Sämtliche Werke: Band 11 Nachgelassene Fragmente 1884–1885 [2., durchgeseh. Ausg. Reprint 2021 ed.] 9783112419045, 9783112419038


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Sämtliche Werke: Band 11 Nachgelassene Fragmente 1884–1885 [2., durchgeseh. Ausg. Reprint 2021 ed.]
 9783112419045, 9783112419038

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Nietzsche • KSA 11 Nachgelassene Fragmente 1884-1885

Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden

KSA

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1:

Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen I-IV Nachgelassene Schriften 1870-1873 2 : Menschliches, Allzumenschliches I und II 3 : Morgenröte Idyllen aus Messina Die fröhliche Wissenschaft 4: Also sprach Zarathustra 5 : Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral 6: Der Fall Wagner Götzen-Dämmerung Der Antichrist • Ecce homo Dionysos-Dithyramben • Nietzsche contra Wagner 7 Nachgelassene Fragmente 1869-1874 8 Nachgelassene Fragmente 1875-1879 9 Nachgelassene Fragmente 1880-1882 10 Nachgelassene Fragmente 1882-1884 11 Nachgelassene Fragmente 1884-1885 12 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 !3 Nachgelassene Fragmente 1887-1889 14 Einführung in die KSA Werk- und Siglenverzeichnis Kommentar zu den Bänden 1-13 Chronik zu Nietzsches Leben !5 Konkordanz Verzeichnis sämtlicher Gedichte Gesamtregister

Friedrich Nietzsche Nachgelassene Fragmente 1884-1885 Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari

Deutscher Taschenbuch Verlag de Gruyter

Band 1 1 der ,Kritischen Studienausgabe' (KSA) in 15 Bänden, die erstmals 1980 als Taschenbuchausgabe erschien und für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen wurde. Sie enthält sämtliche Werke und unveröffentlichten Texte Friedrich Nietzsches nach den Originaldrucken und -manuskripten auf der Grundlage der ,Kritischen Gesamtausgabe', herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York Die Bände 14 (Kommentar) und 15 (Chronik und Gesamtregister) wurden eigens für die K S A erstellt. Übersetzung des Nachworts von Ragni Maria Gschwend. K S A 15 enthält die Konkordanz zur ,Kritischen Gesamtausgabe'.

November 1988 Deutscher Taschenbuch Verlag G m b H & Co. K G , München Walter de Gruyter, Berlin/New York © 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage) Walter de Gruyter & Co., vormals G . J . Göschen'sche Verlagsbuchhandlung - J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer - Karl J.Trübner Veit & Comp., Berlin 30 Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C.H.Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany I S B N dtv 3-423-02231-0 I S B N WdeG 3 - 1 1 - 0 1 1 8 5 0 - 5

Inhalt Vorbemerkung Nachgelassene Fragmente. Juli 1882 bis Herbst 1885 2. Teil: Frühjahr 1884 bis Herbst 1885 (25-45) . . . . Nachwort Inhaltsverzeichnis

7 9 711 727

Vorbemerkung Band n der Kritischen Studienausgabe enthält den zweiten Teil von Nietzsches nachgelassenen Fragmenten aus der Zeit von Juli 1882 bis Herbst 1885. Er entspricht den Bänden VII/2 und VII/3 (beide: Berlin/New York 1974) der Kritischen Gesamtausgabe und enthält die Fragmente von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885. Über die Beschaffenheit von Nietzsches Nachlaß aus der gesamten Periode berichtet die Vorbemerkung zu Band 10. Am Schluß dieses Bandes werden die Nachworte übersetzt, die Giorgio Colli zu Nietzsches nachgelassenen Fragmenten von Frühjahr 1884 bis Herbst 1885 schrieb (erschienen 1976 und 1975 im Adelphi Verlag, Mailand). Mazzino Montinari

[ 2 5 = W 1 1 . Frühjahr 1884]

Die ewige Wiederkunft. Eine

Wahrsagung.

Von Friedrich Nietzsche.

Erstes Hauptstück: „Es ist Zeit!" (Nizza, März 1884.) Meine nächsten Aufgaben: Moral für Moralisten. Selbst-Erlösung. Die ewige Wiederkunft. Dionysische Tänze und Fest-Lieder.

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Nachgelassene Fragmente

*f[3] „Das Paradies ist unter dem Schatten der Schwerter." Orientalisch) mW „Geradezu stoßen die Adler" Olof Haraldssons Saga.

„Wer der Wahrheit zu nahe auf dem Fuße folgt, läuft Gefahr, daß ihm einmal der Kopf eingeknickt wird." englisches Sprüchwort

Die ewige Wiederkunft Eine Wahrsagung. Erstes Hauptstück. „Es ist Zeit!" Zweites Hauptstück. Der große Mittag. Drittes Hauptstück. Die Gelobenden. *5[7] i. Meine Freunde, ich bin der Lehrer der ewigen Wiederkunft. Das ist: ich lehre, daß alle Dinge ewig wiederkehren und ihr selber mit —, und daß ihr schon unzählige Male dagewesen seid und alle Dinge mit euch; ich lehre, daß es ein großes langes ungeheures Jahr des Werdens giebt, das, wenn es abgelaufen, ausgelaufen ist, gleich einer Sanduhr immer wieder umgedreht wird: so daß alle diese Jahre sich selber gleich sind, im Kleinsten und im Größten.

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Und zu einem Sterbenden würde ich sprechen: „Siehe, du stirbst und vergehst jetzt und verschwindest: und da ist Nichts, das von dir als ein „Du" übrig bliebe, denn die Seelen sind so sterblich wie die Leiber. Aber dieselbe Gewalt von Ursachen, welche dich dies Mal schuf, wird wiederkehren und wird dich wiederschaffen müssen: du selber, Stäubchen vom Staube, gehörst zu Ursachen, an denen die Wiederkehr a l l e r Dinge hängt. Und wenn du einstmals wiedergeboren wirst, so wird es nidit zu einem neuen Leben oder besseren Leben oder ähnlichen Leben sein, sondern zu einem gleichen und selbigen Leben, wie du es jetzt beschließest, im Kleinsten und im Größten." Diese Lehre ist noch nicht auf Erden gelehrt worden: nämlich auf der diesmaligen Erde und im diesmaligen großen Jahre. *

*

*

2.

„Dans le véritable amour c'est l'âme, qui enveloppe le corps". Wer in unsrer Zeit jung war, der hat zu Viel erlebt: vorausgesetzt, daß er zu den Wenigen gehört, die noch tief genug sind zu „Erlebnissen". Den Allermeisten nähmlich fehlt jetzt diese Tiefe und gleichsam der rechte Magen: sie kennen daher auch die Noth jenes rechten Magens nicht, welcher mit jedem Erlebniß „fertig werden" muß, die größten Neuigkeiten fallen durch sie hindurch. Wir Andern haben zu sdiwere, zu mannichfache, zu überwürzte Kost hinunterschlucken müssen, als wir jung waren: und wenn wir schon den Genuß an seltsamen und unerhörten Speisen voraus haben vor den Menschen einfacherer Zeiten, so kennen wir das eigentliche Verdauen, das Erleben, Hineinnehmen, Einverleiben fast nur als Q u a 1. Meine Freunde, wir haben es hart gehabt, als wir jung waren: wir haben an der Jugend selber gelitten wie an einer

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Nachgelassene Fragmente

schweren Krankheit. Das macht die Zeit, in die wir geworfen sind, — die Zeit eines großen immer schlimmeren Verfallens und Auseinanderfallens, welche mit allen ihren Schwächen und noch mit ihrer besten Stärke dem Geiste der Jugend entgegen wirkt. Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit ist dieser Zeit eigen: nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich: man lebt für morgen, denn das Übermorgen ist zweifelhaft. Es ist Alles glatt und gefährlich auf unsrer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden: wir fühlen Alle den warmen unheimlichen Athem des Thauwindes — w o wir noch gehen, da wird bald Niemand mehr gehen k ö n n e n . Ich habe einsam gelebt und mich tüchtig und herzhaft in den Mantel der Einsamkeit gewickelt: das gehört zu meiner Klugheit. Es ist jetzt sogar viel List nöthig, um sich selber zu erhalten, selber o b e n zu erhalten. Jeder Versuch, es i n der Gegenwart, m i t der Gegenwart auszuhalten, jede Annäherung an die Menschen und Ziele von heute, ist mir bisher mißrathen; und ich habe die verborgene Weisheit meiner Natur angestaunt, welche bei allen solchen Versuchen sofort durch Krankheit und Schmerz mich wieder zu mir selber zurück ruft. Es versteht sich von selber, daß ich Alles das kenne, was man die Leiden des Genies nennt: die Verkennung, Vernachlässigung, die Oberflächlichkeit jeden Grades, die Verdächtigung, die Heimtücke; ich weiß, wie Manche uns wohl zu thun glauben, wenn sie uns in „bequemere" Lagen, unter geordnete z u v e r l ä s s i g e Menschen zu bringen suchen; ich habe den unbewußten Zerstörungs-Trieb bewundert, den alle Mittelmäßigkeit gegen uns bethätigte, und zwar im besten Glauben an ihr Recht dazu. In manchen allzu erstaunlichen Fällen habe ich mich meines alten Trostes vertröstet: dies ist — französisch zu reden — la betise humaine — ein Ding, das mich im Grunde immer mehr ergötzt als verdrossen hat. Es gehört zu der großen Narrethei, deren Anblick uns höhere Menschen am Leben festhalten läßt. Und wenn mein Auge sich nicht täuscht: so ist

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hundert Mal mehr Dummheit in a l l e m menschlichen Handeln als geglaubt wird. Insgleidien aber ist der Anblick der tiefen feinen ihrer selber sicheren, ihrer selber aber gänzlich unbewußten H e u c h e l e i unter allen guten dicken braven Mensdien für den, der sie sehen kann, ein Ding zum Entzücken: und im Gegensatz zur betise humaine ist hier die unbewußte V e r s c h l a g e n h e i t entzückend.

2$[l0] Die Leidenschaften benutzen wie den Dampf zu Maschinen. Selbst-Überwindung. *$["] Als Knabe war ich Pessimist, so lächerlich dies klingt: einige Zeilen Musik aus meinem zwölften, dreizehnten Lebens-Jahre sind im Grunde von Allem, was ich an rabenschwarzer Musik kenne, das Schwärzeste und Entschiedenste. Ich habe bei keinem Dichter oder Philosophen bisher Gedanken und Worte gefunden, die so sehr aus dem Abgrunde des letzten Neinsagens herauskämen, in dem ich selber zeitweilig gesessen habe; und auch was Schopenhauer betrifft, bin ich den Glauben nicht losgeworden, daß er zwar viel guten Willen zum Pessimismus) gehabt hat, aber auch einen viel besseren Widerwillen: den hat er nicht genug zu Worte kommen lassen, dank jenem dummen Genie-Aberglauben, den er von den Romantikern gelernt hatte, und dank seiner Eitelkeit, welche ihn zwang, auf einer Philosophie sitzen zu bleiben, die aus seinem 26ten Lebensjahre stammte und auch z u d i e s e m L e b e n s a l t e r g e h ö r t — wie wir Alle recht aus dem Grunde wissen, nicht wahr, meine Freunde? 2j[l2] Wie groß das Gefühl der Unsicherheit ist: das verräth sich am meisten in dem Entzücken an kleinen festen T a t h s a c h e n (eine Art von „ f a i t - a l i s m e " , welcher jetzt über Frankreich

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Nachgelassene Fragmente

herrscht) — eine Art Wahnsinn, die auf Erden noch nicht da war: und nicht nur die Wissenschaft, sondern auch ein großer Theil der gegenwärtigen Kunst entstammt d i e s e m Bedürfniß. Es verkleidet sich oft: z. B. in die Forderung der Unpersönlichkeit des Künstlers — das Werk selber soll ihn nicht verrathen, sondern wie ein getreuer Spiegel irgend ein factum bis ins Kleinste wiedergeben, f e s t s t e l l e n : aber dies Bedürfniß selber nach solchen facten, die Stand halten, gleichsam wie Schmetterlinge festgeheftet sind vom Sammler — ist etwas sehr Persönliches. Am Mährchen und der Féerie haben wir das entgegengesetzte Gelüst, von Menschen, die selber sich festgeheftet fühlen mit Sitten und Urtheilen. — Zur Seite geht ein grobes Tasten nach n ä c h s t e m Genuß: „das Nächste" wird das Wichtigste.

Es sind uns, wie noch nie irgendwelchen Menschen, Blicke nach allen Seiten vergönnt, überall ist kein Ende abzusehn. Wir haben daher ein Gefühl der ungeheuren Weite — aber auch der ungeheuren L e e r e voraus : und die Erfindsamkeit aller höheren Menschen besteht in diesem Jahrhundert darin, über dies furchtbare G e f ü h l d e r O e d e hinwegzukommen. Der Gegensatz dieses Gefühls ist der R a u s c h : wo sich gleichsam die ganze Welt in uns gedrängt hat und wir am Glück der Uberfülle leiden. So ist denn dies Zeitalter im Erfinden von Rausch-Mitteln am erfinderischesten. Wir kennen alle den Rausch, als Musik, als blinde sich selber blendende Schwärmerei und Anbetung vor einzelnen Menschen und Ereignissen, wir kennen den Rausch des Tragischen d(as) ist die Grausamkeit im Anblick des Zugrundegehens, zumal wenn es das Edelste ist, was zu Grunde geht: wir kennen die bescheideneren Arten des Rausches, die besinnungslose Arbeit, das sich-Opfern als Werkzeug einer Wissenschaft oder politischen oder geldmachenden Partei; irgend ein kleiner dummer Fanatismus, irgend ein unvermeidliches Sichherumdrehen im kleinsten Kreise hat schon berauschende Kräfte. Es giebt auch

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eine gewisse excentrisch werdende Bescheidenheit, welche das Gefühl der Leere selber wieder wollüstig empfinden läßt: ja einen Genuß an der ewigen Leere aller Dinge, eine Mystik des Glaubens an das Nichts und ein Sich-Opfern f ü r diesen Glauben. Und welche Augen haben wir uns als Erkennende gemacht für alle die kleinen Genüsse der Erkenntniß! Wie verzeichnen wir und führen gleichsam Buch über unsre k l e i n e n Genüsse, wie als ob wir mit dem S u m m i r e n des vielen kleinen Genusses ein Gegengewicht gegen jene Leere, eine Füllung jener Leere erlangen könnten —: wie täuschen wir uns mit dieser summirenden Arglist! *J[I4] Es giebt Menschen, welche man mit erhabenen Gebärden überzeugt, aber mit Gründen mißtrauisch macht. 25[i5] Mit Feindschaften war es mir niemals lange ernst. Im Augenblick zwar, zumal unter dem Eindrucke eines bedeckten Himmels könnte ich leicht Jemanden tödten — ich habe mich einige Male schon gewundert, daß ichs noch nicht gethan habe. Aber ich lache zu bald wieder, als daß ein Feind sehr viel bei mir gutzumachen hätte. Überdieß bin ich aus letztem Grunde davon überzeugt, daß ich meinen feindselig erregten Gefühlen mehr zu danken habe als den freundschaftlichen. Der europäische Pessimismus ist noch in seinen Anfängen: er hat noch nicht jene ungeheure sehnsüchtige Starrheit des Blicks, in welchem das Nichts sich spiegelt, wie er sie einmal in Indien hatte, es ist noch zu viel Gemachtes und nicht „Gewordenes" daran, zu viel Gelehrten- und Dichter-Pessimismus: ich meine ein gutes Theil darin ist hinzu erdacht und hinzu erfunden, ist „geschaffen", aber nidit U r s a c h e , gemacht und nicht „geworden".

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Nachgelassene Fragmente

Es gab denkendere und zerdachtere Zeiten als die unsere ist: Zeiten, wie zum Beispiel jene, in der Buddha auftrat, wo das Volk selbst, nach Jahrhunderte alten Sekten-Streitigkeiten, sich endlich so tief in die Klüfte der philosophischen Lehrmeinungen verirrt fand, wie zeitweilig Europäische Völker in Feinheiten des religiösen Dogma's. Man wird sidi am wenigsten wohl durdi die „Litteratur" und die Presse dazu verführen lassen, vom „Geiste" unserer Zeit groß zu denken: zu alledem beweisen die Millionen Spiritisten und ein Christenthum mit Turnübungen von jener schauerlichen Häßlichkeit, die alle englischen Erfindungen kennzeichnet, bessere Gesichtspunkte — ein Zeugniß gegen sich selber.

* 5 [ i 7] Als es mit der besten Zeit Griechenlands vorbei war, kamen die Moral-Philosophen: von Sokrates an nämlich sind alle griechischen Philosophen zuerst und im tiefsten Grunde Moral-Philosophen. Das heißt: sie suchen das Glück — schlimm, daß sie es suchen mußten! Philosophie: das ist von Sokrates an jene höchste Form der Klugheit, welche sich nicht vergreift beim persönlichen Glück. Haben sie wohl viel davon gehabt? Wenn ich denke, daß der Gott Plato's ohne Lust und Schmerz ist und der höchste Weise sich ihm nähert: so ist das ein persönliches Urtheil: Plato empfand das volle Gleichgültigsein als seine größte Wohlthat: sie wurde ihm wohl selten genug zu Theil! Aristoteles dachte sich seinen Gott als rein erkennend, ohne jegliches Gefühl von Liebe: und er selber hatte wohl so seine besten Augenblicke, wenn er kalt und hell (und freudig) den wollüstigen Schwindel der höchsten Allgemeinheiten genoß. Die Welt als System empfinden und das als Gipfel des menschlichen Glücks: wie verräth sich da der schematische K o p f ! Und Epikur: was genoß er denn, als daß der Schmerz a u f h ö r t e ? — das ist das Glück eines Leidenden und auch wohl Kranken.

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2J[I8] Die Verbrecher im Gefängniß schlafen gut; keine Gewissensbisse. Verlogenheit. Bei Frauen nervöse Anfälle to „break out" (schreien schimpfen fluchen, Alles zerbrechen) 25[19] Viele Halb-Wilde (brave g e s u n d e Jäger Fischer, mit viel unehelichen Kindern) werden in einer civilisirten Gesellschaft zu Verbrechern, namentlich weil Arbeit fehlt, und sie in schlechte Gesellschaft gerathen. Ihre Kinder vornehmlich stellen ein Contingent; verbunden mit Personen des VerbrecherT y p u s . Rasche Entartung. *$[*>] Ich empfinde häufig „Mitleid", wo gar kein Leiden da ist, sondern wo ich eine Verschwendung und ein Zurückbleiben sehe hinter dem, w a s h ä t t e w e r d e n k ö n n e n . So z.B. in Bezug auf Luther. Welche Kraft und verschwendet auf was für Probleme!

Ein gutes Capitel hätte ich über die V i e l h e i t v o n C h a r a k t e r e n zu schreiben, die in Jedem von uns steckt: und man soll Versuche machen, einige erscheinen zu lassen d. h. eine z u s a m m e n g e h ö r i g e G r u p p e von Eigenschaften durch klug angeordnete Umstände, Umgebungen, Studien, Entschlüsse zeitweilig zu b e g ü n s t i g e n , so daß sie sich aller vorhandenen Kräfte bemächtigen. Andere Eigenschaften werden dabei nicht oder wenig ernährt und bleiben zurück: d e n e n können wir später einmal Luft machen.

Ein gutes Capitel „die Kritik von Eltern, Lehrern, Vaterland, Heimat" — als Anfang der Befreiung, zunächst der Zweifel.

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Nachgelassene F r a g m e n t e

25[23]

„ V o n der Kraft des Willens", den Mitteln, sie zu stärken und zu schwächen. 2j[>4] „Über die Verschwendung unsrer Leidenschaften" und wie wir uns leicht an eine d ü r f t i g e A r t ihrer Befriedigung gewöhnen. Der Ascetism als Mittel, unsre Neigungen zu c o n c e n t r i r e n und zu s t a u e n . Balzac und Stendhal empfehlen allen produktiven Mensdien die Keuschheit. In Hinsicht darauf, was produktive Menschen zuoberst und -erst noth(wendig) haben um nicht an den Würmern des Geistes zu leiden — Eier legen, gackern und Eier brüten mit Grazie in inf(initum), im Bilde zu sprechen

V o m Clima Genua's sagt Michelet „admirable pour tremper les forts". Gênes est bien la patrie des âpres génies nés pour dompter l'océan et dominer les tempêtes. Sur mer, sur terre que d'hommes aventureux et de sage audace!" 25[26]

Balzac über W . Scott. 1838 nach i2j'ähriger Bekanntschaft: Kenilworth in Hinsicht auf P l a n das Meisterstück („der größte, der vollständigste, der außerordentlichste von allen"): les eaux de St. Ronan das Meisterstück und Hauptwerk comme détail et patience du fini. Les Chroniques de la Canongate comme sentiment. Ivanhoe (le premier volume s'entend) comme chef-d'œuvre historique. L'Antiquaire comme poésie. La prison d'Edimbourg, comme intérêt. — „Auprès de lui, lord Byron n'est rien ou presque rien." — „Scott grandira encore, quand Byron sera oublié." — „Le cerveau de Byron n'a jamais

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eu d'autre empreinte que celle de sa personnalité, tandis que le monde entier a posé devant le génie créateur de Scott et s'y est miré pour ainsi dire." 2JI>7] „Je comprends, comment l a c o n t i n e n c e a b s o l u e de i Pascal et ses immenses travaux l'ont amené à voir sans cesse un abîme à ses côté(s)" — 25[28]

. Notice biographique sur Louis Lambert „ein Werk, wo ich mit Goethe und Byron habe kämpfen wollen, mit F a u s t und M a n f r e d " . „II jettera peut-être, un jour ou l'autre, la science dans des voies nouvelles." 2j[2 9 ] Über Stendhal „un des esprits les plus remarquables de ce temps". „Er hat sich zu wenig um die F o r m gekümmert", „er schreibt wie die Vögel singen" „notre langue est une sorte de madame Honesta, qui ne trouve rien de bien que ce qui est irré1 s prochable, ciselé, léché." La Chartreuse de Parme ein wunderbares Buch, „le livre des esprits distingués."

„je n'ai pas de continuité dans le vouloir. Je fais des plans, je conçois des livres et, quand il faut exécuter, tout s'échappe."

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In Betreff der Chartr(euse) „ich würde unfähig sein, sie zu machen. Je fais une fresque et vous avez fait des statues italiennes." „Alles ist original und neu." Sciiön wie l'italien, und wenn Macchiavell in unseren Tagen einen Roman schriebe, so würde es die Chartreuse sein. „Vollkommen klar." „Vous avez expliqué l'âme de l'Italie."

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Nachgelassene Fragmente

Zu lesen Custine's Roman Ethel. Sie gehören mehr zur Litteratur i d é e als zur littérature i m a g é e : also zum 18ten Jahrhundert durch die Beobachtung à la Chamfort et à l'esprit de Rivarol par la petite phrase coupée. $ Scribe kennt das Metier, aber er kennt die Kunst nicht. Er hat Talent, aber kein dramatisches Genie; es fehlt völlig an Stil! *5[33] Einsamkeit, Fasten und geschlechtliche Enthaltsamkeit — typische Form, aus der die religiöse Neurose entsteht. Äußerste Wollust und äußerste Frömmigkeit im Wechsel. Fremdartige Betrachtung gegen s i c h : als ob sie Glas wären oder 2 Personen. 25

[34] Balzac „tiefe Verachtung für alle Massen". „Es giebt vocations, denen man gehorchen muß: irgend etwas Unwiderstehliches zieht mich zum Ruhme und zur Macht." 1832. 15 „mes deux seuls et immenses désirs, ê t r e c é l è b r e e t être aimé."

Wollte man G e s u n d h e i t , so würde man das Genie abschaffen. Ebenfalls den religiösen Menschen. Wollte man Moralität, ebenfalls: Abschaffung des Genies. Die Krankheit. Das Verbrechen. und ihre Cultur-Mission. Das Laster. Die Lüge. *J[3«] Bevor wir an's Handeln denken dürfen, muß eine unendliche 15 Arbeit gethafi sein. In der Hauptsache aber ist das k l u g e A u s -

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25 [32-40]

n ü t z e n der gegebenen Lage wohl unsre beste rathsamste Thätigkeit. Das wirkliche S c h a f f e n solcher Bedingungen, wie sie der Zufall schafft, setzt e i s e r n e Menschen voraus, die noch nicht gelebt haben. Zunächst das persönliche Ideal d u r c h s e t J z e n und v e r w i r k l i c h e n ! Wer die Natur des Menschen, d i e E n t s t e h u n g s e i n e s H ö c h s t e n begriffen hat, s c h a u d e r t v o r d e m M e n s c h e n u n d f l i e h t a l l e s H a n d e l n : Folge der vererbten Schätzungen!! io Daß die Natur des Menschen b ö s e ist, ist mein Trost: es verbürgt die K r a f t ! 2J[37] Mißverständniß

des Raubthiers:

sehr

gesund

wie

Cesare Borgia! Die Eigenschaften der Jagdhunde. 2 5 [ 3 8 ]

ij

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Die Abnahme an G e i s t in diesem Jahrhundert. Die Pantoffel-Manier der englischen Gelehrten. Macdiiavell hat die Helligkeit des Alterthums. Der französische esprit ist eine Art R o c o c o des Geistes — aber doch ein veritable goüt! Goethe langweilig und „undulatorisch". Die englischen Gelehrten huldigen dem Zeitschriften-Genius und seiner tiefen Mittelmäßigkeit. 5[39] Verhältniß von Mittelmäßigkeit zur Tugend — Aristoteles hat den f a t a l e n T h a t b e s t a n d angenehm empfunden! 2

25[40] Plato — das Ungriechische an ihm, die Veraditung des Leibes, der Schönheit usw. Es ist eine Vorstufe des Mittelalters — 25 Jesuitismus der Erziehung und Despotismus. Er wird diarakterisirt durch seinen „indifferenten" Gott — : Lust und Unlust sind ihm schon peinlich. Offenbar fastete er und lebte enthaltsam.

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Nachgelassene Fragmente

2ît4l] Den Zustand meiner Jugend fand ich sehr gut beschrieben in de Custine, mémoires et voyages. Er war 18 Jahre alt ( 1 8 1 1 ) je n'aspire qu'à des affections puissantes et sérieuses p. 25. „Ce n'est pas par vanité, que le génie veut des encouragements, c'est par modestie, par défiance de lui-même." De Custine. 2

SÎ4}]

„L'homme de génie pressent, l'homme de talent raconte: mais nul ne se sent et n'exprime dans le même moment. Le vrai malheureux ne peut que se taire: son silence est l'effet et la preuve même de son infortune." De Custine. 2$[44] „Tant d'intérêts à ménager, tant de mensonges à écouter avec cet air de dupe, première condition de la politesse sociale, fatiguent mon esprit sans l'occuper." De Custine. 2

5Ì45Ì

Madame de Lambert sagte zu ihrem Sohn „mon ami, ne vous permettez jamais que les folies, qui vous feront grand plaisir." „un crime, quand on y est poussé par une puissance qui vous paraît irrésistible, trouble moins la conscience qu'une faiblesse volontaire et vaniteuse." De Custine. [46] Madame de Bouffiers: „il n'y a de parfaits que les gens, qu'on ne connaît pas". Z

5Ì47Ì

Gerade die Lebhaftigkeit seiner Einbildungskraft macht die Schwierigkeit erklärlich, die erfindet zu handeln. Er ist in solcher Höhe des Gedankens angelangt, daß, für ihn, das intellektuelle

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25 [41-52]

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Leben vom aktiven Leben durdi einen Abgrund getrennt ist. Ii (Werner) est l ' A l l e m a g n e

p e r s o n n i f i é e . (I8II)

2 5 [ 4 8 ]

„Geboren in einer Periode, deren Meisterwerk René ist — muß idi mich der unfreiwilligen Tyrannei entledigen, die er auf mich ausübt" : De Custine 1811. Chateaubriand's Einfluß. 2

5[49] „Die Unruhe des Geistes ist unersättlich wie das Laster." De Custine.

Der Nachtheil des Reisenden (des Cosmopolitismus des G e l e h r t e n auch) g u t bei De Custine, I p. 332—3. Beraubt der Billigung und der Überwachung, sucht er eine Stütze in der Verachtung der Menschen. Seine oberflächlichen Studien zeigen ihm das, was auf der Oberfläche ist: Fehler und Lächerlidikeiten. Wird er alt, so ist er unfähig geworden, tiefe Neigungen keimen zu lassen. *S[ji] Das Alterthum hatte jene kleine Dosis von Christenthum schon in sich, welche dem Aufblühen der Künste gut ist. Der Katholicismus aber war eine barbarische Vergröberung davon: einen Kirchenvater aus einem Plato gemadit!

„noblesse tragique, cette dignité, égalité de style, nos gestes peu naturels, notre chant ampoulé" — in England als Affektation erscheinend. Der Franzose empfindet das englische Theater als ignoble. „Bei Shakespeare herrscht der Sinn des Wahren über den (des) Schönen. Sein Stil, bisweilen erhaben, ist u n t e r seinen

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Nachgelassene Fragmente

Conceptions, selten befreit er sich von den Fehlern seines Jahrhunderts: les concetti, la recherche, la trivialité, l'abondance des paroles." 25[53] Die anziehende Kraft furchtbarer (vernichtender) Dinge: der Schwindel, sich in die Abgründe der Zukunft zu stürzen — 25Î54] quelque philosophe morose finira peut-être par oser dire d e l a l i b e r t é m o d e r n e , qu'elle consiste dans la double faculté de mentir aux autres et de se mentir à soi-même (1822). 2

sissl

Über Walter Scott: er erkennt mehr das Werk eines „Décorateur, als das eines Malers". Er malt, was sich den Blicken bietet: die Analyse der Gefühle échappe à cette plume, qui n'est jamais qu'un pinceau. — Seine Poesie ist nicht l'expression immédiate de ce qui se passe dans son âme, er entschlüpft der Manier nicht, weil il ne prend pas lui-même assez de part à ce qu'il dit. „ A n s c h e i n der Wahrheit." Man wünscht sublime Züge, wo die Seele sich mit Einem Wort enthüllt. — Er ist der Rossini de la littérature — er wählt mit n i c h t g e n u g G e s c h m a c k die Einzelheiten, die am bemerkenswerthesten sind. Seinen Bildern fehlt die Perspektive — z u v i e l Objekte im Vordergrund, parce qu'il ne sait pas prendre un parti pour la lumière. Es sind Prozession — nicht eine H a n d l u n g , für welche der Künstler allen Anschauern den einzigen richtigen point de vue giebt. An Stelle des Genies historischer) Instinkt. Durdi sein Talent, Illusion zu schaffen, wird er der populärste Autor des temps peu consciencieux où nous vivons. Sein Verdienst eine Revolution: er hat besser als irgend jemand vor ihm das Problem des h i s t o r i s c h e n ) R o m a n s gelöst, „pour avoir su ramener, si (ce) n'est le sentiment, a u m o i n s l a mode d u v r a i d an % 1 « s i è c l e du f a u x . "

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„Die Vernunft macht es wie alle Sklaven: sie verachtet friedliebende Herren und dient einem Tyrannen. Mitten im Kampfe mit heftigen Leidenschaften läßt sie uns im Stich; sie vertheidigt uns nur gegen kleine affections." 2J[$7] Uber das moderne Sklaventhum De Custine I I p. 291. 25[58]

Zur Sonntags-Heiligung: on a rendu le délassement si pénible, qu'il fait aimer la fatigue „sie kommen zurück in ihre Häuser, ganz glücklich zu denken, daß morgen die Arbeit wieder losgeht" 2

s[59] Die großen englischen Schauspieler wie K e a n haben die höchste Einfachheit der Gesten und das seltene Talent, mit Wahrheit die heftigsten Affekte auf ihrer höchsten Stufe nachzuahmen. Kean hatte auch in der Deklamation Einfachheit: im Gegensatz zu der Schule K e m b l e ' s , die un chant ampoulé eingeführt hatte très peu favorable aux grands effets tragiques. „Die Natur auf der That zu ertappen, in Zuständen wo sie am sdiwersten zu beobachten ist" — sein Talent. 25[60] „Das Herz der Franzosen im Theater verhärtet sich wenn man es z u s e h r r ü h r e n will. Es liebt die Ideen eines Autors zu v e r v o l l s t ä n d i g e n : in England f ü r c h t e t man, etwas zu r a t h e n zu haben"

„Die Poesie als eine Art Reaktion des Ideals contre le positif: je m e h r die Seele gedrückt ist, um so mehr Kraft braucht sie in

26

Nachgelassene Fragmente

ihrem élan vers l'idéal. Der revolutionäre Geist wesentlich antipoetisch: denn die Poesie will sich an der Wirklichkeit r ä c h e n , dazu thut eine solide Basis noth, g e g e n welche sie ankämpft. Der conservative Geist ist in so fern günstig der Entwicklung des Génies: die Phantasie fliegt da aufwärts: Poesie und Glaube sind nur die Ahnung einer b e s s e r e n W e l t . " C. Zur Erklärung Byron's in einer redinenden Nation. . „Die eingeborene P e d a n t e r i e der Engländer treibt Alles zum E x t r e m : die Ordnungsliebe wird minutie; le goût pour l'élégance puérilité („Kinderei"), das Bedürfniß nach Bequemlichkeit wird zum Egoismus, der Stolz zu Vorurtheilen gegen die Nachbarn, die Thätigkeit zur Rivalität usw. 25[6z]

25[63] Le comfort drinnen, la „fashion draußen — die tödtlichen Feinde des Glücks und der Ruhe der Engländer. Das B e d ü r f n i ß d e r M o d e ist nur das Bedürfniß b e n e i d e t oder b e w u n d e r t zusein." ^[64] Der Fluch, der den Menschen zur Arbeit verdammt, ist ihm auf der Stirn geschrieben. „Les Anglais sont des galériens opulens." Kein Geschmack: das Resultat einer großen Intelligenz, die an einen kleinlichen esprit geknüpft ist und hartnäckig in der Neuerung ist. L'esprit de détail, l'attention aux petites dioses produit le soin, mais „weder das Große noch das Schöne dans les arts."

Vi"] L'esprit frondeur als Element aufgenommen in die Verfassung — das treibt zum Paradoxon. „ M a n s c h ä t z t d i e

Frühjahr 1884

25 [61-71]

27

D i n g e n i c h t w i e sie an s i c h s i n d , s o n d e r n n a c h ihren B e z i e h u n g e n zur h e r r s c h e n d e n Macht." r 67] Die aufgeklärten Völker urtheilen s c h l e c h t e r Menschen und Dinge: ihre presumption ist die Ursache.

über

aj[68] „Die Meinungen wechseln da vollständig und prompt parpur esprit de p a r t i . Aus Haß gegen ein Ministerium weiß schwarz nennen, ist verhängnißvoller für die Moral als eine weitgetriebene soumission. Der Gehorsam läßt uns, weit getrieben, auf Rechte verzichten: l'esprit de revolte läßt uns Pflichten opfern."

zsib] „Die Gewohnheiten regulär, die sentiments romanhaft." *j[7°] NB. Das Uberhandnehmen der s k l a v i s c h e n Gesinnung in Europa: der große Sklaven-Auf stand, (ego) Der Sklave im Regiment. Das Mißtrauen gegen alle noblesse des Gefühls, Herrschaft der gröbsten Bedürfnisse. Die moralische Verlogenheit. Das Sklaven-Mißverständniß der Cultur und des Schönen. Mode, Presse, suffrage universel, faits — er erfindet immer neue Formen des sklavischen Bedürfnisses. Der n i e d e r e Mensch sich empörend z. B. Luther gegen die sancti die Unterwerfung unter die facta, als Wissenschaft der Sklaven. Die zunehmende V e r d u m m u n g Europa's.

und Vergemeinerung

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Nachgelassene Fragmente

Nachwuchs des Adels l'homme supérieur immer mehr angefeindet. die moralistische Cultur der Spanier und Franzosen im Zusammenhang mit dem Jesuitism. Dieser wird mißverstanden. Das Fehlen aller moralischen Praktik; Gefühle statt Principien.

„il souffre, il succombe au lieu de combattre et de vaincre. Was soll man mit einem Gefühl gegen eine Passion machen! l'attaque et la defense viendraient de la même source! Wenn der Feind im Herzen ist, dann Autorität, Gewohnheit, dann Gehorsam, Erniedrigung, Regel, Disciplin, Gesetz, Übungen, selbst anscheinend pueriles, dann ein Anderer als wir, ein Priester, ein Beichtiger, dessen Stimme unsere schweigen macht: das hat man nöthig, um uns vor uns selber zu retten." C. „Wenn man u n s i n n i g wird, genügt es nicht, um sich nicht zu tödten, daß man g e t r ä u m t hat, ein christlicher Philosoph zu sein: wie es die Mehrzahl der Protestanten sind, die denken." *S[73] Es thut also noth: e i n e A r t E r z i e h e r u n d R e t t e r , auch Zufluchts-Stätten außerhalb der gewöhnlichen Welt, hartes Leben, viele Erfindungen der Askese zur Selbst-Beherrschung. Schutz vor der Sklaven-Gemeinheit und dem Pharisäismus. 25[74] Höhepunkte der R e d l i c h k e i t : Macchiavell, der Jesuitismus, Montaigne, Larodiefoucauld die Deutschen als Rückfall in die moralische Verlogenheit 2JÍ75] „Die gemeinen Naturen täuschen sich über die noblen: sie errathen deren Motive nicht." !

Frühjahr 1884 25[76]

25 [ 7 1 - 8 0 ]

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.

„Die Fähigkeit, uns selber zu vergessen, die Hingebung, die Aufopferung — all das Verdienst so seltener Gaben ist verloren für den, welcher nicht weiß, sich geliebt zu machen, wenn er liebt. Diese leidenschaftlichen Seelen werden dann u n d a n k b a r : sie profitiren von ihrer Civilisation, um sie zu verläumden. Wo können sie denn leben, wenn nicht in den Wäldern und nicht in der Welt!" *5 [77] „Wo sind die vollständigeren Charaktere in unserer Welt? Die Darstellung der Tugend in moral8] „Ruhm dem Starken, den unsere Zeit als den Chef der romantischen Schule preist — Victor Hugo" 1835. 2J[79] „l'amour exalté de la vérité est la misanthropie des bons coeurs" 2$[8o] Aus dem Zeitalter der religiösen Heuchelei sind wir in die Zeit der moralischen Heudielei hinübergegangen. „Eine der Wohlthaten des représentatif) gouvernement) ist genau dies, die Ehrgeizigen zu zwingen, die Maske der Moral und Menschlichkeit vorzunehmen. Aber warum dann sich ereifern über die Geistlichkeit, welche, so lange sie herrschte, die Civilisation unterstützte mit ganz ähnlichen Mitteln? — Den Priestern soll man nicht ihren Ehrgeiz vorwerfen, sondern w o l l e n o h n e z u k ö n n e n . Sie täuschen sich über ihre Zeit: darum thun sie Schaden."

30

Nachgelassene Fragmente

In der Welt g i e b t es gar nicht Gute und Böse: diese sind immer à part. Die übermenschlichen Tugenden sind insociables und ebenso die großen Verbrechen. Aber in allen Gesellschaften giebt es zurückgebliebene und „fortgeschrittene" Geister. Sie haben dieselbe Passion: aber die ersteren bedienen sich, um über ihre persönlichen Absichten zu täuschen, der Worte, deren Hohlheit die Welt schon kennt: und die Anderen reden, zu den gleichen Zwecken, eine Sprache, die die Masse noch t ä u s c h t : sie hat den Schlüssel zu diesen Worten nicht. Das ist der Unterschied zwischen den Mittelmäßigen und den höheren Geistern: die letzteren verstehen im Grunde die Sprache ihrer Zeit: die ersteren bemerken die Lüge n u r in der Sprache ihrer Voreltern. Über „ewiges Heil" „Hölle" „Paradies" charité ist man aufgeklärt; unsere Enkel werden es über Philanthropie, liberté, privilégés, progrès sein. „Die Reformatoren einer Epoche sind die Conservatoren einer anderen. Dasselbe génie kann betrachtet werden comme c r é a t e u r ou comme r a d o t e u r . " 2J[8I] „Das Wahre ist niemals wahrscheinlich." 2J[82]

„Der luxe sollte nur dort erlaubt sein, wo die Armen guten Humor haben" : er verdirbt die, welche ihn beneiden. „— les apôtres modernes, les auteurs philosophes, mentent plus que les prêtres qu'ils ont détrônés s a n s l e s r e m placer." . Es ist das Zeitalter der V e r l o g e n h e i t : die moralische Güte ist das, was affichirt wird. Man wehrt sich gegen La Rochefoucauld und das Christen thum —: der große Sklaven-Auf stand.

25[84]

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25 [ 8 0 - 8 8 ]

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Festzustellen: der Mensch ist böse — ist das furchtbarste Raubthier, in Verstellung und Grausamkeit. Festzustellen: d a ß e r noch b ö s e i s t , e n t h ä l t d i e H o f f n u n g . Denn der gute Mensdi ist die Caricatur, welche Ekel macht: er läuft dem Ende immer voraus. 25 [ 8 j ] Die Verdummung, auch in der Wissenschaft. Die Anspruchslosigkeit in der Verehrung Darwins. Die Bescheidenheit in der Politik usw. 2j[86] Tendenz des Trauerspiels nach Sdiopenhauer II 495. „Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen geben könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur R e s i g n a t i o n hin." — O h wie anders redet Dionysos zu m i r ! — Sdiopenhauer: „weil die Alten noch nicht zum Gipfel und Ziel des Trauerspiels, ja der Lebensansicht überhaupt gelangt waren". 25[87]

Große Dichter haben v i e l e Personen in sich: manche nur E i n e , aber eine g r o ß e ! — 25 [88] Die Furcht — sklavenhaft. Der mindeste A u f w a n d an Geist (Nachahmung) Die Gleichgültigkeit und der H a ß gegen das Seltne. Die Häßlichkeit. Das Durcheinander der Stile. Das ausbrechende Bedürfniß der Lüge — Epidemie.

Zeitalter der Verlogenheit

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Nachgelassene Fragmente

25[89] Das Wesentliche am Künstler und Genie: der Schauspieler. Kein Mensch besitzt zur gleichen Zeit Ausdruck und Gefühl; Worte und Wirklichkeit. Der tiefe égoisme unter der Sprache der sensibilité.

„Mangel an Delikatesse in der Wahl der Mittel des Erfolgs, Mißbrauch der Invektive, Haß auf das, was da ist, Gleichgültigkeit gegen das, was sein wird — gemeinsam den französischen Schriftstellern der letzten 100 Jahre (1835) Rückkehr zum wilden Leben predigen mit einer Feder, von der man Ruhm und Glück in der socialen Welt erwartet — ist eine Undankbarkeit und eine Kinderei."

„L'effet ordinaire du désespoir est de rendre l'énergie à ceux, qui sont témoins de cette maladie morale"

„die Frauen immer weniger civilisirt als die Männer: im Grunde der Seele wild; sie leben im Staate wie die Katzen im Hause, immer bereit zur Thür oder zum Fenster hinauszuspringen und in ihr Element zurückzukehren" [93] Das Moralische d.h. die Affekte — als identisch mit dem Organischen der Intellekt als „Magen der Affekte." 25 [94] Die I d e n t i t ä t im Wesen des E r o b e r e r s , G e s e t z g e b e r s und K ü n s t l e r s — das S i c h - hinein-bilden in den Stoff, höchste Willenskraft, ehemals sich als „Werkzeug Gottes" fühlend, so unwiderstehlich sich selber erscheinend. Höchste Form des Zeugung-Triebes und z u g l e i c h der mütterlichen

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25 [89-96]

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Kräfte. Die Umformung der Welt, u m e s i n i h r a u s h a l t e n z u k ö n n e n — ist das Treibende: folglich als Voraussetzung ein ungeheures Gefühl des W i d e r s p r u c h s . Bei den Künstlern genügt schon sich mit B i l d e r n und Abbildern davon zu umgeben z. B. Homer unter den „erbärmlichen Sterblichen". Das „Los-sein-von-Interesse und ego" ist Unsinn und ungenaue Beobachtung: es ist vielmehr das Entzücken, jetzt in u n s e r e r Welt zu sein, die Angst vor dem Fremden loszusein!

Ich habe die Erkenntniß vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes „epikureische Vergnügen" dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust r e i c h t a u s — idi habe das Tragische erst entdeckt. Bei den Griechen wurde es, dank ihrer moralistischen Oberflächlichkeit, mißverstanden. Auch Resignation ist n i c h t eine Lehre der Tragödie! — sondern ein Mißverständniß derselben! Sehnsucht in's Nichts ist V e r n e i n u n g der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz! 25[96] Meine Voraussetzungen: 1) keine End-„Ursachen". Selbst bei menschlichen Handlungen erklärt die Absicht das Thun g a r nicht. 2) die „Absicht" trifft das Wesen der Handlung nicht, f o l g l i c h ist die m o r a l i s c h e Beurtheilung der Handlungen nach Absichten falsch. 3) „Seele" als Vielheit der Affekte, mit Einem Intellekte, mit unsicheren Grenzen. 4) die mechanische Welt-Erklärung hat alles, auch das organische Leben o h n e Lust Unlust Denken usw. zu erklären: also keine „beseelten Atome"! — sie sucht für das Auge alles Geschehen a n s c h a u l i c h zu machen. „Berechenbarkeit" zu praktischen Zwecken will sie! — 5) Es giebt gar keine selbstlosen Handlungen!

