlecht hat ihn wohl kaum auf diesen ‚beschaulichen‘ Weg gewiesen. Soviel wir über Snorri wissen, war er auch selbst ein nach Macht und Ansehen strebender Politiker, der seinen Bestrebungen zum Opfer fiel, weil er wohl auf das falsche Pferd  – Jarl Skúli  – gesetzt hatte. Wie passt das alles zusammen  – der machtbewusste Politiker, der Historiker, der ein gewaltiges Werk über die Geschichte des norwegischen Königtums schreibt, der Wissenschaftler, der eine Poetik, also eine Anleitung zum Verfassen skaldischer Dichtung verfasst, und der vermutlich auf der Höhe der literaturwissenschaftlichen Literatur seiner Zeit stand, auch der lateinischen? Wir wissen, dass Snorri fasziniert war vom norwegischen Königtum, die Sturlunga saga

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berichtet, dass er auf seinem Hof norwegische Sitte und norwegische Kleidung einführte.¹ Schon bei seinem ersten Aufenthalt 1221 wurde er zunächst skutilsveinn und dann zum lendrmaðr ernannt, und er scheint von Jarl Skúli sogar den Jarls-Titel angenommen zu haben. Es ist wahrscheinlich, dass seine Erziehung in Oddi bei Jón Loptsson, der sich rühmen konnte, vom norwegischen Königshaus abzustammen, den Grundstein für diese Faszination gelegt hat. Dort sind vermutlich auch die Wurzeln von Snorris historischen Schriften zu sehen. Ob ihn Jarl Skúli dazu ermuntert hat, oder ob er selbst sich etwas versprochen hat von seiner Heimskringla, muss ungewiss bleiben. Ist Snorris Poetik vielleicht auch der Faszination des norwegischen Königshofes zu verdanken? Man hat wohl in Snorris Zeit keine Skalden mehr Preisliedstrophen an den Höfen des Sverrirgeschlechtes rezitieren hören können. Der letzte Preislieddichter der norwegischen Könige war Einarr Skúlason in der Mitte des 12. Jahrhunderts gewesen. Aber Snorri der Historiker und Kenner der Preislieder auf die vorausgehenden Könige Norwegens könnte vielleicht die Idee gehabt haben, diese Dichtung für die gegenwärtigen Herrscher zu erneuern, eine Renaissance des skaldischen Herrscherpreisliedes hervorzurufen, was ja dann seine Neffen Óláfr hvítaskald Þórðarson und Sturla Þórðarson mit ihren Preisliedern auf Hákon Hákonarson und Magnús lagabœtir Hákonarson verwirklicht haben. Und Snorri selbst hat ja auch seine Beispielgedichte in Háttatal Hákon Hákonarson und Jarl Skúli gewidmet. Um diese Tradition des Preisliedes weiterzuführen, hat er dann seine Edda verfasst. Die Heimskringla ist berühmt dafür, dass sie zahlreiche Skaldenstrophen als historisches Belegmaterial enthält. Hier muss man eine der Wurzeln von Snorris Faszination für Skaldendichtung suchen: Die Skalden waren sichere und individuelle Zeugen einer vergangenen Zeit, die durch ihre Dichtung wieder lebendig werden kann. Die Berufung auf Skaldengedichte ist jedoch nicht Snorris Erfindung. Bereits das um etwa 1190 geschriebene Ágrip af Nóregskonunga sǫgum zitiert eine Halbstrophe aus einem sonst nicht bekannten Gedicht Oddmjór in Zusammenhang mit der Schlacht im Hafrsfjord.² Allerdings hat der Verfasser die Strophe vermutlich missverstanden und eine Geschichte von einem Gegner namens Skeiðar-Brandr daraus entwickelt.³ Und auch schon die Älteste Olafs saga benützt Skaldengedichte von Óttarr svarti und Sigvatr. Über die Bedeutung der Skalden als Augenzeugen hat sich auch schon der Verfasser der Fagrskinna Gedanken gemacht. Er zitiert Strophe 1 aus den Nesjavísur von Sighvatr, die im zweiten Helming darauf verweist, dass der Dichter selbst im Kampf anwesend war und deshalb genau Bescheid geben könne. Kannk segja […] œrin skil, hvé fundir þeira bǫˊrusk at (‚ich kann […] genau Bescheid geben,

1 Die Íslendinga saga berichtet z.B., dass Snorri das Weihnachtsfest 1226/27 nach norwegischer Sitte feierte (Sturlunga saga (Jón Jóhannesson et al. 1946), 1, S. 315). 2 Ágrip (Bjarni Einarsson 1985), c. 2. 3 Allerdings kann die Deutung, dass Skeiðar-Brandr eine Person ist, die aus dem Land gejagt wurde, nicht ganz von der Hand gewiesen werden vgl. Oddmjór (Fulk 2012), S. 1001.

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wie (ihr) Treffen verlief‘ (Fagrskinna, c. 29)).⁴ Und der Verfasser der Fagrskinna verdeutlicht das noch einmal in einer kommentierenden Übertragung, indem er den Dichter zum Augenzeugen macht: hér gat þess, at þá váru þéssi tíðendi ný orðin, er kvæðit var ort, ok sá orti sjálfr, er í var bardaganum (‚hier wird erwähnt, dass, als das Gedicht gemacht wurde, die Ereignisse gerade vorüber waren, und der machte sie selbst, der im Kampf gewesen war‘). Snorri war aber auf jeden Fall der erste, der eine methodische Quellenkritik in seinem Prolog zur Heimskringla äußerte. Aus diesem Prolog geht hervor, dass Snorri sich auch der Unterschiede seiner skaldischen Quellen sehr wohl bewusst war, denn in seinem Prolog unterscheidet er zwischen langfeðgatal – genealogischen Gedichten, wie Ynglingatal und Háleygjatal – und den skaldischen Preisliedern, wie sie für die Zeit ab Haraldr hárfagri vorliegen. An die historische Wahrheit der zweiten Gruppe, der skaldischen Preislieder stellt er hohe Ansprüche: Með Haraldi konungi váru skáld, ok kunna menn enn kvæði þeira ok allra konunga kvæði, þeira er síðan hafa verit í Nóregi, ok tókum vér þat mest dœmi af, þat er sagt er í þeim kvæðum, er kveðin váru fyrir sjálfum hǫfðingjunum eða sonum þeira. Tǫkum vér þat allt fyrir satt, er í þeim kvæðum finnsk um ferðir þeira eða orrostur. En þat er háttr skálda at lofa þann mest, er þá eru þeir fyrir, en engi myndi þat þora at segja sjálfum honum þau verk hans, er allir þeir, er heyrði, vissi at hégómi væri ok skrǫk, ok svá sjálfr hann. Þat væri þá háð, en eigi lof.⁵ ‚Bei König Harald waren Skalden, und die Leute können (heute) noch ihre Gedichte und die Gedichte aller Könige, die seither in Norwegen gewesen sind. Und wir übernahmen das, was in den Gedichten gesagt wird, da sie vor den Herrschern oder ihren Söhnen vorgetragen wurden. Wir halten das alles für wahr, das sich in den Gedichten über ihre Fahrten und Kämpfe findet. Denn das ist die Eigenart der Skalden, den am meisten zu loben, vor dem sie stehen, und keiner würde wagen, diesem selbst solche Werke zuzuschreiben, von denen alle, die zuhörten, wussten dass sie Lüge oder Erfindung seien, und er selbst natürlich auch. Das wäre dann ja Feindschaft, aber kein Lob.‘

Dagegen stuft er den historischen Zeugniswert der zweiten Gruppe, der langfeðgatal geringer ein: en sumt er ritat eptir fornum kvæðum eða sǫguljóðum, er menn hafa haft til skemmtanar sér. En þótt vér vitim eigi sannendi á því, þá vitum vér dœmi til, at gamlir frœðimenn hafi slíkt fyrir satt haft.⁶ ‚Aber einiges ist nach alten Gedichten und Erzählliedern geschrieben, die die Leute zum Vergnügen nützten. Aber obwohl wir nicht über die Wahrheit darin Bescheid wissen, da wissen wir doch, dass frühere Gelehrte sie für wahr gehalten haben.‘

4 Fagrskinna (Bjarni Einarsson 1985), S. 175. 5 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 5. 6 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 4.

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Dieser Unterschied in der Bewertung von langfeðgatal und Preisliedern zeigt sich auch in der Behandlung dieser Quellen: Über Ynglingatal sagt Snorri: eptir Þjóðolfs sǫgn er fyrst ritin ævi Ynglinga ok þar við auki eptir sǫgn fróðra manna⁷ (‚nach der Darstellung Þjóðolfs sind zunächst die Biographien der Ynglingar geschrieben und dann mit den Erzählungen kluger Leute erweitert worden‘). Er nimmt also die Strophen als geschichtliche Zeugnisse und erweitert sie durch Erzählungen ‚weiser Männer‘, die er nicht weiter spezifiziert. Das ist ein Phänomen, das einem deutlich in die Augen fällt, wenn man Ynglingatal und Ynglinga saga vergleicht. Und um das genauer zu illustrieren, will ich es an einigen Beispielen aus dem Ynglingatal erläutern und die Frage stellen: Welcher Art waren die Ergänzungen, waren sie in der Tat zusätzliche Quellen durch mündliche Traditionen, die das Gedicht als eine Art ‚Begleitprosa‘ begleiteten oder könnten sie vielleicht auch eine Art Extrapolation durch Snorri darstellen? Ein Vergleich mit der Historia Norwegiae, die ja wie die Ynglinga saga auf dem Ynglingatal beruht kann hier lehrreich sein.

Sveigðir Die zweite⁸ Strophe im Ynglingatal⁹ berichtet vom Verschwinden (oder dem Tod) des Königs Sveigðir, der einem Zwerg in eine Höhle nachläuft. Enn dagskjarr Dúrnis niðja salvǫrðuðr Sveigði vélti, þás í stein hinn stórgeði Dusla konr ept dvergi hljóp; ok salr bjartr þeira Sǫkmímis jǫtunbyggðr við jǫfri gein. Enn dagskjárr salvǫrðuðr niðja Dúrnis vélti Sveigði, þás hinn stórgeði konr Dusla hljóp í stein ept dvergi, ok bjartr, jǫtunbyggðr salr þeira Sǫkmímis gein við jǫfri.

7 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 4. 8 Die Strophenzahlen in diesem Aufsatz entsprechen der Zählung in der Neuedition in Skaldic Poetry (Kings’ Sagas (Whaley 2012), 1, S.  9–60). Sie differiert erheblich von der in Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15). 9 Die Strophen im Ynglingatal werden entsprechend der Neuedition in SKP zitiert.

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‚Und der tageslichtscheue¹⁰ Wächter {des Saales der Nachkommen des Dúrnir} [Zwerge > Höhle] verlockte Sveigðir, als der hochgemute {Nachkomme des Dusli¹¹} [= Sveigðir] in den Fels hinter dem Zwerg herlief, und der glänzende, von Riesen gebaute Saal derer des Sǫkmímir¹² dem Fürsten entgegen klaffte.‘¹³

Der Hintergrund dieser Geschichte ist eine typische Sage von einem Mann (oder einer Frau), die durch einen Zwerg in den Berg gelockt werden und dann verschwinden.¹⁴ Es ist charakteristisch, dass zahlreiche der in Ynglingatal geschilderten Todesarten eher volkssagenartigen Charakter haben, zumindest keinen heroischen.¹⁵ Doch was hat Snorri aus dieser Strophe gemacht: Er lässt Sveigðir nach Goðheim und dem ‚alten Óðinn‘ suchen. Dabei kommt der Ynglingenkönig nach Tyrkland und Svíþjóð in mikla (‚Großschweden‘) und trifft dort viele Verwandte, aus Vanheim bringt er eine Frau mit, deren Sohn Vanlandi ist. Damit stellt Snorri eine Verknüpfung mit dem Anfang der Ynglinga saga und der dort dargestellten Asien-Herkunft des Geschlechtes der Asen und damit der Vorfahren des Ynglingergeschlechtes her. Nach der Darstellung in der Ynglinga saga ist Sveigðir der vierte Herrscher nach dem eingewanderten Óðinn.¹⁶ Die von Snorri erzählte Vorgeschichte des Geschlechtes liefert auch den Grund, warum der Ynglingenkönig dem Zwerg in die Höhle folgte: Sveigðir ist auf der Suche nach seinen Vorfahren und nach Óðinn. Denn der Zwerg verspricht ihm, dass er Óðinn in der Höhle treffen würde. Den sagenhaften Hintergrund lieferte ver-

10 Die Angst vor dem Tageslicht lässt sich damit erklären, dass Zwerge zu Stein werden, sobald sie ins Sonnenlicht geraten (Boberg 1966, S. 109, Nr. F. 451.3.2.1). Das Motiv der Lichtscheuheit der Zwerge wird in etlichen Fornaldarsagas (vgl. von See et al. 2000, S. 372–373) benützt, um von ihnen Waffen oder kostbare Gegenstände zu erpressen. Auch Alvíssmál (Str. 28) benützt dieses Motiv, indem Thor den Zwerg Alvíss dadurch überlistet, dass er ihn bis zum Aufgang der Sonne durch Fragen festhält. 11 Das Wort dusli ist trotz der unterschiedlichsten Versuche unklar, das Wahrscheinlichste ist, dass es sich um einen Personennamen handelt und dass der Ausdruck ‚Nachkomme des Dusli‘ hier den Ynglingerkönig bezeichnen soll. 12 Der Deutung des Namens Sǫkmímir ist umstritten, jedoch ist sicher, dass es sich um den Namen eines Riesen handelt. 13 Kenningar werden in der Übersetzung zunächst im Text durch geschweifte Klammern markiert und dann in eckigen Klammern erklärt und zwar so, dass die Umschreibungen von links nach rechts zusammengefasst werden. Die Kenning {des Saales der Nachkommen des Dúrnir} [Zwerge > Höhle] ist also folgendermaßen zu lesen: Nachkommen des Dúrnir sind die Zwerge, der Saal der Zwerge ist die Höhle. 14 Siehe dazu de Boor 1924, S.  522 und Lindow 1995, S.  8. In der altnordischen Literatur ist das Motiv nur in einer abgewandelten Form vorhanden, nämlich dass ein Zwerg eine Frau entführen will (Boberg 1966, S. 109, Nr. F. 451.5.2.4); reichlich bezeugt ist das Motiv in Volkssagen vgl. ReichbornKjennerud 1934, S. 138; Kristensen 1892–1901, S. 251 und Kristensen 1928, S. 170. 15 Beispiele sind: der Tod Vanlandis durch eine Mahre (Str. 3), Tod Dags durch eine geschleuderte Heugabel (Str. 8), Alrekr und Eiríkr töten sich gegenseitig durch Pferdegeschirr (Str. 10), der Tod Egils durch einen zaubermächtigen Stier (Str. 14) etc. 16 Es ist nicht möglich, hier auf die Frage einzugehen, ob vor der Fjǫlnir-Strophe des Ynglingatal noch Strophen vorhanden waren, die der Herrscherfolge in der Ynglinga saga (Óðinn, Njǫrðr, Freyr) entsprach.

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mutlich die Vorstellung, dass die toten Vorfahren in einem Berg oder in einem Hügel leben, wie z.B. in der Eyrbyggja saga (c. 11).¹⁷ Ynglingatal lieferte für diese Geschichte als Ausgangspunkt nur, dass der König von einem Zwerge verlockt (vélti) in eine von Riesen gebaute Höhle läuft. Snorri verbindet diese Geschichte mit der von ihm (und anderen) entwickelten Vorgeschichte der Asienherkunft des Königsgeschlechtes und seinen Vorstellungen von Großschweden (vermutlich Skythien), von dem er sagt, dass es Goðheimr genannt werde. Und dorthin, erklärt die Ynglinga saga, glaubte man, sei Óðinn zurückgekehrt und lebe dort ewig mit seinen Freunden (c. 9).¹⁸ Daran knüpft Snorris Geschichte von Sveigðir an: Er war auf der Suche nach Óðinn und seinen Vorfahren in Goðheimr. Der Ausgangspunkt für diese Geschichte ist die Frage – warum lief der König in die Höhle, und wie betrog ihn der Zwerg? Alles andere an dieser Geschichte sind Rückgriffe auf die voraus liegende Erzählung von der Aseneinwanderung. Die Historia Norwegiae weiß davon nichts, sie erzählt lediglich, dass der König dem Zwerg in den Berg gefolgt sei und fügt hinzu, das müsse man wohl für ein Märchen (fabulosum) halten.¹⁹ In anderen Strophen lässt Snorri seine Kenntnisse über heidnische Riten einfließen:

Dómaldi In der Dómaldi-Strophe (Str. 5) erfahren wir in der Strophe nur, dass Krieger aus seinem Gefolge den König töten. Hitt vas fyrr, at fold ruðu sverðberendr sínum dróttni. Ok landherr af lífs vǫnum dreyrug vǫˊpn Dómalda bar, þás árgjǫrn Jóta dolgi Svía kind of sóa skyldi. Hitt vas fyrr, at sverðberendr ruðu fold sínum dróttni. Ok landherr bar dreyrug vǫˊpn af lífs vǫnum Dómalda, þás árgjǫrn Svía kind Jóta dolgi of sóa skyldi.

17 Eyrbyggja saga (Einar Ólafur Sveinsson / Matthías Þórðarson 1935), S. 19. 18 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 22. 19 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 74 f.

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‚Das war zuvor, dass die {Schwertträger} [Krieger] die Erde mit ihrem Herrn röteten. Und das Landesheer trug blutige Waffen vom leblosen Dómaldi, als das erntebegierige Volk der Schweden {den Feind der Jütländer}²⁰ [= Dómaldi] töten sollte.‘

Die Strophe bietet zwei Schlüsselwörter für die Ausgestaltung an: árgjǫrn (‚gierig nach Ernte‘) und sóa (‚töten, opfern‘). Bei Snorri wird ein dreifach gesteigertes Opfer in Uppsala daraus: im ersten Jahr Stiere, im zweiten Jahr Menschen und im dritten Jahr der König selbst. Die Anführer (hǫfðingjar) beschließen, ihn für eine gute Ernte zu opfern blóta til árs sér.²¹ Sie töten ihn und röten den Altar mit seinem Blut. Ob dieser Terminus rjóða stallanum (‚den Altar röten‘) einen alten heidnischen Ritus bezeichnet, so Ström,²² oder eine Rekonstruktion ausgehend vom Alten Testament ist, wie Düwel meint,²³ ist hier nicht zu entscheiden. Wesentlich ist, dass dieser Ritus offenbar zum festen Bestandteil von Snorris Vorstellungen über heidnische Riten gehört, denn er wird immer wieder in der Heimskringla erwähnt, z.B. in Zusammenhang mit dem Opferfest in Hlaðir²⁴ oder in der Ólafs saga helga (c. 107), wo von einem Opfer der Trondheimer die Rede ist.²⁵ Snorri setzte diese Vorstellungen ein, um das sóa der Ynglingatal-Strophe auszugestalten. Interessant ist, dass die Historia Norwegiae, die ja in diesem Teil ihrer Darstellung ebenfalls auf Ynglingatal beruht, sagt, die Schweden hätten Dómaldi gehängt und ihn so der Göttin Ceres (Freyja?) geopfert: cuius filium Domald Sweones suspendentes pro fertilitate frugum Cereri hostiam obtulerunt (‚dessen Sohn Domald opferten die Schweden der Ceres für die Fruchtbarkeit der Ernten, indem sie ihn hängten‘). Hier finden wir eine ganz andere Ausgestaltung der Strophe. Im Gegensatz zu Snorri wird hier eine Gottheit bezeichnet, der das Menschenopfer gebracht wird, die Ceres, die antike Göttin der Fruchtbarkeit. Wie bei Snorri wird das árgjǫrn (‚erntebegierig‘) der Strophe für das Ziel der Opferung, nämlich die gute Ernte aufgegriffen. Aber der Opferritus selbst ist vollständig anders: Während die Strophe und auch Snorri von

20 Die Kenning spielt offenbar auf kriegerische Auseinandersetzungen des Königs mit den Jüten an, die jedoch nicht überliefert sind. Allerdings kann es sich bei dieser Kenning auch um eine konventionelle Umschreibung für jeden beliebigen (schwedischen) König handeln. 21 Zur Frage, ob blóta til árs eine heidnische Formel sei, vgl. Düwel 1985, S. 66–69. Die Frage ist allerdings in diesem Zusammenhang nicht entscheidend, denn selbstverständlich hat Snorri in diesem Zusammenhang einen heidnischen Ritus bezeichnen wollen. 22 Ström 1966, S. 331–334. 23 Düwel 1985, S. 33–35. 24 Þar var ok drepinn alls konar smali ok svá hross, en blóð þat allt, er þar kom af, […] með því skyldi rjóða stallana ǫllu saman ok svá veggi hofsins útan ok innan ok svá støkkva á mennina (‚da wurden auch alle Schafe und auch Pferde getötet, und das Blut das davon kam […] mit dem sollte man die Altäre röten, alles zusammen und so auch die Wände des Tempels von außen und von innen, und auch die Menschen besprengen‘ (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 168)). 25 […] at þar væri drepit naut ok hross ok roðnir stallar af blóði (‚dort seien Rinder und Pferde getötet und die Altäre mit Blut gerötet worden‘ (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, S. 177)).

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einer blutigen Opferung ausgehen, ist die Opferung hier die Hängung. Die Vermutung von Bjarni Aðalbjarnarson,²⁶ dass Dómaldi zuerst gehängt und dann mit dem Ger gezeichnet wurde, wodurch er Óðinn geopfert wurde, muss als unwahrscheinlich bezeichnet werden, weil das Óðinsopfer nicht in den Kontext der Fruchtbarkeitsriten gehört. Snorri hat offensichtlich die Strophe genauer gelesen als der Verfasser der Historia Norwegiae, denn im ersten Teil ist dort die Rede von blutigen Waffen, die die Krieger Domaldis wegtrugen, und dass sie die Erde röteten. Hitt vas fyrr, at sverðberendr ruðu fold sínum dróttni. Ok landherr bar dreyrug vǫ´pn af lífs vǫnum Dómalda (‚das war früher, dass die Schwertträger die Erde mit ihrem Herrn röteten. Und das Heer trug blutige Waffen vom leblosen Domaldi‘). Es ist eindeutig, dass die Strophe sowohl den Zweck der Opferung (argjǫrn) bietet, als auch das Verb ‚opfern‘ (sóa), und auch das Faktum, dass es sich um ein blutiges Opfer handelte. Aber die Ausgestaltung mit den periodischen, sich steigernden Opferungen und dem Bestreichen des Altars mit Blut beruht auf den gängigen Vorstellungen über die Opferriten, die man auch an anderen Stellen der altisländischen Literatur findet. Man kann also sagen, dass sowohl der Verfasser der Historia Norwegiae als auch Snorri die Strophe entsprechend ihren Vorstellungen über die heidnische Religion ausgestalteten.

Dagr und der Sperling Eine schöne Geschichte entstand vermutlich durch ein Textmissverständnis in der Strophe 8, die Dagr gewidmet ist: Frák at Dagr dauða orði frægðar fúss of fara skyldi, þás valteins til Vǫrva kom spakfrǫmuðr Spǫrs at hefna; Ok þat orð á austrvega vísa ferð frá vígi bar, at þann gram of geta skyldi slǫnguþref Sleipnis verðar.

26 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 32.

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Frák at Dagr, frægðar fúss, orði dauða of fara skyldi, þás spakfrǫmuðr valteins kom til Vǫrva, Spǫrs at hefna. Ok ferð vísa bar þat orð frá vígi á austrvega, at slǫnguþref verðar Sleipnis skyldi of geta þann gram. ‚Ich erfuhr, dass Dagr, begierig nach Ruhm, durch das Todeslos (eigentlich: Todeswort) dahingehen sollte, als der kluge {Handhaber des {Zweiges der Gefallenen}} [Schwert > Krieger] nach Vǫrva²⁷ kam, um Spǫrr zu rächen. Und die Gefolgschaft des Fürsten brachte diese Nachricht vom Kampf nach Osten, dass der geschleuderte {Greifer der {Nahrung des Sleipnir}} [Heu > Heugabel] diesen Fürsten erfassen sollte.‘

Snorri hat hier vermutlich das Wort spǫrr als Vogelnamen ‚Sperling‘ aufgefasst. Er bietet dazu eine Erzählung an, dass Dagr einen weissagenden Sperling hatte. Dieser sei einmal nach Reiðgotaland²⁸ geflogen und dort von einem Bauern bei einem Hof Vǫrva getötet worden, als er auf dessen Acker Nahrung suchte. Der König, beunruhigt über das Schicksal seines Vogels, veranstaltete ein Orakel – gekk hann þá til sonarblóts til fréttar – und erfuhr, dass der Sperling in Vǫrva getötet worden war. Darauf bot er ein großes Heer auf und zog nach Gotland. Er überfiel die Insel und als er am Abend zu seinen Schiffen zurückkehrte und einen Fluss bei einer Furt Skjótansvað oder Vápnavað überquerte, lief ein Knecht aus dem Wald hervor und schleuderte eine Heugabel nach dem König, der dadurch den Tod fand (Ynglinga saga, c. 18). Warum hat Snorri Reiðgotaland als Schauplatz des Todes Dags gewählt? In Skaldskaparmál erklärt er Reiðgotaland einmal als Jótland, einmal als Danaveldi insgesamt (s. Anm. 28). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die Historia Norwegiae sagt, dass Dagr von den Dänen getötet worden sei.²⁹ Daher ist es mehr als wahrscheinlich, dass Snorris Aussage, Dagr sei mit einem Heer nach Gotland gefahren, darauf beruht, dass er möglicherweise einen verkürzten Namen, d. h. Gotland

27 Vǫrva wird von Snorri als Ortsname aufgefasst; allerdings ist es bis auf einen unsicheren Versuch, es mit einem Ort Worwegen in der Landschaft Natangen, südlich vom Frischen Haff (Zalew Wiślany) in Polen zu identifizieren (Beckmann 1960, S. 6), nicht gelungen, einen Ort dafür ausfindig zu machen. Adolf Noreen (Noreen 1912, S. 5 f.) fasst es als Appellativum auf, und zwar als Genitiv Plural von *vǫr (vgl. angelsächsisch wearoþ) und übersetzte es als ‚zu den Stränden‘ (vgl. auch McKinnell 2005, S. 72). 28 Aus der weiteren Erzählung geht hervor, dass Snorri diese sagenhafte Landschaft, die auch in der Hervarar saga ok Heiðreks erwähnt wird, dort aber in Osteuropa lokalisiert wird (vgl. Friesen 1920, S. 108–132; Beckmann 1960, S. 6), anscheinend mit Gotland gleichsetzt. Das widerspricht seiner eigenen Angabe in Skaldskaparmál (Skáldskaparmál (Faulkes 1998), 1, S. 105 f.): í þann tíma var kallat alt meginland þat er hann átti Reiðgotaland, en eyjar allar Eygotaland. Þat er nú kallat Danaveldi ok Svíaveldi (‚in dieser Zeit wurde das ganze Festland, das er hatte, Reiðgotaland genannt, und die Inseln alle Eygotaland. Das wird nun Danaveldi (Dänenreich) und Svíaveldi (Schwedenreich) genannt‘). Im Prolog zur Snorra Edda heißt es ebenfalls: ok þat heitir nú Jótland er þá var kallat Reiðgotaland (‚und das heißt jetzt Jütland, das damals Reiðgotaland genannt wurde‘ (Gylfaginning (Faulkes 2005), S. 6)). 29 […] Dagr, quem Dani in quodam uado, quod Sciotanuath dicitur dum passeris iniurias uindicare conaretur, publico bello occiderunt (‚Dagr, den die Dänen in einer Furt, die Sciotanuath genannt wurde, als er die Gewalt gegen einen Sperling zu rächen versuchte, in einem offenen Krieg töteten‘ (Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 74 f.)).

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für Reiðgotaland benützt habe. Wie allerdings beide Werke, die Ynglinga saga und die Historia Norwegiae darauf kamen, dass Dagr in Dänemark fiel, ist nicht zu eruieren. Dazu kommt noch, dass auch beide übereinstimmend von dem Ort des Todes Dags berichten: eine Furt Skjótansvað (Ynglinga saga) bzw. Sciotanuath (Historia Norwegiae). Die Übereinstimmung der beiden Texte, die voneinander unabhängig sind, könnte entweder durch eine zusätzliche, in der Ynglinga saga nicht überlieferte Strophe erklärt werden, oder durch mündliche Traditionen. Dass aber Snorri dafür den alten Namen Reiðgotaland benützte, hängt vielleicht mit seiner Tendenz zusammen, für die Geschichte der Frühzeit, in der die Geschichte der Ynglinger ja spielt, auch die alten Namen zu benützen. Das Motiv eines weissagenden Sperlings ist ungewöhnlich, selbst wenn man in Betracht zieht, dass auch Kleinvögel weissagen können, z.B. die Meisen in Fáfnismál. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass Óðins Raben Huginn und Muninn das Vorbild für diese Geschichte waren. Im Gedicht selbst ist nur von der Rache für einen spǫrr die Rede und es gibt keinen Hinweis darauf, dass dieser ein weissagender Vogel gewesen sei. Hier hat Snorri seine Kenntnisse aus der Lieder-Edda genützt, um die Geschichte auszugestalten.³⁰ Das wird umso deutlicher, als sogar ein kleines Detail aus Grímnismál 20 übernimmt: Dort sagt Óðinn, dass er fürchtet, dass Huginn oder Muninn von ihren Flügen über die Welt nicht wiederkommen: Huginn ok Muninn fliúga hverian dag iǫrmungrund yfir; óomc ec of Hugin, at hann aptr né komið þó siámc meirr um Munin. ‚Huginn und Muninn fliegen jeden Tag über die weite Erde; ich fürchte für Huginn, dass er nicht zurückkommt, aber noch mehr habe ich Angst um Muninn.‘

Und genauso ist Dagr besorgt um das Ausbleiben seines Vogels: Dagr konungr varð illa við, er spǫrrinn kom eigi heim (‚König Dagr war bekümmert, dass der Sperling nicht zurück kam‘). Die Geschichte von einem Rachefeldzug für einen getöteten Sperling wirkt mehr als unwahrscheinlich und wurde deswegen als Indiz einer komischen Darstellung gewertet.³¹ Eine andere, vermutlich richtige Vermutung besteht darin, dass es sich bei spǫrr nicht um einen Sperling, sondern um eine Person handeln könnte.³² Und in der Tat kann spǫrr auch als Personenname gedeutet werden: Ein entsprechender Name – sbauṛ – ist auf dem dänischen Runenstein von Randers in Jütland (DR 115) aus dem 11. Jahrhundert überliefert und auch später in Dänemark als Sporgh bezeugt.³³ Gunter Müller verwies in

30 Vgl. dazu Schück, der bereits auf die Entsprechungen hingewiesen hat (Schück 1904, 2, S. 146 f.). 31 Stavnem 2005, S. 271; Svanhildur Óskarsdóttir 1994, S. 763. 32 Vgl. Beckmann 1960. 33 Beckmann 1960, S. 5, Anm. 9; vgl. auch Peterson 2007, S. 203.

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seiner Arbeit über theriophore Namen auch noch auf einen altwestnordischen Namen Spǫrr³⁴ und auf altenglisch Sperflinc und Sperlinc als Namen königlicher Münzmeister auf angelsächsischen Münzen des 10. Jahrhunderts, die auf nordische Vorbilder zurückgehen sollen, da sich keine sicheren Entsprechungen aus der übrigen Germania feststellen lassen. Auf Grund dieser verbreiteten Zeugnisse kann man davon ausgehen, dass Spǫrr ein Personenname sein kann. Und es ist wahrscheinlicher, dass die Ynglingatalstrophe davon handelte, dass König Dagr einen Rachefeldzug unternahm, um einen Mann namens Spǫrr zu rächen, als dass er wegen eines toten Sperlings auszog. Doch Snorri fasste spǫrr als Bezeichnung eines Sperlings auf³⁵ und machte mit Hilfe der Odinsraben Huginn und Muninn eine Geschichte von einem weissagenden Sperling. Auch die Geschichte, wie Dagr vom Tod seines Sperlings erfuhr, ist aus dem Wissen Snorris über die heidnische Religion und ihre Riten heraus entwickelt worden. Snorri erzählt von einem Orakel: gekk hann þá til sonarblóts til fréttar (‚da veranstaltete er ein sonarblót, um ein Orakel (frétt) zu erhalten‘). Dass Snorri hier das Wort sonarblót verwendet, setzt voraus, dass zu seiner Zeit dieses Wort etwa dieselbe Bedeutung hatte wie später in der Hervarar saga, wo ein Eberopfer ebenfalls mit dieser Bezeichnung erwähnt wird. Dort wird es allerdings dem Gott Freyr dargebracht. Sonarblót ist eine offenbar sprachlich nicht mehr durchschaute Bezeichnung für das Eberopfer, das richtiger *sonargaltarblót heißen müsste.³⁶ Die Existenz eines Wortes sonardreyri (‚Opferblut‘ (Hyndluljóð 36)), zeigt, dass sonar- offenbar als ‚Eber‘ interpretiert wurde.³⁷ Aus der Prosa der Helgakviða Hjǫrvarðssonar (nach Str. 30) und einer vergleichbaren Stelle der Hervarar saga geht hervor, dass man sich das Eberopfer mit einer Eidesleistung verbunden vorstellte. Es gibt aber keinen Hinweis auf eine Funktion beim Orakel. Von alledem ist keine Rede im Gedicht, es gibt allerdings einen Anhaltspunkt, aus dem Snorri diese Geschichte heraus gesponnen haben könnte: Ynglingatal verwendet die folgende Kenning für den König: valteins spakfrǫmuðr (‚der kluge Handhaber des Zweiges der Gefallenen‘) [Schwert > Krieger]. Diese Interpretation wird von den meisten Editionen geboten.³⁸ Adolf Noreen jedoch deutete ausgehend von der

34 Müller 1970, S. 88; vgl. Lind 1931, Sp. 943. 35 Auch die Historia Norwegiae fasste spǫrr als Sperling auf, allerdings ohne das Motiv der Weissagung an ihn zu knüpfen. 36 Vgl. dazu Sievers 1892, S. 544. 37 Das Wort sonar bedeutete ursprünglich ‚Schweineherde‘ und ist belegt in angelsächsisch sunor, und in langobardisch sonarpair (‚Leiteber einer Schweineherde‘). Dem entspricht genau das altisländische sonargǫltr, wobei lediglich das Wort für ‚Eber‘ ausgetauscht erscheint (-pair > germanisch bair erhalten in althochdeutsch/altsächsisch bēr für das männliche Hausschwein; vgl. dazu Sievers 1892, S. 543). 38 Heimskringla (Finnur Jónsson 1893–1900); Heimskringla (Finnur Jónsson 1911); Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15); Skjaldediktningen (Kock 1946–50); Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51); Heimskringla (Bergljót Kristjánsdóttir et al. 1991).

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Darstellung in der Ynglinga saga, valteinn nicht als Schwert, sondern als blótspǫˊn, als den ‚in Blut (getauchten) Zweig‘, den man beim Losverfahren benützt habe.³⁹ Insgesamt deutet er die Kenning als ‚der kluge Handhaber des Opferzweiges‘, d. h. ‚Opferpriester‘. Eine Bedeutung ‚Opferblut‘ ist jedoch für val(r) nicht nachweisbar, ebenso wenig ein Losverfahren mit Opferblut, so bliebe allenfalls zu erwägen, ob man valteinn als ‚Wahlzweig‘ übersetzen und eine Verbindung zu der Orakelpraxis des Loswerfens herstellen könnte. Dies tat Sundqvist:⁴⁰ Er verweist auf altisländisch hlautteinn (‚Loszweig‘⁴¹) und die Praxis des Loswerfens und die Tatsache, dass die Ynglinga saga (c. 18) den König als großen Opferer und Wahrsager darstelle. Das ist allerdings nur eingeschränkt richtig: Es heißt dort nur, dass er ein sonarblót (‚Eberopfer‘) veranstaltete, um etwas über den Verbleib seines Sperlings zu erfahren, aber eben kein Losverfahren mit Stäben. Gegen eine Deutung von valteinn als ein im Orakel verwendetes Holz spricht auch, dass altisländisch val (‚Wahl‘) niemals in Verbindung mit einem Losverfahren verwendet wird, das vielmehr als hluta oder leggja hluti oder setja hluti bezeichnet wird. Dadurch gewinnt die Deutung von valteinn als ‚Zweig der Gefallenen‘ doch größere Wahrscheinlichkeit. Aber möglicherweise hat Snorri ähnlich wie Noreen gedacht und valteinn als Orakelzweig interpretiert und aus diesem Grund König Dagr als Opferpriester auftreten lassen?

Aunn Schwieriger zu beurteilen ist die Geschichte von Aunn (Str. 13): Hat Snorri eine ausführlichere Sage von ihm gekannt, oder hat er wieder die Strophe ausgedeutet? Knátti endr at Upsǫlum ánasótt Aun of standa, ok þrálífr þiggja skyldi jóðs alað ǫðru sinni. Ok sveiðurs at sér hverfði mækis hlut enn mjávara,

39 Noreen 1925, S. 224. 40 Sundqvist 2005, S. 108. 41 Das Wort ist bezeugt in der Lausavísa von Þorvaldr víðfǫrli (Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15), 1 B, S. 105), wo es einen heidnischen Priester als hreytir hlautteins (‚Schüttler des Loszweiges‘) bezeichnet (zur Bedeutung von hlautteinn vgl. Düwel 1985, S. 21–31).

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es okhreins ǫ´ttunga rjóðr lǫgðis odd liggjandi drakk. Máttit hárr hjarðar mæki austrkonungr upp of halda. Ánasótt knátti endr of standa Aun at Upsǫlum, ok þrálífr skyldi þiggja ǫðru sinni jóðs alað. Ok hverfði at sér enn mjávara hlut mækis sveiðurs, es rjóðr ǫ´ttunga liggjandi drakk odd lǫgðis okhreins. Hárr austrkonungr máttit of halda upp mæki hjarðar. ‚Die Altersschwäche (wörtlich: Großväterkrankheit) konnte einst Aunn in Uppsala überwältigen, und der Lebensgierige sollte ein zweites Mal die Nahrung eines Säuglings erhalten. Und [er] wandte sich den schmäleren Teil {des Schwertes des Stieres} [Horn] zu, als der {Röter der Verwandten} [= Aunn] liegend (aus der) Spitze {des Schwertes des {Zieh-Rentieres}} [Stier > Horn] trank. Der grauhaarige Ostkönig konnte {das Schwert des Rindes} [Horn] nicht mehr aufrecht halten.‘

Die Strophe besteht aus zwei parallelen Teilen, in denen von der Ernährung des Königs als Säugling mit einem Saughorn die Rede ist. Das ist übrigens keine Erfindung, es ist bezeugt, dass Kinder in dieser Weise ernährt wurden.⁴² Der letzte Teil der Strophe geht dann noch einen Schritt weiter  – nun kann der gealterte König nicht einmal mehr das Horn halten. Snorri erzählt als Kontext dieser Strophe eine lange Geschichte von König Aunn,⁴³ der erst sechzigjährig an die Herrschaft kommt, weil ein dänischer König Halfdan⁴⁴ die Herrschaft in Uppsala an sich reißt und Aunn nach Västergötland ins Exil flüchten muss. Dasselbe wiederholt sich nach seiner Niederlage gegen Áli inn frœkni, der wieder zwanzig Jahre in Uppsala herrscht. Snorri führt den König schon als vitr maðr ok blótmaðr mikill als ‚klugen Mann und großen Opferer‘ ein. Um sein Leben zu verlängern, opfert er Óðinn einen Sohn nach dem anderen, der ihm dafür immer wieder ein Spanne Leben gibt, aber offensichtlich keine Lebenskraft, denn bald kann der König nicht mehr gehen, wird auf einem Stuhl sitzend herumgetragen, dann liegt er im Bett, zuletzt trinkt er wie ein Säugling aus einem Horn. Erst beim letzten Sohn greift das Volk der Schweden ein, verbietet die Opferung und Aunn stirbt. Konnte Snorri dies aus der Strophe extrapoliert haben? Deutlich ist, dass hier die einzelnen Lebensspannen an Ereignissen der Skjǫldungensage ausgerichtet sind.⁴⁵

42 Säuglingsernährung mit Saughörnern ist seit frühester Zeit bezeugt (vgl. Brüning 1908, S. 69–73; Rosenfeld 1955/56). 43 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 47–49. 44 Halfdan ist der Sohn von Fróði inn mikilláti und Enkel von Danr inn mikilláti. 45 Vgl. dazu Arngríms Exzerpt der Skjǫldunga saga (Danasaga (Bjarni Guðnason 1982), S.  16–20). Hier wird allerdings nur von Ali hinn frœkni berichtet.

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Dort ist allerdings keine Rede von dem schwedischen König Aunn, wohl aber davon, dass sich Áli hinn frœkni eine Herrschaft in Schweden erobert. Was konnte Snorri aus der Strophe schließen? Da haben wir einmal das Adjektiv þrálífr. Das Wort ist in der Prosa nicht überliefert und in der Skaldik nur hier. Þrár bedeutet ‚trotzig, hartnäckig‘. Der König hing also zäh am Leben. Das konnte den Anstoß gegeben haben, von Auns periodischen Versuchen zu erzählen, sein Leben durch Opferriten zu verlängern. Diese sind jedoch Snorris Zutat. Das Gedicht weiß nichts von Opferriten. Und das zweite Wort, das wohl Anstoß zu der Geschichte gab, ist hier als rjóðr ǫ´ttunga (‚der Röter (Mörder/Opferer) seiner Verwandten‘) wiedergegeben. Alle Handschriften haben hier rjóðr (‚Röter‘), was man mit dem Objekt ǫ´ttunga (‚die Verwandten‘) verbunden als ‚Töter‘ der Verwandten deuten könnte. Konráð Gíslason⁴⁶ schlug hier aus semantischen Gründen eine Emendation zu *hrjóðr (‚Ausrotter‘) vor und ihm folgte Finnur Jónsson in seinen Editionen.⁴⁷ Die anderen Editionen blieben bei dem von den Handschriften gebotenen rjóðr.⁴⁸ Beide Wörter, hrjóðr und rjóðr, sind Nomina agentis zu hrjóða bzw. rjóða. Das Problem ist nun, dass weder die Verben noch die Nomina agentis je mit einem menschlichen Objekt vorkommen. In skaldischer Sprache werden Waffen gerötet oder Schiffe ‚geleert‘, aber nicht Menschen (vgl. Lexicon Poeticum: hrjóða, rjóða). Und dasselbe gilt auch für die Sprache der Prosa (vgl. Fritzner, Ordbog over det gamle norske sprog: hrjóða, rjóða). Eine Emendation zu hrjóða bringt also keine Verbesserung und sollte daher unterbleiben.⁴⁹ ‚Röter‘ könnte entweder als ‚der sie in Blut rötet‘, also tötet,⁵⁰ gedeutet werden, oder als ‚der sie opfert‘, wobei in Betracht gezogen werden kann, dass das Färben mit Blut im Kult eine bedeutende Rolle spielte.⁵¹ D.h. das ǫ´ttunga rjóðr der Strophe muss sich nicht auf ein Opfer bezogen haben, es könnte auch nur um eine Tötung der Verwandten gehen. Wir kennen ja noch einen Ausrotter der Verwandten aus der Heldensage, der sogar als warnendes Beispiel bei Fulco von Reims zitiert wird: Ermanarich. Rex quidam Hermenricus nomine qui omnem progeniem suam morti destinaverit, impiis consiliis cuisquam consiliarii sui⁵² (‚dieser König namens Hermenricus, der seine gesamte Nachkommenschaft dem Tod weiht, aufgrund des verbrecherischen Rates eines seiner Ratgeber‘). Auch eine bloße Ausrottung der Verwandten etwa aus Herrschsucht wäre

46 Konráð Gíslason 1881, S. 226–229. 47 Heimskringla (Finnur Jónsson 1893–1900); Heimskringla (Finnur Jónsson 1911); Skjaldedigtning (Finnur Jónsson 1912–15). 48 Skjaldediktningen (Kock 1946–50); Ynglingatal (Noreen 1925); Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51); Heimskringla (Bergljót Kristjánsdóttir et al. 1991). 49 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 50. 50 So z.B. Beyschlag 1950, S. 30. 51 Vgl. Ranke 1978. 52 Zitiert nach Grimm 1957, S. 34.

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durchaus mit der Strophe vereinbar.⁵³ Es könnte also so sein, dass die Opferung der Söhne an Óðinn, durchaus Snorris Spekulation gewesen sein könnte. Eine solche Vermutung könnte durch die Darstellung der Historia Norwegiae unterstützt werden, die nichts von einer Opferung der Söhne weiß.⁵⁴ Sie verweist nur auf das hohe Alter des Königs, der dort den Namen Auchun trägt, und seine Altersschwäche, die ihn zwang, in den letzten neun Jahren seines Lebens Milch zu trinken. Eine gewisse Skepsis möchte ich auch einer Interpretation von Snorris Erzählung als Nachklang von periodischen, rituellen Königsopfern entgegenbringen. Es handelt sich bei den Geopferten um die Söhne des Königs, also nur potentielle Nachfolger, nicht herrschende Könige – etwa so wie bei Dómaldi. Die Strophe gibt keinen Hinweis, die Historia Norwegiae auch nicht – nur Snorri. Wie sollte ihm dieses Wissen zugekommen sein? Es ist zwar durchaus denkbar, dass er etwas von periodischen Opfern gehört hatte, immerhin hat ja Adam von Bremen auch etwas Vergleichbares von Uppsala gehört. Und bei Dómaldi führt Snorri ja auch einen sich steigernden jährlichen Opferritus ein. Bemerkenswert ist aber, dass auch hier wieder Óðinn ins Spiel kommt. Wir entdecken immer wieder, dass Snorri die Óðinsmythologie – so wie er sie verstanden hat – als Interpretament in seine Strophenkontexte einführt. Das sollen nur einige Beispiele sein, die zeigen können, wie Snorri aus seinem religionshistorischen Wissen Extrapolationen für die Strophen des Ynglingatal schafft. Bemerkenswert ist insbesondere die Tendenz, in die Königssagen heidnische Riten einzuführen, was unterstreicht, dass gerade in diesem Bereich, großes Interesse im 13. Jahrhundert herrschte, aber vieles vermutlich auf nicht fundierten Rückschlüssen beruhte.

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53 Es wurde auch schon auf eine gewisse Ähnlichkeit mit dem griechischen Kronosmythos hingewiesen, bereits von Guðbrandur Vigfússon (Corpus poeticum boreale (Guðbrandur Vigfússon / Powell 1883), 1, S. 523), was dann wieder von Eitrem 1927 aufgegriffen wurde. 54 Historia Norwegie (Ekrem / Mortensen 2003), S. 76 f.

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Rudolf Simek

Snorri Sturluson statistisch Abstract: This paper seeks both to evaluate the poetic material available to Snorri when he was writing his works, and to look at Snorri’s own poetic output. The number of stanzas taken from extant Eddic poems (ca. 67, exclusively in Gylfaginning) seems negligible in comparison with the ca. 514–587 stanzas (depending on manuscripts) which are quoted in his Edda, only 102 of which were composed by Snorri himself (namely Háttatal). In Heimskringla, Snorri uses a total of ca. 583 stanzas, of which 100 alone are by the skald Sighvatr and none of which are overtly by Snorri himself. If we add the 130 stanzas in Egils saga Skallagrímssonar, we arrive at ca. 1217–1290 for a number of stanzas quoted by Snorri in his works. However, as most of these poems are not quoted in their entirety, we may extrapolate that the total number of stanzas within the poems quoted by Snorri was once massively higher. This can be seen in the Eddic poems: as opposed to the ca. 59–61 stanzas quoted, all the poems together come to 540 stanzas! Additionally, in a variety of sources, Snorri is said to have composed several other poems, none of which have survived, but which, according to their respective genres, must have amounted to a minimum of 128, but more likely to ca. 210–220 stanzas. Altogether we may well assume that Snorri had a corpus of ca. 2000–4000 skaldic stanzas at his disposal. However, when Snorri makes his choice of whom and what to quote, it is striking to see a tendency in him to use poems written by his own relatives (Markús Skeggjason, Einarr Skúlason, and perhaps one should add Egill Skallagrímsson as well) and by later Christian skalds.

Die folgenden Daten sind ein Beiprodukt langjähriger Beschäftigung mit Snorri Sturluson, seiner Prosa-Edda und der darin enthaltenen Dichtung sowie besonders seiner Beschäftigung mit dem Heidentum und nicht zuletzt Snorris Auswahl seiner Quellen. Während man sich schon länger mit den durch den Verfasser selbst penibel zitierten Quellen und Informanten für Aris Isländerbuch auseinandergesetzt hat (konzise zusammengefasst bei Hermann Pálsson 1999),¹ sind die dichterischen Quellen für Snorris Edda nur vereinzelt in den Blick genommen worden,² diejenigen seiner Heimskringla auch nicht viel öfter.³ Die folgenden Überlegungen sind ebenfalls kein Ersatz für eine systematische Untersuchung von Snorris skaldischen und sonstigen dichterischen Quellen, sollen aber versuchen, den Blick auf Aspekte der Arbeit Snorris zu lenken, die bei Einzeluntersuchungen gerne aus dem Blickfeld geraten.

1 Hermann Pálsson 1999, S. 31–45. 2 Beck 1992, S. 608–617; Marold 1992, S. 685–719. 3 Vgl. jedoch Sigurður Nordal 1920, S.  167–171; Wolf 1965, S.  459–484; von See 1977, S.  58–82; Fidjestøl 1982; Fidjestøl 1993, S. 76–98.

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 Rudolf Simek

Die erste Beobachtung betrifft den Umfang der Snorri zur Verfügung stehenden Dichtung, und, darauf aufbauend, die Menge des von ihm entweder memorierten oder des ihm in der einen oder anderen Form schriftlich vorliegenden Quellenmaterials im Bereich der gebundenen Dichtung. Die folgende knappe Zusammenstellung der Zahlenwerte für Strophen in den ihm zugeschriebenen Werken unterscheidet aus pragmatischen Gründen nicht nach ganzen oder halben (oder fragmentarisch erhaltenen) Strophen und berücksichtigt auch nicht die unterschiedlichen Überlieferungen der Handschriften der Snorra Edda über die editorischen Angaben von Finnur Jónsson in seinen Ausgaben der Snorra Edda hinaus.⁴ Snorris Edda, die nach allgemeinem Konsensus bald nach seiner Rückkehr von seiner ersten Norwegenreise, demnach etwa zwischen 1220 und 1225, verfasst wurde, enthält ca. 504 Strophen (wie gesagt, inklusive Halbstrophen und Fragmente). Davon entfallen auf das von Snorri selbstverfasste Preisgedicht auf König Hákon und Jarl Skúli, nämlich das in der Tradition lateinischer Centimetra stehende Háttatal, 102 Strophen,⁵ die Gylfaginning dagegen enthält nur (je nach Zählung) 66–78 Strophen, die meisten davon in eddischen Metren und bis auf die Strophe aus der Hyndluljóð, fünf gar nicht identifizierbare Strophenreste und zwei Skaldenstrophen alle den erhaltenen Liedern des Codex Regius zuweisbar; auf diese verteilen sich die Strophen wie folgt: Vǫluspá Grímnismál Vafþrúðnismál Lokasenna, Hávamál, Skírnismál, Fafnismál

30 Strophen 23 Strophen 10 Strophen je 1 Strophe

Nur zwei der Strophen der Gylfaginning dagegen stammen aus skaldischer Dichtung, nämlich die beiden ersten, eine von Bragi aus der Ragnarsdrápa (nur Handschrift R), die andere von Þjóðólfr ór Hvini (aus dem Haraldskvæði). Dagegen enthält der zweite Hauptteil der Snorra Edda, die Skáldskaparmál, eine beträchtliche Zahl fast ausschließlich skaldischer Strophen, und zwar je nach Handschrift etwa 336 bis 409.⁶ Damit ergibt sich für Snorris Edda:

4 Grundlage der folgenden Zählungen ist unter Berücksichtigung der dort in den Anhängen wiedergegeben handschriftlichen Abweichungen: Edda (Finnur Jónsson 1900). 5 Auf den Aufbau des Háttatal genauer einzugehen, ist hier nicht der Ort; vgl. dazu ausführlicher Simek 2007, S. 40–42, und, noch ausführlicher, Clunies Ross 2005, S. 162–170. 6 Auch hier folge ich den bei Finnur Jónsson in der Ausgabe von 1900 zu findenden Werten; das sowohl im Codex Regius der Snorra Edda (GkS 2367 4to) als auch im Codex Trajectinus (MS No 1374) mit der Snorra Edda vergesellschaftete Eddalied Grottasǫngr ziehe ich im Gegensatz zu Finnur Jónsson (S. 191–195) hier allerdings nicht in Betracht.

Snorri Sturluson statistisch 

Háttatal Gylfaginning Skáldskaparmál zusammen:

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102 selbstverfaßte Strophen ca. 76 vorwiegend eddische Strophen 336–409 skaldische Strophen 514–587 Strophen

Snorris umfangreiche Geschichte des norwegischen Königshauses, die ebenfalls prosimetrisch konzipierte Heimskringla, enthält sogar noch mehr Dichtungen, nämlich ca. 583 Strophen, worunter sich auch etliche als ganze Gedichte zu rekonstruierende Werke befinden, etwa das angeblich von Þjóðólfr ór Hvini stammende Ynglingatal in der Ynglinga saga mit 27 Strophen, der Magnúsflokkr des Þjóðólfr Arnórsson in der Magnúss saga góða mit 25 Strophen, und ganze 100 Strophen von Sighvatr skáld in der Óláfs saga helga, die zu verschiedenen Preisgedichten dieses Skalden auf Olaf den Heiligen gehören. Das dritte Snorri zugeschriebene Werk schließlich, die wohl erst in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts entstandene und zu den besten der Íslendingasǫgur zu zählende Egils saga Skallagrímssonar, die auch das für die Íslendingasǫgur postulierte Subgenre der Skaldensagas deutlich sprengt, enthält 130 Skaldenstrophen, wovon alle außer zweien in der Saga dem Skalden Egill Skallagrímsson selbst zugeschrieben werden, nur je eine stammt von seinem Vater und seinem Großvater. Egils Strophen umfassen zahlreiche Lausavísur, aber 70 der Strophen gehören zu seinen drei großen Gedichten Sonatorrek (25), Arinbjarnarkviða (25) und Hǫfuðlausn (20). Insgesamt enthalten Snorris Werke also die nicht unbeträchtliche Zahl von 1217–1290 Strophen, welche Snorri wohl zum überwiegenden Teil aus dem Gedächtnis zitieren konnte, selbst wenn ein Vorgänger des Codex Regius zu seinen Lebzeiten bereits für die eddischen Strophen vorgelegen haben mag, was aber höchstens 5 Prozent der von ihm zitierten Strophen ausmacht. Ob auch für skaldische Strophen oder Gedichte in seiner Jugend in Oddi schriftliche Sammlungen existierten, ist nicht belegt, wenn auch keineswegs auszuschließen. Dass er aber wenigstens einen Teil der Gedichte über die norwegischen Könige von seinem Ziehvater Jón Loptsson in Oddi gelernt hat, wird man ohne Bedenken annehmen dürfen. Von Snorri in seinen Werken zitierte Strophen: Edda Heimskringla Egils saga Skallagrímssonar

514–587 Strophen 583 Strophen 130 Strophen

Σ erhalten:

1227–1300 Strophen

Tafel 1

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 Rudolf Simek

Aber auch wenn das Háttatal der Snorra Edda das einzige erhaltene Gedicht Snorris ist, so haben wir doch Kenntnis über sein weiteres dichterisches Schaffen, auch wenn die entsprechenden Werke nicht erhalten sind. Das Skáldatal erwähnt nämlich, dass Snorri als Skalde für den 1202 verstorbenen norwegischen König Sverrir tätig war, wobei wir, da Snorri zum Zeitpunkt von Sverrirs Tod höchstens 23 Jahre alt war, eher mit einem Memorialgedicht (erfidrápa) zu rechnen haben, weil das Gedicht wohl kaum noch im 12. Jahrhundert entstanden sein wird. Ebenfalls nach dem Skáldatal war Snorri auch für Ingi Barðarson als Skalden tätig, und die Erwähnung daselbst von Hákon Hákonarson und Jarl Skúli bezieht sich sicherlich auf das Háttatal. Nach allen Regeln muss eine drápa zwischen 20 und 40 Strophen umfasst haben,⁷ wogegen eine drápa für Jarl Skúli,⁸ die wohl 1218/19 entstand und von der die Sturlunga saga immerhin den Kehrvers (stef) bewahrt hat, wohl eher 20 Strophen umfasste, während ein flokkr auf den Jarl völlig verloren ist. Dazu soll Snorri laut Íslendinga saga (nicht aber laut Skáldatal) um 1212 noch ein nicht näher bezeichnetes Gedicht Jarl Hákon galinn (mit 20–25 Strophen anzusetzen?) verfasst haben, dazu eine um 1219 auf Bestellung gedichtete andvaka für dessen Frau Kristín⁹ (ebenfalls 20–25 Strophen?), ein Gedicht auf den norwegischen König Ingi Barðarson (regierte 1204– 1217), welches vermutlich ebenfalls eine drápa von 20–40 Strophen gewesen sein dürfte. Dazu kommen noch zwei erhaltene Verszeilen eines Gedichts (auf einen Bischof?) und sieben teilweise nur fragmentarisch erhaltene lausavísur, welche entweder in Handschriften der Sturlunga saga oder in solchen des 3. und 4. Grammatischen Traktats überliefert sind.¹⁰ Diese entweder nur erwähnten oder aber ganz fragmentarisch erhaltenen Gedichte Snorris müssen nach einer ganz vagen Schätzung also mindestens 128, eher 210–220 Strophen umfasst haben.

7 Ein Überblick über die meisten drápur des 10.–12. Jahrhunderts ergibt, dass vollständig erhaltene Gedichte dieses Typs offenbar entweder 20, 25 oder 40 Strophen umfassten (viele in fragmentarischem Zustand, sobald dieser über nur ein Dutzend Strophen hinausgeht, liegen zwischen 20 und 40). Längere drápur wie Arni Jónssons Guðmundardrápa mit 79 Strophen, die Heilagra meyjar drápa mit 70 oder die Harmsól mit 65 Strophen fallen meist bereits ins 13. oder 14. Jahrhundert; Einarr Skúlasons Geisli mit 71 Strophen aus dem 12. Jahrhundert steht für die früheren Jahrhunderte dabei eher allein, gehört aber wie die anderen späten langen drápur ebenfalls zu den inhaltlich religiös geprägten Gedichten. 8 Skúladrápa (Finnur Jónsson 1915), A 2, S. 52. 9 Íslendinga saga, c. 185. 10 Lausavísur (Finnur Jónsson 1915), A 2, S. 77–79.