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Nadigelassene Fragmente

s[97]

2

Die Frage nach unserem „Wohl" ist durch das Christenthum und den Buddhism vertieft: d a g e g e n ist die Engländerei blödsinnig-alltäglich: der Engländer meint „comfort". Die Welt nicht nach unseren persönlichsten Begleit-Gefühlen messen, sondern w i e a l s o b sie ein Schauspiel wäre und w i r z u m Schauspiel

gehörten!

2 5 [ 9 8 ]

„Im Zeitalter der öffentlichen liberté: die Franzosen von heute werden schwerfällig und dumm und kalt, wenn sie en public sind: aus Furcht, sich Feinde zu machen, werden sie da zu tiefen Diplomaten und raffinirten Heuchlern. Ohne esprit, ohne Urtheil und klug aus Furcht. S k l a v e r e i d e s I n d i v i d u u m s . " C(ustine).

Ü99l

2

An großen Viehheerden zu studiren: Die steigende Vergrößerung des Menschen besteht darin, daß die Führer, die „Vor-Odisen", die Seltenen entstehen. „ G u t " nennen sich die Mitglieder der Heerde: das Hauptmotiv in der Entstehung der Guten ist die Furcht. Verträglichkeit, demAnderen-Zuvorkommen mit Güte, sich-Anpassen vieles Abwehren und Vorbeugen von Noth, mit stiller Erwartung, daß es uns gleich vergolten wird, Vermeiden der Feindseligkeit, V e r z i c h t a u f F u r c h t - E i n f l ö ß e n — das Alles, lange nur Heuchelei der Güte, wird endlich Güte. 2j[l00] Alles Loben, Tadeln, Belohnen Strafen erscheint mir erst gerechtfertigt, wenn es als W i l l e d e r b i l d e n d e n K r a f t erscheint: also a b s o l u t losgelöst von der moralischen Frage „ d a r - f idi ; lobei) s t r a f e n ? " — m i t h i n v ö l l i g u n m o r a l i s c h . Ich lobe tadle belohne strafe, d a m i t der Mensch nach

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25 [ 9 7 - 1 0 1 ]

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meinem Bilde sich verwandle; denn ich w e i ß , daß mein Loben Strafen usw. eine verwandelnde Kraft hat. (Dies vermöge der Wirkung auf Eitelkeit Ehrgeiz Furcht und alle Affekte bei dem Gelobten und Bestraften.) S o l a n g e ich noch mich selber unter das moralische Gesetz s t e l l e , d ü r f t e i c h n i c h t loben und strafen. 25[lOl] V o n d e n M i t t e l n d e r V e r s c h ö n e r u n g . Eine Albernheit, die dem alten Kant zur Last zu legen ist: „es gefällt ohne Interesse." Und da weist Mancher noch mit Stolz darauf hin, daß er beim Anblick einer griechischen Venus usw. Dagegen habe ich den Zustand beschrieben, den das Schöne hervorbringt: das Wesentlichste ist aber vom Künstler auszugehn. Sich den Anblick der Dinge erträglich zu machen, sie nicht zu fürchten, und ein scheinbares Glück in sie hineinlegen — Grundempfindung, daß der glückliche, Sich selber Liebende Mensch k e i n W e h e t h ä t e r ist. — Dieses Umdeuten des Thatsächlichen in's Glückliche „Göttliche" hat nun der Mensch auch auf sich verwandt: d i e s e ] Ich bin keinem begabten Menschen begegnet, der mir nicht gesagt hätte, er habe das Gefühl der Pflicht verloren oder es nie besessen. Wer jetzt nicht starken Willen hat — 2j[2I0]

Die ehemaligen Mittel, g l e i c h a r t i g e dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und H e r o e n glaubens als der Ahnherren)

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25 [206-213]

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Jetzt gehört die Z e r s p l i t t e r u n g d e s G r u n d b e s i t z e s in die entgegengesetzte Tendenz: eine Z e i t u n g (an Stelle der täglichen G e b e t e ) Eisenbahn Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die d a z u sehr stark und verwandlungsfähig sein muß. 2j[2Il] Es bedarf einer Lehre, stark genug, um z ü c h t e n d zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden. Die Vernichtung der verfallenden Rassen. Verfall Europa's. Die Vernichtung der Sclavenhaften Werthschätzungen. Die Herrschaft über die Erde, als Mittel zur Erzeugung eines höheren Typus. Die Vernichtung der Tartüfferie, welche „Moral" heisst. (Das Christenthum als eine hysterische Art von Ehrlichkeit hierin Augustin, Bunyan) Die Vernichtung des suffrage universell d.h. des Systems, vermöge dessen die niedrigsten Naturen sich als Gesetz den höheren vorschreiben. Die Verniditung der Mittelmässigkeit und ihrer Geltung. (Die Einseitigen, Einzelne — Völker z. B. Engländer. Dühring. Fülle der Natur zu erstreben durch Paarung von Gegensätzen: Rassen-Mischungen dazu.) Der neue Muth — keine a priorisdien Wahrheiten ( s o l c h e suchten die an Glauben Gewöhnten!) sondern f r e i e Unterordnung unter einen herrschenden Gedanken, der seine Zeit hat z. B. Zeit als Eigenschaft des Raums usw. „Hungriger Männer Schnack ist langweilig." 2j[2I3] Die Tartüfferie (unter allen herrschenden Schichten) in Europa (oder die Moral unter dem Eindruck des Christenthums)

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Nachgelassene Fragmente

Die Hysterie in Europa (Müssiggang, geringe Nahrung, wenig Bewegung — bricht in religiösen Wahnsinn aus wie bei den Indern. Mangel an geschlechtlicher Befriedigung.) V o r t h e i l , daß sich die religiosi nicht fortpflanzten. Die Pedanterie des Sclaven und Nichtkünstlers als Glaube an die Vernunft, die Zweckmäßigkeit. Tritt auf als Nachwirkung der aesthetischen Zeitalter (welche lehren alles e i n f a c h e r sehen als es ist: Oberflächlichkeit der griechischen Moralisten, insgleidien der Franzosen des i8ten Jahrhunderts Jetzt bei den Engländern als Moral (die Zufriedenheit mit der Comfort-Existenz, das Problem, glücklich zu leben, scheint ihnen gelöst: d a s spiegelt sich wieder in ihrer Denkweise. Das Sklavenmäßige als Verlangen nach A u t o r i t ä t . Luther. 2j[2I4] Meine Vollendung des Fatalismus: 1) durch die ewige Wiederkunft und Präexistenz 2) durch die Elimination des Begriffs „Wille". 25O15] Physikalisches Problem, den Zustand zu erfinden, der + und — ist. 25[2l6] D e r M a n g e l an m ä c h t i g e n S e e l e n , a u c h bei den Weisen. Tartüfferie der Erkennenden vor sich selber: „Erkenniniß um ihrer selber willen!" Objektivität — als modernes Mittel, sich loszuwerden, aus Geringschätzung (wie bei Flaubert) die Logiker und Mathematiker und Medianiker und ihr Werth. Wie viel Schwindel auch da herrscht! Die Schauspielerei der Alten: Socrates, der P ö b e l sieht in der Tugend sein Ideal d. h. das Glück in der Befreiung von

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schmerzbringenden ü b e r heftigen pöbelhaften Begierden. Die Begierdenlosigkeit als Ziel der Erkenntniß. („Alles hat wenig Werth" m u ß als Resultat kommen) Der Mangel der mächtigen der vornehmen 1 der reichen und vielfachen > Seele bei den Philosophen bisher, der gesunden J *J[«7] Wikingszüge, Staatsverfassung und Sitten der alten Skandinavier. Von Stinnholm. Übers(etzung) v54] Die Werthschätzungen der Kirche sind die von S k l a v e n . Die tiefe V e r l o g e n h e i t ist europäisch. Wer auf Europäer im großen Umfange wirken will, hat bisher die moral7i] Der B a u e r in Luther schrie über die Lüge des „höheren Menschen" an den er geglaubt hatte: „es giebt gar keine höheren Menschen" — schrie er. 25O72] B i s m a r c k wollte mit dem Parlament für den leitenden Staatsmann einen Blitzableiter schaffen, eine Kraft g e g e n die Krone und unter Umständen einen Hebel zur Pression auf das Ausland: — er hat da auch seinen Sünden- und Unfallsbock.

*5l>73] Nach dem Grade der U n a b h ä n g i g k e i t von Ort und Zeit nimmt die noblesse zu. Menschen der höchsten Cultur, aus starken Leibern, stehen über allen S o u v e r ä n e n . *5l>74] Der zahme Mensch und der gezähmte Mensch — das ist die große Masse.

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25 [270-281]

83

2

il>75] Wer das Opfer Einer Leidenschaft ist, steht nicht hoch genug: er sollte ihr ent 25[276]

Die Zukunft unserer Erziehungs-Anstalten der r e c h t verstandene R. Wagner der recht verstandene Schopenhauer. Ihn ekelt an, was midi anekelt. 2 5[277] Entschluß. thustra

Ich will reden, und nicht mehr Zara-

25[27 8]

. Die Bösen, das sind mir namentlich die, welche als Könige usw. das f a l s c h e B i l d des mächtigsten Menschen geben, auf Macht von Heeren, Beamten gestützt (selbst Genie's ohne innere Vollendung wie Friedrich der Große und Napoleon), welche die Frage wozu? entstehen lassen. 25[279] bien public ist das Sirenenlied: damit werden die niedrigen Instinkte geködert. 25[280] Die noble Einfachheit des Spaniers, sein Stolz. 25[28I]

Lob der Nihilisten: lieber vernichten und selber zu Grunde gehn!

84

Nachgelassene Fragmente

25[282] „Stil". Nachahmung — als Talent des J u d e n . „Sich anpassen an Formen" — daher Schauspieler, daher Dichter wie Heine und Lipiner. 25[283]

Ehedem suchte man sein z u k ü n f t i g e s Heil auf Kosten seines g e g e n w ä r t i g e n . So lebt jeder Schaffende in Hinsicht auf sein Werk. Und die große Gesinnung will nun, daß in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ich a u f K o s t e n g e g e n w ä r t i g e n B e h a g e n s lebe

2 5 [28 4 ] Das Lob des dévouement und héroïsme zu v e r a c h t e n — aus Verachtung gegen die Lobenden des Mitleidens bin ich beinah h a r t geworden. Mein Haß gegen die großen Phrasen in Bezug auf mich. Wer könnte es mit seiner Phantasie erreichen, w a s ich alles mir bisher im Leben zugemuthet habe und welche Opfer ich gebracht habe, auch unter was für Widerständen ich meinen harten Gang weiter gegangen bin, eingerechnet, daß ich, was Länge und Stärke körperlicher Martern betrifft, vielleicht zu den erfahrensten Menschen gehöre. Und nun midi plötzlich wieder zu sehen in dem verkleinerten Aspekt durch die verkleinernden Augen von Verwandten Freunden, kurz von Jedermann, überschüttet von Verdächtigungen, ebenso wie von Vorwürfen der Schwäche, nebst Ermahnungen. — Und wer hätte auch nur das Recht mich zu ermuthigen! 2 5 [286] den Deutschen einen höheren Rang unter den Völkern geben — weil der Zarathustra deutsch geschrieben ist. —

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25 [282-291]

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25 [287] Egoismus! Aber noch Niemand hat gefragt: w a s für ein ego! Sondern jeder setzt unwillkürlich das ego jedem ego gleich. Das sind die Consequenzen der Sklaven-Theorie vom suffrage universel und der „Gleichheit". 2J[288] Bei der S c h ö n h e i t bleibt das Auge sehr an der Oberfläche. Aber es muß Schönheit noch in jedem inneren Vorgange des Leibes geben: alle seelische Schönheit ist nur ein Gleichniß, und etwas O b e r f l ä c h l i c h e s g e g e n d i e s e M e n g e von tiefen Harmonien. 2j[289] Meine Rede gegen die Bösen (welche d e n Sklaven s c h m e i c h e l n —) die Weltverleumder die Guten (welche glauben, daß Wohlthun leicht sei und für Jedermann) (gegen die Pfaffenluft, auch die Pfarrhäuser-Luft 2$ [290] Zeitalter der V e r s u c h e . Ich mache die große Probe: w e r h ä l t d e n G e d a n k e n der ewigen W i e d e r k u n f t aus? — Wer zu vernichten ist mit dem Satz „es giebt keine Erlösung", der soll aussterben. Ich will K r i e g e , bei denen die Lebensmuthigen die Anderen vertreiben: diese Frage soll alle Bande auflösen und die Weltmüden h i n a u s t r e i b e n — ihr sollt sie ausstoßen, mit jeder Verachtung überschütten, oder in Irrenhäuser sperren, sie zur Verzweiflung treiben usw. 2j[29l] Man verstehe doch recht: die Nächstenliebe ist ein Recept für solche, welche schlimm gefahren sind in der Mischung der Eigen-

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Nachgelassene Fragmente

sdiaften. Ihre V e r e h r e r wie Comte geben zu verstehen, daß sie sich satt haben. 2j[292] Man hat mit der g r a n d i o s e n Paradoxie „der Gott am Kreuze" allen g u t e n G e s c h m a c k in E(uropa) auf Jahrtausende verdorben: (es) ist ein schauerlicher Gedanke, ein Superlativ des Paradoxen. Ebenso wie die Hölle bei einem Gott der Liebe. Es kam da ein esprit barroco auf, gegen welchen das Heidenthum sich nicht mehr aufrecht halten konnte *j|>93] Daß wir wieder H o m e r empfinden, betrachte ich als den größten Sieg über das Christenthum und christliche Culturen: daß wir die christliche Verzärtelung, Verhäßlichung, Verdüsterung, Vergeistigung satt h a b e n Man muß an der Kirche die L ü g e empfinden, nicht nur die Unwahrheit: s o w e i t d i e A u f k l ä r u n g i n s V o l k treiben, daß die Priester alle mit schlechtem Gewissen Priester werden — ebenso muß man es mit dem Staate machen. Das ist Aufgabe der Aufklärung, den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebahren zur a b s i c h t l i c h e n L ü g e zu machen, sie um das gute Gewissen zu bringen, und die unbewußte Tartüfferie aus dem Leibe des europäischen Menschen wieder herauszubringen. 5[>95] „Die Todesfurcht ist eine Europäer-Art von Furcht." orientalisch. 2

2j[2 9 3] W i r sind Gestalten-schaffende Wesen gewesen, lange bevor w i r Begriffe schufen. Der Begriff ist am Laute erst ent-

2

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25 [461-467]

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standen, als man v i e l e Bilder durch Einen Laut zusammenfaßte: mit dem Gehör also die optischen inneren Phänomene rubrizirte. 2j[464]

NB. Die Begriffe „gut" usw. sind aus den W i r k u n g e n entnommen, welche „gute Menschen" ausüben: — — selbst bei der Selbst-Beurtheilung. —

Der Mensdi u n e r k a n n t , die Handlung u n e r k a n n t . Wenn nun trotzdem über Menschen und Handlungen geredet wird, wie als ob sie erkannt wären, so liegt es daran, daß man über gewisse R o l l e n übereingekommen ist, welche fast Jeder spielen kann. 25 [466]

Die Entwicklung der Raubsudit der Lüge und Verstellung der Grausamkeit zu hochgeschätzten des Geschlechtstriebes Dingen des Mißtrauens der Härte der Herrschsucht — andererseits die Veränderung er Werthschätzune böser Qualitäten, sobald sie Existenz-Bedingungen sind. vielleicht Rückführung aller Begehrungen auf den Hunger. 25[467] Vivisection — das ist der Ausgangs-Punkt! Es kommt Vielen jetzt zum Bewußtsein, daß es manchen Wesen weh thut, w e n n e r k a n n t w e r d e n s o l l ! ! Als ob es je anders gewesen wäre! Und was für Schmerzen!! Feiges weichliches Gesindel!

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Nachgelassene Fragmente

2 5 [468] A u s g a n g s p u n k t : es liegt auf der Hand, daß unsere stärksten und gewohntesten U r t h e i 1 e die längste Vergangenheit haben, also in unwissenden Zeitaltern entstanden und fest geworden sind — daß alles, woran wir am besten glauben, w a h r s c h e i n l i c h gerade auf die schlechtesten Gründe hin geglaubt worden ist: mit dem „Beweisen" aus der Erfahrung haben es die Menschen immer leicht genommen, wie es jetzt noch Menschen giebt, die die Güte Gottes aus der Erfahrung zu „beweisen" vermeinen. 25 [4 69] „ Z u - G e r i c h t - s i t z e n." Von allen Urtheilen ist das Urtheil über den W e r t h v o n M e n s c h e n das beliebteste und geübteste — das Reich der größten Dummheiten. Hier einmal H a l t zu gebieten, bis es als eine Schmutzigkeit, wie das Entblößen der Schamtheile, gilt — meine Aufgabe. U m so mehr als es die Zeit des suffrage universel ist. Man soll sich g e l o b e n , hier lange zu zweifeln und sidi zu mißtrauen, n i c h t „an der Güte des Menschen", sondern an seiner Berechtigung, zu sagen „ D i e s ist Güte!" 25[470] „Der Sinn für Wahrheit" muß, wenn die Moralität des „Du sollst nicht lügen" abgewiesen ist, sich vor einem anderen Forum legitimiren. Als Mittel der Erhaltung von Mensch, a l s Macht-wille. — ebenso unsere Liebe zum Schönen ist ebenfalls der g e s t a l t e n d e W i l l e . Beide Sinne stehen bei einander — der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten — eine Urlust! Wir können nur eine Welt b e g r e i f e n , die wir selber g e m a c h t haben.

Frühjahr 1884

25 [ 4 6 8 ^ 7 5 ]

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2

i [47 1 ] Das Gutheißen unserer B e g r e n z t h e i t des Erkennens — die Vortheile dabei: es ist viel Muth und Lust da möglich. Das Seufzen und die Pascalsdie Scepsis sind s c h l e c h t e s Blut. — das C h r i s t e n t h u m a l s d i e W i r k u n g d e s e n t a r t e t e n schlechten Blutes 2

5[47 2 ] bonus = meine Philosophie: I n h a l t C. Die Beschreibung (an Stelle der d e s e r s t e n T h e i l s . angeblichen „Erklärung") die z u g e h ö r i g e n S e e l e n - Z u s t ä n d e als bisherige h ö c h s t e E r r u n g e n s c h a f t e n (von mir für mich) Philosophie als Ausdruck eines außerordentlich h o h e n Seelen-Zustandes. 2[240] Die Erklärer von Dichtern mißverstehen, daß der Dichter B e i d e s hat, die Realität u n d die Symbolik. Ebenso den ersten und den zweiten Sinn eines G a n z e n . Ebenso L u s t an dem Schillernden, Zwei-, Dreideutigen, a u c h d i e K e h r s e i t e ist gut. 26[24l] Erster Theil. Die neuen Wahrhaftigen. Überwindung des Dogmatischen : der zugehörige höhere und des Dünkels Seelen-zustand Überwindung des Sceptikers der Schwäche. A. die regulativen Hypothesen B. das Experiment.

212

Nachgelassene F r a g m e n t e

C. die Beschreibung das neue Macht-Gefühl: der mystische Zustand, und die hellste kühnste Vernünftigkeit als ein Weg dahin Zweiter Theil. Jenseits von Gut und Böse. i 6 [ Z 4 Z ]

Galiani meint, der Mensch sei das einzige religiöse Thier. Aber in der Art, wie ein Hund sich vor dem Menschen wälzt, erkenne ich die Art der „Gottseligen" wieder, wenn auch vergröbert. 26[243] Die neue Rangordnung. Vorrede zur Philosophie der ewigen Wiederkunft. Immer strenger fragen: für wen noch schreiben? — Für Vieles von mir Gedachte fand ich keinen reif; und Zarathustra ist ein Beweis daß Einer mit der größten Deutlichkeit reden kann, aber von Niemandem gehört wird. — Ich fühle mich im Gegensatz zur M o r a l d e r G l e i c h h e i t . Führer und Heerde. (Bedeutung des Isolirten) Ironie gegen Moralisten Vollständige Menschen und Bruchstücke (Problem des Weibes z.B.,auch des wissenschaftDie lichen Menschen) UnGerathene und Missrathene (letztere vielleicht gleichdie höheren in der Anlage, auch bei Völkern heit und Rassen. Problem: indogermanisch und der semitisch, letztere süden-näher NB. religiMenöser, würdevoller mehr raubthier-Vollschen kommenheit, weiser — erstere muskelkräftiger kälter gröber schwerer, verderbbar) Schaffende und „Gebildete" („höhere Menschen" allein die Schaffenden)

Sommer-Herbst 1884

26 [241-243]

213

Die Künstler (als die kleinen Vollender) aber in allen Werthschätzungen a b h ä n g i g . Die Philosophen (als die Umfänglichsten, die Oberblicker, B e s c h r e i b e r im Großen) (aber in allen Werthschätzungen a b h ä n g i g ) , schon sehr viel mißrathener. Die Heerden-Bildner (Gesetzgeber), die Herrschenden, ein sehr mißrathener Typus ( s i c h zum Werthmesser nehmend, kurze Perspective) Die Werthe-Setzenden (Religionsstifter) äußerstes Mißrathen und Fehlgreifen. Ein fehlender Typus: der Mensch, welcher am stärksten befiehlt, führt, neue Werthe setzt, am umfänglichsten über die ganze Menschheit urtheilt und Mittel zu ihrer Gestaltung weiß — unter Umständen sie o p f e r n d für ein h ö h e r e s Gebilde. Erst wenn es eine Regierung der Erde giebt, werden solche Wesen entstehen, wahrscheinlich lange i m höchsten Maaße mißrathend.

214

Nachgelassene Fragmente

io. Das Gefühl der Unvollkommenheit, höher oder schwächer, unterscheidet (Werth der „Sündengefühle" Das Gefühl nach Vollkommenem hin, als Bedürfniß vorherrschend (Werth der Frommen, der Einsiedler, Klöster, Priester) Die Kraft, etwas Vollkommenes irgend worin g e s t a l t e n zu können (Werth der „schönen Seelen", der Künstler, der Staatsmänner) (Dionysische Weisheit) Die höchste Kraft, alles Unvollkommene, Leidende als nothwendig ( e w i g - w i e d e r h o l e n s w e r t h ) z u f ü h l e n aus einem Überdrange der schöpferischen Kraft, welche immer wieder zerbrechen muß und die übermüthigsten schwersten Wege wählt (Princip der größtmöglichsten Dummheit, Gott als Teufel und Obermuth-Symbol) Der bisherige Mensch als E m b r y o n , in dem sich alle gestaltenden Mächte d r ä n g e n — Grund seiner tiefen U n r u h e der schaffendste als der leidendste?

26O44]

Zur Vorrede. Zur E h r f u r c h t erziehen, in diesem pöbelhaften Zeitalter, welches selber im Huldigen noch pöbelhaft ist, für gewöhnlich aber zudringlich und schamlos (auch mit seinem „Wohlthun" und „Mitleiden") Eine Vorrede zum F o r t s c h e u c h e n der Meisten. Ja, ich habe keinen, an den idi denke — es sei denn jene ideale Gemeinde, welche sich Zarathustra auf den glückseligen Inseln erzogen hat.

Sommer-Herbst 1884

26 [243-249]

215

26[24S] Der beständige Blick nach dem Vollkommenen hin, und daher R u h e — was Schopenhauer als aesthetisches Phänomen beschreibt, ist auch das Charakteristische der Gläubigen. G o e t h e (an Rath Schlosser): „wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst s u c h t . . . ich muß gestehn, selbstlose Charaktere dieser Art in meinem ganzen Leben nur da gefunden zu haben, wo ich ein festgegründetes religiöses Leben fand, ein Glaubensbekenntniß, das einen unwandelbaren Grund hatte, gleichsam auf sich selbst ruhte, nicht abhieng von der Zeit, ihrem Geiste, ihrer Wissenschaft". (das Orientalische, das Weib macht hier diese Wirkung —)

I6[246] In diesem Jahrhundert der oberflächlichen und geschwinden Eindrücke ist das gefährlichste Buch nicht gefährlich: es sucht sich die fünf, sechs Geister die tief genug sind. Im Übrigen — was schadet es, wenn es d i e s e Zeit zerstören hilft! z6[247] Die Amerikaner zu schnell verbraucht — vielleicht nur anscheinend eine zukünftige Weltmacht. z6[248] Leibnitz ist interessanter als Kant — typisch d e u t s c h : gutmüthig, voll edler Worte, listig, geschmeidig, schmiegsam, ein Vermittler (zwischen Christenthum und der mechanistischen Weltansicht), ungeheuer verwegen für sich, verborgen unter einer Maske und höfisch-zudringlich, anscheinend bescheiden. 26[249] Die Franzosen t i e f artistisch — das Durchdenken ihrer Cultur, die Consequenz im Durchführen des schönen A n s c h e i n e s — spricht gar nicht gegen ihre T i e f e

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Nachgelassene Fragmente

26O50] Plato dachte: was man befiehlt als von Gott aus, z. B. wenn man die Geschwister-Ehe verbietet als ein Greuel für Gott: er meint, das unbedingte Verbieten sei der g e n ü g e n d e E r k l ä r u n g s g r u n d für die moralischen Urtheile. Kurzsichtig! 26[25I] Man b e w u n d e r t e den Unabhängigen im Alterthum, Niemand klagte über den „Egoismus" des Stoikers. 26O52] Jedes Volk hat seine eigene Tartüfferie * 6 [ 2„Hier J 3 ] ist die Aussicht f r e i , der Blick erhoben." Das Problem von Freiheit und Unfreiheit des W(illen)s gehört in die Vorhöfe der Philosophie — für mich giebt es keinen Willen. Daß der Glaube an den Willen nothwendig ist, um zu „wollen" — ist Unsinn. ^[255] Geringschätzung gegen das jetzige Deutschland, welches nicht Takt genug hat, solche Klatschbasen-Bücher, wie das von Jans(s)en, einfach abzulehnen: wie es sich „den alten und neuen Glauben" des alten, sehr alten und gar nicht neuen Strauß hat aufschwätzen lassen. Z6[Z56]

Zum Titel: Ich glaube, ich schen e r r a t h e n erräth, aber wer möglichen.

„EineWahrsagung". habe Einiges aus der Seele des höchsten Men— vielleicht geht Jeder zu Grunde, der ihn ihn gesehen hat, muß helfen, ihn zu e r -

Sommer-Herbst 1884

26 [250-258]

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Grundgedanke: wir müssen die Zukunft a l s m a a ß g e b e n d nehmen für alle unsere Werthschätzung — und nicht hinter uns die Gesetze unseres Handelns suchen! 26O57] Complementäre Menschen — wo? 26[2j8] Vorrede : von der R a n g o r d n u n g des G e i s t e s Von der Ungleichheit der Menschen a) Führer und Heerde b) Vollständige und Bruchstücke c) Gerathene und Missrathene d) Schaffende und „Gebildete" vor Allem aber „Ungebildete" und Tölpel bis in den letzten Grund hinein Von der Ungleichheit der höheren Menschen (nach der Seite der K r a f t menge) a) nach dem Gefühle der Unvollkommenheit, als entscheidend b) Gefühl nach dem Vollkommenen hin c) die Kraft irgend etwas Vollkommenes g e s t a l t e n zu können d) höchste Kraft, auch das Unvollkommene als nothwendig zu fühlen, aus Uberdrang der gestaltenden Kraft (dionysisch) Von der Rangordnung der Werthe-Schaffenden (in Bezug auf das Werthe-setzen) a) die Künstler b) die Philosophen c) die Gesetzgeber

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Nachgelassene Fragmente

d) die Religionsstifter e) die höchsten Menschen als Erd-Regierer kunft-Schöpfer. (zuletzt sich zerbrechend —)

und

Zu-

26[2J 9 ] Philosophie der ewigen W i e d e r k u n f t . Ein Versuch der Umwerthung aller Werthe.

z6[i6o]

In diesem pöbelhaften Zeitalter soll der vornehm geborene Geist jeden Tag mit dem G e d a n k e n der R a n g o r d n u n g beginnen: hier liegen seine Pflichten, hier seine feinsten Verirrungen

z6[z6i]

M i ß v e r s t ä n d n i s s e im großen Stile z.B. der Ascetism als Mittel der Selbst-Erhaltung für wilde allzu erregliche Naturen. Die la Trappe als „Zuchthaus", zu dem man sich selber verurtheilt (gerade unter Franzosen begreiflich, wie das Christenthum in der geilen Luft der südeuropäischen Hellenisirung). Der Puritanismus hat als Hintergrund die Überzeugung von der gründlichen e i g e n e n G e m e i n h e i t , vom allgegenwärtigen „ i n n e r e n V i e h " (ego) — und der düstere trockene S t o l z des puritanischen Engländers w i l l , daß mindestens J e d e r ebenso schlecht von seinem „inwendigen Menschen" denken soll wie er selber denkt! Die Sitten und Lebensweisen sind als b e w i e s e n e Mittel der Erhaltung gefaßt worden — darin e r s t e s Mißverständniß und Oberflächlichkeit. Z w e i t e s Mißverständniß: es sollen nunmehr die e i n z i g e n Mittel sein. Fromme — Bewußtsein eines h ö h e r e n Z u s a m m e n hangs aller Erlebnisse

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26 [258-266]

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z6[z6z] M i ß v e r s t ä n d n i ß d e s E g o i s m u s : von Seiten der g e m e i n e n Naturen, welche gar nichts von der Eroberungslust und Unersättlichkeit der großen Liebe wissen, ebenso von den ausströmenden Kraft-Gefühlen, welche überwältigen, zu sich zwingen, sidi an's Herz legen wollen — der Trieb des Künstlers nach seinem Material. Oft auch nur sucht der Thätigkeits-Sinn nach einem Terrain. — Im gewöhnlichen „Egoismus" will gerade das „nicht-ego", das t i e f e D u r c h s c h n i t t s w e s e n , der Gattungsmensch seine Erhaltung — d a s empört, falls es von den Selteneren, Feineren und weniger Durchschnittlichen wahrgenommen wird. Denn diese urtheilen: „wir s i n d die Edleren! Es liegt m e h r an u n s e r e r Erhaltung als an der jenes Viehs!" z6[z6y] A l l e bisherigen Moralen betrachte ich als aufgebaut auf H y p o t h e s e n über Erhaltungs-Mittel eines T y p u s — aber die Art des bisherigen Geistes war noch zu schwach und ihrer selber zu ungewiß, um eine H y p o t h e s e als Hypothese zu fassen und doch als regulativisch zu nehmen — es bedurfte des Glaubens 26[Z64] NB. Wie bisher die Menschen sich h ö h e r e Gestalten, als der Mensch ist, vorgestellt haben z6[z65] NB. Über die Schreie der Gebärerin wegen all der Unreinheit. Fest der Reinigung für die größten Geister nöthig! z6[z66] Der Schwächere Zartere als der Edlere.

220

Nachgelassene Fragmente

26[267]

die ungeheure i d e a l i s i r e n d e Kraft, welche das Christenthum anwandte, um körperliche Unlust-Zustände und barbarische Unordnungs-Gefühle zu ertragen — sie deutet(e) alles s e e l i s c h um. 26O68] Die Menschen müssen in dem Maaße g e b u n d e n werden, als sie nicht frei von sich aus laufen können. Moral-Revolutionen z. B. während des Christenthums sind i) gegen entnervte verwüstete greise Völker gerichtet 2) gegen die gräßliche Roheit der Barbaren. 26[26 9 ] Zarathustra muß seine Jünger zur E r d - E r o b e r u n g aufreizen — höchste Gefährlichkeit, höchste Art von Sieg: ihre ganze Moral eine Moral des K r i e g s — unbedingt S i e g e n wollen 26[2 7 0] An die höheren Menschen. Herolds-Rufe eines Einsiedlers. Von Friedrich Nietzsche. 26[Z7I]

Die Menschen wollen ihre Handlungen und die Art ihres Handelns 1) entweder verherrlichen — daher Moral der Verherrlidiung 2) oder rechtfertigen und verantworten (vor einem forum, sei dies die Gemeinde oder die Vernunft oder das Gewissen —) also die Handlung muß erklärbar, aus vernünftig-bewußten Motiven entstanden sein — und ebenso die ganze Handlungs-Weise

Sommer-Herbst 1884

26 [267-274]

221

3) oder verurtheilen, verkleinern, um so sich zu vergewaltigen oder um Mitleiden zu erregen und davonzukommen bei den Mächtigen. 26[272]

$

10

Im organischen Prozeß x) überreichlicher E r s a t z — falscher Ausdruck und teleologisch gefärbt 2) Selbst-Regulirung, also die Fähigkeit der Herrschaft über ein Gemeinwesen v o r a u s g e s e t z t d. h. aber, die Fortentwicklung des Organisdien ist n i c h t an die Ernährung angeknüpft, sondern an das Befehlen und Beherrschen-können: ein Resultat n u r ist Ernährung. 26[273]

20

D e r W i l l e z u r M a c h t in den Funktionen des Organischen. L u s t u n d U n l u s t und ihr Verhältniß zum Willen zur Macht. A n g e b l i c h e r A l t r u i s m und der Wille zur Macht. Mutterliebe z. B. und Geschlechtsliebe D i e E n t w i c k l u n g d e r G e f ü h l e aus dem Grundgefühle. U n f r e i h e i t und F r e i h e i t des W i l l e n s . S t r a f e und L o h n (der stärkere Typus als der höhere scheidet von sich ab und zieht an sich an) P f l i c h t und R e c h t .

26O74] Zurückführung der Generation auf den Willen zur Macht 2 J (! er muß also auch in der angeeigneten u n o r g a n i s c h e n M a t e r i e vorhanden sein!): das Auseinandertreten des Protoplasma im Falle, daß eine Form sich gestaltet, wo das Schwergewicht an 2 Stellen gleich vertheilt ist. Von jeder Stelle aus

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Nachgelassene F r a g m e n t e

geschieht eine zusammenziehende, zusammenschnür e n d e Kraft: da z e r r e i ß t die Zwischen-Masse. Also: die G l e i c h h e i t der Machtverhältnisse ist Ursprung der Generation. Vielleicht ist alle Fortentwicklung an solche entstehende Macht-Äquivalenzen gebunden. *i[275] Die Lust ist eine Art von Rhythmus in der Aufeinanderfolge von geringeren Schmerzen und deren G r a d - Verhältnissen, eine R e i z u n g durch schnelle Folge von Steigerung und Nachlassen, wie bei der Erregung eines Nerven, eines Muskels, und im Ganzen eine aufwärts sich bewegende Curve: Spannung ist wesentlich darin und Ausspannung. Kitzel. Die Unlust ist ein Gefühl bei einer Hemmung: da aber die Macht ihrer nur bei Hemmungen bewußt werden kann, so ist die Unlust ein n o t h w e n d i g e s I n g r e d i e n s aller T h ä t i g k e i t (alle Thätigkeit ist g e g e n etwas gerichtet, das überwunden werden soll) Der Wille zur Madit s t r e b t also nach Widerständen, nach Unlust. Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens (gegen „Glück" als „Ziel") i6[I76]

Wenn zwei organische Wesen zusammenstoßen, wenn es n u r Kampf gebe u m das Leben oder die Ernährung: wie? Es muß den Kampf um des Kampfes willen geben: und H e r r s c h e n ist das Gegengewicht der schwächeren Kraft ertragen, also eine Art F o r t s e t z u n g des Kampfs. G e h o r c h e n ebenso ein K a m p f : so viel Kraft eben zum Widerstehen bleibt. ^[277]

Gegen den E r h a l t u n g s - T r i e b als radikalen Trieb: vielmehr will das Lebendige seine Kraft a u s l a s s e n — es

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26 [274-280]

223

„ w i l l " und „ m u ß " (beide Worte wiegen m i r gleidi!): die Erhaltung ist nur eine C o n s e q u e n z. z6[278] Die Tugendhaften wollen uns (und mitunter auch sich selber) glauben machen, s i e hätten das Glück erfunden. Die Wahrheit ist, daß die Tugend von den Glücklichen erfunden worden ist. 2 6 [ l

7 9

]

Daß in den Folgen der Handlungen schon Lohn und Strafe liegen — dieser Gedanke einer immanenten Gerechtigkeit ist grundfalsch. Übrigens steht er im Widerspruch mit der Vorstellung einer „Heils-Ordnung" in den Erlebnissen und Folgen: wonadi schlimme Dinge aller Art als besondere Gunstbezeugungen eines Gottes, der unser Bestes will, aufzufassen sind. — Warum Leid auf eine Ubelthat folgen soll, ist an sich nicht begreiflich: in praxi läuft es sogar darauf hinaus, daß auf eine Ubelthat eine Übelthat folgen s o l l e . — Daß einer, der anders ist als wir, es s c h l e c h t haben müsse, ist ein Gedanke der Vertheidigung, eine Nothwehr der herrschenden Caste, ein Mittel der Züchtung, — aber nichts besonders „Edles". — Alle möglichen solchen Vorstellungen über „immanente Gerechtigkeit", „Heilsordnung", ausgleichende „transcendente Gerechtigkeit" gehen jetzt in j e d e m Kopfe herum — sie bilden das C h a o s der modernen Seele mit. 26[28o] Wir stehen anders zur „Gewißheit". Weil am längsten die Furcht dem Menschen angezüchtet worden ist, und alles erträgliche Dasein mit dem „Sicherheits-Gefühl" begann, so wirkt das jetzt noch fort bei den Denkern. Aber sobald die äußere „Gefährlichkeit" der Existenz zurückgeht, entsteht eine Lust an der Unsicherheit, Unbegrenztheit der Horizont-Linien. Das Glück der großen Entdecker im Streben nach Gewißheit könnte sich

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Nachgelassene Fragmente

jetzt in das Glück verwandeln, überall die Ungewißheit und das Wagniß nachzuweisen. Ebenso ist die Ängstlichkeit des früheren Daseins der Grund, weshalb die Philosophen so sehr die Erhaltung (des ego oder der Gattung) betonen und als Princip fassen: während thatsächlich w i r fortwährend Lotterie spielen gegen dies Princip. Hieher gehören alle Sätze des Spinoza: d. h. d i e G r u n d l a g e d e s e n g l i s c h e n U t i l i t a r i s m u s . v . das braune Heft. z6[zSi]

D i e dummen Moralisten haben immer die V e r e d e l u n g angestrebt o h n e zugleich die Basis zu wollen: die l e i b l i c h e V e r a d l i c h u n g (durch eine „vornehme" Lebensweise otium, Herrschen, Ehrfurcht usw.) durch edel-vornehme Umgebung von Mensch u n d N a t u r , endlich sie haben an's Individuum gedacht und n i c h t an die Fortdauer des Edlen durch Zeugung. Kurzsichtig! N u r für 30 Jahre und nicht länger! 26O82] Je nachdem ein V o l k fühlt: „bei den Wenigen ist das Recht, die Einsicht, die Gabe der Führung usw." oder „bei den Vielen" — giebt es ein o l i g a r c h i s c h e s Regiment oder ein demokratisches. Das Königthum r e p r ä s e n t i r t den Glauben an Einen ganz Überlegenen, einen Führer Retter Halbgott. Die A r i s t o k r a t i e repräsentirt den Glauben an eine Elite-Menschheit und höhere Kaste. Die Demokratie repräsentirt den U n g l a u b e n an große Menschen und an Elite-Gesellschaft: „Jeder ist jedem gleich" „Im Grunde sind wir allesamt eigennütziges Vieh und Pöbel" 26[28 3 ] U m den Gedanken der Wiederkunft zu ist nöthig Freiheit von der Moral,

ertragen:

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26 [280-284]

225

neue Mittel gegen die Thatsache des S c h m e r z e s (Schmerz begreifen als Werkzeug, als Vater der Lust — es giebt kein s u m m i r e n d e s Bewußtsein der Unlust) der G e n u ß an aller Art Ungewißheit Versuchhafligkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus Beseitigung des N o t h wendigkeitsbegriffs Beseitigung des „Willens" Beseitigung der „Erkenntniß an sich" g r ö ß t e E r h ö h u n g des K r a f t - B e w u ß t s e i n s d e s M e n s c h e n , als dessen, der den Übermensdien schafft. 26[284] 1. Der Gedanke: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist was aus ihm folgt 2. als der

s c h w e r s t e Gedanke: seine muthmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird d. h. falls nicht alle Werthe umgewerthet werden

3. Mittel ihn zu e r t r a g e n die Umwerthung aller Werthe: nicht mehr die Lust an der Gewißheit sondern an der Ungewißheit nicht mehr „Ursache und Wirkung", sondern das beständig Schöpferische nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht usw. nicht mehr die demüthige Wendung „es ist alles n u r subjektiv, sondern „es ist auch u n s e r Werk!" seien wir stolz darauf!

226

Nachgelassene Fragmente

26[iS5]

Von der H e u c h e l e i der Philosophen. die Griechen: verbergen ihren agonalen Affekt, drapiren sich als „Glücklichste" durdi die Tugend, und als Tugendhafteste (zwiefache Heuchelei) (Sokrates, siegreich als der plebejisch Häßliche unter den Schönen und Vornehmen, der Niederredende unter einer Stadt von Rednern, der Besieger seiner Affekte, der gemeine kluge Mann mit dem „Warum?'' unter dem Erbadel — verbirgt seinen Pessimismus) die Brahmanen wollen im Grunde Erlösung von dem müden lauen unlustigen Daseins-Gefühle Leibnitz Kant Hegel Schopenhauer, ihre deutsche Zwei-Natur Spinoza und der rachsüchtige Affekt, die Heuchelei der Überwindung der Affekte Die Heuchelei der „reinen Wissenschaft", der „Erkenntniß um der Erkenntniß willen" i6[i86]

Idi, wie ein Elephanten-Weibdien, mit einer langen Schwangerschaft behaftet, so daß mich wenige Dinge noch angehn, sogar nicht einmal — pro pudor — das „ K i n d "

26[28 7 ] Versteht ihr wohl meine neue Sehnsucht, die nach dem Endlichen? dessen, der den Ring der Wiederkunft schaute — 26[>88] N B das fortwährende Schöpferische, statt des einmaligen, vergangenen 26[28?] Zarathustra 3 die Unstäten, die ewigen Wanderer der das Gehirn des Blutegels

Sommer-Herbst 1884 26 [285-292]

227

der Häßlidie, der sich maskiren w i l l die Heuchler des Glücks die Sehnsucht nach dem Endlichen, nach Scholle und Winkel der neidische abgemagerte Arbeiter und Streber die Allzu-Nüchternen mit der Sehnsucht zum Rausche, der einst sie befriedigt, die Ober-Nüchterten die Zerstörer

N o t h s c h r e i der höheren J a , der mißrathenden —

Menschen?

26[Z5] — ein Trieb der S e l b s t - Z e r s t ö r u n g : nach Erkenntnissen greifen, die einem allen Halt und alle Kraft rauben

31 [26] — wenn ihr das Gesetz von Lust und Unlust über euch fühlt und k e i n h ö h e r e s : nun, wohlan, so wählt euch die angenehmsten und nicht die wahrscheinlichsten Meinungen: wozu bei 20 euch Atheismus! 3i|>7] — so wie die niederen Menschen zu G o t t aufsahen, sollten wir billigerweise einmal z u m e i n e m U b e r m e n s c h e n a u f s e h e n . Zarathustra6.

W i n t e r 1 8 8 4 — 8 5 31 [ 2 1 — 3 1 ]

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3i[28] — der Gegensatz von Atheism und Theism ist n i c h t : „Wahrheit" und „Unwahrheit", sondern daß wir uns eine Hypothese nicht mehr gestatten, d i e w i r Anderen r e c h t g e r n n o c h g e s t a t t e n (mehr noch!) D i e Frömmigkeit ist die einzig erträgliche F o r m d e s g e m e i n e n M e n s c h e n : wir wollen, daß das Volk religiös wird, damit wir nicht Ekel vor ihm empfinden: wie jetzt, wo der Anblick der Massen ekelhaft ist. 311>9] — wir stellen u n s gefährlicher hin und geben uns vielmehr dem Schmerze, dem Gefühl der Entbehrung hin: unser Atheismus ist ein S u c h e n nach Unglück, wofür die gemeine Art Mensch gar kein Verständniß im Leibe hat. 3i[3°] Mittag und Ewigkeit. Von Friedrich Nietzsche. E r s t e r Theil: die V e r s u c h u n g Zarathustra's. 31[31] Bei abgeheilter Luft, wenn schon des Thaus Tröstung zur Erde niederquillt, unsichtbar, auch ungehört — — denn zartes Schuhwerk trägt der Tröster Thau, gedenkst du da, gedenkst du, heißes Herz, wie einst du durstetest, nach himmlischen Thränen und Thaugeträufel versengt und müde durstetest? — dieweil auf gelben Gras-Pfaden boshaft abendliche Sonnenblicke durch schwarze Bäume um dich liefen, blendende Sonnenblitze, schadenfrohe. Der Wahrheit Freier du? — so höhnten sie — Nein! Nur ein Zauberer! Ein Thier, ein listiges raubendes, schleichendes, das lügen muß,

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das wissentlich willentlich lügen m u ß , nadi Beute lüstern, bunt verlarvt, sich selber Larve, sidi selbst zur Brücke — Das — der Wahrheit Freier? Nein! N u r N a r r ! N u r Dichter! Buntes redend, aus Narren-Larven bunt herausschreiend, herumsteigend auf lügnerischen Regenbogen-Dunst-brücken — nicht still gleich denen, die du sahst, starr, glatt, kalt, zum Bilde worden, zur Gottes-Säule, aufgestellt vor Tempeln, eines Gottes Thürwart — nein, feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, voll Katzen-Muthwillens, der durdi jedes Fenster springt in jeden Zufall, in jeder Wildniß heimischer als vor Tempeln, jedem Urwalde sehnlicher zuschnüffelnd, daß du drin mit lüsternen Lefzen liefest, gleich buntgefleckten Raubthieren sündlich-gesund und schön, selig-höhnisch und selig-blutgierig. Oder dem Adler gleich, der lange starr in Abgründe blickt, in seine Abgründe, die sich hinab in immer tiefere Tiefen ringeln, dann, plötzlich, geraden Zugs, gezückten Flugs, hinab auf Lämmer stoßen, jach hinab, heißhungrig, gram allen Lammsseelen und was nur blickt mit schafmäßigem krauswolligem Lämmer-Wohlwollen: — also adlerhaft, pantherhaft sind des Zauberers Sehnsüchte, sind deine Sehnsüchte unter tausend Larven, du N a r r ! du Dichter! Der du den Menschen schautest so Gott als Schaf: den Gott zerreißend im Menschen und das Schaf im Menschen zerreißend lachen — Das, Das ist deine Seligkeit! Eines Panthers und Adlers Seligkeit! Eines Zauberers und Narren Seligkeit! Bei abgeheilter Luft, wenn schon des Monds Sichel grün zwischen Purpurröthen und neidisch hinschleicht, — dem Tage feind, mit jedem Schritte heimlich an RosenHängematten hinsichelnd, bis sie sinken, nacht-abwärts blaß hinabsinken:

W i n t e r 1 8 8 4 — 8 5 31 [ 3 1 — 3 2 ]

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so sank ich selber einstmals aus meinem Wahrheits-Wahnsinn, aus meinen Tages-Sehnsüchten, des Tages müde, krank vom Lichte — sank abwärts, abendwärts, schattenwärts, von Einer Wahrheit verbrannt und durstig: — gedenkst du noch, gedenkst du, heißes Herz, wie da du durstetest? — daß ich verbannt sei von a l l e r Wahrheit! Nur N a r r ! Nur Dichter!