Snorri Sturluson statistisch 

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Von Snorri gedichtete, aber nicht oder nur fragmentarisch erhaltene Gedichte und ihre geschätzte Strophenzahl: Erfidrápa? für König Sverrir (gest. 1202) Gedicht auf König Ingi Barðarson (gest. 1217) Gedicht für Jarl Hákon galinn (um 1212) andvaka für dessen Frau Kristín (um 1219?) flokkr für Jarl Skúli Skúladrápa für Jarl Skúli (nur Refrain erhalten)

20–40 Strophen 20–40 Strophen 20 + Strophen 20 + Strophen ca. 20 Strophen 20–40 Strophen 8 lose Strophen

Σ erschlossen:

128, eher ca. 210–220 Strophen

Σ erhalten und erschlossen:

1355–1520 Strophen

Tafel 2 Nun wird man aber annehmen dürfen, dass Snorri von denjenigen Eddagedichten, welche er in der Gylfaginning zitiert, nicht nur die eine Strophe oder wenige mehr kannte, sondern doch auch das ganze Gedicht zur Verfügung hatte, ob nun in schriftlicher Form oder memoriert, sodass wir statt der genannten 67 eddischen Strophen der Gylfaginning die Kenntnis von deutlich mehr Strophen annehmen können, nämlich statt nur 59–61 Strophen insgesamt etwa 540 (vgl. Tafel 3), selbst wenn man wie ich annimmt, dass die gebundene Rahmenhandlung der Vǫluspá in skamma, also Anfang und Ende der Hyndluljóð, erst geraume Zeit nach Snorris Lebzeiten gedichtet wurde und deswegen auch nicht im Codex Regius enthalten sein konnte. Extrapolierbare Kenntnis der Strophenzahl eddischer Gedichte, von denen Snorri nur Einzelstrophen zitiert: Vǫluspá Grímnismál Vafþrúðnismál Alsvinnsmál Lokasenna Hávamal Skírnismál Fafnismál Vǫluspá in skamma (= Hyndluljóð, nur Mittelteil)

26/28 Strophen 17 Strophen 9 Strophen 2 Strophen 1 Strophe 1 Strophe 1 Strophe 1 Strophe 1 Strophe

von 66 Strophen 53 Strophen 55 Strophen 35 Strophen 56 Strophen 164 Strophen 42 Strophen 44 Strophen 16 Strophen

zusammen:

statt 59/61 Strophen

540 Strophen

Σ zusätzlich:

482–484 Strophen

Σ erhalten und erschlossen:

1829–2004 Strophen

Tafel 3

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 Rudolf Simek

Eine ähnliche Rechnung ließe sich, allerdings mit beträchtlichen Abstrichen in der Treffsicherheit, auch über eine extrapolierbare Kenntnis von skaldischen Gedichten anstellen, von denen er nur Einzelstrophen zitiert, was vor allem die Heimskringla, aber doch auch die Skáldskaparmál betrifft. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass für die Kenntnis mancher Skaldengedichte Snorris Heimskringla die einzige Quelle ist und somit die historische Verlässlichkeit einer solchen Rechnung nicht sehr hoch anzusetzen ist. Zwei Beispiele mögen zur Illustration des Problems genügen, ohne dass ich daraus jedoch statistische Schlüsse ziehen will oder kann: In der Edda zitiert Snorri insgesamt 12 ganze oder halbe Strophen des Skalden Úlfr Uggason, von dem auch die Laxdœla saga (c. 29), die Njála (c. 60 und 102) sowie die Landnámabók (Sturlubók c. 76 = Hauksbók c. 64) berichten, ohne dass dort Strophen überliefert werden. Da Snorri jedoch ausdrücklich von Úlfs Werk als Húsdrápa spricht, dürfen wir annehmen, dass auch sie ursprünglich zwischen 20 und 40 Strophen hatte, jedenfalls also mindestens knapp doppelt so viele, als Snorri zitiert, obwohl er doch offenbar das ganze Gedicht kannte. Ein noch extremeres Beispiel lässt sich der Heimskringla entnehmen. Der Isländer Arnórr Þórðarson jarlaskáld¹¹ wird, abgesehen von einem ihn behandelnden Arnórs þáttr jarlaskálds, auch in der Bjarnar saga Hitdœlakappa, der Grettis saga, der Orkneyinga saga und im Hemings þáttr Áslákssonar sowie wiederholt als Quelle von Snorri in der Heimskringla erwähnt, wobei die biographischen Details weder ohne Widersprüche auskommen (so erzählt der Hemings þáttr von seinem Tod in der Schlacht von Stamford Bridge am 25. September 1066, obwohl er angeblich eine Erfidrápa auf den dort gefallenen Haraldr verfasst hätte). Es werden ihm insgesamt eine Magnússdrápa (im Versmaß hrynhent, daher teils auch als Hrynhenda bezeichnet), eine weitere Magnússdrápa, eine Þorfinnsdrápa, eine Rǫgnvaldsdrápa, die Erfidrápa auf König Haraldr sowie eine Gellisdrápa und weiters eine Blágagladrápa auf König Haraldr zugeschrieben, im Skáldatal wird er außerdem noch als Skalde von König Olaf dem Stillen (gestorben 1093) und dem Dänenkönig Knut dem Großen genannt. Erhalten sind aber nur gerade einmal 92 Strophen dieses Skalden, obwohl sein gesamtes Œuvre aber 200 bis 400 Strophen umfasst haben muss. Bezeichnenderweise zitiert selbst Snorri von den 20 erhaltenen Strophen der erwähnten Hrynhenda auf König Magnús nur 17 in der Heimskringla, aber drei weitere in seiner Edda. Dies bedeutet, dass ihm auch von anderen Gedichten mehr Strophen bekannt waren, als er in der Heimskringla als Quelle oder aus anderen Gründen anführen wollte. Wie bei den in der Gylfaginning bewusst nur ausschnittsweise zitierten Eddaliedern, so muss auch bei den in der Heimskringla zitierten Skaldengedichten

11 Zu Arnórr vgl. Turville-Petre 1966; Fidjestøl / Arnórr Þórðarson 1984, S.  239–257; Whaley 1993, S. 20 f.; Simek / Hermann Pálsson 2007, S. 21 f.

Snorri Sturluson statistisch 

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davon ausgegangen werden, dass Snorri nicht das gesamte ihm bekannte Material anführte, sondern nur brauchbar erscheinende Teile daraus. Den Umfang des ihm zur Verfügung stehenden Materials zu schätzen, scheint mir allerdings riskant. Nur in einem ganz eng umgrenzten Bereich wage ich eine Vermutung über Snorris Kenntnisse anzustellen, nämlich dort, wo es sich um Vorfahren oder Verwandte von Snorri selbst handelte, wozu nicht nur der Skalde Egill Skallagrímsson, sondern auch die Skalden Markús Skeggjason (lǫgsǫgumaðr 1084–15.10.1107) und Einarr Skúlason aus dem 12.  Jahrhundert gehören. Von einer Eiríksdrápa des Markús sind immerhin 32 Strophen und somit der größte Teil in der Knýtlinga saga erhalten (nicht aber in der Heimskringla), und Snorris zitiert nur 5–7 Strophenreste dieser Eiríksdrápa in der Snorra Edda und ebendort auch einen Helming einer möglichen Knútsdrápa. Von Markús’ religiöser Dichtung Kristsdrápa überliefert uns Snorri ebenfalls nur zwei Halbstrophen, obwohl diese drápa ja auch mindestens 20 Strophen umfasst haben muss, dazu noch drei von Markús’ Lausavísur. Markús’ Werk dürfte also mindestens um 100 Strophen umfasst haben, aus dem Snorri mit Leichtigkeit einzelne Stellen zitiert, die er als Beispiele für diverse Kenningar parat hatte. Noch viel intensiver benutzt Snorri aber das Werk eines anderen Verwandten von ihm, nämlich des Klerikers und Skalden Einarr Skúlason (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts), von welchem 147 Strophen erhalten sind, von denen Snorri 34 (bis 36) schon in seiner Edda zitiert, weitere 22 in der Heimskringla. Das Œuvre Einarrs war aber ausgesprochen umfangreich: Im Skáldatal wird er als Skalde der Könige Sigurðr Jórsalafari, Eysteinn Magnússon, Haraldr gilli, Magnús blindi, Ingi, Sigurðr und Eysteinn Haraldsson genannt, und die erhaltenen Strophen sind die Fragmente einer ganzen Reihe von Preisgedichten auf norwegische Könige: auf Haraldr gilli und Sigurðr Jórsalafari dürfte er sogar je zwei drápur gedichtet haben, eine auf Ingi, eine drápa und eine Runhenda auf Eysteinn, dazu noch eine als Øxarflokkr bezeichnete Strophenfolge; weiters sind zwei Strophen eines Gedichts namens Elfarvísur in Snorris Heimskringla erhalten. Weitgehend vollständig ist dagegen in der Flateyjarbók eine drápa von 71 Strophen auf den Heiligen Olaf und seine Wundertaten erhalten, welche wohl 1153 von den Söhnen Haralds in Auftrag gegeben worden war und den Titel Geisli (‚Lichtstrahl‘) trägt. Insgesamt ergäbe das auch bei allen Unwägbarkeiten ein Gesamtwerk von allerwenigstens 250 Strophen, von dem aber eben nur 147 (und diese häufig fragmentarisch) erhalten sind. Auffällig ist, dass Snorri diesen zutiefst christlichen Dichter in seiner Edda als Hauptquelle nutzt, denn von keinem anderen Skalden zitiert er mehr Strophen als von Einarr, auch nicht von den reichlich mythologisches Material überliefernden Skalden des späten 10. Jahrhunderts (vgl. Tafel 4).

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Snorris Hauptquellen der Edda: Einarr Skúlason Vǫluspá Eilífr Guðrúnarson Grímnismál Arnórr jarlaskáld Bragi in gamli Einarr skálaglamm Eyvindr Finnsson Refr Þjóðólfr Arnórsson Hallfreðr vandræðaskáld Vafþrúðnismál Egill Skallagrímsson

34–36 Strophen 30 Strophen 23 Strophen 23 Strophen 21 Strophen 20 Strophen 14–16 Strophen 13 Strophen 13 Strophen 13 Strophen 10 Strophen 9 Strophen 9 Strophen

Tafel 4 Nicht nur erweitert Snorris deutlich erkennbare Kenntnis der diversen Werke dieser beiden Skalden das ihm zur Verfügung stehenden poetische Corpus um weitere – nur sehr grob zu schätzende – mindestens 350 Strophen (vgl. Tafel 5), sondern es stellt sich auch die Frage, ob die verwandtschaftliche Stellung dieser beiden Dichter und Egill Skallagrímssons zu Snorri Sturluson nicht auch ausschlaggebend für seine gute Kenntnis ihres Werks einerseits, für die Heranziehung als verlässliche Quellen andererseits gewesen sein mag. Die Dichtungen von Snorris älteren Verwandten: Egill Skallagrímsson (10. Jh.) Markús Skeggjason (11.–12. Jh.) Eiríksdrápa Kristsdrápa Einarr Skúlason (12. Jh.) 2 drápur auf Haraldr gilli 2 drápur auf Sigurðr Jórsalafari 1 drápa auf König Ingi 1 drápa, 1 Runhenda auf Eysteinn Øxarflokkr (?) Elfarvísur (?) Geisli abzüglich 34 in SnE, 22 in Hkr:

128 Strophen 34 Strophen 32 Strophen (von 40?) 2 Strophen (von 20?) 147 Strophen (40–80 Strophen?) (40–80 Strophen?) (20–40 Strophen?) (40–80 Strophen?)

71 Strophen (von 71–80?) 161 Strophen

Tafel 5 Auf die mögliche Kenntnis von Snorris zeitgenössischen oder jüngeren Verwandten Sturla Þórðarson und Ólafr Þórðarson, die sich beide ebenfalls mit einem umfangrei-

Snorri Sturluson statistisch 

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chen dichterischen Œuvre als Skalden profiliert haben, sei hier nur verwiesen (vgl. Tafel 6). Dass Snorri ihre noch zu seinen Lebzeiten verfassten Gedichte nicht rezipiert hätte, ist kaum anzunehmen, was zwar keinen Einfluss auf sein Werk hatte, aber die Zahl von ihm memorierter Texte nochmals beträchtlich erhöht haben dürfte. Die Dichtungen von Snorris jüngeren Verwandten: Sturla Þorðarson (29.7.1214–30.7.1284) Hrynhenda Hákonarkviða Hrafnsmál Hákonarflokkr Über Magnús lagabœti

19 Strophen 42 Strophen 20 Strophen 11 Strophen 2 Strophen

Ólafr Þórðarson hvítaskáld (ca. 1210–1259) Gedichte über: Hákon Hákonarson Hákon und Jarl Skúli Hl. Thomas Becket Árónsdrápa Lausavísur Schwedenkönig Eiríkr (1222–50) Hákon den Jüngeren Jarl Knút Hákonarson Valdimar von Dänemark Σ erhalten:

1 Strophe (von 20?) 12 Strophen 2 Strophen 2 Strophen 3 Strophen

114 Strophen (von 250–300)

Tafel 6 Noch schwieriger zu beurteilen als in der Snorra Edda ist das erhaltene dichterische Quellenmaterial in der Heimskringla, wo Snorri deutlich mehr verschiedene Skalden zitiert, nämlich über 60 namentlich genannte; dazu kommen gut 20 Strophen, die nicht bestimmten Dichtern zuzuordnen sind. Die drei meistzitierten Skalden sind Sighvatr Þórðarson (11. Jahrhundert) mit 129 Strophen, Þjóðólfr Arnórsson (11. Jahrhundert) mit 63 und Eyvindr Finnsson Skáldaspillir (10.  Jahrhundert) mit 44; dann erst folgen, mit deutlichem Abstand, Þjóðólfr ór Hvini (9. Jahrhundert) mit 29 sowie Arnórr Þórðarson jarlaskáld (11. Jahrhundert) mit 23 und der schon oben erwähnte Einarr Skúlason (12. Jahrhundert) mit 22 Strophen. Es ist dabei auffällig, dass bis auf Þjóðólfr ór Hvini und Eyvindr alle genannten Dichter Christen waren, was Anlass gibt, über die Religionszugehörigkeit der von Snorri auch in der Heimskringla zitierten Skalden zu reflektieren; bereits oben wurde erwähnt, dass der mit Abstand am häufigsten zitierte Skalde in der Snorra Edda der Kleriker Einarr Skúlason aus dem 12. Jahrhundert ist.

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 Rudolf Simek

Dabei kann festgehalten werden, dass von den über 60 in der Heimskringla zitierten Skalden nur 15 heidnisch waren, bei sechsen ist ihre Religionszugehörigkeit unsicher, bei mindestens zweien wird ausdrücklich ihre Bekehrung thematisiert, alle anderen sind bereits Christen. Sieht man sich allerdings das Verhältnis nicht der zitierten Personen, sondern der Zahl der zitierten Strophen an, so verändert sich das Verhältnis deutlich: Von den 583 Strophen der Heimskringla können wir ca. 40 entweder keinen bekannten Personen zuordnen oder wir kennen deren Religionszugehörigkeit nicht, und nur bei 124 Strophen sind die Strophen mit einiger Sicherheit Personen aus der heidnischen Vergangenheit oder aus dem skaldischen Personal heidnischer Könige oder Jarle zuzuzählen. Ohne die Konsequenzen dieser Überlegungen für das religionsgeschichtlich relevante Material in Snorra Edda und Heimskringla hier aufrollen zu wollen, kann jedenfalls festgehalten werden, dass Snorri jüngeren und christlichen Quellen den Vorzug zu geben scheint vor den ältesten und heidnischen Skalden – oder er die jüngeren Gedichte einfach besser und vollständiger kannte. Ob dies auch Rückschlüsse auf die zitierten eddischen Gedichte erlaubt, sei dahingestellt: die intensive Nutzung der Vǫluspá spricht eher dagegen, aber die in ihrer Datierung ja höchst umstrittenen mythologischen Merkgedichte Grímnismál und Vafþrúðnismál könnten Snorri vielleicht nicht nur mental, sondern auch zeitlich als Quellen nahegelegen haben. Mit Sicherheit ist jedenfalls zu konstatieren, dass Snorri nicht nur die knapp 1300 von ihm in seinen drei Hauptwerken zitierten Strophen als Quellenmaterial zur Verfügung hatte, sondern darüber hinaus noch eine beträchtliche Zahl anderer Strophen, vorwiegend der isländischen Skalden, von denen etliche zu seiner Verwandtschaft gehörten. Da Snorri seine formativen Jahre aber in Oddi verbracht hatte, wird man einen Gutteil der von ihm memorierten Skaldengedichte auf seinen Ziehvater, den Diakon und Goden Jón Loptsson zurückführen können, wohl auch auf dessen Schwager, den Bischof (und späteren Heiligen) Þorlákr Þórhallsson, sowie auf seine älteren Ziehbrüder, die späteren Priester Jón Arnþórsson und Páll Jónsson (letzterer später Bischof und Nachfolger des Heiligen Þorlákr). Diese Ausbildung in Oddi legte jedenfalls für Snorri den Grundstein einer Kenntnis poetischer Quellen – neben seinen dort erworbenen Kenntnissen in Gesetzeskunde, Genealogie und Geschichte –, die man nach den oben angestellten Berechnungen und Extrapolationen mit etwa 2000–4000 Strophen quantifizieren kann. Snorris souveräner und leichthändiger Umgang mit seinen dichterischen Quellen braucht uns demnach jedenfalls nicht zu überraschen.

Snorri Sturluson statistisch 

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Bibliografie Quellen Edda. In: Finnur Jónsson (Hrsg.) 1900. Snorri Sturluson: Edda. Kopenhagen. Skúladrápa, ed. Finnur Jónsson (Hrsg.) 1912–15. In: Finnur Jónsson (Hrsg.). Den norsk-islandske skjaldedigtning, A 2, S. 52. Kopenhagen.

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Daniel Sävborg

Snorra Edda and the Uppsala Edda¹ Abstract: Snorra Edda has been preserved in four independent manuscripts. Codex Regius, Wormianus and Trajectinus can be said to represent one version (RTW) and Codex Upsaliensis (U) another. What distinguishes the two versions is mainly the length and style of the narrative sections. The scholars have long argued about which version is closest to the original. Hitherto, the scholars have used criteria such as used the degree of quality, accuracy and logic to determine the priority. Different scholars have, however, come to different conclusions, in spite of similar criteria, and nor have they been able to agree if lack of quality, accuracy and logic should be criteria for primary or secondary status. Other methods are therefore needed, and the differences between the versions have to be explained. Eiríks saga rauða is also preserved in two versions, in which the text also diverges in terms of length and style. Here we know that the Hauksbók text is a reworking of a text that was close to the version found in Skálholtsbók; it is in the Hauksbók manuscript itself the revision takes place. By analyzing the relation between U and RTW in light of the relation between Hauksbók and Skálholtsbók new knowledge is gained about the revision and transmission of Snorra Edda. The investigation in the article makes use of Eugen Mogk’s observation that U and RTW on the one hand are very different on most sections, mainly by U’s significantly shorter text and more terse and fact-oriented style, but that they in some other sections are very close to each other. Mogk saw no pattern in this, but in the article it is shown that these two types of relation (similar vs. non-similar) between the versions form five distinct blocks in U. This pattern is interpreted in the light of a similar pattern of blocks in Hauksbók’s version of Eiríks saga rauða in its relation to Skálholtsbók. In Hauksbók the text is reproduced by three different scribes, one of which significantly shortens and reworks the text and the other two reproduce their source more faithfully; as a consequence, the two types of relation between the versions form blocks in the text, dependent of the scribe in Hauksbók. The article argues that the explanation for the shift between the types of relation is the same in the case of U/ RTW as in Hauksbók/Skálholtsbók, i.e. that we have to do with more than one redactor, and that they have followed different principles, one faithfully reproducing the model, the other strongly reworking it. From these findings the old problem is discussed: has the revision taken place in the U or the RTW version? The article demonstrates that the sections where U and RTW have a similar text, which thus has to bear witness of the common original, correspond with the typical

1 A longer article with a similar topic, though with a somewhat different focus, was published in “Maal og mine 2012” (Sävborg 2012).

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 Daniel Sävborg

style of RTW (broad, scenic, full of rhetorically effective but factually irrelevant details) but diverges significantly from the typical style of U (terse, panoramic, mentioning only details necessary for the plot or the purpose of the story). The explanation must be that the U version is created by (at least) two different redactors, both of which are reproducing a text close to RTW; one reproduces this source faithfully, while the other reworks it, and shortens it, strongly. The conclusion is that the U version, at least for the narrative prose, represents a revision of a text of RTW type. Consequently, U essentially lacks an independent value as a source of Old Norse mythology.

It is well known that Snorra Edda is transmitted to us in full form in four independent manuscripts. Codex Regius, Trajectinus and Wormianus can be said to constitute one version (RTW) and Codex Upsaliensis another (U). If we look at editions and translations it seems that there is a general agreement that the RTW version best represents Snorri’s original, since these editions are all based on RTW, not on U. This was also Finnur Jónsson’s influential opinion, and U represented for him only a reworking of the RTW version. But several scholars in the 19th and 20th centuries have argued the opposite: that U represented the original version and that the RTW version is a reworking of it. This was the opinion by scholars such as Eugen Mogk, Eduard Sievers, Hugo Gering, and Friedrich Müller.² And in modern scholarly debate there is no agreement. The standard editions are based on the RTW version, but in the Dictionary of the Middle Ages John Lindow explains: “Which branch is closer to Snorri’s original is unknown”,³ Heinrich Beck claims that U “in mancher Hinsicht eine ursprünglichere Version zu präsentieren scheint”,⁴ and in the most recent study Heimir Pálsson argues that U represents the earliest version by Snorri himself.⁵ There are several types of differences between the versions, such as the order of the sections, the wording of the stanzas quoted, and the inclusion of additional material (lists, grammatical treatises etc.), and all these differences deserve their own examination. But the most fundamental difference between the RTW and U versions concerns the narrative parts in Gylfaginning and Skáldskaparmál; in these parts U is generally remarkably shorter and is generally verbally quite different from the RTW text. This is also the difference that has been mostly in focus in the scholarly debate. I have discussed the different ordering in another article,⁶ and in a forthcoming work

2 See for example Mogk 1879, pp. 510–537, Gering 1892, p. 92 (after Uppsala-Edda (Grape 1961/77), p. 109); Sievers (after Zetterholm 1949, p. 7); Müller 1941, p. 146. 3 Lindow 1988, p. 352. 4 Beck 2008, p. 29. 5 Heimir Pálsson 2012, p. cxvii. 6 Sävborg 2009.

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I will examine differences in the text of the stanzas, but in this article I confine myself to the narrative parts. Usually the differences between the versions are only or mainly stylistic; primarily U is famous for being shorter than RTW. But sometimes there are also factual discrepancies, and this has been important for some scholars. One example is the story of Þórr’s fishing. In RTW it is said that Þórr throws his hammer on the Miðgarðsormr, and ‘people say that it chopped off his head’ (segja men, at hann lysti af honum hǫfuðit),⁷ but in U the same words refer to the giant; Þórr throws his hammer on him and chopped off his head (ok laust af honum hǫfuðit). From the ‘traditional’ perspective of Finnur Jónsson and others the text of U is just a mistake here due to the radical reworking of the text, including a radical shortening with almost half the text. But for a scholar such as Heimir Pálsson this is an example that could indicate an alternative oral version of the myth in U.⁸ Heimir Pálsson also argues that the factual differences between the RTW and U versions of stories such as Baldr’s death and the theft of Iðunn’s apples indicate alternative oral versions, where the U version preserves the one in Snorri’s first draft.⁹ In a similar way Heinrich Beck has pointed out differences between U and W in the text of the Prologue. These are claimed to be factual discrepancies that bear witness of alternative theological views.¹⁰ But here, too, the discrepancies could from a ‘traditional’ point of view rather be interpreted as unintended results of a shortening and reworking in the U version of the text in the RTW version. These examples show that it makes a difference how one judges U and its relationship to RTW. It concerns our possibility to judge the existence of different versions of Nordic myths, and it concerns our possibility to judge and analyze the theology of Snorri. Thus it is important to ask the old questions again: How is the relationship between U and RTW to be explained? Which version does best represent the original version? Which version, if any, reworks the other? What differences are there between the two versions? As a concrete example we may look at the Skaldic mead episode, whose first part is given here in the R and U versions. Bold in R marks text that is absent in U, italics in U marks text that is absent in R, underlining in both versions marks text with the same factual information but verbally different, double underlining in both versions marks factually different information.

7 All normalization of Snorra Edda text in the article is my own (using the normalization type of Anthony Faulkes). For R I have used the facsimile edition on internet (GKS 2367 4to, http://www.am. hi.is:8087/WebView.htm), and for U Andres Grape’s diplomatic edition (Uppsala-Edda (Grape 1961/1977)). 8 Heimir Pálsson 2010, p. 53. 9 Heimir Pálsson 2012, pp. lv f. and cxvii. 10 Beck 2007, pp. 19–29.

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 Daniel Sävborg

R Ok enn mælir Ægir: ‘Hvaðan af hefir hafizk sú íþrótt, er þér kallið skáldskap?’ Bragi svarar: ‘Þat váru upphǫf til þess at guðin hǫfðu ósætt við þat fólk er Vanir heita, en þeir lǫgðu með sér friðstefnu ok settu grið á þá lund at þeir gengu hvárirtveggju til eins kers ok spýttu í hráka sína. En at skilnaði þá tóku guðin ok vildu eigi láta týnask þat griðamark ok skǫpuðu þar ór mann. Sá heitir Kvasir. Hann er svá vitr at engi spyrr hann þeira hluta er eigi kann hann órlausn. Hann fór víða um heim at kenna mǫnnum frœði, ok þá er hann kom at heimboði til dverga nokkvorra, Fjalars ok Galars, þá kǫlluðu þeir hann með sér á einmæli ok drápu hann, létu renna blóð hans í tvau ker ok einn ketil, ok heitir sá Óðreyrir, en kerin heita Són ok Boðn. Þeir blendu hunangi við blóðit ok varð þar af mjǫðr sá er hverr er af drekkr verðr skáld eða frœðamaðr. Dvergarnir sǫgðu Ásum at Kvasir hefði kafnat í manviti fyrir því at engi var þar svá fróðr at spyrja kynni hann fróðleiks. Þá buðu þessir dvergar til sín jǫtni þeim er Gillingr heitir ok konu hans. Þá buðu dvergarnir Gillingi at róa á sæ með sér. En er fóru fyrir land fram, røru dvergarnir á boða ok hvelfði skipinu. Gillingr var ósyndr ok týndisk hann, en dvergarnir réttu skip sitt ok reru til lands. Þeir sǫgðu konu hans þenna atburð, en hon kunni illa ok grét hátt. Þá spurði Fjalarr hana ef henni mundi hugléttara ef hon sæi út á sæinn þar er hann hafði týnzk, en hon vildi þat. Þá mælti hann við Galar bróður sinn at hann skal fara upp yfir dyrrnar er hon gengi út ok láta kvernstein falla í hǫfuð henni, ok talði sér leiðask óp hennar, ok svá gerði hann. Þá er þetta spurði Suttungr, bróðurson Gillings, ferr hann til ok tók dvergana ok flytr á sæ út ok setr þá í flœðarsker. Þeir biðja Suttung sér lífsgriða ok bjóða honum til sættar í fǫðurgjǫld mjǫðinn dýra, ok þat verðr at sætt með þeim. Flytr Suttungr mjǫðinn heim ok hirðir þar sem heita Hnitbjǫrg, setr þar til gæzlu dóttur sína Gunnlǫðu. Af þessu kǫllum vér skáldskap Kvasis blóð eða dverga drekku eða fylli eða nakkvars konar lǫg Óðreris eða Boðnar eða Sónar eða farskost dverga, fyrir því at sá mjǫðr flutti þeim fjǫrlausn ór skerinu, eða Suttunga mjǫð eða Hnitbjarga lǫgr. (GKS 2367 4to, 18v–19r)

U Ægir spyrr: ‘Hvaðan af kom skáldskaprinn?’ Bragi svarar: ‘Guðin hǫfðu ósætt við Vani ok gerðu friðstefnu ok gengu til kers eins ok spýttu í hráka sínum ok skǫpuðu ór mann, er heitir Kvasir. Hann leysti ór ǫllum hlutum. Ok er hann kom til dverganna Falas ok Galas kǫlluðu þeir hann á einmæli ok drápu hann, létu renna blóð hans í tvau ker ok einn ketil, er Óðrerir heitir, en kerin heita Són ok Boðn. Þeir blǫnduðu við hunangi við blóðit ok heitir þat þá mjǫðr ok sá er af drekkr verðr skáld ok frœðamaðr. Dvergarnir sǫgðu at þeir hefði tapazk í mannviti. Dvergarnir buðu til sín jǫtni þeim er Gillingr hét, ok buðu honum á sjó at róa ok hvelfðu skipi undir honum. Þat spurði Suttungr son hans, ok flytr dvergana í flœðisker. Þeir bjóða mjǫðinn í fǫðurbœtr. Suttungr hirðir hann í Hnitbjǫrgum ok til gæzlu Gunnlǫðu dóttur sína. Því heitir skáldskaprinn Kvasis blóð eða Sónar eða farskostr dverganna, fyrir því at sá mjǫðr flutti þeim fjǫrlausn ór skerinu, eða Suttunga mjǫðr eða Hnitbjarga lǫgr. (Gr 36–37)

We can immediately note some tendencies. The most obvious is that U is remarkably shorter, 43 % of the length of R. One entire episode and one entire character in R are lacking in U, the story about Gillingr’s wife, an episode with no factual importance for the plot. This is a general tendency: U almost exclusively mentions facts that serve the purpose of explaining those kennings which are listed in the middle and the end of the episode, while R rather narrates an exciting story, which certainly functions as

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an explanation for the kennings listed, but also has a narrative worth in itself. Mostly, however, the factual information is the same, and the difference between the versions is more a matter of different stylistic and narrative techniques. There are a lot of details with no importance for the plot in R, which however makes the narrative vivid, while U only mentions details which have a function for the plot and the purpose of kenning explanation. The narrative style of R is broad, while U uses a condensed narrative style. There is a tendency to develop motifs in R, sometimes to a small narrative, sometimes at least to a full sentence, while U usually only mentions the motifs briefly. An example for this is the treatment of the journeys of Kvasir. R Hann fór víða um heim at kenna mǫnnum frœði, ok þá er hann kom at heimboði til dverga nokkvorra, Fjalars ok Galars, þá kǫlluðu þeir hann með sér á einmæli ok drápu hann.

U Ok er hann kom til dverganna Falas ok Galas kǫlluðu þeir hann á einmæli ok drápu hann.

There is a tendency to narration stage by stage in R, which is often combined with a fondness of scenic description, while U uses a panoramic technique and generally prefers to give a summarized overview of the main events. R Þá buðu þessir dvergar til sín jǫtni þeim er Gillingr heitir ok konu hans. Þá buðu dvergarnir Gillingi at róa á sæ með sér. En er fóru fyrir land fram, røru dvergarnir á boða ok hvelfði skipinu. Gillingr var ósyndr ok týndisk hann, en dvergarnir réttu skip sitt ok reru til lands.

U Dvergarnir buðu til sín jǫtni þeim er Gillingr hét, ok buðu honum á sjó at róa ok hvelfðu skipi undir honum.

The factual discrepancies are, on the other hand, few, and concern mostly name forms (U Falas and Galas, R Fjalarr and Galarr). The Skaldic mead episode is a typical example of the main differences between the versions. This kind of differences dominates the relation between the R and U versions of the narrative parts of Snorra Edda. We find the same differences in for example the famous episodes about Útgarðaloki, Hymir, and Þjazi. What is very important to note is that we have not only to do with a statistic difference in length between the versions, but with two distinctive stylistic and narrative tendencies, characterized by the opposite ideals mentioned above. How have the scholars argued for the different opinions about the relationship between U and RTW? Eugen Mogk argued for U’s status as the most original version by claiming it contained the best text (a typical example: “Dass dieser lesart die von A [= U] […] vorzuziehen ist, unterliegt wol keinem zweifel”)¹¹ and also the one most similar to Heimskringla; a typical example:

11 Mogk 1879, p. 528.

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 Daniel Sävborg

Ich muss […] sagen, dass die hs. A [=U] mit ihrem gedrängten ausdruck dem kernigen, klarigen stil der Heimskringla, der repräsentantin des classischen stiles und der prosa Snorris, viel näher steht als der oft mattere stil von x [=RW].¹²

Finnur Jónsson, on the other hand, argued for RTW’s status as the most original version by claiming it contained the best text (a typical example: “Det første er det eneste logiske og netop det, man væntede, at årsagssammenhængen udtrykkelig fremhævedes og ikke tilsløredes eller tilintetgjordes som i U”),¹³ and also the one most similar to Heimskringla (“Stilen i Heimskringla, således som denne foreligger i det bedste hdskr., Kringla, svarer netop i al sin udførlighed til RW […]”).¹⁴ Friedrich Müller turned the discussion upside down in 1941. He agreed with Mogk’s conclusion, that U represented the most original version and that RTW was a revision of it. But in the same time as he agreed with Mogk’s conclusion his argument was exactly the opposite. He agreed, namely, with Finnur Jónsson that R had the best text, but for him this was an argument in favor of R’s secondary status – it had been improved during the revision of the original U text.¹⁵ All later scholars have basically repeated these arguments.¹⁶ To sum up: the Snorra Edda scholars do not agree which version is the best, and they anyway do not agree if that indicates it is older or younger. The traditional methods of determining the relationship between the versions have not been successful. If the problem of relationship should be solved we need stable starting point. We need analogies, cases of Old Norse texts in two versions where we know which version is older and which is the younger revision. We have several cases of sagas in two versions, such as Örvar-Odds saga, Gísla saga, and Harðar saga. But here the problem is the same as in Snorra Edda: scholars dispute which version is primary and secondary respectively. But there is at least one case that can be examined in this regard: Eiríks saga rauða. Eiríks saga rauða is extant in two medieval manuscripts, Skálholtsbók (S) and Hauksbók (H). Largely the two versions are quite close, but there are also sometimes marked differences. The scholars disputed for a long time over which version was the primary and secondary respectively – which version was a revision of the other. Sven B.F. Jansson solved the problem in 1944 by an examination of H. The saga is in H written by three different scribes, Haukr himself and the scribes called by the editors

12 Mogk 1879, p. 510. 13 Finnur Jónsson 1898, p. 335 14 Finnur Jónsson 1898, p. 347. 15 Müller 1941, pp. 25–30. 16 A typical example is Heimir Pálsson. In the introduction of his recent edition of U he repeatedly argues for the priority of U with categorical statements which are not supported by any arguments, such as: “it is definitely more likely that such numbering was added than that is was deleted” (Heimir Pálsson 2012, p. lxiii). No reason for this statement follows. Equally categorical is his argument against the possibility of shortening in U: “it is difficult to see any good reason for shortening in these cases” (ibid., p. xlviii).