Wer wärmt mich, wer liebt mich noch? Gebt heiße Hände, gebt Herzens-Kohlenbecken! Hingestreckt, schaudernd, Halbtodtem gleich, dem man die Füße wärmt, geschüttelt, ach! von unbekannten Fiebern, zitternd vor spitzen eisigen Frost-Pfeilen — von dir gejagt, Gedanke! Unnennbarer, Verhüllter, Schöpferischer! Du Jäger hinter Wolken! Darniedergeblitzt von dir, du plötzlich Auge, das midi aus Dunklem anblickt — so liege ich, biege mich, winde mich, gequält von allen ewigen Martern, getroffen von dir, grausamster ewiger Jäger, du unbekannter Gott! Triff tiefer, triff Ein Mal noch! Zerstich, zerbrich dies Herz! Was soll dies Martern mit zähnestumpfen Pfeilen? Was blickst du wieder, der Menschen-Qual nicht müde, mit schadenfrohen Götter-Blitz-Augen? Nicht tödten willst du? Nur martern, martern? Der du auch des Nachts heranschleichst, mich eifersüchtig athmen hörst, mein Herz behorchst, in meine Träume einsteigst, in meine Träume gespitzte Zweifel und Pfeile werfend, herzzerbrechende: allzeit bereiter Henker-Gott, wozu! Wozu m i c h martern? Was willst du dir erfoltern? Was willst du, daß ich rede? Oder soll ich dem Hunde gleich vor dir midi wälzen, hingebend-begeistert-außer-mir dir Liebe zu wedeln?

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Umsonst! Stich weiter, grausamster Stachel! Nein, kein Hund — dein W i l d nur bin ich grausamster J ä g e r ! Dein stolzester Gefangner, du Räuber hinter Wolken! Sprich endlich, was willst du, Wegelagerer, von mir? — Du Blitz-Verhüllter, Unbekannter, sprich, du mein Gedanke: was w i l l s t du, unbekannter — Gott? — Wie? Lösegeld? Was willst du Lösegelds? Verlange Viel — das räth mein Stolz. U n d rede kurz — das räth mein andrer Stolz! H a h a ! M i d i willst du? M i d i — mich ganz? H a h a ! U n d marterst mich, N a r r , der du bist, zermarterst meinen Stolz? Gieb L i e b e mir — wer w ä r m t mich noch, wer liebt midi noch! Gieb heiße Hände, gieb Herzens-Kohlenbecken — gieb mir dem Einsamsten, den Kälte selbst nach Feinden, nach Feinden schmachten lehrt — gieb, ja ergieb, grausamster Feind mir — d i c h ! — H a ! Davon! Da floh er selber, mein letzter einziger Genoß! mein großer Feind! Mein Unbekannter! Mein HenkerGott! Nein! komm zurück, mit allen deinen Martern! Zum letzten aller Einsamen — oh komm zurück! all meine Thränenbäche strömen zu dir den L a u f ! Und meine letzte Herzens-Flamme — dir glüht sie auf! Oh komm zurück, mein unbekannter Gott! Mein letztes Glück! 3*[33] — wie der H i r t über die Rücken wimmelnder Sdiafheerden hinblickt: ein Meer grauer kleiner wimmelnder Wellen. — knirschend schlage ich an das U f e r eurer Flachheit, knirschend wie eine wilde Woge, wenn sie widerwillig in den Sand beißt — — süßliche schmeichelnde H u n d e — willfährig, lüstern, vergeßlich: sie haben's alle nicht weit zur H u r e .

Winter 1884—85 3 1 [ 3 2 — 3 4 ]

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— begeistert für grünes Gemüse, und den fleischlichen Freuden abhold — diese Dinge sind fein: wie so dürftet ihr darnach mit Schafsklauen greifen? Jeglich Wort gehört nicht in jedes Maul: aber wehe über diese kranke sieche Zeit! Wehe über die große Maul- und Klauenseuche. — Hohl, Höhle, voller Nachtgeflügel, umsungen und umfürchtet — „diese Dichter! sie schminken sich noch, wenn sie ihrem Arzte sich nackt zeigen!" (Und als Zarathustra hierauf nicht Nein sagte, sondern lächelte, siehe, da hielt der Dichter flugs seine Harfe schon im Arme und that den Mund weit auf zu einem neuen Liede. — ein grüner Blitz von Bosheit sprang aus seinen Augen, er öffnete den Mund und schloß ihn wieder. — der Abend kommt übers Meer: auf schweren grünen Wogen heranreitend wiegt er sich, der Sehnsüchtige, in seinen purpurnen Sätteln — — an die Erde gelehnt, wie ein Schiff, das müde in seine stille Bucht einlief: da genügt's, daß eine Spinne spinnt vom Lande zu ihm ihren Faden, keiner stärkeren Taue braucht es da noch! 3iE34] — „Oh meine Thiere! Mein großes Glück macht mich drehen! Ich muß nun tanzen, — daß ich nicht umfalle! — sie liegen auf dem Bauche vor kleinen runden Thatsachen, sie küssen Staub und Koth zu ihren Füßen: und frohlocken noch: „Hier endlich ist Wirklichkeit!" — ihr redet mir von eurer Hoffnung? Aber ist sie nicht kurzbeinig und schieläugig? Sieht sie nicht immer um die Ecke, ob dort nicht schon die Verzweiflung warte? — Und wer von euch sagt noch ehrlich für sein Übermorgen gut! Wer — d a r f noch schwören? Wer bleibt noch fünf Jahr in Einem Haus und Einer Meinung?

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Nachgelassene Fragmente

— der Mensch ist böse: so sprachen alle Weisesten mir zum Tröste: ach, wenn es nur heute noch wahr ist! — weshalb kam ich doch hier auf diese Höhe! Wollte ich nicht endlich einen großen M(enschen) sehen? Und siehe da, ich 5 finde einen vergnügten alten Mann — mürbe Gräber, welche ihre Todten nicht mehr halten können. Wehe, da wird es bald Auferstehungen abgeben! — vom Honig: „ich bedarf deiner nicht, aber1 ich nahm dich an wie ein Geschenk des Lebens: als der Nehmende weihe ich io dich — daß ein Blitz in ihre Speise schlüge und ihre Mäuler lernten Feuer fressen! 31L 3 5 ] — beharrlich und einem Bauern gleich so grob wie listig — Menschen des „guten Willens"? Unverläßlich ij — fragt die Weiber: man gebiert nicht weil es Vergnügen macht! — man wird am härtesten für seine Tugenden bestraft." — „es ist kühl, der Mond scheint, keine Wolke steht am Himmel: es lohnt sich nicht zu leben, oh Zarathustra!" 20 — Mancher ward seiner selber müde: und siehe, da erst kam das Glück zu ihm, das auf ihn gewartet hatte von Anbeginn." — Bin ich denn eine Wetterscheide? Alle Wolken aber kommen zu mir und wollen eine Auskunft — — ich sammle mich gleich einer wachsenden Wolke und werde stiller und dunkler: so thun alle, welche den Blitz gebären sollen. — „ihr wollt euch an mir wärmen? K o m m t mir nicht zu nahe, rathe ich euch: — ihr möchtet euch sonst die Hände ver3 ° sengen. Denn seht doch, ich bin überheiß. Mit Mühe zwinge ich meine Flammen, daß sie mir nicht aus dem Leibe brechen."

Winter 1884—85 31[34—36]

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— Man hat dir die Pfoten gebunden, du Kratz-Katze, nun kannst du nicht kratzen und blickst Gift mit deinen grünen Augen! — mit ausgedorrten blitzblanken Schwertern, welche zu lange durstig an der Wand hiengen: sie funkeln vor Begierde sie möchten wieder Blut trinken — und die Schwerter liefen durch einander gleich rothgefleckten Schlangen — ich horchte auf Wiederhall, ach! und ich hörte nur Lob. 3i[36] — Thut gleich mir, lernt gleich mir: nur der Thäter lernt. — im Verehren ist mehr des Ungerechten noch als im Verachten Bezauberer — ich weiß auch schon bunte Decken aufzulegen: und wer sich aufs Pferd versteht, versteht sich wohl auch auf's Satteln. — und wenn du dem Himmel gram bist, wirf deine Sterne hinauf in den Himmel —: das sei deine ganze Bosheit! — steht nicht die Welt eben still? Wie mit furchtbaren Ringeln umwindet mich diese Stille! — ihr wußtet euch gut zu bemänteln, ihr Dichter! — er hat sich von der Tugend überwinden lassen: und nun nimmt all sein Schlimmes in ihm Rache dafür. — hier bist du blind, denn hier hört deine Redlichkeit auf — ich horchte auf Wiederhall, aber ich hörte nur Lob — er warf sich aus seiner Höhe herab, die Liebe zu den Niedrigen verführte ihn — : nun liegt er mit gebrochenen Gliedmaaßen — er redet viel von sich, das war sein Kunststück, sich selber zu verbergen. — Heil! Wie kam es doch, daß die Wahrheit hier einmal zum Siege kam? Ein starker Irrthum kam ihr zu Hülfe. — er ward mir gleichgültig, er machte mich nicht fruchtbar

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— wie arm ist der Mensch! Man sagt mir, er selber liebe sich: ach, wie arm ist auch diese Liebe noch! — mit diesen Schwertern zerschneide ich noch jede Finsterniß! 3i[3 7] — und wer geboren hat, ist krank. — ihr Schaffenden alle, an euch ist viel Unreinliches: das macht, daß ihr Mütter sein müßt. — der Schmerz macht Hühner und Dichter gackern — ein neues Kind, ein neuer Schmutz. Und wer geboren 10 hat, soll sich reinigen. — auf den Stelzen seines Stolzes — wie wenn man Oel und Wasser durcheinander schüttelt — was um eüch wohnt, das wohnt sich bald auch in uns ein. — die Selbständigen, — ihr müßt euch selber stellen lernen J 5 oder ihr fallt um. — ich selber setzte mir diese Krone auf: keine Hand war sonst stark genug dazu — mit Diebsaugen, ob sie schon im Reichthum sitzen. Und manche von ihnen nenne ich Lumpensammler und Aasvögel. — krumm gehen alle großen Dinge zu ihrem Ziele und machen Buckel und schnurren vor Glück wie Katzen. Seht doch, ob ihr den Muth hättet, wie ein Strom krumm zu gehn. — deine Tugend ist die Vorsicht der Schwangeren: du schützest und schonst deine heilige Frucht und Zukunft. 2 S — ein Schiffbruch spie ihn wieder ans Land Bezauberer — ihr werdet bald wieder beten lernen. Die alten Falschmünzer des Geistes haben auch euren Geist falsch gemünzt. 5

3i[38] — er weiß nicht mehr, wohin? auf dem Lande regnet es 3° Feuer, und das Meer speit ihn aufs Land zurück. — heiter wie einer, der heimlich seinen Tod voraus genießt

Winter 1884—85 31 [36—39]

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— nur wer weiß, wohin er fährt, weiß auch, was sein Fahrwind ist — wenn der Teufel sich häutet, fällt auch sein Name ab: der ist auch Haut. — das Mütterliche verehrt mir. Der Vater ist immer nur ein Zufall. — vergiß nicht deine Einsamkeit mit ins Gedränge zu nehmen — du wolltest ihr Licht sein, aber du hast sie geblendet. Deine Sonne selber stach ihnen die Augen aus. — nun brüllt die Unterwelt, alle Schatten zeugen wider dich und schreien: Leben — das ist Folterung! — und doch willst du dem Leben fürsprechen? — lüsterne Augen und andre Zukost gallichter Seelen — wo ich lange Finger machen sehe, ziehe ich's vor den Kürzeren zu ziehen — der Teufel hält sich von Gott fern, denn er ist ein Freund der Erkenntniß. — glückselig und wunderlich, einem Elephanten gleich, der versucht auf dem Kopfe zu stehen. — es ist nicht genug, daß der Blitz nicht mehr schadet: er soll lernen für mich arbeiten. 3 J [ 3 9] — er redet ihnen ein, sie hätten den Weg verloren — dieser Schmeichler! Es schmeichelt ihnen, daß sie einen Weg hätten. — er hat sein Ziel verloren: wehe, wie wird er seinen Verlust verscherzen und verschmerzen! B e z a u b e r e r — es verräth dich, daß du nach Größe strebst: du bist nicht groß. — die tiefste Liebe, welche ihren Namen nicht weiß und fragt: „bin ich nicht Haß?" — im Leben todt, verborgen, vergraben, versteckt: oh Zarathustra, wie viele Male wirst du noch auferstehn!

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Nachgelassene Fragmente

— das klärte sich auf: nun geht es mich nichts mehr an. Hüte dich! einst könntest du über Zu-Viel aufgeklärt sein! — nicht den freien Geist, sondern den neuen Geist hassen die Gebundenen mit ihrem besten Hasse. — oh Glück, ich kam durch Haß und Liebe zu meiner Oberfläche: zu lange hieng ich in der Tiefe gleich allen Schweren und Schwermüthigen — ich schlief mich lange aus, um mich länger — auszuwachen. — ausbündig ungerecht, denn sie wollen gleiches Recht für Alle — er brütet mit Recht so lange auf seinem Mißgeschick: in diesem häßlichen Ei verbirgt sich ein schöner Vogel. — er möchte, daß endlich die Sternbilder seiner Tugend leuchten: dazu hat er seinen Geist verdunkelt und eine neue Nacht sich vorgehängt. — unbehülflich wie ein Leichnam — „und die vier Thiere spradien: Amen" 3i [40] — Auch der Heiligste denkt: „ich will leben, wie ich Lust habe — oder ich habe keine Lust mehr zu leben". — ihr Uberreichen, ihr tröpfelt gleich bauchichten Flaschen aus allzuengen Hälsen: solchen Flaschen brach man oft schon die Hälse, hütet euch! — die kleine Wohlthätigkeit empört, wenn kaum die größte verziehen wird. — wo ich immer fürchtete, werde ich endlich noch wünschen! Man lernt es, zuletzt seinen Abgrund l i e b e n . — was mich an einem Weisen am meisten wundert, das ist, wenn er einmal klug ist. — selig und müde, gleich jedem Schöpfer am siebenten Tage E u r o p ä e r — wo darf ich heimisch sein? darnach suchte ich am längsten, dies suchen bleibt meine stäte Heimsuchung

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— „wir kommen, um den frühesten Mann des Jahrhunderts zu sehen" — er ist unerschütterlich; und wenn er klagt, thut er es mehr aus Nachsicht gegen euch als gegen sich. — seine Härte vermäntelt durch leutselige Art — lieber noch Händel als Händler! — sie sagen von ihm: „er steigt"; aber er wird dem Balle gleich durch euch in seine Höhe g e d r ü c k t — durch eure und meine schwere Luft, daß er an euch leidet, das macht ihn steigen. — hier ist selber der Ehrgeiz erdrosselt; es gelüstet sie eher noch die Letzten zu sein als die Ersten. 3I[4I] — ihr vergaßet die Zukünftigen, als ihr rechnetet: ihr vergaßet das Glück der Meisten. — nun lebt keiner mehr, den ich liebe: wie sollte ich noch mich selber ertragen! — in der Tugend giebt es nur Sprünge und Flüge: da soll Niemand — — er ^suchte seinen Feind und fand seinen Freund — ihr Leichen-Räuber, die ihr allen diesen Todten noch etwas abzustehlen wißt! — eurem Willen ein Rückgrat schaffen — dem Gottes-Mörder, dem Verführer der Guten — voll tiefen Mißtrauens, überwachsen vom Moose der Einsamkeit, langen Willens, ein Schweigsamer, der Feind aller Lüsternen — — und wer sie (am tiefsten) abgründlich verachtete, war er nicht eben dadurch ihr größter Wohlthäter? — „in ihrem Kopfe ist weniger Sinn für das Rechte als in meiner linksten Zehe" — mißtrauisch und geschwürig, bereit zu plötzlichem Wollen, ein Lauerer und Horcher

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Nachgelassene Fragmente

— ich wollte es nicht vorher; so muß ich es schon nachher wollen — alles muß ich also „gut machen". — ihr Käfiche und enge Herzen, wie wolltet ihr freien Geistes sein! ihr Rauchkammern und verdumpften Stuben Gewissenhafter — nicht für seinen Glauben wird er von innenher verbrannt, sondern daß er zu seinem Glauben keinen Wunsch finden konnte 3^42] — liebe ich denn die Menschen? Aber sie gehören zu meinem Werke. — oh ihr Weisen, die ihr lerntet ob eurer Thorheit zu frohlocken! Oh ihr Armen, Geringen, Uberflüssigen, deren Joch leicht ist! Em(erson) 283 — als aber der Alte so sprach, griff Zarathustra nach seiner Hand, welche zitterte und küßte sie „Weiche von mir, mein Versucher", sprach er dann und lächelte — denn mitten in seinem Schmerz kam ihm eine scherzhafte Erinnerung. — die Eintags-Lehrer und andre Schmeiß-Fliegen. — enge Seelen, Krämer-Seelen! Denn wenn das Geld in den Kasten springt, springt des Krämers Seele mit. — Vielfraße oder Schmeckerlinge der Erkenntniß — wo Gold klingelt, wo die Hure herrsdit — Geld und Wechsler soll man mit Handschuhen angreifen: und alles, was durch alle Finger geht. — zum Eigennutz sind die Meisten zu dumm — irgend eine Liebe ist ihr Wahnsinn; sie opfern Alles für Eins — willst du diese kaufen, so biete nicht zu wenig: sonst sagen sie „Nein" und gehen gebläht davon, mit gestärkter Tugend, als die „Unbestechlichen". — mein Freund, die Tugend thut kein Ding mit „um" und „weil" und „damit"; sie hat kein Ohr für solche kleinen Worte.

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3 1 [4 3 ] — ihr Dichterlinge und Faulthiere, wer nichts zu schaffen hat, dem macht ein Nichts zu schaffen! — leicht und fertig, ein flug-bereiter, ein göttlich LeichtFertiger — was ich euch thun muß, das k ö n n t e t ihr mir nicht wieder thun: es giebt keine Vergeltung! — die Einsamkeit reift: aber sie pflanzt nicht. — sie verfolgen mich? Wohlan, so lernen sie mir folgen. Aller Erfolg war bisher bei den Gut-Verfolgten. — ich laufe flüchtig über euch hinweg, wie ein Blick über Schlamm. — er sah meine tiefste Schmach, an dem Zeugen will ich allein meine Rache haben — Gott, der Alles sah, mußte sterben: der Mensch ertrug es nicht, daß dieser Zeuge lebte. — ein Schamhafter, den man dazu zwingen und n o t z ü c h tigen muß, was er am liebsten möchte. — ungeduldig wie ein Schauspieler: der, der hat keine Zeit, auf die Gerechtigkeit zu warten — ihr Starken, nun blickt ihr gar noch begehrlich nach den Tugenden der Schwachen: aber an diesen hübschen Mägden sollt ihr streng vorübergehen! — du fühlst nicht einmal, daß du träumst: oh, so bist du noch ferne vom Aufwachen! — Bin ich nicht die Wetterscheide? Kommen alle Winde nicht zu mir und fragen midi nach meinem Ja und Nein? 3i [44] Mann des Volks — er strebt ins Verbotene: das ist der Ursprung aller seiner Tugend. — schnell genug reitest du zu deinem Ziele: aber dein lahmer Fuß sitzt auch mit zu Pferde. Wenn du vom Pferde springst — dort, auf deiner Höhe gerade wirst du stolpern!

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Nachgelassene Fragmente

— daran erkenne ich den Überreichen: er dankt dem, der nimmt. — einsame Tage wollen auf tapfern Füßen gehn — ein neuer Frühling quillt in allen meinen Ästen, der heißt Genesung. Ich höre die Stimme des Südwinds und schäme midi: nach dunklen dichten Blättern begehrt die Scham meines jungen Glücks. — schwimmend in Billigkeit und Milde, ihrer Dummheit froh und daß Glück auf Erden so wohlfeil ist — ausgetrunkne trockne Seelen Hefe auf dem Grund, und sandige Flußbetten Heimatloser — wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie ruhig schlafen eingefangene Verbrecher! B e z a u b e r e r — solche, die man mit erhabenen Gebärden überzeugt, aber mit Gründen mißtrauisch macht — erreglich an Hirn und Schamtheilen gleich Juden und Chinesen — euer Glaube, an dessen Thür der Ehebruch Gottes steht — zu nahe folgt ihr mir, ihr Zudringlichen und auf dem Fuße: unversehens werde ich euch einmal den Kopf eintreten! (spricht die Wahrheit zu dem Gewissenhaften) — eures Friedens Sonne dünkt immer mich zu schwül: lieber noch sitze ich im Schatten meiner Schwerter

3^45] — einem Winde gleich, der alle Himmel hell und alle Meere brausen macht — umhergewirbelt, umhergetrieben, ihr Unstäten; auf allen Oberflächen habt ihr einmal geschlafen, als Staub saßet ihr auf allen Spiegeln und Fensterscheiben — er singt: da flog er wohl auch über sein Unglück weg, 3° der f{reie) Vogel? Denn der Unglückliche schweigt. — gebt mir zu rathen: mit eurem B e w e i s e n ) ermüdet ihr den Hunger meines Geistes.

Winter 1884—85 31[44—48]

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— sie erfanden sich die heiligste Langeweile und die Begierde nach Mond- und Werkeltagen — hier kreisen und drehen sich furchtbare Dinge, hier klafft der Abgrund hier kläfft der Höllenhund, der Zukunft heißt, hier wird die weiseste Seele schwindlig. — ihr Sträflinge des Reichthums, klirren nicht eure Gedanken gleich kalten Ketten? — ohne Weiber, übel genährt, Nabel-beschauerisch und Athemzüge abzählend, die Langweiligen: was konnten sie sich Besseres erfinden als die Wollust Gottes? — in fernsten und kältesten Gedanken umgehend, wie ein Gespenst auf Winterdächern, zur Zeit, wo der Mond sich in den Schein legt — einer, bei dem Feinde wenig gut zu machen haben: denn er lacht zu bald wieder. — wer in der Tugend zu Heim- und Hause ist, redet mit ihr vertraulicher spöttischer. 3i [46] Zarathustra: man muß seinen Gott aus der Ferne sehen: nur so nimmt er sich gut aus. Darum hält sich der Teufel von Gott fern, denn er ist ein Freund des schönen Scheins. 3i [47] Der B e z a u b e r e r . vor Tugenden und Entsagungen auf den Knieen, gleich dem Pöbel, sonderlich aber vor der großen Keuschheit: vor der betete ich und warf midi hin. Was mir fremd war, was (ich) nie kennen durfte, sprach ich heilig: meine Nase roch am liebsten die mir Unmöglichen Zarathustra sagt: Viel Pöbels mag wohl in dir sein: wer da zu Heim- und Hause ist, redet vertraulicher, spöttischer 3i[48] — diese Sdiwerfälligen Geängstigten, welche ihr Gewissen

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grunzen macht: denn sie leiden immer an ihrem inneren Vieh. — bei bedecktem Himmel, wenn man Pfeile und tödtende Gedanken nach seinen Feinden schießt — denkendere Zeiten, zerdachtere Zeiten, als unser Heut und Gestern ist — diese Zeit: ist sie nicht wie ein krankes Weib, das rasen schreien schimpfen und Tisch und Teller zerbrechen muß, daß es endlich wieder Ruhe habe? — hartnäckige Geister, fein und kleinlich — oh wie traurig seid ihr Alle! Oh wie traurig sind eure Hanswürste noch! — ihr Verzweifelnden, wie viel Muth macht ihr allen denen, die euch zureden! — es steht schlimmer als ihr denkt: mancher meinte zu lügen und siehe, da traf er erst die Wahrheit! — du bist zu reich, oh Zarathustra, du verdirbst zu Viele, du machst uns Alle neidisch! — sie lieben ach! und werden nicht geliebt; sie zerfleischen sich selber, weil niemand sie umarmen will. „Ist denn Nichts an mir zu lieben?" so schreit ihre Verzweiflung. — das ist so der Hang der kleinen Seelen: sie möchten das Große zu sich herabschmeicheln, daß es mit ihnen zu Tische sitze. 3i [49] — ach, sie fallen zurück in die starken Worte und die schwachen Thaten! Ach, sie heißen sich wieder Tugendhafte! — sie haben sich einst ihren Gott aus Nichts geschaffen: was Wunders, daß er ihnen zu nichte wurde — Ihr sagt „Wehe! es ist alles Schein!" Aber es ist alles Lüge. Ihr sagt: „Alles ist Leiden und Untergehen!" Aber ihr sagt immer nicht genug: denn Alles will leiden machen und untergehen machen! — ohne Gott, ohne Güte, ohne Geist — wir haben ihn erfunden, den häßlichsten aller Menschen!

Winter 1884—85

31[48—50]

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— adi, meine Brüder! Wohin ist das Gute und der Glaube der Guten! Wohin ist die Unschuld aller dieser Lügen! — ungeschickt und scheu, einem Tiger ähnlich, dem sein Sprung mißlang. — er verlernte Fleisch essen und mit artigen Weiblein spielen, er härmt sich über die Maaßen — einst — : ach wie fern dies Einst! Wie süß das Wort schon „Einst", verirrten Glockenschlägen gleich, in dichten Wäldern — — ja, Mensch, Mensch — das ist ein langer Strick, und Zarathustra heißt der Knoten, der hineingeknüpft wurde! (der Wahrsager) Fabel — wie ein Wanderer der von fernen Dingen träumt unversehens auf einsamer Straße einen schlafenden Hund anstößt: wie Todfeinde sahen da die Beiden sich an, diese zwei zum-Tod-Ersdireckten! Und doch im Grunde: wie wenig fehlte, daß sie einander streicheln und liebkosen! — der Tag klingt ab, es ist Zeit und Überzeit, daß wir aufbrechen 3I[5°] — Distelköpfe, Tüftel-Tröpfe — übereilig gleich springenden Spinnen-Affen — zwischen Särgen und Sägespähnen — Schwindhunde und schmächtiges Gezücht rings um mich — ein kaltes Bad: willst du da hinein mit deinem Kopf und Herzen? Oh wie bald wirst du als rother Krebs dastehn! — der Fleißige, Treuliche, dem der Tag goldhell und gleich herauffließt — umringt von dämmernden Ewigkeiten, und über mir entwölktes Schweigen. — der den Eseln Flügel giebt und aus seinen Anklägern seine Fürsprecher macht, der Löwinnen melkt

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Nachgelassene Fragmente

— die Wellen um mich steigen höher und höher: bald soll mein Nachen nicht mehr auf dem Trocknen sitzen. — ihr habt mich mit Ketten gebunden, aber Henker und Folterer sind Gründe, mit denen man am besten überredet, 5 wenn uns das Maul verbunden ist — sie denken klein von mir: sie nehmen Rache darum daß ich sie größer machen wollte! — zur Stunde, wo kein Hirt die Flöte bläst: denn der Mittag schläft auf den Fluren. io — ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden will freiwilliger Bettler — jene alte pfiffige Frömmigkeit, welche sprach „den Armen geben das ist Gott leihen: seid gute Bankhalter!" Und wenn ich deines Glaubens wäre, so wollte ich auch i j deines Wandels sein. denn sein Wille verlangte nach dem großen Mittage und nach seinem Untergange 3i[5i] — Ihr heißt mich einen Aufopfernden? Aber wer je Opfer brachte, weiß, daß es nicht Opfer waren, was er brachte. — ein Ungeheuer von Überfluß und Vernunft, ein Verschwender mit tausend Händen, gleichgültig darin gleich einer Sonne — es gab einst Einen, der sprach: „ich bin die Wahrheit", und nie wurde einem Unbescheidenen höflicher geantwortet als ihm. 25 D i c h t e r — mein Sinn und meine Sehnsucht geht auf Weniges und Langes: wie verachte ich eure kleinen kurzen Schönheiten! — „nichts ist wahr, alles ist erlaubt", so redet ihr? ach! also ist auch diese Rede wahr, was liegt daran, daß sie erlaubt ist! 30 — durch Bilder Tänze Töne und Schweigsamkeiten reden: und wozu wäre alle Welt da, wenn nicht alle Welt zu Zeichen und Gleichniß wäre!

Winter 1884—85 31 [50—52]

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— da stehen sie da, die schweren granitnen Katzen, die Werthe aus Urzeiten: wer vermag sie umzuwerfen! — ein großer Mensch, ein Solcher, der um seiner Sache willen sein Mitleiden hinwirft und sein billiges Herz zu zerbrechen weiß: der es wagt und von sich erlangt, Viele und Vieles zu opfern, damit Er gedeihe — — aufgerichtet zur Säule in der Wüste großen Unglücks, starr stier geworden und steinern — still in seiner goldbraunen Traurigkeit, als einer, der zu viel Gutes geschmeckt hat — mein Herren-Reich von tausend Jahren, mein hazar — — weißt du das nicht? In jeder Handlung die du thust ist alles Geschehens Geschichte wiederholt und abgekürzt ihr Sinn ist ein Wider-Sinn, ihr Witz ist ein Doch- und Aber-Witz 3I[52]

— eifersüchtig auch im Hasse: du willst deinen Feind für dich allein haben! — wie wenig reizte die Erkenntniß, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre! — ihr liebt den Nutzen als das Fuhrwerk eurer Neigungen: aber ist nicht der Lärm seiner Räder auch euch noch unerträglich? — der Schritt verräth, ob einer schon auf seiner Bahn schreitet: und wer seinem Ziel näher kommt, der tanzt. — ihr redet von eurer Treue: aber eure bequeme Art ist es, die nicht will, daß ihr aus eurem Bette aufsteht. — deine Tugend war dir lieb: so heiße sie nunmehr auch nicht mehr Tugend, sondern deinen Geschmack — so nämlich will es guter Geschmack! — aber Zarathustra, sagte die Schlange, du Kluger, wie konntest du so handeln! Das war eine Dummheit! — „Es ist mir auch schwer genug geworden". — dein böses Gewissen in dir: das ist die Stimme deiner

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Nachgelassene Fragmente

ältesten Vorvordern, die dir zuredet. „Erbsünde", mein Freund, das ist gewißlich ein Beweis deiner Erbtugend. — was redet ihr doch von hohen Gefühlen! In der Höhe fühle ich midi tief und fest und endlich auf meinem Grund und Heim-Boden. — ein Lehrer von Grund aus, ein Solcher, der alle Dinge nur um des Schülers willen ernst nimmt, und sich selber auch. — Geist haben ist nicht genug: man muß ihn noch sich nehmen, und dazu gehört viel Muth. 3^53] — oh über den wunderlichen und grausamen Gott, den ihr als „die Liebe" preist! als d e r Gott entstand, war wohl alle Liebe noch wenig göttlich? — kalte kühle Menschen, solche denen man ihre Thorheiten nicht glauben will — wer von Herzen willig und wohl ist, der liebt auch die Seitensprünge: wehe aber allen den Unbedingten! es ist eine kranke Art. — ist nicht das Loben zudringlicher als alles Tadeln? — ohne Gründe habt ihr dies einst glauben gelernt: wie könnte ich wohl durch Gründe dies euch umwerfen! — „ich liebe meinen Gott von Grund aus: wie dürfte ich wollen, daß er mich wieder liebte! Er s o l l nicht so thöricht sein an mich zu glauben! wie alle Liebenden thun. — ihr Fieberkranken seht alle Dinge als Gespenster, und ihr Fieberlosen als leere Schatten: und doch braucht ihr Beide die gleichen Worte! — mein Gedächtniß sagt: „das that ich", mein Stolz aber sagt dazu „das k o n n t e ich nicht thun" und bleibt unerbittlich. Zuletzt — giebt das Gedächtniß nach! — er hat kalte vertrocknete Augen, vor ihm liegt jedwedes Ding entfedert nackt und farbenlos: und nun meint ihr, seine Ohnmacht zur Lüge sei „Liebe zur Wahrheit!"

Winter 1884—85 31 [52—54]

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— ihr saht schlecht dem Leben zu, wenn ihr den noch nicht sdiautet, der mit schonenden Händen — t ö d t e t ! — er schüttelt sich, blickt um sich, streift m i t der H a n d über den K o p f — und nun heißt ihr ihn einen Erkennenden! 5 Aber Freiheit v o m Fieber ist noch nicht E r k e n n t n i ß . 3I[j4] — der Erkennende von heute, welcher lehrt: einst wollte G o t t zum Thier werden: siehe das ist der Mensch: — ein G o t t als T h i e r ! — die große Liebe will nicht zurückgeben und vergelten, Jo im Meere der großen Liebe ist die Vergeltung ertrunken. — lernt mir doch endlich: „jeglich schlimmes Ding hat gute Kehrseiten." — ihr Ertrinkenden alle, meint ihr, ich wüßte nicht, was ihr hier wolltet? euch an einen starken Schwimmer anklam1$ mern, der ich selber bin. — meint ihr, ich wollte es dem höheren Menschen leichter machen und bequemere Pfade zeigen? I m m e r mehr dieser eurer A r t sollen zu Grunde gehn, und immer besser will ich selber darüber lachen lernen 20 — ihr würdet den Stärksten noch mit euch hinab in die Tiefe ziehn: so blind und blöde greift ihr nach einem R e t ter! — ich lernte größeres Unheil sehen und bin darob, daß ihr schreit, nicht unlustig. 2

5

— was geht mich euer Elend an! Meine Sünde hieße: M i t leiden mit euch! — meint ihr, ich sei da gut zu machen, was ihr schlecht machtet? — nun werfe ich meine goldnen Angelruthen weit hinaus

3° in dies dunkle Meer: schwirrend beißt ihr Pfeil hinein in den Bauch seiner Trübsal. — nun ködere ich mir die wunderlichsten Menschen-Fische,

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Nachgelassene Fragmente

nun will ich mein goldbraunes Gelächter darob haben, was alles da unten miß- und krummgeboren wird — thue dich auf, du unreiner Schooß der Menschen-Narrheit! Du abgründliches Meer, wirf mir deine buntesten Ungethiere und Glitzer-Krebse zu 31C 5 51 Ihr Miesler und Wunderlichen, ihr Mißrathenden, was gienge mich noch euer Elend an, wenn nicht auch daran es Viel zu lachen gäbe! Mitleiden mit euch —: so hieße die Eine Sünde, die mir noch übrig blieb Ihr Ertrinkenden alle, meint ihr, ich wüßte nicht, was ihr von mir auf meiner Höhe wolltet: das Meer schlingt euch hinab: nun wollt ihr euch an einen starken Schwimmer anklammern? Und wahrlich, so blind und wild greift ihr mit Arm und Bein nach einem Retter, daß ihr den Stärksten noch in eure Tiefe hinabzöget! Dazu lache ich nun, ein starker Schwimmer, der keinen kleinen Finger eudh mehr entgegenstreckt: denn, griffet ihr ihn, so würdet ihr auch noch Hand und Herz dazu nehmen. Das ist euer Unbescheidnes, daß ihr leben, leben wollt, ob ich gleich an euch zu Grunde gienge 3i[j6] „Ihr Könige und du Einer Esel!" 3i[S7] das Haar Zarathustra's schwarz werdend (Löwe und Taubenschwarm) 3i[58] — es lief eine Sehnsucht durch die Lande und klopfte allen Einsiedlern an die Thür und sprach „Lebt denn Zarathustra noch?"

Winter 1884—85 31 [54—61]

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3*[J 9] — Dem guten Frager ist schon halb geantwortet. 3

I[6O]

— Man muß seine Augen aucii hinter dem Kopfe haben! 3

I[6I]

G e s p r ä c h mit den K ö n i g e n — „Ich sehe Könige v o r mir: aber idi suche den höheren 5 Menschen." — Mit dem Schwerte dieses Wortes zerhaust du unseres Herzens Finsterniß — wir s i n d nicht die Ersten und müssen es bedeuten: dieser Betrügerei sind wir zuletzt satt und ekel geworden — lernt mir endlich doch: „jeglich schlimmes Ding hat zwei gute Kehrseiten" — oh Zarathustra, in ihrem Kopfe ist weniger Sinn f ü r das Rechte als in deiner linksten Zehe. — unter schlimmem Gesindel erdrosselt sich der Ehrgeiz r 5 selber: hier gelüstet es einen mehr, den Letzten zu bedeut e n als dieses Volkes Ersten." — dem guten Frager ist halb schon geantwortet.— — seht doch, wie dies kam und kommen mußte: man muß sein Auge auch hinter dem Kopfe haben! 2° — ausbündig ungerecht: denn sie wollen gleiches Maaß für Alle — beharrlich, einem Bauern gleich so grob wie listig — sie klammern sich an Gesetze an, und möchten Gesetze „festes Land" heißen: denn sie sind der Gefahr müde, aber im Grunde suchen sie einen großen Menschen, einen Steuermann, vor dem sich die Gesetze selber auswischen — die große Maul und Klauenseuche — feine Dinge — sie greifen mit Schafsklauen darnach. Jeglich W o r t gehört nicht in jedes Maul.

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Nachgelassene Fragmente

süßliche schmeichelnde Hunde, wenn sie verehren ihre Weiber: willfährig, lüstern, vergeßlich — sie haben's alle nicht weit zur Hure. Und wer von ihnen sagt noch ehrlich für sein Übermorgen gut? Wer — d a r f noch schwören und versprechen? Wer von ihnen bleibt noch fünf Jahr in Einem Hause und Einer Meinung? Menschen des guten Willens, aber unverläßlich, und nach Neuem gelüstig, diese Käfiche und engen Herzen, diese Rauchkammern und verdumpften Stuben — sie wollen freien Geistes sein — sie fühlen sich vom Pöbel nach Leib und Herzen und möchten das verstecken (und) gerne das Vornehme an- und überziehn: Erziehung nennen's (sie) — sie treiben's eifrig sie reden vom Glück der Meisten und opfern ihnen alle Zukünftigen sie haben ihre Tugend, man kann sie nicht für jeden Preis kaufen. Biete nicht zu wenig, sonst sagen sie „Nein!" und gehen gebläht davon, gestärkt in ihrer Tugend. „Wir sind die Unbestechlichsten!" die Eintagslehrer und andre Schmeißfliegen und oft sind sie gleich jener Schamhaften, welche ( m a n ) zu dem, was sie am liebsten möchte, noch zwingen und n o t z ü c h tigen muß. — seines Friedens Sonne dünkte mich schwül und flau: lieber noch sitze ich im Schatten geschwungener Schwerter. — schwimmend in Billigkeit und Milde, ihrer Dummheit froh und daß Glück auf Erden so wohlfeil ist I[6I]

3

Das Abendmahl. Also sprach der König und Alle traten auf Zarathustra zu und erwiesen ihm abermals ihre Ehrfurcht; Zarathustra aber schüttelte das Haupt und wehrte ihnen mit der Hand.

Winter 1884—85 3 1 [ 6 1 — 6 3 ]

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„Willkommen hier! sprach er zu seinen Gästen. Von Neuem heiße ich euch willkommen, ihr Wunderlichen! Auch meine Thiere grüßen euch, voller Ehre und voller Furcht: noch niemals nämlich sahen sie so hohe Gäste! Doch seid ihr mir keine kleine Gefahr — so raunen mir meine Thiere zu. „Nimm dich in Acht vor diesen Verzweifelnden!" spricht mir die Schlange am Busen; — vergebt ihrer Liebe zu mir diese scheue Vorsicht! Von Ertrinkenden spricht mir heimlich meine Schlange: das Meer zieht sie hinab — da möchten sie sich gern an einen starken Schwimmer anklammern. Und wahrlich, so blind und wild greifen Ertrinkende mit Armen und Beinen nach einem Retter und Gutwilligen, daß sie den Stärksten mit in ihre Tiefe hinabziehn. Seid ihr — solche Ertrinkende? Den kleinen Finger strecke idi euch schon entgegen. Wehe mir! Was werdet ihr nun noch von mir nehmen und an euch reißen!" — Also sprach Zarathustra und lachte dabei voller Bosheit und Liebe, während er mit der Hand den Hals seines Adlers streichelte: d e r nämlich stand neben ihm, gesträubt, und wie als ob er Zarathustra gegen seine Besucher zu schützen hätte. Dann aber reichte er dem Könige zur Rechten die Hand, daß dieser sie küsse, und begann von Neuem, herzhafter noch als vorher: 3i[«3) Das Abendmahl. Das Lied des L a c h e n d e n . Die Das Die Die

Begrüßung. Abendmahl. Improvisation. Rosenrede.

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Nadigelassene Fragmente

Als aber Zarathustra seine Gäste dergestalt wieder fröhlich fand und durcheinander redend, verließ er sie und trat leisen Schrittes hinaus vor seine Höhle. „Sie sind glücklich, ich habe sie geheilt, sprach er zu seinem Herzen: wie gut will dieser Tag enden, der so schlimm begann! Da kommt schon der Abend über das Meer, heranreitend wiegt er sich, der Sehnsüchtige, in seinen purpurnen Sätteln. Der Himmel blickt klar dazu, die Welt liegt tief: oh all ihr Wunderlichen, die ihr zu mir kamt, ihr thatetRecht damit: es lohnt sich schon,bei mir zu leben!"— Also sprach Zarathustra zu seinem Herzen und wurde immer stiller: inzwischen aber war Einer nach dem Andern von den Gästen Zarathustra's aus der Höhle hinausgetreten; und das, was sie hier draußen sahen, machte endlich Jeden von ihnen stille. So standen sie bei einander, sich stumm die Hände reichend und hinausblickend: da aber kam aus der Tiefe heimlich der Klang jener alten schweren Brummglocke, jener Mitternachts-Glocke Zarathustra's, deren Schläge er gerne abzählte und mit Reimen absang, und auch dies Mal kam sie schwer beladen mit Lust und Wehe: — da schauerte ihnen Allen das Herz. Zarathustra aber, welcher Alles wohl errieth, sprach mit Bosheit sowohl als mit Liebe, ohne sie anzusehn, vielmehr wie Einer, der zu sich allein redet, wenig laut, aber deutlich genug: „Oh seht mir doch diese Verzweifelnden! Oh seht mir doch diese Verzweifelnden ! " — Sobald aber seine Gäste dies Wort hörten, wurden sie sich mit Einem Male ihrer Verwandlung und Genesung bewußt: da lachten sie über sich selber und Alle sprangen auf Zarathustra zu, dankend, verehrend und liebend oder ihm die Hände küssend, so wie es der Art eines Jeden zu eigen war: also daß auch Einige weinten. Der Wahrsager aber tanzte vor Vergnügen; und wenn er auch, wie Manche meinen, damals voll süßen Weins war, so war er sicherlich noch voller des süßen Lebens

Winter 1884—85 31 [64]

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und hatte aller Lebens-Müdigkeit abgesagt. Zarathustra gab Acht darauf, wie der Wahrsager tanzte und zeigte mit dem Finger darnach: dann aber entriß er sich mit Einem Male dem Gedränge der Dankenden und Liebenden und nahm seine Zu5 flucht zu einer schroffen Klippe, an der er einige Schritte emporkletterte, indem er sich im Steigen einige Rosen und Rosenranken abriß. Von dieser Höhe her und, wie eben gesagt, mit Rosen in den Händen, nahm er an jenem Abende zum letzten Male das Wort: hinabschauend auf diese Schaar von io Verzweifelten, welche nicht mehr zweifelten, von Ertrinkenden, welche auf gutem festem Lande standen, lachte er aus ganzem Herzen, wand die Rosen zum Kranze und sprach die Rede, welche man heißt:

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Die Rosen-Rede. Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setze mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Wie gut doch, daß ihr zu meiner Höhle kamt, D i e s zu schaun! Wie danke ich's eurer Sorge und Sehnsucht, welche Berge stieg und am rechten Orte anfragte: „Lebt denn Zarathustra noch?" Einem guten Frager ist halb schon geantwortet. Und wahrlich eine ganze gute Antwort ist das, was nur hier ihr mit Augen seht: Zarathustra lebt noch und mehr als je: — Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein göttlich Leichtfertiger — ich selber setzte mir diese Krone auf! — Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der WahrSchweiger, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer der Sprünge und Seitensprünge liebt — ich selber setzte mir diese Krone auf! Schüttelt mich zusammen mit allen Erden-Thränen und

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Nachgelassene Fragmente

allem Menschen-Jammer: immer werde ich wieder obenauf sein wie Oel auf Wasser. Und bin ich der Erde einmal gram: des Himmels Sterne reißt da meine Bosheit noch herab zur Erde — das ist so die Art aller Zarathustra-Rache. Und wenn es auf Erden auch Moor und Trübsal giebt und ganze Meere schlimmen Schlammes: wer leichte Füße hat, läuft über Schlamm noch dahin — schnell wie über gefegtem Eise. Und wenn ich Feinde brauche und selber oft mein schlimmster Feind bin: Feinde haben wenig bei mir gut zu machen, ich lache zu schnell wieder nach jedem Unwetter Und ob ich schon in vieler Wüste war und Wüsten-Wildniß: zum Wüsten-Heiligen ward ich nicht, noch stehe ich nicht da starr, stumpf* steinern, eine Säule: vielmehr — ich schreite. Der Schritt verräth, ob Einer schon auf s e i n e r Bahn schreitet. So seht midi gehen! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der — tanzt! Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe, gleich Katzen machen sie da Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke: alle guten Dinge lachen! Welches war hier auf Erden die größte Sünde? Das war d a s W o r t dessen, der sprach: „Wehe denen, die hier ladien!" Fand er zum Lachen auf der Erde selber keine Gründe? So suchte er nur zu schlecht: ein Kind findet hier noch Gründe. Oh daß er sich doch selber — gefunden hätte! D e r — liebte nicht genug, sonst hätte er auch uns noch geliebt, die Lachenden. Aber er haßte uns und höhnte uns nur; Heulen und Zähneklappern verhieß er uns, den Lachenden! Wo man ihn nicht liebte, diesen Unbedingten, da wollte er gleich sieden und braten. Er selber liebte nicht genug: sonst hätte er weniger begehrt, daß man — i h n liebe. Geht aus dem Wege allen solchen Unbedingten! Das ist eine arme kranke Art, eine Pöbel-Art. Sie sehen schlimm diesem Leben zu, sie haben schwere Füße und Herzen.

Winter 1884—85 31 [64]

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Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! aber vergeßt mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf eurem Kopfe! Es giebt auch im Glücke schweres Gethier, es giebt Plump$ füßler von Anbeginn. Wunderlich mühen sie sich ab, solche Glückselige, einem Elefanten gleich, der sich müht, auf dem Kopf zu stehen. Besser aber noch, närrisch sein vor Glücke als vor Unglücke! Besser plump tanzen als lahm gehn! So lernt mir doch meine io Weisheit ab: „Jedwedes schlimme Ding hat zwei gute Kehrseiten." So verlernt mir doch das Trübsal-blasen und alle Naditwächter-Traurigkeit! Oh wie traurig dünken mich heute die Hanswürste noch! Dies Heute ist des Pöbels: so verlernt mir 15 doch dies — Heute! Dem Winde thut mir gleich, der hier aus seinen Berghöhlen herunter stürzt. Nach seiner eignen Pfeife will er tanzen, die Meere zittern und hüpfen unter seinen tanzenden Fußtapfen. Der den Eseln Flügel giebt, der Löwinnen melkt: ehrt mir doch diesen unbändigen guten Geist, der allem Heute und allem Pöbel wie ein Sturmwind kommt, — — der Distel- und Diftelköpfen feind ist und allen kleinen mürrischen Unkräutern, diesen wilden guten freien Sturmwind, der allen Schwer- und Schwarzsichtigen, Schwärsüchtigen Staub 2 5 in die Augen bläst: 2°

— der die Pöbel-Schwindhunde haßt und alles mißrathene düstere Gezücht: ehrt mir doch diesen Geist aller freien Geister, diesen lachenden Sturm, welcher über Meeren und Trübsalen wie auf Wiesen tanzt. 3°

Hinaus, hinaus nun, du Wildfang und Unband! Von wem redest du doch? Fliege fern hinaus, du guter Brausewind! Wie ein Schrei und ein Jauchzen fliege über weite Meere, bis du die glückseligen Inseln findest —

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Nachgelassene Fragmente

— grüße meine Kinder auf ihren Inseln, bringe ihnen den Gruß eines Nachbarn der Sonne, eines Nachbarn des Schnees, eines Nachbarn des Adlers, bringe ihnen zum Gruß die Liebe ihres Vaters! Meine Kinder, meine Wohl-Geborenen, meine neue schöne Art: was z ö g e r n meine Kinder auf ihren Inseln? Ward es nicht Zeit und höchste Zeit — so blase ihnen ins Ohr, du guter Sturmgeist — daß sie endlich zu ihrem Vater kommen? Warte ich nicht auf meine Kinder als Einer, dess Haar weiß und greis ward? Hinaus, hinaus, du unbändiger guter Sturmgeist! Stürze hinab ins Meer aus deinen Berghöhlen, spute dich und segne vor Abend meine Kinder noch — segne sie mit meinem Glücke, mit diesem RosenkranzGlücke! Wirf diese Rosen über ihre Inseln hin, wie ein Fragezeichen, welches fragt: „Woher kam solch Glück?" — bis sie fragen lernen: „Lebt unser Vater noch? Wie, lebt unser Vater Zarathustra noch? Liebt unser alter Vater Zarathustra seine Kinder noch?" Locke meine Kinder zu mir mit meinem besten Glücke! K ö dere sie hinauf zu meiner treulichen goldbraunen Vater-Sehnsucht! Träufle auf sie den Honig einer langen langen Vaterherzens-Liebe! Der Wind bläst, der Wind bläst, der Mond scheint, — oh meine fernen fernen Kinder, was weilt ihr nicht hier, bei eurem Vater? Der Wind bläst, keine Wolke steht am Himmel, die Welt schläft. — Oh Glück! Oh Glück! Kaum aber hatte Zarathustra diese Worte gesprochen, da erbebte er bis in die Wurzel seines Herzens: denn er merkte, als er zu seinen Füßen hinabblickte, daß er ganz allein war. Er hatte seine Gäste vergessen — hatten seine Gäste auch ihn vergessen? „Wo seid ihr? Wo seid ihr?" rief Zarathustra in die Nacht hinaus: aber die Nacht schwieg. — „Wo seid ihr? Wo seid ihr, meine Thiere?" rief Zarathustra

Winter 1884—85 3 1 [ 6 4 — 6 9 ]

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abermals in die Nacht hinaus. Aber auch seine Thiere blieben stumm

Das Lied des Z a u b e r e r s . Von der Wissenschaft. Die Rosenrede. 3i [66] Die Glücklichen sind neugierig.

Und wenn ihr mich euren Herrn und Meister nennt: so will ich's euch in Reimen sagen, was dieser Meister von sich selber denkt. Also nämlich schrieb ich einst über meine Hausthür, ich meine über den Eingang dieser Höhle: 3 i[68]

Auf dieser Erde giebt es kein größeres Unglück als wenn die Mächtigen der Erde nicht auch die ersten Mensdien sind. Da nämlich wird alles schief falsch und Wenn aber alles falsch wird, was Wunders, wenn dann der Pöbel trachtet Herr zu sein? Dann spricht die Pöbel-Tugend „siehe, ich allein bin Tugend! Solches geschieht zwischen Heut und Morgen: wie das aber kam und kommen mußte 3i[*9] ich will d(eutsch) und deutlich mit euch reden Bis jetzt weiß ich wenig mit euch anzufangen — Das Beste ist noch, daß wir mit einander schmausen.

398

Nachgelassene Fragmente

31 [70] die 2 Könige der freiwillige Bettler der Zauberer der Gewissenhafte des Geistes $ der häßlichste Mensch der Papst außer Dienst der Wanderer der Mittags(sdiläfer)

[32 = Z II 9.

Winter 1884—85]

3*[i] Z u r ü c k f ü h r u n g der m o r a l i s c h e n W e r t h s c h ä t z u n g e n auf ihre Wurzeln. Er sprach für uns Alle, du erlöstest uns vom Ekel — dies ist eine der schlimmsten Krankheiten dieser schlimmen Zeit Zarathustra: welches Geschenk brachtet ihr mir — ihr könnt selber nidit wissen, w a s ihr mir eben schenktet! du lehrst einen neuen Adel zu züchten du lehrst Colonien gründen und die Staaten-Krämer-Politik verachten dir liegt am Schicksal des Menschen du führst die Moral über sich hinaus (Überwindung des Menschen, nicht nur „gut und böse" Sündenbewußtsein) Z a r a t h u s t r a ' s Rede vom höheren Menschen ihr müßt die V o r t h e i l e dieser schlimmen Zeit ausfindig machen. 3*[3] Die gute Mahlzeit. Von den h ö h e r e n Menschen.

400

Nachgelassene Fragmente

D a s L i e d des Zauberers. Von der Wissenschaft. Die Rosenrede. 3 2 [4]

Zum „häßlichsten Menschen" Verzage nicht, oh meine Seele, ob des Menschen! Lieber weide noch dein Auge an allem seinem Bösen, Seltsamen und Furchtbaren! „Der Mensch ist böse" — so sprachen zu meinem Tröste mir noch aller Zeiten Weiseste. Oh daß das Heute mich seufzen lehrte: „Wie! Ist es auch noch wahr?" „Wie? Ist dieser Trost dahin?" Also seufzte m e i n Kleinmuth. Nun aber tröstete midi dieser Göttlichste. 32[5]

Pöbel, das will heute sagen: Mischmasch. Darin ist Alles in Allem durcheinander: Hallunken und Heilige und Junker und Juden und Gott und jeglich Vieh aus der Arche Noah. U n d diese Frauen von heute — sind sie nicht auch redite schlechte Pöbel-Frauen? willfährig, genüßlich, vergeßlich, mitleidig, — sie haben's alle nicht weit zur Hure. — Meine Freunde, so ihr Solches euren Frauen einmal erzählt, so sagt schicklich und gütlich dazu: „ D u allein nämlich, meine Liebste, bist die Ausnahme. U n d Zarathustra läßt dich grüßen." Du schlimmer alter Zauberer, das ist dein Bestes und Redlichstes was ich an dir ehre: daß du endlich deiner müde wurdest und aussprachst: „ich bin nicht groß". Spät genug kamst du zu d i e s e r Redlichkeit. Du Friedloser, Falscher, Unerlösbarer, wie manche Stunde flüsterte dir dein Teufel zu: „mache vorerst doch an dich glauben, sprich, du gerade könntest sie erlösen, du bist falsch genug dazu!"

Winter 1884—85 3 2 [ 3 — 8 ]

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3 2 [7] Aber nun laßt mir diese Kinderstube, meine Höhle und kommt heraus! Kühlt hier draußen euren heißen Ubermuth und lernt stille werden vor Glück. Die Nacht blickt klar, der Mond scheint, keine Wolke steht am Himmel: fragt mich, fragt euch, ihr Wunderlichen, ob es sich lohnt — zu leben! Zarathustra aber sprach die Worte, die er schon Ein Mal gesprochen, damals als er dem Leben sein Jawort für die Ewigkeit, und die Ewigkeit für dies selbe und gleiche Leben: seine Stimme aber hatte sich verwandelt. Und alle, die Zarathustra's Frage hörten, antworteten darauf mit ihrem Herzen, keiner aber sprach ein Wort. So standen sie bei einander, sich stumm bei den Händen haltend und hinausblickend. Da 32[8]

Das H e i m w e h ohne H e i m . Der W a n d e r e r . 1 : also daß wenig mir zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, daß ich weder ewig und auch nicht Jude bin. 2 — was um mich wohnt, das wohnt sich auch bald ein. 3 — wenn der Teufel sich häutet, fällt auch sein Name ab: der ist auch Haut. 4 — nur wer weiß, wohin er fährt, weiß auch, was s e i n Fahrwind ist j — er hat sein Ziel verloren: wehe, wie wird er seinen Verlust verscherzen und verschmerzen! 6 — er redet ihnen ein, sie hätten den Weg verloren — dieser Schmeichler! Es schmeichelt ihnen, daß sie einen Weg haben sollen! 7 — das klärte sich auf: nun geht es mich nichts mehr an. — Hüte dich, du könntest über zu-Viel aufgeklärt werden! 8 — auch der Heiligste denkt: „ich will leben, wie ich Lust habe — oder ich habe keine Lust mehr zu leben!

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Nachgelassene Fragmente

9 — w o darf i c h heimisch sein? Darnach suchte ich am Längsten: das Suchen blieb meine stäte Heimsuchung. 10 — ich wollte es nicht vorher, so muß ich es schon nachher wollen — Alles muß ich also „gut machen" 11 — nun lebt keiner mehr — den ich liebe: wie sollte ich noch mich selber ertragen! 12 — diese Käfiche und engen Herzen — wie wollten sie freien Geistes sein! U n d wer nicht alle Verbrechen gethan hat, wie — 13 — die Eintagslehrer und andere Schmeißfliegen 14 — w o Gold klingelt, w o die Hure herrscht, w o man nur mit Handschuhen greifen und angreifen darf 15 — die Allzuschamhaften, die man noch zu dem zwingen und nothzüchtigen muß, was sie am liebsten möchten 16 — er reglich an Hirn- und Schamtheilen, gleich Juden und Chinesen 17 — solche, die man mit erhabenen Gebärden überzeugt, aber mit Gründen mißtrauisch macht 18 — wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie ruhig schlafen eingefangene Verbrecher! 19 „siehe dich vor, daß du der Wahrheit nicht zu nahe auf dem Fuße folgst: sie dürfte dir sonst den Kopf eintreten! 20 „Wie? D u nennst dich einen freien Geist? Hast du schon alle Verbrechen gethan? dein verehrendes H e r z zerbrochen? 21 — ausgetrocknete sandige Seelen, trockne Flußbetten: wie — freie Geister? 22 — er strebte ins Verbotene: das ist der Ursprung aller seiner Tugend. 23 — bis du in fernsten und kältesten Gedanken umgegangen, einem Gespenste gleich auf Winterdächern? 24 — aufgewirbelt, umhergetrieben, unstät: auf allen Oberflächen habe ich schon einmal geschlafen, als Staub saß ich schon auf jedem Spiegel, jeder Fensterscheibe 25 es steht schlimmer als ihr denkt: mancher meinte zu lügen, und da erst traf er die Wahrheit! —

Winter 1884—85 32[8]

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16 — diese Schwerfälligen Geängstigten, welche ihr Gewissen grunzen macht: denen gleiche ich nicht 27 — was macht Europa? — Oh das ist ein krankes wunderliches Weibchen: das muß man rasen schreien und Tisch und Teller zerbrechen lassen, sonst hat man nimmer vor ihm Ruhe: ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden will. 28 — denkendere Zeiten, zerdachtere Zeiten, als unser Heut und Gestern ist 29 — ach, wohin ist das Gute und der Glaube der Guten! Ach, wohin ist die Unschuld aller dieser edlen Lügen! 30 — der Gott, den sie einst aus Nichts geschaffen — was Wunder! er ist ihnen nun zu Nichts geworden 31 — übereilig gleich springenden Spinnaffen 32 — ein kaltes Bad — willst du da hinein mit deinem Kopf und Herzen? Oh wie bald wirst du als rother Krebs dastehen! (Zarathustra sieht einen feuerrothen Menschen kommen) 33 —zwischen Särgen und Sägespähnen leben; ich hatte keine Lust zum Handwerk der Todtengräber 34 — „nichts ist wahr! alles ist erlaubt!" ich habe alle Verbrechen begangen: die gefährlichsten Gedanken, die gefährlichsten Weiber 3$ — einst gieng mein Sinn auf Weniges und Langes: aber wo fände sich das heute! so verachte ich denn die kleinen kurzen Schönheiten nicht 3 6 — wie wenig reizte die Erkenntniß, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre — 37 — die Erkennenden von heute, welche lehren: einst geschah's, daß Gott zum Thier werden wollte — : Gott selbst als Thier: siehe, das ist der Mensch! 38 — ein freier Geist, aber ein schwacher Wille; Flatter-Flügel, aber ein gebrochenes Rückgrat 39 — bald sperren sie sich, bald zerren sie sidi, diese lieben Vaterländer

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Nachgelassene Fragmente J i . 9» 24> 2> 39. 4 8 » 5» 4. 35» . 37» 3 ° 38, 1 1 , 10 2 1 , 32, 33, 23, 27, 16, 28 15, 36, 22, 20, 34, 7, 25, 3, 16, 26, 29 18, 12

6

19 Der gute E u r o p ä e r 1, 9, 24, 2 (lachend über die V a t e r l ä n d e r ) Heimatlos, Herumstreidier 13, 14 genüßlich 8 6, 5, 4, 3 j ziellos, durdi Nichts im Zaum gehalten 37, 30 38 schwachen Willens 1 1 , 10 2 1 , 32, 33 an die stärksten (stimulantesten) Gedanken, die kältesten Bäder 23 gewohnt: 27 v o r a u s : das heißt E u r o p ä e r t h u m 16, 28 und greise Völker gleich Juden 1 5 , 3 6 (Scham überwinden 22, 20 V e r b r e c h e n des Gedankens 34 „alles ist erlaubt" 7, 25, 3, 16, 26, 29 voller Hohn über die Moral 18, 12 Gefahr in einen Käfich sich selber einzufangen 19 d e s G e i s t e s m ü d e , v e r e k e l t

Der Wissen - und G e w i s s e n h a f t e . — Ein Erkennender von heute, welcher fragt: was ist doch der Mensch? Gott selber als Thier? Einstmals nämlich, dünkt midi, wollte Gott zum Thiere werden. — kalte kühle Menschen, solche denen man ihre Thorheiten nicht glauben will: man legt sie schlimm aus als schlimme Klugheiten. — ohne Gründe habt ihr dies nicht glauben gelernt: wie könnte idi wohl durch Gründe euch diesen Glauben umwerfen! — ist nicht das Loben zudringlicher als alles Tadeln? Ich verlernte auch das Loben, es fehlt darin an Scham.

Winter 1884—85 32 [8—9]

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— diese Wissen- und Gewissenhaften; wie sie mit schonender Hand — t ö d t e n ! — ihr Gedächtniß sagt „das that ich", ihr Stolz aber sagt „das konntest du nicht t h u n " : und läßt sich nicht erbitten. Zu$ letzt — giebt ihr Gedächtniß nach. — er hat kalte vertrocknende Augen, vor ihm liegt jedwedes Ding entfedert und ohne Farbe, er leidet an seiner Ohnmacht zur Lüge und heißt sie „Wille zur Wahrheit"! — er schüttelt sich, blickt um sich, streicht mit der Hand 10 über den Kopf, und nun läßt er sich einen Erkennenden schelten. Aber Freiheit vom Fieber ist noch nicht „Erkenntniß". — die Fieberkranken sehen alle Dinge als Gespenster, und die Fieberlosen als leere Schatten — und doch brauchen sie beide die gleichen Worte. — Aber du Kluger wie konntest du so handeln! Es war eine Dummheit! — „Es ist mir auch schwer genug geworden." — Geist haben ist heute nicht genug: man muß ihn noch sich nehmen, sich Geist „herausnehmen"; dazu gehört viel Muth. — es giebt auch solche, die verdorben sind zum Erkennen, 20 weil sie Lehrer sind: sie nehmen nur um des Schülers Willen die Dinge ernst und sich selber mit. — da stehen sie da, die sdiweren granitnen Katzen, die Werthe aus Urzeiten: und du, oh Zarathustra, du willst sie umwerfen? *5 — ihr Sinn ist ein Wider-Sinn, ihr Witz ist ein Doch- und Aberwitz. — jene Fleißigen Treulichen, denen jeder Tag goldhell und gleich herauffließt — wie ein Wanderer, der von fernen Dingen träumt, un3° Versehens auf einsamer Straße einen schlafenden Hund anstößt: wie Todfeinde sahen Beide sich an, zum Tod erschreckt. Und doch! wie wenig fehlt im Grunde daß sie einander streichen, liebkosen, trösten: diese zwei Einsamen! — hartnäckige Geister, fein und kleinlich

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Nachgelassene Fragmente

— gieb mir zu rathen: dein Beweisen ermüdet den Hunger meines Geistes. — du fühlst noch nicht einmal, daß du träumst: oh, da bist du noch fern vom Aufwachen! — mein Freund, die Tugend thut kein Ding mit „ u m " und „weil" und „damit" sie hat kein Ohr für solche kleinen Worte. — voll tiefen Mißtrauens, überwachsen vom Moose der Einsamkeit, langen Willens, ein Schweigsamer, du Feind aller Lüsternen — nicht für seinen Glauben wird er verbrannt, von innen her, mit kleinem grünem Holze: sondern dafür, daß er zu seinem Glauben heute keinen Muth mehr finden kann — unbehülflich wie ein Leichnam, im Leben todt, vergraben, versteckt: er kann nicht mehr stehen, dieser Kauernde, Lauernde: wie könnte er jemals — auferstehen! — es ist nicht genug, daß der Blitz nicht mehr schadet, er soll lernen, für mich zu arbeiten. — du wolltest ihnen Licht sein, aber du hast sie geblendet. Deine Sonne selber stadi ihnen die Augen aus. — wie geschah es doch, daß die Wahrheit hier zum Siege kam? K a m ihr wohl ein starker Irrthum zu Hülfe? — hier bist du blind, denn hier hört deine Redlichkeit auf. — sie liegen auf dem Bauche vor kleinen runden Thatsachen, sie küssen Staub und Koth zu ihren Füßen, sie frohlocken: „hier ist endlich Wirklichkeit!"

32[io] Der freiwillige Bettler. Erst dann kehrte ich zur Natur zurück — Gehörst du zu denen, welche begeistert sind für grünes Gemüse, allen Freuden des Fleisches abhold? predige Bergpredigten und Philosophie fürs liebe Vieh — sie sind kalt: daß ein Blitz in ihre Speisen schlüge und ihre Mäuler lernten Feuer fressen!

Winter 1884—S5 32[9—10]

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— meiner selber ward ich müde: und siehe, da erst kam mein Glück zu mir, das auf mich gewartet hatte seit Anbeginn. — sie sitzen da mit gebundenen Pfoten, diese Kratz-Katzen, nun können sie nicht kratzen, aber sie blicken Gift aus grünen Augen. — mancher schon warf sich aus seiner Höhe herab. Das Mitleiden mit den Niedrigen verführte ihn: nun liegt er da mit gebrodinen Gliedmaßen. — was half es, daß ich so that! Ich horchte auf Wiederhall, aber ich hörte nur Lob. — 'mit Diebsaugen, ob sie schon im Reichthum sitzen. Und Manche von ihnen nenne ich Lumpensammler und Aaasvögel. — 'ich sah sie, wie sie's von ihren Vätern her gewohnt sind, lange Finger madien: da zog ich's vor, den Kürzeren zu ziehn. — 'lüsterne Augen, gallichte Seelen — 'lieber noch Händel als diese Händler! Mit Handschuhen soll man Geld und Wechsler angreifen! — 1 die kleine Wohlthätigkeit empört, wo die größte kaum verziehen wird. — 'ihr Uberreichen, ihr tröpfelt gleich bauchichten Flaschen, aus allzuengen Hälsen: hütet euch, solchen Flaschen brach Ungeduld oft schon die Hälse! — 'ich schämte mich des Reichthums, als ich unsre Reichen sah, ich warf von mir was ich hatte und warf mich dabei selber hinaus in eine Wüste. 2 — Mein werther Fremdling, wo weiltest du? Treibt heute nicht Jedermann Schacher? sie sind allesammt selber käuflich, nur nicht für jeden Preis: willst du sie aber kaufen, so biete nicht zu wenig, du stärkst sonst ihre Tugend. Sie sagen dir sonst Nein! und gehn gebläht davon, als die Unbestechlichen — alle diese Eintagslehrer und Papier-Schmeißfliegen! — enge Seelen, Krämer-Seelen: denn wenn das Geld in den Kasten springt, springt des Krämers Seele mit hinein.

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— „Daran erkenne ich den Überreichen: er dankt dem, der nimmt" sagt Zarathustra. — 'Sträflinge des Reichthums, deren Gedanken kalt gleich Ketten klirren. — 1 sie erfanden sich die heiligste Langeweile und die Begierde nach Mond- und Werkel-Tagen — wie ein Wanderer, der von fernen Dingen träumt, unversehens einen schlafenden Hund auf einsamer Straße anstößt: wie Todfeinde sahen da die Beiden sich an, beide zum Tod erschreckt: und doch, im Grunde: wie wenig fehlte, daß die Beiden sich streichelten und liebkosten, die zwei Einsamen! — nicht aus jener alten pfiffigen Frömmigkeit, welche sprach, „den Armen geben, das ist Gott leihen. Seid gute Bankhalter!" — ihr liebt den Nutzen als das Fuhrwerk eurer Neigungen, aber ist der Lärm seiner Räder euch nicht unerträglich? Ich liebe das Unnützliche. — 'ihre Weiber: willfährig lüstern vergeßlich: sie haben's alle nidht weit zur Hure. Ich liebe die Stille, und jene lieben den Lärm, darum 3*[»] Vom höheren Menschen. „So ihr nidit werdet wie die Kinder" — Nein! Nein! Drei Mal Nein! Das ist vorbei. Wir wollen auch gar nicht ins Himmelreich. Männer sind wir worden, so wollen wir das Erden-Reich. (Nein! Nein! Drei Mal Nein! Was Himmel-Bimmel-bamm! Bam! Wir w o l l e n nicht ins Himmelreich: das Erden-reich soll unser sein!) „ihr werdet in die Höhe gedrückt, zu mir: mag das Volk sprechen „ihr steigt". Ihr seid mir — G e d r ü c k t e !

Winter 1884—85 32[10—13]

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— im Zeitalter, wo die Zufriedenheit des Pöbels herrscht, und wo der Ekel schon den höheren Menschen bezeichnet: 32[l2] Die sieben Einsamkeiten. Und wenn ich einmal mit Wölfen heulen muß, so mache ich's gut genug; und mitunter sagte ein Wolf: „du heulst besser als wir Wölfe". 32tI3l

Der Rundgesang. Als sie aber lange so gestanden hatten und die Heimlichkeit der Nacht ihnen näher und näher ans Herz kam, da geschah das, was an jenem erstaunlichen langen Tage das Erstaunlichste war. Zuerst nämlich begann der häßlichste Mensdi von Neuem zu gurgeln und zu schnauben: als er es aber bis zu Worten gebracht hatte, da kam eine Frage klar und deutlich aus seinem Munde, die Allen, die sie hörten, das Herz im Leibe umdrehte. Meine Freunde insgesamt, sprach der häßlichste Mensch, was dünket euch? U m dieses Tags Willen — ich bin's zum ersten Male zufrieden, daß ich dies ganze Leben lebte. Und daß ich soviel bezeuge, ist mir noch lange nicht genug. Es lohnt sich auf der Erde zu leben; Ein Tag mit Zarathustra zusammen lehrte mich die Erde lieben. „War D a s — das Leben? will ich zum Tode sprechen. Wohlan! Noch Ein Mal! Um Zarathustra's Willen!" Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: „War D a s — das Leben? Um Zarathustra's Willen — wohlan! Noch Ein Mal!" — Und du unser Arzt und Heiland — laß uns, oh Zarathustra, fürderhin mit dir gehen! Also spradi der häßlichste Mensch; es war aber nicht lange vor Mitternacht. Da griff Zarathustra ungestüm nach seiner Hand, preßte sie

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in seine Hände und rief erschüttert aus, mit der Stimme eines Solchen, dem ein kostbares Geschenk und Kleinod unversehens vom Himmel fällt: „Wie? D u sprichst das, mein Freund? D i e s ist dein Wille? Dies ist dein ganzer letzter bester größter Wille? Wohlan! Sprich es noch Ein Mal!" Und der häßlichste Mensch that, wie ihm geheißen wurde: sobald aber die andern höheren Menschen sein Gelöbniß hörten, wurden sie sich mit Einem Male ihrer Verwandlung und Genesung bewußt, und wer ihnen dieselbe geschenkt habe: da sprangen sie auf Zarathustra zu, dankend, verehrend, liebkosend oder ihm die Hände küssend, so wie es der Art eines Jeden gegeben war: also daß Einige lachten, Einige weinten. Der alte Wahrsager aber tanzte vor Vergnügen, und wenn er auch, wie Manche meinen, damals voll süßen Weins war, so war er sicherlich noch voller des süßen Lebens und hatte aller Müdigkeit abgesagt. Es giebt sogar Solche, die erzählen, daß damals der Esel getanzt habe; der häßlidiste Mensch nämlich habe ihm vorher Wein zu trinken gegeben statt Wasser, damals als er ihn als seinen neuen Gott anbetete. Dies mag sich nun so verhalten oder auch anders — und wahrlich, nicht alle, welche die Historie Zarathustras erzählen, werden's glauben — : gewißlich aber wäre der häßlichste Mensch auch dieser Schlechtigkeit fähig gewesen. Zarathustra selber aber gab Acht darauf, wie der Wahrsager tanzte und zeigte mit den Fingern darnach; dann aber entriß er sich mit Einem Rucke dem Gedränge der Liebenden und Verehrenden, legte den Finger an den Mund und gebot Stille. Um jene tiefe Nachtstunde war es, daß Zarathustra den großen Rundgesang anstimmte, in welchen seine Gäste der Reihe nach einfielen; der Esel aber, der Adler und die Schlange horchten zu, ebenso wie die Höhle Zarathustras zuhörte und die Nacht selber. Dieser Rundgesang aber lautete also:

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Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! — aber vergeßt mir audi die Beine nidit! Erhebt audi eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch, ihr steht audi auf eurem Kopfe! Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht! Da fiel der alte Wahrsager ein: „Es giebt auch im Glücke schweres Gethier, es giebt Plumpfüßler von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elefanten gleich, der sich müht, auf dem Kopf zu stehn. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" Da fiel der häßlichste Mensch ein: „Besser noch, plump tanzen als auf lahmen Beinen gehn, besser närrisch sein vor Glücke als Unglücke. Dies aber ist Zarathustras beste Wahrheit: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" Da fiel der alte Zauberer ein: „Nun verlernte ich das Trübsal-Blasen und alle Nachtwächter-Traurigkeit. Dem Winde will ich's gleich thun, der alle Himmel hell und alles Meer brausen macht: Zarathustra will ich's nunmehr gleich thun. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" Da fiel der König zur Rechten ein: „Schüttelt mich zusammen mit allen Erden-Thränen und Menschen-Jammer, immer wieder werde ich obenauf sein wie Oel auf Wasser. Das aber lernte ich diesem Zarathustra ab. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" Da fiel der König zur Linken ein: „Und muß ich der Erde einmal gram sein: des Himmels Sterne reißt da meine Bosheit noch herab zur Erde: das ist so die Art aller Zarathustra-Rache. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!"

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D a fiel der gute Europäer ein: „Und wenn es auf Erden auch Moore und Trübsal giebt und ganze Meere schwarzen Schlamms: wer leichte Füße hat, gleich Zarathustra, läuft über Schlamm noch dahin, schnell wie über gefegtem Eise. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" D a fiel der freiwillige Bettler ein: „Der Schritt verräth, ob Einer schon auf s e i n e r Bahn schreitet: seht Zarathustra gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der — tanzt. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" D a fiel der Gewissenhafte des Geistes ein: „Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe, gleich Katzen machen sie da Buckel, sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke, alle guten Dinge lachen. Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!" D a fiel der alte Papst ein: „Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? Das war das Wort dessen, der sprach: „Wehe denen, die hier lachen!" Horch! Hordi! Es naht die tiefe Mitternacht!" 32[U]

Die letzte Sünde, i. Aber was geschah damals mit Zarathustra selber? — J a , wer möchte das errathen, was sich in jener Nacht mit ihm zutrug! — Er fiel nämlich, als er das Glück seiner höheren Menschen sah, mit einem Male nieder wie ein Eichbaum, der lange vielen Holzschlägern widerstanden hat —, schwer, plötzlich, zum Schrekken für die selber, welche ihn fällen wollten. Die Axt aber, die Zarathustra darniederschlug — M i t l e i d e n hieß diese Axt, Mitleiden mit dem G l ü c k dieser höheren Menschen.

Winter 1884—85 3 2 [ 1 3 — 1 4 ]

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2. Die höheren Menschen stürzten hinzu, als er so zu Boden lag, daß sie ihm wieder aufhülfen: aber schon sprang er von selber empor, stieß alle von sich, die sich um ihn drängten und schrie: „Fort! Fort! Fort!" „Laßt mich davon", schrie er, so schmerzlich und schrecklich, daß seinen Freunden das Herz erstarrte; und ehe nur eine Hand sich ausstreckte, ihn zurückzuhalten, zog er sein Gewand über den Kopf, lief in die schwarze Nacht hinaus und war verschwunden. D a nun standen seine Freunde eine lange Weile betäubt und stumm, denn sie waren in diesen Bergen fremd, und niemand hätte um diese Stunde auch nur hundert Schritt weit einen Weg gefunden. Es gieng nämlich gegen Mitternacht. So traten sie, als sie sidi nicht zu helfen und zu rathen wußten, endlich wieder in die Höhle Zarathustra's, ob sie ihnen gleich traurig und kalt dünkte, und ertrugen daselbst die Nacht, mit wenig Sdilaf und vielen schlimmen Gedanken und Gespenstern. Es geschah aber um die Stunde der ersten Früh-Dämmerung, daß jener Wanderer, welcher sich den Schatten Zarathustra's nannte, seine Gefährten heimlich verließ und vor der Höhle nadi dem Verlorenen ausspähete. U n d nicht lange darauf rief er in die Höhle hinein: „dort kommt Zarathustra!" D a warfen sie Alle den Sdilaf und die schlimmen Gedanken von sich und sprangen auf, voller Hoffnung, daß es nun wieder Tag werde. Als sie aber mit einander ausspäheten — und auch der Esel war mit ihnen hinausgegangen und spähete nach Zarathustra — siehe, da gewahrten sie in der Ferne ein seltsames Schauspiel. Zarathustra kam nämlich des Wegs herauf, langsam, langsam: bisweilen stand er still und blickte zurück: hinter ihm aber schritt ein mächtiges gelbes Thier, gleich Zarathustra selber zögernd, langsamen Ganges und oft zurückblickend. Immer aber wenn Zarathustra den Kopf nach ihm umwandte, kam es einige Schritte schneller vorwärts, dann aber zögerte es wieder. Was geschieht da? fragten sich da die höheren Menschen, und ihre Herzen

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klopften; denn sie argwöhnten, daß dieses mächtige gelbe Thier ein Löwe des Gebirges sei. Und siehe, plötzlich wurde der Löwe ihrer gewahr: da stieß er ein wildes Gebrüll aus und sprang auf sie los: also daß diese alle mit Einem Mund aufschrieen und davon flohen. Und in Kürze war Zarathustra allein und stand staunend am Eingange seiner Höhle. „Was geschah mir doch?" sagte er zu seinem Herzen, während der starke Löwe schüchtern sich an seine Kniee drängte. „Was hörte ich doch eben für einen Nothsdirei!" Da aber kam ihm die Erinnerung, und er begriff mit Einem Male Alles, was geschehen war. Hier ist der Stein, sprach er frohlockend, auf dem saß ich gestern am Morgen: da hörte ich den gleichen Schrei. Oh ihr höheren Menschen, es war ja e u e r Nothsdirei! Und meine Noth war's vor der jener alte Wahrsager gestern am Morgen midi warnte; zu meiner letzten Sünde wollte er midi verführen, zum, Mitleiden mit e u r e r Noth! Aber euer G l ü c k war meine Gefahr — : Mitleiden mit euerm Glücke, d a s — errieth er nicht! Oh was erriethen diese höheren Menschen wohl von m i r ! Wohlan! sie sind davon — und ich gieng n i c h t mit ihnen: oh Sieg! oh Glück! Dies gerieth mir gut! Du aber, mein Thier und Wahrzeichen, du lachender Löwe, du bleibst bei mir! Wohlan! Wohlauf! Du kamst mir zu Ehren und zur rechten Zeit, du bist mein drittes Ehren-Thier! Also spradi Zarathustra zu dem Löwen und setzte sich auf den Stein nieder, an dem er Tags zuvor gesessen hatte, mit einem tiefen Aufathmen — : da aber blickte er fragend in die Höhe er hörte nämlich über sich den scharfen Ruf seines Adlers. Meine Thiere kehren zurück, meine zwei alten Ehrenthiere, rief Zarathustra und frohlockte in seinem Herzen: Erkunden sollten sie, ob meine Kinder unterwegs sind und zu mir kamen. Und wahrlidi, meine Kinder kamen, denn der lachende Löwe kam. Oh Sieg! Oh Glück!

Winter 1884—85 32[14—16]

32[IJ]

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Das Zeichen. Des Morgens aber nach dieser Nacht sprang Zarathustra von seinem Lager auf, gürtete sich die Lenden und kam heraus aus seiner Höhle, glühend und froh, wie die Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt. „Sie schlafen nodi, rief er, während i c h wache — d a s sind nicht meine rechten Gefährten, diese höheren Mensdien. Höhere als sie müssen kommen, Hochgemuthere, Freiere, Hellere — lachende Löwen müssen zu mir kommen: was geht midi all dies kleine kurze wunderliche Elend an! Deß warte ich nun, deß warte ich nun" — und indem Zarathustra so sprach, setzte er sich nachdenklich auf den Stein vor seiner Höhle. „Wer soll der Erde Herr sein? so begann er wieder. Nun! D i e s e da wahrlich nicht — lieber noch zerschlüge ich D i e s e da mit meinem Hammer. Ich selber aber bin ein Hammer. Sie halten es gerade auf der Erde aus, wenn man sie mit Erdenlust lüstern macht, ihnen herzhaft zuspricht. Wie! auf dieser Erde es nur — a u s h a l t e n ? U m der Erde Willen schäme ich mich solcher Reden. Lieber will ich doch wilde böse Thiere um mich als diese zahmen Mißrathenen; wie selig will ich sein, wieder die Wunder zu sehen, die heiße Sonne ausbrütet — — alle die reifen und wohlgerathenen Thiere, deren die Erde selber stolz ist. Mißrieth ihr der Mensch bisher? Wohlan! Aber der Löwe gerieth." Und wieder versank Zarathustra in ferne Gedanken und Länder und in das Schweigen, das auch dem eignen Herzen aus dem Wege geht und keinen Zeugen hat. 3

2[l6] Das Honig-Opfer. Der Nothschrei.

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G e s p r ä c h mit den K ö n i g e n . Der Wanderer. Der f r e i w i l l i g e Bettler. Der Papst außer Dienst. D e r B ü ß e r des G e i s t e s . Der Gewissenhafte. Der h ä ß l i c h s t e Mensch. Der Mittagsschläfer. Die Begrüßung. Das Abendmahl. Vom höheren Menschen. D a s L i e d des Z a u b e r e r s . Von der Wissenschaft. Der Nachtisch-Psalm. Der Auferstandene. Mitternachts. Der wilde Jäger. Der lachende Löwe.

Der gute Europäer. Was ist Deutsch? Die Tartüfferie der Guten. Die großen Geister. Der Philosoph. Künstler und Betrüger. Der Pessimist des Intellekts. Geist und Besitz 310. Von der Herrschaft der Wissenden 318 Zur Heilkunst. 32[i8]

Von der großen P o l i t i k . Was ist d e u t s c h ? G e g e n den B e g r i f f „ S t r a f e " .

Winter 1884—85 32[16—20]

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15

Zu H e i l k u n s t . Gegen die N ä c h s t e n - L i e b e . Die großen Geister. Von den G r i e c h e n . ChristenundHeilige. D i e T a r t ü f f e r i e in d e r M o r a l . Gegen unsere Erziehung. Heerden-Moral.

S t a a t s d i e n s t und S t a a t s d i e n e r . Gelehrte — Verkehrte. W a s v o n d e n G r i e c h e n zu l e r n e n i s t Vom Aberglauben der Philosophen. Der gute Europäer (Socialismus) G o t t l o s , N . 12$ Gegen Mitleiden und Nächstenliebe 32[20] Zu G u n s t e n des A d e l s . Gegen die A u f h e b u n g der S k l a v e r e i . Gegen die S o c i a l i s t e n , Nr. 235 V o m T o d e des S t a a t e s . M o r a l als H e e r d e n - I n s t i n k t . Der große Mann. D i e U n v e r n u n f t in d e r S t r a f e . Wie v e r l o g e n die K ü n s t l e r sind. Gegen die Pessimisten und andere Der gute Mensch und die Verdummung. D e r W e r t h f a l s c h e r A u s l e g u n g , Nr. 126 Der feine Obscurantism Was ist deutsch. M i ß v e r s t ä n d n i ß des G e n i e s .

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32[2l] Aus der Tiefe quillt herauf ein Geruch, der keinen Namen hat, ein heimlicher Geruch der Ewigkeit Oh Mitternacht! Oh Ewigkeit! 32|>2]* Die nihilistische K a t a s t r o p h e : Zeichen: Überhandnehmendes M i t l e i d s die g e i s t i g e Übermüdung und Zuchtlosigkeit L u s t oder U n l u s t — darauf reduzirt sich A1 les — Gegenbewegung gegen die K r i e g s - G l o r i e Gegenbewegung gegen die Abgrenzung und N a t i o nen-Feindschaft „Fraternität"... die R e l i g i o n unnützlich geworden, so weit sie noch Fabeln und harte Sätze redet Ungeheure Besinnung: gleichsam an einer alten Festung

* Anfang 1888 entstanden

[33 = Z II 10.

Winter 1884—85]

33t1]

Die gute Mahlzeit. Es war um die Mitte dieses langen Abendmahls, welches schon des Nachmittags begonnen hatte: da sagte Jemand: „Hört, wie der Wind draußen saust und pfeift! Wer möchte jetzt gern draußen in der Welt sein! Es ist gut, daß wir in Zarathustra's Höhle sitzen. Denn, ob sie schon eine Höhle ist, so ist sie doch, für Schiffe, wie wir sind, ein guter sicherer Hafen. Wie gut, daß wir hier — im Hafen sind!" Als diese Worte gesprochen waren, sagte Niemand eine Antwort, Alle aber sahen sich an. Zarathustra selber jedoch erhob sich von seinem Sitze, prüfte seine Gäste der Reihe nach mit einer leutseligen Neubegierde und sprach endlich: „Ich wundere midi über euch, meine neuen Freunde. Ihr seht wahrlich nicht aus wie Verzweifelnde. Wer glaubte es wohl, daß ihr kürzlich hier in dieser Höhle nothschriet! Mich dünkt, ihr taugt euch selber schlecht zur Gesellschaft, ihr macht einander das Herz unwirsch, wenn ihr bei einander sitzt? Es muß wohl Einer zu euch kommen, der euch lachen macht — — ein guter fröhlicher Hanswurst, ein Tänzer mit Kopf und Beinen, ein Wind und Wildfang, irgend ein alter N a r r und Zarathustra — was dünket euch?" Bei diesen Worten erhob sich der König zur Rechten und

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sprach: „Rede nicht mit solchen kleinen Worten von deinem eigenen Namen, oh Zarathustra! du thust damit unsrer Ehrfurcht wehe. Siehe, wir wissen wohl, w e r das macht, daß wir schon nicht mehr nothschrein! und weshalb unser Auge und Herz offen und entzückt steht und unser Muth muthwillig wird. Oh Zarathustra, nichts wächst Erfreulicheres auf Erden als ein starker hoher Wille: der ist ihr schönstes Gewächs. Eine ganze Landschaft erquickt sich an Einem solchen Baume. Dem Pinien-Baum vergleiche ich, wer gleich dir, oh Zarathustra, aufwächst: lang, schweigend, hart, allein, besten biegsamsten Holzes, herrlich — — zuletzt aber hinausgreifend mit starken grünen Ästen nach s e i n e r Herrschaft, starke Fragen fragend vor Winden und Wettern und was auf Höhen heimisch ist, — stärker antwortend, ein Befehlender, ein Siegreicher: oh wer sollte nicht, solche Gewächse zu schaun, auf hohe Berge steigen? Deines Baumes hier, oh Zarathustra erlabt sich auch der Düstere, der Mißrathene, an deinem Anblicke wird auch der Unstäte sicher und heilt sein Herz. Wie gut doch, daß wir erst also Noth schrien: so m u ß t e n wir hinauf zu deinem Anblicke! Wie danken wir's nun allem Ekel, aller schweren Luft, daß sie uns fragen und suchen und steigen lehrten, — — fragen lehrten am rechten Orte, in der rechten Höhe: „Lebt denn Zarathustra noch? Wie lebt Zarathustra noch?" Einem guten Frager ist halb sdion geantwortet. Und wahrlich, eine ganze gute Antwort ist das, was wir hier mit Augen sehn: Zarathustra lebt noch, und mehr als je, — — Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein göttlich Leichtfertiger, — Zarathustra der Lachende, Zarathustra der Schweiger,

Winter 1884—85

33[1]

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kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt, — der die Krone des Lachens trägt, eine Rosenkranz-Krone. Du selber nämlich, oh Zarathustra, setztest dir diese Krone auf's Haupt, kein Andrer wäre heute stark genug dazu! Und ob du gleich Schlimmeres schautest und Schwärzeres als irgend ein Schwarz-Seher und durch deine Höllen noch kein Heiliger gegangen ist, — ob du gleich neue Nächte um dich hülltest und gleich eisigem düsterem Nebel hinein in neue Abgründe stiegst: immer wieder spanntest du endlich dein buntes Zelt über dich, — dein Lachen spanntest du aus über Nacht und Hölle und Nebel-Abgrund; und wo dein hoher starker Baum steht, da darf der Himmel nicht lange dunkel sein." Hier aber unterbrach Zarathustra die Rede des Königs, legte ihm den Finger auf den Mund und sagte: „ J a diese Könige! — — sie verstehen sich auf's Huldigen und die großen Worte: sie selber sind's gewohnt! Aber was soll dabei aus meinen Ohren werden! Meine Ohren werden dabei klein und kleiner, seht ihr nicht? sie verkriechen sich nämlich vor allen großen Prunkreden. Und wahrlich, ihr Könige, mit solchem Lobe könntet ihr den Stärksten umwerfen, einen solchen Becher Weins soll man Niemandem zutrinken. Es sei denn m i r : denn ich trotze jedem Lobe, Dank meiner ehernen Stirn — Dank meinem ehernen Willen: der aber heischt harte hohe feine Dinge: den erreicht Lob und Ehre nicht. Und dies ist wahr: zum Wüsten-Heiligen ward ich nicht, ob ich schon in vieler Wüste lebte und Wüsten-Wildniß, noch stehe ich nicht da, starr, stumpf, steinern, eine Säule. Dem Baume gleiche ich den du meintest, einem hohen starken Baume, dies ist wahr: knorrig und gekrümmt und mit biegsamer Härte stehe ich über dem Meere, ein lebendiger Leuchtthurm.