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‘the 1st secretary’ and ‘the 2nd secretary’. This was known since long, but Jansson was able to show that in the sections written by 1st and 2nd Secretary the Hauksbók text is close to the Skálholtsbók text, while in the sections written by Haukr himself, but only there, the text of H is significantly different from that in S, and significantly shorter (on average about 75% of S length). This is an example from a part where the 1st secretary is the scribe in H, including the first mention in the saga of the female protagonist Guðríðr:¹⁷ Hauksbók (AM 544 4to) Guðríðr hét dóttir Þorbjarnar; hon var kvenna vænst ok hinn mesti skǫrungr í ǫllu athæfi sínu. Maðr hét Ormr, er bjó at Arnastapa; hann átti konu, er Halldís hét. Ormr var góðr bóndi ok vinr Þorbjarnar mikill, ok var Guðríðr þar lǫngum at fóstri með honum. Þorgeirr hét maðr; hann bjó at Þorgeirsfelli. Hann var auðigr at fé ok hafði verit leysingi. Hann átti son, er Einarr hét; hann var vænn maðr ok vel mannaðr; hann var ok skartsmaðr mikill. Einarr var í siglingum meðal landa, ok tóksk honum þat vel; var hann jafnan sinn vetr hvárt á Íslandi eða í Nóregi. Nú er frá því at segja eitt haust, þá er Einarr var á Íslandi fór hann með varning sinn út eptir Snæfellsstrǫnd ok vildi selja. Hann kemr til Arnastapa. Ormr býðr honum þar at vera, ok þat þiggr Einarr, þvíat þar var vinátta. Var borinn inn varningr hans í eitt útibúr. Einarr braut upp varning sinn ok sýndi Ormi ok heimamǫnnum ok bauð honum af at hafa slíkt, er hann vildi. Ormr þá þetta ok talði Einar vera góðan fardreng ok auðnumann mikinn. En er þeir heldu á varninginum, gekk kona fyrir útibúrsdyrrin. Einarr spurði Orm, hver væri sú hin fagra kona, er þar gekk fyrir dyrrin; ‘ek hefi eigi hana hér fyrri sét.’ Ormr svaraði: ‘Þat er Guðríðr, fóstra mín, dóttir, Þorbjarnar at Laugarbrekku.’ Einarr mælti: ‘Hon mun vera kostr góðr; eða hafa nǫkkurir menn til komit at biðja hennar?’ Ormr svarar: ‘Beðit hefir hennar víst verit, ok liggr þat eigi laust fyrir; finnsk þat á, at hon mun vera mannvǫnd ok svá faðir hennar.’

Skálholtsbók 557 4to Guðríðr hét dóttir Þorbjarnar; hon var kvenna vænst ok hinn mesti skǫrungr í ǫllu athæfi sínu. Maðr hét Ormr, er bjó at Arnarstapa; hann átti konu þá er Halldís hét. Ormr var góðr bóndi ok vinr Þorbjarnar mikill. Var Guðríð þar lǫngum at fóstri með honum. Maðr hét Þorgeirr er bjó at Þorgeirsfelli. Hann var vellauðigr at fé ok hafði verit leysingi. Hann átti son, er Einarr hét; hann var vænn maðr ok vel mannaðr ok skartsmaðr mikill. Einarr var í siglingu landa í milli ok teksk þat vel, var jafnan sinn vetr hvárt á Íslandi eða í Nóregi. Nú er frá því at segja eitt haust, er Einarr var út hér, at hann fór með varning sinn út eptir Snæfellsnesi ok skyldi selja. Hann kemr til Armarstapa. Ormr býðr honum þar at vera, ok þat þiggr Einarr, þvíat þar var vinátta við kørin. Varningrinn Einars var borinn í eitthvert útibúr. Einarr brýtr upp varninginn ok sýndi Ormi ok heimamǫnnum ok bauð Ormi slíkt af at taka sem hann vildi. Ormr þá þetta ok talði Einar vera góðan fardreng ok auðnumann mikinn. En er þeir heldu á varninginum, gekk kona fyrir útibúrsdyrnar. Einarr spurði Orm hver sú hin fagra kona væri, er þar gekk fyrir dyrnar; – ‘ek hefi hana ekki hér fyrr sét.’ Ormr svaraði: ‘Þat er Guðríð fóstra mín, dóttir Þorbjarnar bónda frá Laugarbrekku.’ Einarr mælti: ‘Hon mun vera góðr kostr, eða hafa nǫkkurir menn til komit at biðja hennar.’ Ormr svaraði: ‘Beðit hefir hennar víst verit, vinr, ok liggr eigi laust fyrir. Finnr þat á at hon mun bæði vera mannvǫnd ok faðir hennar.’

17 Bold in S marks text that is absent in H, italics in H marks text that is absent in S, underlining in both versions marks text with the same factual information but verbally different, double underlining in both versions marks factually different information.

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 Daniel Sävborg

The text in the two manuscripts is close to each other. The length is almost the same; the text in H consists of 269 words and the text in S of 267. The next quote comes from a part written by Haukr in the H manuscript, another important episode, describing the wedding of Karlsefni and Guðríðr and the departure to Vínland: Hauksbók (AM 544 4to) Eiríkr svaraði vel ok segir, at hon man sínum forlǫgum verða at fylgja, ok kvezk góða eina frétt af honum hafa; ok lauk svá, at Þorfinnr festi Þuríði, ok var þá aukin veizlan ok drukkit brullaup þeira, ok váru þau í Brattahlíð um vetrinn. VIII. kapítuli. Í Brattahlíð hófusk miklar umrœður, at menn skyldi leita Vínlands ins góða, ok var sagt, at þangat myndi vera at vitja góðra landskosta; ok þar kom, at Karlsefni ok Snorri bjuggu skip sitt at leita landsins um várit. Með þeim fór ok svá maðr, er Bjarni hét, ok annarr Þórhallr, er fyrr eru nefndir, með sínu skipi. Maðr hét Þorvarðr; hann átti Freydísi, dóttur Eiríks rauða laungetna; hann fór ok með þeim ok Þorvaldr, sonr Eiríks, ok Þórhallr, er kallaðr var veiðimaðr. Hann hafði lengi verit með Eiríki, veiðimaðr | hans um sumrum, en bryti um vetrum. Hann var mikill maðr ok sterkr ok svartr ok þursligr, hljóðlyndr ok illorðr, þat er hann mælti, ok eggjaði jafnan Eirík ins verra. Hann var illa kristinn. Honum var víða kunnigt í óbyggðum. Hann var á skipi með Þorvarði ok Þorvaldi. Þeir hǫfðu þat skip, er Þorbjǫrn hafði út haft. Þeir hǫfðu alls fjóra tigu manna ok hundrað, er þeir sigldu til Vestri-byggðar ok þaðan til Bjarneyjar. Þaðan sigldu þeir tvau dœgr í suðr. Þá sá þeir land ok skutu báti ok kǫnnuðu landit ok fundu þar hellur stórar, ok margar tólf álna víðar. Fjǫlði var þar melrakka. Þeir gáfu þar nafn ok kǫlluðu Helluland.

Skálholtsbók (AM557 4to) Eiríkr svarar, kvezk vel mundu undir taka hans mál, en kvað hana góðs gjaforðs verða – ‘er þat ok líkligt at hon fylgi sínum forlǫgum,’ þóat hon væri honum gefin ok kvað góða frétt af honum koma. Nú er vakit mál við hana, ok lét hon þat sitt ráð sem Eiríkr vildi fyrir sjá. Ok er nú ekki at lengja um þat, at þessi ráð tókusk, ok var þá veizla aukin ok gǫrt brullaup. Gleði mikil var í Brattahlíð um vetrinn. VIII. kapítuli. Á því léku miklar umrœður um vetrinn í Brattahlíð at þar váru mjǫk tǫfl uppi hǫfð ok sagnaskemmtan ok margt þat er til hýbýlabótar mátti vera. Ætluðu þeir Karlsefni ok Snorri at leita Vínlands, ok tǫluðu menn margt um þat. En því lauk svá at þeir Karlsefni ok Snorri bjǫggu skip sitt ok ætluðu at leita Vínlands um sumarit. Til þeirar ferðar réðusk þeir Bjarni ok Þórhallr með skip sitt ok þat fǫruneyti er þeim hafði fylgt. Maðr hét Þorvaldr. Hann var mágr Eiríks rauða. | Þórhallr var kallaðr veiðimaðr. Hann hafði lengi verit í veiðifǫrum með Eiríki um sumrum, ok hafði hann margar varðveizlur. Þórhallr var mikill vexti, svartr ok þursligr; hann var heldr við aldur, odæll í skapi, hljóðlyndr, fámáligr hversdagliga, undirfǫrull ok þó atmælasamr ok fýstisk jafnan hins verra. Hann hafði lítt við trú blandazk síðan hon kom á Grœnland. Þórhallr var lítt vinsælðum horfinn, en þá hafði Eiríkr lengi tal af honum haldit. Hann var á skipi með þeim Þorvaldi, þvíat honum var víða kunnigt í óbyggðum. Þeir hǫfðu þat skip er Þorbjǫrn hafði út þangat ok réðusk til ferðar með þeim Karlsefni, ok váru þeir flestir grœnlenzkir menn á. Á skipum þeira var fjórir tigir manna annars hundraðs. Sigldu þeir undan síðan til Vestribyggðar ok til Bjarmeyja; sigldu þeir þaðan undan Bjarneyjum norðanveðr; váru þeir úti tvau dœgr. Þá fundu þeir land ok reru fyrir á bátum ok kǫnnuðu landit ok fundu þar hellur margar ok svá stórar, at tveir menn máttu vel spyrnask í iljar. Melrakkar váru þar margir. Þeir gáfu nafn landinu ok kǫlluðu Helluland.

Snorra Edda and the Uppsala Edda 

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Here, the text is remarkably different in the two versions. There are relatively few factual discrepancies (mostly concerning names), but the text of H is much shorter, only 72 % of the text of S. It should be noted, that where there is a shift of scribe in H, the relation to S changes immediately, from one sentence to another. Jansson presents the only possible explanation for this: it is in H the revision takes place; the S version is thus the primary text, and the H version is a revision of this text.¹⁸ To test his hypothesis Jansson made a comparison with Fóstbrœðra saga. This saga is also found in H in a version which partially differs from the version in Möðruvallbók/Flateyjarbók. Here he found exactly the same tendency regarding H’s relation to the other main version: in the sections written by the 1st secretary the text is very close to the text of the MF and about as long as this, in sections written by Haukr the text is markedly different and much shorter (on average about 75% of its length). The comparison with Fóstbrœðra saga thus confirms Jansson’s conclusion about Eiríks saga: that H’s version pre-supposes a text that has been very close to S, that is: that H has a revised, secondary version of this saga.¹⁹ The conclusion seems inescapable, and all later scholars have accepted it. Here we thus have a sort of stable point. In over-simplified form we may say that in this case we know which version reworks the other. In the case of the wedding episode we have a heavily reworked text, and here we know that H is a reworking of the version represented of S. Our main question is what this analogy says about the relationship between U and RTW of Snorra Edda. Does it say, for example, that the U version must be a reworking of the RTW version because U is shorter than RTW and H, which we know is a reworking, is shorter than S? No, we can not draw that conclusion. Haukr certainly abbreviates, but the 2nd secretary, on the contrary, amplificates the text. Both types of revision obviously existed about 1300. Sometimes the H text is clearly better (for example the description of the size of the rocks, which is almost unintelligible in S) but sometimes inferior (for example the lack of concrete details in the winter scene in H, which makes it a pure summary). Neither length nor quality is a useful criterion for determining which version reworks the other. No, what the case of Eiríks saga rauða and its manuscript relations shows is something completely different. We remember that there were two different tendencies in the Hauksbók version of Eiríks saga regarding the relationship towards the Skálholtsbók version. There was one tendency of remarkable differences in length and wording (exemplified above by the wedding episode), and another tendency of a text very close to the S version (exemplified above by the first presentation of Guðríðr). Is there anything similar in the two versions of Snorra Edda? Several scholars have described the relationship between U and RTW as uniform and consistent. Finnur Jónsson decsribes U as “ensartet […] helt igennem”, in its rela-

18 Jansson 1944, p. 196 19 Jansson 1944, p. 257.

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 Daniel Sävborg

tion to RTW.²⁰ R.C. Boer speaks about U as “en gennemgående bearbejdelse af teksten” and also “en gennemgående forkortelse af omtrent hele teksten […]. Ændringerne går ikke overallt lige langt, men næsten overalt forekommer de.”²¹ D.O. Zetterholm speaks about “enhetligheten i U:s stil” in contrast to RTW,²² about an abbreviation “konsekvent i detalj” which concerns “inte bara vissa avsnitt” utan “i allmänhet”.²³ Henrik Williams also ascribes U a “konsekvent stil” with a reference to Zetterholm.²⁴ [all italicization is by me] This is, however, not correct. The relationship between U and RTW is not consistent, uniform, or the same in the whole Snorra Edda. There is a variation in the degree of correspondence between the two versions of Snorra Edda. We may quote the beginning of the episode about Hrungnir, again in both the R and U versions: R Nú skal enn segja dœmi af hverju kenni‹n›gar eru er nú váru ritaðar, er áðr váru eigi dœmi til sǫgð, svá sem Bragi sagði Ægi at ‘Þórr var farinn í Austrvega at berja trǫll, en Óðinn reið Sleipni í Jǫtunheima ok kom til þess jǫtuns er Hrungnir hét. Þá spyrr Hru‹n›gnir hvat manna sá er með gullhjálminn er ríðr lopt ok lǫg ok segir at hann á furðu góðan hest. Óðinn sagði at þar vill hann veðja fyrir hǫfði sínu at engi hestr skal vera jafngóðr í Jǫtunheimum. Hrungnir s[egir] at sá er góðr hestr, en hafa lézk hann mundu myklu stórfetaðra hest; sá heitir Gullfaxi. Hrugnir varð reiðr ok hleypr upp á hest sinn ok hleypir eptir honum ok hyggr at launa honum ofrmæli. Óðinn hleypti svá mikit at hann var á ǫðru leiti fyrir, en Hrungnir var í svá miklum jǫtunmóð at hann fann eigi fyrr en hann sótti inn of Ásgrindr. Ok er hann kom at hallardurum, buðu Æsir honum til drykkju. Hann gekk í hǫllina ok bað fá sér drykkju. Váru þá teknar þær skálir er Þórr var vanr at drekka ór, ok snerti Hrugnir ór hverri. En er hann gerðisk drukkinn þá skorti eigi stór orð. Hann lézk skyldu taka upp Valhǫll ok fœra í Jǫtunheima, en søkkva Ásgarði en drepa guð ǫll, nema Freyju ok Sif vill hann heim fœra með sér. En Freyja fór þá at skenkja honum, ok drekka lézk hann mun‹d›u alt Ása ǫl. En er

20 Edda (Finnur Jónsson 1931), p. xxxi. 21 Boer 1924, pp. 195 f. 22 Zetterholm 1949, p. 54. 23 Zetterholm 1949, p. 9. 24 Williams 2008, p. 86.

U Nú skal segja af hverju þær kenningar eru er áðr eru dœmi sǫgð. Svá sagði Bragi at ‘Þórr var farinn í Austrveg at berja trǫll, en Óðinn reið Sleipni í Jǫtunheima ok kom til jǫtuns þess er Hrungnir hét. Hrungnir spyrr hvat manna sá sé er ríðr lopt ok lǫg með gullhjálminn, sagði at hann átti furðu góðan hest. Óðinn segir at þar fyrir vill hann veðja hǫfði sína at engi hestr skal jafngóðr með jǫtnum. Hrungnir segir at sá er góðr hestr, en hafa lézk hann mundu myklu sterkara hest. Sá heitir Gullfaxi. Hrugnir varð reiðr Óðni, hleypr nú upp á hest sinn ok hyggr at taka Óðin ok launa honum ofryrði sín. Óðinn hleypir svá mikinn fyrir at hann var á ǫðru leiti fyrir, en Hrungnir hafði [so also in WT] svá mikinn móð at eigi fann hann hvar hann fór fyrri en hann kom [so also in T] inn um Ásgrindr. En er hann kom at hallardyrum, buðu Æsir honum til drykkju. Hann gekk í hǫllina ok bað fá sér at drekka [so also in WT]. Váru teknar þær skálir er Þórr var vanr at drekka af, ok svelgr Hrungnir af hverri ok nú gerisk hann drukkinn. Skorti þar eigi stór orð. Hann lézk mundu taka upp Valhǫll ok fœra í Jǫtunheima, en søkkva Ásgarði ok drepa guðin ǫll, nema Freyju ok Sif. Þær vill hann hafa [so also in WT] með sér. Freyja ein þorir [ein þorir also in WT] at skenkja honum, ok

Snorra Edda and the Uppsala Edda 

R Ásum leiddisk ofrefli hans þá nefna þeir Þór. Því næst kom Þórr í hǫllina ok hafði uppi á lopti hamarinn ok var allreiðr ok spyrr hverr því ræðr er jǫtnar hundvísir skulu þar drekka, eða hverr seldi Hrungni grið at vera í Valhǫll eða hví Freyja skal skenkja honum sem at gildi Ása. Þá svarar Hrungnir ok sér ekki vinaraugum til Þórs, sagði at Óðinn bauð honum til drykkju ok hann var á hans griðum. Þá mælir Þórr at þess boðs skal Hrungnir iðrask áðr hann komi út. Hrungnir segir at Ásaþór er þat lítill frami at drepa hann vápnlausan; hitt er meiri hugraun ef hann þorir berjask við hann at landamæri á Grjótúnagǫrðum. ‘Ok hefir þat verit mikit fólskuverk,’ sagði hann, ‘er ek lét eptir heima skjǫld minn ok hein. En ef ek hefða hér vápn mín þá skyldu vit nú reyna hólmgǫnguna. En at ǫðrum kosti legg ek þér við níðingsskap ef þú vill drepa mik vápnlausan.’ Þórr vill fyrir øngan mun bila at koma til einvígis er honum var hólmr skoraðr, þvíat engi hefir honum þat fyrr veitt.’ (GKS 2367 4to, 22v–23r)

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U drekka lézk hann mundu allt ǫl Ása. En er Ásum leiddusk ofryrði [so also in WT] hans þá nefna þeir Þór. Ok því næst kemr Þórr í hǫllina ok hefir á lopti hamarinn ok var allreiðr ok spurði hverr því réði er jǫtunn hundvíss skal þar drekka, eða hverr seldi Hrungni grið at vera í Valhǫllu eða hví Freyja skal skenkja honum sem at gildi Ása. Þá svarar Hrungnir ok leit eigi vinaraugum til Þórs, segir at Óðinn bauð hánum ok lézk vera á hans griðum. Þá segir Þórr at þess boðs skal hann gjalda áðr hann komi út. Hrungnir segir at Ásaþór er þat lítill frami at drepa hann vápnlausan; ‘hitt er meiri raun ef hann þorir at berjask við mik at landamæri á Grjótúnagerði.’ ‘Ok hefir þat verit mikil fólska, er ek lét heima eptir skjǫld minn ok hein. En ef ek hefða hér vápn mín þá skyldi nú reyna hólmgǫngu. En at ǫðrum kosti legg ek þér við níðingsskap ef þú villt drepa mik vápnlausan.’ Þórr vill fyrir øngan mun bila at koma til einvígis er honum var hólmr skoraðr, þvíat engi hafði honum þat fyrri veitt.’ (Gr 38–39)

In this case we have approximately the same length in both versions (U 431 words, R 427; U is thus 101 % of the length of R). The wording is close with just a slight and insignificant variation. In short: we have here an entirely different tendency than the one we found in the relation between the two versions in the case of the Skaldic mead episode. Especially one should note the contrast regarding length: in the Skaldic mead episode U is 43 % of the length of R; in the Hrungnir episode U is 101 % of the length of R. It is not a new observation that the type of relationship between the two versions of Snorra Edda is different on different places in the work. In 1879 Eugen Mogk noted and discussed the fact that U’s relation towards RW is of different kinds and that these different types of relation are found on different places. Mogk singled out three different types of sections: 1. 2.

Sections where RW has text which is not found in U (“In x finden sich wörter, ja ganze sätze, welche in A nicht stehen”).²⁵ Sections where U says the same as RW but with fewer or different words (“A gibt mit weniger und nicht selten anderen worten dasselbe wie x wider”).²⁶

25 Mogk 1879, p. 500. 26 Mogk 1879, p. 501.

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3.

 Daniel Sävborg

Sections where U relates to RW as one of these relates to the other (“Die hs. A verhält sich zu BC wie eine dieser hss. zur anderen”).²⁷

Basically Mogk is right, although 1 and 2 rather seem to constitute the same tendency. The tendency of 1 and 2 is what we find in the Skaldic mead episode, and the tendency of 3 is what we find in the Hrungnir episode. This is a very important observation by Mogk, which is surprisingly enough relatively unknown in Snorra Edda scholarship. The famous tendency – where U is remarkably different from RTW in both style and length  – is certainly characteristic for most parts of Snorra Edda, but it is not the only tendency. There are several episodes where the texts of the two versions are very close to each other. Apart from Hrungnir episode, one could mention famous stories such as the Geirrøðr episode, the episode about the binding of the Fenrisúlfr, etc. Several other scholars have certainly noted that there is a variation in the degree of difference between U and RTW. They have provided different explanations for the variation. Finnur Jónsson explains it with tiredness of the scribe at the end of work; the last episodes in U are, according to him, “forkortede, for nu lakkede det mod slutningen af arbejdet.”²⁸ R.C. Boer claims that a section’s relevance for the context determines the degree of difference (for him: the degree of shortening in U). He claims, for example, that the Prologue is more abbreviated than most other sections because its lack of relevance.²⁹ Heimir Pálsson argues that only the sections where the two versions are close to each other (like the Hrungnir episode) go back to a common source; the other ones, like Skaldic mead episode, are “far too different” to have a common written source. Instead he claims they just have a general background in the same oral tradition.³⁰ For Eugen Mogk the character of the section determines the type of relation of the two versions. The sections where U and RW are close to each other consist, according to him, of “Aufzählungen und Erklärungen”, which were not possible to change for a scribe, while those sections where U and R are different consist of narratives, where the scribe was more free to give his own stamp.³¹ What support do these explanations have? Finnur Jónsson’s explanation about tiredness at the end of work does not explain why so many earlier sections in U are equally much shorter than the RTW text. Boer’s explanation is based on the assumption the Prologue is especially shorter in U in relation to RTW than other sections. This is, however, not correct. In the Prologue U is 58 % of the length of R. In many cases the difference between the versions is much larger although the contextual relevance rea-

27 Mogk 1879, p. 501. 28 Edda (Finnur Jónsson 1931), p. 320. 29 Boer 1924, p. 196. 30 Heimir Pálsson 2009, p. 371; cf. Heimir Pálsson 2012, pp. lv–lvi. 31 Mogk 1879, p. 501.

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sonably was great. This is true for example in the case of the story about the Skaldic mead in a work mainly about skaldic poetry. In this episode U is 43 % of the length of R. Heimir Pálsson’s explanation is based on the assumption that remarkable difference in length and wording between two versions must mean that they cannot have a common written source. But this is beyond any doubt refuted by the evidence of Eiríks saga rauða in Hauksbók. We should remember the episode about the wedding and the departure quoted above. Here the differences in wording between the two versions are larger than between the two versions of the Skaldic mead episode in Snorra Edda (also quoted above), and the difference in length is almost as remarkable. Mogk’s explanation is based on the assumption that the texts of the versions are close only in a section with lists and explanations, while we meet the differences in the narrative sections. This is, however, not correct. There are sections with lists and explanations where the U and RTW versions are very different,³² and there are several narrative episodes where U and RTW have a similar text (like the Hrungnir episode, quoted above). None of these explanations is thus valid. What is then the reason of the variation in the degree of correspondence between the versions? Before we try to explain this we should look at how the change from one type of relationship to another takes place. We should also examine if the change between the two tendencies is arbitrary or if there are patterns. When we look at the episodes as wholes we find that the whole episode of Skaldic mead is remarkably shorter and has a remarkably different verbal form in U than in RTW, and the whole episode of Hrungnir has a similar verbal form in U and in RTW. There is a throughout tendency regarding the degree of correspondence between the versions within every episode. In short: the two different tendencies of relationship are clear, and the two different tendencies are separated. There is no sliding scale of difference, no successive change. There are no occasional strains of remarkable differences in the texts with a similar tendency. This makes it necessary to examine how the change between the tendencies takes place. The section in Gylfaginning which describes the wolves hunting the sun is an example of a section where the two versions are remarkably different. The section that tells of Bifröst is an example of a section where two versions are very close to each other. These two sections follow after each other; they are separated only through a short quote from Völuspá. We should note that there is no difference in general thematic between the two sections – both tell of elements in the recently created world. This is how the sun-hunters section and the beginning of the Bifröst section look like in U and R:

32 See for example Edda (Finnur Jónsson 1931), pp. 16–19.

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R Þá mælti Gangleri: ‘Skjótt ferr sólin ok nær svá sem hon sé hrædd, ok eigi mundi hon þá meir hvata gǫngunni at hon hræddisk bana sinn.’ Þá svarar Hár: ‘Eigi er þat undarligt at hon fari ákafliga. Nær gengr sá er hana sœkir, ok øngan útveg á hon nema renna undan.’ Þá mælti Gangleri: ‘Hverr er sá er henni gerir þann ómaka?’ Hár segir: ‘Þat eru tveir úlfar, ok heitir sá er eptir henni ferr Skoll. Hann hræðisk hon, ok hann mun taka hana, en sá heitir Hati Hróðvitnisson er fyrir henni hleypr, ok vill hann taka tunglit, ok svá mun verða.’ Þá mælti Gangleri: ‘Hver er ætt úlfanna?’ Hár segir: ‘Gýgr ein býr fyrir austan Miðgarð í þeim skógi er Járnviðr heitir. Í þeim skógi byggja þær trǫllkonur er Járviðjur heita. In gamla gýgr fœðir at sonum marga jǫtna ok alla í vargs líkjum, ok þaðan af er[u] komnir þessir úlfar. Ok svá er sagt at af ættinni verðr sá einn mátkastr er kallaðr er Mánagarmr. Hann fyllisk með fjǫrvi allra þeira manna er deyja, ok hann gleypir tu[n]gl ok støkkvir blóði himin ok lopt ǫll. Þaðan týnir sól skini sínu, ok vindar eru þá ókyrrir ok gnýja heðan ok handan. Svá segir í Vǫluspá:’ (206 words)

U Þá mælti Gangleri: ‘Skjótt ferr sólin sem hon sé hrædd.’ Þá svarar Hár: ‘Nær gengr sá er hana leiðir. Úlfar tveir gera þat: Skoll ok Hatti Hróðrvitnisson.’ Þá mælti Gangleri: ‘Hver er ætt úlfanna?’ Hár segir: ‘Gýgr ein býr fyrir austan Miðgarð í skógi þeim er Járnviðr heitir, ok svá heita þær tröllkonur er þar byggja. Gamla trǫllkona er móðir margra jǫtna ok allir í vargs líkjum. Þaðan kom Mánagarmr. Hann fylltisk með fjǫrvi feigra manna ok gleypir tunglit, en støkkvir blóði himininn. Þá týnir sól skini sínu. Svá sem hér segir:’ (91 words=44 %)

[Two stanzas from Völuspá] [Two stanzas from Völuspá] Þá mælti Gangleri: ‘Hver er leið til himins af jǫrðu?’ Þá svarar Hár ok hló við: ‘Eigi er nú fróðliga spurt. Er þér eigi sagt þat at guðin gerðu brú til himins af jǫrðu, ok heitir Bifrǫst? Hana muntu sét hafa, kann vera at þat kallir þú regnboga. Hon er með þrim litum ok mjǫk sterk ok ger með list ok kunnáttu meiri en aðrar smíðir. Ok svá sem hon er sterk, þá mun hon brotna þá er Muspells megir fara ok ríða hana, ok svima hestar þeira yfir stórar ár. Svá koma þeir fram.’ Þá mælti Gangleri: ‘Eigi þótti mér goðin gera af trúnaði brúna, er hon skal brotna mega, er þau megu gera sem þau vilja.’ Þá mælti Hár: ‘Eigi eru goðin hallmælis verð fyrir þessa smíð. Góð brú er Bifrǫst, en engi hlutr er sá í þessum heimi er sér megi treystask þá er Muspells synir herja.’ (150 words) (GKS 2367 4to, 3v–4r)

[Red heading: Hér segir frá Bifrǫst.] Þá spyrr Gangleri: ‘Hver er leið til himins af jǫrðu?’ Hár segir hlæjandi: ‘Eigi er nú fróðliga spurt. Er eigi þat sagt er goðin gerðu brú af jǫrðu til himins, er heitir Bifrǫst? Hana muntu sét hafa, kann vera at þú kallir hana regnboga. Hon er með þrim litum ok mjǫk sterk ok ger með mikilli list, meiri en aðrar smíðir. En svá sterk sem hon er, þá mun hon brotna þá er Muspells megir fara at ríða hana, ok svima hestar þeira yfir stórar ár. Svá koma þeir fram ferðinni.’ Þá segir Gangleri: “Eigi þóttu mér goðin gera hana af trúnaði, er hon skal brotna, ok megi þau þó gera sem þau vilja.” Þá segir Hár: ‘Eigi eru goðin ámælis verð at þessi smíð. Góð brú er Bifrǫst, en engi hlutr er sá í þessum heimi er sér megi treystask þá er Muspells megir herja.’ (146 words = 97 %) (Grape 7–8)

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The text before the Völuspá quote is of the same kind as the Skaldic mead episode regarding the relationship between the two versions. The U and RTW versions are verbally different from each other and U is remarkably shorter, only 44 % of R (cf. 43 % in Skaldic mead episode). The text after the Völuspá quote is, on the other hand, of the same kind as the Hrungnir episode regarding the relationship. The U and RTW versions are verbally close to each other and approximately equally long; U is more than 97 % of R (cf. 101 % in Hrungnir episode). Exactly here is a point of change. Exactly here is a shift from one tendency to another, from one type of relationship to a totally different one. The shift is sudden, abrupt. To summarize: the tendency regarding the relationship between the two versions changes totally from one type of relation to another at clear, specific occasions. Let us return to the question how we should explain the two different tendencies regarding the relationship between the U and RTW versions. The four scholars mentioned above explained it through tiredness at the end of work, different sources, texts of different character and texts of different relevance. But against these explanations speaks the fact that we found the same kind of variation between different types of relationship between the versions also in Hauksbók, and there it had an entirely different explanation. In Eiríks saga rauða the variation is caused by the fact that more than one scribe/redactor is responsible for the transmission in Hauksbók. There, the variation similar/different exactly corresponds to the shift of scribe. There are clear similarities in the variation between the two tendencies in U/RTW in the case of Snorra Edda and in H/S in the case of Eiríks saga rauða. In both cases the tendencies are consequent and separated  – one with basic similarity in length and wording, another with large difference regarding lengths and wording. In both cases the shift from one tendency to the other is sharp. The similarities between the Eiríks saga rauða case and the Snorra Edda case makes it reasonable to propose a hypothetical explanation, namely that the change in degree of correspondence between the versions in the case of U/RTW has the same explanation as in the case of H/S. That is: that the two tendencies regarding the relationship of U towards RTW are caused by the work of different redactors in different sections. There is certainly only one scribe in U and one in R, against three in H. But U or R may well be copies of manuscripts where the revision took place. In H the three scribes used throughout their own individual tendency in relationship to the original, represented by S, which is clearly shown by the percentage relationship towards the corresponding sections in S. The sections written by Haukr are throughout abbreviated. The sections written by the 2nd secretary are throughout a little bit longer. The sections written by the 1st secretary are throughout approximately of similar length. Every scribe is fairly consequent; his tendency thus characterizes the whole section he has written. A figure over Eiríks saga rauða in H might clarify this. It is divided into four parts, where the first is written by the 1st secretary, the second and fourth by Haukr, and the third by the 2nd secretary. Extra bold type marks a text which is 98–120 % of the length

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of S and close to it; underlining marks a text which is 71–94 % of the length of S and different from it. In brackets the number of words in S and H respectively is given in each case. – – – – – – –

Chapter 1 (335/340) H 101 % of S Chapter 2 (485/494) H 102 % of S Chapter 3 (946/924) H 98 % of S Chapter 4 (910/952) H 105 % of S Chapter 5 (930/940) H 101 % of S Chapter 6 (795/832) H 105 % of S Chapter 7 (main part) (414/463) H 112 % of S

– –

Chapter 7 (the last lines) + ch. 8 (1046/741) H 71 % of S Chapter 9 + the first lines of ch. 10 (281/241) H 86 % of S

– – –

Chapter 10 (main part) (217/226) H 104 % of S Chapter 11 (735/849) H 115 % of S Chapter 12 + the first words of ch. 13 (332/397) H 120 % of S

– –

Chapter 13 (327/256) H 78 % of S Chapter 14 (90/85) H 94 % of S

What the figure shows is the pattern of blocks. Scribe/redactor and relative length towards S correspond. This means that the degree of similar-different relation in H towards S create blocks in the same way as the scribal hands, and that they change when the scribal hands change. How it is then in Snorra Edda? Nobody has so far seen, or searched for, a pattern in the variation between similar-different text in U/RTW. If the two tendencies in the relationship between U/RTW are to be explained by the work of different redactors in different sections, then we should find a similar pattern here too. Are there any signs that the two tendencies regarding the relationship between the U and RTW versions create a pattern of larger blocks in this way? Is there a pattern at all, or do the two types of relationship change back and forth? Here is a figure with all the narrative sections in Snorra Edda in the order they have in U.³³ Extra bold type marks sections where the text is 89–100 % of R and verbally close to it. Double underlining marks sections where the text is 23–85 % of R and remarkably different from it. In brackets the number of words in R and U respectively is given in each case.