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Und gerne will ich, meine neuen Freunde, euch als ein solcher Baum zuwinken, breitästig, starkwillig: kommt herauf zu mir, will ich sprechen, und schaut mit mir diese weiten Fernen! 33t2l

Zum „Noch Ein Mal!" 5

Da geschahen der Reihe nach Dinge, von denen Eins seltsamer als das Andre war. — und ob er schon mit den Zähnen knirschte und die Lippen zusammenschloß, überkam ihn doch das Mitleiden wie eine schwere Wolke und Betäubung.

io

Da — der Adler! Er entflieht.

— Wo bin ich!

[34 = N V I I 1 .

April—Juni 1885]

34[i] G a i s a b e r. Selbst-Bekenntnisse, von Friedrich Nietzsche. S: Im Grunde ist mir das Wort zu feierlich: ich glaube bei mir weder an das Bekennen noch an das Selbst. Im Grunde ist das Wort mir zu feierlich: wollte ich das Buch aber so nennen, wie es mir besser gefiele, „500 000 Meinungen", so würde es meinen Lesern zu possenhaft klingen. In Rücksicht also auf meine Leser Hohe

Erziehung.

Die höchste

Erziehung.

Gedanken über die Philosophen der Zukunft. Vermuthungen über die Philosophen) der Zukunft. 34W Ich werde Jahr für Jahr offenherziger, in dem Maaße, in welchem mein Blick für dieses neunzehnte Jahrhundert, für dies

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Jahrhundert der großen moralischen) Tartüfferie, tiefer und tiefer wird: ich finde immer weniger Gründe, heute — hinter dem Berge zu halten. Welche Meinungen könnten heute gefährlich sein! wo nichts mehr „in tiefe Brunnen" fällt! Und wären sie gefährlich und zerstörerisch: es ist wünschenswerth daß Vieles umfällt, damit Vieles gebaut werden muß 34 [3] In meiner Jugend hatte ich Unglück: es lief mir ein sehr zweideutiger M(ensch) über den Weg: als ich ihn als das erkannte, was er ist, nämlich ein großer Schauspieler, der zu keinem Ding ein achtes Verhältniß hat (selbst zur Musik nicht): war ich so angeekelt und krank, daß ich glaubte, alle berühmten M seien Schauspieler gewesen sonst wären sie nicht berühmt geworden, und an dem, was ich „Künstler" nannte, sei eben das Hauptsächliche die s c h a u s p i e l e r i s c h e Kraft. 34[4] Wie verkleidet hatte ich das zum Vortrag gebracht, was ich als „dionysisch" empfand! Wie gelehrtenhaft und eintönig, wie bei weitem nicht gelehrt genug, um auch nur die Wirkung hervorzubringen, einigen Generationen von Philologen ein neues Feld der Arbeit zu eröffnen! Dieser Z u g a n g zum Alterthum ist nämlich am besten verschüttet; und wer sich eingebildet hat, besonders über die Griechen weise zu sein, Goethe z. B. und Winckelmann, hat von dorther nichts gerochen. Es scheint, die griechische Welt ist hundertmal verborgener und fremder, als sich die zudringliche A r t heutiger Gelehrten wünschen möge. Wenn hier je erkannt werden soll, so gewiß nur das Gleiche durch das Gleiche. Und wiederum — nur Erlebnisse aus aufspringenden Quellen — die geben auch jenes neue große Auge, das Gleiche in der vergangenen Welt wieder zu erkennen. 34[J] NB. Die größten Ereignisse gelangen am schwersten den Men-

A p r i l — J u n i 1885 34[2—9]

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sehen zum Gefühl: z . B . die Thatsache, daß der christliche Gott „todt ist", daß in unseren Erlebnissen n i c h t mehr eine himmlische Güte und Erziehung, n i c h t mehr eine göttliche Gerechtigkeit, nicht überhaupt eine immanente Moral, sich ausdrückt. Das ist eine furchtbare Neuigkeit, welche noch ein paar Jahrhunderte bedarf, um den Europäern zum G e f ü h l zu kommen: und dann wird es eine Zeit lang scheinen, als ob alles Schwergewicht aus den Dingen weg sei. — 34[6] Ich habe mich durch das glänzende Erscheinen des deutschen Reichs nicht täuschen lassen. Ich nahm als Hintergrund, als ich meinen Zarathustra schrieb, einen Zustand in Europa, bei dem auch in Deutschland dasselbe schauerliche und schmutzige Parteitreiben herrscht, welches wir heute schon in Frankreich finden. 34[/] H a t man je schon einem Weibskopfe „ T i e f e " zugestanden? Ich habe vor keinem Weibskopfe bisher Respekt gehabt. D ' E p i nay im Vergleich mit Galiani! Und Gerechtigkeit, — ist jemals diese 34[8] Die Italiäner a l l e i n in der blutigen Satire acht und ursprünglich. Von Buratti an, der dem Genie Byron die entscheidende Wendung gab. Selbst an Carducci ist nichts, was nicht Deutsche oder Franzosen besser gemacht hätten. 34 [9] Ich kenne mich nicht: die Aufforderung zur Selbst-Erkenntniß scheint mir ein göttlicher Spaaß oder eine g r i e c h i s c h e Kinderei (niaiserie): sie sind reich daran! — H a t Einer aber über 500 Dinge seine Meinungen gesagt, so ist es möglich, daß Andere ihn „erkennen". Wohlan!

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Nachgelassene Fragmente

34[l0] Affectation der „Wissenschaftlichkeit" z. B. „Femininisme", aber auch deutscher Zeitschriften-„Revue-Styl" 34t11] Unsere Zeit zehrt und lebt von der Moralität früherer Zeiten. 34t12] Pascal beleidigt durch die Vorstellung daß das Wetter, daß heller und heiterer Himmel auf ihn Einfluß habe. Jetzt — ist die Theorie des M i l i e u am bequemsten: a l l e s übt Einfluß, das Resultat ist der Mensch selber. 34[i3] D i n g e , mit denen mein Magen schlecht oder g a r n i c h t f e r t i g w i r d : Kartoffeln, Schinken, Senf, Zwiebeln, Pfeffer, alles im Fett gebackene, Blätterteig, Blumenkohl, Kohl, Salat, alle geschmälzten Gemüse, Wein, Würste, Buttersaucen am Fleisch, Schnittlauch, frische Brotkrumen, alles gesäuerte Brod Alles auf dem Rost Gebratene, alles Fleisch saignant, Kalb, Rostbeef, Gigot, Lamm, Eidotter, Milch auch Schlagsahne, Reis, Gries, gekochte warme Äpfel grüne Erbsen Bohnen Carotten Wurzeln Fisch, Kaffee Butter braune Weiß-Brodkruste. 34tM] Die Art offener und herzhafter Vertraulichkeit, wie man sie heute, in einem demokratischen Zeitalter, nöthig hat, um beliebt und geachtet zu sein — kurz das, woraufhin man heute als „rechtschaffener Mensch" behandelt wird: das giebt einem Moralisten viel zu lachen. Alle tiefen Menschen genießen hier ihre Art Erleichterung: es macht so viel Vergnügen, Komödie zu spielen und

April—Juni 1885 34[10—20]

427

34t 1 i ] Die Alten lasen l a u t . 34[io] NB. Die vorletzten Jahrhunderte lehnten die Gothik als eine Barbarei ab (der Gothe war damals synonym mit dem Barbaren), das vorletzte Jahrhundert lehnte Homer ab. Darin liegt ein G e s c h m a c k : ein starker Wille zu s e i n e m J a und s e i n e m Nein. — Die Fähigkeit, Homer wieder genießen zu können, ist vielleicht die größte Errungenschaft des europäischen Menschen, — aber sie ist theuer genug bezahlt.

428

Nachgelassene Fragmente

34l>i]

Baudelaire, ganz deutsch bereits, eine gewisse hyper-erotische A n k r ä n k e l u n g abgerechnet, welche nach Paris riecht

3 4 [ " ]

Taine, der die Kühnheit der Erfindung hatte, zwischen Hegel und H e n r i Beyle das Typische zu finden, s e i n e

Methode,

$ welche wesentlich heißt: die Geschichte kann nur durch Begriffe begriffen werden, die Begriffe aber muß der historische Mensch schaffen: und die Geschichte, w o es nur 4, 5 Faktoren giebt, ist am begreiflichsten.

34l>3]

die Maskerade des b o u r g e o i s ,

z. B. als Salambo und

10 als heiliger A n t o n i u s

34l>4]

Manche, im Grunde flache und leichte Wesen — V ö l k e r sow o h l w i e Einzelne — haben ihre schätzenswerthesten und höchsten Augenblicke, wenn sie einmal, zu ihrer Verwunderung, schwer und schwermüthig werden. Ebenso ist vielleicht für das 15 Vieh v o n Pöbel, welches ehemals im englischen Puritanismus oder heute als englische Heils-Armee moralisch z u grunzen anfängt, der B u ß k r a m p f ihre höchste Leistung v o n „ H u m a n i t ä t " ; das soll man billig anerkennen. — A b e r A n d e r e werden höher, wenn sie leichter werden! Es ist 20 kein Z w e i f e l : wenn eine A r t Mensch ganze Geschlechter hindurch als Lehrer Ä r z t e Seel-sorger und Vorbilder gelebt hat, ohne beständig nach Geld oder Ehren oder Stellungen aus(zu>blicken: so entsteht endlich ein höherer feinerer und geistigerer Typus. Insofern ist der Priester, vorausgesetzt d a ß er sich durch kräftige 2

5 Weiber fortpflanzt, eine A r t der Vorbereitung f ü r die einstmalige Entstehung höherer Menschen.

April—Juni 1885 3 4 [ 2 1 — 2 8 ]

429

34l>5] Solche dogmatische Menschen wie Dante und Plato sind am f e r n s t e n und vielleicht dadurch am reizvollsten: die in einem zurechtgezimmerten und festgeglaubten Hause der Erkenntniß wohnen. Der Eine in seinem eigenen, der Andere im christlich-patristischen. Es gehört eine ganz verschiedene Kraft und Beweglichkeit dazu, in einem unvollendeten System, mit freien unabgeschlossenen Aussichten, sich festzuhalten: als in einer d o g m a t i s c h e n Welt. Leonardo da Vinci steht höher als Michelangelo, Michelangelo höher als Rafael. 34[*6] Man lobt unter den Gebildeten von Heute (welche alle — pro pudor! — Zeitungen lesen) die tiefen Menschen. Aber was dürften die, welche tiefe Menschen zu loben im Stande sind, selber von der Tiefe wissen! — Es sind gefährliche Menschen: daran ist gar nicht zu zweifeln. Man pflegt doch sonst die Abgründe nicht zu loben! 34!>7] Briefe an e i n e n p h i l o s o p h i s c h e n F r e u n d . Bei Gelegenheit von Also sprach Zarathustra. Von Friedrich Nietzsche. 34[*8] Aberglaube: an das Seiende zu glauben, an das Unbedingte, an den reinen Geist, an die absolute Erkenntniß, an den absoluten Werth, an das Ding an sich! In diesen Ansätzen steckt überall eine contradictio.

430

34l>9]

Nachgelassene Fragmente

Skeptische

Einreden.

34[3°] Die Wahrnehmung der Sinne geschieht uns unbewußt: alles, was uns bewußt wird, sind schon bearbeitete Wahrnehmungen 34 [ 31 ] Die große Loslösung macht er f ü r s i c h — nicht, daß er sie von Anderen verlangt oder gar seine Pflicht darin sähe, sie Anderen mitzutheilen und aufzudrängen 34Í32] Die große E b b e seit Jahrtausenden in der Erfindung von Werthen 34Í33] Die G e s e t z g e b e r der Z u k u n f t . 1. Die Herkunft. 2. Der gebundenste Geist. 3. Die grosse Loslösung. 4. Das Leiden am Menschen. 5. Der neue Wille. 6. Der Hammer. 34Í34] Acedia bei mir — umgekehrt wie bei den Mönchen. Ich ärgere mich über das übergroße Mitleiden bei mir: ich freue midi, wenn mein ego wach und guter Dinge ist. 34Í35] 1. A b ä l a r d wollte in die kirchliche Autorität Vernunft bringen, schließlich fand D e s c a r t e s , daß a l l e Autorität nur in der Vernunft sei.

April—Juni 1885 34[29—38]

431

2. Die S e l b s t - Ü b e r w i n d u n g d e r V e r n u n f t inneres Problem Pascals — zu Gunsten des christlichen „Glaubens." 34t36] Das Problem des „Glaubens" ist eigentlich: o b d e r I n stinkt mehr Werth hat als das R ä s o n n e m e n t und w a r u m ? Unter den vielen Streiten über „Wissen und Glauben", UtiKitarismus) und Intuitionismus verbirgt sich d i e s e Frage der W e r t h s c h ä t z u n g . Socrates hatte sich naiv auf Seiten der Vernunft gestellt gegen den Instinkt. (Im Grunde aber war er doch allen moralischen Instinkten gefolgt, nur mit einer falschen Motivirung: a l s o b die Motive aus der Vernunft kämen. Ebenso Plato usw.) Unwillkürlich suchte Plato, daß die Vernunft und der Instinkt dasselbe w o l l e n . Ebenso bis auf heute Kant, Schopenhauer, die Engländer. Im Glauben ist der Instinkt des G e h o r s a m s g e g e n d i e h ö c h s t e A u t o r i t ä t vorangestellt, also E i n Instinkt. Der kategorische Imperativ ist ein g e w ü n s c h t e r Instinkt, wo d i e s e r Instinkt und die Vernunft Eins sind. 34t3 7] Kant, ein feiner Kopf, eine pedantische Seele 34[38] Man vergebe mir diese anmaaßliche Behauptung: genau weil idi eine höhere und tiefere, audi wissenschaftlichere Auffassung des Weibes habe, als die Emancipatoren und Emancipatricen desselben, wehre ich mich gegen die Emancipation: ich weiß b e s s e r , wo ihre Stärke ist, und sage von ihnen: „sie wissen nicht was sie thun". Sie lösen ihre Instinkte auf! mit ihren jetzigen Bestrebungen.

432

Nachgelassene Fragmente

34Ü39]

Bentham und der Utilitarismus ist abhängig von H e 1 v é t i u s — der ist das letzte große E r e i g n i ß d e r M o r a l . In der deutschen Philosophie (Kant Schopenhauer) ist es immer noch „Pflicht" oder „Instinkt des Mitleidens" — die alten Probleme seit Sokrates (d. h. Stoicismus o d e r Christenthum, Aristokratie des Individuums o d e r Heerden-Güte) 34[4°]

Ich brauche a) Jemanden, der meinen Magen überwacht b) Jemanden, der mit mir lachen kann und einen ausgelassenen Geist hat. c) Jemanden, der stolz auf meine Gesellschaft ist und „die Anderen" auf die richtige façon des Respekts gegen mich einhält d) Jemanden, der mir vorliest, ohne ein Buch zu verdummen 34[4i]

P 1 a i r e — das große Geheimniß des französischen Willens, und im Grunde der H e e r d e n - M o r a l . „Mitleid-haben", Altruismus, ist die h y p o k r i t i s c h e Ausdrucksweise dafür. 34[4 2 ]

NB. Bisher gehörten die meisten Künstler (eingeredinet die Historiker), selbst einige der größten, unter die Bedienten (sei es von Ständen oder Fürsten oder Frauen oder „Massen"), nicht zu reden von ihrer Abhängigkeit von Kirche und Moralgesetz. So hat R u b e n s die vornehme Welt seiner Zeit porträtirt, aber nach einem i h r vorschwebenden Geschmack, nicht nach s e i n e m Maaß der Schönheit, — im Ganzen also w i d e r seinen Geschmack. Darin w a r v a n D y k vornehmer: welcher allen denen, die er malte, etwas von dem beilegte, was er selber

April—Juni 1885 34[39—44]

433

bei sich am höchsten ehrte: er stieg nicht h i n a b , sondern zu sich hinauf, wenn er „wiedergab". Die sklavische U n t e r t h ä n i g k e i t des Künstlers vor seinem Publikum (wie sie selbst Sebastian Bach in unsterblich 5 beleidigenden Worten dem Widmungsschreiben seiner Hohen Messe anvertraut hat) ist aus der Musik heraus vielleicht schwerer zu erkennen, aber sie steckt umso tiefer und gründlicher darin. Man würde es nicht aushalten, mir zuzuhören, wenn ich hierüber meine Beobachtungen mittheilen wollte. 34[43] io NB. Das langsame Hervortreten und Emporkommen der mittleren und niederen Stände (eingerechnet der niederen Art Geist und Leib), welches schon vor der französischen Revolution reichlich präludirt und ohne Revolution ebenfalls seinen Weg vorwärts gemacht hätte, im Ganzen also das Übergewicht der 1 S Heerde über alle Hirten und Leithämmel, bringt mit sich i) Verdüsterung des Geistes — das Beieinander eines stoischen und frivolen A n s c h e i n s von Glück, wie es vornehmen Culturen eigen ist, nimmt ab: man läßt viel Leiden s e h n und h ö r e n , welche man früher ertrug und verbarg. 20 2) die m o r a l i s c h e Hypokrisie, eine Art, sich durch Moral a u s z e i c h n e n zu wollen, aber durch die HeerdenTugenden: Mitleid Fürsorge Wohltätig(keit), welche nicht außer dem Heerden-Vermögen erkannt und gewürdigt zu werden (pflegen) 2 S 3) eine w i r k l i c h e große Menge von Mitleiden und Mitfreude, das Wohlgefallen im großen Beieinander, wie es alle Heerdenthiere haben — „Gemeinsinn", „Vaterland", alles, wo das Individuum nicht in Betracht kam 34[44] D i d e r o t zeigte sich, nach Goethe's Urtheil, wahrhaft 30 deutsch (Saint Ogan p. 248) in Allem, was die Franzosen ta-

434

Nachgelassene Fragmente

delten. Aber auch die Neapolitaner, nach Galiani, acceptirten seinen Geschmack vollständig. 34Ü45]

Baudelaire, von deutschem Geschmack, wenn ihn irgend ein Pariser haben kann, empfindet deutsch, wenn er Victor Hugo nicht aushält und ihn einen „Esel von Genie" nennt. 34[46] Wenn i c h etwas von einer Einheit in mir habe, so liegt sie gewiß nicht in dem bewußten Ich und dem Fühlen Wollen Denken, sondern wo anders: in der erhaltenden aneignenden ausscheidenden überwachenden Klugheit meines ganzen Organismus, von dem mein bewußtes Ich nur ein Werkzeug ist. — Fühlen Wollen Denken zeigt überall nur Endphänomene, deren Ursachen mir gänzlich unbekannt sind: das Aufeinanderfolgen dieser Endphänomene, wie als ob eines a u s dem anderen folgte, ist wahrscheinlich n u r ein Schein: in Wahrheit mögen vielleicht die Ursachen solchergestalt an einander gebunden sein, daß die End-Ursachen mir den E i n d r u c k logischen oder psychologischen Verbandes machen. I c h l e u g n e , daß ein geistiges oder seelisches Phänomen direkte U r s a c h e ist von einem anderen geistigen oder seelischen Phänomen: ob es gleich so scheint. D i e w a h r e W e l t d e r U r s a c h e n i s t u n s v e r b o r g e n : sie ist unsäglich complicirter. Der Intellekt und die Sinne sind ein vor allem v e r e i n f a c h e n d e r Apparat. Unsere f a l s c h e , verkleinerte, 1 o g i s i r t e Welt der Ursadien ist aber die Welt, in welcher wir leben können. Wir sind soweit „erkennend", daß wir unsere Bedürfnisse befriedigen können. Das Studium des Leibes giebt einen Begriff von der unsäglichen Complikation.

A p r i l — J u n i 1885 34 [44—49]

435

Wenn unser Intellekt nicht einige f e s t e Formen hätte, so wäre nicht zu leben. Aber damit ist für die Wahrheit aller logischen Thatsachen nichts bewiesen. 34[47]

Die listige Selbst-Verkleinerung des Socrates, um damit seinen Gegner arglos und sicher zu machen, so daß er sich gehn läßt und g e r a d e h e r a u s s a g t , was er denkt: ein Kunstgriff des Pöbel-manns! Die Logik war nicht zu Hause in Athen. 34[48]

N B . Etwas helleren Kopf und etwas guten Willen: und man hält es nicht mehr aus, aus Gründen des Geschmacks, seine Erlebnisse „zu Ehren Gottes" zurecht zu deuten, ich meine, überall die Spuren seiner Fürsorge, Warnung, Bestrafung, Erziehung zu sehn. Ebenso wie ein guter Philologe (und überhaupt jeder philologisch geschulte Gelehrte) einen Widerwillen gegen falsche Text-Ausdeutungen (z. B. die der protestantischen Prediger auf den Kanzeln — weshalb die gelehrten Stände nicht mehr in die K(irche) gehn —) hat, ebenso, und nicht infolge großer „Tugend" „Redlichkeit" usw., geht einem die Falschmünzerei der religiösen Interpretation aller Erlebnisse gegen den Geschmack. — 34Ü49]

Unsere Lust an Einfachheit, Übersichtlichkeit, Regelmäßigkeit, Helligkeit, woraus zuletzt ein deutscher „Philosoph" so etwas wie einen kategorischen Imperativ der Logik und des Schönen entnehmen könnte — davon gestehe ich einen starken I n s t i n k t als vorhanden zu. Er ist so stark, daß er in allen unseren Sinnesthätigkeiten waltet und uns die Fülle wirklicher Wahrnehmungen (der unbewußten —) reduzirt, regulirt, assimilirt usw. und sie erst in dieser zurechtgemachten Gestalt u n s e r e m B e w u ß t s e i n v o r f ü h r t . Dies „Logische", dies „Künstlerische" ist unsere fortwährende Thätigkeit. W a s hat

436

Nachgelassene Fragmente

diese Kraft so souverain gemacht? Offenbar, daß ohne sie, vor Wirrwarr der Eindrücke, kein lebendes Wesen lebte. 34[5°]

(Ich sehe nicht ein, warum das Organische überhaupt einmal e n t s t a n d e n sein muß ) 34[5i] In der Chemie zeigt sidi, daß jeder Stoff seine Kraft so weit treibt als er kann: da entsteht etwas Drittes. Die Eigenschaften eines Kindes sind aus der allergenauesten Kenntniß von Vater und Mutter nicht a b z u l e i t e n . Denn es sind die W i r k u n g e n des Dritten auf uns, diese Eigenschaften: die Wirkungen des Ersten aber und die Wirkungen des Zweiten d. h. i h r e Eigenschaften sind unmöglich zu addiren, als „Wirkungen des Dritten" 34Ü5*] Die K e t t e der U r s a c h e n ist uns v e r b o r g e n : und der Zusammenhang und die Abfolge der Wirkungen giebt nur ein Nacheinander: mag dasselbe auch noch so regelmäßig sein, d a m i t b e g r e i f e n w i r es n i c h t a l s n o t h w e n d i g . — Doch können wir hinter einander verschiedene Reihen solcher Aufeinanderfolgen constatiren: z.B. beim Klavierspiel das Aufeinander der angeschlagenen Tasten, das Aufeinander der angeschlagenen Saiten, das Aufeinander der erklingenden Töne. 34Ü53]

K r i t i k des I n s t i n k t s der U r s ä c h l i c h k e i t . Der G l a u b e , daß eine Handlung auf ein Motiv hin geschieht, ist instinktiv allmählig generalisirt worden, zu den Zeiten, wo man alles Geschehen nach Art bewußter lebender Wesen imaginirte. „Jedes Geschehn geschieht auf Grund eines Motivs: die causa finalis ist die causa efficiens" —

April—Juni 1885 34[49—55]

437

Dieser Glaube ist i r r t h ü m l i c h : der Zweck, das Motiv sind Mittel, uns ein Geschehn faßlich praktikabel zu machen. — Die Verallgemeinerung war ebenfalls irrthümlich und unlogisch. Kein Zweck. 5 Kein Wille.

34[54] Die umgekehrte Zeitordnung. Die „Außenwelt" wirkt auf uns: die Wirkung wird ins Gehirn telegraphirt, dort zurechtgelegt, ausgestaltet und auf seine Ursache zurückgeführt: dann wird die Ursache p r o j i c i r t und n u n e r s t k o m m t u n s d a s F a c t u m z u m Bewußtsein. D. h. die Erscheinungswelt e r s c h e i n t uns erst als Ursache, nachdem „sie" gewirkt hat und die Wirkung verarbeitet worden ist. D . h . w i r k e h r e n b e s t ä n d i g die O r d n u n g d e s G e s c h e h e n d e n u m . — Während 15 „ i c h " sehe, sieht es bereits etwas Anderes. Es steht wie bei dem Sdimerz.

34 [55D D e r G l a u b e a n d i e S i n n e . Ist eine Grundthatsache unseres Intellekts, er nimmt von ihnen entgegen das Rohmaterial, welches er a u s l e g t . Dies Verhalten zum Roh20 material, welches die Sinne bieten, ist, m o r a l i s c h betrachtet, n i c h t geleitet von der Absicht auf Wahrheit, sondern wie von einem Willen zur Überwältigung, Assimilation, Ernährung. Unsere beständigen Funktionen sind absolut egoistisch, machiavellistisch, unbedenklich, fein. Befehlen und Gehorchen auf's 2 5 Höchste getrieben, und damit vollkommen gehorcht werden kann, hat das einzelne Organ viel Freiheit. Der Irrthum im Glauben an Zwecke. Wille — eine überflüssige Annahme. Die umgekehrte Zeit-Ordnung. 3° Kritik des Glaubens an Ursächlidikeit.

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Nachgelassene Fragmente

Der Glaube an die Sinne als Grundthatsache unseres Wesens. Die Centrai-Gewalt — darf nicht wesentlich verschieden sein von dem, was sie beherrscht. Die Geschichte der Entstehung erklärt die Eigenschaften 5 nicht. Letztere müssen schon bekannt sein. H i s t o r i s c h e Erklärung ist Reduktion auf ein uns g e w o h n t e s Aufeinander: durch Analogie.

10

34[j6] Die mechanistische Welt-Erklärung ist ein I d e a l : mit so wenig als möglich möglichst viel zu erklären, d. h. in Formeln zu bringen. Nöthig noch: die Leugnung des leeren Raumes; der Raum bestimmt und begrenzt zu denken; ebenso die Welt als ewig sich wiederholend.

34[57] Wie ein Volks-Charakter, eine „Volks-Seele" entsteht, das giebt Aufschluß über die Entstehung der Individual-Seele. Zu1 $ nächst wird eine R e i h e von T h ä t i g k e i t e n ihm aufgezwungen, als Existenz-Bedingungen, an diese gewöhnt es sich, sie werden fester und gehen mehr in die Tiefe. Völker, welche große Wandelungen erleben und unter neue Bedingungen gerathen, zeigen eine neue Gruppirung ihrer Kräfte: dies und jenes tritt heraus und bekommt Übergewicht, weil es jetzt n ö t h i g e r ist zur Existenz, z. B. der praktische nüchterne Sinn am jetzigen Deutschen. Aller Charakter ist erst R o l l e . Die „Persönlichkeit" der Philosophen — im Grunde persona. 34[5«] Die Zahl ist unser großes Mittel, uns die Welt handlich zu 25 machen. Wir begreifen so weit als wir zählen können d. h. als eine Constanz sich wahrnehmen läßt. 34[59] Durch moralische Hinterabsichten ist der Gang der Philos o p h i e ) bisher am meisten aufgehalten worden.

A p r i l — J u n i 1885 3 4 [ 5 5 — 6 5 ]

439

34[6O] Auch innerhalb unserer Welt der Sinne, wenn wir sie nur verschärfen oder verschärft denken, ergiebt sich eine Welt, welche ganz anders auf unser G e f ü h l wirkt 34[6I] Das Vorurtheil der Ursächlichkeit dasVorurtheil des Willens das Vorurtheil des Zwecks das Vorurtheil der Persönlichkeit Erkenntniß: ein falscher Begriff d. h. ein Begriff, zu dessen Aufstellung wir kein R e c h t haben. Beseitigung i) des W i l l e n s 2) der Z w e c k e als „wozu" und „wodurch" 3) f o l g l i c h auch der U r s ä c h l i c h k e i t (welche aus Beidem sich ableitet) 34[62] „Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?" — d u r c h e i n V e r m ö g e n d a z u " war die berühmte Kantische Antwort, welche Vielen solche Genugthuung gegeben hat. 34[63] Die n ü t z l i c h s t e n Begriffe sind übrig geblieben: wie falsch sie auch immer entstanden sein mögen. 34t^4] Im ersten Buche der „ G l a u b e a n d i e W a h r h e i t " zu erschüttern: Wahrhaftigkeit ist nützlich, aber nur in einem kleinen Quantum, vor allem bei solchen, welche nichts zu verantworten haben. Ebenso die Achtung vor den Philosophen. 34[6j] Die allgemeine V e r g r ö b e r u n g

des europäischen Gei-

440

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stes, ein gewisses täppisches Geradezu, welches sich gerne als Geradheit, Redlichkeit oder Wissenschaftlichkeit rühmen hört: das gehört der Herrschaft des Gedankens des demokratischen Zeitgeistes und seiner feuchten Luft: noch bestimmter — es ist die Wirkung des Zeitungslesens. Bequemlichkeit will man oder Betrunkenheit, wenn man liest: bei weitem das Meiste, was gelesen wird, ist Zeitung oder Zeitungs-Art. Man sehe unsere Revuen, unsere gelehrten Zeitschriften an: jeder, der da schreibt, redet wie vor „ungewählter Gesellschaft", und läßt sich gehn, oder vielmehr sitzen, auf seinem Lehnstuhle. — Da hat es Einer schlimm, welcher am meisten Werth auf die Hinter-gedanken legt und mehr als alles Ausgesprochene die Gedankenstriche in seinen Büchern liebt. — Die Freiheit der Presse richtet den Stil zu Grunde und schließlich den Geist: das hat vor 100 Jahren schon Galiani gewußt. — Die „Freiheit des Gedankens" richtet die D e n k e r zu Grunde. — Zwischen Hölle und Himmel, und in der Gefahr von Verfolgungen Verbannungen ewigen Verdammnissen und ungnädigen Blicken der Könige und Frauen war der Geist biegsam und verwegen geworden: wehe, wozu w i r d heute der „Geist"! 34[66] Immer i r o n i c e: es ist eine köstliche Empfindung, einem solchen wahrhaftigen Denker zuzusehn. Aber es ist noch angenehmer, zu entdecken, daß dies Alles Vordergrund ist, und daß er im Grunde etwas Anderes will und auf sehr verwegene Weise will. Ich glaube, daß der Zauber des Socrates der war: er hatte eine Seele und dahinter noch eine und dahinter noch eine. In der vordersten legte sich Xenophon schlafen, auf der zweiten Plato und auf der dritten noch einmal Plato, aber Plato mit seiner eigenen zweiten Seele. Plato selber ist ein Mensch mit vielen Hinterhöhlen und Vordergründen. 34 [67] NB. Unser Zeitalter ist in seinen wesentlichsten Instinkten

April—Juni 1885

34[65—68]

441

skeptisch: fast alle feineren Gelehrten und Künstler sind es, ob sie es sich schon nicht gerne zugeben. D e r Pessimismus, das N e i n - s a g e n ist nur für die Bequemlichkeit des Geistes leichter: unser feuchtes Zeitalter mit demokratischer L u f t ist vor 5 allem bequem. W o der Geist delikater ist, sagt er: „ich weiß nicht" und „ich traue mir und Niemandem mehr" „ich weiß nicht mehr, wo aus, noch ein", und „hoffen — " das ist eine Phrase für Verlogene oder für demagogische Redner und Künstler. Skepsis — ist der Ausdruck einer gewissen p h y s i o l o g i s c h e n Beschaffenheit, wie sie bei einer großen Kreuzung vieler Rassen nothwendig entsteht: die vielen vererbten Werthsdiätzungen sind mit einander im K a m p f , stören sich gegenseitig am Wachsen. Die Kraft, welche hier am meisten abhanden kommt, ist der W i l l e : deshalb große Furcht vor 15 der Verantwortlichkeit, weil Niemand für sich selber gut sagen kann. Versteck unter Gemeinschaften, „Eine H a n d d e c k t die andere" heißt es da. So bildet sich eine H e e r d e n - A r t aus: und wer einen starken befehlerischen und verwegenen Willen hat, kommt unbedingt auch zur Herrschaft in solchen Zeiten. 34[68] Man klagt, wie schlimm es bisher die Philosophen gehabt haben: die Wahrheit ist, daß zu allen Zeiten die Bedingungen zur Erziehung eines mächtigen verschlagenen verwegenen unerbittlichen Geistes günstiger waren als heute. Heute hat der Demagogen-Geist, wie audi der Gelehrten-Geist günstige Bedin25 gungen. Aber man sehe doch unsere Künstler an: ob sie an einer Zuchtlosigkeit fast nicht alle zu Grunde gehen. Sie werden nicht mehr tyrannisch, so lernen sie auch nicht mehr, sich selber tyrannisiren. Wann war das Weib so gering, wie heute! Alles wird schwächer, weil Alles es bequemer haben will. — Ich bin durch 30 die härteste Schule körperlicher Schmerzen gegangen: und das Bewußtsein, darunter mich selber festgehalten zu haben und schweigsam 20

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Nachgelassene Fragmente

34[69] Die feinsten Köpfe des vorigen Jahrhunderts, Hume und Galiani, alle mit Staatsdiensten vertraut: ebenso Stendhal Tocqueville 34[70] Hume fordert (um mit Kants Worten zu reden) die Vernunft auf, ihm Rede und Antwort zu geben, mit welchem Rechte sie sich denkt: daß etwas so beschaffen sein könne, daß, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes nothwendig gesetzt werden müsse, denn das sagt der Begriff der U r s a c h e . Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft ganz unmöglich sei, a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken usw. — Aber die Thorheit war, nach Gründen für das Recht der Begründung zu fragen. Er that das Thun, welches er eben prüfen wollte. 34[7i] Die L ü g e des Erziehers z. B. bei Kants kategorischem Imperativ. „Sollte Gott doch ein Betrüger sein, trotz Descartes?" 34(>2] NB. Wahrhaftig, moralisch-streng und h ä ß l i c h gehört zusammen: das hat das Christenthum gut gefühlt. Der schöne Mensch kann weder wahrhaftig, noch gütig sein, nur ausnahmsweise. 34[73] Was uns ebenso von Kant, wie vonPlato und Leibnitz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind h i s t o r i s c h durch und durch. Dies ist der große Umschwung. Lamarck und Hegel — Darwin ist nur eine Nachwirkung. Die Denkweise H e r a k 1 i t ' s und E m p e d o k l e s ' ist wieder erstanden. Audi Kant hat die contradictio in adjecto „reiner Geist" nicht überwunden: wir aber

April—Juni 1885 34[69—78]

443

34[74] D e r m e n s c h l i c h e H o r i z o n t . M a n k a n n die Philosophen auffassen als solche, welche die äußerste Anstrengung machen, zu e r p r o b e n , wie weit sich der Mensch e r h e b e n könne, besonders Plato: wie w e i t seine K r a f t reicht. Aber sie thun es als Individuen; vielleicht w a r der Instinkt der C ä saren, der Staatengründer usw. größer, welche d a r a n denken, wie weit der Mensch getrieben w e r d e n k ö n n e , in der E n t w i c k l u n g und unter „günstigen U m s t ä n d e n " . Aber sie begriffen nicht genug, was „günstige U m s t ä n d e " sind. G r o ß e Frage: w o bisher die Pflanze „Mensch" am prachtvollsten gewachsen ist. Dazu ist das vergleichende Studium der Historie nöthig. 34Ü75] Es ist merkwürdig, wie die Stoiker und fast alle Philosophen keinen Blick f ü r die Ferne haben. U n d d a n n wieder die D u m m heit der Socialisten, welche immer nur die Bedürfnisse der H e e r d e repräsentiren. 34[76] Die mechanistische Vorstellung, als regulatives Princip der Methode voranzustellen. Nicht als die b e w i e s e n s t e Weltbetrachtung, sondern als die, welche die größte Strenge u n d Zucht nöthig macht und am meisten alle Sentimentalität bei Seite wirft. Zugleich eine Probe f ü r das physische und seelische Gedeihen: mißrathene willensschwache Rassen gehen d a r a n zu Grunde, durch Sinnlichkeit oder durch Melancholie oder, wie Inder, durch Beides. 34[77l Großes Lob auf das Christenthum als die ächte H e e r d e nReligion. 34[7»] Mittag und

Ewigkeit.

Nachgelassene Fragmente

444

1. 2. 3. 4.

Frei zum „ w a h r " und „unwahr" frei zum „gut" und „böse" frei zum „sdiön" und „häßlich" der höhere Mensch als der mächtigere, und die bisherigen Versuche: „es ist die rechte Zeit". j . der H a m m e r — eine Gefahr, an der der Mensch zerbrechen kann.

34[79]

K a n t meinte, mit seiner Kategorien-Tafel in der Hand „das ist das Schwerste was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte." — man mißverstehe doch ja nicht, wo er seinen Stolz hatte. 3 4

[8O]

D e r b h e i t u n d D e l i k a t e s s e zusammen bei Petronius, auch bei Horaz: mir am angenehmsten. Es gehört zum g r i e c h i s c h e n Geschmack. Homer war den Menschen um La Rochefoucauld herum zu derb, sie konnten das Triviale nicht genießen. Sie hielten eine gewisse hohe Empfindung bei sich fest, wie jetzt viele Deutsche, und verachte ohne Musik. Der A u s d r u c k expression von Beiden vorangestellt, alles Übrige geopfert. Von Litteratur abhängig Beide, höchst gebildete und selbst schreibende Menschen. Nervös-krankhaftgequält, ohne Sonne. 34O7] In jedem Sinnes-Urtheil ist die ganze organische Vorgeschichte thätig: „das ist grün" z.B. D a s G e d ä c h t n i ß i m I n s t i n k t , als eine Art von Abstraction und Simplification, vergleichbar dem logischen Prozeß: das Wichtigste ist immer

April—Juni 1885 34[163—172]

477

wieder unterstrichen worden, aber auch die sdiwädisten Züge b l e i b e n . Es giebt im organischen Reiche kein Vergessen; wohl aber eine Art V e r d a u e n des Erlebten. 34

[I68]

Die Guten, ihr Verhältniß zur Dummheit. Erziehung und Züchtung. Das liberum „nego". „vorläufig: Nein!" Verehrung, Zorn und Tapferkeit 34[i69]

Die A b z ä h l b a r k e i t gewisser Vorgänge z.B. vieler chemischen, und eine Berechenbarkeit derselben giebt noch keinen Grund ab, hier an „absolute Wahrheiten" zu tasten. Es ist immer nur eine Zahl im Verhältniß zum Menschen, zu irgend einem festgewordenen Hang oder Maaß im Menschen. Die Zahl selber ist durch und durch u n s e r e Erfindung. 34[i7°] Ein l o g i s c h e r Vorgang, von der Art, wie er „im Buche steht", k o m m t n i e v o r , so wenig als eine gerade Linie oder zwei „gleiche Dinge ".Unser Denken läuft grundverschieden: zwischen einem Gedanken und dem nächsten waltet eine Zwischenwelt ganz anderer A r t z. B. Triebe zum Widerspruch oder zur Unterwerfung usw. 34[i7i] Synthetische Urtheile a priori sind wohl möglich, aber sie sind — f a l s c h e Urtheile. 3 4 [ i 72] N u x et crux. Eine Philosophie für gute Zähne.

478

Nachgelassene Fragmente

34[i73]

Jede Philosophie, wie sie auch entstanden sein möge, dient zu gewissen Erziehungs-Zwecken z. B. zur Ermuthigung oder zur Besänftigung usw. 34[i74]

Das Gute eine Vorstufe des Bösen; eine gelinde Dosis des Bösen: — 34[i7i]

Wenn Einer sich um die Andern und n i c h t kümmert, kann das ein Zeichen der D u m m h e i t denkt das „Volk" bonhomie.

um sidi sein: so

34076] Die Moralen und Religionen sind das H a u p t -Mittel, mit dem man aus dem Menschen gestalten kann, was Einem beliebt: vorausgesetzt daß ( m a n ) einen Überschuß von schaffenden Kräften hat und seinen schaffenden Willen über lange Zeiträume durchsetzen kann, in Gestalt von Gesetzgebungen und Sitten. Indem ich über die Mittel nachsann, den Menschen stärker und tiefer zu machen als er bisher war, erwog ich vor Allem, mit Hülfe welcher Moral dergleichen bisher bewerkstelligt worden ist. Das Erste, was ich begriff, war, daß man dazu die in Europa übliche Moral nicht gebrauchen kann, von der freilich die Philosophen und Moralisten Europa's meinen, es sei die Moral selber und allein — ein solcher Philosophen-Unisono ist in der That der bessere Beweis dafür, daß jene Moral wirklich herrscht. — Denn diese Moral ist der eigentliche H e e r d e n Instinkt, welcher Behagen, Ungefährlichkeit, Leichtigkeit des Lebens nur ersehnt und als letzten hintersten Wunsch sogar den hat, allen Führern und Leithammeln entrathen zu können. Ihre beiden am besten gepredigten Lehren heißen: „Gleichheit der Rechte" und „Mitgefühl für alles Leidende" — und

April—Juni 1885

34[173—176]

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das Leiden selbst wird von allen Heerden-Thieren als etwas genommen, das man a b s c h a f f e n muß. Wer aber darüber nachdenkt, wo und wie die Pflanze Mensch bisher am kräftigsten und schönsten emporwächst, wird im Gegensatz zur europäischen Heerden-Moral und Geschidits-Fälscherei so viel aus der Geschichte entnehmen, daß dazu die Gefährlichkeit seiner Lage gesteigert, sein Erfindungs- und Verstellungsgeist durch langen Druck und Zwang herausgefordert werden muß, und daß folglich heute, Grausamkeit, Verschwiegenheit, Ungemüthlichkeit, Ungleichheit der Rechte, Krieg, Erschütterungen aller Art, kurz der Gegensatz aller Heerden-Ideale noth thut. Daß eine Moral mit solchen umgekehrten Absichten nur in Anknüpfung an das beherrschende Sittengesetz und unter dessen Worten und Prunkworten gelehrt werden könne und angepflanzt werden könne, daß also viele Übergangs- und Täuschungsformen zu erfinden sind, und daß, weil das Leben Eines Menschen viel zu kurz zur Durchsetzung eines so langwierigen Willens ist, Menschen angezüchtet werden müssen, in denen einem solchen Willen Dauer durch viele Generationen verbürgt wird: dies begreift sich so gut als das lange nicht leicht aussprechbare Und-so-weiter dieser Gedanken. Eine Umkehrung der Werthe bei einer bestimmten starken Art von Menschen vorzubereiten und unter ihnen eine Menge in Zaum gehaltener und verläumdeter Instinkte zu entfesseln: darüber nachdenkend erwog ich, welche Art Mensch unwillkürlich und überhaupt schon der also gestellten Aufgabe bisher gearbeitet hat. Ich fand die Pessimisten, indem ihre Unzufriedenheit mit Allem sie auch zur Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen m i n d e s t e n s logisch nöthigte: deshalb begünstigte ich Schopenhauer und die langsam über Europa aufdämmernde Kenntniß der indischen Philosophie. Audi ein Alpdruck ist ein Mittel, Menschen plötzlich a u f z u w e c k e n . — Insgleichen hatte ich ein Wohlgefallen an gewissen unersättlich-dualistischen Künstlern, welche wie Byron unbedingt an die Vorrechte

480

Nachgelassene Fragmente

höherer Menschen glauben und unter der Verführung der Kunst bei ausgesuchten Menschen die Heerden-Instinkte übertäuben und die entgegengesetzten wachrufen. Drittens ehrte ich die Philologen und Historiker, welche die Entdeckung des Alterthums fortsetzten, weil in der alten Welt eine andere Moral geherrscht hat als heute und in der That der Mensch damals unter dem Banne seiner Moral stärker böser und tiefer w a r : die V e r f ü h rung, welche v o m Alterthum her auf stärkere Seelen ausgeübt wird, ist wahrscheinlich) die feinste und unmerklichste aller Verführungen. Diese ganze Denkweise nannte ich bei mir selber die Philosophie des Dionysos: eine Betrachtung, welche im Schaffen Umgestalten des Menschen wie der Dinge den höchsten Genuß des Daseins erkennt und in der „ M o r a l " nur ein Mittel, um dem herrschenden Willen eine solche K r a f t und Geschmeidigkeit zu geben, dergestalt sich der Menschheit aufzudrücken. Ich beobachte Religionen und Erziehungs-Systeme darauf hin, wie weit sie K r a f t ansammeln und vererben; und nichts scheint mir wesentlicher zu studiren, als die G e s e t z e d e r Z ü c h t u n g , um nicht die größte Menge von K r a f t wieder zu verlieren, durch unzweckmäßige Verbindungen und Lebensweisen. 34[177] Ich bin abgeneigt 1) dem Socialismus, weil er ganz naiv v o m Heerden-Blödsinn des „ G u t e n Wahren Schönen" und von gleichen Rechten träumt: auch der Anarchismus will, nur auf brutalere Weise, das gleiche Ideal 2) ( d e m ) Parlamentarismus und Zeitungswesen, weil dies die Mittel sind, wodurch das Heerdenthier sich zum Herrn macht. 34[i78] Mein Augenmerk darauf, an welchen Punkten der Geschichte die großen M(enschen) hervorspringen. Die Bedeutung langer d e s p o t i s c h e r M o r a l e n : sie spannen den Bogen, wenn sie ihn nicht zerbrechen.