33 I confine myself to the prose in the narrative sections. The verse quotes, the headings and the didactic parts (kenning and heiti lists etc.) are not included in the statistics, neither are such sections noted in the list above.

Snorra Edda and the Uppsala Edda 

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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The Prologue (1721/1007) U 58 % The frame narrative about Gylfi (344/236)U 69 % The creation (1958/1245) U 63 % Bifröst (150/146) U 97 % Ásgarðr and environs (1193/1142) U 96 % The Æsir (1498/1463) U 98 % Loki and his family (1158/1149) U 99 % The Ásynjur (522/465) U 89 % Freyr and Gerðr (434/147) U 34 % Valhöll (652/440) U 67 % The wind (71/47) U 66 % The Giant masterbuilder (603/400) U 66 % Skiðblaðnir (134/99) U 74 % Þórr and Útgarðaloki (3492/2190) U 63 % Þórr and Hymir (630/299) U 47 % Baldr’s death (1251/587) U 47 % Loki’s punishment (522/334) U 64 % Ragnarök (1071/683) U 64 % The frame narrative about Gylfi (the end) (188/58) U 31 % The frame narrative about Ægir and Bragi (165/59) U 36 % Þjazi (828/393) U 47 % The skaldic mead (916/391) U 43 % Hrungnir (1067/1971) U 100 % Geirrøðr (570/568) U 100 % Hjaðningavíg (384/357) U 93 % The dwarf smiths (716/712) U 99 % Otrgjöld (548/498) U 91 % Fáfnir and the gold (144/33) U 23 % Hrólfr kraki (756/642) U 85 % Grotti (344/80) U 23 %

The result is clear. There is a pattern. There is no arbitrary variation between the sections regarding the degree of correspondence of the two versions. They come in blocks: first 3 sections with remarkable difference between the U and RTW versions and where U is much shorter, then 5 sections with a great similarity and approximately the same length, then 14 sections with remarkable difference again, where U is much shorter, then 5 sections with great similarity and similar length, and at last 3 sections with difference again, where U is much shorter. The pattern is so clear that it cannot be coincidental. The similarity with the figure for Eiríks saga rauða in Hauksbók is clear. I wish to claim that the explanation is the same in both cases. The different tendencies in relationship between the two versions of Snorra Edda is caused by the fact that different redactors, at least two, have worked

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 Daniel Sävborg

with different sections; one copies his original quite faithfully, the other one reworks it considerably. Which version is then closest to the original version of Snorra Edda, U or RTW? This is the core question for this article, as it has been for scholarship since the middle of the 19th century. Here my new observations and conclusions give new possibilities of solving the problem. Two things are important to note: 1.

2.

The RTW and U versions have generally their own distinctive style, one distinctive style in RTW and another in U, which we could see in for example the two versions of the Skaldic mead episode; it is not only a matter of a relative difference in length. The sections with a similar text in RTW and U must bear witness of the shape of a common source; thus these sections provide us with knowledge about the shape of the common source of the U and RTW versions of Snorra Edda.

Together, this gives us a tool to solve the old problem of which of the two versions that best represents the common source. We may look at the sections with similar text in RTW and U – that is: those texts which bear witness of the common source – and see which of the two distinctive styles we have there; that style must reasonably be the distinctive style of the common source. We remember the characteristics of the distinctive styles of RTW and U respectively. The distinctive style of RTW consists of a rather broad narrative technique, a fondness for concrete details, a lot of factually irrelevant information and digressions which only serve the purpose of a graphic and vivid narrative, a tendency to elaborate narration about each step of the story, and a tendency to develop single motifs into small scenes or narratives. The distinctive style of U is characterized by a condensed style, a tendency to mention only those facts that are important for the plot or the purpose of explaining kennings etc., and a panoramic narrative technique that rather gives a survey of the main events. Which style do we find in the sections where RTW and U are close to each other? As an example we may look at the Hrungnir episode, as we remember an episode where the two versions are close to each other. Here, the style is the same in the two versions. Is this the distinctive style of RTW or the distinctive style of U? The episode is full of concrete details which lack all relevance for the plot (for example facts about Óðinn’s helmet, Hrungnir’s horse, and the distance between them; facts about the drinking bowls in Ásgarðr, the exact size of the clay giant etc.), as well as information in general and whole episodes without such relevance (such as the Hrungnir’s hunting of Óðinn, the whole stories about the clay giant, the völva, and the adventure about her husband). The purpose of the plot is specifically mentioned in the introduction: to explain some kennings, mainly connected with Þórr. Nothing of the information mentioned above has any relevance for that purpose. The narrative technique is broad, where most motifs are developed in vivid scenes, for example the meeting

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between Óðinn and Hrungnir, the drinking scene in Ásgarðr, Þórr lying under the feet of Hrungnir etc. Each step in the narrative is developed. This is not a panoramic summary of those events and details necessary to explain some kennings listed. This is the distinctive style of RTW. This is not the distinctive style of U. And this is the general tendency for the sections where U and RTW have a similar text. These episodes all use the distinctive style of RTW – never the distinctive style of U. Since these episodes, as we have seen, reasonably bear witness of the common source, this result is important. The conclusion must be that the RTW version represents the common source of U and RTW. The U version is a reworking of a text that was close to the RTW version. The reworking is made by at least two redactors, of whom one copies the original faithfully and the other reworks it considerably. This conclusion has several consequences. The factual discrepancies in U from the text in RTW should usually be interpreted as unintended changes due to the reworking of the text. There is thus no reason to believe that U contains material older than RTW, or that it can be seen as an independent source for Old Norse mythology.

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 Daniel Sävborg

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Dieter Strauch

Snorri Sturluson und der isländische Weg zum Schatzland Norwegens Abstract: Kings of Norway had used their power on Iceland from the tenth century onwards and tried to introduce Christianity to the island towards the end of that century. Moreover, they regulated the mutual rights of Icelanders in Norway and the rights of Norwegians in Iceland by law. Then they tried to gain political influence over the island with the support of the bishops who promoted Icelandic submission to the crown, but the Icelanders rejected all these attempts. Snorri, as a member of the Sturlung kindred, was highly educated and had gained great wealth by marriage and politics. In 1218 he visited Norway, became a member of the king’s household and promised all his influence to bring about Iceland’s submission. However, he didn’t really do anything to achieve this aim after returning home. In 1238, during his second journey to Norway, in 1237–39, the Sturlung family was defeated in the battle at Ǫrlygsstaðir in Iceland. Snorri wished to return home as soon as possible, but the Norwegian king forbade him to travel. When Snorri went home regardless, the king banished him for disobeying the king’s order as a member of his household, and additionally sent Gizurr Þorvaldsson, Snorri’s former son-in-law, to arrest him. In 1241 Gizurr found Snorri at home and murdered him. Later, the king of Norway made a new effort to bring Iceland to heel, one which culminated in the treaties of 1262 and 1264. The Norwegian laws Jarnsiða (1270/71) and Jónsbók (1280/81) were later introduced to Iceland, but the Icelanders largely succeeded in remaining legally independent by keeping the Allþing as their law-making institution. Otherwise the administration of Iceland remained firmly in the hands of the king of Norway, who appointed governors and later even leased this position to the highest bidder, thus promoting the exploitation of Icelanders. After uniting Norway and Denmark in 1250, the Danish king Christian I put an end to this deplorable state of affairs by amending the law. Anybody who wished to trade with Iceland now had to pay a tax, named seckia giolld ‘sack-money’, whilst the governors of Iceland were put in charge of both this trade and the tax. The Icelanders first exported mainly wool and cloth and later stockfish and fish-oil, although, since the Icelanders scarcely had merchant ships of their own, this trade was now in the hands of merchants from the Hanseatic League and England.

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 Dieter Strauch

I Früher Einfluss Norwegens auf Island König Harald Schönhaar (860–930) konnte zwar die Norweger nicht hindern, seiner Steuerpolitik wegen nach Island auszuwandern, aber er versuchte dennoch, sich dagegen zu wehren, indem er ihnen Zoll oder Hafenabgaben (landaurar) auferlegte, wenn sie norwegische Häfen anliefen oder verließen,¹ indem er ihnen drohte, die Schifffahrt nach Island abzubrechen und indem er auch sonst versuchte, seinen Einfluss geltend zu machen. Er entsandte Uni Garðarsson nach Island und versprach ihm, ihn zum Jarl der Insel zu machen, wenn er Island unterwerfe.² Der Versuch mißlang. Die Landnámabók berichtet auch, dass die frühen Siedler in Island sich zu viel Land genommen hätten. König Harald schlichtete den Streit mit späteren Siedlern dahin, niemand solle mehr Land in Besitz zu nehmen, als er an einem Tag mit Feuer umfahren könne.³ Nachdem bereits König Olaf Tryggvason (995–1000) für die Annahme des Christentums auf Island geworben hatte, die dann im Jahre 1000 erfolgte, sorgte König Olaf der Heilige (1015–28) (wahrscheinlich um 1016) dafür, dass die Zugeständnisse an die Heiden, die den Beschluss des Jahres 1000 ermöglicht hatten (Kindesaussetzung, Pferdefleischessen und heimliche heidnische Opfer) durch Gesetz beseitigt wurden.⁴ Weiter noch reichte das Abkommen, das dieser König um 1022 mit den Isländern schloss. Es ist in die Nachträge des Königsbuchs der Grágás (1 b, c. 247, 248) aufgenommen worden⁵ und regelt in Kapitel 247 das Recht des Norwegerkönigs auf Island, in Kapitel 248 das Recht der Isländer in Norwegen. In Norwegen galt nach Kapitel 200 Gulaþingslag⁶ bereits frühzeitig der Rechtssatz, dass Isländer, die sich auf Kauffahrt in Norwegen aufhielten, Wergeld und Buße eines Odalsbauern (hauldr) erhalten sollten.⁷ Hatten sie sich aber drei Jahre im Lande aufgehalten, sollte ihnen die Buße zustehen, die ihnen nach Geburt und

1 Íslendingabók/Landnámabók (Jakob Benediktsson 1968), 1, S. 5 f. = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S. 44; vgl. Olafs saga (Munch / Unger 1853), c. 54 und 239; Kreutzer 1994, S. 445 ff.; Berlin 1910, S. 13. Snorri stellt Harald in seiner Heimskringla recht positiv dar (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 1, S. 94–118); von einer Vertreibung nach Island ist nicht die Rede (vgl. Kreutzer 1994, S. 451 ff.). 2 Íslendingabók/Landnámabók (Valdemar Ásmundarson 1891), S.  176 f. = Íslendingabók/Landnámabók (Jakob Benediktsson 1968), 1, 2, S. 299 = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S. 130 f.; vgl. Maurer 1874, S. 118. 3 Íslendingabók/Landnámabók (Jakob Benediktsson 1968), 1, 2, S.  337 = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S. 142; vgl. Strauch 2011, S. 215. 4 Olafs saga (Munch / Unger 1853), c. 44, 46 und 113; Íslendingabók/Landnámabók (Jón Sigurðsson 1843), c. 7 = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S. 50; vgl. Maurer 1874, S. 83. 5 Grágás (Finsen 1852), 1 b, S.  195–197 = Graugans (Heusler 1937), S.  418–421; NGL 1, S.  437 f.; DI 1, 16, S. 54; 21, S. 64–70; vgl. Maurer 1874, S. 119; Maurer 1907, S. 366 ff.; Berlin 1910, S. 252 (Anm. 9). 6 Gtl c. 200 (NGL 1, S. 71 = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 125). 7 Zum Begriff des hauldr (höldr) vgl. Maurer 1889, S. 169–207; Boulhosa 2005, S. 80–85.

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Beruf zukam.⁸ Da die Isländer Standesunterschiede überhaupt nicht kannten, liegt darin ein besonderes Privileg, das andere Ausländer (die nach dem Recht der niederen Bauern behandelt wurden) nicht erhielten. Auch das Weistum, das Bischof Gizurr um 1083 abgegeben haben soll,⁹ und das in die Kapitel 247 und 248 der Konungsbók eingegangen ist, erwähnt dieses Privileg. Er bezieht sich dafür ausdrücklich auf König Olaf den Heiligen.¹⁰ Reisten Isländer nach Norwegen, so waren sie zwar von Zoll und Steuern befreit, mussten aber das Landgeld (landaurar) und den Lohn für die Wachen in den Städten zahlen. Dieses Landgeld war ursprünglich – wie berichtet  – eine Abgabe gewesen, die Harald Schönhaar den auswandernden Norwegern auferlegte, weil er den Bevölkerungsschwund in Norwegen verhindern wollte.¹¹ Olaf der Heilige setzte das Landgeld auf eine halbe Mark oder Waren gleichen Wertes fest und forderte es von allen Männern, die zwischen Island und Norwegen fuhren. Fällig wurde die Abgabe, wenn das isländische Schiff den Anker warf oder am Lande festmachte.¹² Wer bereits auf den norwegischen Schatzinseln Hjaltland (Shetland) oder den Orkneys Landgeld bezahlt hatte, brauchte es in Norwegen nicht nochmals zu entrichten.¹³ Wurde der Schiffer jedoch lediglich nach Norwegen verschlagen¹⁴ oder hatte er auf See so viel Gut verloren, dass er das Landgeld nicht mehr aufbringen konnte, sollte er von der Zahlung befreit sein.¹⁵ Zahlungspflichtig waren nur freie volljährige Männer, die freilich gesund und kräftig, dazu reich genug sein sollten, um das Landgeld aufzubringen. Frauen durften nur einreisen, wenn sie ihren Mann, Vater, Bruder oder Sohn begleiteten und drei Mark besaßen. Dagegen sollten Arme überhaupt nicht nach Norwegen reisen, denn es wird dem König Harald Harðráði (1047–1066) als Verdienst angerechnet, dass er 1056 während einer isländischen Hungersnot den Armen erlaubte, nach Norwegen zu reisen, wenn sie für ihren Reiseproviant sorgen konnten.¹⁶ Das Privileg gestand den Isländern auch das Recht zu, eine in Norwegen anfallende Erbschaft anzutreten, wenn sie mit dem Erblasser zumindest im dritten gleichen Grade, also als Nachgeschwisterkinder, verwandt waren. Dabei wurden Männer

8 Vgl. Maurer 1907, S. 366. 9 Grágás (Finsen 1852), 1 b, c. 248 (hier: S. 197) = Graugans (Heusler 1937), S. 420 f. 10 Grágás (Finsen 1852), 1 b, c. 248 (Graugans (Heusler 1937), S. 419–421); DI 1, 21, S. 64–70. 11 Íslendingabók/Landnámabók (Kongelige Nordiske Oldskriftselskab 1891), c. 1 = Íslendingabók/ Landnámabók (Jakob Benediktsson 1968), 1, 1, S. 5 = Islands Besiedelung (Baetke 1928), S. 44. 12 DI 1, 21, S. 65 f. (§ 3); vgl. Maurer 1907, S. 368. 13 DI 1, 21, S. 66 (§ 8). 14 DI 1, 21, S. 67 (§ 12). 15 DI 1, 21, S. 67 (§ 11); vgl. Boulhosa 2005, S. 71, die alle diese Wohltaten als Mittel zur Kontrolle der Isländer ansieht, wobei sie sich auf Jóhannesson 1956, S. 136 und Stein-Wilkeshuis 1986, S. 44 beruft. 16 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 3, c. 36 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 3, S. 104. Harald harðráða (geb. 1915, Sohn von Sigurd II. Syr, des Unterkönigs von Ringerike, Hordafylke und Romerike, Halbbruder Olavs des Heiligen), norwegischer König 1047–66 (gefallen bei Stamfordbridge in England).

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 Dieter Strauch

und Frauen gleichbehandelt.¹⁷ Wichtig war auch die Vorschrift, dass den Isländern in Norwegen freier Gebrauch von Wasser und Holz zustand, wenn sie es aus Königswäldern nahmen. Das war kaum eine Beschränkung, weil dem König damals bereits alle Allmenden gehörten.¹⁸ Gegenüber diesen Freiheiten gab der König jedoch seinen staatlichen Interessen den Vorrang, indem Isländer nicht heimreisen durften, wenn ein feindlicher Einfall drohte. Dann sollten sie sogar mithelfen, Norwegen innerhalb seiner Grenzen zu verteidigen.¹⁹ Den Rechten der Isländer in Norwegen stand auch ein Recht des norwegischen Königs in Island gegenüber: In Grágás I b, Kapitel 247, heißt es, seine Klagen in Island bedürften keiner Vorladung.²⁰ Der König oder sein Bevollmächtigter konnte also vor einem isländischen Gericht erscheinen und sofort eine Klage gegen jemanden erheben, ohne ihn vorher geladen zu haben.²¹ Diese Streitfälle wurden nach isländischem Gesetz verfolgt und entschieden. Weiter heißt es, dass die Norweger in jeder Beziehung die gleichen Gesetze genießen und dieselben Rechtsbußen erhalten sollten wie die Isländer.²² Die Stelle zeigt, dass der norwegische König Isländer auch außerhalb Norwegens belangen konnte. Dass daraus ein Untertanenverhältnis der Isländer zum norwegischen König folgen soll (wie Patricia Boulhosa will),²³ ist jedoch nicht ersichtlich, denn die fehlende Ladungspflicht begründete – schon wegen der Anwendung isländischen Rechts – bei diesen Prozessen keineswegs ein Untertanenverhältnis. Der König war also nur wenig besser gestellt als die sonstigen in Island klagenden Norweger. Vor- und Nachteile der Privilegien der Olafslög hoben sich also gegenseitig auf. Gleichwohl hatte der König damit ein Bein in die isländische Tür gestellt.²⁴ Wenige Jahre später (um 1024) richtete Olaf der Heilige an das isländische Allthing den Antrag, seine Herrschaft über Island förmlich anzuerkennen: Die Isländer sollten nicht nur das norwegische Recht als das Ihre annehmen, sondern auch Kopfsteuer (nefgildi) und Totschlagsbuße (þegngildi) für jeden getöteten Isländer an den König zahlen.²⁵ Hilfsweise forderte er die Abtretung der Insel Grímsey im Norden des Eyjafjordes. Als das Allthing den Antrag ablehnte,²⁶ lockte der König angesehene Isländer

17 DI 1, 21, S. 65 (§ 2), wobei § 10 (S. 66 f.) das Verfahren regelte. 18 DI 1, 21, S. 66 (§ 4); vgl. Maurer 1907, S. 371. 19 DI 1, 21, §§ 5–7; vgl. Boulhosa 2005, S. 69 f. 20 Grágás (Finsen 1852), 1 b, c. 247 = Graugans (Heusler 1937), S. 418 f.; vgl. Boulhosa 2005, S. 64 ff. 21 So mit Recht: Boulhosa 2005, S. 67. 22 So mit Recht: Graugans (Heusler 1937), S. 418; Grágás (Finsen 1870), 3, 1, S. 194 = Grágás (Dennis / Foote / Perkins 1980), 2, S. 210. 23 Vgl. Boulhosa 2005, S. 69. 24 Vgl. Boulhosa 2005, S. 85 f. 25 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, c. 134 f. und 146 = Olafs saga (Munch / Unger 1853), c. 114 f. und 125; vgl. Maurer 1874, S. 119. 26 Heimskringla (Finnur Jónsson 1911), c. 125 = Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, c. 115 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, c. 125.

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nach Norwegen, sandte einen davon, Gellir Thorkelsson, um 1026 nach Island zurück, um seinen Antrag zu wiederholen und behielt die anderen als Geiseln zurück.²⁷ Auch den neuen Antrag, wonach die Isländer auch die norwegischen Gesetze übernehmen sollten, lehnte das Allthing ab.²⁸ Seine Drohungen für diesen Fall konnte Olaf nicht wahr machen, da er politisch anderweitig tätig werden musste. König Harald Harðráði (1047–1066) versuchte die Isländer durch Freigebigkeit zu gewinnen, doch hegte er dabei – wie Konrad Maurer zu Recht vermutet – den Hintergedanken, die Insel seinem Reiche einzuverleiben.²⁹ Als der König jedoch 1066 bei Stamfordbridge gefallen war, hatten die Isländer zunächst einmal für mehr als 150 Jahre Ruhe vor norwegischen Unterwerfungsversuchen. Es blieb einstweilen bei dem Satz Adams von Bremen: apud illos non est rex, nisi tantum lex.³⁰ Jedoch nicht ganz: Denn unter König Hárald Harðráði wurde Ísleifur Gissúrason 1055 oder 1056 zum ersten Bischof Islands geweiht. 1058 wurde unter seinem Sohn und Nachfolger der Familiensitz Skálholt zur bischöflichen Residenz. Die Häuptlinge des Nordens sorgten dafür, dass 1106 in Hólar, im Nordviertel der Insel, ein zweites Bistum errichtet wurde.³¹ Etwa 1152 gründete der päpstliche Legat Nikolaus Breakspear das Erzbistum Nidaros, das Papst Anastasius durch Urkunde vom 30. November 1154³² bestätigte, und dem er unter anderem die isländischen Bischöfe als Suffragane unterordnete. Hierher gehört auch, dass Magnus Erlingsson (1162–1184) kurz nach seiner Krönung das norwegische Königtum dem heiligen Olaf (also der Kirche) schenkte³³ und sich damit zum kirchlichen Vasallen machte. Die Folge dieser Vorgänge war, dass die Kirche nicht nur erheblichen Einfluss auf das norwegische Königtum gewann, sondern dass auch die isländischen Bischöfe in dessen Sinne wirkten und die Unterwerfung Islands unter die norwegischen Könige förderten.³⁴ Sie handelten damit im Sinne der Gesamtkirche, wie sich aus der Äußerung des Kardinals Wilhelm von Sabina anläßlich der kirchlichen Krönung Hákon Hákonarssons³⁵ am 29. Juli 1247 (dem St. Olavstag) in Bergen ergibt, der es für falsch hielt, dass Island

27 Wie Anm. 25. 28 Heimskringla (Finnur Jónsson 1911), c. 136 (hier: S. 308) = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, c. 136. 29 Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 3, c. 36 ff. = Königsbuch (Niedner 1922/23), 3, c. 36; vgl. Maurer 1874, S. 119 f. 30 Gesta Hammaburgensis (Trillmich / Buchner 1978), 4, 36, Scholie 156 (150), S. 486: nisi tantum lex ‚es galt nur das Gesetz‘, nämlich seit 930 die Úlfljóts lög. 31 Vgl. Strauch 2011, S. 234 f. 32 NGL 1, S.  439–441 (Urkunde Papst Anastasius IV. vom 30.  November 1154); vgl. Strauch 2011, S. 19. 33 Druck dieses Privilegs von 1163/72 in: NGL 1, S. 442–444; vgl. Strauch 2011, S. 22. 34 Vgl. Maurer 1874, S. 122 ff. 35 Diese Krönung in: Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), S.  245–247 (hier: 246): kardináli stóð í kirkju-durum, ok með honum tveir biskupar ok klerkar hans, ok hófu upp söng á nýja-leik; ok fylgðu svá konungi til altaris. Eptir þetta var messa sungin, ok fór veizla fram eptir því sem býðr (Königsgeschichten (Niedner 1925/28), 2, S. 290–293).

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keinem König untertan sei.³⁶ Der König hat diese Äußerung nach Island weitergereicht, um seine Interessen mit des Legaten Autorität zu stärken.³⁷

II Snorri Sturlusons Wirken in Island und Norwegen 1 Snorris Familie und Ausbildung Snorri Sturluson wurde 1178 (oder 1179) geboren. Seine Eltern waren der Gode Hvamm Sturla (1116–1183) und Guðný Böðvarsdóttir (ca. 1147–6. November 1221). Sie hatten fünf Kinder, darunter drei Söhne. Snorris ältere Brüder Þorðr (1165–1237) und Sighvatr (1170–1238) und ihre Nachkommen gestalteten Islands Geschichte im 13. Jahrhundert wesentlich mit, so dass es die Sturlungaöld ‚Sturlungenzeit‘ heißt.³⁸ Als Pfand für den Frieden zwischen Snorris Vater Sturla und dem Goden Jón Loptsson nahm dieser Snorri 1181 im Alter von drei Jahren als Ziehsohn mit nach Oddi³⁹ im Süden Islands, und vermittelte ihm bis zu seinem Tode (gestorben 1. November 1197) dort eine vielseitige literarische Bildung.⁴⁰ Wie ist der spätere Reichtum Snorris zu erklären? Er entstand zunächst weniger durch Erbschaft, denn er erhielt von seinem Vatererbe als jüngster Sohn am wenigsten, weil seine Mutter Guðný auf ihrer Reise nach Norwegen mit ihrem Geliebten Ari⁴¹ große Teile des von Hvamm Sturla Ererbten durchgebracht hatte. Jedoch schloss er 1199 seine erste Ehe mit Herdis Bersadottir,⁴² der Tochter des Priesters

36 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 257: þá var ok sú skipan [gör] til Islands með raði kardinála, at sú þjóð, er þar bygði, þjínaði til Hákonar konungs; þviat hann kallaði þat ósannligt, at land þat þjónaði eigi undir einhvern konung sem öll önnur í veröldunni. Var þa sendr út Þórðr kakali með Heinreki biskupi. Skyldu þeir flytja þat örendi við lands-fólkit, át allir játtaðisk undir ríki Hákonar konungs, ok slíkar skatt-gjáfir sem þeim semðisk (Königsgeschichten (Niedner 1925/28), 2, S. 295); Skálholtsbók (Kjær / Holm-Olsen 1910–47), S. 603; RN 1, S. 768; vgl. Kaufhold 2001, S. 153. 37 Vgl. RN 1, S. 786 (Fußnote). 38 Vgl. Sverrir Tómasson 2005, S. 170 f. 39 Vgl. Sigurður Nordal 1920, S. 2 f.; Sverrir Tómasson 2005, S. 170 f. 40 Vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 137 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 98 f. (vgl. auch S. 161 ff.); vgl. Ciklamini 1978, S. 23; Sverrir Tómasson 2005, S. 170 ff.; Vésteinn Ólason 2008, S. 24 ff.; Óskar Gudmundsson 2009, S. 47–58; Óskar Gudmundsson 2011, S. 28–33. 41 Sie hatte von Ihrem Ehemann Hvamm Sturla 40 Hunderte geerbt und kehrte nach dem Tode Aris 1188 (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 130) nach Hvamm zurück; vgl. Óskar Guðmudsson 2011, S. 27 f. 42 Seine Mutter Guðný steuerte den Hof Hvamm zu Snorris Hochzeit bei (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 137 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 99); vgl. Óskar Guðmudsson 2011, S. 62 f.