April—Juni 1885 34[176—181]

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34[i79] Daß es eine E n t w i c k l u n g der ganzen Menschheit gebe, ist Unsinn: auch gar nicht zu wünschen. Das viele Gestalten a m Menschen, die Art V i e l a r t i g k e i t des Menschen herauszuholen, ihn zu zerbrechen, wenn eine Art von Typus ihre Höhe 5 gehabt hat — also schaffend und vernichtend sein — dünkt mich der höchste Genuß, den Menschen haben können. Plato war gewiß nicht so beschränkt, als er die Begriffe als f e s t und e w i g lehrte: aber er wollte, daß dies geglaubt werde. 3 4 [i8O]

Nicht mehr Vernunft in die ganze Geschichte des Menschen legen als in der übrigen Welt ist: V i e l e s ist möglich, aber man darf es nicht auf zu lange wollen. Der Zufall zerbricht alles wieder. Der Mensch als ein S c h a u s p i e l : das ist der historische Sinn — aber er enthält ein gefährliches Element, der Mensch *5 lernt sich fühlen als der G e s t a l t e n d e , welcher nicht nur zusieht und zusehen will. Der Deutsche — es versteht sich, daß öffentlich und heimlich von allen organischen Grund-Absichten des Manschen) nur unter tausend Maskeraden geredet wird: man lese eine Rede Bismarcks. 20 NB. — der g e i s t i g e r e Mensch, der bisweilen hinter die Masken gesehen hat und zu sehen versteht, der überhaupt b e g r i f f e n hat, wie sehr Alles Maske ist — ist billigerweise darüber in b e s t e r L a u n e . „Geistigkeit" ist der Kitzel eines ewigen Carnevals, sei es nun, daß wir selber dabei mitspielen oder nur gespielt werden. — der historische Sinn und der geographisch-klimatische Exotismus neben einander. 10

34[181] So will ich, als ein müssiger Mensch, der nichts Besseres zu thun hat, meinen Freunden einmal erzählen, was ich mir unter

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Nadigelassene Fragmente

der Philosophie des Dionysos denke: denn daß auch Götter philosophiren, scheint mir eine würdige und fromme Vorstellung, an der auch der Gläubigste noch seine Freude haben kann. Ich werde vielleicht, dem Geschmacke meiner Freunde nach, in der Freimüthigkeit meiner Erzählung zu weit gehn: dieser Gott selber aber ist, im Zwiegespräch mit mir, viel weiter gegangen und ich würde, falls ich ihm schöne heuchlerische Prunknamen zulegen dürfte, viel Rühmens von meinem Muthe, von meiner Ehrlichkeit Wahrhaftigkeit Redlichkeit „Liebe zur Wahrheit" und dergleichen, zu machen haben. Aber mit allem diesem schönen Plunder und Prunk weiß ein solcher Gott nichts anzufangen — zu meiner Rechtfertigung genügen zwei Worte, welche man freilich in Deutschland nicht leicht „ins Deutsche" übersetzt: gai saber. Behalte dies doch für dich und deinesgleichen: ich habe keinen Grund, meine „Blöße" zu decken. Genug, es ist eine ganz unverschämte Art von Gottheit. Es war Frühling, und alles H o l z stand in jungem Safte: als ich so durch den Wald gieng und über eine Kinderei nachdachte, schnitzte ich mir eine Pfeife zurecht, ohne daß ich recht wußte, was ich that. Sobald ich aber sie zum Mund führte und pfiff, erschien der Gott vor mir, den ich seit langem schon kenne. Nun, du Rattenfänger, was treibst du da? Du halber Jesuit und Musikant —, beinahe ein Deutsdier! In wunderte mich, daß mir der Gott auf diese Art zu schmeicheln suchte: und nahm mir vor, gegen ihn auf der Hut zu sein. Ich habe alles gethan, sie dumm zu machen, ließ sie in Betten schwitzen, gab ihnen Klöße zu fressen, hieß sie trinken, bis sie sanken, machte sie zu Stubenhockern und Gelehrten, gab ihnen erbärmliche Gefühle einer Bedientenseele ein

April—Juni 1885

34[181—184]

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Du scheinst mir Schlimmes im Schilde zu führen, die M a n schen) zu Grunde zu richten? Vielleicht, antwortete der Gott; aber so, daß dabei Etwas für midi herauskommt. — Was denn? fragte ich neugierig. — W e r denn? solltest du fragen. Also sprach zur mir Dionysos.

3 4

[I82]

Dionysos. Versuch einer göttlichen Art, zu philosophiren. Von Friedrich Nietzsche 34[i»3] Wie kommt es doch, daß die Weiber ihre Kinder lebendig gebären? Ich meinte immer, die armen Thiere müßten, bei der geringen Beschaffenheit ihrer Widerstands-Kräfte, erstickt zur Welt kommen. Die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, wie geschrieben steht: oder, wie sind lebendige Kinder a priori möglich? — Und indem ich so fragte, erwachte ich völlig aus meinem dogmatischen Schlummer, gab dem Gotte einen Stoß vor den Bauch, und fragte, mit dem Ernst eines Chinesen aus Königsberg: „In summa: wie sind synthetische Urtheile a priori möglich?" — „Durch ein Vermögen dazu" antwortete der Gott und hielt sich den Bauch.

3 4

[I8

4

]

H e g e l : die Neigung der Deutschen sich selber zu widersprechen — daraus eine G o t h i k , W a g n e r : der kein Ende (zu) finden wußte und auch dies zu einem Princip machte: auch eine Gothik.

484

Nachgelassene Fragmente

34[I8JJ

Nicht die wirkliche h i s t o r i s c h e Bedeutung K a n t s fälschen! Er selber war stolz auf seine Kategorientafel und das Vermögen dazu e n t d e c k t zu haben: seine Nachfolger waren stolz darauf, solche Vermögen zu entdecken, und der Ruhm der deutschen Philosophie im Auslande bezog sich darauf: namentlich d i e i n t u i t i v e u n d i n s t i n k t i v e E r f a s s u n g d e r „ W a h r h e i t " w a r e s , was den Ruhm der Deutschen machte. Ihre Wirkung gehört unter die große R e a c t i o n . Eine Art E r s p a r n i ß von wissenschaftlicher Arbeit, ein direkteres Zuleibegehn an die „Dinge" selber — eine Abkürzung des Weges der Erkenntniß: d i e s e r Traum berauschte! — In der Hauptsache bringt Schopenhauer d a s s e l b e E n t z ü c k e n hervor: nur nicht bei zufriedenen spinozistisch gesinnten M a n schen) sondern bei Unzufriedenen: er packt „den Willen" oder vielmehr die Velleität die „Willelei", die Begehrlichkeit oder Sinn und Verstand 3 4

[I86]

„Gelassen hingestützt auf Grazien und Musen" l e r „die Künstler".

Schil-

34t187] Die Entwicklung des Bewußtseins als eines R e g i e r u n g s A p p a r a t e s : nur für die V e r a l l g e m e i n e r u n g e n zugänglich. Schon das, was das Auge zeigt, kommt in's Bewußtsein als v e r a l l g e m e i n e r t und z u r e c h t g e m a c h t . 3 4

[I88]

Vorrede: d i e R a n g o r d n u n g d e r M e n s c h e n . 1. E r k e n n t n i ß a l s W i l l e z u r M a c h t . 2. J e n s e i t s v o n G u t u n d B ö s e 3. D i e v e r s t e c k t e n K ü n s t l e r . 4. D i e g r o ß e P o l i t i k . 5. D e r H a m m e r .

April—Juni 1885 34[185—192]

485

34[i»9] die Sinnlichkeit, welche bei kleinen blassen Juden oder Parisern so lächerlich erscheint, und beinahe comme une neurose — 34[i9o] im vorigen Jahrhundert bekam die bonté das gute Gewissen auf ihre Seite, welches lange bei ganz anderen Gefühlen war 34[I9I] M i t t a g und E w i g k e i t . Eine Philosophie der ewigen Wiederkunft. Von Friedrich Nietzsche. Vorrede: Erster Theil: Zweiter Theil: Dritter Theil: Vierter Theil: Fünfter Theil:

von der menschlichen Rangordnung. Wissen und Gewissen. Jenseits von Gut und Böse. Die versteckten Künstler. hohe Politik. der Hammer (oder Dionysos).

34[r92] Vorrede. Für wen? Das Erfinderische. Der Umfang der Seele. Die Tiefe. Die Kraft und Verwandlung. Die befehlende Kraft. Die Härte. Das Wissen: Lust des Eroberers Die große Verantwortlichkeit. Die Kunst der Maske. Transfiguration.

486

Nachgelassene Fragmente

Die Kraft der Mittheilung. — das Dionysische — 34[i93] Die Skeptiker der Moral erwägen nicht, wie viel moralische Werthschätzung sie in ihrer Skepsis tragen: ihr Zustand ist beinahe ein Selbstmord der Moral und vielleicht sogar eine Verklärung derselben. 34[i94] Woher sollen wir die Werthschätzungen n e h m e n ? Vom „Leben"? Aber „höher, tiefer, einfacher, vielfacher" — sind Schätzungen, welche wir erst ins Leben l e g e n . „ E n t w i c k l u n g " in jedem Sinne ist immer auch ein Verlust, eine Schädigung; selbst die Spezialisirung jedes Organs. Die Optik der Selbsterhaltung und des Wachsthums. O p t i k des W a c h s t h u m s . D a ß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein S t ü c k U n w i s s e n h e i t m e h r : Wissen und Gewissen. Eine Moral für Moralisten. Von Felix Fallax. 34[i95] Die Philosophen i) hatten von jeher das wunderbare Vermögen zur contradictio in adjecto. 2) sie trauten den Begriffen ebenso unbedingt als sie den Sinnen mißtrauten: sie erwogen nicht, daß Begriffe und Worte unser Erbgut aus Zeiten sind, wo es in den Köpfen sehr dunkel und anspruchslos zugieng. NB. Was am letzten den Philosophen aufdämmert: sie müssen die Begriffe nicht mehr sidi nur schenken lassen, nicht nur sie reinigen und aufhellen, sondern sie allererst machen,

April—Juni 1885

34[192—199]

487

s c h a f f e n , hinstellen und zu ihnen überreden. Bisher vertraute man im Ganzen seinen Begriffen, wie als einer wunderbaren M i t g i f t aus irgendwelcher Wunder-Welt: aber es waren zuletzt die Erbschaften unserer fernsten, ebenso dümmsten als gescheitesten Vorfahren. Es gehört diese P i e t ä t gegen das, w a s s i c h i n u n s v o r f i n d e t , vielleicht z u d e m m o r a l i s c h e n Element im Erkennen. Zunächst thut die absolute Scepsis gegen alle überlieferten Begriffe noth (wie sie v i e l l e i c h t schon einmal Ein Philosoph besessen hat — Plato: natürlich {hat er) d a s G e g e n t h e i l g e lehrt ) 34[i96] Hier kommt eine Philosophie — eine von meinen Philosophien — zu Worte, welche durchaus nicht „Liebe zur Weisheit" genannt sein will, sondern sich, aus Stolz vielleicht, einen bescheidneren Namen ausbittet: einen abstoßenden Namen sogar, der schon seinerseits dazu beitragen mag, daß sie bleibt, was sie sein will: eine Philosophie für mich — mit dem Wahlspruch: satis sunt mihi pauci, satis est unus, satis est nullus. — Diese Philosophie nämlich heißt sich selber: die K u n s t d e s M i ß t r a u e n s und schreibt über ihre Haustür: jiE(xvriö' djtiaxeiv. 34[i97] Ihr demonstrirt aus dem Elend des Weibs heraus, daß man seine Lage verbessern müsse: aber idi wollte, ihr thätet es auf Grund seiner besseren Lage und Kraft 34[i98] Die großen Tugenden, die Verantwortlichkeit. „Die Guten" als ein Hintergrund der demokratischen socialistisdien Bewegung. 34[i99] i ) Zarathustra gefangen — Anklagerede gegen ihn, als Verführer

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Nadigelassene Fragmente

großer Gegensatz zwischen der ungeheuren Unsidierheit und dem kleinen Menschen Zarathustra preist die Entronnenen (große K r i s i s bei ihm) er überredet die Väter zu einem Gedächtniß-feste Hinzuströmen aller Aristokraten von allen Enden der Erde Zuletzt kommen die Kinder selber. 2) die Rangordnung der Menschen: er scheidet die Hinzuströmenden nach Gruppen von sich ab, er bezeichnet zuletzt damit die Grade der Erziehung des Menschen (durch Generationen) 3) Vor der kleinsten Auswahl: die Gesetzgeber der Zukunft, mit den g r o ß e n T u g e n d e n (Verantwortlichkeit), der Hammer. 4) der Abschied: die Wiederkunft als Religion der Religionen: tröstlich. Zarathustra gefangen, kritisirt die Lage der Entronnenen, es strömt hinzu (zugleich sein Publicum abscheidend) zuletzt kommt die Schaar. Die R a n g o r d n u n g als Stufen der Erziehung des Menschen (durch viele Generationen) d i e h ö c h s t e n G e s e t z g e b e r , mit dem Hammer. Darstellung der g r o ß e n T u g e n d e n , der Abschied. 34[zoo] Der Philosoph hat viele Vordergrund-Tugenden nöthig und namentlich prunkvolle Worte: wie Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit. 34[20i]

Der G e s e t z g e b e r der Z u k u n f t , die menschliche Rangordnung.

A p r i l — J u n i 1885

34[199—204]

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Jenseits von Gut und Böse. Der Philosoph als Künstler. Dionysos. 34[202] Die H e r r e n der Erde. Gedanken über Heute und Morgen. Von Friedrich Nietzsche 34003] Der Zustand Europa's im nächsten Jahrhundert wird die männlichen Tugenden wieder heranzüchten: weil man in der beständigen Gefahr lebt. Die „allgemeine Militärpflicht" ist schon heute das sonderbare Gegengift gegen die Weichlichkeit der demokratischen Ideen: erwachsen aus dem Kampf der Nationen (Nation — Menschen, die Eine Sprache sprechen und dieselben Zeitungen lesen, heißen sich heute „Nationen" und wollen gar zu gern auch, gemeinsamer Abkunft und Geschichte sein: was aber auch bei der ärgsten Fälscherei der Vergangenheit nicht gelungen ist.)

34004] Meine Freunde, womit bin ich doch seit vielen Jahren beschäftigt? Ich habe mich bemüht, den Pessimismus in die Tiefe zu denken, um es aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, in der er mir, in (der) Metaphysik Schopenhauers, zuerst entgegentrat: so daß der Mensch dieser Denkweise durch den höchsten Ausdruck des Pessimismus gewachsen ist. Ich habe insgleichen ein umgekehrtes Ideal gesucht — eine Denkweise, welche die übermüthigste lebendigste und weltbejahendste aller möglichen Denkweisen ist: ich fand sie im Zuendedenken der mechanistischen Weltbetrachtung: es

490

Nachgelassene Fragmente

gehört wahrlich der allerbeste humor von der Welt dazu, um eine solche Welt der ewigen Wiederkunft, wie ich sie durdi meinen Sohn Z(arathustra) gelehrt habe — also uns selber im ewigen da capo mit begriffen — auszuhalten. Schließlich ergab sich für mich, daß die weltverneinendste aller möglichen Denkensarten die ist, welche das Werden, Entstehen und Vergehen an sich schon schlecht heißt und welche nur das Unbedingte, Eine, Gewisse, Seiende bejaht: ich fand, daß G o t t der vernichtendste und lebensfeindlichste aller Gedanken ist, und daß nur durch die ungeheuerliche Unklarheit der lieben Frommen und Metaphysiker aller Zeiten die Erkenntniß dieser „Wahrheit" so lange hat auf sich warten lassen. Man vergebe mir, daß ich selber ganz und gar nicht Willens bin, auf eine dieser beiden Denkweisen zu verzichten — ich müßte denn auf meine Aufgabe verzichten, welche entgegengesetzte Mittel braucht. Es ist, zum Zugrunderichten oder zum Verzögern und Vertiefen von Menschen und Völkern, zeitweilig (unter Umständen für ein paar Jahrtausende), eine pessimistische Denkweise vom höchsten Werthe; und wer im großen Sinne die Ansprüche des Schaffenden erhebt, wird auch die Ansprüche des Vernichters erheben und vernichtende Denkweisen unter Umständen lehren müssen. In diesem Sinne heiße ich das bestehende Christenthum und den Buddhismus, die beiden umfänglichsten Formen jetziger Welt-Verneinung, willkommen; und, um entartenden und absterbenden Rassen z. B. den Indern und den Europäern von heute den Todesstreich zu geben, würde ich selber die Erfindung einer noch strengeren, acht nihilistischen Religion oder Metaphysik in Schutz nehmen. Nach dem, was ich vorher sagte, lasse ich wohl Niemanden darüber in Zweifel, welche Bedeutung ich in einer solchen Religion dem Gedanken „ G o t t " beigeben würde. Die besten Nihilisten unter den Philosophen waren bisher die Eleaten. Ihr Gott ist die beste und gründlichste Darlegung vom buddhistischen Nirvana; Sein und Nichts ist da identisch.

A p r i l — J u n i 1 8 8 5 34 [ 2 0 4 — 2 0 7 ]

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340°S]

5

10

1

5

be

2

5

Was Richard Wagner betrifft: so habe ich die Enttäuschung vom Sommer 1876 nicht überwunden, die Menge des Unvollkommenen, am Werke und am Menschen, war mir auf Ein Mal zu groß: — ich lief davon. Später begriff ich, daß die gründlichste Loslösung von einem Künstler die ist, daß man sein I d e a l g e s c h a u t hat. Nach einem solchen Blicke, wie ich ihn in jungen Jahren gethan habe — Zeugniß ist meine übriggebliebene kleine Schrift über Richard Wagner — blieb mir nichts übrig, als, knirschend und außer mir, von dieser „unausstehlichen Wirklichkeit" — wie ich sie mit Einem Male sah — Abschied zu nehmen. — Daß er, alt geworden, sich verwandelte, geht mich nichts an: fast alle Romantiker dieser A r t enden unter dem Kreuze — ich liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h. einen rechtschaffnen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr freien Menschen, erfunden hat. Seither hat er noch, aus dem bescheidenen Winkel seiner Bayreuther Blätter heraus, genugsam zu verstehen gegeben, wie hoch er das Blut des Erlösers zu schätzen wisse, und — man hat ihn verstanden. Viele Deutsdie, viele reine und unreine Thoren aller A r t glauben seitdem erst an R(ichard) W(agner) als ihren „Erlöser". Dies geht mir Alles wider den Geschmack. — Es versteht sich von selber, daß ich Niemandem so leicht das Recht zugestehe, diese meine Schätzung zur seinigen zu machen, und allem unehrerbietigem Gesindel, wie es am heutigen Leibe der Gesellschaft gleich Läusen wimmelt, soll es gar nicht erlaubt sein, einen solchen großen Namen, wie derR°7] Der Gesetzgeber der Zukunft.

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Nachgelassene Fragmente

Charakteristik Europa's als verfallen. Jahrmarkt. Die große Ebbe seit Jahrtausenden in der Erfindung von Werthen. Meine zeitweilige Ermuthigung durch die Musik: was ich unter „dionysisch" verstand. R ( i d i a r d ) W. Die Loslösung von der Moral. Pessimismus zu Ende denken und ebenso den Optimismus. Die Deutschen. Hartmann Dühring Bismarck RXidiard) W 34[2o8]

N B . „ D e r K a m p f um's Dasein" — das bezeichnet einen Ausn a h m e z u s t a n d . D i e Regel ist vielmehr der K a m p f um M a c h t , um „Mehr" und „Besser" und „Schneller" und „ ö f ter". 34[209] diese unsere Welt v o n heute, unser Zeitalter des großen Bumbum, welches, mit seinem Jahrmarkts-Gesdimack, selbst an Ereignissen das Ungeheure, Lärmende gelten läßt und schließlich — solche Ereignisse hervorbringt 34[2io] Giebt es denn ein 19. Jahrhundert? Oder nicht vielmehr ein verdünntes verdummtes und schrecklich in die Länge gezogenes achtzehntes? Was ist denn Großes geschehen, und geschaffen, was nicht v o r 1800 geschehen und geschaffen ist? Obschon manche Frucht, die im 18. Jahrhundert wuchs und reifte, erst in diesem vom Baum gefallen ist. Nehmt die französische Revolution und

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34[207—212]

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Napoleon hinweg aus der Politik — damit nehmt ihr die Demokratie und die , den französischen Sensualismus und Hedonismus, nebst deutsch-englischem Scepticismus, aus der Philosophie 34l>"] Der mächtige Nachklang der tragischen Ereignisse jener französischen Generation der dreißiger und vierziger Jahre, zu der auch, mit richtigem Instinkt, sich Richard Wagner gesellt, jene prachtvolle und krankhafte Art von Unersättlichen, welcher Beethoven in Tönen Byron in Worten präludirte: die Wirkung des Ungeheuren auf MI7] NB. W i r stehen mitten drin zu entdecken, daß der Augenschein und die nächste beste Wahrscheinlichkeit am wenigsten Glauben verdienen: überall lernen w i r die Umkehrung: z . B . daß die geschlechtliche Zeugung im Reiche alles Lebendigen nur der Ausnahmefall ist: daß das Männchen im Grunde nichts m e h r als ein entartetes verkommenes Weibchen ist: — oder daß alle Organe an thierischen Wesen ursprünglich andere Dienste geleistet haben als die, auf Grund deren w i r sie „Organe" nennen: überhaupt daß alles anders entstanden ist als seine schließliche V e r w e n d u n g zu vermuthen giebt. Die Darstellung dessen, was i s t , lehrt noch nichts über seine Entstehung: und die Geschichte der Entstehung lehrt noch nichts über das, was da ist. Die Historiker aller Art täuschen sich darin fast allesammt: weil sie vom Vorhandenen ausgehn und rückwärts blicken. Aber das Vorhandene ist etwas N e u e s und ganz und gar nicht E r s c h l i e ß b a r e s : kein Chemiker könnte voraussagen, was aus zwei Elementen bei ihrer Einigung w ü r d e , wenn er es nicht schon w ü ß t e ! 34[2i8] NB. Es ist gar nicht möglich, daß ein Mensch nicht die Eigenschaften seiner Eltern und Voreltern habe: was auch der Augenschein dagegen sagt. Gesetzt man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein S c h l u ß auf das Kind erlaubt: so wird z. B. irgend eine viehische Unenthaltsamkeit, irgend ein tölpelhafter Neid — Beides zusammen macht den pöbelhaften Typus aus — auf das Kind übergehen müssen, und das Kind w i r d Mühe haben, solche Vererbung zu verhehlen. Daß das Talent zum Schauspieler in den Menschen niederer Abkunft größer ist, als bei Vornehmen: und ebenso die Tartüfferie der „Tugend". 34[2i9] Jenen oberflächlichen und tölpelhaften Gelehrten, welche un-

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Nachgelassene Fragmente

verschämt genug sind, sich als „freie Geister" zu fühlen, gilt alles als Feigheit oder Verrath an der Wahrheit, Schwächlichkeit des Willens, was zur Krankheits-Geschichte der höheren Menschen gehört: jenes Sich-Unterwerfen, Vor-sich-Furcht-haben 34[220] Die christlichen Gefühle mit der griechischen Schönheit und womöglich noch mit dem modernen Parlamentarismus zu v e r s ö h n e n — das was sich heute etwa in Rom „Philosophie" nennt. — Dazu ist viel Feinheit im Kopfe nöthig und andererseits viel mehr Schwärmerei. 34l>"] Das Beste, was Deutschland gegeben hat, k r i t i s c h e Z u c h t — Kant, F. A. Wolf, Lessing, Niebuhr usw. Abwehr des Scepticismus. — Strenger und beherzter Muth, die Sicherheit der Hand, welche das Messer führt, Lust am Neinsagen und Zergliedern. G e g e n b e w e g u n g : die Romantik, mit Richard Wagner als letztem Romantiker (pathetisch, 34[222] NB. Die Verschiedenheit der Menschen ist bisher so groß. Die Urtheile, welche ich in meinem ganzen Leben über Menschen gehört habe, die ich kannte, lagen gewöhnlich so weit von dem ab, was ich bei mir selber für wahr hielt, daß ich endlich für meinen Hausgebraudi die Maxime machte: „es ist indiscret, über Menschen n i c h t zu lügen". Sonderlich macht es mir Verdruß, daß etwas, dessentwegen mir ein M(ensdi) gefällt, sobald ich es mit Namen nennen wollte, sofort auch seinem „Rufe" Schaden bringen würde. 34["3] NB. Grundsatz: es giebt etwas von Verfall in allem, was den modernen Menschen anzeigt: aber dicht neben der Krankheit

A p r i l — J u n i 1885

34[219—227]

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stehen Anzeichen einer unerprobten Kraft und Mächtigkeit der Seele. D i e s e l b e n G r ü n d e , w e l c h e d i e V e r k l e i n e rung der Kleinlichen h e r v o r b r i n g e n , treiben die S t ä r k e r e n und S e l t e n e r e n bis h i n a u f zur Größe. 34[224] Oh Teufel über das Gequak! Die Deutschen prahlen wieder einmal mit ihrer berühmten „deutschen Tugend", von der die Historie schlechterdings nichts weiß. Am schlimmsten treiben es einige Antisemiten, hinzugezählt was am Sumpfe des Bayreuther Meisters sitzen geblieben ist. 34["$] Wahlspruch: ich habe keine Zeit für mich, — vorwärts! 34[226] NB. S p h i n x . Reduktion auf das Urtheil: „dies ist nicht wahr". Folgt der Imperativ: „folglich d a r f s t du es nicht für wahr halten!" Oder heißt es wirklich: „folglich k a n n s t du es nicht mehr für wahr halten"? — N u n sehen wir fortwährend z.B. den SonnenAuf- und Untergang und glauben, was wir als unwahr wissen. Ganz so steht es überall. Ein „du d a r f s t nicht" wäre ein Imperativ, der das Leben verneinte. Folglich muß man betrügen und sich betrügen lassen. 34[227] Jenen R W(agner), welchen man heute in Deutschland verehrt und mit all dem prahlerischen Plunder der schlimmsten Deutschthümelei verehrt: jenen RXichard) W34i] N B . Wie viele falsche A u s d e u t u n g e n der Dinge hat es schon gegeben! Man erwäge, was alle Menschen sidi vom Verband der Ursachen und Wirkungen denken müssen, welche b e t e n : denn Niemand wird uns überreden, aus dem Gebet das Element „Bitte" und den Glauben, daß es S i n n hat zu bitten, daß es „erhört" werden könne — wegzustreichen. Oder jene andere Ausdeutung, in der die Schicksale eines Menschen ihm „geschickt" sind zu seiner Besserung, Ermahnung, Bestrafung, Warnung; oder jene dritte Ausdeutung, daß im Verlaufe der Dinge selber Recht und Gerechtigkeit liege, und hinter allem causalen Geschehen noch eine Art von kriminalistischem Hinter-Sinn. — So könnte auch die gesammte m o r a l i s c h e ) Ausdeutung u n s e r e s H a n d e l n s nur ein ungeheures Mißverständniß sein: wie es ganz ersichtlich die moraKische) Ausdeutung alles natürlichen Geschehens gewesen ist. 34l>4*] Ein rechtlicher besonnener mildherziger tüchtiger M(ensch), ein Mann mit dem „Herzen am rechten Flecke" — es thut uns wohl, in seiner Nähe zu sein. Aber warum sollte dieser u n g e f ä h r l i c h e M(ensch), welcher uns wohlthut, mehr für uns werth sein, als der gefährliche, unerkennbare, unberechenbare, welcher uns zwingt auf der Hut zu sein? Unser Wohlgefühl beweist nichts. Frage: ob es unter den g r o ß e n M(enschen) je einen von der geschilderten ungefährlichen Art gegeben hat? 34l>43] N B . Der Mensch der höchsten Geistigkeit und Kraft fühlt sich jedem Zufalle gewachsen, aber auch ganz in den Schneeflocken

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der Zufälle darin; er leugnet die Vernünftigkeit in jedem Nacheinander und zieht das Zufällige daran mit Spott ans Lidit. — Ehemals glaubte man nur an Zwecke: es ist eine Vertauschung eines Irrthums mit einem anderen, daß man heute nur an causae 5 efficientes glaubt. Es giebt weder causae finales, noch efficientes: in Beidem haben wir einen falschen Schluß aus einer falschen Selbstbeobachtung gemacht: i) wir glauben, durch Willen zu wirken 2) wir glauben mindestens, zu w i r k e n . Freilich: ohne diesen Glauben gäbe es nichts Lebendiges: braucht er deshalb aber 10 schon — wahr zu sein? 34l>44]

N B . „ E r k e n n e n " ist der Weg, um es uns zum Gefühl zu bringen, daß wir bereits etwas w i s s e n : also die B e k ä m p f u n g eines G e f ü h l s von etwas Neuem und V e r w a n d l u n g des a n s c h e i n e n d N e u e n in e t w a s 15 A l t e s . 34045] „die Verbrecher höchsten Ranges sind dem Capitol ebenso nahe als dem tarpejischen Felsen" hat, glaube ich, Mirabeau gesagt.

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34046] Das Leben als ein wacher T r a u m ; je feiner und umfänglidier ein Mensch ist, um so mehr fühlt er die ebenso schauerliche als erhabene Zufälligkeit in seinem Leben, Wollen, Gelingen, Glück, Absicht heraus; er schaudert, wie der Träumer, der einen Augenblick fühlt „ich träume". Der Glaube an die causale Necessität der Dinge ruht auf dem Glauben, daß w i r wirken; sieht man die Unbeweisbarkeit des Letzteren ein, so verliert man etwas den Glauben an jenes Erste. Es kommt hinzu, daß „ E r scheinungen" unmöglich Ursachen sein können. Ein ungewohntes Ding zurückzuführen auf schon gewohnte Dinge, das Ge-

A p r i l — J u n i 1885 34 [ 2 4 3 — 2 4 7 ]

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fühl der Fremdheit zu verlieren — das g i l t unserem Gefühl als E r k l ä r e n . Wir wollen gar nicht „erkennen", sondern nicht im Glauben gestört werden, daß wir bereits w i s s e n .

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IO

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34[>47] Etwas kann unwiderlegbar sein: deshalb ist es noch nicht wahr. Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in den Erfahrungen außer sich heraus setzen, als ihre A u ß e n w e l t . Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten Erfinden Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit: von sich selber haben sie natürlich ebenfalls nur eine solche falsche erdichtete vereinfachte Vorstellung. „Ein Wesen mit der Gewohnheit zu einer Art von Regel im Traume" — das ist ein lebendiges Wesen. Ungeheure Mengen solcher Gewohnheiten sind schließlich so hart geworden, daß auf ihnen hin G a t t u n g e n leben. Wahrscheinlich stehen sie in einem günstigen Verhältniß zu den Existenz-Bedingungen solcher Wesen. Unsere Welt als S c h e i n , I r r t h u m — aber wie ist Schein und Irrthum möglich? (Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen.) Das Schöpferische in jedem organischen Wesen, was ist das? — daß alles, das, was jedem seine „Außenwelt" ist, eine Summe von Werthschätzungen darstellt, daß grün, blau, roth, hart, weich, vererbte W e r t h s c h ä t z u n g e n u n d d e r e n A b z e i c h e n sind. — daß die Werthschätzungen in irgend einem Verhältniß zu den Existenzbedingungen stehn müssen, doch lange nicht so, daß sie w a h r wären, oder p r ä c i s wären. Das Wesentliche ist

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gerade ihr Ungenaues Unbestimmtes, wodurch eine Art V e r e i n f a c h u n g d e r A u ß e n w e l t entsteht — und gerade diese Sorte von Intelligenz ist günstig zur Erhaltung. — daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische 5 Welt führt, oder vielmehr, daß es keine unorganische Welt giebt. Die „Wirkung in die Ferne" ist nicht zu beseitigen: e t w a s zieht etwas anderes heran, etwas fühlt sich g e z o g e n . Dies ist die Grundthatsache: dagegen ist die mechanistische Vorstellung von Druck und Stoß nur eine Hypothese auf Grund des A u g e n s c h e i n s und d e s T a s t g e f ü h l s , mag sie uns als eine regulative Hypothese für die Welt des Augenscheins gelten! — daß, damit dieser Wille zur Macht sich äußern könne, er jene Dinge wahrnehmen muß, welche er zieht, daß er f ü h l t , [ 5 wenn sich ihm etwas nähert, das ihm assimilirbar ist. — die angeblichen „Naturgesetze" sind die Formeln für „Machtverhältnisse" von

20

Die mechanistische Denkweise ist eine Vordergrunds-Philosophie. Sie erzieht zur Feststellung der Formeln, sie bringt eine große Erleichterung mit sich,

— die verschiedenen philosophischen Systeme sind als E r z i e h u n g s m e t h o d e n des Geistes zu betrachten: sie haben immer eine besondere Kraft des Geistes am besten a u s g e b i l d e t ; mit ihrer einseitigen Forderung, die Dinge gerade 2 5 so und nicht anders zu sehen. 34(248]



Dionysos. Dionysos Dionysos Dionysos Dionysos

als als als als

Erzieher. Betrüger. Vernichter. Schöpfer.

April—Juni 1885 34[247—250]

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34l>49] Das Muster einer vollständigen F i c t i o n ist die Logik. Hier wird ein Denken e r d i c h t e t , wo ein Gedanke als U r sache eines anderen Gedankens gesetzt wird; alle Affekte, alles Fühlen u n d Wollen wird hinweg gedacht. Es k o m m t dergleichen in der Wirklichkeit nicht vor: diese ist unsäglich anders complicirt. Dadurch daß wir jene Fiction als S c h e m a anlegen, also das thatsächliche Geschehen beim Denken gleichsam durch einen Simplifications-Apparat f i 11 r i r e n : bringen wir es zu einer Z e i c h e n s c h r i f t und M i t t h e i l b a r k e i t und M e r k b a r k e i t der logischen Vorgänge. Also: das geistige Geschehen zu betrachten, w i e a l s o b es d e m S c h e m a j e n e r r e g u l a t i v e n F i k t i o n e n t s p r ä c h e : dies ist der G r u n d w i l l e . W o es „Gedächtniß" giebt, hat dieser Grundwille gewaltet. — In der Wirklichkeit giebt es kein logisches Denken, und kein Satz der Arithmetik und Geometrie kann aus ihr genommen sein, weil er gar nicht v o r k o m m t . Ich stehe anders zur Unwissenheit und Ungewißheit. Nicht, daß etwas unerkannt bleibt, ist mein Kummer; ich f r e u e m i c h , daß es vielmehr eine A r t von Erkenntniß geben k a n n und bewundere die Complicirtheit dieser Ermöglichung. Das Mittel ist: die Einführung vollständiger Fictionen als Schemata, nach denen wir uns das geistige Geschehen einfacher denken als es ist. Erfahrung ist nur möglich mit H ü l f e von Gedächtniß: Gedächtniß ist nur möglich vermöge einer Abkürzung eines geistigen Vorgangs zum Z e i c h e n . Die Zeichenschrift. E r k l ä r u n g : das ist der Ausdruck eines neuen Dinges vermittelst der Zeichen von schon bekannten Dingen. 34l>5°] D a ß wir w i r k e n d e Wesen, K r ä f t e sind, ist unser Grundglaube. Frei: h e i ß t „nicht gestoßen und geschoben, ohne Zwangsgefühl".

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Nachgelassene Fragmente

NB. Wo wir einem Widerstand begegnen und ihm nachgeben müssen, fühlen wir uns u n f r e i : wo wir ihm nicht nachgeben sondern ihn zwingen, uns nachzugeben, f r e i . D. h. es ist das G e f ü h l u n s e r e s Mehr v o n K r a f t , welches wir mit „Freiheit des Willens" bezeichnen, das Bewußtsein davon, daß unsere Kraft z w i n g t im Verhältniß zu einer Kraft, welche gezwungen wird. 34l>5i] Im Wollen ist ein Affekt. 34l>*2] Erkenntniß: die Ermöglichung der E r f a h r u n g , dadurch daß das wirkliche Geschehen, sowohl auf Seiten der einwirkenden Kräfte, als auf Seiten unserer gestaltenden, ungeheuer vereinfacht wird: s o d a ß es ä h n l i c h e u n d g l e i c h e D i n g e z u g e b e n s c h e i n t . E r k e n n t n i ß i s t Fälschung d e s Vielartigen und U n z ä h l b a r e n zum Gleichen, Ä h n l i c h e n , A b z ä h l b a r e n . Also ist L e b e n nur vermöge eines solchen F ä l s c h u n g s - A p p a r a t e s möglich. Denken ist ein fälschendes Umgestalten, Fühlen ist ein fälschendes Umgestalten, Wollen ist ein fälsdiendes Umgestalten —: in dem Allen liegt die Kraft der Assimilation: welche voraussetzt einen Willen, etwas u n s gleich zu machen. 34l>53] W a h r h e i t i s t d i e A r t v o n I r r t h u m , ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Werth für das Leben entscheidet zuletzt. Sehr gemeine und tugendhafte M(ensdien) 34l>54] Ich habe ihn geliebt und Niemanden sonst. Er war ein Mensch nach meinem Herzen, so unmoralisch, atheistisch, anti-

April—Juni 1885

34[250—256]

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nomistisdi, welcher einsam lief und nie daran glauben mochte, daß 34 [ 2 5 5 ] N B . Eine neue Denkweise — welche immer eine neue Meßweise ist und das Vorhandensein eines neuen Maaßes, einer neuen Empfindungs-Scala voraussetzt, welche immer ein ächter GKaube) ist — will sich durchsetzen und sagt mit ihrem Feuer der ersten Liebe zu allem, was ihr widerstrebt: „das ist falsch". In diesem Kampfe verfeinert sie sich, lernt sich vertheidigen und hat nöthig, um zu besiegen, dem Gegner seine Waffen abzulisten und seine Kunst abzulernen. „Das ist falsch" heißt ursprünglich „ich glaube nicht daran"; noch feiner zugesehn „ich fühle nichts daran, ich mache mir nichts daraus". 340sf] Ich habe manche nicht unbedenkliche Versuche gemadit, um mir Menschen heranzulocken, denen ich von so seltsamen Dingen reden könnte: alle meine Schriften waren bisher ausgeworfene Netze: ich wünschte Menschen mit tiefen reichen und ausgelassenen Seelen mir dazu einzufangen. An wen sich wenden? Meinen längsten Versuch machte ich an jenem vielfachen und geheimnivollen Menschen, dem vielleicht von den Menschen dieses Jahrhunderts die meisten guten und schlimmen Dinge über die Seele gelaufen sind, anR W(agner). Später gedachte ich die deutsche Jugend zu „verführen" — denn es ist mir gut bekannt, wie gefährlich es in den Zwanziger Jahren in einem Deutschen zugeht. Noch später machte ich mir eine Sprache für verwegene Mannsköpfe und Mannsherzen zurecht, die irgendwo in einem Winkel der Erde auf meine wunderlichen Dinge warten mochten. Endlich — doch man wird es nicht glauben, zu welchem „endlich" ich gelangte. Genug, ich erdichtete „Also sprach Zarathustra".

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Soll ich es gestehen? Ich fand Keinen bisher, aber immer wieder irgend eine wunderliche Form jener „rasenden Dummheit", welche sich gern noch als T u g e n d anbeten lassen möchte: ich nenne sie am liebsten „die moralische Tartüfferie", ehre sie 5 als das Laster unseres Jahrhunderts und bin bereit, ihr noch hundert Fluchworte beizugesellen. 34l>5 7] Tiefe und ferne M(enschen) haben ihre Vordergründe: und zu Zeiten haben sie nöthig, sich zu geben, als ob sie nur Vordergrund wären. 34 [2 5 8 ] 10 Einsam inmitten guter Freunde und getreuer Nachbarn, lächelnd und erstaunt über ihre „rasende Dummheit", über das zudringliche Wohlwollen. 34l>5 9] Tiefe und ausgelassene Geister!

[ 3 5 = W I 3a.

M a i — J u l i 1885]

3 5 [1 ] Ein Moralist ist das Gegenstück eines Moral-Predigers: nämlich ein Denker, welcher die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt. Ich bedaure hinzufügen zu müssen, daß der Moralist, eben deshalb, selber zu den fragwürdigen Wesen gehört. 35t 2 ] Der historische Sinn: die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch lebt —, die Beziehung dieser Werth-Schätzungen zu den Lebens-Bedingungen, das Verhältniß der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte (das vermeintliche meistens noch mehr als das wirkliche): dies Alles in sich n a c h b i l d e n können macht den historischen Sinn. 3*[3] Manche der aesthetischen Werthschätzungen sind fundamentaler als die moralischen z. B. das Wohlgefallen am Geordneten, Übersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung —, es sind die Wohlgefühle aller organischen Wesen im Verhältniß zur Gefährlichkeit ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernährung. Das Bekannte thut wohl, der Anblick von etwas, dessen man sich

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leicht zu b e m ä c h t i g e n hofft, thut wohl usw. Die logischen, arithmetischen und geometrischen Wohlgefühle bilden den Grundstode der aesthetischen Werthschätzungen: gewisse Lebens-Bedingungen werden als so wichtig gefühlt, und der Widerspruch der Wirklichkeit gegen dieselben so häufig und groß, daß Lust entsteht beim Wahrnehmen solcher Formen. 35 W Die Verfeinerung der Grausamkeit gehört zu den Quellen der Kunst. 35 C5] Moral ist die Lehre von der Rangordnung der Mensdien, und folglich auch von der Bedeutsamkeit ihrer Handlungen und Werke f ü r diese Rangordnung: also die Lehre von den menschlichen Werthschätzungen in Betreff alles Menschlichen. Die meisten Moral-Philosophen stellen nur die gegenwärtige herrschende Rangordnung dar; Mangel an historischem Sinn einerseits, andrerseits sie werden selber von der Moral beherrscht, welche das Gegenwärtige als das Ewig-Gültige lehrt. Die unbedingte Wichtigkeit, die blinde Selbstsucht, mit der sich jede Moral behandelt, will, daß es nicht v i e l e Moralen geben könne, sie will keine Vergleichung, auch keine Kritik: sondern unbedingten Glauben an sich. Sie ist also im Wesen antiwissenschaftlich — und der vollkommene Moralist müßte schon deshalb u n m o r a l i s c h sein, jenseits von Gut und Böse. — Aber ist Wissenschaft dann noch m ö g l i c h ? Was ist das Suchen nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, wenn nicht etwas Moralisches? Und ohne diese Werthschätzungen und ihre entsprechenden Handlungen: wie wäre Wissenschaft möglich? Die Gewissenhaftigkeit im Wissen weg — wohin ist die Wissenschaft? Ist Scepsis der Moral nicht ein Widerspruch, insofern die höchste Verfeinerung der moralischen Ansprüche hier gerade aktiv ist: sobald der Sceptiker diese feineren Werthabschätzungen des

Mai—Juli 1885 3 5 [ 3 — 9 ]

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Wahren nicht mehr als maaßgebend fühlt, so hat er keinen Grund mehr zu zweifeln und zu forschen: e s m ü ß t e d e n n der W i l l e zum Wissen noch eine ganz andere W u r z e l haben als die W a h r h a f t i g k e i t . — 35[6] „ S e e l e " : zur Bezeichnung eines Systems von Werthschätzungen und W e r t h a f f e k t e n — 35 [ 7 ] Wenn Philosophen unter sich zusammenkommen, so fangen sie damit an, vielen schönen Plunder von sich zu werfen; vor allem, sie nennen sich nicht mehr „Philosophen" und hängen „die Liebe zur Weisheit" wie eine steife Amtstracht und Maskerade an den Nagel. „ W i r s i n d Freunde des Mißtrauens, so sagen sie zu einander, w i r w o l l e n u n s n i c h t b e t r ü g e n lassen. Daß wir N i e m a n d e n betrügen wollen, — das soll man freilich von uns g l a u b e n , dazu müssen wir alle Welt feierlich ü b e r r e d e n . Denn unter uns geredet: 35[8]

Die S t a r k e n und die

Schwachen.

Gedanken und Gedankenstriche eines guten Europäers. 35 [9]

D i e s e g u t e n E u r o p ä e r , die wir sind: was zeichnet uns vor den Menschen der Vaterländer aus? Erstens: wir sind Atheisten und Immoralisten, aber wir unterstützen zunächst die Religionen und Moralen des HeerdenInstinktes: mit ihnen nämlich wird eine Art Mensch vorbereitet, die einmal in unsere Hände fallen muß, die nach unserer Hand b e g e h r e n muß.

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Jenseits von Gut und Böse, aber wir verlangen die unbedingte Heilighaltung der Heerden-Moral. Wir behalten uns viele Arten Philosophie vor, welche zu lehren noth thut: unter Umständen die pessimistische, als Hammer; ein europäischer Buddhismus könnte vielleicht nicht zu entbehren sein. Wir unterstützen wahrscheinlich die Entwicklung und Ausreifung des demokratischen Wesens: es bildet die Willensschwäche aus: wir sehen im „Socialism" einen Stachel, der vor der Bequemlichkeit Stellung zu den Völkern. Unsere Vorlieben; wir geben Acht auf die Resultate der Kreuzung. Abseits, wohlhabend, stark: Ironie auf die „Presse" und ihre Bildung. Sorge, daß die wissenschaftlichen Menschen nicht zu Litteraten werden. Wir stehen verächtlich zu jeder Bildung, welche mit Zeitungslesen oder gar -schreiben sich verträgt. Wir nehmen unsere zufälligen Stellungen (wie Goethe, Stendhal) unsere Erlebnisse als Unterkunfts-Hütten, wie sie ein Wanderer braucht und hinnimmt — wir hüten uns, heimisch zu werden. Wir haben eine disciplina voluntatis vor unseren Mitmenschen voraus. Alle Kraft verwendet auf E n t w i c k l u n g d e r W i l l e n s - k r a f t , eine Kunst, welche uns erlaubt, Masken zu tragen, des Verstehens j e n s e i t s der Affekte (auch „übereuropäisch" denken zeitweilig) Vorbereitung dazu, die Herren der Erde zu werden: der Gesetzgeber der Zukunft. Zum Mindesten aus unseren Kindern. Grundrücksicht auf die Ehen. 35[i°] Dieselben Bedingungen, welche die Entwicklung desHeerdenthieres vorwärts treiben, treiben auch die Entwicklung des Führer-Thiers.

Mai—Juli 1885 35[9—15]

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35[n] Bei der „Emancipation des Weibes" wollen die Weiber, welche nicht zu Gatten und Kindern kommen, die G e s a m m t s t e l 1 u n g des Weibes zum Manne wesentlich beeinflussen d. h. die m i ß r a t h e n d e n Elemente (welche der Z a h l nach ü b e r a l l im Übergewicht sind) wollen die Stellung der A r t ändern d. h. zu Gunsten der Zahl soll die Qualität der Art verringert werden. (Man denke nur über die Eine Consequenz nach: daß nun auch die h ä ß l i c h e n Weiber die Befriedigung ihrer Triebe durch die Männer v e r l a n g e n — der unbewußt treibende G r u n d dieser Bewegung) Oder, bei der G(eorge) Sand, die nie Männer genug hatte und die, welche sie hatte, bald satt bekam. 3$["] Der Unsinn der größten Zahl als der größten Vernunft zeigt sich am verhängnißvollsten, wenn man erwägt, in wiefern Alles Gute, Wohlgerathene, Glückliche, Geistig-Geistliche auf Erden, kurz alles, wodurch das durchschnittliche Mißrathen und Mißwollen 35[i3l Europa ist zuletzt ein Weib: und die Fabel lehrt, daß so ein Weib sich unter Umständen von gewissen Thieren fortschleppen läßt. Ehemals, zur Zeit der Griechen, war's ein Stier. Heute — der Himmel behüte mich, das Thier zu nennen. 3 5 C14Ü Was sind diese guten Europäer, von denen du redest und noch mehr schweigst als redest? Was zeichnet sie vor uns, den guten Vaterländlern, aus? 3S[iS] Zum Plan. E i n l e i t u n g , i. die organischen Funktionen zurückübersetzt in den Grundwillen, den Willen zur Macht, — und aus ihm abgespaltet.

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2. denken, fühlen, wollen in allem Lebendigen — was ist eine Lust anders als: eine Reizung des Machtgefühk durch ein Hemmniß (nodi stärker durdi rhythmische Hemmungen und Widerstände) — so daß es dadurch anschwillt. 5 Also in aller Lust ist Schmerz einbegriffen. — Wenn die Lust sehr groß werden soll, müssen die Schmerzen sehr lange, und die Spannung des Bogens ungeheuer werden. 3. der Wille zur Macht sich spezialisirend als Wille zur N a h rung, nach Eigenthum, nach W e r k z e u g e n , nach Die10 nern — Gehorchen und Herrschen: der Leib. — der stärkere Wille dirigirt den schwächeren. Es giebt gar keine andere Causalität als die von Wille zu Wille. Es ist bisher noch gar keine mechanistische 4. die geistigen Funktionen. Wille zur Gestaltung, zur A n ähnlichung usw. A n h a n g . Die grossen Missverständnisse der Philosophen.

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35[I6] Man möchte vielleicht einmal versucht sein, die Frage aufzuwerfen ob sich nicht alle großen Menschen unter die bösen Menschen rechnen lassen.

35[i7] Der Mensch, in welcher Lage er auch sich befinden möge, braucht eine Art Werthschätzungen, vermöge deren er seine Handlungen, Absichten und Zustände v o r sich selber und namentlich vor seiner Umgebung rechtfertigt d . h . s e l b s t - v e r 25 h e r r l i c h t . Jede natürliche Moral ist der Ausdruck der Zufriedenheit einer A r t von Menschen mit sich selber: und wenn man Lob nöthig (hat), hat man auch eine ü b e r e i n s t i m m e n d e Werthtafel nöthig, auf der die Handlungen am höchsten geschätzt sind, deren wir am fähigsten sind, worin unsere 3° eigentlich K r a f t sich ausdrückt. Wo unsere K r a f t ist, damit wollen w i r auch gesehn und geehrt werden.

M a i — J u l i 1885 3 5 [ 1 5 — 2 0 ]

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3J[I8]

(50) Ob man nicht ein Recht hat, alle g r o ß e n Menschen unter die b ö s e n zu rechnen? Im Einzelnen ist es nicht immer aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckspielen mögJ lieh gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit — dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehn. Manche verstanden sich selber falsch, als sie nicht selten io fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus z.B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensdi, d e r B o g e n m i t * $ d e r g r o ß e n S p a n n u n g , entsteht 35[i9]

Man muß sich los machen von der Frage: was ist gut? was ist mitleidig? — sondern „was ist d e r Gute, der Mitleidige?" fragen. 35[20] Eine M o r a l w a r b i s h e r zu a l l e r e r s t der 20 A u s d r u c k eines conservativen Willens zur Z ü c h t u n g e i n e r g l e i c h e n A r t , mit dem Imperativ: „Es soll allem Variiren vorgebeugt werden; es soll der Genuß an der Art allein übrig bleiben". Hier werden eine Anzahl von Eigenschaften lange f e s t gehalten und g r o ß g e z ü c h t e t , 25 und andere geopfert; alle solche Moralen sind h a r t (in der Erziehung, in der Wahl des Weibes, überhaupt gegen die Rechte der Jugend) Menschen mit wenigen, aber sehr starken und immer gleichen Zügen sind das Resultat. Diese Züge stehen in Be-

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ziehung zu den Grundlagen, auf denen solche Gemeinwesen sich durchsetzen und gegen ihre Feinde behaupten können. A u f Ein Mal reißt das Band und der Zwang einer solchen Zucht (— es giebt zeitweilig keine Feinde mehr — ) : das Indi5 viduum hat keine solchen Schranken mehr, es schießt wild auf, ein ungeheures Zugrundegehn steht neben einem herrlichen, vielfachen, urwaldhaften Emporwachsen. Es entsteht für die neuen Menschen, in welche jetzt das V e r s c h i e d e n s t e vererbt wird, eine Nöthigung, sich selber eine i n d i v i d u e l l e G e io s e t z g e b u n g zu machen, angemessen für ihre absonderlichen Bedingungen und G e f a h r e n . Es erscheinen die Moral-philosophen, welche gewöhnlich irgend einen häufigeren Typus darstellen und mit ihrer disciplina einer bestimmten Art von Mensch Nutzen schaffen. 3$[«] Ich habe meinen Geist und (meine) Mühe auf Fragen verschwendet, wie: was ist gut? was ist schlecht? — Jeder dieser Philosophen nahm sich als typischen Menschen und wollte s i c h gegen alle anders Gearteten durchsetzen: sie treten in den K a m p f mit diesem ihrem Glauben an ihr Ideal. Auch ihre Moral ist die 20 der S e l b s t - Z u f r i e d e n h e i t , aber des Individuums. 15

35[«] M a n weiß aus den Erfahrungen der Züchter, daß Arten, denen ein Ü b e r m a ß von N a h r u n g und jede A r t Sorgfalt und Schutz zu Theil wird, in der stärksten Weise zur Variation des T y p u s neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch 25 an m ( o n s t r ö s e n ) Lastern) sind. N u n sehe m a n einmal eine Aristokratie als eine Veranstaltung z u m Zweck der Züchtung an: lange Zeit fehlt jenes Ü b e r m a a ß der günstigen Bedingungen, sie hat N o t h , sich überhaupt durchzusetzen, sie hat beständige G e f a h r u m sich, Furcht festzuhalten. D a z u fühlt sie 3 ° als nothwendig, daß eine bestimmte A r t von Eigenschaften

Mai—Juli 1885 35[20—22]

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(Tugenden) vor allen und zuoberst erhalten werden muß: sie u n t e r d r ü c k t zu Gunsten dieser Tugenden alle übrigen, sie führt diese Tugenden als Existenzbedingungen. Endlich entsteht eine Glückslage, der große Zwang ist nicht mehr nöthig: und sofort tritt, in dem Treibhaus ihrer Cultur, e i n e u n g e h e u r e M e n g e v o n V a r i e t ä t e n und Monstren (Genie's eingerechnet) auf: mitunter geht an deren K a m p f e das Gemeinwesen zu Grunde. Die A r t - V a r i e t ä t e n (als Abartung, theilweise Entartung) treten auf, wo günstige Bedingungen des Lebens da sind: die Art selber aber tritt auf, wird f e s t und s t a r k unter dem langen K a m p f mit immer gleich ungünstigen B e d i n gungen). Die Sorge für die E r h a l t u n g der Art, ihrer treuen Wiederholung, ihrer wesentlichen Gleichförmigkeit ist eingegeben durch Liebe für diese Art, Bewunderung derselben durch Vergleichung mit ihrer Umgebung, also Z u f r i e d e n h e i t damit: Grundlage aller Aristokratien, man ist glücklich in seiner Art und will s i c h s e l b e r fortsetzen durch gleiche Nachkommenschaft: aber man muß auf dieser Stellung erhalten werden durch beständig wiederkehrende Gefährdung, und durch den Vergleich mit nahen, niedriger stehenden Wesen. Der Gedanke an einen „Fortschritt" und ebenso der Gedanke an „gleiche Rechte Aller" muß fehlen: Erhaltung des Typus, G e n u ß aller t y p i s c h e n Züge und sonst Widerwille (auch gegen alles Fremde) möglichst den Vorfahren g l e i c h e n als dirigirende Moral: Trauer beim Gedanken der Veränderung und Varietät. N u n aber giebt es leidende, unterdrückte, halb mißrathende, kranke mit sich unzufriedene Arten: wenn auch sie nach Lehrern, Tröstern und gleichsam Ärzten dürsten, wenn auch sie sich eine Moral schaffen: wonach werden sie am liebsten greifen und verlangen? Vor allem nicht nach Erhaltung ihrer leidenden Art, oder ihrer Zustände. Sondern „ f o r t d a v o n ! U n d lieber Tugend wo anders hin!" Im Ganzen wird ihre Moral sich also wie

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eine Art Selbst-Verneinung — — — andererseits ihre liebste Praxis wird die „Selbstlosigkeit", der Ekel vor sich, die Abkehr vom Egoistischen — ihr großer Haß wendet sich gegen die Glücklichen, Stolzen, Siegreichen! Daneben die Entzückungen des Gefühls, welche in der Hingebung, Aufopferung, im Vergessenseiner-selber, in der Liebe liegen: von der hündischen Schwanzwedelei des Sclaven bis hinauf zur mystischen „Vereinigung mit Gott". Thatsächlich wird so eine Art von Leidenden und Halbgerathenden i m L e b e n e r h a l t e n , und gewissermaaßen l e b e n s f ä h i g gemacht: und indem sie Anpassung an Einander vor allem lernt, entsteht ein n i e d r i g e r e r , aber lebensfähigerer Typus. Zum Beispiel der jetzige Europäer, so wie der Chinese. Die V e r k l e i n e r u n g des Menschen: aber wenn Alle ihre Kräfte Zusammenthun, werden sie über die vornehme Rasse H e r r : und da diese selber oft von ihren noblen Instinkten her zum Wegwerfen ihrer harten Existenz verführt sind (auch von ihren glücksbedürftigen Instinkten), oder selber entartet sind, so daß sie nicht mehr an sich glauben, so geschehen dann z. B. solche große Thorheiten wie die Vorspiele der französischen Revolution. Dann tritt eine Art Übergewicht der Vielzahl, folglich der geringsten Art Mensch über die Ausgesuchteren und Selteneren ein, ein demokratischer Grund-Geschmack aller Werthschätzung, bei dem zuletzt der Glaube an große Dinge und Menschen sich in Mißtrauen, endlich in Unglauben verwandelt und zur Ursache davon wird, daß das Große ausstirbt. 35 [ 2 3] Der Durst nach großen und tiefen Seelen — und immer nur dem Heerdenthier zu begegnen! 35l>4] i) ist der „Philosoph" heute noch m ö g 1 i c h ? Ist der Umfang des Gewußten zu groß? Ist die Unwahrscheinlichkeit nicht

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sehr groß, daß er nicht zum U b e r b 1 i c k kommt, und zwar je gewissenhafter er ist? Oder z u s p ä t , wenn seine beste Zeit vorbei ist? Oder beschädigt, vergröbert, entartet, so daß sein W e r t h u r t h e i l nichts mehr bedeutet? — Im andern Fall wird er zum „ D i l e t t a n t e n " mit tausend Fühlhörnerchen und verliert das große Pathos, die Ehrfurcht vor sich selber — auch das gute feine Gewissen. Genug, er f ü h r t nicht mehr, er befiehlt nicht mehr. Wollte er es, so müßte er zum großen Schauspieler werden, zu einer A r t von philosophischem Cagliostro. 2) was bedeutet uns heute philosophisch l e b e n weise-sein? Ist es nicht fast ein Mittel, sich gut aus einem schlimmen Spiele h e r a u s z u z i e h n ? Eine A r t Flucht? U n d wer dergestalt abseits und einfach lebt, ist es wahrscheinlich, daß er damit seiner Erkenntniß den besten Weg gewiesen hat? Müßte er es nicht persönlich mit dem Leben auf 100 Arten versucht haben, um über seinen Werth mitreden zu können? Genug, w i r glauben, daß Einer ganz und gar „unphilosophisch", nach den bisherigen Begriffen, gelebt haben muß, v o r allem nicht als scheuer Tugendhafter — um über die großen Probleme aus E r l e b n i s s e n heraus zu urtheilen. Der Mensch der umfänglichsten Erlebnisse, der sie zu allgemeinen Schlüssen zusammendrängt: müßte er nicht der mächtigste Mensch sein? — Man hat den Weisen zu lange mit dem wissenschaftlichen, und noch längei mit dem religiös-gehobenen Menschen verwechselt. 3$l>5] Problem: viele Arten v o n g r o ß e n M e n s c h e n sind vielleicht n i c h t m e h r m ö g l i c h ? Z . B. der H e i l i g e . Vielleicht auch der P h i l o s o p h . Endlich das G e n i e ? Die ungeheuren Distanz-Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch haben vielleicht abgenommen? Mindestens hat das G e f ü h l dieser Distanz abgenommen, und das bringt als Wirkung eine weniger schroffe Haltung und Zucht mit sich, vermöge deren es

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Nadigelassene Fragmente

der Mensch auch nicht mehr so hoch bringt, wie ehedem. — Wir bedürfen eines neuen Begriffs der G r ö ß e des Menschen; welcher wir fähig sind, und von der die Meisten von uns tief abgetrennt sind. Voilà: diese demokratische Welt verwandelt Je5 den in eine S p e c i a l i t ä t , a l s o ist heute Größe das U n i v e r s a 1 - s e i n. Sie schwächt den Willen, a l s o ist Stärke des Willens heute Größe. S i e entwickelt das Heerdenthier, also gehört Alleinstehn und Auf-eigene-Faust-leben heute zur Größe zu rechnen. Der umfänglichste Mensch, allein gehend, ohne Heerden-Instinkte, und mit einem unbezwinglichen Willen, welcher ihm erlaubt, viele Verwandlungen zu haben und unersättlich in neue Tiefen des Lebens zu tauchen. — Wir müssen die G r ö ß e d e s M e n s c h e n dort suchen, wo wir am wenigsten zu Hause sind. Für Zeitalter der Energie ist der sanfte entsagende 1 5 beschauliche Mensch die große A u s n a h m e ; es gehört große innere Zucht und Härte dazu, um aus einem halbwilden Thiere zu einem Socrates zu werden. Der Indifferentism des Epicur wirkt fast wie eine Verklärung. Wir kommen zu entgegengesetzten I d e a l e n : und zuerst haben wir die alten Ideale für uns selber zu zertrümmern. 35[*«]

Dionysos. Buch der Wahrsagung.

3*[27] Unsere Psychologen, deren Blick unwillkürlich nur an den Symptomen der décadence hängen bleibt, lenken immer wieder 25 unser Mißtrauen wider den Geist. 35[*8] N e u e B a r b a r e n . Man sieht immer nur die schwächenden verzärtelnden verkränkelnden Wirkungen des Geistes: aber

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es kommen nun:

DieCyniker. Die Versucher. Die Eroberer.

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Vereinigung der geistigen Überlegenheit mit Wohlbefinden und Uberschuß von Kräften.

3$[29] 5

io

15

20

25



DieEpochisten,dieEphektiker. Er bleibt gern vor offenen Problemen stehn und ist ironisch gegen die schnellen Hypothesen gestimmt; er lehnt die Art Befriedigung ab, welche das Rund-machen, das Voll-machen, das Ausstopfen eines Lochs mit irgend welchem Werg mit sich bringt, So verhält er sich, nicht aus seiner Schwäche heraus, sondern aus seiner Stärke: e r g e h t n i c h t g l e i c h z u G r u n d e , wenn er den H a l t solcher „Geländer" entbehrt, welche z . B . heute den Pessimisten als ihre Stütze dienen. — Grundthatsache: daß es in den moralischen Gebieten noch an j e d e r W i s s e n s c h a f t fehlt, mehr noch an j e d e m M a t e r i a l e zur W i s s e n s c h a f t . Die praktischen Hinter-Absichten unterbinden dem Forscher die Adern. Es ist die Zeit für das Suchen der allerweitesten regulativen Hypothesen, um an ihnen Material zu sammeln. Also ist hier noch lange nicht eigentliche strenge Ephexis der Wissenschaft möglich; wir sind im V o r s t a d i u m . Die Verschärfung der methodischen Ansprüche wird später kommen. Die Wissenschaften entwickeln sich keineswegs gleichzeitig: sondern wie die Organe ihr schnelleres oder langsameres Wachsthum, Reifwerden haben, so steht es hier. Es liegt auf der Hand, daß die Wissenschaft, welche am weitesten zurück sein wird, die ist, welcher man am längsten widerstrebt hat, mit dem Glauben, h i e r dürfe gar nicht geforscht werden. Hier sei die Wahrheit da, hier sei der Glaube an sie Pflicht — noch jetzt bäumt sich das „moralische Bewußtsein" mitunter selbst im Gewände einer Art „Philosophie" gegen das Recht einer Analysis der Moral auf. Und unsere letzten Moralforscher sind gründlich eben davon

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Nachgelassene Fragmente

überzeugt: hier habe die Wissenschaft nur den Thatbestand zu ergründen, nicht zu k r i t i s i r e n. 3 5 Ü3°] i . das Problem der Moral s e h e n und z e i g e n — das scheint mir die neue Aufgabe und Hauptsache. Ich leugne, daß dies in der bisherigen Moralphilosophie geschehn ist. 3 5 [ 31D Man muß nicht Wissenschaftlichkeit afiektiren, w o es noch nicht Zeit ist, wissenschaftlich zu sein; aber auch der wirkliche Forscher hat die Eitelkeit von sich zu thun, eine A r t von Methode zu affektiren, welche im Grunde noch nicht an der Zeit ist. Ebenso Dinge und Gedanken, auf die er anders gekommen ist, nicht mit einem falschen Arrangement von Deduktion und Dialektik zu „fälschen". So fälscht Kant in seiner „Moral" seinen innewendigen psychologischen Hang; ein neuerliches Beispiel ist Herbert Spencer's Ethik. — Man soll die T h a t s a c h e , wie uns unsere Gedanken gekommen sind, nicht verhehlen und verderben. Die tiefsten und unerschöpftesten Bücher werden wohl immer etwas von dem aphoristischen und plötzlichen Charakter von Pascals Pensees haben. Die t r e i b e n d e n Kräfte und Werthschätzungen sind lange unter der Oberfläche; was hervorkommt, ist Wirkung. 35[3 2 ] Ich wehre mich gegen alle Tartüfferie von Wissenschaftlichkeit: 1) in Bezug auf die D a r l e g u n g , wenn sie nicht der G e n e s i s der Gedanken entspricht, 2) in den Ansprüchen auf M e t h o d e n , welche vielleicht zu einer bestimmten Zeit der Wissenschaft noch gar nicht möglich sind, 3) in den Ansprüchen auf O b j e k t i v i t ä t , auf kalte Unpersönlichkeit, wo, wie bei allen Werthsdiätzungen, wir mit

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zwei Worten von uns und unseren inneren Erlebnissen erzählen. Es giebt lächerliche Arten von Eitelkeit z. B. Saint-Beuve's, der sich zeitlebens geärgert hat, hier und da wirklich Wärme und Leidenschaft im „für" und „wider" gehabt zu haben und es gern aus seinem Leben weggelogen hätte. 3 5 [33] (5i) Man giebt sich heute gern den A n s t r i c h einer sehr bunten und vielgestaltigen Ankünstelung von Wissenschaftlichkeit — begreiflich in einem so unächten Jahrhundert, wo „gleiche Rechte" auch „das Gefühl gleicher Ansprüche" nach sich ziehen z. B. auch den Anspruch, wissenschaftlich sein zu können, falls man es nur w i l l . Fast alle Litteraten glauben es von sich; mehr noch, es gehört jetzt zum Ehrgeiz der Romanschriftsteller. 35[34] Nichts Kläglicheres als die moralistische Litteratur im jetzigen Europa. Die militärischen Engländer voran, plump wie Hornvieh in den Fußtapfen Bentham's wandelnd, wie er selber schon in den Fußtapfen des Helvetius wandelte; kein reuer Gedanke, nicht einmal eine wirkliche Historie des Früher-Gedaditen, sondern immer die alte moraKische) Tartüfferie, das englische Laster des cant unter der neuen Form der Wissenschaftlichkeit nebst geheimer Abwehr von Gewissensbissen, wie sie eine Rasse von ehemaligen Puritanern anzufallen pflegen. — Sie möchten sich um jeden Preis ü b e r r e d e n , daß man dem eignen Nutzen nachgehen m ü s s e , insofern gerade damit dem allgemeinen Nutzen, dem Glück der Meisten, am besten bedient werde: also daß das Streben nach englischem „Glück", ich meine nach comfort und fashion auf dem rechten Pfade der Tugend sei: ja daß, so weit es in der Welt Tugend gegeben habe, sie im derartigen Streben nach eignem, folglich auch allgemeinem Glück bestanden habe: Niemand von allen diesen schwer-

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fälligen, im Gewissen beunruhigten Heerden-Thieren — denn das sind sie allesammt — will etwas davon wissen, daß es eine Rangordnung der Menschen giebt, folglich Eine Moral für Alle eine Beeinträchtigung der höchsten Menschen ist, daß was dem Einen billig ist, durchaus noch nidit dem Anderen es sein kann; daß vielmehr das Glück der Meisten für Jeden ein Ideal zum Erbrechen ist, der die Auszeichnung hat, nicht zu den Meisten zu gehören. — Von Frankreich her ist neuerdings noch die oberflächliche Gegenüberstellung Comte's vom Altruismus und Egoismus — aber es giebt gar keinen Altruismus! — nach England gedrungen; und nun sehen wir z. B. bei Herbert Spencer den Versuch, auch damit wieder sich zu vertragen, mit einem solchen schlechten Willen, irgend einen Begriff noch streng zu nehmen, daß nunmehr Urinlassen in England bereits schon unter die altruistischen Thätigkeiten gehören dürfte. In Deutschland — wo man noch nicht einmal mit der moralistischen Naivetät Kant's und Schopenhauer's, dem kategorischen Imperativ und andrerseits dem „Mitleiden" fertig zu werden versteht — hat E. von H e r t m a n n ) neuerdings den Comte'sdien Gedanken ins Breite getreten — in die Breite von 871 Seiten — ; und, ohne daß irgend ein Deutscher darüber gelacht hat, vorne den Egoismus feierlich und förmlich zur Thür hinausgeworfen, um ihn hinten, im Namen des „Altruismus", wieder hereinzunöthigen. In der That, man kann sich die unheimliche Thatsache einer fast plötzlichen Verdummung der Völker Europa's — sichtbar so gut im jetzigen Deutschland und England, wie in Frankreich und Italien — nicht besser sich zu Gemüthe führen als durch ein Blättern in ihren moralistischen Büchern. Ich wüßte hödistens drei kleine Schriften herauszuheben (obwohl auch in diesen nichts Fundamentales gesagt ist): Einmal das Buch eines deutschen Juden, Paul Rée, das den Titel führt — Es verdient seiner F o r m wegen Auszeichnung und trägt etwas von jenem ächt-philosophischen habitus an sich, dem Stendhal einmal einen sdiarfen Ausdruck gegeben hat:

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— — — Rèe nimmt mit feiner Hand die strengeren Gesdimacks-Gewohnheiten der alten französischen Moralisten wieder auf — sein Buch kommt wie ein erquicklicher Geruch aus jener „guten alten Zeit", fern von allen erbaulichen Hinterabsiditen, nach welchen deutsch geschriebene Moral-Bücher zu riechen pflegen — : leider hat er auch dieselben Mängel, wie jene Franzosen, den engen Horizont, die Armseligkeit des Wissens; seine Hypothesen sind wohlfeil und in den Wind geredet; es fehlt ihm gänzlich „der historische Blick und Takt", das will sagen, die eigentliche und einzige Tugend, welche die deutsche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vor allen älteren Wissenschaften voraus hat. Zuletzt ist es ein Buch, welches „Appetit macht". Zweitens nenne ich das feine, schwermüthig-herzhafte Buch eines Franzosen , welches freilich, wie fast Alles, was jetzt aus Paris kommt, zum Übermaaß zu verstehen giebt, w o eigentlich heute der Pessimismus zu Hause ist: nämlich n i c h t in Deutschland. Und was hilft aller Positivismus und das entschlossene Kniebeugen vor den „petits faits"! Man leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost großer Enttäuschungen, als ob der Winter kommt, der letzte, endgültige Winter — und die Besten und Tapfersten, wie jener brave Guyau, (zittern und schaudern dabei, auch wenn sie eine noch so gute Miene zu ihrem „positivisme" machen: wer glaubt es ihnen, wozu sie uns mit Ironie überreden möchten, daß jenes Zittern und Schaudern noch zu den R e i z e n und Verführungskünsten des Lebens gehöre? Freilich: „das Schaudern ist der Menschheit s c h ö n s t e r Theil" — das hat Goethe gesagt, und Goethe — d u r f t e es sagen! Aber ein Pariser? — Endlich zeichne ich die polemische Schrift eines deutschen Halb-Engländers aus, welche genug Geist, Säure und Wissenschaft enthält, um jene Vereinigung von bètise und Darwinismus, welche Herbert Spencer unter dem Titel: „Data of Ethics" in die Welt gesetzt hat, gründlich zu „zersetzen": Rolph, Biologische Probleme 1881. Freilich, vom Polemischen abgesehen ist an dem Buche nichts zu

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loben; und im Grunde beleidigt hier, ebenso wie bei dem Buche, welches er bekämpft, das Mitreden-wollen unbedeutender Menschen auf Gebieten, wo nur eine ausgesuchte A r t von Erkennenden und „Erlebten" ohne Unbescheidenheit zu Worte k o m m t . ) 35 C353 Was mich am gründlichsten von den Metaphysikern abtrennt, das ist: ich gebe ihnen nicht zu, daß das „Ich" es ist, was denkt: vielmehr nehme ich das I c h s e l b e r a l s e i n e C o n s t r u k t i o n d e s D e n k e n s , von gleichem Range, wie „ S t o f f " „ D i n g " „ S u b s t a n z " „ I n d i v i d u u m " „Zweck" „ Z a h l " : also nur als r e g u l a t i v e F i k t i o n , mit deren H ü l f e eine Art Beständigkeit, folglich „Erkennbarkeit" in eine Welt des Werdens hineingelegt, h i n e i n g e d i c h t e t wird. Der Glaube an die Grammatik, an das sprachliche Subjekt, Objekt, an die Thätigkeits-Worte hat bisher die Metaphysiker unterjocht: diesen Glauben lehre ich abschwören. D a s Denken setzt erst das Ich: aber bisher glaubte man, wie das „ V o l k " , im „i c h d e n k e " liege irgend etwas von Unmittelbar-Gewissem und dieses „Ich" sei die gegebene Ursache des Denkens, nach deren Analogie wir alle sonstigen ursächlichen Verhältnisse „verstünden". Wie sehr gewohnt und unentbehrlich jetzt jene Fiktion auch sein mag, das beweist nichts gegen ihre Erdichtetheit: es kann etwas Lebensbedingung und t r o t z d e m f a l s c h sein. 3 5[36] Freigeworden von der Tyrannei der „ewigen" Begriffe, bin ich andrerseits fern davon, mich deshalb in den Abgrund einer skeptischen Beliebigkeit zu stürzen: ich bitte vielmehr, die Begriffe als Versuche zu betrachten, mit H ü l f e deren bestimmte Arten des Menschen gezüchtet und auf ihre Enthaltsamkeit und Dauer 35[37] Die Falschheit eines Begriffs ist mir noch kein

Einwand

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35[34—38]

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gegen ihn. Darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten: die Frage ist, wie weit er lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend ist. Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens, d a ß die f a l s c h e s t e n A n n a h m e n uns g e r a d e die un5 e n t b e h r l i c h s t e n s i n d , daß ohne ein Geltenlassen der logisdien Fiktion, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der e r f u n d e n e n Welt des Unbedingten, Sich-selber-Gleichen der Mensch nicht leben kann und daß ein Verneinen dieser Fiktion, ein praktisches Verzichtleisten auf sie, so viel wie eine Vernei10 nung des Lebens bedeuten würde. D i e U n w a h r h e i t a l s L e b e n s b e d i n g u n g z u g e s t e h n : das heißt freilich auf eine schreckliche Weise die gewohnten Werthgefühle von sich abthun — und hier, wenn irgend wo, gilt es, sich an der „erkannten Wahrheit" nicht zu „verbluten". Man muß sofort in dieser 15 höchsten Gefahr die schöpferischen Grund-Instinkte des Menschen herauf ruf en, welche stärker sind als alle Werthgefühle: die, welche die Mütter der Werthgefühle selber sind und im ewigen Gebären über das ewige Untergehn ihrer Kinder ihre erhabene Tröstung genießen. Und zuletzt: w e l c h e G e w a l t war es d e n n , welche uns zwang, jenem „Glauben an die Wahrheit" abzuschwören, wenn es nicht das Leben s e l b e r war und alle seine schöpferischen Grund-Instinkte? — so daß wir also es nicht nöthig haben, diese „Mütter" heraufzubeschwören: — sie sind schon o b e n , ihre Augen blicken uns an, wir vollführen 25 eben, wozu deren Zauber uns überredet hat. 35[38] — Und was die eigentliche) Philosophie) im jetzigen Frankreich betrifft: man glaube ja nicht, daß diese braven Positivisten aus der Schule Comte's, oder die Nachkommen Stendhal's Montesquieu's Condillac's — eben das Beste was das 3° 18. Jahrhundert hatte — wie Taine, ein Gegensatz zu der skeptischen Stimmung des Jahrhunderts ausmachen.

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Nachgelassene Fragmente

35[35>]

1. 2. 3. 4.

M i t t a g und E w i g k e i t . Von der Rangordnung. Die Gesetzgeber. (Züchtung neuer herrschenden Kasten) Vom Ring der Ringe. Oder: „der Spiegel". Die großen Segnungen.

35[40] M i t t a g und E w i g k e i t . Gesichte und Wahrsagungen. 35[41] M i t t a g und E w i g k e i t . Wahrsagungen eines Zukünftigen. Erster Theil: von der Rangordnung. Zweiter Theil: von den Herren der Erde. Dritter Theil: vom Ring der Ringe. Vierter Theil: vom neuen Sterben. 35[42] — bis wir auch uns mit gutem Stolze das Wort zurufen dürfen, welches Pericles seinen Athenern in jener Grabrede zurief: — zu allem Land und Meere hat unsere Kühnheit sich den Weg gebrochen, überall sich unvergängliche Denkmale im Guten und Schlimmen gründend.

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35 [43] Zuletzt wehren wir uns noch gegen die Menschenkenntniß solcher Sainte-Beuve's und Renan's, gegen diese Art SeelenAushorchung und -Anschnüffelung, wie sie von diesen unmännlichen Genüßlingen des Geistes ohne Rückgrat gehandhabt w i r d : es scheint uns gegen die Scham zu gehen, wenn sie mit neugierigen Fingern an den Geheimnissen von Menschen oder Zeiten herumtasten, welche höher, strenger, tiefer waren und in jedem Betracht vornehmer als sie selber: so daß sie nicht so leicht ihre Thüren irgend welchen herumschweifenden Halbweibern aufgethan hätten. Aber dieses neunzehnte Jahrhundert, welches alle feineren Instinkte der Rangordnung eingebüßt hat, weiß nicht mehr den unerwünschten Eindringlingen und Thore-Erbrediern auf die Finger zu schlagen; ja es ist stolz auf seinen „historischen Sinn", vermöge dessen es dem schwitzenden Plebejer erlaubt wird, vorausgesetzt, daß er mit gelehrten FolterWerkzeugen und Fragebogen kommt, sich auch in die Gesellschaft von höchster Unnahbarkeit einzudrängen, unter die Heiligen des Gewissens so gut als unter die, ewig verhüllten Herrschenden des Geistes. Unter dem historischen Sinn und Umspähen liegt mehr Scepsis verborgen als man zunächst sieht: eine beleidigende Scepsis gegen die Rangverschiedenheit von Mensch und Mensch gewendet, und derselbe unverschämte Anspruch auf „Gleichheit" wird sogar in Hinsicht auf die Todten ausgedehnt, welchen sich die bezahlten Diener der öffentlichen Meinung jetzt gegen jeden Lebenden herausnehmen. Wir aber sind keine Sceptiker, — wir glauben noch an eine Rangordnung der Menschen und Probleme und warten die Stunde ab, wo sich diese Lehre vom Range und von der Ordnung der pöbelhaften Gesellschaft von heute wieder in's breite Gesicht einschreiben wird. Vielleicht ist diese Stunde auch unsere Stunde. Sind wir vielleicht, wenn wir keine Sceptiker sind, Kritiker oder „Kriticisten"? Und wenn wir den Versuch und die Lust

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Nachgelassene Fragmente

am Versuche durch unseren Namen noch besonders unterstrichen haben, geschieht das etwa deshalb, weil wir uns des Experimentes in einem weiten und gefährlichen Sinne, aber zum Behufe einer tiefer verstandenen Kritik, zu bedienen lieben? Sind wir vielleicht, im Geheimen, zum Besten unserer Erkenntniß, als Experimentirende gezwungen weiter zu gehen als es der weidimüthige und verzärtelte Geschmack des Jahrhunderts gutheißen kann? In der That, wir möchten nicht alle jene Eigenschaften entbehren, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben: die Sicherheit der Werthmaaße, die bewußte Handhabung einer Einheit von Methode, der gewitzte Muth, das Alleinstehen- und sich verantworten können; ja wir gestehen eine Lust am Neinsagen und Zergliedern, eine gewisse Grausamkeit der Hand zu, welche das Messer sicher führt, auch wenn das Herz dabei blutet. Wir sind härter —, und vielleicht nicht nur gegen uns, — als „humane" Menschen wünschen mögen; wir lassen uns nicht mit der „Wahrheit" ein, weil sie uns „gefällt" oder „erhebt" oder „begeistert" — unser Glaube ist vielmehr gering, daß die Wahrheit je solche angenehme Gefühle mit sich bringen könnte. Es klingt vielen Ohren peinlidi wenn wir sagen: gerade dort springt unser Mißtrauen hervor, wo unser Gefühl zu schönen Wallungen emporsteigt; wir lädieln, wenn Jemand etwas damit zu b e w e i s e n glaubt, daß er sagt: „aber dieser Gedanke erhebt mich: wie sollte er nicht wahr sein?" Oder: „dieses Werk entzückt mich: wie sollte es nicht schön sein?" Oder: „dieser Künstler vergrößert mich: wie sollte er nicht groß sein?" Wir haben vielmehr mit den Kritikern — 35[44] Aberglaube über den Philosophen, Verwechslung mit dem w i s s e n s c h a f t l i c h e n Menschen. Als ob die Werthe in den Dingen steckten und man sie nur festzuhalten hätte. In wiefern sie unter g e g e b e n e n Werthen forschen (ihr Haß auf

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35[43—45]

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Schein, Leib usw.) Schopenhauer in Betreff der Moral. (Hohn über den Utilitarismus) Zuletzt geht die Verwechslung so weit, daß man den Darwinismus als Philosophie betrachtet: und jetzt ist die Herrschaft bei den w i s s e n s c h a f t l i c h e n 5 Menschen. Auch die Franzosen wie Taine suchen oder meinen zu suchen ohne die Werthmaaße schon zu haben. Die Niederwerfung vor den „Facten" eine A r t Cultus. Thatsächlich v e r n i c h t e n sie die bestehenden Werthschätzungen. 10 E r k l ä r u n g dieses Mißverständnisses. Der Befehlende entsteht selten, er mißdeutet sich selber. Man w i l l durchaus die Autorität von sich ablehnen und in die U m s t ä n d e setzen. — In Deutschland gehört die Schätzung des Kritikers in die Geschichte der erwachenden M ä n n l i c h k e i t . Lessing usw. (Napoleon über Goethe) Thatsächlich ist diese Bewegung durch die deutsche R o m a n t i k wieder rückgängig gemacht: und der R u f der deutschen Philosophie bezieht sich auf sie, als ob mit ihr die Gefahr der Scepsis beseitigt sei, und der G l a u b e b e w i e s e n werden könne. In Hegel kulminiren beide T e n 20 denzen: im Grunde verallgemeinerte er die Thatsache der deutschen Kritik und die Thatsache der deutschen R o m a n t i k — eine A r t von dialektischem Fatalismus, aber zu Ehren des Geistes, thatsächlich mit Unterwerfung des Philosophen u n t e r die Wirklichkeit. — D e r K r i t i k e r bereitet 2J v o r : nicht m e h r ! Mit Schopenhauer dämmert die Aufgabe des P h i l o s o p h e n ) , daß es sich u m eine Bestimmung des W e r t h e s handele: immer noch unter der Herrschaft des Eudämonismus (Spott über H a r t m a n n ) das Ideal des Pessimismus. 35[45] 3° D e r Philosoph als Gesetzgeber, als Versucher neuer Möglichkeiten, seine Mittel. E r b e n u t z t die Religion. Das neue Testament — was das Christenthum kann.

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Nachgelassene Fragmente

Sein Gegensatz: die Moral der Heerdenthiere. Ebenso die Freidenker usw. Wie sich die Heerdenthiere heute den „höheren Menschen" denken: an V. Hugo zu zeigen. 5 Meine Vorbereiter: Schopenhauer — in wie fern ich den Pessimismus vertiefte und durdi die E r findung seines höchsten Gegensatzes erst ganz mir zum Gefühl brachte. Sodann: die ideaKen) Künstler, jener Nachwuchs aus der Napoleonischen Bewegung. Sodann: die höheren Europäer, Vorläufer der g r o ß e n Politik. Sodann: die Griechen und ihre Entstehung. Ich gab Winke in der „Geburt der Tragödie" über das Verhältniß „Noth" i$ und „Kunst". Die D e u t s c h e n und der G e i s t . Die persönliche Erziehung des Philosophen in der Einsamkeit. Das Dionysische. 3J[46] Paete, non dolet! Paete, dieser Pessimismus thut nicht weh! 20 Paete, Eduard beißt nicht! Paete, siehe mich an: bin ich nicht freundlich blau, ja sogar preußisch blau; Paete, in der That, ich lasse gar nidits zu wünschen übrig Paete, non dolet! Paete, dieser Pessimismus thut nicht weh! Paete, deine Arria beißt nicht! Paete: Eduard ist voller 25 Rücksicht, behaglich, human, freundlich, sogar reichsfreundlich, sogar preußisch-blau, kurz Eduard ist ein Mädchen für Alles und sein Pessimismus läßt gar nichts zu wünschen übrig Ich war damals im Irrthum: ich meinte E(duard) v ( o n ) H e r t m a n n ) sei ein feiner überlegener Kopf und Spaaßvogel, 30 der sich über die pessimistische Verlegenheit des Zeitalters lustig

M a i — J u l i 1885 35 [45—47]

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madie; idi fand die Erfindung seines „Unbewußten" so boshaft, so witzig, es schien mir eine rechte Mausefalle für die Trübseligen und Dummen des philosophischen Dilettantismus, wie er sich mehr und mehr über Deutschland ausbreitet. Nun aber $ bleibt man dabei, mich zu versichern, daß er es e r n s t meine: und man zwingt mich beinahe, daran zu glauben: sollte er aber damit aufhören, für mich erheiternd zu sein? Sollte ich aufhören müssen zu lachen, wenn diese Arria wieder und wieder ihrem Paetus zuredet, sich nicht vor dem D o l c h e , ich meine io vor dem Hartmannschen Pessimismus, zu f ü r c h t e n ? Paete, ruft sie zärtlich, non dolet!