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Bersi Vermundarson, der auch ‚der Reiche‘ hieß.⁴³ Als dieser schon 1202 starb, beerbte ihn Snorri und gewann so erheblichen Reichtum. Das Ehepaar zog nach Borg in Mýrar und Snorri sicherte sich damit ein Drittel des Þverarþings am Borgarfjord.⁴⁴ Obwohl der Ehe zwei Kinder (Hallbera und Jón murti) entsprossen waren, war die Ehe unglücklich. Das Paar trennte sich im Jahre 1206: Herdis blieb in Borg und Snorri zog nach Reykholt, einer kirchlichen Pfründe (staðr),⁴⁵ die zugleich mit dem dortigen Godentum verbunden, also auch ein goðorð war, und eine heiße Quelle hatte. So verfügte er über kirchliche Pfründen in Borg, Reykholt und wohl seit 1206 auch in Stafholt.⁴⁶ Der Bischof Pál Jónsson von Skálholt (1195–22. November 1211) war ihm günstig gesinnt⁴⁷ und Snorri verstand es, den in Reykholt lebenden Priester Magnús Pálsson zu bewegen, seine Wirtschaft auf ihn zu übertragen, indem er dessen Söhne großzog.⁴⁸ In der Folge unternahm er es, von diesem strategisch günstigen Ort aus – gestützt auf den politischen Einfluss seiner Familie und durch Verträge mit mächtigen Häuptlingen  – sich weiter Einfluss und Macht zu verschaffen. Da Godorde damals nur übertragen werden konnten, wenn die betroffenen Bauern zustimmten,⁴⁹ wird Snorris Person mit seinen wissenschaftlichen Kenntnissen, seinen Verbindungen und seiner Geschicklichkeit verstanden haben, sie seiner Herrschaft günstig zu stimmen. Zur Ehre eines Goden gehörte es nämlich, seine Thingleute in Rechtssachen zu vertreten. Ihre Rechtssicherheit beruhte auf seinem politischen Geschick und auf der Streitmacht, die er nötigenfalls aufbringen konnte.⁵⁰ Kirchen in Island waren oft Eigenkirchen:⁵¹ Seit dem 13.  Jahrhundert wurden sie Gott oder dem Heiligen der Kirche übereignet, doch behielt der Stifter meist den Rest des Hofes und über die Eigenkirche das erbliche Schutzrecht (varðveizla), dessen Inhalt im Kircheninventar (máldagi) festgelegt wurde. In der Verwaltung des kirchlichen Eigentums war er weitgehend frei. Ihm stand die Hälfte des in Island viergeteilten

43 Bersi gehörten 800 Hunderte (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 137 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 99). 44 Vgl. DI 1, S. 349 (Vorspruch zu Nr. 94 (Frühjahr 1206)); vgl. Gunnar Karlsson 2004, S. 238; Óskar Guðmudsson 2011, S. 68. 45 Zur Archäologie Reykholts vgl. Guðrún Sveinbjarnardóttir 2006, S.  25–42; Magnús Stefánsson 1999 und 2000. 46 Stafholt war zugleich goðorð und stáðr, also kirchliche Pfründe; Snorri erwarb beides wohl 1206 (vgl. Biskupa sögur (Ásdís Egisldottir / Jónas Kristjánsson 2002), 2, c. 23 f.); vgl. Óskar Guðmudsson 2011, S. 83 (Anm. 146) und 122. Gunnar Karlsson 2004, S. 321 f. setzt die Übernahme erst auf 1221 an. 47 Darüber hinaus war Snorri mit Bischof Pál Jónsson von Skálholt und mit Guðmund Arason dem Bischof von Hólar (geb. 26. September 1161, gest. 16. März 1237) verwandt und befreundet (vgl. Óskar Guðmudsson 2011, S. 113). 48 Vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 156; Óskar Guðmudsson 2011, S. 88. 49 Vgl. Gunnar Karlsson 2004, S. 335; Bagge 1991b, S. 16; Óskar Guðmudsson 2011, S. 270. 50 Vgl. Gunnar Karlsson 1975, S. 29–54; Bagge 1991a, S. 76; Byock 1982, S. 37 ff.; Byock 1988, S. 124 ff.; Óskar Guðmudsson 2011, S. 119. 51 Vgl. Magnús Már Lárusson 1968; Magnús Stefánsson 1997 und 1999.

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Zehnten⁵² zu, nämlich der Kirchen- und der Priesteranteil, außerdem der Überschuss vom Ertrag des Kirchengutes und der Überschuss der Zehnt- und Abgabenleistungen (Stolgebühren etc.).⁵³ Da Snorri in Reykholt und Stafholt auf solchen Eigenkirchen saß und ihr Eigentum verwaltete, verfügte er über zusätzliches Geld. Durch Käufe und Verschwägerung sammelte Snorri allmählich ein beträchtliches Vermögen und gewann zwölf Godorde.⁵⁴ Nachdem er sich 1206 von seiner ersten Frau Herdis getrennt hatte, wandte er sich seit 1223⁵⁵ der reichen Witwe Hallveig Ormsdóttir zu, mit der er mehrere Kinder hatte. Nach dem Tode seiner ersten Frau Herdis (1233) hat er Hallveig wohl auch geheiratet.⁵⁶ Er vereinbarte mit ihr Gütergemeinschaft zu gleichen Teilen und wurde so zum reichsten Mann Islands.⁵⁷ Die Berechnung seines Reichtums gestaltet sich einigermaßen schwierig: Der Wert von Grund und Boden und andere Einnahmen wurde in Großhundert (= 120) Ellen Wollstoff gemessen. Ein solches Großhundert Wollstoff entsprach einem kúgildi, also dem Wert einer Kuh oder einer Fläche, auf der eine Kuh ernährt werden konnte.⁵⁸ Snorri soll über 640 Hunderte Grund geherrscht haben, allein zu Stafholt gehörte Land bis zu 100 Hunderten.⁵⁹ Hinzu kamen noch die Geschenke, mit denen ihn Jarl Skúli und König Hákon Hákonarsson bedacht hatten sowie die Lehnsauftragung zweier Höfe an den König.⁶⁰

52 Der Kirchenzehnt wurde viergeteilt: ¼ dem Bischof, ¼ in den Kirchenbau, ¼ an den Priester und das letzte Viertel für die Armen; vgl. Magnús Már Larússon 1964; Magnús Stefánsson 1974; Hjalti Hugason et al. 2000, S. 206 f.; Óskar Guðmudsson 2011, S. 120. 53 Vgl. Skovgaard-Petersen 1960; Magnus Stefánsson 1975, S.  86 ff.; Magnus Stefánsson 1997 und 1999; Bagge 1991a, S. 12. 54 In den Jahren 1215/16 gewann er die Godentümer von Mýrar, Lund, Gilsbakki, Reykholt, Eyjavellir und Mel oder Anteile daran, ferner die Einnahmen aus dem obersten Godentum im Kjalarnesthing. Davon lagen die Godentümer von Lund, Reykholt und des Kjalarnesþings im isländischen Südviertel, die Godentümer von Gilsbaki, Stafholt und Mýrar im Þverárþing (im Westviertel), seine Godentümer im Nordviertel lagen im Húnavatnsthing (vgl. Óskar Guðmudsson 2011, S. 117–122 und die Liste dort S. 269 f.; ferner Ciklamini 1978, S. 24 ff.; Sverrir Tómasson 2005, S. 172). 55 Vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 198; Gunnar Benediktsson 1957, S.  54; Óskar Gudmundsson, 2011, S. 176 f. 56 Vgl. IA, S. 129; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 38 und 216; Óskar Gudmundsson 2011, S. 272 (Anm. 25). 57 Vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 202 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 98; vgl. Gunnar Benediktsson 1957, S. 54. 58 Die Länge der isländischen Elle wechselt in den Quellen: Magnus Már Lárusson 1958, S. 210 und 242 gibt die Elle mit 47,7 cm bzw. 55,6 cm an. Vilhjalmur Finsen (Grágás (Finsen 1870), 3, S. 711 f.) gibt die Länge der Elle mit 18 5/7 Zoll an = 18,714 Zoll an. Nimmt man das heutige Zollmaß von 2,54 cm, so ergibt sich: 18,714 x 2,54 = 47,53 cm. Im 16. Jahrhundert hat öln die Bedeutung eign (‚Eigentum‘) angenommen (vgl. Halldór Halldórsson 1963; Óskar Gudmundsson 2011, S.  403 f.); vgl. auch die Wertangaben in Grágás (Finsen 1852), 1 b, S. 192–195 = Graugans (Heusler 1937), S. 415–418. 59 Vgl. Jón Viðar Sigurðsson 1999, S. 111 ff.; Óskar Gudmundsson 2011, S. 270. 60 Vgl. dazu unten S. 279 mit Anm. 88 und 89.

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Snorri war nicht nur literarisch gebildet, er war auch rechtskundig: Das Allthing wählte ihn im Jahre 1215 (bis 1218) bereits mit 36 Jahren zum Rechtsprecher in das höchste isländische Amt. Nach seiner Rückkehr aus Norwegen wurde er 1222 (bis 1231) abermals zum lögsögumaðr gewählt.⁶¹ Das Amt des Rechtsprechers verlieh zwar nicht viel Macht, war aber als Islands einziges Staatsamt sehr angesehen und bezeugte den Rang und die Wichtigkeit seines Inhabers.⁶²

2 Snorris erste Norwegenfahrt Erste Kontakte zu norwegischen Großen hatte Snorri zu Jarl Hákon Galinn geknüpft, dem Halbbruder des Königs Ingi Bárðarson (1204–1217), auf den er 1216 ein Gedicht verfasste. Der Jarl übersandte ihm als Dank Schwert, Schild und Brünne, die Insignien eines Ritters, und lud ihn nach Norwegen ein.⁶³ Der Tod des Jarls im Januar 1216 vereitelte die Reise jedoch. Im Sommer 1218 fuhr Snorri Sturluson nach Norwegen und begab sich zu Jarl Skúli, der ihn gut aufnahm und ihn hoch schätzte.⁶⁴ Insgesamt zwei Winter blieb er beim Jarl.

a) Zwischenspiel: Snorris Reise nach Schweden 1219 Im Sommer 1219 reiste Snorri in Norwegen südwärts, bis nach Skara in Schweden. Er besuchte dort Kristin Nilsdottir (gestorben 1254), eine Enkelin Eriks des Heiligen und von 1205–1214 die Frau des norwegischen Jarls Hákon Folkvidsson Galen (1170/75– 1214), die seit etwa 1217 mit Eskil (1170/75–ca. 1227), dem Bruder Birger Jarls und westgötischen Rechtsprecher (dem Verfasser von Västgötalagh 1, ca. 1220) verheiratet war.⁶⁵ Bei ihm erkundete er die Rechtsverfassung Schwedens.⁶⁶ Darüber berichtet

61 Óskar Gudmundsson 2011, S. 122 f. 62 Vgl. Bagge 1991, S. 12. 63 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 184. 64 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 185. Zu Snorris geistigem Verhältnis zum norwegischen Königshof vgl. Guðrún Nordal 2006; anders: Bagge 1991a, S. 240–247, der die gemeineuropäischen Bezüge betont. 65 Snorri trug Kristin Nilsdottir das Gedicht vor, das er früher im Auftrag ihres früheren Ehemannes, des Jarls Hákon Galinn, auf sie gedichtet hatte. Eskil schenkte Snorri die Kriegsfahne des in der Schlacht bei Gestilren am 17. Juli 1210 siegreichen schwedischen Königs Erik Knutsson (1208–16); vgl. Paasche 1948, S. 168 f.; Arnstad 2001; Óskar Gudmundsson 2009, S. 174 f.; Óskar Gudmundsson 2011, S. 144 ff. (Anm. 281); Strauch 2011, S. 447 (Anm. 404). 66 Óskar Gudmundsson 2009, S. 177 (Anm. 15); Óskar Gudmundsson 2011, S. 146 (Anm. 283), führt die Niederschrift Västgötalagens durch Eskil auf den Besuch Snorris 1219 in Skara zurück: Eskil habe durch die Niederschrift von Västgötalagh 1 die in der Schlacht von Gestilren 1210 errungene Macht des Bjälbo-Geschlechtes gegenüber dem König stärken wollen. Er beruft sich dafür auf Sigurður Nordal

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Snorri in der Heimskringla, in Kapitel 77 der Saga König Olafs des Heiligen.⁶⁷ Es heißt dort etwa:⁶⁸ ‚Jeder Teil des Landes hat sein eigenes Gerichtsthing und in vielen Beziehungen auch seine eigenen Gesetze. Jedem Gericht steht ein Rechtsprecher vor, der am meisten unter den Bauern zu sagen hat. Denn das wird Gesetz, was er dafür erklärt … In allen Punkten aber, wo die Gesetze verschieden sind, müssen sie sich alle endgültig nach dem Upsala-Gesetz richten.‘

Dieser Satz entscheidet eine Gesetzeskonkurrenz zugunsten von Tiundalands Gesetzen. Das ist bereits sehr unwahrscheinlich, da wir keine Quellen haben, die diesen Vorrang bestätigen. Die Stelle fährt fort: og aðrir lögmenn allir skulu vera undirmenn þess lögmanns er á Tíundalandi er ‚und alle anderen Rechtsprecher sollen Unterrechtsprecher dessen sein, der es in Tiundaland ist‘.⁶⁹ Diese Regelung würde den tiundaländischen Rechtsprecher zur höheren Instanz über alle anderen schwedischen Rechtsprecher gemacht haben. Aber trifft das zu? Bereits Erland Hjärne hält diese Angabe mit Recht für unglaubwürdig. Snorri mag zwar von Eskil im Frühjahr 1219 bei seinem Besuch in Skara einiges über die schwedischen Rechtsverhältnisse erfahren haben, doch beruht seine Schilderung der uppländischen Verhältnisse in der Olafs saga nur teilweise auf eigener Kennntnisnahme, zu einem großen Teil aber auf älteren Quellen.⁷⁰ Möglicherweise liegt nur eine sprachliche Ungenauigkeit vor. Das Gegenteil von Snorris Darstellung entnimmt Erland Hjärne dem Kapitel der Heimskringla über den Rechtspre-

1973, S.  26 f.; Lönnroth 1959, S.  13–29 und Magnús Már Lárusson 1967, S.  28–34. Daneben dürften weitere Gründe maßgeblich gewesen sein: Er kannte vermutlich über seine norwegische Frau die Niederschriften norwegischer Landschaftsrechte, auch war sein Vorgänger im Laghmannsamt vor seinem Amtsantritt gestorben, so dass er sich den Stoff erst erarbeiten musste. Schließlich hatte Erzbischof Andreas Sunesøn etwa 1220 die Aufzeichnung der Rechtsquellen befürwortet (vgl. Strauch 2011, S. 396). 67 Heimskringla (Finnur Jónsson 1911), c. 77 = Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2 c. 77 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, c. 77: i hverri þeiri deild landsins er sitt lögþing ok sín lög um marga hluti. Yfir hverjum lögum er lögmaðr, ok ræðr hann mestu við bœndr, því at þat skulu lög vera, er hann ræðr upp at kveða. […] En þar allt er lögin skilr á þá skulu öll hallask til móts við Uppsalalög og aðrir lögmenn allir skulu vera undirmenn þess lögmanns er á Tíundalandi er ‚jeder Teil des Landes hat sein eigenes Gesetzesthing und in vielen Beziehungen auch seine eigenen Gesetze. Jedem Gericht steht ein Rechtsprecher vor, der am meisten unter den Bauern zu sagen hat. Denn das wird Gesetz, was er dafür erklärt […]. In allen Punkten aber, wo die Gesetze [der drei uppländischen Volklande] verschieden sind, müssen sie sich alle endgültig nach dem Upsala-Gesetz richten und alle anderen Rechtsprecher sind dem Rechtsprecher von Tiundaland unterstellt‘; vgl. Hjärne 1952, S. 177 ff.; Foote 1993, S. 33–37. 68 Nach: Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 115. 69 Hjärne 1952, S.  177 ff. und Ebel 1998, S.  542 beziehen zwar diese Unterordnung  – wie der Text sagt – auf alle schwedischen Rechte und Rechtsprecher, sie sind aber der Meinung, dass dies nicht der Wirklichkeit entsprach. 70 Vgl. Hjärne 1952, S. 91 ff.

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cher Emund von Skara.⁷¹ Danach haben die Oberschweden gegenüber den Götar das Vorrecht, den König vorzuschlagen und zu wählen. Dies bestätigt auch Västgötalagh 1,⁷² und Snorri scheint aus diesem Vorrecht auch auf die Überordnung des tiundaländischen über alle anderen schwedischen Rechtsprecher geschlossen zu haben. Die Stelle stützt jedoch seine Ansicht nicht, denn Emund bittet zwar König Olaf Skötkonung (955–1022) um die Entscheidung eines westgötischen Streitfalles nach Uppsala-Recht, erhält aber eine Antwort nach norwegischem Recht.⁷³ Emund stellt dieses aber nicht über das westgötische, sondern sorgt dafür, dass das königliche Urteil den Upsalalög eingefügt wird. Zudem ist der ganze Vorgang nur eine Scharade, denn es geht in Wahrheit nicht um die Entscheidung einer privatrechtlichen Streitfrage, sondern um die Königsnachfolge in Schweden und das Verhältnis Olaf Skötkonungs zum norwegischen König Olaf dem Heiligen (1015–1028).⁷⁴ Deshalb ist es den überlieferten Verhältnissen allein angemessen, den Vorrang des tiundaländischen Rechts und die Unterordnung der Rechtsprecher nur auf das uppländische Recht und die beiden uppländischen Volklande Attundaland und Fiæþrundaland zu beziehen. Die Entwicklung ging jedoch weiter: 1296 fasste Upplandslagen die Rechte der drei upländischen Volklande zusammen und erneuerte sie.⁷⁵ Damit waren die bisherigen Rechtsmittel aufgehoben, denn Upplandslagen ersetzte sie durch die Appellationsbeschwerde an den König,⁷⁶ der die oberste Gerichtsgewalt hatte, der das Gesetz verkörperte und zugleich über ihm stand.⁷⁷

71 Es heißt dort: ek fer, herra, at leita órlausnar um vandmæli þau, er lög vár gréinir ok Upsala-lög ‚ich möchte, Herr, die schwierigen Punkte entwirren, wo unsere Gesetze und das Upsala-Gesetz sich unterscheiden‘, worauf der König diesen Fall nach norwegischem Recht löst und Emund Zeugen zu dieser Entscheidung aufruft und sie dem Upsala-Recht einfügt (Heimskringla (Finnur Jónsson 1911), c. 94 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 151 f.); anders: Hjärne 1952, S. 178. Über den Rechtsprecher Emund von Skara vgl. Maurer 1875, S. 16 f.; Theutenberg 2007. 72 Västgötalagh 1, Rättegångs balkær c. 1 (SGL (Schlyter 1827–77), 1, S.  36 f. = von Schwerin 1935, S. 34). 73 So Felix Niedner (Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 149 (Anm. 1)). Gemeint ist die Frostuthingsbók c. v:46, wo der Verurteilte bei Zahlungsweigerung dem Kläger 18 Öre, dem König 15 Mark zahlen muss. Zahlt er nicht, so wird er friedlos gelegt (NGL 1, S. 183 = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 113). Vgl. Gulathingsbók (NGL 1, c. 32 = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 29 f.). Die in Kapitel 78 der Olafs saga genannte Zahlung des dreifachen Betrags der Schuld an den König fehlt in beiden Rechtstexten. 74 Wie Anm. 50; vgl. Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 156 ff. 75 Hjärne hat gemeint, mit dem Inkrafttreten von Upplandslagen 1296 sei nur eine früher bestehende Einheit der drei Volklande in anderer Form wiederhergestellt worden (Hjärne 1952, S. 182). 76 Im Streit zwischen Geistlichen und Laien: Uplandslagh, Kyrkobalkær 20 (SGL (Schlyter 1827–77), 3, S. 80 ff.); bei sonstigen Streitigkeiten: Uplandslagh, Þingmala balkær 10 und 13 (SGL (Schlyter 1827– 77), 3, S. 271 f. und 274 = v. Schwerin 1935, S. 239 und 241). 77 UL, confirmatio (SGL (Schlyter 1827–77), 3, S.  2); in der Styrilse konunga och höfdinga von ca. 1340 ist dies noch deutlicher (vgl. Åqvist 1989, S. 171) und von dort in Magnus Eriksson Landslagh,

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b) Snorris Versprechen, für die Unterwerfung Islands zu werben Obwohl Snorri in Island bereits einer der mächtigsten Häuptlinge war,⁷⁸ trat er in Norwegen in die königliche Hirð ein. Seine Bildung und seine Kenntnisse waren so umfassend, dass ihn der König bald zum skutilsvein (‚Schüsselreicher‘) ernannte und ihm damit den zweithöchsten Rang in der Hirð verlieh. Auch wählte er ihn zum Mundschenk (skenkjari).⁷⁹ Mit dem Regierungsantritt Hákon Hákonarssons (1217–63) ging der Frieden zwischen Island und Norwegen zu Ende. Bereits kurz nach 1217 hatten die Isländer norwegische Kaufleute angegriffen.⁸⁰ Dies führte nicht nur zur Erbitterung in Norwegen, sondern beendete auch einstweilen die Handelsfahrten nach Island.⁸¹ Im Frühjahr 1219 planten König und Jarl deshalb einen Kriegszug dorthin. Als Snorri von diesen Plänen hörte, versuchte er den damals 14-jährigen Hákon Hákonarsson von diesem Unternehmen abzuhalten. Er machte geltend, der Kriegszug sei unnötig, weil sich die Isländer auf friedlichem Wege gewinnen lassen würden, wenn man ihre besten Männer gewinne, von denen die meisten seine Verwandten waren.⁸² Er selbst werde sie durch seine Worte überzeugen, und sie zum Gehorsam gegen den norwegischen König bringen.⁸³ Ihnen werde dann auch das Volk folgen. In Anerkennung seiner Verdienste und in Erwartung, er werde seinen Einfluss in Island zu Gunsten des Königs einsetzen, verliehen ihm König und Jarl 1220 den Titel lendirmaðr (Lehnsmann)⁸⁴ und damit den höchsten Rang in der Hirð.⁸⁵ Jarl

Tingbalkær 38 (SGL (Schlyter 1827–77), 10, S. 237) und KLL, Tingbalkær 41,1 (SGL (Schlyter 1827–77), 11, S. 263) eingegangen (vgl. Strauch 2011, S. 531–534). 78 Vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 202 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 98 f. und 161 ff.; Óskar Gudmundsson 2009, S. 143–149; Óskar Gudmundsson 2011, S. 117–123. 79 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 139; über skutilsvein (‚Schüsselreicher‘) und skenkjari (‚Mundschenk‘) vgl. Hirðskrá c. 26 (NGL 2, S. 415); Strauch 2011, S. 154. 80 Vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 139 ff. 81 Die isländischen Annalen (IA, S.  125) für 1219 sagen, dass kein Schiff mehr nach Island kam. Daraus wird geschlossen, dass Norwegen ein Handelsembargo gegen Island erließ (vgl. Magnús Már Lárusson 1967, S. 28 f.; Óskar Gudmundsson 2011, S. 141). 82 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 59 = Königsgeschichten (Niedner 1925/28), 2, S. 146 ff.; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 140. 83 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 129 ff. 84 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S.  140. Erst seit 1277 hießen die lendirmenn barúnar (‚Barone‘); vgl. Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. xi und xxvi; Strauch 2011, S. 152 und 157. 85 Vgl. Hirðskrá, c. 1 und c. 52. Zu Snorris Zeit war die Zahl der alten Familien, die früher (zur Zeit König Olavs des Heiligen (1015–1028)) die wichtigsten Posten der Hirð besetzt hatten, bereits zusammengeschmolzen, deshalb heißt es in der Heimskringla: „damals war in Norwegen eine Menge von

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Skúli schenkte ihm das Schiff zur Heimreise (1220) und machte ihn damit zum einzigen Isländer, der ein eigenes Fahrzeug hatte, auch fügte er 15 wertvolle Geschenke hinzu.⁸⁶ Verbunden mit diesen Gunsterweisen beauftragten König und Jarl Snorri, die Isländer für eine Unterwerfung unter den König zu gewinnen. Als Gewähr dafür sandte Snorri 1221 seinen Sohn Jón murtr (‚Stümpchen‘) als Geisel zu Jarl Skuli Bárðarson nach Norwegen.⁸⁷ Snorris Stellung in der Hirð hatte auch vermögensrechtliche Folgen: Die Oddverjaannállar berichten nämlich für Snorris Todesjahr 1241,⁸⁸ er habe dem König als erster Isländer Grundbesitz, nämlich die Höfe Bessastaðir und Eyvindarstaðir, überlassen. Es ist kaum anzunehmen, dass er den König zum Volleigentümer gemacht hat, vielmehr wird eine Lehnsauftragung vorliegen: Snorri hat dem König das Obereigentum übertragen und die Güter als königliche Lehen zurückerhalten. Nach Snorris Tode wurden diese Lehen an Thorgils Skarði weitervergeben, wie sich aus der Sturlungensaga ergibt.⁸⁹

3 Snorri wieder in Island Auch wenn Snorri durch die Ehrung und die reichen Gaben dem königlichen Vorhaben geneigt gewesen war, änderte er nach seiner Ankunft in Island seine Haltung: Er wurde nämlich mit Hohn und Spott empfangen, man mißtraute ihm wegen seiner ehrenvollen Stellung in der Hirð und neidete ihm seine Geschenke. Deshalb beschloss er, zunächst untätig zu bleiben und zuvörderst seine Macht und sein Vermögen zu mehren.⁹⁰ Da Snorri die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, beauftragte der König 1233/34 nacheinander mehrere Isländer, zuletzt den angesehenen Sturla

lendir menn und viele waren aus Geschlechtern von Königen oder Jarlen“ (Heimskringla (Finnur Jónsson 1911), c. 46 = Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, c. 46 = Königsbuch (Niedner 1922/23), 2, S. 67); vgl. Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. xxv; Bagge 1991a, S. 12. 86 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 140 f. 87 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 188 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S.  141. Jón murtr wurde um 1203 geboren; er starb in Norwegen am 21.  Januar 1231 nach einer Schlägerei (Sturlunga saga (Kålund 1904), 1, S. 377 f.). Skuli Bárðarson (ca. 1189–24. Mai 1240) war norwegischer Jarl, schwang sich 1239 zum König auf, wurde in zwei Schlachten besiegt und 1240 ermordet (vgl. Bjørgo 2004). 88 IA, S. 481; vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 270 f. (Anm. 22). 89 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 388 (Þorgils saga Skarðar), c. 388 (8. September 1252); vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 270 f. 90 Aus der Sturlunga saga (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), S. 263) folgt, dass Snorri den König bei der Unterwerfung Islands unterstützte, aber die Hákonar saga (Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 59) sagt, er habe sein Anliegen nur wenig gefördert (vgl. Ciklamini 1978, S. 27 ff.; Sverrir Tómasson 2005, S. 172).

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Sighvatsson (aus dem Geschlecht der Haukdælir), Island zu unterwerfen, die dortigen Häuptlinge gefangen zu nehmen und nach Norwegen zu schaffen oder sonst die Macht an sich zu reißen.⁹¹

4 Snorris zweite Norwegenreise und Tod Im Jahre 1237 segelte Snorri ein zweites Mal nach Norwegen.⁹² Er besuchte nur den inzwischen zum Herzog ernannten Jarl Skúli, nicht aber König Hákon Hákonarson. Inzwischen war ein Machtkampf zwischen beiden ausgebrochen: Der Jarl hatte sich als König huldigen lassen und ernannte Snorri 1239 heimlich zu seinem Jarl.⁹³ Da Snorri auf der Seite Jarl Skúlis stand und Hákon Hákonarson dies erfahren hatte, war er ihm politisch missliebig geworden. In Island errang Sturla Sighvatsson anfänglich einige Erfolge bei der Unterwerfung des Landes, verlor jedoch in der Schlacht von Örlygsstad am 21.  August 1238⁹⁴ sein Leben durch die Hand Gizurr Þorvaldssons, Snorris ehemaligem Schwiegersohn,⁹⁵ der bereits seit 1229/30 in den Diensten König Hákon Hákonarssons stand.⁹⁶ Damit war nicht nur der Vertrauensmann des Königs, von dem er für die Unterwerfung Islands viel erhofft hatte,⁹⁷ ausgeschaltet. Der Ausgang der Schlacht war für die Sturlungen katastrophal und bedeutete zugleich einen Machtgewinn des Königs. Der nunmehr die Bischofsstühle in Hólar und Skálholt mit Norwegern be-

91 Sturla Sighvatsson (geb. 1199, gest. 21. Aug. 1238) (Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 180); vgl. Sturlunga saga (Guðbrandur Vigfússon 1878), 1, c. 7, aber ohne den Islandauftrag; vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 243. 92 Vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 330 ff. und 344 ff. 93 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 293; vgl. Sverrir Tómasson 2005, S. 172; Óskar Gudmundsson 2011, S. 346 f. Was Fólsgnajarl heißt, ist streitig: Es kann sowohl heimlicher Jarl als auch Jarl der Insel Fólgsn (Storfosna) vor dem Trondheimfjord heißen (vgl. Sturlunga saga (Guðbrandur Vigfússon 1878), 1, S.  384; Arne 1962, Sp.  563); vgl. auch Hallan 1972, der S.  173 ff. die Belehnung Snorris zum Jarl der Insel Fólgsn als isländischen Stützpunkt in Norwegen sieht, gleichsam als Spiegelbild der isländischen Insel Grimsey im Norden des Eyjafjordes, die Olaf der Heilige in der Heimskringla als norwegischen Stützpunkt beanspruchte (Heimskringla (Bjarni Aðalbjarnarson 1941–51), 2, S. 215 ff.; vgl. oben Anm. 26). 94 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 288 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 199–209. 95 Gizurr Thorvaldson (1209–12. Januar 1268) war mit Ingibjörg Snorradóttir Sturlusona verheiratet, der Tochter Snorri Sturlusons und Guðrún Hreinsdóttirs (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 38 und 156 sowie Geschlechtstafel Nr. 56 (Bd. 3, S. 103). Obwohl sie einen gemeinsamen Sohn (Jón) hatten, der jedoch bald starb, stritten sie sich ständig und wurden 1231 geschieden (ebd., c. 23). 96 Zu Gizurr Þorvaldsson, vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 142 und Geschlechtstafel Nr. 53 (Bd. 3, S. 101), ferner c. 228 (S. 329, 1230); vgl. Maurer 1874, S. 127 97 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 288 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 210.

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setzte.⁹⁸ Die Niederlage der Sturlungen bewog Snorri, schnell heimzukehren. Der König hatte jedoch  – in Kenntnis dieser Vorgänge⁹⁹  – verfügt, dass Snorri nicht reisen dürfe, also ein Reiseverbot erlassen. Sein Verstoß gegen diese Anordnung seines Lehnsherren galt nach § 34 der Hirðskrá als Bruch des Lehnseides¹⁰⁰ (also als ‚Felonie‘ nach mitteleuropäischem Sprachgebrauch), und so hat König Hákon Hákonarsson Snorris Verhalten gewertet.¹⁰¹ Die Hirðskrá hat zwar erst Magnus Lagabœter (1263–1280) aufzeichnen lassen, doch waren ihre Normen bereits früher festgelegt. Nach ihrem Kapitel 40 war er damit ein sannr niðingr eða svikare lauarðar sins ‚echter Neiding und Verräter seines Herren‘. Damit hatte er Vermögen, Frieden, Land und bewegliches Gut verwirkt.¹⁰² In Island gelang es Snorri jedoch, mit den wichtigsten Anführern im Süden und Westen der Insel Frieden zu schließen und seine Machtstellung so zu festigen, dass er zu Beginn des Jahres 1240 wieder den Borgafjord und das Westland beherrschte. Selbst Hákon Hákonarssons Vertrauensmann in Island, Gizurr Thorvaldsson, war ihm zu dieser Zeit wohlgesonnen.¹⁰³ Wegen Snorris Felonie beauftragte der König Gizurr Þorvaldsson wohl noch im Jahre 1240, Snorri lebend oder tot nach Norwegen zu bringen.¹⁰⁴ Hier ist zu berücksichtigen, dass Snorri als königlicher Lehnsmann nach der Hirðskrá das Recht hatte, dass sein Herr en eigi á hann með bræði eða álaupum at refsa eða at úrannsakaðum málum¹⁰⁵ ‚ihn nicht mit Hast oder Hitzigkeit strafe oder sich erzürne über Sachen, die nicht untersucht worden sind‘; vielmehr musste der König eine Hofversammlung einberufen, um die Vorwürfe zu klären.¹⁰⁶

98 In Hólar residierte von 1238–47 der Norweger Bótólfur, in Skálholt 1238–1268 der Norweger Sigvarður Þéttmarsson. 99 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 206 = Königsgeschichten (Niedner 1925/28), 2, S. 239 ff.; vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 346 f.; Olsen 1902, S. 422 f. 100 § 34 der Hirðskrá sagt: engi konungs eidsvare skal fara frá kononge utan hans leyfis. En sá, sem ferr orlofslaust, þa heldr hann eigi eið sinn við konong, ok má þá konongr orðe ráða, hvárt hann skal vera i þjónostu eða eigi ‚keiner, der dem König den Eid geschworen hat, soll vom Könige fahren ohne seine Erlaubnis. Und wenn er ohne Urlaub fährt, da hält er nicht seinen Eid gegenüber dem König, und es mag dann der König nach Belieben bestimmen, ob er im Dienste bleiben soll oder nicht‘ (Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 41 f.). 101 Hirðskrá c. 34 (NGL 2, S. 425 f.), wobei die Folge in c. 40 steht. 102 Maðr hævir firir gort fe oc friði lande oc lausum oyri (NGL 2, S. 436 = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 53). So bereits im dänischen Vitherlagsret (ca. 1180), c. 3 Rigslovgivning (Kroman 1971), I, S. 2; vgl. Aggesen, c. 14a (ebd., S. 22 f.) = Saxo c. 8 (Kroman 1971, S. 37); vgl. Strauch 2011, S. 339. 103 Vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 348–354. 104 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 301; vgl. Magnús Stefánsson 1988, S. 174; Óskar Gudmundsson 2011, S. 360. 105 Hirðskrá c. 20 (NGL 2, S. 407 f. = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938) S. 21). 106 Ok ero þær saker eig openberar at sönnu ok dyll lendr maðr, þa skal konongr þat mál rannsaka á hirðstefnu ef eig fær með fámenne sætt ‚und wenn solche Sachen nicht offen an der Sonne liegen und der Lehnsmann leugnet, dann soll der König die Sache auf der Gefolgschaftsversammlung untersuchen, wenn sie nicht mit wenigen Männern verglichen werden kann‘ Hirðskrá c. 20 (NGL 2, S. 408 =

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Trotz des königlichen Auftrages, Snorri nach Norwegen zu bringen, blieb der frühere Eidam Snorris darin über ein Jahr untätig, entschied sich aber dann dafür, seinen ehemaligen Schwiegervater zu töten, obwohl der Brief des Königs keinen ausdrücklichen Tötungsbefehl enthielt. Hierzu berief er eine kleine Versammlung ein, die sich  – vermutlich am 20.  September 1241 am Kjölur  – verschwor,¹⁰⁷ Snorri zu töten.¹⁰⁸ Den Beschluss führten sie aus, indem sie nach Reykholt ritten. Dort fanden sie Snorri zwar zunächst nicht. Der Priester Arnbjörn sagte, man könne ihn finden, wenn ihm Gnade zugesichert werde. Über eine solche Zusage verlautet jedoch in der Sturlunga saga nichts.¹⁰⁹ Die Männer fanden ihn schließlich im Keller des Haupthauses und töteten ihn. Damit war Snorris Politik gescheitert: Er hatte die norwegischen Machtverhältnisse verkannt und seinen eigenen Einfluss in Island überschätzt.¹¹⁰ Der König konnte nun über Snorris Vermögen und seine Godorde frei verfügen, sowie die ihm zu Obereigentum aufgetragenen Lehnsgüter neu verleihen und damit weitere Macht in Island gewinnen.¹¹¹ Gizurr versuchte zwar zunächst, sich selbst daran zu bereichern,¹¹² was ihm der König übel nahm. Immerhin hatte der König schon vor 1262 durch Enteignung (wie bei Snorri) durch Drohung, oder mehr oder minder freiwilligen Erwerb einen Großteil der isländischen Godorde in seiner Hand vereinigt, so dass er bereits über die meisten Isländer herrschte.¹¹³

Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 22 = Heimskringla (Bergljót Kristjánsdóttir 1991), 3, S. 113 f.); vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 360 (Anm. 196). 107 Das Datum bei Óskar Gudmundsson 2011, S.  359. Über die Beratung und die Beteiligung Orm Björnssons daran vgl. die Íslendinga saga (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 301). Das Gegenteil berichtet die Þórdar saga kakala (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 315): Er habe großen Anteil am Mordanschlag auf Snorri gehabt (vgl. Magnús Stefánsson 1988, S. 174). 108 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 301 = Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 210–214; vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 360. 109 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 301; vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 362 f. 110 Vgl. Kreutzer 1994, S. 455. 111 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 388 (Þorgils saga Skarðar): Nach seinem Treffen mit Gizurr Thorvaldsson ritt Þorgils (der seit 1252 als königlicher Verwalter in Reykholt lebete) heim nach Reykholt und nahm die Pacht der Höfe Eyvindarstaðir und Bessastaðir mit (vgl. Óskar Gudmundsson 2011, S. 270 f. (Anm. 22)). 112 Vgl. Maurer 1874, S. 132 f. 113 Vgl. DI 1, S. 602 ff.; Berlin 1910, S. 26 und 30.

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III Die Unterwerfung Islands 1 Die Verträge von 1262–1264 Nach dem Tode Snorris setzte der König seine Versuche fort, Island zu unterwerfen. Einige Isländer, nämlich die im Eyarfjördr, Skagafjördr und im Nordviertel wohnten, hatten auf Druck des norwegischen Gesandten und königlichen Schatzmeister Ívarr Englason und der isländischen Bischöfe bereits 1256 eingewilligt, dem König Steuern zu zahlen.¹¹⁴ Bei seinen Unterwerfungsversuchen hatte König Hákon Hákonarsson nach dem Tode Þórdr Sighvatssons kakali 1256¹¹⁵ und Þorgils Böðvarssons skarði 1258¹¹⁶ den Gizurr Þorvaldsson wieder mit einem Auftrag betraut: Im Sommer 1258 ernannte er ihn zum isländischen Jarl und übertrug ihm die Herrschaft über das Nord- und Südland sowie über den Borgafjord¹¹⁷ gegen das Versprechen, in Island für Ruhe und Frieden zu sorgen und die Bauern zur Steuerzahlung zu veranlassen. Gizurr erklärte aber in Island, er habe dem König keine Steuererhebung versprochen.¹¹⁸ Der König – unzufrieden mit den Taten Gizurrs – schickte 1260 seine Hirðleute Ivar Arnljótarsson und Pál Línseyma nach Island, die seine Aufträge auf Unterwerfung durchführen sollten. Doch Gizurr unterstützte sie auf dem Allthing so wenig, dass ein Beschluss, Steuern an den König zu zahlen, nicht gefasst wurde¹¹⁹ und sie unverrichteter Dinge heimkehren mussten.¹²⁰ Nun griff der König zu schärferen Maßnahmen, indem er im Jahre 1261 den hirðmaðr Hallvard gullskór nach Island sandte, um Gizurr auf die Finger zu sehen. Immerhin ließ der nun einige seiner Leute sich und dem König einen Treueid schwören.¹²¹

114 Hákonar saga Hákonarson (Finnur Jónsson 1916), c. 320; Hákonar saga Hákonarson (Unger 1871), c. 288; IA, S. 26, 66 und 191; vgl. Maurer 1874, S. 134; Boulhosa 2005, S. 98 f. und 105 f. 115 Zu Þórðr Sighvatsson kakali (1210–11. Oktober 1256) vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 477; IA, S. 27; vgl. Maurer 1874, S. 135; Sturlunga saga (Kålund 1904), 2, S. 305 f. 116 Zu Þorgils Böðvarsson skarði (1226–22.  Januar 1258) vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 475; Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 297; Sturlunga saga (Kålund 1904), 2, S. 307 f.; Sturlungengeschlecht (Baetke 1930), S. 219–269 und 347–349 (Baetke nennt als Todesdatum den 24. Januar; vgl. Maurer 1874, S. 135). 117 Zu Gizurr Þorvaldsson aus dem Hause der Haukdælir (1209–12. Januar 1268); vgl. Maurer 1874, S. 127 und 137 f. Die Ernennung zum Jarl in: IA, S. 27 und 133; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 478; auch in: DI 1, 152, S. 615; sein Auftrag in: Sturlunga saga (Guðbrandur Vigfússon 1878), 2, c. 317 ff.; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 478. 118 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 297; IA, S. 136 und 193. 119 IA, S. 382; vgl. Boulhosa 2005, S. 103. 120 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 300; IA, S. 382; vgl. Maurer 1874, S. 136. 121 Vgl. Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 311; Sturlunga saga (Guðbrandur Vigfússon 1878), 2, c. 326 ff.; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 2, c. 491; vgl. Berlin 1910, S. 35.

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Hallvard setzte Gizurr unter Druck, indem er ihm die Herrschaft über den Borgarfjord nahm, sie seinem Rivalen, dem Häuptling Hrafn Oddson¹²² übertrug und so eine Gegenpartei gegen Gizurr schuf, so dass dieser seine Zweideutigkeiten aufgeben musste.¹²³ Auf dem Allthing des Jahres 1262 waren die Südländer (nach der Hákonar saga auch die Westländer¹²⁴) mit voller Mannschaft versammelt und selbst Gizurr erschien dort mit vielen Männern. Die lögretta wurde bemannt. Hier ist allerdings zu bemerken, dass auf diesem Allthing nicht alle Viertel vertreten waren, dass also auch die lögretta nicht gesetzlich zusammengesetzt und deshalb nicht beschlussfähig war. Die Grg I a, Kapitel 117, verlangt zwar nur, dass mindestens vier Dutzend Männer anwesend sein mussten,¹²⁵ setzt aber voraus, dass die Fehlenden rechtsgültig verhindert waren, und dass ihre Stellvertreter den Sitz räumen mussten, wenn die Goden selbst erschienen. Wer als Gode dagegen absichtlich ausblieb (wie 1262, als die Goden der anderen Viertel aus Opposition nicht erschienen),¹²⁶ verlor nach Grg I a, Kapitel 23, sein Godentum.¹²⁷ War die lögretta also nicht beschlussfähig, so hat sie wahrscheinlich auch keinen Beschluss gefaßt, denn weder das Gizurrasáttmáli 1262 noch die isländischen Annalen erwähnen ihn. Die auf dem Allthing ausgestellte Unterwerfungsurkunde des Jahres 1262 spricht denn auch nicht von der lögretta, sondern nur von den Bewohnern der genannten isländischen Landschaften,¹²⁸ denn die Fortsetzung dieser Urkunde in NGL 1 (S.  461, nach der Lücke) gehört nicht hierher.¹²⁹ Die Urkunde darüber ist das Gizurrarsáttmáli, auch Gámli Sáttmáli genannt.¹³⁰ Anschließend huldigten die Nord- und Südländer, auf der Heimreise am þverárþing auch die Westländer.¹³¹ Im folgenden Jahr unterwarfen sich auch die Oddarverjar und der Rest

122 Zu Hrafn Oddsson, Häuptling, ca. 1226–22. November 1289, vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 2, c. 487; vgl. Sturlunga saga (Kålund 1904), 2, S. 318; Berlin 1910, S. 39 (Hrafn Oddsson half bei der Annahme der Járnsíða (vgl. Anm. 150)). 123 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 311; vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 483 und 491; vgl. Maurer 1874, S. 137. 124 Vgl. die abweichenden Berichte der Sturlunga saga (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et  al. 1988), c. 491, 483 und 491) sowie der Hákonar saga (Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 311); vgl. Berlin 1910, S. 39 ff. 125 Grágás (Finsen 1852), 1 a, c. 117 = Graugans (Heusler 1937), S. 198. 126 Vgl. Berlin 1910, S. 49 f. 127 Grágás (Finsen 1852), I a, c. 23 = Graugans (Heusler 1937), S. 40. 128 Druck in: DI 1, 152, S. 620 f. = NGL 1, 12 B, S. 461 = Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 67 f.; vgl. Maurer 1874, S. 471 (Anm. 1), der Nr. 12 A als später verwirft, weil sie den Begriff löghbok enthält. Die in 12 B abgedruckte Urkunde endet in NGL auf S. 461. Die nach den Lückenzeichen abgedruckten Zeilen haben mit der eigentlichen Urkunde nichts zu tun (vgl. Berlin 1910, S. 51 f.). 129 Vgl. Maurer 1874, S. 471 und 473. 130 Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), c. 491; vgl. Sturlunga saga (Kålund 1904), 2, S. 319. 131 Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), S. 323; IA, S. 193, während die Sturlungasaga verschiedene Berichte enthält vgl. Maurer 1874, S. 137 (Anm. 2) und 470 (Anm. 2).

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des Südlandes.¹³² Die Síðumenn und Svínfellíngar mit dem Häuptling Ormr Ormsson beugten sich 1264,¹³³ und auch die Ostländer unterwarfen sich in diesem Jahr, da ihr Häuptling Þorvarðr Þórarinsson gezwungen wurde, seine Herrschaft an den König abzutreten.¹³⁴ Dementsprechend meldete Hallvard gullskór 1264 nach Norwegen, die ganze Insel habe sich unterworfen.¹³⁵ In den Urkunden der Jahre 1256–1264 anerkannten also die Isländischen Bauern und Häuptlinge ihre Steuerpflicht gegenüber dem norwegischen König. Einen verbindlichen Gesetzesbeschluss ihres höchsten Staatsorgans, der lögretta, gibt es nicht.¹³⁶ Gleichwohl haben die Beschlüsse von 1262–1264 Island rechtswirksam zum norwegischen Schatzland gemacht, denn die alte Freistaatsverfassung war damals bereits durch die politischen Vorgänge der Sturlungenzeit praktisch außer Kraft gesetzt und die Isländer haben ihre Zugehörigkeit zu Norwegen in der Folge auch niemals bestritten.

2 Neues Recht nach der Unterwerfung Islands In der Unterwerfungsurkunde von 1262 heißt es unter Nr. 2: hier i mot skal konungr lata oss naa friði og islenskum laugum.¹³⁷ Was heißt das? Es ist zunächst eine Bitte um Friedensgewährung. Sie betraf nicht nur die Aufgabe jedes christlichen Herrschers der damaligen Zeit, sondern vor allem die in der Sturlungenzeit unruhigen isländischen Verhältnisse.¹³⁸ Sie war den Isländern so wichtig, dass sie in der Urkunde noch einmal auftaucht, nämlich in Punkt 7, bei der Anerkennung eines Jarls in Island.¹³⁹

132 IA, S. 135: á þessv sama ári iataðv Oddaveria Noregs konvngvm skatti firir ávstan Þiorsá vm Svnnlenndingafiorðvng (vgl. Maurer 1874, S. 138). 133 IA, S. 135: á þessv svmri svarði Ormr Orms sonr Noregs konvngvm skatt á alþingi firir Siðvmenn. ok þá höfðv allir formenn á Islandi samþyct vm skatt við Noregs konvnga; S. 193; S. 258: jattudu Islendigar þegngilde Magnuse konge; S. 330: svarin kongi skattur aa Islandi (vgl. Maurer 1874, S. 138). 134 Magnus saga lagabœtis (Guðbrandur Vígfússon 1887), c.3: þár var þá með honum Þorvarð Þórarinsson, ok gékk hann á vald Magnúss konungs, ok gaf allt sítt ríki i hans vald; vgl. Maurer 1874, S. 138. 135 Magnus saga lagabœtis (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 3; vgl. Maurer 1874, S. 138. 136 Vgl. Berlin 1910, S. 46–59. 137 DI 1, 152, S. 620 f. = NGL 1, 12 B, S. 461= Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 67 f.; vgl. Maurer 1874, S. 471 (Anm. 1). 138 Bereits das Gespräch König Hákons mit Sturla Sighvatson offenbart, dass eines seiner Hauptanliegen die Friedensgewährung auf Island war: Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887), c. 180: lét konungr ílla yfir er Sturla sagði hónum mikinn ófrið af Íslandi. Konungr spurði, hversu mikit mundi verða fyrir at koma ein-valdi á landit; ok lét þá mundu verða frið [betra] ef einn réði mestu ‚der König hielt es für schlecht, als Sturla ihm über den großen Unfrieden in Island berichtete und meinte, es wäre höchste Zeit, dass die Einherrschaft ins Land käme und es werde besseren Frieden geben, wenn nur einer herrschte‘ (vgl. Berlin 1910, S. 74). 139 Gizurrasáttmáli § 7 (NGL 1, 12 B, S. 461): jarlinn vilium vér yfir oss hafa meðan hann heldr trúnað við yður enn frið við oss (= Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68).

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Dass der König islenskum laugum gewähren solle, ist zunächst so zu verstehen, dass er Gesetz und Recht halten solle, eine Forderung, die bereits das norwegischeThronfolgegesetz von 1260 enthielt¹⁴⁰ und die sich auch in der 1271 in Island – unter großen Bedenken der Isländer – eingeführten Járnsiða findet.¹⁴¹ Es ist Streit darüber entstanden, ob der König dieses Versprechen gebrochen hat, indem er bereits neun Jahre nach der Unterwerfung die Járnsíða in Island einführte und damit die alte Landesverfassung, das bisher geltende Recht der Grágás und auch das Gesetzgebungsrecht der lögretta aufhob. Maurer sieht darin den Bruch des Unterwerfungsvertrages, obwohl er zugibt, dass das Allthing der Einführung der Járnsíða zugestimmt hat.¹⁴² Man muss jedoch sehen, dass Magnus Lagabœter – trotz seines gleichlautenden Krönungsversprechens – auch in Norwegen neues, für das ganze Land geltendes Recht eingeführt hat.¹⁴³ Bei der Einführung des Landrechts hat er das Lagthing beteiligt und so den normalen Gang der Gesetzgebung beachtet. Mit dieser Haltung stand er auf der Höhe der Zeit, da auch die Kirche Gesetzesänderungen anerkannte.¹⁴⁴ Knud Berlin hat mit Recht geltend gemacht, dass bei den zur Sturlungenzeit herrschenden Zuständen die alte Freistaatsverfassung nicht mehr aufrecht zu halten war,¹⁴⁵ der König also zu neuer Gesetzgebung berechtigt war.

3 Die Járnsíða in Island Bereits 1270 hatte der König ein neues Gesetzbuch für Island ausarbeiten lassen, die Járnsíða, fälschlich Hákonarbók genannt. Die Isländer Þorvardr Þórarinsson,¹⁴⁶ Sturla

140 Norwegisches Thronfolgegesetz von Juni/Juli 1260 NGL 1, S. 263 f. (Hákonarbók); 2, S. 308 ff. (Gulathings Christenrecht); 4, S. 17–19 (vgl. RN 1, S. 974; Berlin 1910, S. 74 f.; Strauch 2011, S. 26). 141 Járnsiða c. 11 (NGL 1, S. 263 f. = Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Kyrkobalkær c. 5): þess legg eg hönd á þessa helga dóma og þvi skýt ec til guðs að ek skal þau kristin lög halda er inn helgi Ólafr konungur hóf oc aðrir hans rættir æftirkommandur hafa nú samþykkt í millum konungs og bónda með hvárratveggju samþykkt og góðra manna ráði um að bœta eftir því viti sem guð gefur mér (vgl. Berlin 1910, S. 75). 142 Vgl. Maurer 1874, S. 478. Die Zustimmung war jedoch ein längerer Prozeß und mit vielem Streit verbunden. 143 Vgl. die Rechtsbesserung Magnus Lagabœtirs in NGL 2, 10, c. 3: oc for sialfr til logðingis oc let þar upp lessa oc gaf þingmonnum bokina ac þa rettar bott með er eigi er minzt at þessor bok skal heðn af gang vm allan Noregh. 144 Es waren vor allem Ivo von Chartres und Thomas von Aquino, die meinten, eine Anpassung der Gesetze an die Erfordernisse der Zeit sei erforderlich und erlaubt; vgl. die Nachweise bei Strauch 2011, S. 12 f. (Anm. 49). 145 Vgl. Berlin 1910, S. 77 f. 146 Þorvarðr Þórarinsson, gest. 31. März 1296, war ein großer isländischer Häuptling; vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 450; Berlin 1910, S. 161.

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Þórdason¹⁴⁷ und der Norweger Eindriði bækill¹⁴⁸ legten es dem Allthing vor.¹⁴⁹ Der Járnsíða schlugen zwar erhebliche Bedenken entgegen,¹⁵⁰ doch erkannten die Isländer den Thingfahrerabschnitt, der die neue Regierungsform festschrieb, sofort an.¹⁵¹ Das (im Gizurrasáttmáli nicht erwähnte) Allthing erfuhr in der Járnsíða eine erhebliche Umgestaltung: Nicht mehr jedermann durfte dorthin fahren,¹⁵² vielmehr ernannten die königlichen valdsmenn aus den lokalen Thingen jeweils sechs Mann. Auch war das neue Allthing eher ein Gericht denn eine gesetzgebende Versammlung,¹⁵³ denn das Gesetzgebungsrecht hatte sich der König vorbehalten. Damit war die alte isländische Verfassung insgesamt außer Kraft gesetzt worden. Island war hinfort ein Schatzland Norwegens und wird in der Járnsíða, Kkb c. 4¹⁵⁴ schlicht zu Norwegen gerechnet.¹⁵⁵ Im Gizurrsáttmáli §  7¹⁵⁶ hatten sich die Isländer einen Jarl gewünscht: jarlinn vilium vér yfir oss hafa, doch findet sich weder in der Járnsíða¹⁵⁷ noch in der Jónsbók¹⁵⁸ dazu Genaueres. Über den isländischen Jarl enthalten sie nur allgemeine Aussagen, besondere dagegen finden sich in der Hirðskrá, Kapitel 15.¹⁵⁹ Aus der Formulierung ef

147 Sturla Þórðason (29. Juli 1214–30. Juli 1284), ein großer Gode und Häuptling, Neffe Snorri Sturlusons; Verfasser der ältesten Handschrift der Landnámabók, der Hákonar saga Hákonarsonar und der Íslendinga saga der Sturlungasaga; Rechtsprecher 1251 und wieder 1272–1282; vgl. Berlin 1910, S. 161; Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 437; Simek / Hermann Pálsson 2007, S. 365 f. mit weiterer Literatur. 148 Eindriði bækill, norwegischer Gefolgsmann, des Königs vgl. Hákonar saga Hákonarsonar (Guðbrandur Vigfússon 1887) c. 28 (S. 32: Schatzmeister (féhirðr)); c. 86 (S. 75: Amtmann (syslumaðr)). 149 Das ist in den isländischen Annalen mehrfach erwähnt: IA, S. 49, 68, 138, 258, 331 und 483. 150 Die Isländer wandten sich vor allem gegen das norwegische Erbrecht und erst dem Einfluss von Arni Þorláksson, von Hrafn Oddsson (vgl. Anm. 122) und des Bischofs von Skálholt (1269–98), den der König um Hilfe gebeten hatte; vgl. Árna saga biskups c. 9 (Biskupa sögur (Guðrún Ása Grímsdóttir 1988), 3 = Islands Besiedlung (Baetke 1928), S. 265 ff.), und von Sturla Thordason gelang es 1273, die Isländer zur Annahme des ganzen Erbrechts zu bewegen (vgl. Strauch 2011, S. 247 f.). 151 Thingfahrerabschnitt in Járnsíða c. 110 ff. (NGL 1, S. 292 ff. = Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Þingfarabálkr c. 1–6); vgl. Strauch 2011, S. 247 f. 152 So in Grágás (Finsen 1852), 1 a, c. 23 = Graugans (Heusler 1937), S. 40 f.; vgl. Strauch 2011, S. 39. 153 Vgl. Járnsíða c. 1–3 (NGL 1, S. 259 f. = Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Kyrkobalkær c. 1–3), c. 5, 6 (= Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Þingfarabálkr c. 5–6), c. 109 (= Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Rättegångs Balkær c. 2) und c. 117 (= Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Rättegångs Balkær c. 8); vgl. Berlin 1910, S. 162. 154 Járnsíða c. 10 (NGL 1, S. 263 = Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Kyrkobalkær c. 4). 155 In Járnsíða Kapitel 10 heißt es: sa skal konongr vera i norege er skilgetinn er noregs konongs sun hinn ellzte oðalborenn til landz oc þegna. 156 NGL 1, 12 B, S. 461, § 7: jarlinn vilium vér yfir oss hafa meðan hann heldr trúnað við yður enn frið við oss (= Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68). 157 Járnsíða c. 39 (NGL 1, S. 273 = Járnsiða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Mannhelgi c. 26). 158 Jónsbók (NGL 4, c. 10) = Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Kyrkobalkær c. 9; Landsleigubálkr c. 18. 159 Hirðskrá c. 15 (NGL 2, S. 403: ef konongr gefr iarl til Islandz).

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konongr gefr iarl til Islandz folgt, dass nur die Möglichkeit vorgesehen war, für Island einen Jarl zu ernennen. Nach dem Tode Gizurr Þorvaldssons im Jahre 1268 ist jedoch für Island kein Jarl mehr ernannt worden.¹⁶⁰ Schließlich führte der König das þegngildi (an ihn zu zahlende öffentliche Bußen für die Tötung eines seiner Untertanen) erst mit der Járnsiða 1271 ein.¹⁶¹ In der Jónsbók hat es sich dann breit durchgesetzt.¹⁶²

4 Die Jónsbók in Island Nachdem in den Jahren 1274–1276 Magnus Lagabœtirs Landrecht im Wege der Parallelgesetzgebung in den vier norwegischen Hauptthingbezirken angenommen worden war, sollten auch die Isländer an dieser neuen Errungenschaft teilhaben. Deshalb ließ er ein neues Gesetzbuch für Island ausarbeiten. Daran beteiligt war auch der isländische Rechtsprecher Jón Einarsson,¹⁶³ den der König mit dem neuen Gesetzbuch nach Island sandte.¹⁶⁴ Es langte dort jedoch erst nach dem Tode des Königs (gestorben 9. Mai 1280) an. Jón Einarsson und der norwegische Ritter Loðin leppr¹⁶⁵ überbrachten es, Loðin leppr zugleich auch die königliche Forderung nach einer Huldigung der Isländer. Wie 1271 erregte das neue Gesetzbuch erheblichen Widerstand: Den Bauern erschienen die Vorschriften über úbótamál (‚unbüßbare Sachen‘) zu streng, Bischof Árni Þorláksson sah die Freiheit der Kirche eingeschränkt und auch die Amtleute des Königs hatten Beanstandungen.¹⁶⁶ Doch Loðin leppr verhandelte auf dem Allthing so geschickt, dass er schließlich die Annahme erreichte. Nachfolgende Rechtsbesserungen der Könige Erik Magnusson¹⁶⁷ und Hákon Magnusson zwischen 1294 und 1314¹⁶⁸ brachten dann die Jónsbók in die Fassung, welche Jahrhunderte lang gegolten hat. Die Jónsbók macht die Rechtslage Islands noch deutlicher, indem Kkb c. 4

160 Vgl. Boulhosa 2005, S. 142. 161 DI 1, S. 602 ff.; Járnsiða c. 44 (NGL 1, S. 274 f. = Járnsiða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Mannhelgi c. 31); IA, S. 138. 162 Vgl. Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Mannhelgi c. 1, 4 und 21; Farmannalög c. 17. 163 Jón Einarsson war isländischer Rechtsprecher 1267 und 1269–70; er starb im Jahre 1306 (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 416). 164 Vgl. dazu den Einleitungsbrief König Magnus Hákonarsson Lagabœtir in: Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 2. 165 Der Ritter und Gesandte des Königs Erik Magnusson Prästhatare (1280–99), Loðin leppr, starb 1289 (vgl. Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 416); Berlin 1910, S. 163. 166 Sie sind geschildert in der Árna saga biskups c. 28 f. und 31(Biskupa sögur (Guðrún Ása Grímsdóttir 1988), 3 = Islands Besiedlung (Baetke 1928), S. 282–289); vgl. Strauch 2005, S. 253 f. 167 Rechtsbesserung Erik Magnussons vom 2.  Juli 1294 (in: Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 281–289 = NGL 4, S. 341–346). 168 Rechtsbesserungen Hákon Magnussons Hålegg (1299–1319) vom 23. Juni 1305 (in: Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 289–292 = NGL 4, S. 347 f.); vom 14. Juni 1314 (in: Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 293–300 = NGL 4, S. 349–353); vgl. Strauch 2011, S. 254.