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3 5 [47] § Keine Kritiker. Die Verlegenheit. Endlich „der wissenschaftliche Mensch". Engländer. § Weder Pessimisten noch Optimisten. Sdiopenhauer's große Stellung — daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein S t ü c k Unwissenheit m e h r , eine Erweiterung unseres „leeren Raums", einen Zuwachs unserer „Oede" — § Grundgedanke: die neuen Werthe müssen erst geschaffen werden — dies bleibt uns nicht e r s p a r t ! Der Philosoph muß wie ein Gesetzgeber sein. Neue Arten. (Wie bisher die höchsten Arten (z.B. Griechen) gezüchtet wurden: diese Art „Zufall" b e w u ß t wollen) § Seine Mittel: Religionen, Moralen § Bedeutung des Christenthums. § Bedeutung der demokratischen Denkweise. § Freidenker, zu dieser Bewegung gehörig? Victor Hugo. § Unbewußte Gegenbewegungen: Napoleon, die 30er, R W. § Der neue Philosoph kann nur in Verbindung mit einer herrschenden Kaste entstehen, als deren höchste Vergeistigung. Die große Politik, Erdregierung in der Nähe; vollständiger

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Nachgelassene Fragmente

M a n g e l an P r i n c i p i e n dafür — (Ironie auf den l e e r e n deutschen Geist.) § Der Europäer und seine Bildung. § Periode der großen V e r s u c h e . Menschen, mit einem $ eignen Werth-Kanon. Institutionen zur Züchtung höherer Menschen. § Das „Einstweilen" der Philosophen. Ihre Einsamkeit. § Das „Jenseits von Gut und Böse" vorbereiten. Zustand der „Moral". 15 § Dionysos. 15 : 1 0 0 | 6

3 große Seiten jeder Abschnitt 3J[4«]

Vorrede. Es liegt mir heute wenig daran, ob ich in Bezug auf 15 R W(agner) und Schopenhauer Recht oder Unrecht gehabt habe: habe ich mich geirrt, nun, mein Irrthum gereicht weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre. Gewiß ist, daß es mir, in jenen jungen Tagen, eine ungeheure Wohlthat war, meine idealistischen Farben, in welchen ich die Bilder (des) 20 Philosophen und (des) Künstlers schaute, nicht ganz ins U n wirkliche, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können; und wenn man mir den V o r w u r f gemacht hat, daß ich die Genannten mit einem v e r g r ö ß e r n d e n Auge gesehen habe, so f r e u e ich mich dieses V o r w u r f s — 2$ und meiner Augen noch dazu. Z u m Mindesten sollten die Leser der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung nicht darüber im U n gewissen sein, wie wenig mir immer an der Wahrheit gelegen hat und Was ich damals geschrieben — und weniger geschrieben als 3° g e m a l t habe, noch dazu hitzig und, wie mich heute dünkt, in einem nicht unbedenklichen und verwegenen Alfresco: das

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würde dadurch noch nicht w a h r e r werden, daß ich es nunmehr, wo vielleicht Hand und Auge etwas hinzugelernt haben, noch einmal zarter, lautrer und strenger darstellte. Jedes Lebensalter versteht „Wahrheit" auf seine eigene Weise; und wer mit jungen und brausenden Sinnen und großen Ansprüchen vor jene Gemälde tritt, wird an ihnen so viel Wahrheit finden, als er zu sehn im Stande ist. Meine vier ersten U n z e i t g e m ä ß e n ) Betrachtungen), denen ich nunmehr, nach zehn Jahren, eine fünfte, sechste und siebente zugeselle, waren Versuche, die Art Menschen an mich heranzulocken, welche zu mir gehören: also Angelruthen, ausgeworfen nach „Meines-Gleichen". Damals w a r ich jung genug, um mit ungeduldiger Hoffnung auf solchen Fischfang zu gehen. Heute — nach hundert Jahren, wenn ich die Zeit nach meinem Maaße messen darf! — bin ich m i r n o c h n i c h t a l t genug, um jede Hoffnung oder Geduld verloren zu haben. Wie fremd klingt es mir audi heute noch in den Ohren, wenn ein Greis seine Erfahrungen in diese Worte drängt: So spricht Goethe: sollte er Recht haben? Wie wenig Vernunft hätte es dann, so alt, so vernünftig wie Goethe zu werden! Und es wäre billig, den Griechen ihr Urtheil über das Alter abzulernen: — sie haßten das Altwerden mehr als den Tod, und liebten es zu sterben, wenn sie fühlten, daß sie auf jene Art anfingen vernünftig zu werden. Inzwischen hat auch die Jugend ihre eigne Art Vernunft: eine Vernunft, welche an Leben, Liebe und Hoffnung glaubt 35[49] Was R(ichard) W(agner) betrifft: so gab es einen Augenblick meines Lebens, wo ich ihn mit Heftigkeit von mir stieß. Weg von mir! — das schrie ich. Diese Art Künstler ist gerade darin unzuverlässig, wo ich keinen Spaaß verstehe. Er versuchte sich mit dem bestehenden Christenthum zu „arrangiren", indem er

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Nachgelassene Fragmente

die linke H a n d dem protestantischen Abendmahle entgegenstreckte — er hat mir von den Entzückungen gesprochen, die er dieser Mahlzeit abzugewinnen wisse — die rechte H a n d aber zu gleicher Zeit der katholischen Kirche: er bot ihr seinen „Parsif a l " an und gab sich für alle, die Ohren haben, als „ R ö m l i n g " in partibus infidelium zu erkennen. 35C5 Die Denkgesetze als Resultate der organischen Entwicklung — eine fingirende setzende K r a f t muß angenommen werden — ebenfalls Vererbung und Fortdauer der Fiktionen. 3 5 C 51D In einer Welt des Werdens, in der Alles bedingt ist, kann die Annahme des Unbedingten, der Substanz, des Seins, eines Dinges usw. nur ein Irrthum sein. Aber wie ist Irrthum möglich? 35[J2] D a s Nacheinander immer deutlicher zeigen heißt r u n g : nicht mehr!

Erklä-

35[*3] Wahrnehmen auch für die unorganische Welt einräumen und z w a r absolut genau: da herrscht „Wahrheit"! Mit der organischen Welt beginnt die U n b e s t i m m t h e i t und der S c h e i n . 35[54] D a ß eine Gleichgewichts-Lage nie erreicht ist, beweist, daß sie nicht möglich ist. Aber in einem unbestimmten R a u m müßte sie erreicht sein. Ebenfalls in einem kugelförmigen R a u m . Die Gestalt des R a u m e s muß die Ursache der ewigen Bewegung sein, und zuletzt aller „Unvollkommenheit". D a ß „ K r a f t " und „ R u h e " „Sich-gleich-bleiben" sich wider-

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streiten. Das Maaß der Kraft als Größe als fest, ihr Wesen aber flüssig, spannend, zwingend, 35ü55H „Zeitlos" abzuweisen. In einem bestimmten Augenblick der K r a f t ist die absolute Bedingtheit einer neuen Vertheilung aller ihrer K r ä f t e gegeben: sie kann nicht still stehn. „Veränderung" gehört ins Wesen hinein, also auch die Zeitlichkeit: womit aber nur die Nothwendigkeit der Veränderung noch einmal begrifflich gesetzt wird. 3i[j6] Die Zeit ist n i c h t a priori gegeben — Spir 2, p. 7. unlogischer Charakter unserer Erkenntniß der Längen, ds. 2 p. 93. 3 5 [57] Daß es gleiche Dinge, gleiche Fälle giebt, ist die G r u n d f i k t i o n schon beim U r t h e i 1 , dann beim Schließen. 35[*8] In der chemischen Welt herrscht die schärfste W a h r n e h m u n g der Kraftverschiedenheit. Aber ein Protoplasma, a 1 s eine Vielheit von chemischen K r ä f t e n , hat eine u n s i c h e r e u n d u n b e s t i m m t e Gesammt-Wahrnehmung eines fremden Dings. 35 [59] Der Ubergang aus der Welt des Anorganischen in die des Organischen ist der aus festen Wahrnehmungen der Kraftwerthe und Machtverhältnisse in die der u n s i c h e r e n , unb e s t i m m t e n — weil eine Vielheit von miteinander kämpfenden Wesen ( = Protoplasma) sich der Außenwelt gegenüber fühlt.

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Nachgelassene F r a g m e n t e

3 5[6O] Der rastlose Wille zur Macht oder zur beständigen Schöpfung oder zur Verwandlung oder zur Selbst-Überwältigung 35[6I] „die sogenannte Zeit eine bloße Abstraktion, weder objektiv daseiend, noch eine nothwendige und ursprüngliche Vorstel5 lungsart des Subjekts" 2. p. 15. 35[*2] Die Deutschen haben keine Cultur: sie sind nach wie vor von Paris a b h ä n g i g — die Ursache ist, sie haben noch keinen Charakter. Unsere großen Menschen bezeichnen keine Rasse, sondern Einzelne. Was ist aber das, was ich ehemals ausnahm und worauf ich Hoffnungen gründete, die d e u t s c h e M u s i k ? 35[63] NB. Das Mißverständniß über Richard Wagner ist heute in Deutschland ungeheuer: und, da ich dazu beigetragen habe, es 15 zu vermehren, will ich meine Schuld abtragen und versuchen, es zu verringern 3$[64] Es gab ein Jahrhundert lang nur einen Gegensatz von französischer und italienischer) Musik. Im Kampfe Glucks mit Piccini verschärfte er sich und kam 20 auf seine Spitze: Gluck wurde hierbei durchaus als Vertreter des f r a n z ö s i s c h e n G e s c h m a c k s empfunden — als Vertreter des Vornehmen, Pomphaften und Rationalistischen. Die Deutschen als Musiker haben bald nach Frankreich bald nach Italien hingehorcht: einen eigenen d e u t s c h e n 25 Geschmack in der Musik giebt es auch heute noch nicht

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Es scheint mir, daß Wagner noch einmal den f r a n z ö s i s c h e n G e s c h m a c k zum Übergewicht über den italianisirenden gebracht hat d.h. über Mozart, Haydn, Rossini, Bellini, Mendelssohn, aber es ist der Geschmack Frankreichs von 1830: die Litteratur Herr geworden über die Musik wie über die Malerei: „Programm-Musik", das „sujet" voran! 35[65] B e e t h o v e n gehört zu Rousseau und zu jener humanitären Strömung, welche der Revolution theils vorauslief, theils verklärend nachlief, noch mehr aber zu dem Hauptereigniß des letzten Jahrtausends, dem Erscheinen Napoleons. M o z a r t die Gesellschaft des Rococo-Zeitalters voraussetzend 35[66] Unterschied zwischen Schauspieler, wie Schiller und Wagner und Goethe isolirt, zwischen Pietismus und Griechenthum, zweifelhaft, ob er nicht französisch schreiben soll. Lessing — Bayle Friedrich der Große begierig nach Frankreich der Friedrich II. nach maurisch-morgenländischer Aufklärung Leibnitz zwischen Christenthum Piatonismus und Mechanik. Bismarck von Napoleon III. lernend und Cavour 35 [67] Wenn die Mechanik nur eine Logik ist, so folgt auch für sie, was für alle Logik gilt: sie ist eine Art Rückgrat für Wirbelthiere, nichts an-sich-Wahres.

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Nachgelassene Fragmente

35[68] Zum R i n g der Ringe. N B . Zu der Kraft, die sich wandelt und immer die gleiche bleibt, gehört eine I n n e n s e i t e , eine Art Charakter von Proteus-Dionysos, sich verstellend und sich genießend in der Verf Wandlung. Die „Person" als T ä u s c h u n g zu begreifen: thatsächlich ist die V e r e r b u n g der Haupteinwand, insofern eine Unzahl von formenden Kräften aus viel früheren Zeiten ihren fortwährenden Bestand machen: in Wahrheit kämpfen sie in ihr und werden regirt und gebändigt — ein Wille zur Macht geht durch die Personen hindurch, er hat die V e r k l e i n e r u n g der Perspective, den „ E g o i s m u s " nöthig, als z e i t w e i l i g e E x i s t e n z - B e d i n g u n g ; er schaut von jeder Stufe nach einer höheren aus. Die Verkleinerung des wirkenden Princip's zur „Person", i j zum Individuum. 3$[69] N B . Wie viel Einer aushält von der W a h r h e i t , ohne zu e n t a r t e n , ist s e i n M a a ß s t a b . Ebenso wie viel G l ü c k ebenso wie viel F r e i h e i t und M a c h t ! Zur Rangordnung

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35[70] Die s t r e n g s t e S c h u l e nöthig, das Unglück, die Krankheit: es gäbe keinen Geist auf Erden, auch kein Entzücken und Jauchzen. — N u r großgestimmte gespannte Seelen wissen, was K u n s t , was H e i t e r k e i t ist.

3$[7i] Z(arathustra) kann nur beglücken, wenn er erst 2$ R a n g o r d n u n g hergestellt hat.

die

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35[7^] N B . Es muß v i e l e Ubermenschen geben: alle Güte entwickelt sich nur unter seines Gleichen. E i n Gott wäre immer ein T e u f e l ! Eine h e r r s c h e n d e R a s s e . Zu „die Herrn der Erde." 35[73] I. Zarathustra kann nur b e g l ü c k e n , nachdem die Rangordnung hergestellt ist. Zunächst wird diese g e l e h r t . II. Die Rangordnung durchgeführt in einem System der Erdregierung: die Herrn der Erde zuletzt, eine neue herrschende Kaste. Aus ihnen hier und da entspringend, ganz epicurisdier Gott, der Übermensch, der Verklärer des Daseins. III. Die übermenschliche Auffassung der Welt. Dionysos. IV. Von dieser größten E n t f r e m d u n g liebend zurückkehrend zum Engsten und Kleinsten, Zarathustra alle seine Erlebnisse s e g n e n d und als Segnender sterbend. 35[74]

Zarathustra 5 1. Große Trompeten-Herolds-Lärm. G l ü c k der lauten Töne! Zarathustra I. Ich bin jener p r ä d e s t i n i r t e M e n s c h , der die Werthe für Jahrtausende bestimmt. Ein Verborgener, ein überallhin Gedrungener, ein Mensch ohne Freunde, der jede Heimat, jedes Ausruhen von sich gestoßen. Was den g r o ß e n S t i l macht: Herr werden über sein G l ü c k wie sein U n g l ü c k : ein 2. Mein G e s c h e n k ist erst zu empfangen, wenn die Empfänger da sind: d a z u Rangordnung. Die größten Ereignisse werden am spätesten begriffen. — Insofern muß ich Gesetzgeber sein. 3. D i e Z e i t s e i n e s A u f t r e t e n s : die gefährlichste M i t t e , wo es hingehen kann zum „letzten Menschen", aber audi — — charakterisirt durch d a s g r ö ß t e E r e i g n i ß : Gott

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ist todt. N u r merken die Menschen noch nichts davon, daß sie nur von ererbten Werthen zehren. Die allgemeine Nachlässigkeit und Vergeudung. 4. — G r u n d e i n s i c h t : „gut" und „böse" wird jetzt als vom Auge des „Heerdenthiers" betrachtet. Gleichheit der Menschen als Z i e l . Dagegen i c h . (Der Eine G o t t als Vorbereitung der Heerden-Moral!) der L e h r e r v o n d e r R a n g o r d n u n g . 5. Führer, Heerden und Isolierte. Die Versucher. 6. Vollständige Menschen und Bruchstücke. 7. Gerathene und Mißrathene. 8. Schaffende und Gestaltete. Kraft-Verschiedenheit. 9. Die Künstler als die kleinen Vollender. 10. die wissenschaftlichen Menschen als Beschreiber und umfänglichste Organe. 1 1 . die herrschaftlichen Menschen, als Versuche der Züchtung. 1 2 . die Religionsstifter, als Versuche neuer allgemeiner Werthsetzungen. 1 3 . das G e f ü h l der UnVollkommenheit: die Bußfertigen 14. Der Drang nach einem Vollkommenen hin: die Frommen, die schönen Seelen, die große Sehnsucht 15. Die Kraft, irgend worin Vollkommenes zu t h u n (Handwerker-Meister Künstler Beamte Gelehrte usw. 16. die Erde jetzt als Marmor-Werkstätte daliegend: es ist eine h e r r s c h e n d e R a s s e n ö t h i g , mit unbedingter Gewalt. 3 5 Ü75] 1 . Zarathustra auf der alten Festung erwachend. Hört die Trommeln der Herolde. 2. Die Prüfung: „Gehört ihr zu mir?" 3. Der Rosenfest-Zug. 4. Die Lehre von der Rangordnung. 5. Nachts an der Brücke.

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(49) Was ist v o r n e h m ? Vorrede zu „ V e r m i s c h t e Meinungen und S p r ü c h e " — die Sorgfalt im Äußerlichsten, selbst der f(rivole) An(schein), in Wort, Kleid, Haltung, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fern hält, vor Verwechslung schützt. — die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es giebt nicht zu viel werthvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu dem Werthvollen. Wir bewundern schwer. — das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit. — das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber — Balzac hat es verrathen, dieser typisch-Ehrgeizige — comprendre c'est egaler. — Unser Zweifel an der Mittheilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit nicht als gewählt, sondern als gegeben, — die Überzeugung, daß man nur gegen Seines-Gleichen Pflichten hat, gegen die Andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist. — die Ironie gegen die „Begabten" ; der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen. „Aristokratie des Geistes" ist ein Leibwort für Juden. — immer sich als den fühlen, der Ehren zu v e r g e b e n hat: während nicht gar häufig sich Jemand findet, der ihn ehren dürfte. — immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des incognito. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen. — die Fähigkeit zum otium, die unbedingte Uberzeugung,

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daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht „Fleiß" im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn auch zu ehren wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie die Hühner machen — gackern und Eier legen und wieder gackern. — wir b e s c h ü t z e n die Künstler und Dichter und wer irgend worin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art s i n d , als diese, welche nur etwas k ö n n e n , als die bloß „produktiven Menschen", verwechseln (wir) uns nicht mit ihnen. — die Lust an den F o r m e n : das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sich-gehenlassens eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt. — das Wohlgefallen an den F r a u e n , als an einer vielleicht kleineren aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Thorheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großer Verantwortlichkeit beschwert ist. — das Wohlgefallen an den Fürsten und den Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werthe, kurz an die Rangordnung, selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum Mindesten s y m b o l i s c h und im Ganzen und Großen sogar thatsächlich aufrecht erhalten. — das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern. — das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit. — der Ekel am Demagogischen, an der „Aufklärung", an der „Gemüthlichkeit", an der pöbelhaften Vertraulichkeit. — das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer ho-

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hen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. S e i n e Bücher, s e i n e Landschaften. — wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden. — wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen, wir finden Faust ebenso naiv als sein G retchen. — wir schätzen die Guten gering, als Heerdenthiere: wir wissen, wie unter den schlimmsten bösartigsten härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit und Milchseele — wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt weder durch seine Laster, noch durch seine Thorheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind, und daß wir Alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben. 3 5 [77] Briefe des Grafen Herausgegeben von J. v. A. Nach dem Tode meiner Mutter. Anekdoten erfinden. 3 5[78] Vorrede. Darf man Briefe veröffentlichen? — Ein verehrungswürdiger Freund pflegte das Wort „öffentlich" nie ohne Bosheit auszusprechen. Das neunzehnte Jahrhundert, sagte er einmal, liebt

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wie man weiß die Wahrheit: nun, es geht mir gerade mit d i e s e m Geschmacke wider meinen Geschmack! Ich fürchte, wenn das so weitergeht, schreibt man nur noch ö f f e n t l i c h e Briefe. Ja, sagte er ein ander Mal, es könnte kommen, daß irgendwann ein anständiger Mensch seine ganze Moral in Einen Satz f a ß t : du sollst — lügen! Mein Herr, Sie sollen unbedingt und jeder Zeit lügen! Oder aber, auch Sie sind, was schon alle Welt ist, — „öffentlich"! — Das war seine geheime Meinung über den Geschmack unseres Jahrhunderts. Als ich darüber nachsann, seiner Brief- und Meinungensammlung einen Titel zu geben, gieng es mir durch den Kopf, sie dergestalt zu bezeichnen: „ D e r S p i e g e l . Eine Gelegenheit zur Selbst-Bespiegelung. Für Europäer." Möge man aus diesem geschmacklosen Einfalle wenigstens abnehmen, welchen W e r t h i c h bei mir selber diesen Briefen zulege — u n d w a r u m ich mir das R e c h t gebe, gerade aus H a ß gegen alles, was heute „öffentlich" heißt, diese Briefe zu veröffentlichen. 35[79] J a h r h u n d e r t der Spielleute (d(ie> M(enschen) des u n e h r lidien Begräbnisses) (Galiani) Mörder Langeweile. 35[8O]

Die Deutschen von gestern und von übermorgen Ein Beitrag zur Kritik der deutschen Seele 35[8I]

Die Demagogen in der Kunst — Hugo Michelet Sand R. Wagner.

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3*[82] Eine pessimistische Denkweise und Lehre ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als ein mächtiger Drude und H a m m e r , mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus 5 dem Wege schafft, ( u m ) f ü r eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen oder u m dem, was entartet und absterben will, das Verlangen zum Ende einzugeben. Zum Verzögern und Vertiefen von Völkern und Rassen kann eine pessimistische Denkweise, eine Religion der Verneinung und 10 Welt-Flucht, eine ekstatische Entsinnlidiung und Verhäßlichung des Lebens 35[83] Aber indem ich dergestalt mir Sorgen mache und auf eine solche Frage eine lange A n t w o r t vorbereite — ach, vielleicht bin ich selber nichts als eine lange A n t w o r t auf diese Frage? — '5 höre ich schon jene gebrochene und boshafte Stimme 35[84] G a i s a b e r. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. Von Friedrich Nietzsche.

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An den Mistral. Einleitung. Erstes Buch: die Vorurtheile der Philosophen. Zweites Buch: jenseits von Gut und Böse. Drittes Buch: an die Künstler. Viertes Buch: der Spiegel. Eine Gelegenheit zur SelbstBespiegelung f ü r Europäer. Fünftes Buch: die vornehme Seele. Unter Freunden. Ein Nachgesang.

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Nachgelassene Fragmente

das ideale Kloster, zur Erhaltung der zarten Pflanzen die Zukunft der Musik — Europäer-Musik Musik des großen Stils die Fallstricke der Sprache die Wagnerei und die Hegelei als Rausch-mittel „klassisch" — unanwendbares Wort in der Musik die Einsiedler, wie Goethe, Beethoven, und die demagogischen oder höfischen oder käuflichen Künstler. Bildung der M u s i k e r gegen die „nationalen" Bestrebungen in der Kunst Begriff der Cultur; — Stil usw. Ablehnung des Pessimismus, sowie aller eudämonistischen Gesichtspuncte. I I I An die Künstler. Neuer Begriff des Schaffenden; das D i o n y s i s c h e . Neue Feste. Die Verklärung. „Vollendete Unendlichkeit" Schmerz und Lust Zwedk Werthurtheile in den Geschmacksempfindungen, Farben, Tönen Begriffe f e s t s t e l l e n die U m d e u t b a r k e i t der Welt — aber das Festhalten der Grundzüge Krankhaftes an den Philosophen Ursache und Wirkung der Haushalt der Affekte die „persona" Luthers Sprache, die Bibel als Grundlage einer neuen poetischen Form.

[36 = W I 4.

J u n i — J u l i 1885]

35]

Das Urtheil, das ist der Glaube: „dies und dies ist so". Also steckt im Urtheil das Geständniß, einem identischen Fall 30 begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hülfe des Gedächtnisses. Das Urtheil schafft es n i c h t , daß ein

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identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle giebt. Wie heißt nun jene Funktion, die viel ä l t e r , früher arbeitend sein muß, welche an sich ungleiche Fälle ausgleicht und anähnlicht? Wie heißt jene zweite, welche, auf Grund dieser ersten usw. „Was gleiche Empfindungen erregt, ist gleich": wie aber heißt das, was Empfindungen gleich macht, als gleich „nimmt"? — Es könnte gar keine Urtheile geben, wenn nicht erst innerhalb der Empfindungen eine Art Ausgleichung geübt wäre: Gedächtniß ist nur möglich mit einem beständigen Unterstreichen des schon Gewohnten, Erlebten B e v o r geurtheilt wird, m u ß d e r P r o z e ß d e r A s s i m i l a t i o n s c h o n g e t h a n s e i n : also liegt auch hier eine intellektuelle Thätigkeit ( v o r ) , die nicht in's Bewußtsein fällt, wie beim Schmerz infolge einer Verwundung. Wahrscheinlich entspricht allen organischen Funktionen ein inneres Geschehen, also ein Assimiliren, Ausscheiden, Wadisen usw. Wesentlich, v o m Leibe ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen. Er ist das viel reichere Phänomen, welches deutlichere Beobachtung zuläßt. Der Glaube an den Leib ist besser festgestellt als der Glaube an den Geist. „Eine Sache mag noch so stark geglaubt werden: darin liegt kein Kriterium der Wahrheit." Aber was ist Wahrheit? Vielleicht eine Art Glaube, welche zur Lebensbedingung geworden ist? Dann freilich wäre die Stärke ein Kriterium. Z. B. in Betreff der Causalität. 4°[I6] Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? sie macht, versteckt oder offen, ein Attentat auf den alten Seelenbegriff — das heißt auf die Grundlage des Christenthums, auf das „Ich": sie ist antichristlich im feinsten Sinne. Ehemals glaubte man unbedingt an die Grammatik: man sagte: „Ich" ist Bedingung, „denke" ist Prädikat. Man versuchte, mit einer bewunde-

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rungswürdigen Zähigkeit, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne — ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: „Denken" Bedingung — und „Ich" bedingt, als eine Synthese, welche das Denken vornimmt. Kant wollte im Grunde bewei5 sen, daß vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, das Objekt auch nicht. Die Möglichkeit einer S c h e i n e x i s t e n z des „Subjekts" dämmert: ein Gedanke, welcher, wie in der Vedanta-Philosophie, schon einmal auf Erden dagewesen ist. Will man einen neuen wenngleich sehr vorläufigen io Ausdruck dafür, so lese man (die Geburt der Tragödie) 4 ° [ i 7] Die V e r g r ö b e r u n g als Grundmittel, um Wiederkehr, identische Fälle erscheinen zu lassen; bevor also „gedacht" wurde, muß schon g e d i c h t e t worden sein, der formende Sinn ist ursprünglicher als der „denkende". 4

ij

O[I8]

Zur Moral. W i r b e n e h m e n u n s d e r R a n g o r d n u n g g e m ä ß , z u d e r w i r g e h ö r e n : ob wir es schon nicht wissen, noch weniger Andern demonstriren können. Ein Imperativ „benimm dich der Rangordnung gemäß, zu der du gehörst" ist unsinnig: weil wir i) uns 2) jene Ordnung kennen m ü ß t e n , was Beides nicht der Fall ist — und 3) weil es überflüssig ist, etwas zu befehlen, das ohnedies geschieht. Rangordnung: nicht nur zu unseren Nächsten, sondern, unter Umständen, zur Nachwelt, ebenso zu den Bewohnern anderer Sterne; denn wir wissen nicht, ob jemand da ist, der uns mit ihnen vergleicht. — Alles Imperativische in der Moral wendet sich an die V i e l h e i t d e r M a s k e n , d i e wir in uns tragen, und will, daß wir dies hervorkehren und jenes nicht, also u n s e r n A n s c h e i n v e r ä n d e r n . „Besserung" ist: etwas sichtbar werden lassen von dem, was den guten Menschen gefällt — 3° nidit m e h r !

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4°[i9] Und was Nachkommenschaft betrifft: so muß man sich klüglich und zur Zeit entscheiden: aut libri aut liberi. 40[20] Abgesehn von den Gouvernanten, welche auch heute noch an die Grammatik als veritas aeterna und folglich als Subjekt Prädikat und Objekt glauben, ist Niemand heute mehr so unschuldig, noch in der Art des Descartes das Subjekt „ich" als Bedingung von „denke" zu setzen; vielmehr ist durch die skeptische Bewegung der neueren Philosophie die Umkehrung, nämlich das Denken als Ursache und Bedingung sowohl von „Subjekt" wie von „Objekt", wie von „Substanz" wie von „Materie" anzunehmen — uns glaubwürdiger geworden: was vielleicht nur die umgekehrte Art des Irrthums ist. So viel ist gewiß: — wir haben die „Seele" fahren lassen und folglich auch die „Weltseele", die „Dinge an sich" so gut wie einen Welt-Anfang, eine „erste Ursache". Das Denken ist uns kein Mittel zu „erkennen", sondern das Geschehen zu bezeichnen, zu ordnen, für unsern Gebrauch handlich zu machen: so denken wir heute über das Denken: morgen vielleicht anders. Wir begreifen nicht recht mehr, wie „Begreifen" nöthig sein sollte, noch weniger, wie es entstanden sein sollte: und ob wir (schon) fortwährend in die Noth kommen, mit der Spradie und den Gewohnheiten des VolksVerstandes uns behelfen zu müssen, so spricht der Anschein des beständigen Sich-widersprechens noch nicht gegen die Berechtigung unsres Zweifels. Auch in Betreff der „unmittelbaren Gewißheit" sind wir nicht mehr so leicht zu befriedigen: wir finden „Realität" und „Schein" noch nicht im Gegensatz, wir würden vielmehr von G r a d e n des Seins — und vielleicht noch lieber von Graden des Scheins — reden und jene „unmittelbare Gewißheit" z. B. darüber, daß wir denken und daß folglich Denken Realität hat, immer noch mit dem Zweifel durchsäuern, welchen Grad dieses Sein hat; ob wir vielleicht als „Gedanken

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Gottes" zwar wirklich, aber flüchtig und scheinbar wie Regenbogen sind. Gesetzt, es gäbe im Wesen der Dinge etwas Täuschendes Närrisches und Betrügerisches, so würde der allerbeste Wille de omnibus dubitare, nach Art des Cartesius, uns nicht vor den Fallstricken dieses Wesens hüten; und gerade jenes Cartesische Mittel könnte ein Hauptkunstgriff sein, uns gründlich zu foppen und für Narren zu halten. Schon insofern wir doch, nach der Meinung des Cartesius, wirklich Realität hätten, müßten wir ja als Realität an jenem betrügerischen täuschenden Grunde der Dinge und seinem Grund-Willen irgendwie Antheil haben: — genug, „ich will nicht betrogen werden" könnte das Mittel eines tieferen feineren gründlicheren Willens sein, der gerade das Umgekehrte wollte; nämlich sich selber betrügen. In summa: es ist zu bezweifeln, daß „das Subjekt" sich selber beweisen kann — dazu müßte es eben außerhalb einen festen Punkt haben und d e r fehlt! 40[2l] Ausgangspunkt vom L e i b e und der Physiologie: warum? — Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens, nicht als „Seelen" oder „Lebenskräfte", insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen. Ebenso wie fortwährend die lebendigen Einheiten entstehen und sterben und wie zum „Subjekt" nicht Ewigkeit gehört; eben daß der Kampf auch in Gehorchen und Befehlen sich ausdrückt und ein fließendes Machtgrenzen-bestimmen zum Leben gehört. Die gewisse U n w i s s e n h e i t , in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regirt werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das Nichtwissen, das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen

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und Fälschen, das Perspectivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Unterthanen als g l e i c h e r A r t verstehn, alle fühlend, wollend, denkend — und daß wir überall, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder errathen, wie auf ein zugehöriges subjektives unsichtbares Leben hinzuschließen lernen. Bewegung ist eine Symbolik für das Auge; sie deutet hin, daß etwas gefühlt, gewollt, gedacht worden ist. — Das direkte Befragen des Subjekts über das Subjekt, und alle Selbst-Bespiegelung des Geistes hat darin seine Gefahren, daß es für seine Thätigkeit nützlich und wichtig sein könnte, sich falsch zu interpretiren. Deshalb fragen wir den Leib und lehnen das Zeugniß der verschärften Sinne ab: wenn man will, wir sehen zu, ob nicht die Untergebenen selber mit uns in Verkehr treten können. 40[22] N B . „Es wird gedacht: folglich giebt es Denkendes" — darauf läuft die Argumentation des Cartesius hinaus — aber die Realität eines Gedankens ist es nicht, die Cartesius wollte. Er wollte über „Einbildung" hinweg zu einer S u b s t a n z , welche denkt und sich einbildet. 4°l>3] Seien wir vorsichtiger als Cartesius, welcher in dem Fallstrick der Worte hängen blieb. Cogito ist freilich nur Ein Wort: aber es bedeutet etwas Vielfaches: manches ist vielfach und wir greifen derb darauf los, im guten Glauben, daß es Eins sei. In jenem berühmten cogito steckt i) es denkt 2) und ich glaube, daß ich es bin, der da denkt, 3) aber auch angenommen, daß dieser zweite Punkt in der Schwebe bliebe, als Sache des Glaubens, so enthält auch jenes erste „es denkt" noch einen Glauben: nämlich, daß „denken" eine Thätigkeit sei, zu der ein Subjekt, zum mindesten ein „es" gedacht werden müsse — und weiter bedeutet das ergo sum nichts! Aber das ist der Glaube an die Grammatik, da werden schon „Dinge" und deren „Thätigkeiten" gesetzt, und wir sind fern von der unmittelbaren Ge-

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wißheit. Lassen wir also auch jenes problematische „es" weg und sagen w i r cogitatur als Thatbestand ohne eingemischte Glaubensartikel: so täuschen w i r uns noch einmal, denn auch die passivische Form enthält Glaubenssätze und nicht nur „Thatbestände": in summa, gerade der Thatbestand läßt sich nidit nackt hinstellen, das „Glauben" und „Meinen" steckt in cogito des cogitat und cogitatur: wer verbürgt uns, daß wir mit ergo nicht etwas von diesem Glauben und Meinen herausziehn und daß übrig bleibt: es wird etwas geglaubt, folglich wird etwas geglaubt — eine falsche Schlußform! Zuletzt müßte man immer schon wissen, was „sein" ist, um ein sum aus dem cogito herauszuziehn, man müßte ebenso schon wissen, was w i s s e n ist: man geht vom Glauben an die Logik — an das ergo vor Allem! — aus, und nicht nur von der Hinstellung eines factums! — Ist „Gewißheit" möglich im Wissen? ist unmittelbare Gewißheit nicht vielleicht eine contradictio in adjecto? Was ist Erkennen im Verhältniß zum Sein? Für den, welcher auf alle diese Fragen schon fertige Glaubenssätze mitbringt, hat aber die Cartesianische Vorsicht gar keinen Sinn mehr: sie kommt viel zu spät. V o r der Frage nach dem „Sein" müßte die Frage vom Werth der Logik entschieden sein.

40[24] Man soll dieNaivetät des C(artesius) nicht verschönern und zurechtrücken, wie es z. B . Spir thut. „Das Bewußtsein ist sich selber unmittelbar gewiß: das D a 25 sein des Denkens kann nicht geleugnet, noch bezweifelt werden, denn diese Leugnung oder dieser Zweifel sind eben selbst Zustände des Denkens oder des Bewußtseins, ihr eigenes Vorhandensein beweist also das, was sie in Abrede stellen, es benimmt ihnen folglich jede Bedeutung." Spir I, 26. „Es w i r d gedacht", 30 ergo giebt es etwas, nämlich „Denken". War d a s der Sinn des Cartesius? Teichmüller p. j und 40 stehen S t e l l e n . „Etwas, das sich selber unmittelbar gewiß ist" ist Unsinn. Gesetzt z. B.,

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Gott dächte durch uns, und unsere Gedanken, sofern wir uns als Ursache fühlten, wären ein Schein, so wäre das Dasein der Gedanken nicht geleugnet oder bezweifelt, wohl aber das ergo sum. Sonst hätte er sagen müssen: ergo e s t . — Es giebt keine unmittelbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was „denken" ist und zweitens was „sein" ist: es wäre also, wenn das est (sum) wahr wäre, eine Gewißheit auf Grund zweier richtiger Urtheile, hinzugerechnet die Gewißheit, daß man ein Recht überhaupt zum Sdilusse, zum ergo hat — also jedenfalls keine unmittelbare G(ewißheit). Nämlich: in cogito steckt nicht nur irgend ein Vorgang, welcher einfach anerkannt wird — dies ist Unsinn! —, sondern ein Urtheil, daß es der und der Vorgang ist, und wer z. B. nicht zwischen denken fühlen und wollen zu unterscheiden wüßte, könnte den Vorgang gar nidit constatiren. Und in sum oder est steckt immer noch eine solche begriffliche U n g e n a u i g k e i t , daß noch nicht einmal damit fit oder „es wird" abgelehnt ist. „Es geschieht da etwas", könnte an Stelle von „da giebt es etwas, da existirt etwas, da ist etwas" gesetzt werden. 40[*J] Der Glaube an die unmittelbare Gewißheit des Denkens ist ein Glaube mehr, und keine Gewißheit! Wir Neueren sind Alle Gegner des Descartes und wehren uns gegen seine dogmatische Leichtfertigkeit im Zweifel. „Es muß besser gezweifelt werden als Descartes!" Wir finden das Umgekehrte, die Gegenbewegung gegen die absolute Autorität der Göttin „Vernunft" überall, wo es tiefere Menschen giebt. Fanatische Logiker brachten es zu Wege, daß die Welt eine Täuschung ist; und daß nur im Denken der Weg zum „Sein", zum „Unbedingten" gegeben sei. Dagegen habe ich Vergnügen an der Welt, w e n n sie Täuschung sein sollte; und über den Verstand der Verständigsten hat man sich immer unter vollständigeren M(enschen) lustig gemacht.

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40[26] Scheinbar entgegengesetzt die 2 Züge, welche die modernen Europäer kennzeichnen: das I n v i d u a l i s t i s c h e und die F o r d e r u n g g l e i c h e r R e c h t e : das verstehe ich endlich. Nämlich, das Individuum ist eine äußerst verwundbare Eitelkeit: — diese fordert, bei ihrem Bewußtsein, wie schnell sie leidet, daß jeder Andere ihm gleichgestellt gilt, daß er nur inter pares ist. Damit ist eine gesellschaftlidie Rasse charakterisirt, in welcher thatsächlich die Begabungen und K r ä f t e nicht erheblich auseinandergehn. Der Stolz, welcher Einsamkeit und wenige Schätzer will, ist ganz außer Verständniß; die ganz „großen" E r f o l g e giebt es nur durch Massen, ja man begreift es kaum noch, daß ein Massen-Erfolg immer eigentlich ein k l e i n e r Erfolg ist: weil pulchrum est paucorum hominum. — Alle Moralen wissen nichts von „Rangordnung" der Menschen; die Rechtslehrer nichts vom Gemeinde-Gewissen. Das Individual-Princip lehnt die g a n z g r o ß e n Menschen ab und verlangt, unter ungefähr Gleichen, das feinste Auge und die schnellste Herauserkennung eines Talentes; und weil Jeder etwas von Talenten hat, in solchen späten und civilisirten Culturen, also erwarten kann, sein Theil Ehre zurückzubekommen, deshalb findet heute ein Herausstreichen der kleinen Verdienste statt wie niemals noch: — es giebt dem Zeitalter einen Anstrich von g r e n z e n l o s e r B i l l i g k e i t . Seine Unbilligkeit besteht in einer Wuth ohne Grenzen n i c h t gegen die Tyrannen und Volksschmeichler, auch in den Künsten, sondern gegen die v o r n e h m e n M(enschen) welche das Los der Vielen verachten. Die Forderung gleicher Rechte ( z . B . über Alles und Jeden zu Gericht sitzen zu dürfen) ist a n t i - a r i s t o k r a t i s c h . Ebenso fremd ist ihm das verschwundene Individuum, das Untertauchen in einen großen Typus, das Nicht-Person-sein-wollen: worin die Auszeichnung und der Eifer vieler hohen Menschen früher bestand (die größten Dichter darunter); oder „Stadt-sein" wie in Griechenland; Jesuitismus, preußisches Offizier-Corps und Be-

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amtenthum; oder Schüler sein und Fortsetzer großer Meister: wozu ungesellschaftliche Zustände und der Mangel der k l e i n e n E i t e l k e i t nöthig ist 401>7] So wie Mathematik und Mechanik lange Zeiten als Wissen$ Schäften mit absoluter Gültigkeit betrachtet wurden und erst jetzt sich der Verdacht zu entschleiern wagt, daß sie nichts mehr und nichts weniger sind als angewandte Logik auf die bestimmte und beweisliche Annahme hin, daß es „identische Fälle" giebt — Logik selber aber eine consequente Zeichenschrift auf io Grund der durchgeführten Voraussetzung (daß es identische Fälle giebt) — : so galt ehemals auch das W o r t schon als Erkenntniß eines Dings, und noch jetzt sind die grammatischen Funktionen die bestgeglaubten Dinge, vor denen man sich nicht genug hüten kann. Es ist möglich, daß dieselbe Art Mensch, die später Vedanta-Philosophien ausdachte, Jahrtausende früher vielleicht auf der Grundlage unvollkom Sprachen sich eine philosophische Sprache ausdadite, n i c h t , wie sie meinten, als Zeichenschrift, sondern als Erkenntniß der Welt selber: aber welches „das ist" bisher auch aufgestellt wurde, eine spä20 tere und feinere Zeit hat immer wieder daran aufgedeckt, daß es nicht mehr ist als „das bedeutet". Noch jetzt ist die eigentliche Kritik der Begriffe oder (wie ich es einst bezeichnete) eine wirkliche „Entstehungsgeschichte des Denkens" von den meisten Philos(ophen) nicht einmal g e a h n t . Man sollte die W e r t h s c h ä t z u n g e n aufdecken und neu abschätzen, welche um die Logik herum liegen: z. B. „das Gewisse ist mehr werth als das Ungewisse" „das Denken ist unsre höchste Funktion" ; ebenso den Optimismus im Logisdien, das Siegesbewußtsein in jedem Schlüsse, das Imperativische im Urtheil, die Un3° schuld im Glauben an die Begreifbarkeit im Begriff. 4O[28]

Es muß gedacht worden sein, lange bevor es Augen gab: die

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„Linien und Gestalten" sind also nicht anfänglich gegeben, sondern auf Tastgefühle hin ist am längsten gedacht worden: dies aber, n i c h t unterstützt durch das Auge, lehrt Grade des Druckgefühls, noch nicht Gestalten. Vor der Einübung also, die 5 Welt als bewegte Gestalten zu verstehen, liegt die Zeit, wo sie als veränderliche und verschiedengradige Drude-Empfindung „begriffen" wurde. Daß in Bildern, daß in Tönen gedacht werden kann, ist kein Zweifel: aber auch in Druckgefühlen. Die Vergleichung in Bezug auf Stärke und Richtung und Nacheinander, io die Erinnerung usw. 4°l>9] In Betreff des Gedächtnisses muß man umlernen: hier steckt die Hauptverführung eine „Seele" anzunehmen, welche zeitlos reproduzirt, wiedererkennt usw. Aber das Erlebte lebt fort „im Gedächtniß"; daß es „kommt", dafür kann ich nichts, der Wille ist dafür unthätig, wie beim Kommen jedes Gedankens. Es geschieht etwas, dessen ich mir bewußt werde: jetzt kommt etwas Ähnliches — wer ruft es? weckt es? 4°[3°] Die große Gefahr steckt in der Annahme, daß es unmittelbares Erkennen gäbe (also „Erkennen" im strengen Sinn überhaupt!) Teichm] Die mathematischen Physiker können die Klümpchen-Atome nicht für ihre Wissenschaft brauchen: folglich construiren sie sich eine Kraft-Punkte-Welt, mit der man rechnen kann. Ganz so, im Groben, haben es die Menschen und alle organischen Geschöpfe gemacht: nämlich so lange die Welt zurecht gelegt, zurecht gedacht, zuredit gedichtet, bis sie dieselbe brauchen konnten, bis man mit ihr „rechnen" konnte. 4°[37] Sollte nicht es genügen, uns als „ K r a f t " eine Einheit zu denken, in der Wollen Fühlen und Denken noch gemischt und ungeschieden sind? Und die organischen Wesen als Ansätze zur Trennung, so daß die organischen Funktionen sämmtlich noch in jener Einheit beieinander sind, also Selbst-regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoffwechsel? Zuletzt ist als

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„real" nichts gegeben als Denken und Empfinden und Triebe: ist es nicht erlaubt zu versuchen, ob dies Gegebene nidit a u s r e i c h t , die Welt zu construiren? Ich meine nicht als Schein: sondern als so real wie eben unser Wollen Fühlen Denken ist — aber als primitive Form desselben. Die Frage ist zuletzt: ob wir den Willen wirklich als w i r k e n d anerkennen? Thun wir das, so kann er natürlich nur auf etwas wirken, was s e i n e r A r t ist: und nicht auf „Stoffe". E n t w e d e r muß man alle Wirkung als Illusion auffassen (denn wir haben uns die Vorstellung von Ursache und Wirkung nur nach dem Vorbilde unseres Willens als Ursache gebildet!) und dann ist gar nichts begreiflich: o d e r man muß versuchen, sich alle Wirkungen als gleicher Art, wie Willensakte zu denken, also die Hypothese machen, ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin ist, eben Willenskraft ist. — Die „sterblichen Seelen" resp. die Unmöglichkeit, das n u m e r i s c h e Verhältniß auf diese Dinge zu übertragen. G e g e n das Individuum. Das „Zählen" ist nur eine Vereinfachung, wie alle Begriffe. Nämlich: überall wo etwas rein arithmetisch gedacht werden soll, wird die Q u a l i t ä t weggerechnet. Ebenso in allem Logischen, wo die I d e n t i t ä t d e r F ä l l e die Voraussetzung ist, also der eigentliche spez(ielle) C h a r a k t e r jedes Vorgangs einmal weggedacht ist (das N e u e , nicht aus den Bedingungen des Entstehens Zu-Begreifende — r(espektive) Inbegriffene) 4°[38] Es kommt darauf an, die Einheit richtig zu bezeichnen, in der Denken Wollen und Fühlen und alle Affekte zusammengefaßt sind: ersichtlich ist der Intellekt nur ein W e r k z e u g , aber in wessen Händen? Sicherlich der Affekte: und diese sind eine Vielheit, hinter der es nicht nöthig ist eine Einheit anzusetzen: es genügt sie als eine Regentschaft zu fassen. — Daß die Organe sich überall herausgebildet haben, was die morpholo-

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gische Entwicklung zeigt, darf als Gleichniß gewiß auch für das Geistige benutzt werden: so daß etwas „ N e u e s " immer nur durch Ausscheidung einer einzelnen Kraft aus einer synthetischen Kraft zu fassen ist. D a s Denken selber ist eine solche Handlung, welche a u s e i n a n d e r l e g t , was eigentlich Eins ist. Uberall ist die S c h e i n b a r k e i t da, daß es zählbare Vielheiten giebt, auch im Denken schon. Es giebt nichts „Addirtes" in der Wirklichkeit, nichts „Dividirtes", ein Ding halb und halb ist nicht gleich dem Ganzen. 4°[39] Die Physiker sind jetzt mit allen Metaphysikern darüber einmüthig, daß wir in einer Welt der Täuschung leben: glücklich, daß man nicht mehr nöthig hat, darüber mit einem Gotte abzurechnen, über dessen „Wahrhaftigkeit" man zu seltsamen Gedanken kommen könnte. Das Perspektivische der Welt geht so tief als heute unser „Verständniß" der Welt reicht; und ich würde es wagen, es noch dort anzusetzen, wo der Mensch billigerweise überhaupt v o m Verstehen absehn darf — ich meine dort, wo die Metaphysiker das Reich des anscheinend Sich-selbstGewissen, Sich-selber-Verständlidien (ansetzen), d.