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sagt, dass nur einer König über des norwegischen Königs ganzes Machtgebiet und die Schatzländer sein soll.¹⁶⁹ Daraus ist auch ersichtlich, dass das gamli sáttmáli weder eine Realunion¹⁷⁰ noch eine Personalunion¹⁷¹ zwischen Island und Norwegen war, sondern ein einseitiger Huldigungsbrief, mit dem sich die Isländer dem norwegischen König unterwarfen.¹⁷² Wie denn die norwegischen Könige in ihren Urkunden Island niemals in ihren Königstitel aufgenommen haben.¹⁷³ Es ist immer nur ein Schatzland gewesen.¹⁷⁴ Gegenüber der Grágás und der Járnsíða ist die Jónsbók ein Fortschritt: Die Vorschriften sind genauer gefaßt, die Rache ist verboten, an Stelle der Landesverweisung traten die Prügel- oder Todesstrafe; Geldbußen blieben erhalten. Die Verwaltung Islands lag jetzt in der Hand königlicher Beamter.¹⁷⁵ Richterregeln finden sich im þingfarar bálkr (c. 4), kristinsdóms bálkr (c. 11) und – mit starkem kirchlichen Einfluss – im mannhelgis bálkr (c. 13 und vor allem c. 17).¹⁷⁶ Zusätze zu Mannhelgi c. 17 stehen in AM 37a, 8° (14./15. Jh.) und AM 47, 8° (17. Jh.), sie stammen aus Alkuin, „De virtutibus et vitiis“, und aus der Konungsskuggsjá (c. 57 ff.).¹⁷⁷

5 Die Jónsbók und Rechtsbesserungen Obwohl die Jónsbók sich an das norwegische Landrecht anlehnt, enthält sie keine Vorschriften über die Gesetzgebung. Das hatte einmal zur Folge, dass das isländische Allthing das Gesetzbuch ohne königliche Mitwirkung annahm, führte aber in der weiteren Entwicklung dazu, dass sich in Island die Ansicht durchsetzte, das Allthing habe nach wie vor gesetzgebende Befugnisse, entweder im Zusammenwirken mit

169 Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Kyrkobalkær c. 4: skal einn hans þjónn konungr vera yfir öllu Nóregs konungsveldi innan lands ok svá skattlöndum; vgl. ebd. Mannhelgi c. 1; vgl. Berlin 1910, S. 138. 170 Vgl. Berlin 1910, § 12. 171 Vgl. Berlin 1910, § 13. 172 Vgl. Berlin 1910, S. 104. 173 Vgl. Berlin 1910, S. 118 f.; das Gegenbeispiel ist die Aufnahme Schonens in den schwedischen Königstitel Magnus Erikssons (zuerst am 9. August 1332 (DS 4, 2940, S. 279); vgl. Strauch 2011, S. 302). Eine solche Aufnahme findet sich aber nicht in isländischen Urkunden, z. B. nicht im Einführungsbrief für die Jónsbók 1281 (Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 1–4) auch nicht in der Urkunde vom 19. Oktober 1354 (in: LI 1, S. 33). 174 Vgl. schon Maurer 1874, S. 138; Berlin 1910, S. 141–150. 175 Vgl. Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Kristindómsbálkr c. 10; vgl. Jónas Kristjánsson 1994, S. 380 f. 176 Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Manhelgis balkær c. 13 und vor allem 17, beruhend auf Landslagen 4,17 (NGL 2, S. 62 f. = Gefolgschaftsrecht (Meissner 1938), S. 120–123). 177 Vgl. Königsspiegel (Meissner 1944), S. 174–184; vgl. De virtutibus et vitiis (Widding 1960), S. 23 ff. und 137 ff.

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dem König oder allein. Zwischen 1294 und 1314 hat der norwegische König nur wenige rétterbøter (‚Rechtsbesserungen‘) erlassen.¹⁷⁸ Sie ergänzten die Jónsbók und behoben Mängel, welche die Isländer in der Allthingsdebatte von 1281 selbst angeführt hatten, doch bedeuteten sie nicht viel.¹⁷⁹ Die Isländer meinten, dass königliche Gesetze nur galten, wenn das Allthing sie angenommen hatte; auch gibt es Beispiele dafür, dass das Allthing königliche Verordnungen verwarf, eigenmächtig änderte, oder selbst Gesetze ohne königliche Mitwirkung erließ.¹⁸⁰ Auch die Untergerichte veränderten in ihren Grundsatzurteilen eigenmächtig das Recht und erkannten spätere königliche Briefe nicht an. Die Möglichkeit, Grundsatzurteile zu erlassen, schärfte nicht nur das juristische Denken in Island, sondern führte auch zu besonderer Eigenständigkeit: So musste dem Bischof von Skálholt erst mit dem Bann gedroht werden, ehe er einen päpstlichen Dispens wegen zu naher Verwandtschaft anerkannte.¹⁸¹ Andererseits wurde es schon im 14. Jahrhundert üblich, dass die Isländer nicht nur die für sie bestimmten Rechtsbesserungen des Königs, sondern auch norwegische, die in Island nicht in Kraft getreten waren, in ihre Handschriften des Gesetzbuches einfügten, so dass Streitparteien sie als geltendes Recht behandelten und sich darauf stützten.¹⁸² Ob sie wirklich angewendet wurden, entschieden allein die Gerichte. Deshalb sind die rechtlichen Unterschiede zu Norwegen so erheblich, dass der König Island (obwohl formell seit 1262 zum Königreich gehörend) weiter als Sonderrechtsbereich ansah. Was in Island in der Folge als Recht galt, kann deshalb weder aus der Járnsíða noch der Jónsbók, sondern muss den Gerichtsurteilen entnommen werden; von einer Rechtseinheit mit Norwegen kann also auch nach 1281 nicht gesprochen werden. Die für Island nach 1281 ergangenen Rechtsbesserungen hat Christian II. noch als Herzog für König Hans (1481–1513) im Jahre 1507 ausdrücklich bestätigt.¹⁸³

178 Zu finden in RN 2, 748 (Tønsberg, 2. Juli 1294, in: NGL 4, S. 341–346 = DI 2, 155, S. 282–288); RN 2, 990 (o. O., 10. Mai 1280–13. Juli 1299, in: DI 2, 157, S. 289–298); RN 3, 252 (Tønsberg, 23. Juni 1305, in: NGL 4, S. 347 f.); RN 3, 897 (Bergen, 14. Juni 1314, in: NGL 4, S. 349–353). 179 Vgl. Ólafur Lárusson 1950, S. 247. 180 Vgl. Ólafur Lárusson 1950, S. 248 f. 181 Vgl. DI 6, 377, S. 418–421 (19. Dezember 1481); weitere Beispiele dort: 6, 231, S. 235 (20. Dezember 1479); 101, S. 102 f. (28. Februar 1477); 159, S. 162 f. (26. September 1478); 276, S. 293 f. (3. Oktober 1480); 7, 427, S. 532. Über die Geschichte der Jónsbók in Island vgl. im übrigen Þórður Eyjólfsson 1940, S. 166–189; Jónas Kristjánsson 1994; Sigurður Líndal 1982, S. 182–195; Páll Eggert Ólason 1924/26, 3, S. 7 und 711 f. sowie 4, S. 33, 162 und 235–245; Rindal 1983, S. 8–18; Widding 1960, S. 327–330. 182 In einem großen Erbstreit vom Ende des 15. Jahrhunderts stützte sich eine Partei auf die norwegische rettarbot vom 2. Mai 1313 (NGL 3, 56, S. 98–105), doch entschied der Rechtsprecher, dass diese Rechtsbesserung in Island nicht gelte, was das Allthing bestätigte (vgl. Ólafur Lárusson 1950, S. 248). 183 Bestätigung von 1507 (in: NGL2 3, 194): Christian II. bestätigt als Herzog für König Hans alle Rechtsbesserungen Hakons V. widh fulde macht at bliffue oc vbrigdelige at holdes offuer alth Jislandh Hjæltland oc Fjærðæ som anderstedz her i Norige (vgl. Blom 1970, Sp. 448).

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IV Die Verträge von 1302 und 1319 Eine erneute Huldigung schwuren die Isländer dem König Hákon Magnusson Hálegg (1299–1319) im Jahre 1302.¹⁸⁴ Jedoch murrten sie über die unzureichende Beachtung des Gizurrasáttmális, verlangten eine Besserung und huldigten nur unter dieser Bedingung. Sie waren aber noch jahrelang so unzufrieden, dass nicht alle Landesviertel das Allthing besuchten.¹⁸⁵ 1306 beschloss eine Versammlung in Hólar die Árnesingaskrá, eine ausdrückliche Verteidigung der Landesrechte.¹⁸⁶ Bald danach sandten die Bewohner des Nordviertels dem König einen Beschwerdebrief, weil der Bischofsstuhl in Hólar mehrfach statt mit Isländern mit Norwegern besetzt worden war, welche die einheimischen Gewohnheiten missachteten.¹⁸⁷ Auch die dem Unionskönig Magnus Eriksson (1319–1350) im Jahre 1319 zu leistende Huldigung¹⁸⁸ war von ähnlichen Beschwerden begleitet. Doch sind wir in der misslichen Lage, nicht genau zu wissen, was in diesen Jahren wirklich vereinbart worden ist, denn die Originale dieser Urkunden sind nicht erhalten: Alle Drucke fußen auf Urkunden oder Abschriften aus dem 14. bis 16. Jahrhundert oder noch späteren Schriftstücken.¹⁸⁹ Auch der wissenschaftliche Sprachgebrauch ist nicht einheitlich. Im Allgemeinen wird die Urkunde von 1262 jetzt als Gizurrasáttmáli bezeichnet, dagegen heißen die Urkunden von 1263, 1264 und 1302 gewöhnlich gamli sáttmáli.¹⁹⁰ Während die erste Gliederung der überlieferten Urkunden von Jón Sigurðsson stammt,¹⁹¹ hat Guðni Jónsson eine andere vorgelegt,¹⁹² in der nicht nur die Urkunde in DI II, Nr.  177 von 1302 fehlt,¹⁹³ sondern auch die von ihm unter 1302 eingereihten Urkunden gehören nicht in dieses Jahr, sondern zu den Urkunden von 1262–1264. Bereits Konrad Maurer hatte die Urkunden von 1302 in zwei Gruppen geteilt: Die eine gehört zu einem Huldigungsbrief (hyllingarbréf), den die Isländer immer sandten, wenn ein neuer König den norwegischen Thron be-

184 Auch diese Huldigung wird Gamli sáttmáli genannt. Erwähnt in IA, S. 52: svarit Island Hakoni Konvngi; S. 146: svarit Hakoni konvngi land ok þegnar a Islandi (gleicher Text in den Skálholts-Annalen (S. 199) und in den Flatö-Annalen (S. 388)); DI 2, 177, S. 333–336; NGL 3, 62, S. 145 f. (vgl. Boulhosa 2005, S. 103). 185 Vgl. Munch 1852–63, 4, 2, S. 363 und 366; vgl. Maurer 1874, S. 478 f. 186 Árnesingaskrá eða almenn samþykt Íslendinga um alsherjar samtók til að vernda landsréttindi Íslands (20. Juli 1306 (in: DI 2, 189, S. 354–357)); vgl. Maurer 1874, S. 478 f. 187 Beschwerdebrief über Bischof Auðun in Hólar an König Hákon Hálegg (in: DI 2, 337 = Historia ecclesiastica Islandiae (Finnus Johannaeus 1772–78), 2, S. 166 ff.); vgl. Maurer 1874, S. 479. 188 Druck in DI 2, 343, S. 496–498 und 11, 2, S. 2 f.; vgl. Boulhosa 2005, S. 107. 189 Vgl. die Übersicht bei Boulhosa 2005, S. 109. 190 Vgl. Boulhosa 2005, S. 106–110. 191 DI 1, 152, S. 602–625; vgl. Boulhosa 2005, S. 107. 192 Guðni Jónsson 1960. 193 Vgl. Boulhosa 2005, S. 109.

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stieg,¹⁹⁴ während die andere eine isländische Erklärung war, sie würden huldigen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt würden.¹⁹⁵ Es ist auch unmöglich, die Texte dieser Erklärungen inhaltlich widerspruchsfrei und chronologisch richtig zu ordnen: Einige zeigen Anachronismen, wenn sie den Jahren 1262–1264 zugeordnet werden, andere, wenn man sie dem Jahre 1302 zuweist.¹⁹⁶ Es handelt sich eben nicht um genaue Abschriften und die Wiedergabe früherer Texte, sondern um die Auflistung isländischer Forderungen einer Neuordnung des isländischen Verhältnisses zu Norwegen vom 13. bis 15. Jahrhundert. Mit ihnen versuchten die Isländer Nachteile abzuwehren, die sie durch aktuelle Handlungen der Krone erlitten hatten. Diese Forderungen leiteten sie aus dem Gizurrasáttmáli oder dem gamli sáttmáli ab, wo diese Rechte angeblich so verbrieft waren. Es waren das u. a. – die Festsetzung der Steuern (skatt) und Ersatz der Thingfahrtkosten (þingfararkaup),¹⁹⁷ – die Abschaffung der landaurar,¹⁹⁸ – die Gestellungsbefehle zur Verteidigung Norwegens (útan-stefning),¹⁹⁹ – die Ernennung von Norwegern zu Rechtsprechern (lögmenn) oder Amtleuten (syslumenn),²⁰⁰ – die jährliche Entsendung norwegischer Handelsschiffe (sex hafskip gangi til landzins).²⁰¹

194 Beispiele sind der Huldigungsbrief vom 1. Juli 1419 für Erik von Pommern (in: DI 4, 330, S. 268 f.); die Isländer huldigten allerdings spät, denn Erik war bereits 1388 norwegischer König geworden. Vgl. auch die erneute Huldigung für ihn vom 30. Juni 1431 (in: DI 4, 506, S. 461 f.). 195 Maurer 1874, S. 471 f.; Boulhosa 2005, S. 109. 196 Vgl. schon Maurer 1874, S. 471 ff.; Boulhosa 2005, S. 110. 197 Gamli sáttmáli 1302, § 1 (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68 (vgl. Boulhosa 2005, S. 117 ff.)). 198 Landaurar in den Olafslög (Grágás (Finsen 1852), 1 b, c. 248 = Graugans (Heusler 1937), S. 419); Abschaffung in: Gamli sáttmáli 1302, § 2 (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68); vgl. Boulhosa 2005, S. 71 ff., 139 und Appendix 1 (S. 275). Obwohl weder in der Járnsíða noch in der Jónsbók erwähnt, tauchen sie gleichwohl im Tønsberger Vergleich vom 9. August 1277 wieder auf (NGL 2, 5 A: vectigalia de una naui singulis annis de Islandia ad suam dyocesin ueniente (S. 465) = Nr. 5 B: landaura af einu skipi (S. 472)). 199 Gamli sáttmáli 1302, § 2 (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68); vgl. Boulhosa 2005, S. 119 ff. 200 Gamli sáttmáli 1302, § 3 (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68); vgl. Boulhosa 2005, S. 121–124. Die Unterwerfung von 1262 (NGL 1, 12 B, S. 461) enthält diese Klausel nicht. 201 Gamli sáttmáli 1302, § 4 (Sturlunga saga (Örnólfur Thorsson et al. 1988), 3, S. 68); vgl. Boulhosa 2005, S. 124–139; Boulhosa 2006, S. 60 und 62 f., die Snorris Schiffsbesitz hervorhebt.

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V Die weitere rechtliche Entwicklung 1 Die Rechtsprecher Der norwegische König hielt sein Schatzland Island fest in der Hand. Seit dem Tode Gizurr Þorvaldssons 1268 gab es keine Jarle mehr auf Island.²⁰² Die Járnsíða kennt noch den lögmaðr,²⁰³ sagt aber nicht, wie er in sein Amt gelangte. Seit 1280 ernannte der König statt des bisherigen lögsögumaðrs einen oder zwei lagmenn (Rechtsprecher),²⁰⁴ der erste uns bekannte war Sturla Þorðason.²⁰⁵ Seit 1283 werden zwei genannt. Sie teilten die vier isländischen Viertel untereinander auf: Der eine arbeitete im Süd- und Ostviertel, der andere im Nord- und Westviertel.²⁰⁶ Nach dem gamli sáttmáli von 1262 sollten die Rechtsprecher aus isländischem Goden-Geschlecht stammen. Sie wurden auch jetzt von der lögrétta auf dem Allthing gewählt, der König musste sie jedoch bestätigen, wodurch sie zu seinen Amtleuten wurden.²⁰⁷ Für die Verwaltung der Insel kennen die Járnsíða (1271) und die Jónsbók (1280/81) nur mehr valdsmenn (‚Machthaber‘, hier: Statthalter für die ganze Insel) oder sýslumenn (‚Amtleute‘, zuständig für ein Viertel).²⁰⁸ Im Jahre 1279 ernannte der König seinen merkismaðr (‚Bannerträger der Hirð‘) Hrafn Oddsson zum Statthalter für ganz Island. Im Vertrag von Varberg vom 15. August 1343²⁰⁹ hatte Magnus Eriksson zwar versprochen, seinem Sohn Hákon VI. bei dessen Mündigkeit die Regierung super Noruegiam, terras, prouncias et insulas tributarias zu überlassen, doch als dieser 1355  mündig wurde und als er 1358 mit achtzehn Jahren die Regierung Norwegens

202 Bereits 1258 hatte König Hákon Hákonsson den Isländer Gizurr Þorvaldsson zum Jarl für Island ernannt, der Island regieren sollte, sobald die Isländer dem König Treue geschworen hätten (vgl. Gjerset 1924, S. 204). Im Gamli Sáttmáli (RN 1, 1004 (in: NGL 1, S. 461 f. = DI 1, 152 A)) waren sie damit einverstanden, jarlinn vilium vier yfir oss hafa meðan hann heldr trunað vid yður enn frið við oss ‚einen Jarl wollen wir über uns dulden, solange er dem König treu ist und uns den Frieden erhält‘. 203 Járnsíða, c. 3–6 (NGL 1, S. 260 f. = Járnsíða (Haraldur Bernharðsson et al. 2005), Tingbalkær c. 3–6). 204 Erwähnt von Bischof Árni von Skálholt (in: Árna saga biskups (Þorleifur Hauksson 1972), c. 62 = Biskupa sögur (Guðrún Ása Grímsdóttir 1998), 3, c. 62). 205 Sturla Þorðason war der erste lögmaðr, der nur richterliche Aufgaben hatte (vgl. über ihn Anm. 147). 206 Vgl. Magnus Már Lárusson 1965. Auch die Rechtsbesserung Tunsberg, 2. Juli 1294 (in: Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), S. 281–288) setzt mehrere Rechtsprecher voraus. 207 Der letzte gewählte isländische Rechtsprecher war Þorleifur hreimur Ketilsson, der dieses Amt drei Mal bekleidete: 1263–65; 1268 und 1271. Er legte dieses Amt mit der Einführung der Járnsíða nieder; die Rechtsprecherreihe bei Jón Sigurðsson 1886, S.  1–250; vgl. Jón Jóhannesson 1956, vor dem Inhaltsverzeichnis. 208 Vgl. die Fundstellen und den Nachweis ihrer Befugnisse in NGL 5, S. 624 f. (sýslumaðr) und 683 (valdsmaðr); vgl. Járnsíða, c. 6 (NGL 1, S. 261) und c. 116 f. (ebd., S. 294 f.); Jónsbók (Ólafur Halldórsson 1904), Tingfarebolken c. 5; Kaupabálkr c. 9. 209 Varberg vom 15. August 1343 (RN 5, 647 (in: DN 2, 258 = NGL 4, S. 370–372)); vgl. Blom 1983, S. 2.

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tatsächlich übernahm, hat Magnus die Regierung Islands (und die dortigen Einnahmen) behalten. 1355 begann König Hákon Magnusson (1355–1380), das Amt des Statthalters an den Meistbietenden zu verpachten. Der Pächter erhielt die Hoheit über Island und durfte alle Steuern und Abgaben für jeweils drei Jahre einziehen.²¹⁰ Er erhob die königlichen Steuern von den Amtmännern. Damit waren dem Missbrauch und der Ausbeutung Tür und Tor geöffnet. Das Missvergnügen entlud sich denn auch gegen den hirðstjóri und Pächter Smiður Andresson, den die Isländer 1361 oder 1362 töteten.²¹¹ Später protestierten die Isländer gegen die Ausbeutung mit einem allgemeinen Beschluss.²¹²

2 Magnus Eriksson und die isländische Kirche Im Jahr 1350 finden wir den ältesten im Original erhaltenen Königsbrief nach Island, den Magnus Eriksson im Streit zwischen Orm, dem Bischof von Skálholt, und den Bauern über deren kirchliche Verpflichtungen erließ.²¹³ In einem weiteren Brief von 1354 verpflichtete der König die isländischen Bauern zur Zehntzahlung und erkannte das Kirchenrecht des Bischofs Arne auch für das Bistum Hólar an.²¹⁴ Auf diese Weise wurde dieses vom norwegischen König einst getadelte Christenrecht²¹⁵ zum geltenden Recht für ganz Island (at han gange vm alth landet), da es für das südliche Bistum Skálholt bereits seit längerem galt. Der König hatte damit eine pragmatische Entscheidung gefällt, die seinem Verhältnis zu Island nützte, denn er hatte sich 1350, als er die Regierung in Norwegen dem Drosten Orm Eysteinsson übertrug,²¹⁶ die Verwaltung Islands und der übrigen Schatzlande ausdrücklich vorbehalten, weil er dort vom Reichsrat unabhängig war,²¹⁷ die Insel nach eigenem Gutdünken frei verwalten

210 Die Lögmanns-Annalen berichten für 1358: tokú þeir á leigu allt Island með sköttum og skyldum um þrjú ár, af kóninginum ‚sie nahmen vom König ganz Island für drei Jahre in Pacht, mit Steuern und Abgaben‘ (vgl. Sigurður Líndal 1974–2006, 4, S. 237). 211 Smiður Andresson wurde nach dem Bruchstück der Skálholts-Annalen (IA, S.  225) und den Gottschalks-Annalen (IA, S. 278) am 8. Juli 1361, nach den Lögmanns-Annalen (IA, S. 359 f.) und den Flatö-Annalen für 1361 (IA, S. 407 f.) am 8. Juli 1362 getötet (vgl. RN 6, 806; Sigurður Líndal 1974–2006, IV, S. 237; Gjerset 1924, S. 247 f.; Schulman 2010, S. xix). 212 Allerdings erst recht spät: Die sog. Arnesingaskrá (in: DI 2, 189, S. 354–357 (Skálholt, 20. Juli 1375)): samþykt ok samtal allra beztu manna ok almúga á Íslandi und in: DI 9, 7, S. 13–17 (Skálholt, 20. Juli 1375): so vilium vier hafa alla jslendska logmenn og syslumenn; vgl. auch Björn Þorsteinsson 1961. 213 Brief Magnus Erikssons, datiert Björgvin, 2. Juni 1350 (in: DI 2, 529, S. 856–858). 214 Brief Magnus Erikssons, datiert Björgvin, 19. Oktober 1354 (in: DI 3, 60, S. 98 f.) und der Brief des königlichen Drosten in Bergen (in: DI 9, 9, S. 9–11 (Björgvin, 20. Oktober 1354)). 215 Bischof Arnes Christenrecht (in: NGL 4, S.  16–56); vgl. Strauch 2011, S.  63 (Anm.  133), S.  79 (Anm. 238). 216 Vgl. ausführlich: Blom 1992, 2, S. 389–397. 217 Vgl. Blom 1983, S. 19 f.

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konnte und weil er sich die daraus fließenden Finanzmittel sichern wollte. 1358 erneuerte sich der Streit um die Verteilung der kirchlichen Einnahmen aus dem Kirchengut. Man stritt sich um die Auslegung des Vergleiches von Avaldsnes von 1297.²¹⁸ Die entsandten Visitatoren schlossen einen Vertrag mit dem Allthing, der den Vergleich von 1297 ausdrücklich aufnahm.²¹⁹ Der Vertrag sollte gelten þar til sem konungur ok erkibiskup med bestu manna radi j rikinu vilia aðra skipan a gera (‚bis der König und der Erzbischof mit dem Rat der besten Männer des Reiches einen anderen Vergleich darüber machen‘). Damit gaben die Geistlichen und Laien Islands ihre Selbständigkeit zugunsten der Macht von König, Reichsrat und Erzbischof auf.²²⁰

3 Island unter den dänischen Königen seit 1450 Seit der Vereinigung Norwegens mit Dänemark 1450 regierte dort der Unionskönig Christian I. (bis 1481).²²¹ Er sorgte hinfort auf der Insel für Ruhe und Ordnung. Ein Beispiel dafür ist die so genannte langa réttarbót vom 26. November 1450,²²² die in 21 Nummern die königlichen Amtsträger zur unparteiischen Rechtsprechung verpflichtete (§ 1), Gewalt gegen Kleriker untersagte (§§ 15, 16) sowie ihnen und den königlichen Beamten verbot, ihr Gefolge zu vermehren (§§ 4–6). Raub und Diebstahl waren allgemein verboten (§  2); Ausländern wurde untersagt, Fluchthilfe aus Island zu leisten (§ 14). Auch der Holmgang war verboten (§ 20). Jedoch meldet die Sammlung isländischer Gesetze, das Allthing habe diese Verordnung nicht registriert.²²³ Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts setzten die Könige einen, zwei (oder seltener vier) Statthalter ein, die das Land bzw. die Viertel in seinem Namen verwalteten und Anteile an den eingetriebenen Steuern erhielten. Sie hießen entweder hirðstjórar (‚Statthalter‘)²²⁴ oder höfuðsmenn (‚Hauptleute‘), am Ende des Mittelalter auch fóguti oder fóveti (‚Vögte‘). In ihren Huldigungsbriefen für Erik von Pommern 1419 und 1431 machten die Isländer gewisse Eigenrechte geltend,²²⁵ z. B. sollten als Statthalter nur

218 Vergleich von Avaldsnes (in: DI 2, 167, S. 323–325); zur Datierung vgl. Helle 1972, S. 606 und 613 f.; Blom 1983, S. 17. 219 Vertrag von Skálholt vom 19. Juli 1358 (in: DI 3, 86, S. 120–122; vgl. dort S. 121, Anm. 20). 220 Vgl. Blom 1983, S. 17. 221 Christian I. aus dem Hause Oldenburg war von 1447 bis zu seiner Absetzung 1464 König von Schweden, von 1448–81 König von Dänemark. 1450 wurde Norwegen mit Dänemark vereinigt und Christian I. war bis 1481 auch norwegischer König, dem auch das Schatzland Island gehörte. 222 DI 5, 55, S. 62 f. (Kopenhagen, 26. November 1450) = NGL2 2, 30, S. 66–71; sie wurde in einem Vidisse in Hole i Hjaltadal noch am 25. Oktober 1543 durch den Bischof Jón Arason und die Rechtsprecher Are Jónsson und Thormod Arason erneuert. 223 So in: LI 1, S. 36 (in: Kongelige forordningar (Magnus Ketilsson 1776–87), 1, S. 10–34). 224 Vgl. Árna saga biskups (Þorleifur Hauksson 1972), c. 24; der Titel hirðstjóri (‚Statthalter‘) wird erstmals in der Urkunde vom 10. Juni 1320 (DI 2, 342, S. 495 f.); vgl. Björn Þorsteinsson 1961, Sp. 582. 225 Vgl. z. B. die isländischen Huldigungsbriefe für Erich von Pommern vom 1. Juli 1419 (in: NGL2 1,

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Isländer ernannt werden. Noch 1501 beschloss das Allthing, der König solle die Statthalter benennen, aber die Rechtsprecher und das Allthing sollten sie bestätigen.²²⁶ Gleichwohl hielten sich die norwegischen und dänischen Unionskönige häufig nicht daran, sondern ernannten stattdessen Norweger oder Dänen, die sich meist nicht in Island aufhielten, sondern sich durch Beauftragte oder Vögte vertreten ließen. Die erwähnte Rechtsbesserung von 1450²²⁷ hatte in ihren §§ 17 und 18 bereits untersagt, ungerechte Steuern zu erheben und geboten, rechtmäßig erhobene Abgaben umgehend an die zuständigen Beamten abzuliefern. Die Statthalter bewirtschafteten auch die Königsgüter und richteten über kleinere Vergehen. Ein offener Brief des dänischen Königs von 1463²²⁸ sicherte die Entrichtung des seckia giolld (‚Sackgeld‘) als Steuer für das Privileg, in Island Handel treiben zu dürfen. Die Statthalter führten auch die Aufsicht über den Handel, was wichtig wurde, als die Hanse²²⁹ im 14. und die Engländer im 15.  Jahrhundert den Islandhandel in ihre Hand brachten.²³⁰ Die Handelsgüter wechselten: Waren zunächst Wolle und Wollstoff die hauptsächliche Exportwaren, so wurden es nun Stockfisch und Fischöl. Islands Fischzeitalter begann recht eigentlich nach 1400, als die deutschen und englischen Kaufleute begannen, Island direkt anzulaufen. Zwischen beiden kam es zu einem regelrechten Handelskrieg.²³¹ Dadurch wurden die Isländer, die kaum Schiffe besaßen, vom ausländischen Handel abhängig.²³² Zudem herrschte 1402 bis 1404 in Island die Pest, die große Opfer forderte. Die Statthalter hatten überhaupt die höchste Regierungsgewalt in Island inne; auch die Landesverteidigung lag in ihren Händen. Nach dem Kriegsausbruch zwischen Dänemark und England 1468 entsandte der dänische König Christian I. Kriegsschiffe und Seeoffiziere nach Island, als ersten Didrich Pining aus Hildesheim, der von 1478–1490 Statthalter auf Island wurde.²³³ Er sollte Freibeuter verjagen und die königliche Seeherrschaft sichern.

50 a, S. 708–710) und vom 30. Juni 1431 (ebd., 69 a, S. 715 f.). Hier wird das Gamli sáttmáli von 1262 als retterbot im Sinne von Gunsterweis gebraucht (vgl. Blom 1969, Sp. 113). 226 DI 7, 550, S. 573 f. (á Alþingi, 1. Juli 1501 (Alþijngis samþykt)); vgl. Björn Þorsteinsson 1961. 227 Vgl. Anm. 221. 228 DI 5, 334 (Kopenhagen, 15. Juli 1463) = NGL2 2, 98, S. 154 f. 229 Über die Beziehungen der Hanse zu Island vgl. Bjørn Þorsteinsson 1972, S. 165–195. 230 Mehrere Verträge zwischen den Unionskönigen und den englischen Königen sperrten Island für englische Kaufleute, es sei denn, sie erwarben eine ausdrückliche Handelszulassung des Unionskönigs, so: der Vertrag Erichs von Pommern mit Heinrich VI. vom 24. Dezember 1432 (LI 1, S. 3); zwischen Christian I. und Heinrich VI. von 1449/50 (ebd., S. 36) sowie zwischen Christian I. und Eduard IV. vom 3. Okt. 1465 (ebd., S. 36 f.); vgl. auch die retterbod Christians I. über Winterlieger in Island (Kopenhagen, 30. April 1480 (ebd., S. 37 f.)) sowie den Vertrag des Königs Hans mit Heinrich VII. vom 20. Januar 1490 (Teildruck ebd., S. 39–41). 231 Vgl. Jón Hjálmarsson 2009, S. 64 f. 232 Vgl. Jóhannes Nordal / Valdimar Kristinsson 1975, S. 42 f. 233 Vgl. Björn Þorsteinsson 1961.

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 Dieter Strauch

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